Hollywood im Zeitalter des Post Cinema: Eine kritische Bestandsaufnahme 9783839445204

Hollywood in the post cinema era - the contributions contained in this volume take stock, examining Hollywood as a relev

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Hollywood im Zeitalter des Post Cinema: Eine kritische Bestandsaufnahme
 9783839445204

Table of contents :
Cover
Inhalt
Hollywood als medial-kulturelles Dispositiv
I. Hollywood / Wenden
Für eine nicht-hierarchische Theorie des Films
WAY OUT WEST: Die Parodie und ihr Genre
Von Tod und Überleben der Mise-en-Scène: Notate zur Medienästhetik eines modernen Traditionalismus
Der Hollywood-Turn: Persistenz, Reflexivität, Feedback
II. Hollywood / Welten
Vertrauen in die Welt?: Komplexes Erzählen in MEMENTO und INCEPTION
Am Nullpunkt der Dinge: Hollywood und das neue Weltdesign
Helden, Freaks und dunkle Ritter: Batman in Hollywood
Schnee von Übermorgen: THE DAY AFTER TOMORROW
III. Hollywood / Weiten
Solus ipse: Theatrale Performanz in HOUSE OF CARDS
Weltende nordwestlich von Hollywood: Zur Rückkehr von TWIN PEAKS
Hollywoods Nebeneffekt: Der afrikanische Film
Hollywood – Heterotopien des Kinos und des Körpers. Vier Thesen
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Lisa Gotto, Sebastian Lederle (Hg.) Hollywood im Zeitalter des Post Cinema

Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur  | Band 7

Editorial Die interdisziplinäre Reihe Bild und Bit versammelt Positionen zu einem neuen Forschungsfeld: den medientheoretischen und medienästhetischen Konsequenzen digitaler Produktion, Distribution und Rezeption audiovisueller Werke. Im Zentrum des Interesses stehen dabei zwei Prozesse, die den aktuellen Medienwandel dominieren: einerseits die Ausbildung neuer nonlinearer (oder zumindest nicht-so-linearer) Formen audiovisueller Narration, wie sie sich vor allem in Computer- oder Videospielen vollzieht, andererseits die parallele digitale Transformation linearen audiovisuellen Erzählens, insbesondere in den Bereichen Spielfilm und Fernsehserie. Gerade in ihrem spannungsreichen Mit-, Gegen- und Zueinander prägen beide Prozesse den epochalen Übergang von industrieller zu digitaler Medienkultur. Kulturelle Formen werden dabei nicht nur dar-, sondern überhaupt erst hergestellt – in einem komplexen Wechselspiel technologischer und sozialer, ästhetischer und epistemologischer Faktoren. Neben dem ästhetischen Wandel audiovisuellen Erzählens umfasst das inhaltliche Spektrum der Reihe die konstitutive Beteiligung digitaler Medienkultur an der Herausbildung neuer künstlerischer Formen und Praxen. Wichtige Themen sind u.a. Fragen der Autorenschaft, die sich aus der Demokratisierung der audiovisuellen Produktionsmittel und Distributionsmöglichkeiten ergeben, die Audiovisualisierung nonfiktionalen Wissenstransfers, medientechnologische Innovation sowie die medienästhetisch instruktive Eskalation von Interund Transmedialität. Der skizzierte Wandel kulminiert gegenwärtig in der Emergenz einer historisch neuen Medienkultur, die in nahezu allen Bereichen audiovisueller Produktion die Reevaluierung etablierter Praktiken und medientechnische wie medienästhetische Neuorientierung einleitet. Die schwierige Aufgabe, diesen tiefgreifenden Wandel audiovisueller Kultur gewissermaßen in statu nascendi zu begreifen, kann und soll wesentlich durch die Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektiven und Forschungsergebnisse gelingen. Die Reihe wird herausgegeben von Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto.

Lisa Gotto (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Theorie des Films an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Filmtheorie, Bewegtbildästhetik und Digitale Medienkultur. Sebastian Lederle (Dr. phil.) ist im Wintersemester 2019/20 Fellow des IKKM in Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind Filmtheorie, Ästhetik, Phänomenologie und Theorien der Moderne.

Lisa Gotto, Sebastian Lederle (Hg.)

Hollywood im Zeitalter des Post Cinema Eine kritische Bestandsaufnahme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sebastian Lederle Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4520-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4520-4 https://doi.org/10.14361/9783839445204 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Hollywood als kulturell-mediales Dispositiv

Lisa Gotto, Sebastian Lederle | 7

I. Hollywood | Wenden Für eine nicht-hierarchische Theorie des Films

Martin Seel | 33 W AY O UT W EST. Die Parodie und ihr Genre

Lorenz Engell | 47 Von Tod und Überleben der Mise-en-Scène. Notate zur Medienästhetik eines modernen Traditionalismus

Ivo Ritzer | 75 Der Hollywood Turn. Persistenz, Reflexivität, Feedback

Thomas Elsaesser | 105

II. Hollywood | Welten Vertrauen in die Welt? Komplexes Erzählen in M EMENTO und INCEPTION

Josef Früchtl | 131 Am Nullpunkt der Dinge. Hollywood und das neue Welt-Design

Martin Gessmann | 157

Helden, Freaks und dunkle Ritter. Batman in Hollywood

Thomas Hilgers | 177 Schnee von Übermorgen. T HE D AY AFTER T OMORROW

Lisa Gotto | 215

III. Hollywood | Weiten Solus ipse. Theatrale Performanz in H OUSE OF C ARDS

Sebastian Lederle | 241 Weltende nordwestlich von Hollywood. Zur Rückkehr von T WIN P EAKS

Hanna Hamel | 277 Hollywoods Nebeneffekte. Der afrikanische Film

Michaela Ott | 297 Hollywood – Heterotopien des Kinos und des Körpers. Vier Thesen

Gertrud Koch | 321

Autorinnen und Autoren | 331

Hollywood als medial-kulturelles Dispositiv L ISA G OTTO , S EBASTIAN L EDERLE

Wenn von Hollywood die Rede ist, meint man damit nicht nur einen abendfüllenden Spielfilm, der im Kino zu sehen ist, sondern auch eine bestimmte Rolle, welche die Praxis des Kinos innerhalb der Kultur spielt. Hollywood als eine bestimmte Praxisform des Kinos kommt nicht nur als und im Film vor, kann dank seiner Filme nicht nur exemplarisch vorführen, was Kino sein kann, sondern bildet einen spezifischen Blick auf die Welt aus, den es mit den Weltentwürfen seiner Filme realisiert. Die Weltentwürfe des Hollywood-Kinos besitzen ihre Welthaltigkeit dadurch, dass sie in ein umfassendes Wechselspiel von Kultur, Ökonomie, Politik und Medialität eingebunden sind. Der Bindestrich bei der Rede vom Hollywood-Kino bezeichnet so auch das Ineinander zweier Selbstdeutungen: Einerseits greift Hollywood als ein Agent unter anderen zirkulierende Selbstdeutungen auf, greift aber auch andererseits in sie ein, indem es seine Deutungsangebote als diejenigen vorstellt, die allgemein anerkannt sind. Die Bekanntheit der Weltsicht Hollywoods wird nicht einfach vorgefunden, sie wird hergestellt und in Umlauf gebracht. Filmproduktionen aus Hollywood sind nicht nur geprägt durch bestimmte ästhetische, stilistische und technische Standards, sondern auch in einen Komplex aus ökonomischen Interessen und institutionellen Arrangements eingebettet. Entsprechend gilt es zu fragen, wie Hollywood als eine wichtige symbo-

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lische Ressource der Selbstverständigung funktioniert und welche Koordinaten es für deren Darstellung und Aushandlung bereithält. Hollywood nicht nur aus politischen Gründen einer Anerkennung der Pluralität von Lebensentwürfen ernst zu nehmen, sondern auch als Kreuzungspunkt ästhetischer und kultureller Aspekte zu sehen, erlaubt einen weiter- und tiefergehenden Blick auf seine Filme. Daraus wird bereits eines ersichtlich: Hollywood ernst zu nehmen schließt nicht aus, Hollywood zu kritisieren. Vielmehr bedingt beides einander1. Da im Film immer eine bestimmte Sicht der Welt, in der Menschen miteinander leben, denken und handeln, zur Geltung kommt, ist zu fragen, wie die Weltentwürfe des Hollywood-Kinos genau aussehen, welche ästhetischen Formen sie annehmen und wie diese in Frage gestellt werden2. Man kann etwa aus gutem Grund einen Unterschied machen zwischen der Auffassung von Actionfilmen, wie sie etwa Michael Bay in seiner TRANSFORMERS-Reihe vorführt, und derjenigen, die in den BOURNE-Verfilmungen von Paul Greengrass sichtbar wird3. Der springende Punkt dabei ist nur, dass nicht vorab bereits feststeht, dass Actionfilme per se keinen Anspruch darauf erheben könnten, sehenswert zu sein, sondern dass exemplarisch zu zeigen ist, warum ein bestimmter Actionfilm von Interesse ist. Sieht und diskutiert man einen neuen Film daraufhin, wie er bestimmte Konventionen des Genres, der Narration oder der Produktion verhandelt, oder einen bereits bekannten Film daraufhin, was an ihm immer noch unabgegolten oder als Anregung für die Gegenwart gelten kann, so wirkt damit das Urteil des Publikums bei der Fortsetzung und Fortdauer Hollywoods genauso mit wie die Filme als Kandidaten dafür auftreten, Filme mit Hollywoodzuschnitt zu sein. Vergleichbar ist der

1

Vgl. Seel, Martin: » Hollywood« ignorieren? Frankfurt a. M.: Fischer 2017, S. 9-46. Vgl. auch Seel, Martin: Die Künste des Kinos, Frankfurt a. M.: Fischer 2013.

2

Vgl. Elsaesser, Thomas: The Persistence of Hollywood, London: Routledge 2011; Krützen, Michaela: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood, Frankfurt a. M.: Fischer 2010.

3

Für das Beispiel Michael Bay vgl. Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Hediger, Vinzenz/Voss Christiane: Essays zur Film-Philosophie, Paderborn: Fink 2015, S. 12; für die BOURNE-Reihe vgl. M. Seel: Künste des Kinos, S. 40-49.

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Hollywood-Film darin womöglich mit dem Projekt der great american novel, das immer wieder neu angegangen wird, sich aber nie abschließend in Buchform bringen lässt, und daher, wenn man so möchte, immer besser und reizvoller misslingt. Darin ließe sich auch ein Anspruch des Hollywood-Kinos auf Zeitgenossenschaft festmachen, da Hollywood immer wieder und immer noch an Selbstverständigungsprozessen einer demokratischen Kultur partizipiert. Wenn es stimmt, dass das Maß der Kritik immer wieder neu in der Auseinandersetzung mit den Filmen selbst zu gewinnen ist, bedeutet das: Es gibt nicht den Hollywood-Film schlechthin. Daraus folgt gewissermaßen in der Gegenrichtung, dass sich das in Anschlag gebrachte Maß durch die jeweiligen Filme immer wieder auf den Prüfstand stellen lässt und neu ausgehandelt werden muss. Dabei kann es für das Gelingen eines Hollywood-Films durchaus eine Rolle spielen, ob er die produktionsästhetischen, ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen er entsteht, reflektiert oder latent hält. Entscheidend ist dabei nur, dass ein Film aus Hollywood nicht umstandslos mit einem Produkt von der Stange identifiziert werden kann. Dass zum Beispiel PIRATES OF THE CARIBBEAN (USA 2003 ff., R: Gore Verbinski) in vielem einem an den Beginn der Filmgeschichte zurückreichenden cinema of attractions4 verpflichtet ist, zahlreiche spielerische medienreflexive Elemente aufweist, eine heitere Variante der Dialektik der Aufklärung inszeniert und mit dem Piraten Jack Sparrow eine Figur liefert, die sich in den besten Szenen auch auf der BeckettBühne wiederfinden könnte, dass die Serie WESTWORLD (USA 2016 ff., HBO) Bazins Mythos vom totalen Film5 in Szene zu setzen sucht, zentrale Elemente der american ideology sowie die Funktion ästhetischer Weltbildung des Kinos ausstellt und kritisch reflektiert, dass LA LA LAND (USA 2016, R: Damien Chazelle) trotz sentimentaler Stereotypen eine ästhetisch durchaus ansprechende Belebung des Musicalfilms darstellt, der im Titel bereits eine ironische Anzeige der zentralen Mitarbeit

4

Vgl. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avantgarde«, in: Wide Angle 8, 3-4/1986, S. 63-70.

5

Vgl. Bazin, André: »Der Mythos vom totalen Film«, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander 2002, S. 43-50.

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Hollywoods an der imaginären Selbstauffassung Amerikas als dem Land eines individualistischen pursuit of happiness gibt, dass HAIL CAESAR! (USA 2016, R: Joel & Ethan Coen) im Modus einer satirischen Farce Selbstüberschätzung und politische Komplizenschaft der Traumfabrik der 1950er mit Blick auf die heutige Verantwortung des Films für eine demokratische Kultur geißelt, dass DUNKIRK (USA 2017, R. Christopher Nolan) hinsichtlich seiner künstlerischen Gestaltungsmittel zahlreiche Elemente eines non-narrativen Experimentalfilmes verwendet, dabei aber wie ein Blockbuster vermarktet wird – das sieht und begreift nur, wer eine angemessen differenzierte Vorstellung einer Kino-Praxis besitzt, die sich mit Hollywood bezeichnen lässt. Von Interesse ist dann nicht nur, wie bei einem bestimmten Film auf den ersten Blick nicht zueinander zu passen scheinende Elemente wie Spektakelkino und Beckett-Bühne, Satire und Blockbuster6, Welthaltigkeit und world making7 miteinander verbunden werden, sondern auch, wie Hollywood als Hintergrundagentur für deren Disponibilität erst sorgt. Wer wissen will, wie weit dieser Anspruch hält, was er verspricht, muss untersuchen, wie sich Hollywood als Teil der Heterogenität des Filmischen zu anderen Medien und gegenüber der ihm immer wieder entgegengebrachten Kritik verhält. Das heißt auch, dass, möchte man den Anspruch auf Zeitgenossenschaft aufrechterhalten, immer wieder neu zu erkunden ist, wie sich Hollywood schlägt. Dies wirft zudem ein Licht auf die Theoriefähigkeit des Hollywood-Films: So unabgeschlossen wie die Entwicklung seiner Filme muss auch die Theoriebildung sein, will sie nicht an den Filmen vorbei ins Leere gehen. Das heißt: Ein Umbau der Theorie ist dann fällig, wenn man es mit einem Film zu tun hat, der Hollywood in eine Perspektive setzt, die seinen Gegenstand auf eine Weise verändert, ihm eine womöglich nicht zu erwartende Richtung gibt oder ein übergangenes Potenzial aktualisiert. Die Theoriebildung in Bezug auf Hollywood muss seine immanente Wandlungsfähigkeit genauso zu begreifen suchen wie seine strukturellen Ausschlüsse, untergründigen Kor-

6

Vgl. Ott, Michaela: u.a. Hollywood. Phantasma/Symbolische Ordnung in Zeiten des Blockbuster-Films, München: edition text und kritik 2005.

7

Vgl. Schmidt, Oliver: Hybride Räume. Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende, Marburg: Schüren 2013.

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respondenzen und Verhältnisse. Wer wissen will, was an Hollywood als einer zentralen Gestalt des Erzählkinos in Zeiten des Post Cinema immer noch interessant ist, wie man über Hollywood filmtheoretisch wie -ästhetisch nachdenken kann, um die Interferenzen zwischen Avantgarde und Unterhaltung als Teil einer Industrie zu erklären, wie sich Genres und narrative Standard einer Kinoproduktion unter dem Einfluss anderer Medien und filmischer Formate verändern oder wie Hollywood auf die zunehmenden Serialisierungs- und Remedialisierungstechniken des Filmischen reagiert, der braucht eine Perspektive, die der Weitläufigkeit und Komplexität seines Gegenstandes gerecht wird.

D AS H OLLYWOOD -D ISPOSITIV Will man sich dieser Weitläufigkeit und Komplexität begrifflich nähern, lässt sich in Analogie zum Kino-Dispositiv vom Hollywood-Dispositiv sprechen. Im Anschluss an Michel Foucaults, Jean-Louis Baudrys und Gilles Deleuzes Gebrauch des Dispositiv-Begriffs kann man darunter eine Gesamtanordnung von Elementen verstehen, die eine Diskursformation ausmachen. Eine solche eröffnet ein spezifisches Feld des Sagbaren wie Unsagbaren, worauf sich nicht nur explizite Aussagen über Hollywood, sondern auch implizite, vordiskursive Muster des Wahrnehmens und Bewertens beziehen, für die mediale Vorstrukturierungen8 von besonderer Bedeutung sind. Das Dispositiv bildet nicht nur einen Rahmen, innerhalb dessen etwas zu einer bestimmten Wirklichkeit als zugehörig betrachtet wird, sondern es ist diese Wirklichkeit, die durch die Verknüpfungsart der sich im Spiel befindenden Elemente bestimmt wird. Im Folgenden sollen zunächst die genannten theoretischen Ansätze skizziert

8

Dass eine mediale Strukturierung der Wahrnehmung, die nicht technischapparativ im engeren Sinne verfährt, bereits als Vorbedingung und Entfaltungsraum des Films betrachtet werden kann, zeigt anhand der architektonisch-landschaftlichen Gesamtordnung zweier Denkmäler beispielhaft Engell, Lorenz: »Kino ohne Kino. Zur Medienanalyse zweier Nationaldenkmäler«, in: ders., Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur. Weimar: VDG 2000, S. 245-263.

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und anschließend auf den Begriff eines Hollywood-Dispositivs hin zugespitzt werden. Michel Foucault bestimmt in einem in Dispositive der Macht9 abgedruckten Gespräch den Charakter und die Funktion von Dispositiven in einem umfassenden, auf verschiedene Bereiche übertragbaren Sinn. Demnach ist ein Dispositiv »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.«10

Der springende Punkt bei der Bestimmung, die Foucault hier vom Dispositiv gibt, liegt darin, dass in ihm heterogene Elemente in einen Zusammenhang gebracht werden, der sie nicht in eine höhere Einheit aufhebt, integriert oder zwingt, sondern dass das Dispositiv eine kontingente Formation ist, deren Wirkungskraft nicht davon abhängt, ob sie einem Telos oder einem sie bestimmenden Prinzip unterliegt. Worauf es ankommt, sind die unabsehbaren, unbestimmten Möglichkeiten, die mit einem Dispositiv selbst realisiert werden. Das Dispositiv ist, wie Foucault herausstellt, nichts anderes als das Netz, zu dem die Elemente verknüpft werden. Dieser Verknüpfung aber eignet keinerlei Notwendigkeit. Daher hebt Foucault auf die Art der Verknüpfung als das Entscheidende ab und unterstreicht die Wandelbarkeit als »Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen«11. Was durch ein bestimmtes Dispositiv festlegt wird und eine kontingente Kontur gewinnt, wie die Koordinaten der Wirklichkeit platziert und in welches Verhältnis die Grundkategorien des Denkens, Wahrnehmens und Handelns gebracht werden, lässt sich nur verstehen, wenn man darauf achtet, wie die Ele-

9

Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen, Wahrheit. Merve: Berlin 1978.

10 Ebd., S. 199f. 11 Ebd.

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mente verknüpft werden, um die Regulierung des Sag- und Unsagbaren als Effekt zu zeitigen. Das Zusammentreten verschiedener Aspekte zu einem Dispositiv ist ein kontingenter Prozess, von dem aus und innerhalb dessen sich leitende Überzeugungen und Verständnisse dessen, was Wirklichkeit bedeutet, herausbilden. Das Verhältnis der jeweiligen Elemente ist heterogen, weil ihnen vorher nicht anzusehen ist, auf welche Weise sie verknüpft werden, und unabsehbar ist, ob und wie sie in einer zukünftigen Fassung vorkommen. Das wird deutlich, wenn das Spiel der Positionswechsel nicht in den Gegensatz zum Ernst der Notwendigkeit und des letzten Grundes gestellt wird. Stattdessen geht es bei der Anordnung eines Dispositivs um die Unabgeschlossenheit einer Formation von gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen, die ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis oder Erkenntnisraster disponieren. Insofern ist das Dispositiv als Bewegliches und Veränderbares dem steten Umbau ausgesetzt. Die Transformierbarkeit eines Dispositivs ist die Einrichtung im Wandel, das Positiv der unmöglichen Fertigstellung. Was wir eingangs für die Theoriebildung des komplexen Gegenstandes Hollywood gesagt haben, findet hier einen instruktiven Orientierungs- und Anknüpfungspunkt: Den dispositiven Umbauarbeiten entspricht eine Theoriearbeit, die sich den Aspirationen einer umfassenden und abschließenden Gesamtinterpretation Hollywoods entschlagen hat und stattdessen auf das Wie seines Funktionierens und seiner Feinstruktur achtet, durch die es als Dispositiv strukturiert ist. Baudrys Kino-Dispositiv-Aufsatz12 stellt Foucaults weitreichender Perspektive gegenüber sowohl eine Erweiterung als auch eine Einschränkung dar. Einerseits spielen medientheoretische und technikphilosophische Überlegungen bei Foucault zunächst kaum eine Rolle. Andererseits bezieht Baudry das Dispositiv auf eine ganz bestimmte Situation: nämlich die Wahrnehmungssituation des Publikums im Kino, in die neben den ästhetisch-aisthetischen auch die institutionellen, pragmati-

12 Vgl. Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Riesinger, Robert (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer Debatte, Münster: Nodus 2003, S. 41-62.

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schen, psychologischen und technisch-apparativen Bedingungen des Filmsehens aufgenommen werden. Was Baudry mit dem Kino-Dispositiv zu beschreiben versucht, ist die konkrete, durchaus materielle Gesamtanordnung, die gegeben sein muss, damit das Wahrnehmen eines Kinofilms zustande kommt. Zentrale Elemente sind dabei die Immobilität des Zuschauers, seine räumliche Positionierung zwischen Projektor und Leinwand sowie die Abdunkelung des Kinosaals. Sie führen zu einer besonderen Wahrnehmung- und Aufmerksamkeitslage, die Baudry als eine das Kino bestimmende Anordnung versteht. Der Umstand, dass das Publikum etwas wahrnimmt, was es durch keine Prüfung verobjektivieren kann, bringt Baudry dazu, die kinematographische Wahrnehmung mit Platons Höhlengleichnis zu vergleichen. Wie die Bewohner der platonischen Höhle Schatten sehen, von denen sie nicht wissen, dass sie nur Schatten sind, und die sie deswegen für das Ganze des Wahrnehmbaren halten müssen, wird dem Zuschauer im Kino mit der audiovisuellen Bewegung nur eine reduzierte Version der phänomenalen Wirklichkeit präsentiert, die bedingt durch Apparat und Projektion vorgibt, mehr zu sein als sie ist. Eine Ähnlichkeit besteht für Baudry auch zwischen Filmsehen und Träumen: Wie der Träumende hat der Zuschauer keine Möglichkeit ins Geschehen auf der Leinwand einzugreifen: Es gibt keine Möglichkeit der handelnden Mitbestimmung. Baudrys Vergleiche sind nicht unproblematisch13. Die technischapparative Hervorbringung einer objektiven Bewegungsillusion ist kaum als Täuschung oder Irreführung, wie bei Platon, zu verstehen, da den Zuschauern nicht weisgemacht wird, sie sähen dort etwas, wo es in Wahrheit nichts wirklich zu sehen gibt. Es wird ja etwas gesehen, nur eben als Folge und Gehalt eines technikbasierten, artifiziellen Effekts. Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass die perzeptive Phänomenalität ein täuschender Anschein ist, sondern eine spezifische, künstliche Situation der Wahrnehmung, wie sie für das Kino charakteristisch ist. Ebenso hinkt der Vergleich mit dem Traum: Das Publikum weiß, dass es mitunter Unmögliches auf der Leinwand zu sehen bekommt, ohne deshalb Zweifel daran haben zu müssen, dass es dies sieht. Im Kino steht das Unglaubliche nicht im Widerspruch zum Gesehenen. Vielmehr kommt

13 Vgl. Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt, Paderborn: Fink 2013, S. 98-110.

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im Filmsehen ein spezifischer Beglaubigungsmodus14 durch die Zuschauer zum Einsatz, der den Erfolg des Realitätseffekts ausmacht. Dies ist unabhängig davon, was näherhin gesehen wird, und betrifft das Wie der perzeptiven Erscheinung durch eine apparative Projektion. Freilich sieht man im Film etwas, was man in der raumzeitlichen Inkohärenz auch aus dem Traum kennt. Beim Sehen eines Kinofilms ist das Bewusstsein, einen Film zu sehen, jedoch nicht ausgeschaltet, sondern derart moduliert, dass es die kinematographische Perzeptionsform in ihrer Eigenart aufnimmt, statt einen permanenten Widerspruch zu konstatieren, dass das Gesehene eigentlich doch kein Gesehenes, sondern unwirkliche, traumförmige Projektion sei. Man sieht nicht als ob man sähe, sondern man sieht. Nur sieht man eben nicht so, wie man in mundanen Zusammenhängen sieht, sondern im Wahrnehmungsmodus einer künstlich hervorgebrachten Gegenständlichkeit. Trotz der Schwächen, mit denen die beiden Vergleiche behaftet sind, können sie doch dabei helfen, die Eigenart des Kino-Dispositivs näher zu bestimmen. Wichtig dabei ist nur, neben der Ähnlichkeit, die ein Vergleich herstellt, auch den Abstand zwischen den verglichenen Paarungen zu erhalten. Die Abgrenzung zum platonischen Höhlengleichnis und zum Traumzustand schärfen so den Blick für die dem konkreten Akt des Filmsehens vorausliegende Anordnung, derer es bedarf, damit eine bestimmte Erfahrung gemacht werden kann, die so nur im Kino möglich ist. In dieser Hinsicht konvergieren Foucault und Baudry: Das Dispositiv des Kinos benennt und beschreibt im Absprung von tradierter philosophischer Illusionskritik und Psychoanalyse, wie heterogene Elemente zusammen einen neuen Wahrnehmungs- und Möglichkeitsraum ergeben, durch den sich bestimmte Erfahrungswerte und Vorstellungen dessen, was wahrnehmbar und sagbar wird, transformieren bzw. erst ergeben. Diese Neuartigkeit hebt Gilles Deleuze in seiner Auseinandersetzung mit dem Dispositiv-Begriff deutlich hervor. Anknüpfend an Foucaults Dispositiv-Konzept spricht er von einer »Änderung der Orientierung –

14 Vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, Paderborn: Fink 2013, S. 107ff., S. 171ff.; Koch, Gertrud: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 54f., S. 64f., S. 91-104.

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diese wendet sich vom Ewigen ab, um das Neue aufzunehmen. Das Neue ist […] dazu bestimmt, die […] die den Dispositiven folgende variable Kreativität zu bezeichnen.«15 Aus eben dieser Wandlungsfähigkeit ergibt sich für Deleuze die Kerndynamik eines Dispositivs: »Jedes Dispositiv wird so durch seinen Gehalt an Neuartigkeit und Kreativität definiert, womit gleichzeitig seine Fähigkeit bezeichnet ist, sich selbst zu transformieren oder sich bereits zugunsten eines Dispositivs der Zukunft aufzuspalten.«16 Entsprechend geht es bei der Bestimmung der Funktionalität eines Dispositivs nicht um die Beschreibung eines geschlossenen Systems, sondern um den schöpferischen Wert eines beweglichen Ensembles, das erst in seiner Änderungsfähigkeit aufgeht. Diese Änderungsfähigkeit umfasst sowohl die Richtungs- und Spannungsgrößen des Ensembles als auch alle, die in es eingelassen sind und sich in ihm und mit ihm bewegen: »Wir gehören Dispositiven an und handeln in ihnen. Die Neuartigkeit eines Dispositivs im Verhältnis zu seinen Vorgängern, das nennen wir seine Aktualität, unsere Aktualität. Das Neue ist das Aktuelle. Das Aktuelle ist nicht das, was wir sind, sondern eher das, was wir im Begriff sind zu werden, das heißt das Andere, unser Anders-Werden.«17

Etwas sehen und hören zu können, das außerhalb des Kinos ungesehen und ungehört ist und bleiben muss, ohne dabei getäuscht zu werden, stellt einen irreduziblen, eigensinnigen Modus der audiovisuellen Perzeption dar. Dieser geht zum einen aus einem technisch-medial-räumlichen Dispositiv hervor, wie es Baudry beschreibt, zum anderen aber strahlt eine Weise des Sehens und Hörens auch auf ein weiteres Feld aus, wie es Deleuze im Auge hat, insofern die etablierten Wahrnehmungsformen und -muster inflitriert und um eine spielerisch-imaginative Dimension erweitert werden. Außerhalb des Kinos kann man die Dinge wie im Kino

15 Deleuze, Gilles: »Was ist ein Dispositiv?« [1988], in: Ewald, François: Waldenfels, Bernhard (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 153-162, hier: S. 158. 16 Ebd., S. 159. 17 Ebd., S. 159-160f.

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sehen18. Einen herkömmlicherweise ausschließlich mundanen Wahrnehmungsvorgang kinematographisch zu betrachten bedeutet nicht, ihn damit zu verwechseln oder zu halluzinieren. Vielmehr geht es darum, eine vorher nicht gegebene Möglichkeit dessen zu begreifen, worauf hin alltägliche, lebensweltlich eingespielte Formen des Sehens und Hörens bezogen werden können. Zunächst ist jedem der Satz aus der Alltagssprache bekannt, demnach etwas sich verhalte wie im Kino oder Film. Damit bezeichnet man eine hinreichende Ähnlichkeit von etwas Erlebten oder Wahrgenommenen mit dem kinematographischen Filmsehen. Man sieht eine Reihe dicht hintereinanderfahrender Wagen an der Straße vorbeiziehen und fühlt sich erinnert an eine motorcade, wie man sie aus zahlreichen Actionfilmen kennt. Jemand beginnt einen Satz, der zufällig die gleichen Worte beinhaltet wie die einer beliebten Filmfigur und komplettiert ihn mit den Worten des bekannten Dialogs. Man sieht sich plötzlich vor eine Entscheidung von lebensgeschichtlicher Tragweite gestellt, die ob ihrer außeralltäglichen Zuspitzung an Szenen eines Films denken lässt. Worauf es hier ankommt, ist weniger eine inhaltliche, verifizierbare Übereinstimmung zwischen Lebenswelt und Film, sondern eine Engführung, die aus der Art und Weise des Wahrnehmungsvollzugs, der Auffassung und Bewertung einer Handlungssituation herrührt. Weil nicht einfach feststeht, wie etwas außerhalb einer normativen Orientierung, pragmatischen Abzweckung oder epistemischen Vergegenständlichung gesehen zu werden hat, ist es den Ereignissen, Dingen oder Interaktionspartnern nicht von vornherein anzusehen, wie sie aufgefasst werden sollen und können. Es gibt einen Spielraum der Freiheit gegenüber dem, was man sieht und hört. Sich die Freiheit gegenüber dem Wahrgenommenen nehmen zu können, heißt, imaginative Potenziale einzuschleusen, die das Wahrgenommene von sich aus nicht besitzt, die aber auch keine bloß willkürlichen Projektion sind, weil sie auf exemplarische Muster und Auffassungsformen, die der Film bietet, zurückgrei-

18 Vgl. zur imaginativen Anreicherung mundaner Wahrnehmungsvollzüge Lederle, Sebastian: »Immersion und Illusion. Anmerkungen zu einer begrifflichen Konstellation«, in: Navigationen 2019/1. Immersion. Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts, S. 123-143.

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fen. Es besteht kein Verbot, bei einer vorbeifahrenden Autoreihe statt an eine Wagenkolonne an eine Perlenkette, Dominosteine oder hintereinandergelegte Streichholzschachteln oder an etwas zu denken, was gar keine Gestaltähnlichkeit damit besitzt, wie etwa eine Gabel oder eine Kiwi. Doch es sind die mit der filmischen Injektion in die Wahrnehmung vorbeifahrender Autos mitaufgerufenen Bezüge und Folgeassoziationen, die rückübertragen werden und um die Autos einen imaginären Horizont von Verweisungen und Mitgegebenheiten errichten, die dichter und vielfältiger sind. Die Dominanz der an den Film sich anlehnenden perzeptiven und evaluativen Verfremdung und Modulation zeigt sich allerdings daran, dass der Film eine allgemeine Annehmbarkeit und Nachvollziehbarkeit derjenigen Wahrnehmungsvollzüge herstellt, die von pragmatischen Zwängen, normativen Vorgaben und epistemischer Objektivität freigesetzt einen Spielraum für freie Transformation und Variation besitzen. Diese Annehmbarkeit wiederum ist – daraus erwächst ihre dispositive Qualifizierung – durch das jeweilige Netz, die jeweilige Anordnung von diskursiven und nicht-diskursiven Elementen vorstrukturiert und grenzt den Raum dessen ab, welches Maß an Modulation und Akzeptanz im Sinne von Nachvollziehbarkeit und Verständnis man bei anderen findet. Worauf sich bei der Funktionalität und Wirkungsweise Hollywoods als Dispositiv besonders aufmerksam machen lässt, ist das umstandslose Bereitstehen und die große Annahmebereitschaft filmischer Weltentwürfe als Schwingungsbereich, in den sich lebensweltliche Wahrnehmungen stellen lassen. Dabei erfährt das Ineinander von Gemachtsein und Verdecktwerden, das den Realitätseffekt des Films und die Konstruktivität seiner Welt bestimmt, durch Hollywood eine besondere Aneignung. Hollywood verwandelt sich den Realitätseffekt des Films an, indem es die artifizielle, konstruktive Seite des Effekts, die mit dem Film als Medium gesetzt ist, nutzt, um diese verdeckt zu halten und so immer als naheliegende und gleichsam natürliche Deutung der Welt erscheinen zu können. Die Übertragung des Realitätseffekts des Films auf Hollywood als kulturell-mediales Dispositiv, so möchten wir hier argumentieren, führt aus dem Kino-Dispositiv heraus und begreift dieses als ein Element einer weiteren Anordnung. Dass solch neue Beziehungsweisen eine gewisse Typik aufweisen, die in individuellen Akten der filmischen Überlagerung mundaner Wahr-

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nehmungen realisiert werden, weist auf den Kreuzungspunkt zwischen einer medientheoretischen engeren Fassung des Dispositivbegriffs bei Baudry und einer darüber hinausgehenden Perspektive hin, der es um die Frage geht, inwiefern der Kinofilm nicht nur einen neuen Wahrnehmungstypus unter anderen darstellt, sondern auch die etablierten Praktiken des Sehen und Hörens grundsätzlich affiziert. Man kann etwas wie im Kino oder Film sehen, muss es aber nicht. Wenn man es aber tut, dann sind dadurch spezifische Modalitäten der kinematographischen Audiovisualität aktiviert, die vorgeben, wie die alltägliche Wahrnehmung alterniert wird. Man sieht nichts anderes, aber man sieht das Bekannte anders als zuvor, sobald man ins Register kinematographischen Sehens und Hörens wechselt. Die Produktivität des Kinos, also seine Fähigkeit, das Publikum mit neuen, zur Alltagswahrnehmung querstehenden Hör- und Seherlebnissen zu konfrontieren, entstammt jener kontingenten Verschaltung heterogener Elemente zu dem, was die Wirklichkeit des Kinos hervorbringt: Man sieht und hört, was man noch nie gesehen und gehört hat und auf diese Weise nirgends anders sehen und hören kann. Darauf lässt sich mit Deleuze der Finger legen: Die ereignishafte Produktivität gewinnt den Wahrnehmungsprozessen eine Seite ab, die bisher nicht einfach nur unbekannt, sondern unmöglich gewesen ist. Gleichzeitig bleibt die Veränderung perzeptiver Praxis nicht auf das dispositive Feld, von dem aus sie angestoßen wird, beschränkt. Zwar ist das Zustandekommen einer audiovisuellen Erfahrung, wie sie für den Kinofilm kennzeichnend ist, von einer Reihe von Bedingungen abhängig, wie sie von Baudry beschrieben wurde. Doch wird das Spektrum der Wahrnehmungsmodalitäten erweitert und zwar als Folge einer Entgrenzung19 filmischen Sehens, wie es zunächst im Kino eingeübt wird, die durch das Kino-Dispositiv allein jedoch nicht gedeckt ist.

19 Dass die hier angesprochene Entgrenzung auch in den weiteren Zusammenhang einer Entgrenzung der Künste gestellt werden kann, liegt nahe, wenngleich es hier zunächst um eine aisthetisch-habituelle Transformation geht, vgl. Mattenklott, Gerd (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 4/2004.

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Es kommt also zu einer Erweiterung und Öffnung eines perzeptiven Feldes, indem das Filmsehen vom Ort Kino entbunden wird und die mundane Wahrnehmung transformiert. Eine solche Transformation oder Verschiebung der eingespielten Wahrnehmungspraxis und der Zusammenhänge, in denen sie auftritt, kann man mit Foucault als einen Positionswechsel bestimmter Elemente bezeichnen, die auch die nondiskursive Feinstruktur der Wirklichkeit betreffen. In einer Wirklichkeit hat sich etwas verändert, wenn das Filmsehen nicht mehr ans Kino gebunden ist, sondern der Möglichkeit nach an jedem Ort auftreten kann. Einmal in einen Modus kinematographisch inspirierten Hörens und Sehens versetzt, macht die darin waltende Produktivität nicht beim Ausgang des Kinosaals halt. Wem ein Film nach Ende der Vorstellung noch nachgeht, dem eröffnet sich außerhalb des Kinos ein neues Bezugsfeld seiner Wahrnehmungsakte. Im Kino gemachte audiovisuelle Erfahrungen bleiben also nicht im Kino eingeschlossen, sondern können in der mundanen Lebenswelt freigesetzt werden. Gerade also weil das Kino als dispositive Praxis auch auf die Sehund Hörgewohnheiten des Publikums zurückwirkt, diese aber nicht einsinnig determiniert, können sie sich bis zu dem Grad verselbstständigen und von diesem individuell angeeignet werden. Entscheidend dabei ist weniger das bisweilen bis ins Idiosynkratische gehende solcher Aneignungen, sondern die Transformation der Beziehungs-, Verortungs- und Kontextualisierungsmöglichkeiten von Wahrnehmungsakten und ihrer Bewertung. Das Kino wird ein Hintergrund, vor dem sich Wahrnehmungsprozesse auch außerhalb des Kino-Dispositivs im engeren Sinn verändert abspielen. Der Welt eines Kino-Films korreliert nicht nur eine bestimmte Erfahrung des Sehens und Hörens. Sie lädt auch dazu ein, die Welt, die man kennt, in einem anderen Licht zu sehen. Was mit dem anderen Blick und dem anderen Hören in die Welt außerhalb des Kinos exportiert wird, ist die Möglichkeit des Filmischwerdens der audiovisuellen Dimension der Lebenspraxis. Etwas wie im Film zu sehen, bedeutet dann, dem in der mundanen Wirklichkeit Wahrgenommenen die perzeptiven Charakteristika eines Films beizulegen. Wenn außerhalb der räumlichen, zeitlichen, sozialen und institutionellen Kontexte, die für den Film reserviert sind, etwas nach Art und Weise eines Films angesehen wird, es also um einen erweiterten Modus der perzeptiven Erschließung

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und Färbung geht, dann handelt es sich hier um eine Transformation der Wahrnehmungsverläufe, die allgemeiner ist als der eingeschränkte Anwendungsbereich bei Baudry auf den Kinosaal und der daher auf Foucaults offener gehaltene Formulierung des Netzes und auf Deleuzes Dynamisierung des Dispositivbegriffs in Richtung des Neuen verweist. Das Hollywood-Dispositiv siedelt sich in der Übergangszone zwischen Kino-Dispositiv und einer komplexen dispositiven Struktur an, in die die Entgrenzung des Filmischen im Post Cinema genauso eingeht wie die Bedeutung des Films für kulturelle Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozesse. Jene vom Kino ihren Ausgang nehmende filmische Entriegelung des Wahrnehmungsphänomens und die Verschiebung des Horizonts, in dem sich Wahrnehmungsakte abspielen und zu typisierten Assoziationsketten werden, sind zwei wichtige Bausteine für eine dispositive Perspektive auf Hollywood. Der Erfolg des Hollywood-Kinos als filmisch vollzogene Selbstdeutung einer Kultur hat mindestens zur Voraussetzung, dass das Filmsehen kein avantgardistischer, nur vereinzelt auftretender Sonderfall einer medialen Kultur ist, sondern über das Kino bereits breiten Eingang in den Haushalt des Wahrnehmungslebens gefunden hat. Dass Hollywood als Verbreitungsinstanz seine Stellung als industrielle Kunstform maßgeblich über das Kino erreicht und gehalten hat, deutet daher auf das historische Ineinandergreifen von Kino als Dispositiv im engeren Sinne und Kino als kulturelle Praxis, die Teil eines größeren Wahrnehmungszusammenhangs ist. Auf das Filmsehen als Teil des lebensweltlichen Wahrnehmungshaushalts hinzuweisen, mag vom heutigen Standpunkt aus gesehen trivial und selbstverständlich erscheinen. Dennoch ist es sinnvoll, sich dies angesichts der Debatten um das Ende des Kino-Dispositivs und den Eintritt ins Zeitalter des Post Cinema20 noch einmal zu vergegenwärtigen. Schließlich beruhen die Entgrenzung und Heterogenisierung des Filmischen auf den durch den Kinofilm eingeläuteten Veränderungen lebensweltlicher Wahrnehmungs- und Evaluationsprozesse, die sie fortführen und bis an einen Punkt weitertreiben, ab dem das Kino als ex-

20 Vgl. Linseisen, Elisa: »Werden/Weiter/Denken. Rekapitulation eines PostCinema-Diskurses«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 18, 1/2018, S. 203-209.

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planatorischer Bezugsrahmen nicht mehr ausreichend ist. Das Kino ist trotz der Krise, in die es auf Grund der Streuung des Films in Serien, digitalisierte Formate, seine Einbettungen in Displays und soziale Medien geraten ist, nicht obsolet, sondern vor die Herausforderung gestellt, sich selbst noch einmal neu zu positionieren. Insofern werden die Aussichten auf den Erfolg einer solchen Bewährungsprobe wohl wesentlich davon abhängen, ob und inwiefern das Kino sich als Teil der veränderten medialen Landschaft des Post Cinema begreift und es ihm gelingt, Irritationen wie Innovationen in sich aufzunehmen und zu einer neuen Erscheinungsform zusammenzuführen. So erscheint es auch plausibler, nicht von einem Ende des Kino-Dispositivs als solchem, sondern von einer Transformation des Filmischen zu sprechen, bei der allerdings nicht mehr vom Kinofilm als Leitmedium ausgegangen wird. Hollywood als Dispositiv zu begreifen, erlaubt es, es dem EntwederOder zu entziehen. Es handelt sich bei Hollywood weder um ein Auslaufmodell noch um eine zwanghafte Wiederholung, sondern um eine in Bewegung geratene und sich in Bewegung befindende Formation, die zusammen mit dem Kino-Dispositiv einer medialen und diskursiven Dezentrierung ausgesetzt ist, aber im Gegensatz zum apparativ begrenzten Kino-Dispositiv weitere darüber hinausgehende Elemente in sich aufnimmt und sie zu einem kulturell-medialen Feld zusammenfügt.

D ER B AND Der Band nimmt die vorangehende theoretische Exposition in drei Hinsichten auf, an denen zugleich auch seine Gliederung ausgerichtet ist. Der erste Abschnitt Hollywood | Wenden befragt die Theoriefähigkeit Hollywoods und diskutiert die Wende zum Post Cinema. Die dazu gehörende Denkbewegung lässt sich als ein Drehen und Wenden des Gegenstandes bestimmen. Um Hollywood in seiner Vielgestaltigkeit begreifen zu können, reicht ein monodisziplinärer Zugriff nicht aus. Drehen und Wenden heißt so auch, aus verschiedenen Winkeln auf Hollywood zu blicken, um der Komplexität des Gegenstandes Hollywood, vor die sich die Theoriebildung gestellt sieht, gerecht zu werden.

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Der Eingangsbeitrag von Martin Seel präsentiert Überlegungen zu einer non-hierarchischen Theorie des Films, indem er ausgehend von Adorno einen Begriff des konstellativen Denkens vorschlägt, der es erlaubt, unterschiedliche Medien und Künste zueinander in Beziehung zu setzen, von denen das Hollywood-Kino ein wichtiger Teil ist, der allerdings erst im Zusammenspiel mit anderen Formen des Films seine Möglichkeiten und Grenzen offenbart. Entlang der metaphorischen Doppelung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gibt Seel eine Reihe von Filmszenen und -figuren als Beispiele für ein nicht-hierarchisches Verhältnis scheinbar sich ausschließender Figuren, Typiken und Handlungslagen, deren vielschichtige Bezogenheit aufeinander erst aufgeht, wenn man den konstellativen Blick schärft. Lorenz Engells Beitrag nimmt ein Kernstück Hollywoods, nämlich das System des Genres, in den Blick. Dabei schlägt er vor, das Genre nicht, wie das häufig unternommen worden ist, als rigides Regelwerk zu untersuchen, sondern es stattdessen von seiner Parodie her zu begreifen. Am Beispiel von WAY OUT WEST (USA 1937, R: James W. Home) zeigt Engell, dass die Genre-Parodie nicht ein bestimmtes Genre adressiert, sondern das Prinzip des Genres. Insofern überschreitet die Genre-Parodie die beiden von Stanley Cavell entwickelten Grundformen des Genres, nämlich das Genre als Zyklus und das Genre als Medium. Beide werden in WAY OUT WEST nicht nur ineinandergeschoben, sondern durch Dopplungselemente zu einer dritten Linie verkettet, so dass sich im Genre der Parodie eine eigene Ordnung ausbildet. Diese Eigenständigkeit diskutiert Engell einerseits im Hinblick auf das Funktionieren von Genres als Grundprinzip des Hollywood-Systems und andererseits hinsichtlich der Logik und Ästhetik des Humors über Hollywood hinaus. Ivo Ritzer widmet sich in seinem Beitrag der Synthese von Traditionalismus und Moderne, die er als spezifisch ästhetisches Verfahren des postklassischen Hollywood-Kinos charakterisiert. Der moderne Traditionalismus, so Ritzer, steht in einem Spannungsverhältnis zwischen klassischem Bewegtbild und postklassischer Audiovisualität: Er blickt gleichzeitig zurück und nach vorn. Dies verdeutlicht Ritzer entlang einer eingehenden Betrachtung der Mise-en-Scène bei Walter Hill. Hier zeigt sich, wie das Alte im Neuen aufgeht, wie sich traditionelle ästhetische Verfahren unter den Gegebenheiten des Modernen modifizieren, ohne

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sich dabei jedoch komplett vom Vorangegangenen abzuspalten. Der moderne Traditionalismus löst das System Hollywood nicht auf, sondern bearbeitet es im Bewusstsein seiner Gemachtheit und Gewordenheit. Er trägt damit dazu bei, ein Feld neu zu kartographieren und es durch synthetisierende Operationen medienästhetisch zu konturieren. Thomas Elsaessers Beitrag nimmt die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit Hollywoods in den Blick und schlägt ein Theoriemodell vor, mit dem sowohl das klassische als auch das zeitgenössische Hollywood, seine stilistischen Genealogien und seine industriellen Gesetzmäßigkeiten, erfasst werden können. Zentral sind dabei variable Formen der Rückbezüglichkeit, die Elsaesser als Zusammenspiel von ästhetischer Selbstreferenz und ökonomischer Selbstregulierung entfaltet. Dabei umfasst der ›Hollywood Turn‹ sowohl den Film als System (die Stilistik Hollywoods) als auch die Filmindustrie als System (die ökonomische Arbeitsweise Hollywoods), deren Logiken in unterschiedlichen Modalitäten der Reflexivität und Rekursivität zusammenkommen. Wenn sich Hollywood an sich selbst ausrichtet und abarbeitet, dann in einer Form der Rückbindung, deren reflexive Effekte sich prozessual und progressiv vollziehen und diverse Rückkopplungen zwischen Kino und Film, Industrie und Publikum, klassischen und postklassischen Verhältnissen und Verständnissen in Gang setzen. Der zweite Abschnitt Hollywood | Welten widmet sich der Welthaltigkeit des Hollywood-Kinos. Welthaltigkeit meint dabei nicht allein die allgemeine und weit verbreitete Akzeptanz und Bekanntheit beim Publikum, für die Hollywood-Filme stehen. Es geht auch um die Tatsache, dass das Hollywood-Kino eine Vielfalt von anschaulichen Bezügen, Verweisen und Assoziationen auf eine kinematographische Totalität vereinigt, die man gemeinhin meint, wenn man von der Welt eines Films spricht. Die Welthaltigkeit Hollywoods stellt auf das Ganze filmisch präsentierter Bezüge ab, die über das Kino Teil der Lebenswirklichkeit werden. Anhand von zwei Filmen Christopher Nolans, MEMENTO (USA 2001) und INCEPTION (USA 2010), stellt Josef Früchtl die philosophische Bedeutung neuerer Hollywood-Filme und ihrer narrativen und intermedialen Verfahren heraus. Durch komplexes Geschichtenerzählen gelingt es beiden Filmen, eingespielte Auffassungen von personaler Identität, Erin-

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nerung, Wunsch und Wirklichkeit in Frage zu stellen. Für Früchtl nimmt das Vertrauen in die Welt den Rang einer zentralen filmphilosophischen Kategorie ein, mit der sich die weltbildende Wirkungsweise von Filmen auf existenzielle Phänomene des In-der-Welt-seins beziehen lassen. Ähnlich stellt Martin Gessmann einen Zusammenhang zwischen der Filmwelt und dem Begriff des Welt-Designs her, wie er vor allem im Bereich des Speculative Design prominent ist. Die Welthaltigkeit des Films hängt für Gessmann auch in hohem Maße von der konkreten Gestaltung eines Sets ab. Das Machen einer Welt des Films und im Speculative Desgin gehen hier Hand in Hand. Am Beispiel von Ridley Scotts GLADIATOR (USA 2000) zeigt er die kunstgeschichtlichen Bezüge zur Salonmalerei des 19. Jahrhunderts auf und belegt so die Relevanz des buchstäblichen Hintergrunds für die Wirkung des Hollywood-Films. Neben die grundlegenden film- und designphilosophischen Reflexionen tritt die Thematisierung von Hollywoods Figuren-, Motiv- und Bildwelten. Figurale Wiedererkennbarkeit gliedert sich in die Welthaltigkeit Hollywoods ein, die damit einen von vielen geteilten personalisierten Bezugspunkt der Selbstdeutung erhält und so Exemplarität und Individualität verbindet. Thomas Hilgers stellt dies mit Blick auf eine in den letzten Jahren erfolgreich wieder aufgenommene Figur aus dem Hollywood-Repertoire dar: Batman. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Bedeutung des Helden, wie sie in einer komplex gestalteten BatmanFigur virulent wird, darin besteht, ein Beispiel für individuelle Selbstbestimmung, -darstellung und -stimmigkeit zu geben. Indem er die herkömmliche Dualität von Maske und authentischem Selbst in Bezug auf Batman und Bruce Wayne in Bewegung versetzt, argumentiert Hilgers dafür, die Maske nicht als Verstellung, sondern als Ausdruck dessen zu begreifen, wer Batman eigentlich ist. Darauf, dass die Welthaltigkeit des Hollywood-Kinos in hohem Maße auf dem Bild, das es sich von der Welt macht, beruht, macht Lisa Gotto in ihrem Beitrag aufmerksam. Dabei geht sie davon aus, dass das Hollywood-Kino im Zeitalter des Post Cinema seine eigenen Bilderfordernisse neu ausrichtet und diesen Prozess in sich selbst anschaulich werden lässt. Am Beispiel des Klima-Katastrophenfilms THE DAY AFTER TOMORROW (USA 2004, R: Roland Emmerich) zeigt sie, wie sich das Narrativ des Klimawandels mit der Reflexion des Bildwandels ver-

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schränkt und welche postkinematographischen Bild- und Bauformen dabei zum Tragen kommen. Im Zentrum steht dabei die Diskussion der Begriffe Attraktion, Simulation und Spekulation sowie die Frage, wie sie als postkinematographische Aushandlungsbereiche ästhetisch produktiv werden können. Mit dem dritten Abschnitt Hollywood | Weiten wendet sich der Band einer breiteren Kontextualisierung Hollywoods zu. Dabei geht es einerseits um die Weite Hollywoods im Sinne seiner globalen Reichweite und Verbreitung, andererseits aber auch um die Notwendigkeit einer kritischen Ausweitung der Sicht auf Hollywood von Innen und Außen. Das Feld weiter aufzuziehen, auf dem Hollywood als dominanter Spieler auftritt, gehört ebenso zu einer angemessenen Thematisierung der Komplexität Hollywoods wie andere Horizonte mit einzubeziehen, die anderes als Hollywood und sein Selbstbild aufrufen. Damit ist auch das prekäre Verhältnis Hollywoods zu sich selbst angesprochen. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre schließt dies die Frage ein, wie sich Hollywood zu Serien-Produktionen verhält und sich darin nicht nur fortsetzt, sondern auch auf einen neuen Boden versetzt und mit anderen Ansprüchen konfrontiert sieht. Will Hollywood sich durch die Serialisierung des Filmischen nicht abgehängt sehen, muss es sich diese produktiv aneignen. Das bedeutet langfristig aber eine Abkehr von Voraussetzungen, wie sie für das Kino-Dispositiv grundlegend sind. Hollywood im Zeichen der Post Cinema wird ein weiteres Mal auf sich selbst zurückgeworfen und dazu genötigt, die enge Liaison von Kino und Blockbuster wenn schon nicht aufzulösen, so doch an entscheidenden Stellen zu lockern und Raum für andere Produktions- Rezeptions- und Distributionsformen zu schaffen. Die Zukunft Hollywoods als industrieller Produktionsstätte von Film mit globalem Anspruch wird, so darf vermutet werden, weniger davon abhängen, ob das Kino sich als eine Erscheinungsform des Films behauptet, sondern ob es ihm gelingt, an der Weiterentwicklung der Serialisierung und Entortung des Films so mitzuwirken, dass es seinen gleichsam weltumspannenden Wiedererkennungseffekt vom Kino in den unbestimmten Raum dessen, was danach kommt, erfolgreich überträgt. Sebastian Lederle stellt in seinem Beitrag zunächst einen Zusammenhang zwischen dem kulturellen Selbstbild der USA und der Serie

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HOUSE OF CARDS (USA 2013-2018, Netflix) her, wobei er den hohen Stellenwert, den Selbsterfindung, Produktivität und Imaginativität dabei einnehmen, besonders hervorhebt. Lederle schlägt eine Interpretation vor allem der fünften Staffel der Serie vor, in der er einerseits den zunehmenden Verlust an referenzieller Stabilität und narrativer Plausibilität und die Entgrenzung des Machtstrebens des Protagonisten formalästhetisch als theatrale Performanz bestimmt, und andererseits die Figur Underwood auf den US-Präsidenten Trump und den Schauspieler Spacey bezieht. Die Fiktionalisierung ist nicht bloß ein modus operandi einer ambitioniert konzipierten Serie, sondern deutet darüber hinaus auf den fiktionalen und medialen Kern des Bildes von Hollywood, das auch da noch Bestand hat, wo man versucht, kritisch hinter die Kulissen zu blicken. Hanna Hamel vertritt in ihren Ausführungen zu David Lynchs Serie TWIN PEAKS: THE RETURN (USA 2017, Showtime) die These, dass diese von einer Konzeption des Nachbarschaftlichen her entschlüsselt werden kann. Was topographisch als ein Weltende nordwestlich von Hollywood bezeichnet wird, meint das Ende einer bisher dominanten, über das Kino laufenden Repräsentationsform Hollywoods, die die Welthaltigkeit seiner Filme in einer eingerahmten Totalität verankert. Dabei verweist die mehrdeutige Struktur der Serie auf den Entzug einer organisierenden, sinnstiftenden Mitte. Hamel zeigt, wie TWIN PEAKS von dem Zerfall der modernen Lebenswelt handelt, der sich zugleich in der ästhetischen Darstellungsweise der Serie wiederfindet. Dabei spielt die von Hamel herausgestellte ›nukleare Katastrophe‹, die sie unter anderem in der Auflösung der Kernfamilie festmacht, eine zentrale Rolle. Michaela Ott stellt in ihrem Beitrag nicht nur eine Reihe afrikanischer Filmproduktionen vor, sondern arbeitet ausführlich die Schwierigkeiten heraus, mit denen solche Produktionen konfrontiert sind, wenn einerseits eine Abgrenzung mit eigenen Themen und Stilen vom Hollywood-Kino gelingen soll, andererseits aber seine Wirkmacht nicht einfach geleugnet werden kann, wenn es um narrative Vorgaben, Figurenzeichnungen und die ökonomische Infrastruktur der Filmproduktion geht. Sie kritisiert dabei sowohl die Auslieferung an eine globale HollywoodHegemonie als auch die Auffassung eines vermeintlich afrikanischen Films im Sinne einer von Einflüssen und Abhängigkeiten gänzlich freien

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Produktion. Dagegen schlägt sie im Anschluss an Theorien des Afropolitanen einen Begriff des Hybrid- oder Kompositkulturellen vor, der es erlaubt, eine komplexe und reflexive Sicht auf afrikanische Filme einzunehmen. Mit vier Thesen nähert sich abschließend Gertrud Koch dem Komplex Hollywood. Dabei geht sie geht von einer heterotopischen Differenz aus, die in Hollywood selbst eingebaut ist. Es gibt Koch zufolge keinen einsinnigen, einheitlichen und festen Ort, an dem Hollywood anzutreffen ist. Da Hollywood die kapitalistische Trennung von Arbeit und Freizeit vertieft und affirmiert, ist sein Kino heterotopisch im Sinne Foucaults: Wer im Kino einen Hollywood-Film sieht, ist in einem radikalen Sinne anderswo. Genau jenes Absehen von der kapitalistischen Arbeitswelt macht den globalen Erfolg Hollywoods als Perspektive und Gegenstand aus. Im Rückgriff auf den Begriff der lebendigen Arbeit bei Karl Marx wendet sich Koch dem Körper und dem Verhältnis von Arbeit vor der Kamera und Arbeit mit dem eigenen Körper zu. Koch bezieht dies einerseits auf den Pornofilm als einem Hollywood immanenten Teil und andererseits auf die MeToo-Bewegung, deren Motive sie kritisch rekapituliert. Seinen Körper zu verkaufen, um Aufstiegschancen in der Filmindustrie Hollywoods zu erhöhen, spaltet den weiblichen Körper in einen biologischen und einen symbolischen. Für Koch rührt die anhaltende Faszination Hollywoods schließlich in der Zurschaustellung realer Körper, über die man wiederum buchstäblich nichts weiß, da sie nur in einer Fiktion vorkommen, die von den ausbeuterischen Bedingungen, unter denen sich die Arbeit im System Hollywood vollzieht, abstrahiert. Das Konzept dieses Bandes geht zurück auf die Tagung »Hollywood: Zwischen Anpassung und kritischer Zeitgenossenschaft«, die von Sebastian Lederle organisiert und in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik im Januar 2018 in Wien durchgeführt wurde. Die inhaltliche Ausrichtung wurde für das Buch erweitert und durch zusätzliche Beiträge ergänzt. Wir danken unseren Autoren für ihre Vortrags- und Textarbeit und Laura Katharina Mücke und Jan-Hendrik Müller für ihren Einsatz bei der Erstellung der Druckvorlage.

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L ITERATUR Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Riesinger, Robert (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer Debatte. Münster: Nodus 2003, S. 41-62. Bazin, André: »Der Mythos vom totalen Film«, in: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander 2002, S. 43-50. Deleuze, Gilles: »Was ist ein Dispositiv?« [1988], in: Ewald, François; Waldenfels, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 153-162. Engell, Lorenz: »Kino ohne Kino. Zur Medienanalyse zweier Nationaldenkmäler«, in: ders., Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: VDG 2000, S. 245-263. Engell, Lorenz/Oliver Fahle/Vinzenz Hediger/Christiane Voss (Hg.): Essays zur Film-Philosophie, Paderborn: Fink 2015. Elsaesser, Thomas: The Persistence of Hollywood. London: Routledge 2011. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen, Wahrheit, Berlin: Merve 1978. Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt, Paderborn: Fink 2013. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avantgarde«, in: Wide Angle 8, 3-4/1986, 63-70. Koch, Gertrud: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2016. Krützen, Michaela: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood, Frankfurt a. M.: Fischer 2010. Lederle, Sebastian: »Immersion und Illusion. Anmerkungen zu einer begrifflichen Konstellation«, in: Navigationen 2019/1. Immersion. Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts, S. 123-143. Linseisen, Elisa: »Werden/Weiter/Denken. Rekapitulation eines PostCinema-Diskurses«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 18, 1/2018, S. 203-209. Mattenklott, Gert (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 4/2004.

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Ott, Michaela: u.a. Hollywood. Phantasma/Symbolische Ordnung in Zeiten des Blockbuster-Films, München: edition text und kritik 2005. Schmidt, Oliver: Hybride Räume. Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende, Marburg: Schüren 2013. Seel, Martin: Die Künste des Kinos, Frankfurt a. M.: Fischer 2013. Seel, Martin: »Hollywood« ignorieren? Frankfurt a. M.: Fischer 2017. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, Paderborn: Fink 2013.

F ILME DUNKIRK (USA 2017, R: Christopher Nolan) GLADIATOR (USA 2000, R: Ridley Scott) HAIL CAESAR! (USA 2016, R: Joel & Ethan Coen) HOUSE OF CARDS (USA 2013-2018, Netflix) INCEPTION (USA 2010, R: Christopher Nolan) LA LA LAND (USA 2016, R: Damien Chazelle) MEMENTO (USA 2001, R: Christopher Nolan) PIRATES OF THE CARIBBEAN (USA 2003ff., R: Gore Verbinski) TRANSFORMERS (USA 2007ff., R: Michael Bay) THE BOURNE IDENTITY (USA 2002, R: Doug Liman) THE BOURNE SUPREMACY (USA 2004, R: Paul Greengrass) THE BOURNE ULTIMATUM (USA 2007, R: Paul Greengrass) THE DAY AFTER TOMORROW (USA 2004, R: Roland Emmerich) TWIN PEAKS: THE RETURN (USA 2017, Showtime) WAY OUT WEST (USA 1937, R: James W. Home) WESTWORLD (USA 2016ff., HBO)

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Für eine nicht-hierarchische Theorie des Films MARTIN SEEL

Da es sich nicht von selbst versteht, was unter einer ›nicht hierarchischen Theorie‹ irgendeines Gegenstandsbereichs zu verstehen ist, werde ich im ersten Teil meines Beitrags überlegen, was es mit nicht hierarchischen Theorien auf sich hat – mit solchen des Films, mit solchen der übrigen Künste und anderer ästhetischer Phänomene und schließlich mit nicht hierarchischem Denken generell (einmal angenommen, es gäbe so etwas). Im zweiten Teil werde ich auf den Kinofilm zurück und dabei auf einige Filme zu sprechen kommen, die sich möglicherweise ihrerseits als Instanzen eines nichthierarchischen Denkens verstehen lassen, was vielleicht einen zusätzlichen Beleg dafür liefert, dass eine Philosophie oder sonstige Theorie des Films gut beraten ist, es mit hierarchischem Denken zumindest nicht zu übertreiben.

I. W IDER

DIE

H IERARCHIE

Die Formel ›nicht hierarchisches Denken‹ ist zunächst einmal geeignet, dem auf den ersten Blick irreführenden Titel meines jüngsten Buchs über

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das Kino – »Hollywood« ignorieren – eine etwas seriösere Fassung zu geben.1 Das Leitmotiv ist dort, dass eine Theorie des Kinofilms schlecht beraten ist, sich am Paradigma entweder des sogenannten Hollywoodfilms oder des sogenannten Autorenkinos zu orientieren, wie es lange Zeit geschehen ist und gelegentlich noch immer geschieht2. Kaum anders geht es in vielen Bereichen der Theorie des künstlerischen Bildes zu. Es wird eine Theorie des sogenannten gegenständlichen Bildes entworfen, um anschließend, wenn es dazu überhaupt kommt, eine nachgereichte Erklärung für die Eigenart des sogenannten ungegenständlichen Bildes zu finden, womit von vorneherein derjenige Strang der modernen Malerei verkannt werden muss, der auf beiden Ebenen zugleich operiert3. Einseitige Diät ist weder hier noch dort bekömmlich, wenn es darum geht, über das spezifische Potential der betreffenden Künste nachzudenken. So ist bekanntlich das klassische wie das spätere Kino aus Hollywood sehr viel heterogener als die handelsüblichen Klischees es wollen4. Mit solchen Typologien vorsichtig umzugehen lohnt sich auch (und vielleicht sogar insbesondere), wenn man bestimmte Perioden oder Motive der Filmproduktion in Augenschein nimmt – wie es in einigen Kapiteln meines genannten Buchs im Blick auf die filmischen Reaktionen auf 9/11 und dem jüngsten Irakkrieg geschieht5. Das Spektrum der vielstimmigen Reaktionen mitsamt ihren politisch-ideologischen Implikationen gerät mit Scheuklappen gegenüber den oft latenten Korrespondenzen verschiedener Stilarten und Produktionsweisen überhaupt nicht in den Blick. Das Prädikat ›nicht hierarchisch‹ hat in diesem Zusammenhang zwei Bedeutungen. Erstens eine normative: Man versteht eine Spielart des Films nicht oder hat nur einen beschränkten Zugang zu ihr, wenn man nur 1

Seel, Martin: »Hollywood« ignorieren. Vom Kino, Frankfurt a.M.: Fischer

2

Jüngere Beispiele sind: Gaut, Berys: A Philosophy of Cinematic Art, Cam-

2017. bridge: Cambridge University Press 2010 und Andrew, Dudley: What Cinema is!, Chichester: Wiley-Blackwell 2010. 3

Wie es exemplarisch zu sehen war in der Ausstellung Matisse – Bonnard. Es lebe die Malerei! im Frankfurter Städel Museum, Sept.-Jan. 2017/18 (Katalog München, London, New York 2017).

4

Vgl. M. Seel: »Hollywood« ignorieren, Kap. 1.

5

Ebd., Kap. 9-11.

F ÜR EINE NICHT - HIERARCHISCHE THEORIE DES FILMS | 35

diese seiner Spielarten zu schätzen weiß. Zweitens eine methodische: Man versteht die Formen des Filmischen nicht, wenn man sich nur auf eine seiner Spielarten theoretisch einen Reim zu machen versteht. Mutatis mutandis gilt dasselbe im gesamten Feld der Theorie der Künste – und darüber hinaus des Ästhetischen überhaupt. Auch hier kommt es immer wieder zu hierarchischen Festlegungen, die einen freien Blick auf die fraglichen Phänomenbereiche verstellen. »Durch diesen Ausdruck [den einer »Philosophie der schönen Kunst«, M.S.] nun schließen wir sogleich das Naturschöne aus«, sagt Hegel gleich zu Beginn seiner Vorlesungen über die Ästhetik. Ausgeschlossen freilich bleibt das Naturschöne aus seinen Betrachtungen keineswegs, denn der Kontrast zwischen Naturschönheit und Kunstschönheit spielt eine konstitutive Rolle für Hegels Theorie der letzteren, die freilich mit einer harschen Abwertung der ersteren verbunden ist. In der Einleitung dieser Vorlesungen heißt es in einer der vielen Passagen, in der Hegel die »dem Geiste entsprungene Kunst« der »äußeren geistlosen Natur« gegenüberstellt: »Der denkende Geist wird sich in dieser Beschäftigung mit dem Anderen seiner selbst [dem sinnlichen Erscheinen künstlerischer Objekte] nicht etwa ungetreu, so daß er sich darin vergäße und aufgäbe, noch ist er so ohnmächtig, das von ihm Unterschiedene nicht erfassen zu können, sondern begreift sich und sein Gegenteil.«6 An dieser Stelle und in dem – durchaus gehaltvollen – Kapitel über das Naturschöne hat Hegel die Gelegenheit verpasst, in der ästhetisch wahrgenommenen Natur eine genuine Möglichkeit der Begegnung des Subjekts in seinem Anderen zu erkennen7. Nicht minder fragwürdig sind die von Hegel und vielen anderen Ästhetikern (vor allem im 19. Jahrhundert) ausgemachten Hierarchien unter den Künsten. Bei näherer Betrachtung der Verwandtschaften unter den Künsten jedoch sind derlei Rangordnungen nicht durchzuhalten – nicht einmal von einem wie Hegel. Denn ausgerechnet bei ihm, der sich in seinen Vorlesungen massiv eines hierarchischen Denkens schuldig macht, was sich an einer seiner Lieblingswendungen zeigt, dieses und jenes, außerhalb und innerhalb der 6

Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 28.

7

Seel, Martin: »Das Naturschöne und das Kunstschöne«, in: Birgit Sandkaulen (Hg.), Klassiker Auslegen. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Berlin: De Gruyter 2018, S. 37-71.

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Künste, befinde oder bewege sich ›höher hinauf‹ in den Domänen des objektiven Geistes – ausgerechnet bei Hegel findet sich ein emphatisches Lob der Architektur, jener Kunstart, die bei ihm offiziell als die niederste von allen rangiert. (Bekanntlich ist der inoffizielle Hegel in seinen Vorlesungen dem offiziellen nicht selten überlegen.) Hegel beginnt das Kapitel über »den allgemeinen Charakter der Musik« mit einem Vergleich derselben »mit den bildenden Künsten und der Poesie«. »Erstens«, heißt es da, »steht sie [die Musik] zur Architektur, obschon sie derselben entgegengesetzt ist, dennoch in einem verwandtschaftlichen Verhältnis.«8 Denn der Musik kommt ein »architektonischer Charakter« zu, da auch sie eine Kunst der Raumbildung ist, die »wie die Architektur« ihre Zuhörer mit einem »nach den Regeln der Symmetrie und Eurhythmie« gestalteten »Tongebäude« umfängt9. Der architektonischen Seite der Musik, heißt das, entspricht eine musikalische der Architektur – ein Gedanke, dem Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder der Architekt ein literarisches Denkmal gesetzt hat10. Über den fiktiven Architekten Eupalinos sagt Phaidros zu Sokrates: »Er bereitete dem Licht ein unvergleichliches Instrument vor, das es – vollständig erfüllt von der verständlichen Form und versehen mit beinah musikalischen Eigenschaften – verbreitete in den Raum, in dem die Sterblichen sich bewegen.«11 Auch hier, was das Verhältnis der Künste und ihre Theorie betrifft, lassen sich ein normativer und ein methodischer Aspekt unterscheiden. Normativ: Man versteht eine Kunstform (oder die Eigenart anderer Dimensionen des Ästhetischen) nicht oder hat nur einen beschränkten Zugang zu ihr, wenn man nicht auch etliche der anderen zu schätzen weiß. Methodisch: Man versteht eine Kunstform nicht, wenn man nicht ihre ostentativen und latenten Affären mit den anderen Künsten und weiteren Di-

8

Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

9

Ebd., S. 138f.

1970, S. 138. 10 Valéry, Paul: Eupalinos oder der Architekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 66-70. 11 Ebd., S. 69.

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mensionen des Ästhetischen erkennt und anerkennt – wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse, die von einem Ranking unter den Künsten (und unter anderen ästhetischen Sphären) zwangsläufig verzeichnet werden12. Die Meriten eines nicht hierarchischen Denkens zeigen sich aber nicht allein im Gefilde ästhetischer Theorien, sondern auch in anderen Bereichen der Philosophie. Freilich ist ›nicht hierarchisches Denken‹ (in allgemeiner Bedeutung) zunächst einmal eine paradoxe Kennzeichnung. Denn viele Formen des Denkens sind hierarchisch oder kommen zumindest ohne hierarchische Verhältnisse nicht aus. Theoretische oder praktische Schlüsse und Argumente basieren auf Prämissen, von denen die jeweils erreichten Konklusionen abhängig sind, Überzeugungen aller Art beruhen auf Präsuppositionen und enthalten Implikationen, denen die, deren Überzeugungen es sind, wissentlich oder unwissentlich unterliegen – usw. Alles Denken basiert auf derartigen Abhängigkeiten und erzeugt sie stets von Neuem – Abhängigkeiten, denen nicht zu entkommen ist, solange man überhaupt denkt. Dergleichen gilt auch und erst recht im Feld der Theorie. Trotzdem eröffnen sich hier Möglichkeiten eines mehr oder weniger und in einem bestimmten Sinn gar nicht hierarchischen Operierens. Nicht hierarchisch, so möchte ich sagen, verfährt eine theoretische Praxis, die es nicht darauf anlegt oder es sogar systematisch verweigert, ihre Grundbegriffe in eine hierarchische Ordnung zu bringen. So ein Denken gibt es, jedenfalls in einer nicht unerheblichen Strömung der Philosophie. Ein gutes Beispiel ist die Sprachphilosophie13. Von der Prosa zur Poesie: So verläuft, wenn es – wiederum – überhaupt soweit kommt, die gängige Erklärungsrichtung des philosophischen Nachdenkens über die Sprache. Von der Poesie zur Prosa: So verläuft, in einer dissidenten Strömung der Sprachphilosophie, die Erläuterung des Sinns sprachlicher Bedeutungen. Zu der ersten, dominanten Traditionslinie gehören in der Nachfolge Freges so unterschiedliche Autoren wie Quine, Dummett, Davidson, Habermas oder Brandom. Die zweite Linie verfolgen Sprachdenker wie Hamann, Nietzsche oder Benjamin. Für die einen ist die 12 In meinem Buch über Die Künste des Kinos (2013) habe ich dies für eine Kunstform ein Stück weit durchgespielt. 13 Vgl. zum Folgenden: Seel, Martin: »Gedanken und Gesten«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 11.1 (2017), S. 137-141.

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möglichst eindeutige wörtliche – also prosaische – Bedeutung von Sätzen oder Äußerungen der paradigmatische Fall der Sprachverwendung; poetische Rede verhält sich hierzu in logischer und methodischer Hinsicht parasitär. Für die anderen hingegen ist die im jeweiligen Kontext vieldeutige poetische Rede der paradigmatische Fall; Prosa erscheint als eine Minusform der Poesie. Die einen beginnen mit einem möglichst armen, die anderen mit einem möglichst reichen Begriff der Sprache. Die einen werfen ihren Kontrahenten vor, sie seien einem konfusen Verständnis der Sprache verfallen, die anderen entgegnen ihren Kritikern, diese seien in einem armseligen Bild der Sprache gefangen. Diese Alternative ist aber alles andere als vollständig, wie sich an den Schriften Herders, Wilhelm von Humboldts, Adornos, Derridas und Charles Taylors unschwer erkennen lässt. Der wichtigste Kronzeuge in dieser Sache aber ist Wittgenstein. In § 531 seiner Philosophischen Untersuchungen heißt es: »Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in dem er durch einen anderen ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen anderen ersetzt werden kann. (So wenig, wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)« 14

Der entscheidende Gestus dieser Passage liegt nicht in einer Trennung dieser Möglichkeiten des Verstehens, sondern in ihrer simultanen Berücksichtigung. Sie werden stereoskopisch in den Blick genommen. Der folgende Paragraph lässt hieran keinen Zweifel: »So hat also ›verstehen‹ zwei verschiedene Bedeutungen? – Ich will lieber sagen, diese Gebrauchsarten von ›verstehen‹ bilden seine Bedeutung, meinen Begriff des Verstehens. Denn ich will ›verstehen‹ auf alles das anwenden.«15 14 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 233. 15 Ebd.

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In diesem Gestus unterläuft Wittgenstein die irreführende Alternative in der Sprachphilosophie zwischen entweder der Poesie oder der Prosa als Grundform der Rede – mit weitreichenden Folgen (aber ja: Folgen) für die Philosophie des Geistes, die Handlungstheorie und andere Bereiche. Beim späten Wittgenstein verhält es sich außerdem so, dass diese Enthierarchisierung in der Gestalt von Texten vollzogen wird, die sich der Architektonik eines logischen Aufbaus oder der linearen Entfaltung handelsüblicher Großtheorien radikal entziehen. Sie sind Virtuosenstücke dessen, was Adorno im Geist Benjamins »konstellatives Denken« genannt hat. Dessen systematische Kraft »überlebt«, schreibt Adorno deshalb am Beginn des »Konstellation« betitelten Abschnitts der Negativen Dialektik, »ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstes Prinzip sich zu überantworten, dadurch, dass nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeinen Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstands, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last.«16 Unter dem Stichwort »Für Nach-Sokratiker« hatte es rabiater noch in den Minima Moralia geheißen: »Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen, in der Beweisführung, recht behalten zu wollen.«17 Auf diesen extremen Modus freilich ist ein konstellatives Denken keineswegs festgelegt, denn es ist durchaus, wie das Beispiel der zuletzt genannten Autoren zeigt, zur Entfaltung von Theorien in der Lage, die der Rechtfertigung bedürfen und ihrer fähig sind. Ganz gleich jedoch, um welche Spielart es sich handelt, so viel dürfte gewiss sein: Nicht hierarchisches Denken ist unbotmäßiges Denken, weil es sich einer festgefügten Ordnung seiner Gedanken verweigert. Auch hier, wo es um die Machart philosophischer Theorien geht, lassen sich zwei Bedeutungen meines Leitbegriffs ausmachen. Einerseits eine normative: Man weiß die Abenteuer des Philosophierens erst richtig zu 16 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 162. 17 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 85. Diesem philosophischen Recht, nicht recht haben zu wollen, ist gewidmet: Seel, Martin: Nichtrechthabenwollen: Gedankenspiele, Frankfurt a.M.: Fischer 2018.

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schätzen, wenn man verstanden hat, dass seine nicht hierarchischen Formen nur die Kehrseite seiner hierarchischen Konstruktionen sind. Andererseits eine methodische: Man weiß die Prozessualität des Philosophierens erst richtig einzuschätzen, wenn man verstanden hat, dass es bei ihm um ein nie ein für alle Mal gelingendes Austarieren interdependenter – und das heißt: letztlich nicht hierarchisierbarer – Grundbegriffe und Grundverständnisse geht.

II. D R . J EKYLL & M R . H YDE Der Weg von diesem metaphilosophischen Exkurs zu einer Betrachtung der Künste des Kinos ist nicht allzu weit. Denn auch Filme sind nicht selten ihrerseits Instanzen eines unbotmäßigen Denkens, jedenfalls sofern man den Begriff des Denkens nicht auf Übungen im propositionalen Denken reduziert. Außerdem stehen Kinofilme, wie auch viele andere Kunstformen, in ihren besten Manifestationen häufig in einer beharrlichen Opposition gegen das Entweder-Oder, das Schwarz und Weiß, gegen die Separierung von Gut und Böse, E und U, A und O weitere Hierarchien unserer Selbst- und Weltdeutungen. Respektable Filme, ob aus ›Hollywood‹ oder nicht, spielen solche Unterschiede und Unterscheidungen in vielen Facetten durch und spielen ihnen mit – was eine Grundbedingung ihrer kritischen Zeitgenossenschaft sein dürfte. Der von William Carlos Williams inspirierte Film PATERSON von Jim Jarmusch (USA 2016) führt eine ganze Reihe von Figuren vor, die nicht nur das sind, was sie zu sein glauben oder zu sein scheinen. Paterson, die Hauptfigur (gespielt von Adam Driver, sonst eher im Schurkenfach zuhause), versteht sich als Busfahrer und ist zugleich Dichter; Laura, seine Frau, versteht sich als Künstlerin und ist eine begnadete Bäckerin; Doc, der Barkeeper, ist ein Meister im Schach; Donny, der Manager des BusDepots, ist eine Nervensäge und doch ein fürsorglicher ›pater familias‹; der namenlose japanische Tourist ist ebenso sehr Dichter wie Therapeut. Diese und weitere ›double identities‹ werden durch das Motiv wiederholt durch den Film geisternder Zwillinge grundiert. Es ist nicht klar, ob oder in welchem Maß den Figuren klar ist, dass sie nicht sind, was sie zu sein glauben oder nicht zu sein glauben, was sie sind. Ohne ein Wort darüber

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zu verlieren stellt der Film die Frage, ob nicht in der Frage, wer man eigentlich sei und wozu in aller Welt man eigentlich da sei, ein Irrglauben liegt, ein Sichverfehlen, ein Ausweichen vor den eigenen Möglichkeiten, das die eigenen Möglichkeiten geradewegs verstellt, wie es bei jedem Lebensweg geschieht, den die, die ihn gehen oder zu gehen glauben, für den einzig wahren Weg halten. In dem Film FACE/OFF von John Woo (USA 1997) lässt sich der eigentlich Gute (dargestellt von John Travolta) das Gesicht und den Körper des eigentlich Bösen (dargestellt von Nicholas Cage) geben, um einen ansonsten unlösbaren Fall zu lösen, was jedoch dadurch erschwert wird, dass der eigentlich Böse im Gegenzug das Gesicht und den Körper des eigentlich Guten annimmt und alle Spuren dieser Verwandlung verwischt. Die meiste Zeit des Films ist daraufhin der Gute, nun dargestellt von Cage, mit dem Gesicht des Bösen unterwegs, in dem verzweifelten (nach den üblichen Irrungen und Wirrungen gelingenden) Versuch, im Kampf mit dem Bösen, nun dargestellt von Travolta, der mit dem Gesicht des Guten unterwegs ist, sein Gesicht zu retten. Seltsamerweise funktioniert das. Man stellt sich vor, dass Travolta nun in der Haut von Cage und Cage nun in der Haut von Travolta steckt, so als hätte die Operation tatsächlich an den Schauspielern stattgefunden. Wenn am Ende die von Travolta verkörperte Figur, der eigentlich Gute, dann doch wieder ›sein‹ Gesicht erhält, bleibt ein Schaudern darüber, wie wenig das Gesicht eines Menschen seine Identität verbürgt. Mit derartigen Fällen des Doppelgängertums und changierender Persönlichkeitsstrukturen haben wir es auch in vielen anderen Kinoerzählungen zu tun. Ethan Edwards (John Wayne) in John Fords THE SEARCHERS (USA 1956) ist ein Charakter, der das Böse will und am Ende doch, man weiß nicht warum, das Gute schafft. Tom Doniphon (John Wayne) ist in Fords THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (USA 1962) ein Virtuose des Western ›Law of the Gun‹, der durch sein Handeln seiner eigenen Lebensform die Grundlage entzieht. Neil McCauley (Robert De Niro) und Vincent Hanna (Al Pacino) in Michael Manns HEAT (USA 1995) sind ver-

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wandte Seelen, die nur zufällig auf verschiedenen Seiten des Gesetzes stehen18. Jason Bourne ist in der dieser Figur gewidmeten Serie von Filmen19 ein Killer, der keiner mehr sein will, sich aber bei seiner lebensgefährlichen Selbsttherapie auf seine Killerinstinkte verlassen muss. Georges Laurent (Daniel Auteuil) ist in Michael Hanekes Film CACHÉ (F/A/DE/IT 2005) der Zeremonienmeister einer Literatursendung im Fernsehen, der die Begegnung mit seiner dunklen Seite nicht verhindern kann. Sebastian Lederle ist im bürgerlichen Leben ein seriöser Blumenbergforscher, der im Darknet für seine melancholisch gefärbten neopataphysischen Theoriesatirenfilme bekannt ist. Der ›locus classicus‹ einer Untersuchung solcher Zerrissenheiten und Gespaltenheiten ist die Novelle The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) von Robert Luis Stevenson, erschienen im Jahr 1886, also knapp bevor der Film seine atemberaubende Karriere begann, der sich immer neue Adaptionen dieses Stoffs seit 1920 natürlich nicht entgehen ließ (zu den bekanntesten zählen die Verfilmungen durch Rouben Mamoulian im Jahr 1931 und durch Victor Fleming 1941, diese mit Spencer Tracy, Ingrid Bergmann und Lana Turner). Dr. Jekyll ist ein wohlbeleumdeter Londoner Arzt, der es müde ist, ständig mit den düsteren Seiten seiner selbst zu ringen. Des Wechselspiels von Gier und Güte überdrüssig, erfindet er eine Droge, die es ihm erlaubt, die beiden Seelen in seiner Brust säuberlich voneinander zu trennen; Ego und alter Ego sollen sich nicht länger in die Quere kommen. Nimmt er das Elixier, verwandelt er sich in sein alter Ego, den sadistischen und, wie sich herausstellt, mordlustigen Mr. Hyde, nimmt er sie erneut, ist er wieder der umgängliche Arzt (in Jarmushs Film wird dieses Gespann von einem brav tuenden, aber bösartigen Hund namens Marvin verkörpert). Doch die Bereinigung des clair-obscur im eigenen Selbstverhältnis schlägt fehl; was Linderung versprach, führt geradewegs ins Verderben. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Dr. Jekyll die Kontrolle über seine Verwandlungen verliert und schließlich in der hässlichen Gestalt des Mr. Hyde ein qualvolles Ende findet. 18 Zu diesen drei Filmen vgl. M. Seel: »Hollywood« ignorieren, Kap. 5-7. 19 THE BOURNE IDENTITY (USA 2002, R: Doug Liman); THE BOURNE SUPREMACY (USA 2004, R: Paul Greengrass); THE BOURNE ULTIMATUM (USA 2007,

R: Paul Greengrass); THE BOURNE LEGACY (USA 2012, R: Tony Gilroy); JASON BOURNE

(USA 2016, R: Paul Greengrass).

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Nicht nur einzelne Filme wie die von mir erwähnten, sondern ein ganzes Genre wie der Film Noir und seine späteren Wiedergänger haben ein ums andere Mal ihr Spiel mit solchen ›double (or multiple) identities‹ getrieben. Natürlich bildet die Motivlage, die ich hier herausgegriffen habe, nur ein begrenztes Segment des Figurenarsenals, das das Kino zu bieten hat. Und natürlich leben die eindrucksvolleren Exemplare dieses Arsenals stets von einer Formensprache, die ihren Ambiguitäten überhaupt erst Gestalt verleiht. Denn wie Spielfilme ihre Figuren präsentieren, hängt immer davon ab, wie sie sich präsentieren – und damit von ihrer eigenen Doppelgesichtigkeit, mit der sie alles in ihnen Dargebotene zusammen mit ihrer Sicht auf es zur Anschauung bringen. Diese Formverhältnisse bringen es mit sich, dass jeweils hergebrachte Darstellungsverfahren andauernd transponiert, transformiert und folglich so transfiguriert werden, dass die vielen miteinander verwandten Charaktere, die einen Großteil der Spielfilme bevölkern, immer wieder in verwandelter Gestalt erscheinen. Auf eine repräsentative Übersicht aber kommt es mir an dieser Stelle gar nicht an. Denn ich möchte die Art von Figurenkonstellationen, an die ich erinnert habe, in ein allegorisches Bild dessen überführen, was es mit einem nicht hierarchischen Denken im Kontext einer Theorie des Films auf sich hat. Ein solches Bild allerdings gibt es bereits. Es war eine denkwürdige, in Bild und Film festgehaltene Szene, als Michael Haneke 2013 aus den Händen von Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger für Das weiße Band den Golden Globe für den besten ausländischen Film erhielt. Das Foto ging um die Welt und erlangte zumal in Österreich eine gesteigerte Aufmerksamkeit, weil auf ihm immerhin zwei prominente Kulturschaffende des Landes zu sehen waren. Jedoch möchte ich dieses Bild frei nach Arnulf Rainer – einem weiteren Österreicher – ein wenig übermalen. Dann sieht man hier ›Hollywood‹ in Gestalt des Dr. Jekyll und das Arthouse-Kino in Gestalt des Mr. Hyde – oder, je nach ästhetischem und theoretischem Geschmack, eben umgekehrt. Man blickt auf der einen Seite in das Gesicht des populären, ökonomisch überaus profitablen, einer universell kommensurablen Sprache fähigen Kinos. Man blickt auf der anderen Seite in das Gesicht des vergleichsweise elitären, von Kulturfördergeldern mühsam am Leben erhaltenen, nur seiner idiosynkratischen Sprache verpflichteten Kinos. Wenn und solange man nur das sieht, stehen Kritikerinnen und Theoretikerinnen vor der Entscheidung, entweder für die

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Partei des Guten oder des Bösen zu optieren – ganz gleich, auf welcher Seite man diese dargestellt sieht. Aber dieses Bild, schließlich reden wir von Spielarten des Filmischen, lässt sich auch in Bewegung bringen. Sobald dies geschieht, werden wir immer größere Mühe haben zu unterscheiden, wer gerade den Jekyll und wer gerade den Hyde gibt, und mehr noch, wie, wo und wohin sich gerade der eine und wie, wo und wohin sich gerade der andere bewegt. Die Sicherheit einer säuberlichen Trennung beider Seiten vergeht, je deutlicher es sich herausstellt, dass – und wie sehr – die eine Seite sich oft die Energien der anderen zunutze macht oder an ihnen partizipiert, was bis zu einem gegenseitigen Vampirismus führen kann, die Tugenden der einen werden zu denen der anderen, die Laster der anderen werden zu denen der einen, aber wer kann schon so genau zwischen Tugenden und Lastern unterscheiden, was den allgemein menschlichen und erst recht, was den künstlerischen Verkehr betrifft, Hyde beginnt Jekyll, Jekyll beginnt Hyde auszuspionieren, mal will der eine mit dem anderen, mal der andere mit dem einen paktieren, manchmal tun sie sich tatsächlich zusammen, nur um sich wieder zu entzweien und sich darüber in die Haare zu kriegen, wer hier eigentlich wen plagiiert, dann haben sie jeder wieder ihre puristische Phase, was Hyde als Einladung versteht, Jekyll, und Jekyll als Einladung begreift, Hyde zu parodieren, womit es bis zu wechselseitigen Hommagen dann aber auch nicht mehr weit ist, bekanntlich sind Hasstiraden oft verdeckte Liebeserklärungen, all das führt dazu, dass man früher oder später gar nicht mehr weiß, wer von beiden eigentlich Jekyll und wer von beiden eigentlich Hyde ist, weswegen man sich am Ende eingestehen muss, dass man es mit einer einzigen Gestalt, der des Kinos, zu tun hat, die deswegen, weil es, das Kino, mit sich im Reinen weder sein kann, noch sein will, noch sein soll, so unendlich viele Gestalten hervorzubringen vermag. Da ich weder tropophobisch noch propophobisch veranlagt bin, kann ich es auch noch einmal anders – und erheblich kürzer – sagen. Was ich in das Bewegtbild des Beziehungsdramas zwischen Dr. Jekyll und Mr. Hyde übertragen habe, ist das Aufeinanderangewiesensein und Nichtvoneinanderloskommenkönnen der einander freundlich oder feindlich gesonnenen Formen des Filmischen, mit deren Ambiguitäten eine Theorie des Films gerade in den Augenblicken ihres größten Widerstreits solidarisch sein sollte. Denn mit Hollywood versus Nichthollywood und dem Nachdenken

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über das in der Spannung dieser Pole enthaltene Potential des Kinofilms müsste es früher oder wenn nicht tödlich, so doch überaus öde enden, wenn wir es damit praktisch und theoretisch so hielten wie Dr. Jekyll in mit den beiden Seiten seiner selbst.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Andrew, Dudley: What Cinema is!, Chichester: Wiley-Blackwell 2010. Gaut, Berys: A Philosophy of Cinematic Art, Cambridge: Cambridge University Press 2010. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Sandkaulen, Birgit (Hg.): Klassiker Auslegen. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Berlin: De Gruyter 2018. Seel, Martin: »Das Naturschöne und das Kunstschöne«, in: Sandkaulen (Hg.), Klassiker Auslegen. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (2018), S. 37-71. Seel, Martin: »Gedanken und Gesten«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 11.1 (2017). Seel, Martin: »Hollywood« ignorieren. Vom Kino, Frankfurt a.M.: Fischer 2017. Seel, Martin: Nichtrechthabenwollen: Gedankenspiele, Frankfurt a.M.: Fischer 2018. Valéry, Paul: Eupalinos oder der Architekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

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F ILME CACHÉ (F/AT/DE/IT 2005, R: Michael Haneke) DR. JEKYLL AND MR. HYDE (USA 1931, R: Rouben Mamoulian) DR. JEKYLL AND MR. HYDE (USA 1941, R: Victor Fleming) FACE/OFF (USA 1997, R: John Woo) HEAT (USA 1995, R: Michael Mann) JASON BOURNE (USA 2016, R: Paul Greengrass) PATERSON (USA 2016, R: Jim Jarmusch) THE BOURNE IDENTITY (USA 2002, R: Doug Liman) THE BOURNE LEGACY (USA 2012, R: Tony Gilroy) THE BOURNE SUPREMACY (USA 2004, R: Paul Greengrass) THE BOURNE ULTIMATUM (USA 2007, R: Paul Greengrass) THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (USA 1962, R: John Ford) THE SEARCHERS (USA 1956, R: John Ford)

W AY OUT WEST Die Parodie und ihr Genre L ORENZ E NGELL

Der folgende Beitrag geht unter Zuhilfenahme eines Beispiels der Frage nach, ob Genreparodien ein eigenes Genre bilden und wie dieses dann zu bestimmen wäre. Das Beispiel ist die Westernparodie WAY OUT WEST mit Stan Laurel und Oliver Hardy unter der Regie James W. Horne aus dem Jahr 1937. Die Fragestellung nach dem Genre der Parodie mag zunächst kleinteilig und abseitig wirken. Aber sie ist geeignet, das Genre und sein System von seiner Parodie her zu begreifen und es so statt als Regelwerk als eine Serie von Eigenwilligkeiten und Eigensinnigkeiten zu erkennen und darin seine »Logik des Sinns« freizulegen1. Genreparodien gehören von Anfang an zum System der Genres mit dazu. Auf John Fords heroischen Frühwestern THE IRON HORSE (USA 1924) z.B. folgte sofort seine Parodie, THE IRON MULE (USA 1925, R: Roscoe Arbuckle, Grover Jones); die Kette gerade der Westernparodien ist seither nicht mehr abgerissen und hat zu manchem Highlight geführt, man denke etwa an den vielfach preisgekrönten CAT BALLOU (USA 1965, R: Elliott Silverstein). Mit der Parodie, der unterlaufenden, abzweigenden und rückwirkenden Wiederholung, wird nicht nur ein einzelner Film, sondern das jeweilige Genre – also hier der Western – zur Disposition gestellt, und darüber hinaus möglicherweise das System der Genres insgesamt. Produzieren die Genres selbst die Parodien, gehören die Parodien dem

1

Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Aesthetica, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993.

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parodierten Genre an, beispielsweise dem Western? Ist der Western selber immer schon parodistisch – oder sind dies gar alle Genres? Gehören Parodien oder Genres schließlich allesamt zum Genre der Komödie (die ein Sonderfall unter den Genres ist)? Oder bilden sie ein eigenes, gleichsam parasitäres Genre2? Oder ist etwas Drittes der Fall? Diese Fragen sind erstens deshalb wichtig, weil das System der Genres an zentraler Stelle zum »Klassischen Hollywood« gehört. Zweitens jedoch führen sie uns, wie sich schließlich erweisen wird, zu einer neuen Diskussion der Ästhetik und der Logik des Humors nicht nur Hollywoods.

I

F ÄLLE

1.

Genre

UND

R EGELN

In seiner klarsten und produktivsten Gestalt bestimmt das Genresystem das Erscheinungsbild des Hollywoodfilms zwischen den Irritationen der Umstellung auf den Tonfilm um 1930 und denjenigen der Kriegswirtschaft, der Komplikationen und Reflexionen der vierziger Jahre, wie sie etwa am Aufkommen des Film Noir ab etwa 1942 oder auch an der Medienreflexivität in einem Film wie CITIZEN KANE (USA 1941, R: Orson Welles) ablesbar sind. Das Genre-System besteht aber darüber hinaus weiter; es bildet zusammen mit dem Star-System (der Fabrikation und Überhöhung künstlicher Personen mit doppelten Rollenkörpern auf der Leinwand und jenseits der Leinwand) und dem Studio-System (alle Produktionsmittel, auch die menschlichen Ressourcen, konzentrieren sich in der Verfügungsgewalt eines Unternehmens) sogar über alle Transformationen hinweg den funktionalen Kern Hollywoods3. Ohne das in seinen Re-/Flexionsformen bis heute

2

Allgemein zur Genreparodie: Gehring, Wes D.: Parody as Film Genre, Westport, Conn.: Greenwood Press 1999; Harries, Dan: Film parody, London: BFI 2000; Sorin, Cécile: Pratiques de la parodie et du pastiche au cinéma, Paris: L‘ Harmattan 2010.

3

In jüngerer Zeit könnte das »Agenten-System« hinzugezählt werden, das das »Studio-System« ablöst: McDonald, Paul: Hollywood Film Industry, Malden: Blackwell 2008, S. 167-168; Kemper, Tom: Hidden Talent. The Emergence of Hollywood Agents, Berkeley: University of California Press 2010. Zur Theorie

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funktionierende Genre-System wäre Hollywood als Kulturindustrie nicht funktionsfähig. Alle drei Systeme hängen eng miteinander zusammen; sie dienen der Typisierung und Rationalisierung der Produktion sowie der Bewirtschaftung des Imaginären, der Umformung des populären Sinnhaushalts auf der Grundlage der Warenform. Die gängigen Auffassungen zum Genre-System besagen, dass die Genres als Standardisierung der Filmplots der Stabilisierung und Steuerung der Zuschauererwartungen dienen4. Sie sind demnach ein hochrangiges Instrument zur kulturindustriellen Formatierung des Vorstellungsvermögens, der Kolonisierung der Phantasie5. Bestenfalls kann man sie als Instanzen der Reduktion von Komplexität beschreiben6. Genres erlauben den Zuschauern, bestimmte Vorlieben zu entwickeln und im Vorhinein bestimmte Ansprüche (etwa an Komik, Spannung, Dramatik, Erotik usw.) und Erwartungen an einen Film zu präzisieren, um Enttäuschungen zuvorzukommen, Kennerschaft zu bestätigen und Überraschungen überhaupt erst zu ermöglichen. Sie eröffnen dadurch auch den Raum für eine Selbstzuordnung der Zuschauer zu Zielgruppen entlang soziologischer Merkmale (Männer, Frauen, Junge, Alte) und Klassen, aber auch völlig quer zu ihnen (Science-Fiction Fans, Musical Fans). An die Genres sind nicht nur bestimmte fiktionale Handlungsverläufe und ihre Varianten gebunden, sondern, daraus abgeleitet, auch elementare Handlungsbestandteile (Happy End, Showdown, Rückkehr), ein bestimmtes Figurenrepertoire (Gangster, Wirrköpfe, Cowboys, Gräfinnen), ein erwartbares,

der Agenten: Schanze, Helmut/Schüttpelz, Erhard: »Fragen an die Agenturtheorie der Medien«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Agenten und Agenturen, Weimar: Verl. d. Bauhaus-Univ. 2008, S. 149-159. 4

Neale, Stephen: Genre, London: BFI 1983; s.a.: Neale, Stephen: »Questions of Genre«, in: Screen 31, 1 (1990), S. 45-66; Schatz, Thomas: »The Structural Influence: New Directions in Film Genre Study«, in: Quarterly of Film Studies 2,2 (1977), S. 302-312; Tudor, Andrew: »Genre«, in: Andrew Tudor (Hg.), Theories of Film, New York: Viking 1973, S. 131-150.

5

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 1969, S. 128-176.

6

Engell, Lorenz: Bewegen Beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte, Weimar: VDG 1995, S. 310-319.

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etwa historisches, soziales oder geographisches Setting (Chicago in den 2oer Jahren, eine Pension am Wolfgangsee, das Weltall). Dies lässt sich bis zu bestimmten Filmarchitekturen und -ausstattungen, zu Requisiten und Kostümen, und sogar zu einer je eigenen Gesten- und Verbalsprache weiterverfolgen. Schließlich gehören auch technisch-ästhetische Merkmale zu den Genres, Einstellungsgrößen etwa (Großaufnahme des Melodrams im Kontrast zur Totalen der Stummfilmkomödie, zur Panoramaaufnahme des Monumentalfilms und zur amerikanischen Totale des Westerns) und Lichtsetzungen bis hin zu Musikstilen und Klangkulissen. Genres sind Programme, die die Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten einzelner Vorkommnisse (Schuss, Kuss), Figuren und Objekte, ihrer Kombination und Abfolge in einem Film regulieren7. Deshalb liegt es nahe, Genres über mehr oder weniger feste Merkmalslisten zu definieren. Ein Film gehört demnach zu einem Genre, wenn er eine hinreichende Anzahl von Merkmalen dieses Genres aufweist. 2.

Zyklus

Eine dementgegen ganz andere Auffassung vom Genre vertritt Stanley Cavell8. Für ihn ist ein Genre weder ein bloßes Instrument zur Optimierung und Ökonomisierung der Sinnzirkulation in der Industriegesellschaft noch eine Manipulation und Formatierung der Erwartungen noch eine reine Liste von Merkmalen, die ein Film aufweisen kann oder nicht9. Ein Genre ist bei Cavell vielmehr ein geradezu handlungsfähiges Gebilde eigenen Status´

7

Lorenz Engell: Bewegen Beschreiben, S. 317-319.

8

Cavell, Stanley: The World Viewed, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1979, insbes. S. 29-37; s.a. S. 68-74; Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1981; Cavell, Stanley: »The Fact of Television (1982)«, in: William Rothman (Hg.), Cavell On Film, New York: State of NY University Press 2015, S. 59-86; Cavell, Stanley: »Psychoanalysis and Cinema: The Melodrama of the Unknown Woman«, in: Joseph H. Smith/William Kerrigan (Hg.), Images in Our Souls: Cavell, Psychoanalysis, and Cinema, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1987, S. 11-43.

9

Walker, Timothy J.: The Horror of the Other. Stanley Cavell and the Genre of Skepticism, Ames: Iowa State University 1989, S. 5-23.

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und eigenen Rechts, das nicht nach Belieben veränderbar ist und nicht in irgendwessen Hand liegt. Es unterliegt nicht nur gesetzten Bedingungen, sondern erlegt seine Bedingungen auch auf und unterstellt sich ihnen schließlich selbst. Außerdem sind Genres veränderlich, plastisch, dynamisch; und zwar im Prinzip mit jedem Film eines Genres, der hinzukommt. Auch die Beziehungen zwischen einzelnen Filmen und ganzen Genres (die in die lange mereologische und systemtheoretische Tradition der Probleme von Teil und Ganzem gestellt werden können)10 sieht Cavell komplizierter: Genres sind nicht nur Gruppen von Filmen, Ansammlungen erscheinungsgleicher, lediglich numerisch verschiedener ›Tokens‹, die sich aus einem wesensstabilen ›Type‹ ableiten. Sie sind vielmehr Milieus, Habitate, in denen Filme entstehen und die auf sie einwirken wie umgekehrt jene auf sie. Cavell unterscheidet bei den Genres zwei Typen, und zwar nicht nach ihren substantiellen Merkmalen, sondern nach ihrer Funktionsweise11. Dies sind das »Genre als Zyklus« und das »Genre als Medium«12. Das »Genre als Zyklus« steht der herkömmlichen Auffassung vom Genre durchaus nahe. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Filmen, die ein- und demselben Schema gehorchen, das sie variieren. Dabei präzisiert Cavell nicht, ob es sich bei dem Schema etwa um ein dramaturgisch-narratives, ein figurenpsychologisches oder ästhetisches Schema handelt; das ist auch nicht erheblich. Im Cavell’schen Sinne ›lebt‹ ein Genre als Zyklus, d.h. es bringt Filme hervor, solange noch nicht alle Variationen des Schemas erprobt und ausgelotet sind. Ein Genre als Zyklus dient der Entfaltung der Möglichkeiten, die in dem gegebenen Schema enthalten sind. Damit eine Variation entwickelt und erkannt werden kann, muss natürlich ein Bezug auf das, was variiert wird, eben das Schema, erkennbar bleiben. Insofern kann das Genre als Zyklus als ein Spiel mit Differenz und Wiederholung betrachtet werden: etwas wird wiederholt, etwas Anderes weist eine Differenz auf, beides im Vergleich zum Schema. Ohne das Schema gibt es auch keine Differenz und damit keine Kreativität. Es ist auch möglich, dass ganz bestimmte Teile des Schemas variiert werden oder dass ganze Gruppen von Variationen, die

10 Den Hinweis auf eine Verbindung zur Mereologie gab Friedlind Riedel; s.: Simons, Peter: Parts. A Study in Ontology, Oxford: Clarendon Press 1987. 11 Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Über die Grundfragen der Erkenntniskritik, London: Forgotten Books 2018. 12 S. Cavell: The World Viewed, S. 36; S. Cavell: The Fact of Television.

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sich auf eine bestimmte Gruppe von Elementen beziehen, entstehen. Dann handelt es sich um Unter-Genres13. Interessanterweise ist das Schema aber niemals in seiner Vollständigkeit erfüllt oder zu sehen, auch nicht in etwa anzunehmenden ›Gründungsfilmen‹ eines Genres. Kein Film kann alle Merkmale des Genres treu und prägend aufführen. Mehr noch: Mitunter ist das Schema überhaupt (noch) nicht bekannt. Es existiert in diesem Sinne gar nicht14. Die einzelnen Filme des Genres als Zyklus stellen dann Proben auf das Schema dar. Es gibt (zunächst) nur Variationen die sich im Sinne der Differenz und der Wiederholung aufeinander beziehen lassen. Erst in der Abfolge etlicher Filme des Zyklus wird das Schema nach und nach deutlich. Die einzelnen Vertreter des Genres als Zyklus leiten sich dann nicht durch Übereinstimmjung und Differenz vom Schema ab, sondern sie erarbeiten und erstellen es nach und nach. Ist ein Schema aber einmal erstellt und sind alle Variationen erprobt, so dass es keine Differenzen zu bereits realisierten Ausfertigungen des Genres mehr geben kann, dann ist es erschöpft. Das Genre mag dann sogar noch lange weiterlaufen, aber es lebt nicht mehr, ist nicht mehr generativ15. 3.

Medium

Dem Genre als Zyklus steht bei Cavell das Genre als Medium entgegen16. Hier gibt es kein Schema mehr (wohl aber eine, so Cavell, philosophische Frage, die allen Angehörigen des Genres gemeinsam sei, beispielsweise die Frage nach der Natur des Glücks oder der Liebesbeziehung, so in Cavells eigener Untersuchung des Genres der ›Remarriage Comedy‹, oder aber, im Western, der Frage nach dem Subjekt oder dem Gesetz)17. Jedes Merkmal, jede Variation kann sich vielmehr im Lauf der Entwicklung eines Genres

13 S. Cavell: The World Viewed, S. 68-69; T. J. Walker: The Horror of the Other.; Noll Brinckmann, Christine: »Der Singing Western – ein verklungenes Subgenre«, in: montage a/v 23/1/2014, S. 41-61, hier: S. 42-44. 14 S. Cavell: Television, S. 64. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 67. 17 S. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 31.; Ebd. S. 19.; zum Western vgl.: Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

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als Medium zu einem festen Bestandteil verdichten, und jedes verbindliche Element des Genres kann sich als Variation entpuppen: in diesem Sinne gibt es keine festen Bestandteile mehr. Was es vielmehr gibt und was die Filme eines Genres als Medium zusammenhält, ist der fortgesetzte Austausch eben darüber, welche Varianten möglich seien. Die Kohärenz des Genres als Medium besteht dann nicht mehr im Verweis auf gemeinsame Invarianzen, sondern in der Verkettung der Variationen selbst. Das Genre wird so zu einer Aushandlung darüber, was es selbst sei; und alle Filme, die sich an dieser Aushandlung beteiligen, gehören dem Genre an18. Alle Antworten, die das Genre gibt, können damit – so wäre Cavell zu ergänzen – auch auf die gestellte philosophische Frage zurückwirken und sie verändern. Sogar die Diskussion darüber, was eigentlich die Frage sei, um die es in einem Genre als Medium geht, könnte zur Diskussion stehen. Sodass schließlich Filme auch dann zu ein- und demselben Genre als Medium gehören können, wenn sie sehr wenige oder gar keine Merkmale miteinander teilen, wenn es kein Schema gibt, das sie variieren und keinen – und sei es noch unbekannten – Wesenskern, der sie als Drittes miteinander verbindet19. Die Filme eines Genres als Medium beziehen sich also unmittelbar aufeinander und nicht auf ein ihnen gemeinsames Prinzip, sei es ein höher gelegenes oder ein tieferliegendes. Dies schließt, wie bei den Genres als Zyklus, die Möglichkeit zur Entstehung von Unter-Genres ein, wenn nämlich Filme sich auf bestimmte Züge anderer Filme beziehen. Genres als Medium sind damit, so ist es bei Cavell angelegt, horizontal organisiert, auf ein- und derselben Ebene. Diese Beziehung auf der Oberfläche der das Genre ausmachenden Filme untereinander, ohne Rekurs auf anderes, außerhalb Liegendes, diese mit jedem neu hinzukommenden Film wandelbare Konfiguration von Akzidenzien ist das Genre als Medium. Das Genre als Medium ist demnach die fortlaufende Aushandlung dessen, was es selber ist, eingeschlossen die Möglichkeit, von dieser Aushandlung abzuzweigen in der Form eines Unter-Genres. So lange sich etwa ein Western

18 S. Cavell, Television, S. 67-70. 19 Dies lässt sich philosophisch mit dem Konzept der »Familienähnlichkeit« bei Ludwig Wittgenstein begründen, s. dazu: Engell, Lorenz: »Die Kunst des Fernsehens. Ludwig Wittgensteins »Familienähnlichkeit« und die Medienästhetik der Fernsehserie«, in: Klaus Krüger/Christian Hammes/Matthias Weiß (Hg.), Kunst/Fernsehen, Paderborn: Fink 2016, S. 19-38.

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an der Aushandlung darüber beteiligt, was ein Western ist, ist er ein Western. 4.

Slapstick

Die Unterscheidung und das Zusammenwirken beider Typen des Genres nach Cavell kann anhand des Beispiels, WAY OUT WEST, gut nachvollzogen werden. Denn dieser Film firmiert ganz offensichtlich zunächst in zwei Genres zugleich, nämlich demjenigen der Slapstick-Komödie einerseits und demjenigen des Western andererseits. Die Slapstick-Komödie ist ein UnterGenre der Komödie, und im Sinne des Genres als Zyklus könnte man den Kreis sogar noch enger ziehen und sagen, dass die Laurel-und-Hardy-Filme einen eigenen Zyklus innerhalb der Slapstick-Komödie bilden. Sie variieren ihre eigenen Schemata. Das beginnt mit der Figurenkonstellation der beiden Helden (der Dicke und der Dünne, der Dominante und der Geführte, der Redselige und der Schweigsame, das Opfer der zahlreichen Ungeschicklichkeiten und ihr Täter) und den komplementären Figurenmerkmalen. Sie bleiben zum einen durch alle Laurel-und-Hardy-Filme hindurch völlig unverändert, stellen sich aber genau dadurch neben andere feststehende Figuren und Konstellationen des späten Slapsticks (Harold Lloyd, The Marx Brothers). Der Slapstick-Film ganz allgemein hat jedoch eine besondere Affinität zur Dingwelt und zu den Objekten. Dysfunktionalität der Dinge, Ungeschicklichkeit und Absurdität in ihrer Handhabung, Überwuchern der Dinge, Aufstand und Verschwörung der Dinge gegen die Menschen sind hier unablässig wiederkehrende Motive. Deshalb markiert auch innerhalb des Slapsticks der Laurel-und-Hardy-Zyklus seine relative Eigenständigkeit anhand zyklisch wiederkehrender Objekte. Besonders die Kleidung der Helden ist hier aufschlussreich: Im Prinzip, so auch in WAY OUT WEST, besitzen die beiden ein identisches und feststehendes Outfit mit schwarzen, sehr weit sitzenden, stark abgenutzten Anzügen und Bowler Hats. Damit signalisieren sie vielleicht ihre ehemalige, jetzt aber (man denkt stets an die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre) ruinierte, fast verelendete Zugehörigkeit zur Bürgerklasse. Gerade die oftmals geringe Passfähigkeit dieses Auftritts zur gezeigten Situation ist komisch. Sollte aber die veränderte Situation, das Setting des jeweiligen Films, es doch unbedingt erfordern, so tragen sie auch andere Kostüme (Uniformen, Latzhosen oder andere Arbeitskleidung, orientalische Gewänder, Universitätstalare, Frauenkleider) und kön-

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nen auch dadurch schon einen gleichsam binnenkomischen Effekt erzielen, weil sie anders aussehen als sonst (Variation und Bestätigung des Schemas). Im Fall von WAY OUT WEST tragen sie im Übrigen ihre unveränderten Standardkostüme, ohne dabei jedoch besonders aus dem (Genre-) Rahmen zu fallen: es fällt kaum auf. Die Anzüge figurieren so auf der Ebene der Slapstickfiguren im Genre der parodierenden Komödie und zugleich auf derjenigen des parodierten Westerns. Die Szene, in der Laurel nach verlorener Wette seinen Hut verspeisen muss und dies mit wachsendem Appetit auch beginnt, gilt also nicht irgendeinem unverzehrbaren Objekt, sondern einem zentralen Überlagerungsobjekt der beiden Filmgenres, die hier zusammengebracht werden (abgesehen davon, dass sie natürlich, genau wie die Episode mit dem ungenießbaren Schnitzel, das Laurel als Schuhsohle verwendet, als verkehrte und verschobene Variante Chaplins GOLD RUSH (USA 1925, R: Charlie Chaplin) aufruft). Ähnliches gilt für Handlungselemente und Gesten. So ist für Laurel und Hardy etwa (jenseits all dessen, was für Slapstick Komödien überhaupt kennzeichnend ist) die Komik der Vergeltung und der verzögerten Reaktion wichtig, die sie in zahlreichen Varianten ausführen und kombinieren: während der eine sich am anderen für eine begangene Ungeschicklichkeit umständlich rächt – Laurel hat Hardy versehentlich von der Leiter fallen lassen, nun schlägt Hardy ihm absichtlich und nach aufwändiger Vorbereitung einen Eimer auf den Kopf –, schaut der andere gänzlich unbeteiligt und geradezu stoisch zu, ohne den einen irgendwie zu hindern oder einfach wegzulaufen. Er verhält sich so, als wäre er selbst ein Dritter und sein Körper, dem der Schaden zugefügt wird, nicht er selbst20. Zu den Standardgesten gehört auch Laurels beschwichtigendes Herumnesteln und -wischen an Hardys Kleidung oder Hardys geziertes Wink- und Wedelspiel mit seiner stets zu kurzen Krawatte. Kinematographisch und damit bildnerisch kennzeichnend ist der immer wiederkehrende komplizenhafte, verzweifelte Blick, den Hardy oftmals am Ende einer Sequenz (und angesichts eines angerichteten Chaos), begleitet von resignierendem Schulterzucken und Ausatmen, frontal in die Kamera wirft. Hinzu kommt die auffällige Vorliebe für bestimmte Motive quer durch alle Laurel-und-Hardy-Filme, die auch in

20 Plessner, Hellmuth: »Die Frage nach der Conditio Humana«, in: Helmuth Plessner: Die Frage nach der Conditio Humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 7-81, hier: S. 56.

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WAY OUT WEST im Vordergrund stehen, etwa für Probleme der Schwerkraft, die auftreten, wenn es gilt, schwere Lasten – oft auch Hardys eigenen Körper – in die Höhe zu hieven; oder für das Motiv des Wassers. Schließlich ist der markante Aufbau der Laurel-und-Hardy-Filme zu nennen, der nämlich aus einer Abfolge geschlossener – wenngleich oftmals chaotischerSzenen besteht, die entweder stark theatralischen, szenischen Charakter haben (dann gibt es nur eine geringe Szenenauflösung durch eingeschnittene Großaufnahmen, die allesamt Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verstärken) oder aber (in stärkerer Auflösung) durch lange Folgen von Kettenreaktionen gekennzeichnet sind. Dass es sich bei all dem um Zyklus-Merkmale handelt, dürfte außer Frage stehen. Gerade die Laurel-und-Hardy-Filme (wie auch andere Untergenres des Slapsticks und damit dieser selbst) verändern sich in ihrer Schematisierung kaum je. Es ist sogar erstaunlich, wie lange die beiden Komiker dieses recht starre Schema erfolgreich beibehalten konnten, sogar bis in die Fernsehära hinein. Das Schema wird ausgeschöpft und dabei immer neuen Variationen im Setting zugeführt, ohne sich jedoch irgendwie zu verändern. Darin, in der Vielfalt seiner Anwendungs- und Situierungschancen, gleichsam in seiner Migrationsfähigkeit bei gleichzeitiger Starre, Insistenz und Nichtanpassung, selbst bei Strafe (Verzehr des Hutes), liegt seine Flexibilität, und genau das macht natürlich das parodistische Potential des Zyklus aus (wobei bereits hier nicht klar ist, ob der Slapstick das Setting des Westerns und damit diesen selbst parodiert – oder umgekehrt). Auf die Zugehörigkeit unseres Beispielfilms zum Zyklus der Laurel-und-HardyFilme jedenfalls weist unser Film auch noch ausdrücklich hin: »We are almost towed in a hole«, sagt Laurel einmal und spielt damit auf den Laurelund-Hardy-Film TOWED IN A HOLE (USA 1932, R: George Marshall) von 1932 an. Schließlich wird das Spiel zwischen Schema und Variation hier auch innerhalb des Films auf engstem Raum aufgeführt ausgestellt und seinerseits als Element des Komischen genutzt: jedes Mal, wenn Laurel und Hardy den Flusslauf überqueren, fällt Hardy in ein Wasserloch, in dem er urplötzlich, blitzschnell und vollständig versinkt. Dabei wird bei der zweiten und der dritten Wiederholung mit der Möglichkeit einer Variation gespielt (durch Austausch der Rechts-Links-Positionen der beiden wird suggeriert, diesmal müsste es eigentlich Laurel erwischen), die aber genau nicht wahrgenommen wird und so, eben wie es mit den Strukturelementen des Zyklus auch geschieht, genau die Insistenz und stoische Unwandelbar-

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keit der Dinge auch beim Wechsel des Kontexts oder der Inszenierung als komischen Effekt nutzt. Im Grunde lachen wir hier nicht über Hardy, sondern über die Striktheit des Schemas, das wir im Übrigen erst bei der dritten Wiederholung als solches erkennen können und das sich dann auch nicht ein weiteres Mal wiederholt. 5.

Western

Andererseits jedoch spielt WAY OUT WEST mit Elementen des Westerns. Der Western als Genre bildet jedoch keinen Zyklus, sondern, um erneut mit Cavell zu sprechen, ein »Genre als Medium«. Der Western ist geradezu ein Paradebeispiel für die Plastizität des Genres, das zu immer neuen Formbildungen und Subgenres wie dem Spätwestern (Sam Peckinpah, Richard Brooks) dem Italo-Western (Sergio Leone, Sergio Corbucci) und dem seinerseits enorm bildsamen Neo-Western (Clint Eastwood, Joel and Ethan Coen) geführt hat, aber auch zu kurzlebigen Zwischenerscheinungen wie dem »Singing Cowboy Western«21. Bezeichnend ist, dass alle denkbaren Bestimmungsstücke des Westerns im Medium des Westerns selbst kritisiert, unterlaufen, aufgehoben, dekonstruiert, einfach weggelassen oder aktualisiert oder auch ins Maßlose gesteigert worden sind und auch diese Alterationen und Re-/Flexionen weiter verarbeitet wurden; genau diese Absetzbewegungen sind dann das Genre. Es haben auch, so argumentiert Noll Brinckmann hinsichtlich des Italo-Western, Ausgliederungen und Freistellungen aus dem Genre stattgefunden, die dann später vom Genre wieder assimiliert wurden22. Und diese im Western selbst geführte Debatte darüber, was ein Western denn sei, die der Western ist, setzt sehr früh schon ein. Sehr einfache Beispiele inhaltlicher Art sind etwa die Kritik des Gegensatzes zwischen weißen Siedlern und autochthonen First Nations (»Indianern«), die Demontage des Helden schon bei John Ford, die Zerstörung der leitenden Mythen und Legenden, die Neuaufstellung der Frauenfigur bei Nicholas Ray, die Einführung schwarzer Heldenfiguren bis hin zu ihrer phantastischen Überhöhung bei Quentin Tarantino; aber auch formalästhetische Züge können herangezogen werden wie die Formen der Stilisierung und Ästhetisierung der Gewalt oder die Entwicklung der ›italienischen Ein-

21 C. Noll Brinckmann: Singing Western. 22 Ebd., S. 42-43.

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stellung‹ (als Detailaufnahme des Gesichts) und der ›Supertotalen‹. Auch Bestimmungsstücke wie die historische Situierung und die geographische Lokalisierung sind spätestens im ›Neo-Western‹ hinfällig. Für den Western erweist sich Cavells Verständnis des Genres als Medium besonders überzeugend: ein Western ist dann ein Western, wenn er sich an der Debatte über den Western beteiligt, die der Western ist. Eine der eher einfachen Möglichkeiten, die möglicherweise als Elemente und feststehende Verlaufsformen des Westerns fungierenden Bestimmungsstücke des Genres in Frage zu stellen, ist die Westernkomödie. Genau deshalb aber kann auch WAY OUT WEST als wie immer schlichter Western und nicht nur als Slapstick gelesen werden. Dieses Ineinandergreifen zweier Genrewelten kommt bereits gleich zu Beginn des Films zum Tragen, und zwar erneut in der Objektwelt, der Ausstattung des Films. Wir sehen Stan Laurel im unverkennbaren Outfit, wie er raschen Schritts ein Maultier einen staubigen Weg entlangführt. An dem Maultier ist ein Travois befestigt, ein eigentümliches Transportgerät der Prairie-»Indianer«, ein aus zwei langen Stangen und einer festen Plane bestehendes Gerüst, das das Muli wie eine Trage ohne hintere Befestigung über den Boden hinter sich her schleift. Auf diesem Gerät, das die halbnomadisierenden First Nations aus den Bauteilen ihrer Tipis bildeten, um zwischen ihren Lagerplätzen zu wechseln, sind nun aber nicht Berge von Hab und Gut und Vorräten befestigt, sondern es thront darauf Oliver Hardy in voller Körperfülle, angetan mit eben dem typischen Anzug und Hut, hochzufrieden, halb einschlafend und durch die Bodenunebenheiten und die gesamte Unbequemlichkeit nicht im mindesten beunruhigt. Das Travois gehört vollständig und ausschließlich in das Gegenstandsrepertoire des Westerns, wird aber gleichzeitig durch seine gemessen an den Konventionen missbräuchliche und zweckwidrige Nutzung zugleich ridikülisiert und den Gegenstandseigenschaften des Slapsticks unterworfen. Dennoch verbleibt es in seinem Kontext, in seinem angestammten Habitat dem Western; es bleibt da, wo es hingehört und taucht nicht außerhalb des Westernsettings auf (was ja auch möglich wäre, als ›Alien Object‹). Es überschreitet den Western, ohne ihn zu verlassen, und genau dies ist das Funktionsprinzip des Genres als Medium nach Cavell. Auch die Tatsache, dass das Travois von einem Muli gezogen wird (das Muli wird später noch eine wichtige komische, dinghafte Rolle spielen, in der es schließlich im ersten Stock des Hauses auftaucht), hat denselben

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Grundzug, denn das schlichte und billige Maultier vertritt hier die Stelle des edlen und wertvollen Pferdes. Auch das Maultier gehört zum Figurenrepertoire des Westerns, wird aber normalerweise gegen das Pferd abgewertet oder verbleibt als gar nicht markiertes Element. Hier jedoch wird es durch den Austausch und seine Versetzung in den ersten Stock hervorgehoben. Es überschreitet erneut seine Grenzen, ohne aber diejenigen des Westerns zu verlassen. Wozu anzumerken ist, dass schon eine der frühesten WesternParodien diesen Austausch vornahm, nämlich eben die Parodie THE IRON MULE, die THE IRON HORSE persiflierte. Selbst diese Überschreitung also gehört noch zum Medium des Genres. WAY OUT WEST nimmt darüber hinaus klassische und stereotypisierte Handlungsorte des Westerns auf wie den Saloon oder die Postkutsche, verwendet sprachliche Versatzstücke (»Macht, dass Ihr aus der Stadt verschwindet«) und Grapheme, wie wir sie mit dem Western verbinden. Aber gerade in dem er sie entweder übertreibt (das Schlittern der Biergläser auf der Theke) oder entlarvt (in der Postkutsche ist es viel zu eng, so dass Hardy die neben ihm sitzende Dame geradezu bedrängen muss), löst er sie aus ihrer denkbaren Verwendung als bloße Standards eines feststehenden Schemas im Sinne des Genres als Zyklus und stellt sie zur Disposition und zur – wenngleich unernsten – Diskussion. Genau diese Bewegung macht das Genre als Medium jedoch aus. Man könnte sich fragen, ob ein Genre nicht genau dann, wenn es parodiert wird, aufhört, ein bloßer Zyklus zu sein und zum Medium dynamisiert wird, das etwas ganz Anderes hervorbringt als eine Reproduktionslogik. Wenn die bisherigen Beobachtungen auch, da sie am Einzelfall gewonnen wurden, nicht ausreichen, um eine allgemeinere Theorie der GenreParodie zu formulieren, so lässt sich doch für WAY OUT WEST immerhin sagen, dass hier die Parodie im Zusammenspiel zweier Genres stattfindet, der (Slapstick-)Komödie und des Westerns, ohne dass dabei das eine dem anderen untergeordnet oder eine Metaebene eröffnet würde. Zudem handelt es sich um den Fall, dass ein zyklisches und ein mediales Genre auf einund derselben Ebene ineinandergeschoben werden, wobei beide immer wieder dieselben Bild- oder Handlungselemente in Anspruch nehmen. Es scheint damit so, als ob erstens die beiden Genres eher einander wechselseitig parodierten und zweitens, da hier die beiden Grundformen des Genres (nach Cavell) ineinandergeschoben werden, als ob sie einander als Formen parodierten und damit genau die Form des Genres selbst überhaupt. Die Genre-Parodie ridikülisiert nicht ein bestimmtes Genre, sondern das Prinzip

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des Genres, dem sie dennoch völlig verhaftet bleibt, das sie nicht überschreitet. Die Parodie wäre damit ein eigenständiges, ein drittes Genre eigener Art, das sich jedoch nicht ablöst oder abhebt aus den beiden anderen, sondern, wie wir gesehen haben, insbesondere solche doppelt verzeichneten Elemente miteinander verkettet zu einer dritten Linie. Das Genre der Parodie wäre damit auch weder zyklisch noch medial (im Sinne Cavells), sondern es bildete eine eigene Ordnung aus.

II

S INGULARITÄTEN

6.

Tanz und Gesang

Und diese Ordnung scheint zunächst auf durch – ein Wunder. Stan kann nämlich aus seiner bloßen Faust, die er wie ein Feuerzeug einsetzt, eine Flamme hervorzaubern (was allerdings stets erst beim zweiten oder dritten Versuch gelingt). Oliver ist so überrascht wie wir, er ahmt die Geste in verschiedenen Szenen nach, schließlich, zum eigenen Erschrecken, mit Erfolg. Diese Flamme gehört der erzählten Welt, in der immerhin, bei allen absurden Vorkommnissen, die Gesetze der Physik gelten (namentlich der Schwerkraft), nicht an. Sie ist kein Versatzstück eines Genres, sondern eine erstaunliche wiederholte Singularität und ein reines Filmereignis. Ohne Abbruch an Einzigartigkeit bildet sie dennoch eine eigene, unregelmäßige Abfolge von Auftritten und Querbezügen aus, innerhalb von WAY OUT WEST wie darüber hinaus. Sie parodiert noch die Parodie, die sie hervorbringt. Ausführlicher wird die parodistische und paradoxe Ordnung des Singulären sichtbar in der berühmtesten und schönsten und vermutlich meistaufgerufenen Szene des Films. Laurel und Hardy begeben sich zum Saloon und binden ihr Muli halbwegs fachgerecht an. Auf den Holzstufen zum Saloon hat sich eine Gruppe Cowboys eingefunden, die gemeinsam ein Lied singen. Die Kamera schwenkt die Truppe ab und zeigt einige der singenden Männer, die mit ihren erschöpften Gesichtern allesamt einen von Arbeit

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und z.T. Alter gezeichneten Eindruck machen.23 Laurel und Hardy bleiben vor dem Saloon stehen und hören zu. Ganz allmählich fangen sie an, zu dem Song erst zu wippen und dann leicht zu tänzeln. Schließlich beginnen sie einen ganz einfachen und nicht allzu schnellen Tanz, in dem sie – vor der Rückprojektion der lebhaften Straßenszene vor dem Saloon - teils parallel dieselben, teilweise einander ergänzende Figuren ausführen, die Füße ausstellen, auseinander- und wieder zusammenlaufen, Seitschritte, Wendungen, Drehungen ausführen. Besonders Hardy, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Anmut aus, wenn er etwa den Bauch wippen lässt, in den Hüften schwingt oder mit seinem Jackett spielt wie mit einem Tanzröckchen. Schließlich tanzen die beiden parallel und Hand in Hand die Stufen hinauf und verschwinden zu den letzten Tönen passgenau durch die Schwingtür. Diese immerhin fast dreiminütige Szene (eines kaum über eine Stunde umfassenden Films) besitzt keinerlei diegetischen Wert. Sie gehört der Ordnung des Westerns ebenso wenig an wie derjenigen des Slapsticks und gehört auch nicht zum zyklischen Standard der Laurel-und-Hardy-Filme. Das Lied und die Sänger stehen auch nicht in der Tradition der ›Singing Cowboys‹ des Films (wohl aber in derjenigen der Country-and-Western Musik- und Populärkultur)24. Und obgleich es sich um einen Tanz handelt, wirkt das Ganze auch nicht gerade wie ein Element des Tanz- und Musicalgenres. Aus der Sicht der Genrelogik bleibt die Szene undefinierbar und unterbestimmt. Sie ist auf die sie ermöglichenden Linien der beteiligten Genres angewiesen, die sie hervorbringen, aber sie geht nicht in ihnen auf, sondern nimmt einen eigenen Raum ein. Diesen Raum weitet sie sodann aus. Eine zweite (etwas über zweiminütige) Szene dient ihr als Widerhall. Laurel und Hardy stehen im Saloon, mit dem Rücken zum Tresen und frontal zu Kamera, und hören erneut einem zur Gitarre singenden Cowboy zu. Sie finden Gefallen an dem Gesang und stimmen in den Western-Song »On the Trail of the Lonesome Pine« ein, erst Hardy allein, dann beide zweistimmig. Nach einer Strophe schwingt sich Laurel zu einem Solo auf, das er jedoch völlig überraschend in einer

23 Mit Gilles Deleuze kann man hier den »zeremoniellen« vom »erschöpften« Körper unterscheiden, s.: Deleuze, Gilles: Das Zeitbild (=Kino, Band 2), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 259-261. 24 C. Noll Brinckmann: Singing Western, S. 45-47.

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tiefen Bassstimme vorträgt, die offenkundig nicht seine ist. Während er singt, lässt sich Hardy seelenruhig vom Barmann einen großen Holzhammer geben, mit dem er Laurel schließlich eins über den Kopf zieht, genau in einer kleinen Pause der Liedzeile. Laurel zuckt nur ganz kurz und bringt die Strophe dann regulär zu Ende, diesmal aber in hohem Falsett mit langgezogenem Schlusston. Dann sinkt er um wie ein gefällter Baum. Hardy gibt den Hammer mit großer Genugtuung zurück. Die Szene nimmt offensichtlich die Tanzszene wieder auf, aber sie wendet sie zurück in den Grundbestand des Slapsticks à la Laurel und Hardy; eingeschlossen die drastisch verzögerte Reaktion am Schluss; aber durch Setting, Musik und das Motiv der Saloonschlägerei wird zugleich der Western stärker akzentuiert als zuvor. Das Freischwebende der Tanzszene wird so zugleich fortgeschrieben und am Boden (der Genres) wieder befestigt. Die beiden Szenen machen so selbst eine diskontinuierliche und zudem eigentümlich verkehrte Abfolge aus, in der das Weitergehende dem Naheliegenderen vorangeht und das zumindest stärker Schematisierte, die Gesangs- und Hammerszene, das zu allem Deviantere, die Tanzszene, zum Vorbild nimmt, obwohl sie aus ihr kein Schema gewinnen kann. Beide variieren einander und bilden damit selbst so etwas wie eine Entwicklungszelle der Genrehaftigkeit, die nur eine entlegene, losgelöste Variante (beider Genres) in der Tanzszene und wiederum deren (rückgebundene) Variante kennt. Und der Raum erweitert sich: Tanz- und Gesangseinlagen kommen in Laurel-und-Hardy-Filmen gelegentlich vor, in unterschiedlichsten Settings und Qualitäten und ganz verschieden motiviert. Bisweilen finden sie sich diegetisch enger eingebunden, bisweilen schwächer. Sie verdichten sich jedoch nicht zu einem regelrechten, erwartungssteuernden Element des Zyklus und bleiben auch ohne erkennbare Entwicklungslinie und ohne explizite Bezugnahme aufeinander. Vielmehr bilden sie eine irreguläre, lückenhafte und heterogene Kette aus. Zu ihr gehört auch die eigenwillige und komplizierte Einlage in dem Gefängnisfilm PARDON US (USA 1931, R: James Parrott), in der zunächst Oliver Hardy singt und dann Stan Laurel tanzt25. Beide treten dabei im »Blackface« der Minstrel Show auf, in der Weiße sich über Schwarze lustig machen (und gelegentlich Schwarze wiederum darüber). Oliver Hardy hatte in seiner Frühzeit bei einer solchen Minstrel-

25 Hinweis von Dorothea Röger.

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Truppe gearbeitet26. Die Parodie gilt hier nicht nur zwei Genres, sondern weiteren populärkulturellen Praktiken wie dem rassistischen Spott des »Blackfacing« (etwa in der Übertreibung des Übertriebenen), ohne jedoch eine explizite kritische Abkehr zu vollziehen und eine Außenposition einzunehmen27. Und die Parodie breitet sich noch weiter aus auf das Medium selbst, den Tonfilm: Es ist unübersehbar, dass Laurel und Hardy sich hier – 1931 – über Al Jolson lustig machen, dessen »Blackface«-Gesangsauftritt in THE JAZZ SINGER (USA 1927, R: Alan Crosland) eine zentrale Rolle in der Durchsetzung des Tonfilms spielte. Zudem ist das Schwarz und Weiß der Hautoberfläche im Film oft auch eine Metonymie des Kinos selbst28. In PARDON US wird die Sichtbarkeit – obwohl sie aus Versehen immer wieder weiße Hautpartien entblößen oder im Gesicht freiwischen, werden Laurel und Hardy selbst vom Gefängnisdirektor nicht erkannt – gegen die Hörbarkeit – schließlich erkennt der Direktor Stan doch wegen des unangenehmen Pfeiftons, den er immer wieder ausstößt – im Film und des Films selbst ausgespielt. Im Anschluss daran wäre immerhin weiter zu untersuchen, wie es um das Verhältnis nicht nur der Tanz- und Gesangseinlagen zum Parodistischen, sondern auch der Parodie zum Politischen und zum Medialen, nicht nur bei Laurel und Hardy, bestellt ist. 7.

Parodie

Im Zusammenhang mit dem »Aktionsbild« des Films spricht Gilles Deleuze an einigen Stellen von der Parodie der Klischees durch den Film selbst, womit hier der Hollywood- und damit der Genrefilm gemeint ist. Die Parodie, so Deleuze, kann die Ordnung der Klischees (hier also: der Genres) irritieren und auseinanderfallen lassen, aber nicht wirklich überwinden, sie fällt zurück in das, was sie parodiert29. In diesem Sinne sprechen Drehli Robnik und Michael Palm dann auch von der Parodie als »Verblödungs-

26 Dies und das Folgende sind Überlegungen Lisa Gottos. 27 Gotto, Lisa: Traum und Trauma in Schwarzweiß. Ethnische Grenzgänge im amerikanischen Film, Konstanz: UVK 2006, S. 245-258. 28 L. Gotto, Traum und Trauma, S. 343. 29 Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild (=Kino, Bd. 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 282, S. 287.

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bild«30. Demgegenüber lohnt es sich jedoch, den Parodiebegriff Deleuzes noch einmal etwas genauer und von einer anderen Seite aus zu entfalten. Die Parodie, so formulierte Gilles Deleuze an einer relativ entlegenen Stelle, nämlich in einem Fernsehgespräch, flicht sich in einen Diskurs so ein, dass beide sich verändern, der parodierte wie der parodierende Diskurs, der sich schließlich den Bedingungen des Parodierten einschreiben muss, geradezu besser als dieses selbst31. Sie ist – anders als die Satire, die Kritik oder der Zynismus – damit keine Herrschaftstechnik und operiert nicht von einer höheren, notwendig überlegenen Ebene herab. Deleuze verteidigt die Parodie damit gegen den Vorwurf, an eine bloße Wiederholung und mithin Bestätigung des Parodierten gebunden zu sein. Sie wäre dann als Mittel gegen Hegemonialtechniken und Machtdiskurse ungeeignet, weil sie letztlich deren Geltungsanspruch immer bestätigen würde32. Wenn Deleuze dagegen Einspruch erhebt, dann nicht nur aus politischen Gründen. Er erneuert damit auch seine philosophische Position, wie er sie in Differenz und Wiederholung in Auseinandersetzung mit der reichhaltigen philosophischen Tradition zu diesem Thema entwickelt33. Demnach gibt es überhaupt keine Wiederholung in einem reinen, mechanischen oder strukturellen, sterilen Sinn. Jede Wiederholung, und sei sie noch so sehr mechanische Reproduktion, verändert, was sie wiederholt; allein schon, weil der Zeitpunkt, zu dem sie das Wiederholte erneut eintreten lässt, ein anderer geworden ist34. Für unseren Zusammenhang ist das aufschlussreich, weil Deleuzes Wiederholungsbegriff die Dichotomie von Schema und Variation unterlaufen würde. Damit wäre auch die Cavellsche Auffassung vom Genre als Zyklus hinfällig, denn es gäbe gar kein Schema. Die beiden Genreformen

30 Palm, Michael/Robnik, Drehli: »Das Verblödungsbild. Parodistische Strategien im neueren Hollywoodkino. Intime Feindberührungen mit der Dummheit« vom 6.6.2018, www.zonecast.eu/immedia/sehen/ds04pa.html 31 Das Fernsehgespräch zwischen Deleuze, Derrida, Lyotard, und Klossowski findet sich in schriftlicher Form in: Klossowski, Pierre: Nietzsche und der Circulus Vitiosus Deus, München: 1985, S. 418-426, hier: S. 424-425. 32 Vgl. Rücker, Sven: Das Gesetz der Überschreitung. Eine philosophische Geschichte der Grenzen, München: Fink 2013, S. 178-180. 33 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1997, S. 357-359; S. 365-367. 34 Ebd.

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wären dann in einem deleuzianischen Sinne vielmehr unterschiedliche Verlaufsformen der differierenden Wiederholung und Veränderung, nämlich eine rhythmisch artikulierte, diskret gegliederte, skandierte oder strukturierte einerseits (Zyklus) und eine fließende, kontinuierliche, geradezu analoge andererseits (Medium)35. Die Parodie, so ließe sich der Gedanke dann fortspinnen, geht aus dem Zusammenwirken beider Reihen hervor; oder umgekehrt, sie produziert eigenständig Ereignisse auf beiden Reihen zugleich, die eben dadurch in Wechselwirkung miteinander geraten, ohne einander jedoch zu berühren oder zu überkreuzen. Diese Ereignisse bilden dann eine eigene, dritte Reihe, eben die der Parodie36. Im Falle der Genreparodie hielte diese Wendung zudem den Clou bereit, dass die Parodie nicht einem definiten Text, sondern eben dem Prinzip des Genres gilt. Was die Parodie parodiert, sind (mindestens) beide beteiligten Genres (hier: Slapstick und Western; allgemein: der jeweilige Komödientyp und das jeweilig parodierte Genre). Genres verdankten sich dieser Überlegung zufolge den Effekten der Differenzierung zweier Differenzierungsverläufe, nämlich der zyklischen und der medienförmigen, und mindestens einer eben dieser Effekte ist die Parodie. Wenn man auch nicht bereits deshalb sagen kann, dass alle Genres immer schon Parodien seien, so wären sie doch der Möglichkeit ihrer eigenen Parodie verpflichtet. Beide sind gleich ursprünglich. 8.

Humor

Deleuzes Bemerkung über die Parodie lässt sich jedoch auch in einen anderen Zusammenhang stellen, nämlich mit seiner Auffassung über den Humor lesen, wie er sie in dem entsprechenden Kapitel seiner Logik des Sinns entfaltet37. Der sprachliche Diskurs (und wir nehmen an, dass dies auch für andere Diskurse wie den Film oder denjenigen des Genres gelten könnte), so legt Deleuze hier dar, kann grundsätzlich Halt und Begründung finden auf drei verschiedene Weisen. Er kann zum einen unter Verweis auf die ›Bedeutung‹ funktionieren, die die Begriffe und Sätze haben38. Diese Be-

35 G. Deleuze, Logik des Sinns, S. 57-60. 36 Ebd., S. 178-180. 37 Ebd., S. 170-179. 38 Ebd., S. 170-171.

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deutung ist allgemeiner Natur, sie ist der Sprache selbst äußerlich, übergeordnet und vorgängig, denn wo von Schuh oder Hut oder Tanz oder Hammer die Rede ist, da sind offenbar in einem platonischen Sinn allgemeine, gedankliche, abstrakte, dem Einzelfall vorgelagerte Einheiten gemeint. In diesem Fall ist die Sprache aus sich selbst heraus nicht begründbar; um mehr zu sein als Geräusch oder Graphismus, bedarf sie des Halts auf einer ihr übergeordneten oder zugrundeliegenden, sie transzendierenden Ebene. In Bezug auf unser Thema des Films, des Genres und seiner Parodie können wir hier an die Bedeutungskonstitution im Film ganz allgemein denken, etwa in der Montagetheorie. Näher betrachtet fällt auch das Prinzip der Verteilung von Filmen nach Kriterien (die von ihnen unabhängig sind) auf allgemeine Genres unter diese Form der bedeutsamen Diskursivität. Innerhalb des Genrediskurses dann handelt es sich beispielsweise bei Cavells Begründung eines Genres in einer bestimmten, den Film selbst übersteigenden und abstrakt regierenden philosophischen Frage (die Natur des Glücks oder der staatlichen Ordnung) um Bedeutsamkeit. Zum anderen findet die Sprache Halt in der ›Bezeichnung‹ und damit nicht in der übergeordneten Ideenwelt, sondern in den zu Grunde liegenden Dingen: das (oder sogar: dieses) konkrete Wasserloch, das Muli, die Gitarre39. Pragmatisch kann dies funktionieren, aber es bedeutet auch, die Sprache in ein Chaos von Einzeldingen, Einzelkörpern und ihren jeweiligen Vermischungs-, Einwirkungs- und Zuschreibungsverhältnisse zu stürzen40. Die Begründung gerade des Films in der Konkretion der einzelnen, vorfindlichen und vorfilmischen Dinge selbst, die der Film nur registriere, ist ein wichtiger Topos der Filmtheorie überhaupt, zum Beispiel bei Balázs, bei Bazin, bei Pasolini41. Insbesondere Siegfried Kracauer hat sie stark gemacht, und er war es auch, der darauf bestanden hat, dass die Dinge in ihrer Einzelstellung und Jeweiligkeit (Kracauer spricht von »Trümmern« und von »Chaos«) verweilen, wenn der Film sie aufnimmt. Hier begründet sich der Film allein in seiner Bezeichnungsfunktion, sogar unter Zurückweisung

39 Ebd., S. 171. 40 Ebd. 41 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch, oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; Bazin, André: Was ist Kino?, Berlin: Alexander 2004; Pasolini, Pier Paolo: »Die Schriftsprache der Wirklichkeit«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung (ZMK) 2 (2012), S. 71-90.

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der Bedeutung42. Besonders für den Slapstick haben wir die Dingorientierung und die nachfolgende Chaotisierung durch Film oben bereits erwähnt. Auch Filmgenres etwa machen dann nicht mehr viel Sinn, sie zerfallen in Einzelfilme, und diese in die sie tragenden ästhetischen oder diegetischen Ereignisse. Aus der Sicht der Bedeutungstheorie der Sprache kann die Bezeichnungspraxis zwar gerettet werden, jedoch wären die jeweils bezeichneten Einzeldinge dann lediglich Beispiele, Ausfertigungen, Vertreter der Ideen. Genretheoretisch könnte man hier an all die konventionellen Versuche denken, Genres in geradezu endlose Listen von Bestimmungsstücken aufzuführen. Aus der Alternative von Subsumption des Konkreten und Singulären unter allgemeine Bedeutungen einerseits und dem Versinken im »Abgrund« und in den »Tiefen« (Deleuze) der freigestellten Einzeldinge, -ereignisse und ihren vielfältigen Vermischungen andererseits gibt es jedoch einen Ausweg, so Deleuze, und das ist: Der Humor. In Verteidigung der Dinge und der Ereignisse in ihrer Singularität ihre Begründungskraft für den Diskurs – und mithin für unseren Zusammenhang: der Filme und der kinematographischen Ereignisse gegenüber dem Genre – zurückzuerstatten bedarf es, so Deleuze, einer bestimmten Diskurstechnik, nämlich eben des Humors43. Der Humor führt die Sprache (den Diskurs), statt aufzusteigen zu den Ideen, herab zu den je singulären, nicht verallgemeinerbaren oder vertretbaren Dingen und Ereignissen, ohne sie jedoch dabei zu bloßen Ausfertigungen der Ideen zu degradieren oder sich ihnen auszuliefern und in ihrem Chaos einfach unterzugehen. Der Humor – eingeschlossen die Parodie – enthierarchisiert den Diskurs (und damit auch das Verhältnis der Filme zu ihren Genres und der Genres untereinander). 9.

Oberfläche

Damit bewegt sich Deleuzes Humorvorstellung in einer interessanten Spannung zu derjenigen Sigmund Freuds. Bei Freud ist der Humor ebenfalls an die Überwindung einer Hierarchie, einer Überordnung zweier Ebenen gebunden. Diese beiden Ebenen sind zwei (der drei) Schichten des psy-

42 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 386-402. 43 G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 171.

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chischen Apparates, nämlich: das Ich und das Über-Ich, die Aufsichts- und Kontrollinstanz über das Ich. Die dritte Ebene, das Es, die verborgene, dem Ich unzugängliche, aber es fortwährend bestimmende Triebkraft des psychischen Systems, ist im Humor nicht angesprochen; dafür aber im Phänomen des Witzes, das Freud viel ausführlicher behandelt und das im Zusammenspiel von Ich (=Bewusstes) und Es (=Unbewusstes) zu Stande kommt. Im Humor nun, so Freud, gelingt es dem Ich, vorübergehend seinerseits eine Aufsicht auf und über das Über-Ich, von dem es selbst kontrolliert wird, zu erlangen. Das Subjekt erkennt im Humor seine eigene Abhängigkeit von den Regulierungen durch das Über-Ich und schwingt sich damit zur Überlegenheit und zur Souveränität noch über das Über-Ich auf. Humor ist damit bei Freud eine (vorübergehende?) Umkehrung der Aufsichtsverhältnisse. Sie stellt die Hierarchie um, aber sie lässt sie als solche vollkommen intakt. Das Ich transzendiert sich hier und tritt wie in Spencer Browns oder Luhmanns Re-Entry mit der gewonnenen Einsicht wieder in sich ein und unter die eben noch beaufsichtigte und jetzt belächelte Aufsichtsinstanz, das Über-Ich44. Auch die Freud’sche Humortheorie könnte natürlich die Folie abgeben für eine Theorie der Genreparodie; in der Parodie schwingt sich das Genre zur Überlegenheit über seine eigenen Regeln und zur ihrer Ridikülisierung auf, um alsbald, allerdings jetzt in informierter Weise, zu ihnen zurückzukehren. Allerdings würde diese Lesart den hier getroffenen Beobachtungen über die nicht-hierarchische Interaktion gleich zweier Genres (Komödie und Western) und Genretypen (Zyklus und Medium) nicht gerecht; ebenso wenig der Perspektive der Genre-Parodie als Ridikülisierung gleich des Prinzips des Genres und zugleich als dennoch eigenes Genre, das sich folglich selbst paradoxiert (und genau sich wie alle Genres damit möglicherweise überhaupt erst ermöglicht). Wie aber gelingt dem Humor nach Deleuze die Ent-Hierarchisierung, die sich nicht auf eine Umkehr und Rückkehr der Hierarchie oder ihr vorübergehendes Aussetzen beschränkt? Der Humor verzichtet auf alle Begründungen des Diskurses außerhalb des Diskurses selbst in Bedeutungen und Bezeichnungen und damit auf den Anspruch auf irgendeine vorausgehend bestehende und transzendent verhaftete Sinnhaftigkeit. Er belässt die Bezeichnungen der Sprache und die diskursiven Ereignisse je einzeln, so dass sie von vornherein sinnlos sind, und verkettet sie dennoch miteinander.

44 Spencer Brown, George: Gesetze der Form, Leipzig: Bohmeier 2008.

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»Der Unsinn und der Sinn beenden ihre dynamische Gegensatzbeziehung, um als Unsinn der Oberfläche und als Sinn, der über sie gleitet, in die Kopräsenz […] einzugehen.«45 Der Humor hat demnach die Eigenart, eine Operation rein immanenter Art zu sein, die nur in der Sprache und ihrer Materialität bzw. im Diskurs abläuft und keines Rekurses auf eine dem äußerliche, Sprache und Diskurs transzendierende Ebene zu bedürfen46. Dies erläutert Deleuze nun näher, indem er den Humor der Ironie gegenüberstellt (und auch dem Zynismus). An anderer Stelle bezieht er die Ironie auf den Sadismus, den Humor aber auf den Masochismus: die Ironie des Sadismus stelle sich außerhalb des Gesetzes; der Humor des Masochismus folge dagegen dem Gesetz in geradezu übertriebener Genauigkeit und zersetze es dadurch47. Man könnte hierzweifellos noch einmal auf die absurden Rituale der Körperstrafen bei Laurel und Hardy zurückkommen, in denen man tatsächlich einen solchen masochistischen Grundzug ausmachen kann. Hier jedoch möchte ich im Zusammenhang von »Logik des Sinns« verbleiben. Um Humor und Ironie zu unterscheiden greift Deleuze hier nämlich, die vorhin dargestellten Gedanken über die Grundlegung des Diskurses fortsetzend, auf eine dritte Begründung zurück, die die Sprache in Anspruch nehmen kann. Sie liegt, ohne Bedeutung oder Bezeichnung aufzurufen, in der jeweils sprechenden Instanz (in ihrer Autorität, Aufrichtigkeit und Authentizität beispielsweise, so ließe sich ergänzen). Diese Instanz kann nach Deleuze zum einen im sprechenden Individuum als einer durch seine Außengrenze definierten, nämlich von den anderen und von anderem abgesetzten Größe gesehen werden, wie dies der klassischen Bestimmung, so Deleuze, entspräche48. Zum anderen aber kann sie in, so Deleuze, romantischer Tradition durch die Person besetzt werden; die Person ist dabei nicht durch ihre Abgrenzung, sondern durch ihre komplexe innere Struktur und Zusammensetzung bestimmt. Ihre Einheit (der sie in der Sprache als Sprecherin Ausdruck verleiht) bestimmt sich aus ihrem inneren Zu-

45 G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 177. 46 Ebd. 47 Deleuze, Gilles: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, in: Leopold von Sacher Masoch: Venus im Pelz, Frankfurt a.M.: Insel 1980, S. 338-340; M. Palm/D. Robnik: Das Verblödungsbild. 48 G. Deleuze: Logik des Sinns, S. 173-174.

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sammenhang49. Auch das Subjekt der Psychoanalyse wäre in diesem Sinne eine Person. In beiden – allerdings noch einmal verschieden gelagerten50 – Fällen muss die sprechende Instanz, in der die Sprache begründet sein soll, sich jedoch zunächst einmal behaupten. Sie muss sich als Individuum oder als Person ihre Alleinstellung gegen drei verschiedene Formen der Allgemeinheit und Vereinnahmung absetzen. Dies sind erstens (erneut) die Allgemeinheit der Ideen und zweitens, im Gegensatz zur existentiellen und empirischen Einmaligkeit von Individuum und Person, sogar noch das Schema der Individualität oder der Persönlichkeit (dazu würde etwa auch der psychische Apparat nach Freud zählen). Drittens muss sich das Individuum bzw. die Person zuletzt der Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit der Sprache selbst gegenüber behaupten. Das Mittel zu dieser dreifachen Selbstbehauptung ist, so Deleuze, die (sokratisch-spöttische, kantischkritische oder romantisch-verzweifelte) Ironie. In der Ironie stellt sich die sprechende Instanz gegenüber allen Schematismen und Verallgemeinerungen als einzigartig frei. Das betrifft die Gesetzmäßigkeiten der Sprache, die Allgemeinheit der Ideen und das Schema noch der Persönlichkeit oder der Individualität selbst. Die Ironie bezieht eine all diesen Größen äußerliche, einmalige Position. Sie unterläuft, was sie selbst sagt, aber sie gehört dabei dem, was sie sagt, selbst nicht an51. Sie nimmt sich selbst aus, schreibt sich selbst Einzigartigkeit zu und zwängt damit, wie Deleuze sagt, »alle (anderen, L.E.) Singularitäten in die Grenzen des Individuums oder der Person ein.«52 10. Genre als »vierte Person« Anders dagegen der Humor, so Deleuze. Im Humor bewegt sich die Sprache (der Diskurs), wie in der Bezeichnung, von einer Jeweiligkeit oder Singularität zur anderen und bezieht sich dabei nicht auf die Alleinstellung des Individuums oder der Person, sondern findet derlei Alleinstellungen überall, in den bezeichneten Dingen, in der Sprache selbst, in den diskursiven Ereignissen. Das Singuläre wird somit von der Instanz der Sprecherin und

49 Ebd., S. 175. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 175-176. 52 Ebd., S. 176.

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von jeder Urheberschaft befreit. Der Humor ist unpersönlich und präindividuell, Deleuze spricht von einer »vierten Person«53. In der Zurückweisung der »ersten Person« und der Ablösung des Humors von der Persönlichkeit, ihren Haltungen und Verhaltensweisen, zeigt sich auch noch einmal die gegenüber Freuds Denkansatz zum Humor verschobene Position Deleuzes. Der Diskurs des Humors (im Gegensatz zur Ironie) ist keine Angelegenheit der Person oder des Subjektes; er verzichtet auf Grundlegung außerhalb seiner selbst, er navigiert rein auf der »Oberfläche« des Diskurses. Genau dies macht es so aussichtsreich, ausgerechnet im Diskurs des Genres als einer Instanz jenseits aller Autorschaft den Humor aufzusuchen und das Genre der Parodie im Sinne Deleuzes als »vierte Person Singular« zu fassen. Am Beispiel von WAY OUT WEST haben wir im Einzelnen gesehen, wie die Parodie verfährt. In einem eher belanglosen Narrativ (der Plot des Films ist völlig irrelevant, es geht um Situationen) verkettet sie die separierten, freigespielten Dinge und Ereignisse der bloßen Bezeichnung, Hüte, Töne, Tänze, Wasserlöcher. Sie entwendet sie dabei der (doppelten) Subsumption unter die Bedeutung, einmal im Horizont des Slapsticks, einmal in demjenigen des Westerns, und erstattet sie ihnen in veränderter Form zurück. Dadurch können sich letztlich auch die Genres verändern. Die Parodie setzt voraus, dass der Diskurs, das Genre, in sich selbst immer schon sinnfrei ist, weil es zu seiner Begründung stets über sich hinaus verweisen müsste auf ein höheres Prinzip, oder zerfallen müsste in eine Anhäufung von Einzelfilmen, die es allenfalls zu Beispielen herabsetzt; aber genau deshalb ist das in sich unsinnige Genre das Material der Parodie als einer Verfahrensform des Humors, die Unsinn und Sinn nebeneinander existieren lässt. Es ist die Oberfläche des Unsinns, auf dem die Parodie im Namen der »vierten Person« navigiert. Zu fragen bleibt natürlich ob es, wie oben angedeutet, dann überhaupt ein Genre (und insbesondere ein Genre als Medium) ohne Parodie geben kann und ob nicht das Genre der Komödie, die jede Parodie ist, alle Genres durchquert und einholt, ohne sie einander gleich zu machen. »Humor ist die Kunst der Oberflächen und der Verdoppelungen, nomadischer Singularitäten und des stets verschobenen Zufallspunktes, die Kunst der statischen Genese, die Genese im Umgang mit dem reinen Ereignis

53 Ebd., S. 140-141; S. 178.

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oder die ›vierte Person Singular‹ – jede Bedeutung, Bezeichnung und Manifestation ist außer Kraft gesetzt, jede Tiefe und Höhe abgeschafft.«54

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54 Ebd., S. 178.

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F ILME CAT BALLOU (USA 1965, R: Elliott Silverstein) CITIZEN KANE (USA 1941, R: Orson Welles) PARDON US (USA 1931, R: James Parrott) THE GOLD RUSH (USA 1925, R: Charlie Chaplin) THE IRON HORSE (USA 1924, R: John Ford) THE IRON MULE (USA 1925, R: Roscoe Arbuckle, Grover Jones) THE JAZZ SINGER (USA 1927, R: Alan Crosland) TOWED IN A HOLE (USA 1932, R: George Marshall) WAY OUT WEST (USA 1937, R: James W. Home)

Von Tod und Überleben der Mise-en-Scène Notate zur Medienästhetik eines modernen Traditionalismus I VO R ITZER

When we consider the question of the relationship between art and non-art, we also encounter new cinematic syntheses, in particular via cinema’s use of the great popular genres and its transformation of these unique forms into artistic materials. ALAIN BADIOU

In seinem schlicht »The New Hollywood« genannten Kapitel aus dem wichtigen Band Film Theory Goes to the Movies differenziert Thomas Schatz drei Typen von Filmen, die Hollywood heute produziert. Er nennt: erstens »the calculated blockbuster«, zweitens »the mainstream A-class star vehicle« und drittens »the low-cost independent feature«1. Das bedeutet, es gibt Filme von J.J. Abrams, Joss Whedon, Rian Johnson, Gore Ver-

1

Schatz, Thomas: »The New Hollywood«, in: Jim Collins/Ava Preacher Collins/ Hilary Radner (Hg.), Film Theory Goes to the Movies, New York: Routledge 1993, S. 35.

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binski oder Ryan Coogler. Es gibt Filme von Doug Liman, Joseph Kosinski, Ron Shelton, Rob Cohen oder Brett Ratner. Und es gibt Filme von Sofia Coppola, Jason Reitman, Wes Anderson oder David O. Russell. Dazwischen jedoch existiert eine Tendenz, die ich als modernen Traditionalismus bezeichne. Sie ist mit Schatz’ Taxonomie nicht erfasst, denn an ihr geht die Kategorisierung vorbei. In ihrer Synthese von Tradition und Moderne lässt sie sich nicht greifen mit den drei wesentlichen Tendenzen des postklassischen Hollywood. Quer dazu steht der moderne Traditionalismus von Metteurs-en-Scène wie John Carpenter, Peter Bogdanovich, John Milius, Michael Ritchie oder, im Besonderen, Walter Hill. Für sie lauten die zentralen Fragen: Wie modern sein angesichts der Tradition? Wie traditionell sein angesichts der Moderne? Modern vor allem in der Wahl ihrer Mise-en-Scène, im Wissen um die Geschichtlichkeit des Mediums. Traditionell vor allem in der Lust am Spiel mit klassischen Genres, in der Freude am Erfinden von narrativen Konstellationen. Sie glauben nicht an die neue Erzählung, sondern an das neu zu Erzählende. Sie blicken nach hinten und nach vorne zugleich. Moderner Traditionalismus heißt bei ihnen, dass der Blick offen ist für die Tradition, für die Repetition, auch für die Imitation. Aber stets unter der Prämisse, Bescheid zu wissen über das eigene Tun, die eigenen Mittel, die eigene Historizität. Im Folgenden werden wir den modernen Traditionalismus im HollywoodKino näher bestimmen. Auf ein Kapitel der Begriffsklärungen folgen Passagen zum cinéphilen Diskurs der Mise-en-Scène, wie er zunächst ein Ende der Künste des Kinos diagnostiziert, um dann mit zwei Affinitäten des modernen Traditionalismus im postklassischen Hollywood-Kino konfrontiert zu werden: einer Medienästhetik der Abstraktion und einer Medienästhetik der Stilisierung. Beide sind als filmische Spielräume zu charakterisieren, in denen der moderne Traditionalismus das Projekt einer medienästhetischen Synthese verfolgt. Medienästhetik verstehen wir dabei als die im Rahmen der technologisch-apriorischen Konstellation sich entfaltende Potentialität an ästhetischen Verfahren2. Nach der Mise-en-Scène

2

Zur Medienästhetik der Mise-en-Scène siehe ausführlich: Ritzer, Ivo: Medialität der Mise-en-scène: Zur Archäologie telekinematischer Räume, Wiesbaden: Springer 2017.

V ON T OD

UND

ÜBERLEBEN DER M ISE - EN -S CÈNE | 77

des modernen Traditionalismus zu fragen, das bedeutet mithin, die der Inszenierung zur Verfügung stehenden Optionen mit Fokus auf ihre Rolle bei der Konstitution des filmischen Ausdrucks zu spezifizieren.

1. T RADITION

UND

M ODERNE

Der moderne Traditionalismus ist weder »Art-Cinema Narration«3 noch »Classical Narration«4, weder Old Hollywood noch New Hollywood. Seine Arbeiten bilden kein »cinema of psychological effects in search of their causes«, d.h. »concerned less with action than reaction«5, noch geht es ihnen um ein »striv[ing] to conceal its artifice through techniques of continuity and ›invisible‹ storytelling [so] that the film should be comprehensible and unambiguous.«6 Wir finden sowohl stringente Entwürfe eines homogenen Medienraumes als auch spatiale Diskontinuitäten, sowohl diskrete Rekurse auf Licht, Kamera, Kadrierung und Ton als auch auffallende Beleuchtungseffekte, autonome Kameraoperationen, ungewöhnliche Kadrierungseinfälle und emphatischen Toneinsatz. Ihre Idiosynkrasien opponieren gegen ein Denken in Dichotomien, die Banalität der Binarismen. Sie stehen zwischen den konsensualisierten Stilepochen, zwischen den separierten Inszenierungsweisen, zwischen den etablierten Kategorienrastern. Das verleiht ihnen nicht nur besondere ästhetische Qualitäten, auch zentrale Essentialismen von Mediengeschichte und Filmtheorie sehen sich durch diese ästhetische Praxis mit ihrer ungenügenden Validität konfrontiert. Notwendig werden alternative Zugänge, die Vielstimmigkeiten, Kontradiktionen und Spannungen aushalten können. Denn sie zeigen, dass

3

Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison: University of Wisconsin Press 1985, S. 205.

4

Ebd., S. 156.

5

Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London: Routledge 1988, S. 373.

6

Ebd., S. 3.

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der Medienwandel vom klassischen Bewegtbild zur modernen Audiovision nicht linear sich vollzieht, sondern dialektisch, nicht adversativ, sondern koextentiv, nicht teleologisch, sondern funktional. In einer dialektischen Spannungsrelation steht der moderne Traditionalismus zwischen klassischem Bewegtbild und postklassischer Audiovision. Traditionalismus und Modernismus lassen sich als koexistente Intervalle beschreiben, die nicht als absolute Größen voneinander differieren, sondern stets relativ aufeinander bezogen bleiben. Statt abgeschlossene Kategorien zu bilden, steht ihre ästhetische Qualität in einer engen Relation, deren evidente Widersprüche nicht aufzulösen sind. Sie zeichnen sich aus durch eine basale Heteroglossie, d.h. eine grundlegende Mehrstimmigkeit ihrer ästhetischen Gegenstände. Diese können, um Mikhail Bakhtins Konzept einer Dialogizität differenter Codes aufzugreifen, nicht nur »einander gegenübergestellt werden«, sie können sich auch »wechselseitig ergänzen«, können »einander widersprechen«, sie können »dialogisch aufeinander bezogen sein«7. Fern davon, hermetische Felder zu konstituieren, illuminieren und relativieren sie sich vielmehr gegenseitig. Damit erscheinen weder Tradition noch Moderne als fixe historische Epochen, vielmehr handelt es sich um differente, aber stets aufeinander bezogene Praktiken der Mise-en-Scène. Hans Robert Jauß hat bereits unter begriffsgeschichtlicher Perspektive erörtert, dass ästhetischer Modernismus nicht notwendigerweise eine vorangegangene Epoche der Tradition auslöscht. »Modernus ist«, so Jauß, »von modo abgeleitet, das […] nicht allein nur, eben, erst, gleich bedeutet, sondern wahrscheinlich auch schon den Sinn von jetzt haben konnte […]. Daß modernus nicht einfach neu, sondern derzeitig bedeutet, hat W. Freund – dessen ausgezeichneter Darstellung ich hier folge – mit guten Gründen als die entscheidende, die Neuprägung rechtfertigende Bedeutungsnuance herausgestellt.«8

7

Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979,

8

Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M.: Suhr-

S. 183. kamp 1970, S. 16.

V ON T OD

UND

ÜBERLEBEN DER M ISE - EN -S CÈNE | 79

Das Moderne bleibt damit nicht nur auf ein ›Altes‹ bezogen, das dem ›Neuen‹ gegenübersteht, es impliziert immer auch ein ›Früher‹, auf das ein ›Derzeitiges‹ folgt. Eine Koexistenz von Vergangenem und Gegenwärtigem bleibt so denkbar, ist das Moderne doch immer auch ein Echo der Tradition. Nicht nur gebiert moderne Kunst ihren eigenen Klassizismus: »Es ist, wie Jauß beobachtet, die Moderne selbst, die sich ihre Klassizität schafft«, notiert Jürgen Habermas – »wie selbstverständlich sprechen wir inzwischen von klassischer Moderne«9. So lebt die Tradition im Modernen fort, ist stets präsent als Punkt der Referenz, d.h. als Objekt ästhetischer Selbstreflexion respektive Selbstkritik. Klassisches Bewegtbild und moderne Audiovision sind zwar voneinander zu differenzieren, aber doch auch eng miteinander verbunden. Wo Brüche existieren, stehen auch Kontinuitäten. Wenn Jean-Luc Godard zu Howard Hawks, dem wohl wichtigsten Referenzpunkt für alle modernen Traditionalisten, diesem »größten unter den amerikanischen Regisseuren«, anmerkt, wie »relativ [der] Begriff des Klassischen ist« und von keinem modernen »Antikino«10 diskreditiert werden kann, dann macht er deutlich, dass Traditionelles und Modernes nicht als monolithische Formen zu konzipieren sind. Ebenso wie ein klassischer Modernismus existiert, kann auch von einem modernen Klassizismus gesprochen werden. Das Moderne, darauf hat Roland Barthes in einer eigensinnigen Hommage an Michelangelo Antonioni hingewiesen, sollte nicht als Begriff der Opposition zur Tradition verstanden werden, nicht als ein Terminus der Statik: nicht »als Fahne im Kampf gegen die alte Welt und ihre bloßgestellten Werte«. Das Moderne in Kunst und Medienästhetik, so Barthes, ist »ganz im Gegenteil die Schwierigkeit, aktiv die Veränderungen der Zeit zu verfolgen«. Leistet ein Film diese seismographische Arbeit durch moderne Sensibilität, kann er mit Barthes als ein »historisches Experiment« gelten, d.h. als »das Verlassen eines alten Problems und die Formulierung einer neuen Frage«.11 Für Barthes gibt es keine

9

Habermas, Jürgen: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophischpolitische Aufsätze, Leipzig: Reclam 1994, S. 34.

10 Godard, Jean-Luc: Godard on Godard, New York: Viking 1972, S. 27. 11 Barthes, Roland: »Die Weisheit des Künstlers«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Michelangelo Antonioni, München/Wien: Hanser 1984, S. 65.

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Möglichkeit, wie die Moderne sich der Tradition entledigen kann. Stets bleiben Spuren zurück. Eine solche Spur zwischen Klassizismus und Modernismus entwerfen Arbeiten von John Carpenter, Michael Ritchie oder Walter Hill, die immer auch Konventionen erfüllen, in diesen aber gerade niemals aufgehen. Ihr moderner Traditionalismus manifestiert sich in der Differenz zwischen Genre- und Autorenpolitik: als Genre-Auteurismus12. Wo die historische Avantgarde ihren Nullpunkt in der absoluten Negation des Tradierten erreicht, blickt ein moderner Traditionalismus nach hinten und nach vorne zugleich. Das Klassische wird herbeizitiert, nur um als Modus der Wahrnehmung in der Schwebe zu bleiben, zwischen Perfekt und Präsens. Jacques Rancière hat hier von einem prozessualen Charakter gesprochen, der Bewegtbilder als fundamental ambivalente Kunst kennzeichnet: »This process undoes the arrangements of fiction and of representational painting, and draws our attention instead to the painterly gesture and the adventures of matter lurking beneath the subject of figuration, to the glimmer of the epiphany and the splendor of pure reasonless being glowing just beneath the conflict of wills of the play or novel. It hollows out or exacerbates the gestures of expressive bodies, slows down or speeds up narrative progression, suspends or saturates meanings.«13

In diesem Sinne durchkreuzt das Medium stets seine eigene Souveränität, sorgen inszenierte Bilder und Töne für kontradiktorische Disruptionen in einer zu inszenierenden Erzählung. Moderner Traditionalismus kann dabei verstanden werden als audiovisueller Entwurf, der einerseits die Klassizität des Geschichtenerzählens perpetuiert, wie sie bis mindestens auf die

12 Zu Theorie und Ästhetik des Genre-Auteurismus siehe ausführlich: Ritzer, Ivo: Genre/Autor, Mainz: Dissertation Johannes Gutenberg-Universität 2009; Ritzer, Ivo: »Badiou to the Head: Zur In-Ästhetik transmedialer Genre-AutorenPolitik oder Wie die Graphic Novel-Adaption Bullet to the Head eine materialistische Dialektik denkt«, in: ders./Peter W. Schulze (Hg.), Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 89-135; Ritzer, Ivo: »Am Nexus des Weltkinos«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 8 (2016), S. 135-151. 13 Rancière, Jacques: Film Fables, Oxford/New York: Berg 2006, S. 8.

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Antike zurückgeht, andererseits aber immer auch einen Raum jenseits ihrer figurativen Narration öffnet. Hier steht eine Materialität der Mise-enScène, die irreduzibel bleibt: im Rancière’schen Sinne als »the best examples of the film-fable, split and thwarted: mise-en-scène of a mise-enscène.«14 Diese Beispiele sind Kino der mechanischen Reproduktion und Audiovision der ›magischen‹ Illusion zugleich, indem ihre Mise-en-Scène das profilmische Arrangement der Körper durch das Medium sowohl apparativ erkunden als auch visionär stilisieren lässt. Damit entstehen hybride Bilder, die einen Blick werfen auf die Figuren im Raum vor dem Kameraobjektiv, diese Figuren aber simultan als Fundament der Imagination verdichten. Das Photographische und das Phantastische kommen demgemäß zusammen in Film-Fabeln, die Alltägliches abnormal machen, Gewöhnliches geheimnisvoll und Vertrautes fremd. Ohne auf das Erzählen von Geschichten zu verzichten, integriert eine solche Mise-en-Scène ihre Medialität in den diegetisch-modalen Raum, sie macht aus ihr ein Element des Dargestellten. So entstehen ästhetische Konfigurationen, die dem Zusammenhang zwischen Körpern und Dingen nachspüren, dem Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren ihre Aufmerksamkeit schenken, indem sie Empfindungen erfinden und Erfindungen empfinden. Nicht mehr nur geht es darum, eine sichtbare Welt zu beschreiben, es geht darum, eine unsichtbare Welt zu schreiben. Auf diese Weise konkretisiert sich eine Mise-enScène, die sich als Abkehr vom Klassischen lesen lässt, indem sie eben dessen poetisches Potential als Erfüllung vorführt.

2. D AS E NDE

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Bereits in den 1970er Jahren haben maßgebliche cinéphile Diskurse einen Tod der Mise-en-Scène beklagt. V.F. Perkins etwa reagiert auf inszenatorische Tendenzen des postklassischen Hollywood-Kinos mit großer Ablehnung, weil nicht mehr die Form den Inhalt ›organisch‹ bildet: »[O]ne could risk a […] statement by summing up the change in the movies since the mid 1960s in terms of the death of mise en scene«, so Perkins. Mise-

14 Ebd., S. 15.

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en-Scène freilich ist hier kein deskriptiver, sondern ein klar evaluativ gebrauchter Terminus. Er bezeichnet nicht per se die Organisation von filmischen Raum-Zeit-Relationen, er steht vielmehr für artistisches Ingenium, das Konventionen des klassischen Kinos für individuelle Zwecke nutzt: »By that [the death of mise en scene] I mean that in my experience of American films of the last five years, the stylistic strategies tend to be either blatantly point-making or to be totally arbitrary choices of what you put where, or what you cross-cut fast or what lens you use.«15 Perkins konstatiert einerseits eine eindimensionale Inszenierung von Körpern und Raum ohne gedankenvolles Arrangement. Andererseits glaubt er die subtile Inszenierung von Kohärenz für Hollywood verloren zugunsten übermäßiger inszenatorischer Emphasen oder völlig kontingenter Inszenierungsformen. Auch Robin Wood konstatiert in diesem Sinne für das postklassische Hollywood eine Praxis der Mise-en-Scène, die sich selbst in den Vordergrund drängt, dabei aber weder der Inszenierung noch den Inszenierenden einen Gefallen tut: »much more assertive but no more personal.«16 Nicht länger steht Plausibilität vor Signifikanz wie im klassischen Kino eines Howard Hawks, Raoul Walsh oder John Ford, für den expressiven Effekt wird die Inszenierung einer glaubwürdigen Diegese nun suspendiert: durch scheinbar völlig arbiträres Positionieren von Körpern und Objekten gegenüber der Kamera ebenso wie durch den Einsatz offensiver ZoomEffekte, mehrerer Split-Screens, harter Reißschwenks, starker Tele-Objektive, harten Gegenlichts, reduzierter Farbspektren oder auffälliger Voiceover. Nie gehen diese Effekte im narrativen Fluss auf, bleiben immer merkliche Eingriffe der Inszenierung in den inszenierten Raum. Statt zu erzählen, so scheint es, wird nur noch gezeigt. Cinéphile sehen sich daher mit einer Mise-en-Scène konfrontiert, die sich für sie nicht mehr Mise-enScène nennen darf. Hier ist die Konstitution einer möglichen Welt als symbolische Diegese aufgehoben, die Option suspendiert, zugleich Plausibilität und Signifikanz zu stiften. Aus dieser Perspektive scheint das Gleichgewicht von Form und Inhalt im postklassischen Kino nachhaltig gestört,

15 Cameron, Ian u.a.: »The Return of Movie«, in: Movie 20 (1975), S. 6. 16 Wood, Robin: Hollywood from Vietnam to Reagan… And Beyond, New York: Columbia University Press 2003, S. 29.

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Erstere überrepräsentiert mit Blick auf die in ihm sedimentierten Bedeutungen. So kommt es zu einer starken Betonung des diegetischen Effekts, die genuin ästhetische Aufdeckung der Konstruktionsmechanismen unterliegt dagegen einer Marginalisierung. Tritt Letztere in den Vordergrund, wird der Verlust von Ersterer moniert. Wo die klassische Mise-en-Scène repräsentierend operiert und dabei ihren Referenten durch distinguierte Modulation mit zusätzlicher Bedeutung auflädt, scheinen sich im Postklassischen die Relationen verkehrt zu haben. Hier wird nicht mehr plausibilisiert, um dann zu modellieren, zu entwickeln, zu signifizieren. Vielmehr oszilliert die mediale Form permanent zwischen Extremen. Entweder sie scheint zufällig für bestimmte Operationen zu votieren oder aber sie votiert überdeutlich für einen bestimmten Inszenierungsparameter, der per Konvention ein bestimmtes Bedeutungskonzept impliziert. In beiden Fällen ist die so geschätzte Kunst der Mise-en-Scène verloren, operiert der Film doch unüberlegt und damit belanglos oder unoriginell und damit eindimensional. Das Bild der Welt wird in jedem Fall suspendiert für die Welt der Bilder, weil die Mise-en-Scène sich zwischen Diegese und Publikum stellt, d.h. sich als obstrusive Instanz bemerkbar macht. Postklassisches Hollywood, so konstatiert auch Adrian Martin, »seems to […] lose a great deal that has been associated with the lofty concept of mise en scene. In particular, it loses the capacity for a more subtle kind of ›point-making› – the kind we associate with a certain critical distance installed between the director and the events that he or she shows.«17 Diese manieristische Mise-en-Scène bezeichnet Martin auch als »the cinema of hysteria«. Dessen Hysterie besteht in einer Über-Signifikanz der permanenten Reizüberflutung: »This is a cinema indeed ›saturated in significance‹, but in a wild, scattershot way – calculated to press all buttons and have it all ways simultaneously […] – mainly for the sake of spectacular ›effect‹«. Es ist mithin eine Mise-en-Scène der falschen Bewegung: »Often we might feel, as viewers or critics, that the dynamics«, so Martin kürzlich noch einmal,

17 Martin, Adrian: »Mise-en-Scène is Dead, or The Expressive, The Excessive, The Technical and The Stylish«, in: Continuum 2 (1992), S. 87-140, http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/5.2/Martin2.html

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»are forced, imposed on the dramatic (or comedic) content from without; that his ›amped-up aesthetic‹ […] is a desperate attempt to create pace, excitement, interest, local colour, thick mood and some vague but ominous air of meaningfulness at literally every moment of the unfolding screen time – even when it has not been (as classicists would say) ›earned‹.«18

Für Martin produziert diese hysterische Mise-en-Scène der falschen Bewegungen gezielt Inkohärenzen, um das Zuschauersubjekt permanent zu affizieren. Sie leitet sich dabei aus einer medienkonvergenten Disposition ab, die bei der Evaluation filmischer Mise-en-Scènes zusehends mitzubedenken ist. Vor jeder thematischen Implikation steht der durch unentwegte Präsenzeffekte um Aufmerksamkeit buhlende Bedeutungsträger: »the sudden gasp, the revelatory dramatic frisson, the split-second turn-around of meaning or mood, the disorientating gear-change into high comedy or gross tragedy. It is hardly surprising that what links many filmmakers in this tradition is a background (and continued employment) in TV advertising and music video – those areas of audiovisual culture most governed by spectacular, moment-to-moment ›sell‹.«19

Zu Beginn der 1990er Jahre glaubt Martin unter dieser manieristischen Mise-en-Scène noch eine Minderheit der Filmproduktion gefasst zu haben, die heute mit Metteurs-en-Scène wie J.J. Abrams, Joss Whedon, Rian Johnson, Gore Verbinski oder Ryan Coogler jedoch zu hegemonialer Dominanz gefunden hat. Sie zielt nicht mehr ab auf die Lektüre ihrer Figuren und Räume, sondern verlangt ein schlichtes Akzeptieren ästhetischer Entscheidungen. Statt einer internen Logik der Mise-en-Scène mobilisiert ihre Ästhetik eines »confused mess«20 schlicht alle technologisch zur Verfügung stehenden Optionen, um scheinbar jeden Moment selbstzweckhaft für ein neues inszenatorisches Gimmick zu nutzen. Steven Shaviro

18 Martin, Adrian: Mise en Scène and Film Style. From Classical Hollywood to New Media Art, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014, S. 104. 19 Martin, Adrian: »irreversible/cruising/hysterical cinema«, vom 24.10.2003, http://movies.groups.yahoo.com/group/a_film_by/message/3222 20 A. Martin: Film Style, S. 107.

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schreibt dieser Medienästhetik ähnlich wie Martin einem Paradigma der »Post-Continuity«21 zu, wo weder Regelbeachtung noch Regelverstoß länger an Signifikanz besitzen und inszenatorische Entscheidungen scheinbar vollkommen aleatorisch ausfallen. Sie ließen sich nicht mehr nur mit Martin als manieristisch oder hysterisch bezeichnen, sondern in gewissem Sinne auch außerhalb des Interesses einer ästhetischen Theorie situieren. Mögen sie sich mitunter für symptomatische Lektüren anbieten und signifikante Rückschlüsse auf die globale Affektmodulation eines immens beschleunigten Spätkapitalismus zulassen, so relegiert sie ihre inszenatorische Indifferenz im Vergleichgültigen von ästhetischen Regimen doch eher ins Feld einer auf ökonomische Kontextanalysen statt auf ästhetische Phänomene ausgerichteten Film- und Medienwissenschaft. Serge Daney freilich hat in seinem cinéphilen Schreiben diese Verschiebung bereits vor über zwanzig Jahren konstatiert und im Zuge dessen einen neuen Bildtypus bestimmt. »How can one define this mannerism?«, fragt er, um dann ein Sichtbares von einem Visuellen abzugrenzen und das manieristische Kino des postklassischen Hollywood unter Letzterem zu subsumieren. Daney verweist hier auf Bilder in einer Endlosschleife, »no longer just produced by the camera, but manufactured outside it«. Ihm ist es zu tun um ein Visuelles, das nicht mehr inszeniert, sondern stattdessen so fabriziert wie programmiert scheint, ja nachgerade auf Pawlow’sche Weise das Zuschauersubjekt zu affizieren trachtet. Durch ein reduktionistisches Primat der Technologie verschwinden inszenatorische Entscheidungen hinter einem Imperativ der bloßen Machbarkeit. Für Daney stimuliert dieses Prinzip klare Rückschlüsse auf die Subjekte der Produktion und ihre Negation einer jeden Utopie: auf »what little love is left in the cold hearts […] of the filmmakers«. Die Mise-en-Scène sieht Daney marginalisiert zu trivialen »stand-ins« und irrelevanten »visual signals«. Körper im Raum gibt es noch, sie aber besitzen in der manieristischen Medienästhetik keine perzeptive Relevanz mehr: »They’re still there, but they’ve ceased to be interesting ages ago.«22 Die Welt mag noch immer eine Bühne

21 Shaviro, Steven: »Post-Continuity«, vom 26.03.2013, http://www.shaviro.com/Blog/?p=1034 22 Daney, Serge: »One from the Heart«, in: Framework 32/33 (1986), S. 175.

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sein, sagt Daney mit Vincente Minnelli, die Bühne aber hat aufgehört, eine Welt darzustellen. Die Bühne ist nur mehr eine Bühne.

3. MEDIENÄSTHETIK DER ABSTRAKTION Im modernen Traditionalismus erscheint das Kino als eine Medienästhetik der Abstraktion, die der Bühne ihre Welt restituiert. So konkret die Filme auf den ersten Blick wirken, so abstrakt sind sie doch konstruiert. Einerseits geht es um physisches Kino, das Körper in Aktion zeigt. Andererseits wird der Blick auf diese Körper und Aktionen gefiltert. Er folgt den Regeln der generischen Zuspitzung, Ziel ist die Herstellung von affektiven Gefügen. Der moderne Traditionalismus zieht an die Grenzen des Abstrakten und an die Grenzen des Konkreten, und im Oszillieren dazwischen konstituieren sich Affekte. Dieses affektive Kino zwischen Konkretion und Abstraktion geht hervor aus dem auteuristischen Zugriff auf das Generische, d.h. dem spezifischen Blick der Inszenierung. Anschaulich werden alte Geschichten neu erzählt, mal in der Absicht zu erheitern oder zu erregen, mal um zu erstaunen oder zu erschrecken, aber stets mit dem Wissen darum, dass Innovation nur noch in der Betonung der erzählenden Formen zu finden ist. Die generischen Standards sind zu inszenatorischen Ritualen verdichtet und werden als solche gefeiert. Durch die Arbeit mit ostentativen Verfahren der Mise-en-Scène entfernt sich das Sichtbare immer mehr von einer Reproduktion gegenständlicher Wirklichkeit. Metteurs-enScène wie Walter Hill, John Carpenter oder Michael Ritchie suchen nicht das Zeichenhafte, sondern das Materielle der Bilder. Sie wollen nicht erfassen, sondern arrangieren. Ihr Kino signifiziert nicht Wirklichkeit. Es ist die Wirklichkeit dieser Signifikation. Am vielleicht interessantesten und bemerkenswertesten, sicherlich idiosynkratischen und radikalsten unter den modernen Traditionalisten operiert Walter Hill23. Er nimmt die Affinität des Films zur graphischen Literatur beim Bild. Wo die Comic-Zeichnung den Hintergrund ihrer Bilder abstrahiert durch den Einsatz von Matrizen, versucht Hill denselben Effekt mit außergewöhnlich starken Tele-Objektiven von 400mm und

23 Ritzer, Ivo: Welt in Flammen: Walter Hill, Berlin: Bertz + Fischer 2009.

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mehr zu erreichen. Er ist der Visionär der langen Brennweiten. Seinen Bildern nimmt er dadurch das Mimetische im Ausdruck, er macht sie opak. Die physische Wirklichkeit wird überhöht. Zwischen Objektiv und Objekt tritt das Suggestive. Sehen heißt ja immer auch, Entfernungen abschätzen zu können, und da narrt Hill sein Publikum: Lange Brennweiten eliminieren die Entfernung von der Kamera zum abzubildenden Objekt, sie leisten eine Aufhebung der perspektivischen Verschiebung im Filmbild und stellen dadurch die Wahrnehmung in Frage. So entsteht ein Eindruck von großer Dichte, dem Bild wird seine Tiefe genommen, die spektrale Raumwirkung tritt zugunsten einer Flächigkeit in den Hintergrund. Die tiefengestaffelte Semantik des Bildraums weicht dem planen Nebeneinander der einzelnen Bildelemente. Die alten Perspektiven von Geometrie und Malerei gelten nicht mehr, der Vordergrund ist plötzlich wichtiger als der Hintergrund. Das Flächige der Bilder setzt jede naturalistische Qualität der Einstellung herab, ihre Abbildungsfunktion ist reduziert: Sie sind präsent in ihrer Materialität. Lange Brennweiten entziehen den Lichtquellen ihre Schärfe und reduzieren das Sichtbare zu kolorierten Flächen. Damit ist das Publikum immer daran erinnert, nur eine belichtete Oberfläche vor sich zu haben, die sich als Projektion vergegenwärtigt. Nicht nur die Begrenzung der Bilder an den Rändern, auch die Begrenzung des Bildträgers selbst wird wichtig. Raum im Film ist bekanntlich stets bestimmt durch drei Konstituenten: die der Technologie (als Zwang zur Erzeugung von Dreidimensionalität durch Zweidimensionales), die der Projektion (als Begrenzung dieser Fläche auf der Leinwand), die der Komposition (als Gestaltung des Bildinhalts). Technik und Projektion sind Konstanten, die Komposition hingegen fungiert als Variable. Diese Freiheit nutzt die Medienästhetik der Abstraktion. Sie schafft einen filmischen Raum, der nur in der Wahrnehmung existiert. »Ich liebe es, Filme mit Szenen zu beginnen, die etwas von einer anderen Welt haben«, sagt Walter Hill: »Wenn man so im Nirgendwo anfängt, kann man ruhig zur Wirklichkeit kommen.«24 Während viele Metteurs-en-scène in der Eröffnung bereits ihr Thema zusammenfassen wol-

24 Hill zitiert nach: Beyle, Henri/Pauli, Harald: »Geld und Geschmack/Alles in Bewegung: Kino der Momente«, in: Steadycam 10 (1988), S. 65.

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len, steht bei Hill zu Beginn nicht das Sinnbildhafte, sondern das Stilisierte: ein Schwebezustand, wo der Raum – als Nebeneinander separierter Elemente, die simultan gegeben sind – sein Maß verliert, wo Nähe und Distanz neu verhandelt werden müssen. Im Vorspann des Western THE LONG RIDERS (USA 1980) sind die Protagonisten zu mythischen Figuren überhöht, mit langen Brennweiten und starkem Gegenlicht, das aus den Reitern schemenhafte Silhouetten macht. Zusätzlich wird mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Bilder gespielt, wenn die Long Riders sich auf ihren galoppierenden Pferden in Zeitlupe wiegen. Es ist ein klaustrophobischer Beginn, der das Begrenzte des weiten Westens betont: sowohl in der Zeit durch Slowmotion als auch im Raum durch Teleaufnahmen. THE LONG RIDER ist ein elegischer Film, konstativ und performativ zugleich. Ein Neo-Western, d.h. ein Film, der vom Ende seines Genres zeugt und simultan einen Neuanfang vornimmt. Die ersten Bilder des urbanen Western 48 HRS. (USA 1982) beobachten eine Gruppe von Kettensträflingen unter sengender Sonne. Der Blick der Kamera kommt durch das eingesetzte Tele-Objektiv ganz nah an die Sträflinge heran, er vergrößert das weit Entfernte. Aufgrund der langen Brennweite wird zum einen die Distanz zwischen Kamera und Abzubildendem aufgehoben, zum anderen auch das Flimmern in der Luft verstärkt. Es ist, als fiele der Blick durch einen Schleier und ein Mikroskop zugleich: als sei das Geschehen in Hautnähe zum Betrachtersubjekt. Eine fiebrige Schwüle wird so spürbar, die das hitzige Geschehen des Films bereits präfiguriert. Es ist ein Vorspann mit Signalwirkung: Bilder, die in ihrer Struktur bereits Gewalt transportieren. Der taktile Beginn wird Programm bleiben in einem Film, dessen Aktions-Bilder immer wieder neu danach streben, die Trennung zwischen Bild und Blick aufzuheben, das Auge als Organ des Kontakts die Leinwand berühren zu lassen.

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Abbildung 1: 48 HRS.

Die Vietnam-Allegorie SOUTHERN COMFORT (USA 1981) beginnt ebenfalls mit desorientierenden Tele-Aufnahmen. Nationalgardisten treffen sich zur Übung, und Objekte wie Körperteile scheinen sich zu überlagern, als die Soldaten wild durcheinander aus ihren Gefährten steigen. Präfiguriert ist damit bereits jenes Chaos von Vietnam, das die Diegese als Backwood-Horror in den Süden der USA verlagern wird. Ähnlich auch im Buddy-Movie RED HEAT (USA 1988), einem Film, der Verständigung zwischen den USA und der UdSSR propagiert. Zu Beginn allerdings führt RED HEAT mit langen Brennweiten in ein unbekanntes Universum ein: Moskau, das als gänzlich abstrakte Welt erscheint. Hill zeigt ein türkisches Bad, wo dutzende Menschen mit der Ertüchtigung ihrer nackten Leiber beschäftigt sind. Zwischen dem Dampf des Bades schieben sich differente Körperpartien zu flächigen Bilder-Tableaus ineinander, nackte Brüste beim Bad in klarem Wasser, angespannte Muskeln beim Stemmen von schweren Gewichten, schweißbedeckte Gesichter beim Schwitzen in der heißen Sauna. RED HEAT ist nichts als Kino der Körper: Wie sich Oberflächen ineinanderschieben, sich verdecken und den Blick schließlich wieder freigeben, um sich schon wieder aufs Neue zu überlagern, daran wird seine Ästhetik evident.

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Abbildung 2: RED HEAT

Das erste Bild des Gangsterfilms JOHNNY HANDSOME (USA 1989) ist ebenfalls mit starkem Tele-Objektiv aufgenommen und lässt den Protagonisten sich auf die Kamera zubewegen, bis sein deformierter Körper aufgelöst wird, mit den übrigen Passanten zu verschmelzen scheint. Daraus entsteht ein visuelles Paradox, denn lange Brennweiten können ja nicht nur Bildinhalte vereinen, d.h. Bildvordergrund und Bildhintergrund zusammenfallen lassen, sondern auch separieren. Sie machen Bildteile scharf oder unscharf, sie trennen: zwischen dem Bereich in der Schärfe und der Unschärfe. Die Titelfigur wird so aus der Masse hervorgehoben und gleichzeitig an die Masse zurückgegeben. Johnny Handsome ist der Gangster als tragischer Noir-Held, der einfach kein richtiges Leben im falschen finden kann.

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Abbildung 3: JOHNNY HANDSOME

ANOTHER 48 HRS. (USA 1990) beginnt analog zu 48 HRS. mitten im Nirgendwo, in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft. Wieder ist das Ödland ein Ort der Gewalt, die Tele-Bilder nutzen den Schleier aus Staub und Schmutz in der Luft, um anzukündigen, was sich an violenter Konfrontation ereignen wird. Wie der Notenschlüssel vor einer Partitur wirken sie, die Tonlage des Folgenden simultan indizierend und strukturierend. Auch GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND (USA 1993) eröffnet mit abstrahierten Wüsten-Bildern und inszeniert das Monument Valley damit anders als der klassische Western. Selbst in weitesten Panorama-Totalen scheinen es immer nur flache Tableaus zu sein, die präsentiert werden. Breitwand-Formate evozieren gewöhnlich eine besonders starke Raumwirkung, Hill komponiert seine Scope-Bilder aber mit langer Brennweite. So löst der historische Raum sich auf in eine merkwürdig irreale Sphäre: eine twilight zone zwischen Tatsache und Traum, Fakt und Fiktion. Es wird betont, wie wenig Platz den Protagonisten bleibt, weil das weite Land selbst gefangen ist im kolonialen Kreislauf von Gewalt und Gegen-Gewalt. Auch GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND ist ein Neo-Western, d.h. ein Film, der Traditionelles unter Gegebenheiten der Moderne rekombiniert, das Alte im Neuen bricht.

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In BROKEN TRAIL (USA 2006) wird der erste Auftritt des Protagonisten zur Geistererscheinung, ein Ritt durch die Prärie von Oregon zur Phantasmagorie. Mit langen Brennweiten, gleißendem Sonnenschein und starkem Gegenlicht reduziert Hill den Reiter zur dunklen Silhouette, zur Emanation der Landschaft. Der Blick fällt wie durch einen Vorhang auf das Geschehen, Staub wirbelt vor der Kamera und bringt alles Sichtbare zum Verschwimmen. Nur sehr langsam wird der Reiter erkennbar, bevor er neben der Kamera vorbeitrabt und wieder aus dem Bild verschwunden ist. BROKEN TRAIL sucht noch einmal den Mythos des alten Westen in den Bildern. Der Film ist naiver, epischer und dramatischer Western zugleich. Während die Western WILD BILL (USA 1995) und DEADWOOD (USA 2004) vor allem von der klaustrophobischen Enge naher Einstellungen bestimmt sind, stehen am Beginn des Post-Western LAST MAN STANDING (USA 1996) wieder breite Totalen, aufgenommen in der Wüste von West Texas. Seine Panavision-Bilder schneidet Hill aber hart gegen Großaufnahmen, so dass sich irritierende Perspektivwechsel ergeben. Wie flache Tele-Aufnahmen tilgen auch Close-ups die Raumwirkung von Kino-Bildern, es sind Stilmittel gegen geglättete Erzählungen, Formen des Ausdrucks, die auf die Ursprünge des Kinos sich zurück beziehen. LAST MAN STANDING funktioniert als Post-Western, der an den Gegenständen des Heute verdeutlicht, dass der Westen des Western als Teil der Vergangenheit zu sehen ist. In den beiden jüngsten Noirs BULLET TO THE HEAD (USA 2013) und THE ASSIGNMENT (USA 2016) führt Hill jeweils den urbanen Schauplatz als synthetische Zeichenwelt der Gesten und Rituale ein. Das New Orleans von BULLET TO THE HEAD wie auch das San Francisco von THE ASSIGNMENT sind in der Mise-en-Scène langer Tele-Objektive entworfen als totales Environment der Materialitäten aus Licht und Schatten, Farben und Nebel, Schriftzeichen und Schildern. Wie ausgestanzt wirken die Figuren davor, gleich Fremdkörpern im urbanen Milieu einer Sinfonie der Bewegung. Das Visuelle ist reine Geometrie, zusammengesetzt aus offenen Linien und brüchigen Flächen.

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Abbildung 4: THE ASSIGNMENT

Im Sinne von Gilles Deleuze kann das Kino der Abstraktion gelten als eine Medienästhetik der Post-Repräsentation: nach »dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken«25. Die Mise-en-Scène der Abstraktion schafft Differenzen durch eine Überwindung mimetischer Paradigmen, indem das Feld der Abbildungen zugunsten einer produktiven Prozessualität aufgegeben wird. Ihr geht es nicht um die Reproduktion von Formen, sondern das Einfangen von Kräften im Akt des Sichtbar- und Hörbarmachens. Die Medienästhetik der Abstraktion will den ihr immanenten Grund der eigenen Hervorbringung spürbar machen. Sie suspendiert damit den Illusionismus der Vorstellung, um zu apostrophieren, dass, gedacht mit Deleuze, die Erzählhandlung »niemals eine sichtbare Gegebenheit der Bilder oder die Wirkung einer ihnen zugrundeliegenden Struktur [ist]; vielmehr ist sie eine Konsequenz der selbst sichtbaren und von sich aus wahrnehmbaren Bilder, so wie sie sich zunächst als solche bestimmen.«26 Die Medienästhetik der Abstraktion macht Bilder und Töne als Prädisposition des narrativen Entwurfs wahrnehmbar. Zu diesem Zweck koppelt sie eine Ebene ihrer Funktionen vom diegetisierenden Prozess ab. So entsteht, um mit Michel Foucault zu sprechen, eine Ästhetik, »wo sich die Szenen nicht kennen und Zeichen verwerfen und wo Masken, anstatt zu repräsentieren (darzustellen, nachzuahmen), tanzen, wo Körper schreiben und Hände und 25 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 11. 26 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 43.

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Füße gestikulieren«27. Die Medienästhetik der Abstraktion operiert mithin präsentativ durch Betonung der ästhetischen Gestaltungsmittel in ihrer Mise-en-Scène und Materialität.

4. M EDIENÄSTHETIK

DER

S TILISIERUNG

Eine Differenz existiert im Kino des modernen Traditionalismus. Wichtig wird seiner Medienästhetik eine Verräumlichung des Visuellen: »Es stellt sich nicht länger die Frage: Gibt uns das Kino die Illusionen der Welt?, sondern: Wie gibt uns das Kino den Glauben an die Welt zurück?«28 Indem, um den Gedanken von Gilles Deleuze aufzugreifen, ein Inkommensurables jenseits des Sichtbaren, ein Unsichtbares im Sichtbaren betont ist, das die Aufmerksamkeit auf die Verbindung der visuellen Elemente richtet, und das durch die kunstvolle Fragmentierung von Aktionen herstellt wird. Im Vordergrund steht kein ästhetisches Produkt, sondern eine materielle Praxis. Die Bilder scheinen sich aus sich selbst heraus zu generieren, sie sind nicht mehr nur synthetisch, sondern synthetisiert. Die Künstlichkeit der Filme versucht der moderne Traditionalismus dabei nicht zu verstecken. Es wird nicht so sehr ein Film konstruiert als eine Konstruktion ausgestellt. Die Anschauung weicht der Vergegenwärtigung. Das Sichtbare entwickelt ein Eigenleben, der Inhalt spielt eine formale Rolle. Storytelling, das bedeutet bei Walter Hill nicht mehr eine Geschichte zu erzählen, sondern eine Geschichte zu materialisieren, d.h. den Stoff durch die Darstellung spürbar zu machen. Er ist überlagert von stilistischen Mustern, die den Text zur Textur der Filme machen. Durch eine Pluralität an Strategien, von • •

ostentativ rabiaten Blenden – in THE WARRIORS (USA 1978), THE LONG RIDERS und STREETS OF FIRE (USA 1984); ostentativ schnellen Schnitten – in 48 HRS., STREETS OF FIRE und RED HEAT;

27 Foucault, Michel: »Theatrum Philosophicum«, in: Deleuze, Gilles/Foucault, Michel: Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve 1977, S. 21-58, hier: S. 28. 28 G. Deleuze: Zeit-Bild, S. 236.

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ostentativ langen Zeitlupen – in THE LONG RIDERS, SOUTHERN COMund EXTREME PREJUDICE (USA 1987); ostentativ grellen Farben – in STREETS OF FIRE, JOHNNY HANDSOME und ANOTHER 48 HRS.; ostentativ lauten Soundtracks – in THE WARRIORS, STREETS OF FIRE und CROSSROADS (USA 1986).

FORT

• •

Gregory Solman hat erkannt, wie Übersteigerung und Überspannung bei Hill die Tradition sowohl verstärken als auch aufheben können: »His style ranges from skilfully reconsidered approximations of traditional genre techniques to bold application of his considerable deconstructive skills. At its edgiest, lighting, staging of characters and mise-en-scène crescendo in thundering abstraction until traditional Hollywood narrative seems torn to shreds.«29 Die Medienästhetik der Stilisierung geht von einer Diskrepanz zwischen Erzähltem und Erzählung aus. Ihre Bewegungsbilder kennen Subjekt und Objekt der Narration, nur sind alle Möglichkeiten der Formgebung einander nicht mehr als uniformer Stil verpflichtet. Stattdessen sind sie fähig, als autonome Zellen zu operieren. Susan Sontag hat von Stilisierung gesprochen, »wenn ein Künstler tatsächlich die keineswegs unvermeidliche Unterscheidung zwischen Stoff und Darstellung […] macht.«30 Auch im modernen Traditionalismus liegt der Akzent immer stärker auf dem Wie (der Fiktionalisierung) statt dem Was der Aktion (der Fiktion). Es geht darum, den Inhalt durch die Form zu übersteigern. Der Wirkungswille ist wichtiger als die Bedeutung, das Spielerische wichtiger als das Notwendige. Bei Walter Hill geht es nicht darum, äußere Wirklichkeit zu erretten, sondern Formen des Kinos. Gegenstand seiner Stilisierung sind Mythologie und Ästhetik der klassischen Hollywood-Genres. Er löst ihre Formen heraus aus ihrem ursprünglichen Rahmen und überführt sie in eine Gültigkeit zweiter Ordnung. Das Regelwerk der Genres wird destilliert und auf Archetypen reduziert, bis nur noch

29 Solman, Gregory: »At Home on the Range: Walter Hill«, in: Film Comment 2 (1994), S. 69. 30 Sontag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 exemplarische Analysen, Frankfurt a. M.: Fischer 1995, S. 27.

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seine Funktionalität bleibt. So treten die zentralen Eigenschaften zu Tage, die Phänotypen der Genres: •



• • • •

des Western – Gewalt und Moral: in THE LONG RIDERS, GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND, WILD BILL, DEADWOOD (Pilotfilm) und BROKEN TRAIL; des Gangsterfilms – Urbanität und Verbrechen: in THE DRIVER (USA 1978), JOHNNY HANDSOME, LAST MAN STANDING, BULLET TO THE HEAD und THE ASSIGNMENT; des Polizeifilms – Ordnung und Transgression: in 48 HRS., EXTREME PREJUDICE, RED HEAT und ANOTHER 48 HRS; des Musikfilms – Jugend und Lebenslust: in STREETS OF FIRE und CROSSROADS; des Bandenfilms – Solidarität und Selbstbehauptung: in THE WARRIORS und TRESPASS (USA 1992); des Boxfilms – Körper und Kampf: in HARD TIMES (USA 1975) und UNDISPUTED (USA 2002).

Abbildung 5: UNDISPUTED

Walter Hill rekonstruiert ein Kino der eigenwilligen Hollywood-Professionals, auf der Ebene der mythischen Geschichten ebenso wie auf der Ebene der ikonischen Bilder. John Ford etwa wird zitiert in SOUTHERN COMFORT und BULLET TO THE HEAD, Howard Hawks in TRESPASS und

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BROKEN TRAIL, Raoul Walsh in WILD BILL und BROKEN TRAIL, John Huston in THE DRIVER und TRESPASS, Henry King in THE LONG RIDERS und WILD BILL. Die Bezüge und Anleihen müssen dabei aber nicht notwendigerweise erkannt werden, denn sie sind keine Bildungsgüter. Anstatt zum Thema der Filme zu werden, bleiben sie als zusätzliche Bedeutungsebene unter den Geschichten hineingelegt. Mit funktionalem Blick moduliert Hill sein Referenzmaterial. Ein moderner Blick erneuert traditionelle Genres: mal durch eine außergewöhnliche Geste, mal durch eine außergewöhnliche Perspektive, mal durch eine außergewöhnliche Ordnung im Raum. Stilisieren heißt bei ihm immer auch Modulation, d.h. eine Befragung und Übermalung, Lektüre und Re-Lektüre des Zitierten. Standardsituationen werden demnach nicht aufgehoben, sondern als Standardsituationen betont: als Kino-Material. Ein Wortgefecht ist nicht einfach nur ein Wortgefecht, sondern ein Wortgefecht à la Hawks, d.h. in Augenhöhe mit extrem dynamisiertem Sprechtempo gefilmt – etwa in 48 HRS., RED HEAT oder THE ASSIGNMENT. Ein Ritt ist nicht einfach nur ein Ritt, sondern ein Ritt à la Ford, d.h. mit erwartungsvollem Blick auf den Horizont gefilmt – etwa in THE LONG RIDERS, GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND oder BROKEN TRAIL. Eine Prügelei ist nicht einfach nur eine Prügelei, sondern eine Prügelei à la Walsh, d.h. vor dem Hintergrund vertikaler Linien im Wechsel von long und medium shots gefilmt – etwa in HARD TIMES, UNDISPUTED oder BULLET TO THE HEAD. Abbildung 6: BULLET TO THE HEAD

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Noch einmal Susan Sontag: »[D]urch den rhetorischen Überzug der Stilisierung [bleibt] eine besondere Distanz zum Gegenstand des Kunstwerks gewahrt«31. Im modernen Traditionalismus ist die Kunst des Inszenierens die Künstlichkeit der Inszenierung. Es kommt zu einer ästhetischen Einverleibung. Ein Eigentliches wird verfremdet und in der Verfremdung zu etwas neuem Eigentlichen gemacht. Resultat ist eine Ästhetik der Stilisierung. Sie lässt das mediale Material sprechen, ohne viele Worte verlieren zu müssen. Nichts wird erklärt, alles aber explizit. Denn das Äußere steht fürs Innere, den Oberflächen kann man hier blind vertrauen. Es geht um die Produktion von Materialitäten, hinter denen sich nichts verbirgt, die alles aber sichtbar machen.

5. SCHLUSS: MISE-EN-SCÈNE ALS SYNTHESE Moderner Traditionalismus löscht nicht einfach die Historie Hollywoods. Vielmehr konfiguriert er ein System neu, das sich seit den 1990er Jahren immer stärker in das Feld von Phantastik und Virtualität bewegt. Alain Badiou hat hier gesprochen von einem Kino der »[s]pecial effects of any kind«, von »a sort of Late Roman Empire consummation« als »the obvious ingredients of current cinema«. Dieses Kino operiert als Ereignis und hat die Tradition der reflektierten Mise-en-Scène weitgehend desavouiert. Für Badiou verweist das rezente Hollywood zwar noch immer auf das traditionelle Erzählkino, ersetzt dieses jedoch durch ein Primat von Bildern, die weitgehend beliebig organisiert sind: »They are inscribed in a proven tradition, but there is no longer much of an attempt to embed them in a consistent fable with a moral, indeed religious, vocation. They derive from a technique of shock and one-upmanship, which is related to the end of an epoch in which images were relatively rare and it was difficult to obtain them. The endless discussions about the ›virtual‹ and the image of synthesis refer to nothing other than the overabundance and facility of the image, including the spectacularly catastrophic or terrorizing image.«32

31 S. Sontag: Kunst und Antikunst, S. 28. 32 Badiou, Alain: Cinema, Cambridge: Polity Press 2013, S. 141.

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Phantastik und Virtualität generieren also ein Kino des Spektakels, das sich in einer selbstzweckhaften und damit letztlich aleatorischen Reihung der Bilder ergeht. Moderner Traditionalismus bricht mit beiden Tendenzen, der von Phantastik wie der von Virtualität. Er führt das postklassische Hollywood stattdessen zurück in die Tradition der klassischen Genres: Western, Kriminalfilm, Komödie. Im modernen Traditionalismus zeigt sich dabei eine Synthese aus klassischen Einstellungsfolgen und hyperventilierender Clip-Ästhetik: Auf der einen Seite schaffen Establishing- und ReactionShots nach dem Prinzip von Schuss und Gegenschuss eine permanente Orientierung im diegetischen Raum; auf der anderen Seite bringt der moderne Traditionalismus sowohl Zoom-Effekte, Handkamera als auch eine rapide Schnittfrequenz zum Einsatz, die alle profilmische Aktion der Körper zusätzlich immens dynamisieren. Telos der Mise-en-Scène jedoch bildet keine Signifikation bloßer Hektik, vielmehr apostrophieren Kamera, Schnitt sowie nicht zuletzt auch das tiefenlastige Sound-Design die Physis des Geschehens. Resultat ist eine ›materialistische‹ Ästhetik der Intensität. Abbildung 7: LAST MAN STANDING

Der moderne Traditionalismus konzentriert das Zuschauersubjekt auf die affektive Dimension des Dargestellten, ohne aber in den dekorativen Welten digitaler Spezialeffekte aufzugehen. Walter Hill selbst erkennt diese ästhetische Synthese und expliziert:

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»I don’t want to sound like one of these old fuckers who’s always saying everything was better before, because I don’t believe that at all. […] When I was a young guy in Hollywood in the late Sixties and early Seventies, there was a lot of debate about a shifting paradigm in storytelling. Where the genres dead? Did we have to find an entirely new model of storytelling based simply on character, everyday incident, and interior logic? Or could the genres be reworked in a way that made sense to audiences and to the whole process of telling stories through film? […] I came down very hard on the idea of sticking with the traditional concerns – but there was certainly no question that you had to do things in a different way.«33

Moderner Traditionalismus findet einen Weg, der Ästhetik des postklassischen Bewegungsbildes zugleich treu zu bleiben und sie durch seine Miseen-Scène simultan doch neu zu definieren. Sie schreibt sich mithin ein in die Tradition des Klassischen, schafft dabei aber stets Nuancen einer modernen Differenz, die Existentes für Unbekanntes nutzt. In der Mise-en-Scène entsteht eine Synthese zwischen Konvention und Innovation. Der moderne Traditionalismus akzeptiert die Imperative des Spektakelkinos, nimmt sich der konventionalisierten Ästhetik an, »with all its triviality«, wie Badiou konstatiert, aber, und das ist der zentrale Punkt, erfüllt sie eben nicht nur. Moderner Traditionalismus transformiert sein Material als »a synthesis with the contemporary world.«34 Er folgt jener Maxime, die niemand anderes als Walter Hill ebenso prägnant ins Bild setzt wie auf den Begriff bringt: »You couldn’t simply do what had already been done in the past and, many times, done very successfully. You had to find new ways to be traditional.«35

33 Hill zit. n.: Vallan, Giulia D’Agnolo: »Last Neo-Traditionalist Standing«, in: Film Comment 1 (2013), S. 56; 58f. 34 A. Badiou: Cinema, S. 228. 35 Hill zit. n.: G. D’A. Vallan: Neo-Traditionalist, S. 59.

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L ITERATUR Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Badiou, Alan: Cinema, Cambridge: Polity Press 2013. Barthes, Roland: »Die Weisheit des Künstlers«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Michelangelo Antonioni, München/Wien: Hanser 1984, S. 125-137. Beyle, Henri/Pauli, Harald: »Geld und Geschmack/Alles in Bewegung: Kino der Momente«, in: Steadycam 10 (1988), S. 60-68. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison: University of Wisconsin Press 1985. Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London: Routledge 1988. Cameron, Ian u.a.: »The Return of Movie«, in: Movie 20 (1975), S. 1-25. Daney, Serge: »One from the Heart«, in: Framework 32/33 (1986), S. 171177. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Foucault, Michel: »Theatrum Philosophicum«, in: Deleuze, Gilles/Foucault, Michel: Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve 1977, S. 21-85. Godard, Jean-Luc: Godard on Godard, New York: Viking 1972. Habermas, Jürgen: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig: Reclam 1994. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. Martin, Adrian: »Mise-en-Scène is Dead, or The Expressive, The Excessive, The Technical and The Stylish«, in: Continuum 2 1992, S. 87140, http://wwwmcc.murdoch.edu.au/ReadingRoom/5.2/Martin2.html Martin, Adrian: »irreversible/cruising/hysterical cinema«, vom 24.10.2003, http://movies.groups.yahoo.com/group/a_film_by/message/3222

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Martin, Adrian: Mise en Scène and Film Style. From Classical Hollywood to New Media Art, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014. Rancière, Jacques: Film Fables, Oxford/New York: Berg 2006. Ritzer, Ivo: Genre/Autor, Mainz: Dissertation Johannes Gutenberg-Universität 2009. Ritzer, Ivo: »Badiou to the Head: Zur In-Ästhetik transmedialer GenreAutoren-Politik oder Wie die Graphic Novel-Adaption Bullet to the Head eine materialistische Dialektik denkt«, in: ders./Peter W. Schulze (Hg.), Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 89-135. Ritzer, Ivo: »Am Nexus des Weltkinos«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 8 (2016), S. 135-151. Ritzer, Ivo: Medialität der Mise-en-scène: Zur Archäologie telekinematischer Räume, Wiesbaden: Springer 2017. Schatz, Thomas: »The New Hollywood«, in: Jim Collins/Ava Preacher Collins/Hilary Radner (Hg.), Film Theory Goes to the Movies, New York: Routledge 1993, S. 35. Shaviro, Steven: »Post-Continuity«, vom 26.03.2013, http://www.shavi ro.com/Blog/?p=1034 Solman, Gregory: »At Home on the Range: Walter Hill«, in: Film Comment 2 (1994), S. 68-76. Sontag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 exemplarische Analysen, Frankfurt a. M.: Fischer 1995. Vallan, Giulia D’Agnolo: »Last Neo-Traditionalist Standing«, in Film Comment 1 (2013), S. 54-60. Wood, Robin: Hollywood from Vietnam to Reagan … And Beyond, New York: Columbia University Press 2003.

FILME 48 HRS. (USA 1982, R: Walter Hill) ANOTHER 48 HRS. (USA 1990, R: Walter Hill) BROKEN TRAIL (USA 2006, R: Walter Hill) BULLET TO THE HEAD (USA 2013, R: Walter Hill) CROSSROADS (USA 1986, R: Walter Hill)

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DEADWOOD (Pilotfilm; USA 2004, R: Walter Hill) EXTREME PREJUDICE (USA 1987, R: Walter Hill) GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND (USA 1993, R: Walter Hill) HARD TIMES (USA 1975, R: Walter Hill) JOHNNY HANDSOME (USA 1989, R: Walter Hill) LAST MAN STANDING (USA 1996, R: Walter Hill) RED HEAT (USA 1988, R: Walter Hill) SOUTHERN COMFORT (USA 1981, R: Walter Hill) STREETS OF FIRE (USA 1984, R: Walter Hill) THE ASSIGNMENT (USA 2016, R: Walter Hill) THE DRIVER (USA 1978, R: Walter Hill) THE LONG RIDERS (USA 1980, R: Walter Hill) THE WARRIORS (USA 1978, R: Walter Hill TRESPASS (USA 1992, R: Walter Hill) UNDISPUTED (USA 2002, R: Walter Hill) WILD BILL (USA 1995, R: Walter Hill)

Der Hollywood-Turn Persistenz, Reflexivität, Feedback1 T HOMAS E LSAESSER

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich in der Hollywood-Forschung eine interessante Zweiteilung vollzogen. Einerseits ist die Geschichte Hollywoods aus ökonomischer und marktorientierter Perspektive neu geschrieben worden, wobei drei miteinander verbundene Faktoren besondere Beachtung erfahren haben. Erstens die auf dem Blockbuster als Mehrzweckprodukt und Marketingkonzept beruhende wirtschaftlichen Wiederbelebung Hollywoods seit den 1980er Jahren, die ein globales Publikum erfassen und das zuvor an das Fernsehen verlorene heimische Familienpublikum zurückgewinnen konnte. Zweitens die betriebswirtschaftliche Umgestaltung Hollywoods mit ihren Fusionen und Übernahmen, wobei das neue Geschäftsmodell das Beherrschen und Bespielen mehrerer Präsentationsformen – von der Kinoleinwand über DVD und Streaming bis zu diversen kleinen Bildschirmen – vorsieht. Und drittens der kreative Umgang mit den durch die Digitalisierung entstandenen Herausforderungen und Möglichkeiten der Produktion, Postproduktion und Distribution (Spezialeffekte, Bonusmaterial auf DVDs, Director’s Cuts). Andererseits 1

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel: »The Hollywood turn: persistence, reflexivity, feedback«, Screen 58:2, Summer 2017, S. 237247. Übersetzung: Uta Hasekamp, Lisa Gotto, Thomas Elsaesser. Wir danken Oxford University Press für die Zurverfügungstellung der Rechte und Thomas Elsaesser für die sensible Überarbeitung.

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haben sich auch auf dem Gebiet der Interpretation und Analyse von Hollywood-Filmen neue Deutungsstrategien entwickelt, die über den an der Autorentheorie orientierten Ansatz der 1960er, das kritische Vokabular der 1970er und die feministischen Lesarten der 1980er Jahre hinausgehen oder sie vollständig umgehen. Kulturwissenschaftliche Ansätze, Genderund Queer-Studies, der Diskurs über Stars und die Wiederbelebung der Genre-Theorie sind heute typische Untersuchungsperspektiven für Hollywood-Filme. Dieser Essay schlägt nun ein Modell vor, mit dem sowohl das klassische als auch das zeitgenössische Hollywood, seine ökonomische Geschichte wie auch seine Strategien der Sinngebung, innerhalb eines einzigen Rahmenkonzepts verstanden werden können. Mein Konzept versucht, die Anpassungsfähigkeit und Persistenz Hollywoods seit über hundert Jahren zu erklären, und zwar nicht primär als flexibles Geschäftsmodell, sondern im Sinne unterschiedlicher Modalitäten der Selbstreferenz und der Reflexivität, der Selbstregulierung und der Rekursivität. Seit den 1980er Jahren geht es nicht mehr um den Filmautor als Gegenpol zum System oder um den Filmautor trotz des Systems. Ersteres galt für Nicholas Ray oder Sam Fuller, die trotz Hays Code, Zensur und Eingriffen von Studio- und Produzentenseite Meisterwerke schaffen konnten. Letzteres galt für Alfred Hitchcock, Howard Hawks, Fritz Lang und John Ford, die sich gerade Hindernisse und Zwänge zunutze machten, um noch kreativer zu werden und die Regeln des klassischen Kinos zu erweitern. Stattdessen können wir sagen, dass im heutigen Hollywood die Filmautoren das System selbst verkörpern und das System sich durch den Autor manifestiert – hiermit meine ich Steven Spielberg, George Lucas, Robert Zemeckis und James Cameron und dazu Produzenten wie Jeffrey Katzenberg, Michael Eisner, Jerry Bruckheimer und David Geffen. Sie haben Hollywood um das Blockbuster-Rezept herum neu erfunden, mit Genres, die häufig dem Fernsehen der 1950er Jahre entstammen, und sie haben ihre Position als Autoren-Produzenten genutzt, um Filmemachen und Kinoerlebnis an neue Technologien – insbesondere digitales Kino und Spezialeffekte – anzupassen. Was aber den vielen inzwischen bekannten Darstellungen des Neuen Hollywood nicht gelingt, ist die Lücke zwischen der symbolisch-narrati-

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ven Arbeitsweise Hollywoods (die stilistischen und textuellen Gesetzmäßigkeiten, die wir als ›klassisches Hollywood-Narrativ‹ bezeichnen und die ich in The Persistence of Hollywood2 ›der Film als System‹ nenne) und der ökonomisch-industriellen Arbeitsweise Hollywoods (die ›Filmindustrie als System‹) zu schließen. Kurz, es handelt sich um die Lücke zwischen der Geschichte des amerikanischen Kinos und der Hermeneutik des amerikanischen Films. Um hier eine Brücke schlagen zu können, habe ich das Konzept der ›Reflexivität‹ überarbeitet und erweitert, um die textimmanenten Rückbezüglichkeiten mit den industriellen Selbstreferenzen in Beziehung zu setzen. In Hollywood lassen sich mindestens vier Arten der Reflexivität ausmachen. Erstens die Selbstreferenz auf die Medienspezifik (ein Film ist vor allem ein Film), die ursprünglich mit dem Regisseur und der Autorentheorie assoziiert wurde. Zweitens die Selbstreferenz der Filmindustrie insgesamt, die sich einerseits in einem Beharren auf Selbstregulierung (Hays Code) und andererseits in jährlichen Ritualen der Selbstinszenierung (die Oscars) manifestiert. Drittens die Selbstreferenz der einzelnen Filmstudios, die ihre geistigen Eigentumsrechte durch Prozesse, Logo-Management und gezielte Markenbildung schützen. Und viertens die Selbstreferenz und Rekursivität, die durch die Regelkreise der Werbung und Publikumsforschung entstehen und die Rezeption eines Filmes als Geschichte, Event und Erfahrung bestimmen (durch Plakate, Taglines, Presseberichterstattung, Star-Interviews, Webseiten und Filmtrailer, Big Data und data mining). Trotz entscheidender Unterschiede können all diese Formen der Reflexivität als Manifestationen wesentlicher und anhaltender Machtkämpfe sowohl innerhalb der Industrie als auch zwischen Industrie und Publikumsgruppen gedeutet werden. Erstere zeigten sich in der Frühzeit Hollywoods im Kampf zwischen Kinobetreibern und Produzenten um redaktionelle Kontrolle. In späteren Jahren äußerte sich diese Kontrolle in Form der vertikalen Integration, die Hollywood im Jahr 1948 verlor, seit den 1980er Jahren aber wiederherstellen konnte. Die Machtkämpfe zwischen Industrie und Publikumsgruppen wiederum manifestierten sich in der Frühzeit insbesondere in der Behinderung der Industrie durch die Zensur. Darauf folgte die vorauseilende Selbstzensur durch den Hays Code, die seit den

2

Elsaesser, Thomas: The Persistence of Hollywood, London: Routledge 2012.

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1960er Jahren durch weniger explizite Formen der Selbstregulierung und aggressivere Marketing-Techniken ersetzt wurde. Inzwischen erfüllen ausgereiftere Mittel der Publikumsforschung und die sich auf Online Traffic und Big Data-Technologien stützenden Feedbacks denselben Zweck. Dass der Schauplatz für solche Kämpfe der Film selbst sein kann, ist einer der faszinierendsten Aspekte des Neuen Hollywood. Denn das Mittel der Regulierung und Kontrolle kann die Reflexivität selbst sein, besonders wenn sie sich durch Komplizenschaft und geteiltes Wissen, Insider-Witze und Anspielungen äußert, mit denen der Film den Zuschauer sowohl auf der Story-Ebene als auch auf der Meta-Ebene einbindet. Ein Film kann das Publikum mit kognitiven Double Binds umgeben, besserwisserische Überheblichkeit mit immersiver Reizüberflutung beantworten, den Einfluss der Fans durch narrative Komplexität berücksichtigen und zugleich auf jene ideologie-verdächtigen Lesarten von Hollywood anspielen, für die die Filmwissenschaft eine besondere Vorliebe hat, wenn es um amerikanisches Kommerzkino geht. Fast allen Ansätzen zum Autorenfilm ist die Annahme der Selbstreferenz implizit, und sie haben in der Regel eine explizite Medienreflexivität im Sinn: Sie versuchen zu beweisen, dass ein Autorenfilm, unabhängig von Genre und Story und ungeachtet beständiger ›Themen‹ des Autors, immer zugleich auch ein Kommentar zum Status des Films als ›Kino‹ ist. Wenn es ein Hauptanliegen der Autorentheorie ist, eine solche Reflexivität für den Regisseur geltend zu machen – um für das Werk (und folglich für das Kino) den Status als moderne Kunst in Anspruch zu nehmen –, so möchte ich diese Reflexivität für das System selbst reklamieren. Ich gehe davon aus, dass Hollywood in seiner klassischen wie aktuellen Phase durch Selbstreferenz charakterisiert ist, dass also die jeweilige Geschichte, um die es geht, nicht nur erzählt, sondern performativ als Kino ›in Szene gesetzt wird‹. Filme verweisen fast immer auf ihre eigene mediale Infrastruktur, entweder in der Handlung selbst oder in ihren formalen Mitteln und dem Modus, mit dem sie das Publikum ansprechen. Man denke z.B. an die Vielzahl der Bildschirme, die heute in fast jedem Film auftauchen, oder an die Mobiltelefone, die in die Handlung eingebaut sind. Doch können die Verfahren, die diese Ebene der Selbstreferenz – und deren Gründe – vermitteln, von Film zu Film beträchtlich divergieren: Es kann sich z. B.

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um die Selbstreferenz dessen handeln, was häufig als »Kino der Attraktionen« bezeichnet wird, oder um die Manipulation des Publikums wie beim Hitchcock-Suspense, oder um ontologische Verunsicherungen, die sich in INCEPTION (USA 2010, R: Christopher Nolan) und anderen Mind-GameFilmen finden. Zentral ist hier Hollywoods ›phatische‹ Verbindung mit seinem Publikum und weniger die an Bertolt Brecht erinnernde ›Verfremdung‹ oder die von Clement Greenberg eingeforderte »Medienspezifik«: Dennoch ist der Effekt eine reflexive Verdoppelung und das Ziel die Rückbezüglichkeit und -bindung. Im Laufe der langen Geschichte Hollywoods hat ein Anlass besonders breite Öffentlichkeitswirkung erzielt: die alljährliche Oscar-Nacht. Neben der Verleihung der Academy Awards ist dies die Zeremonie, bei der Hollywood seine eigene Existenz und Langlebigkeit feiert3. Sie gibt der Industrie die Gelegenheit, die eigene Geschichte zu konsolidieren, an der »Erfindung von Traditionen« zu arbeiten, die vielfach bewährten Mythologien neu zu verwerten und fortzuschreiben, gleichzeitig aber auch aktuelle (Zünd-)Stoffe zu integrieren und damit zu entschärfen. Die jedes Jahr bei der Academy-Awards-Zeremonie versammelten Filmprofis nehmen sich selbst todernst, dies aber im Modus der Selbstparodie. Das alljährliche Ritual, das einer klaustrophobischen Welt von Insiderwitzen und Selbstreferenzen gleichkommt, stellt eine eigentümliche Kombination aus Gedächtnisverlust und Erinnerung zur Schau, die man als Selbstschutz, aber auch als performative Präsentationsform einer der bemerkenswertesten institutionellen Errungenschaften der Industrie lesen kann: eine erfolgreiche Art von performativer Selbstregulierung. Diese ›Regulierung‹, die ursprünglich dazu gedacht war, ein Einmischen der Regierung abzuwehren, nun aber auch kollektive Selbstdisziplin durchsetzen soll, wird paradoxerweise durch jene Mischung von Autoaggression, Selbstverherrlichung und Sentimentalität bestätigt, die für dieses jährlich stattfindende Ereignis typisch ist. Selbstzelebrierung findet auch in Form von Selbstreferenz statt, wenn Hollywood auf seine eigene Vergangenheit zurückgreift. Während das

3

Die erste Zeremonie zur Verleihung der Academy Awards fand am 16. Mai 1929 statt. Vgl. Levy, Emmanuel: All About Oscar: The History and Politics of the Academy Awards, New York: Continuum 2003.

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›klassische Hollywood‹ ein hauptsächlich von Filmwissenschaftlern geprägter Begriff ist, ist der ›Hollywood-Klassiker‹ ein Konzept, dessen Urheberschaft die Industrie gerne für sich selbst beansprucht. Sie wertet damit ihre Filmarchive auf, indem sie sie zum kollektiven Gedächtnis Amerikas erklärt, und nutzt deren Renommee zur Versorgung ganzer Fernsehsender4. Die Bezeichnung ›Klassiker‹ wird folglich zum Retronym, d.h. einem Ausdruck, der weniger eine Praxis oder ein Objekt bezeichnet, sondern vielmehr dem Film rückwirkend einen Status verleiht, von dem er nicht wusste, dass er ihn hatte. Dasselbe gilt auch für die filmwissenschaftliche Verwendung des Begriffs ›klassisch‹, der erst zu einer Zeit in Umlauf kam, als es so aussah, als ob das Studiosystem zusammengebrochen sei. Jedoch verweist die Verwendung des Begriffs ›Klassiker‹ in der Industrie selbst – seit dem Aufkommen von Videorekorder, Kabelfernsehen und DVD – nicht nur auf ein Marketinginstrument, sondern betont auch die Konnotationen von Nostalgie, die das ›klassische Hollywood-Kino‹ im postklassischen Zeitalter zwangsläufig in sich trägt. Wenn aber ›klassisch‹ und ›Klassiker‹ von Anfang an Retronyme waren, dann wäre das eigentliche Zeichen des Postklassischen, dass es nach dem Klassischen als seinem ureigenen Wesen strebt: Jeder der Begriffe würde den anderen benennen und vom anderen abhängen, was erklären könnte, warum ein Historiker wie David Bordwell einen Fortbestand des ›klassischen Hollywood-Kinos‹ ohne nennenswerten Bruch sieht, während andere (darunter auch ich) nicht nur für die Existenz eines postklassischen Hollywood argumentieren, sondern auch für die epistemische Notwendigkeit, sich selbst außerhalb des Klassischen zu positionieren, um das Klassische erst erkennen und verstehen zu können.

4

Zu Hollywoods Gedächtnis-Management und der »Erfindung der Tradition« vgl. Vinzenz Hedigers scharfsinnige Analysen: Hediger, Vinzenz.: »The Original is Always Lost: Film History, Copyright Industries and the Problem of Reconstruction«, in: Marijke de Valck/Malte Hagener (Hg.), Cinephilia: Movies, Love and Memory, Amsterdam: Amsterdam University Press 2005, S. 135149 und Ders.: »Politique des Archives: European Cinema and the Invention of Tradition in the Digital Age«, in: Rouge, http://www.rouge.com.au/12/hediger.html.

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Die Selbstregulierung – dieses Kernelement, mit dem es Hollywood gelungen ist, den Druck von außen zu minimieren und die interne Autorität durch die MPAA zu maximieren – ist in den letzten Jahren recht genau untersucht worden. Insbesondere der Hays Code, über den man sich für gewöhnlich als Ausdruck von Prüderie und Doppelmoral lustig machte, hat eine signifikante Neubewertung erfahren. Die wichtigsten Historiker dieser Re-Evaluation sind Ruth Vasey und Richard Maltby5. Vor allem Maltby bezieht sich in seiner Analyse Hollywoods auf die zentrale Bedeutung der Selbstregulierung, deren externe, reflexive Dimension er als »Prinzip der Abstreitbarkeit« (»deniability«) bezeichnet. Dies ist ein politischer Terminus, den ursprünglich Vasey verwendete, um die Haltung Hollywoods zu sensiblen Themen im Umgang mit Auslands- und Exportmärkten zu charakterisieren; Maltby hat ihn jedoch zu einer allgemeineren Strategie der Mehrdeutigkeit und Ambivalenz weiterentwickelt. Die Abstreitbarkeit gestattet es Hollywood, sich von jeglicher »auktorialen Verantwortung für moralische oder politische Intentionen«6 zu distanzieren, die ein Zuschauer einem Film zuschreiben oder eine Institution wie die Kirche darin entdecken könnte. Sie wird folglich zu einer Strategie, mit der sich elliptische Narrative und sogar widersprüchliche Adressierungsmodi verteidigen lassen. Tatsächlich muss ein Hollywood-Film mehrere Zugangswege, d.h. multiple Interpretationsmodelle zulassen, ohne dadurch inkohärent zu werden. Ich nenne dies das Prinzip »access for all«, d.h. Zugang für alle, womit Hollywood ein inzwischen globales Publikum erreicht, das sehr verschiedene politische Ansichten, soziale Schichten, religiöse Anschauungen und moralische Werte vertritt. Dabei geht es nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern um die größtmögliche Mehrdeutigkeit.

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Maltby, Richard: »The Production Code and the Hays Office«, in: Tino Balio (Hg.), Grand Design: Hollywood as a Modern Business Enterprise, 19301939, New York: Scribner’s, 1993, S. 37-72 und Vasey, Ruth: The World According to Hollywood, 1918-1939, Madison: University of Wisconsin Press 1997. Siehe auch Maltby, Richard: Hollywood Cinema, 2. Aufl. Oxford: Blackwell 2003.

6

R. Maltby, Hollywood Cinema, S. 61.

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Eines der ergiebigsten Forschungsfelder seit den 1970er Jahren sind die neuen Marketingstrategien Hollywoods, zu denen nicht nur digitale Ton und Bild-Technologien, sondern auch die Transformation von GenrePrototypen in Mehrteiler und Franchises zählen. Autoren wie Douglas Gomery, Thomas Schatz, Justin Wyatt, Janet Wasco, Tino Balio und viele andere mehr haben wertvolle empirische Forschungen vorgelegt, die zeigen, wie Hollywood den demografischen und geografischen Wandel seines globalen Publikums bewältigt und Schlüsseltechnologien wie computergenerierte Spezialeffekte und digitale Postproduktionsmethoden implementiert hat. Daneben hat es sein Copyright voll genutzt, etwa dadurch, dass der Filmbestand der einzelnen Studios als ›Bibliotheken‹ in Form von DVDs usw. neu vermarktet wurde oder die Studiologos mit in die Filmhandlung integriert wurden, während der Kauf der Rechte an Superhelden (z.B. der Erwerb der Marvel Comics durch Warner Brothers) langfristige Erfolgsserien sicherten. Doch ebenso wie Werbung auch Eigenwerbung betreibt und Marketing auch ein Vermarkten von Bewusstsein und Aufmerksamkeit ist, können diese Arten der Reflexivität auch regulatorisch und selbst-regulatorisch sein. Der Blockbuster konnotiert nicht nur ein »durchgreifendes Konzept« (»high concept«) mittels »Buch, Optik und Aufhänger« (»the book, the look and the hook«)7, sondern auch »große Unterhaltung« (»total entertainment«), die wiederum ebenso Kontrollfunktion ausüben wie sie den Zugang erleichtern kann. Im Zeitalter des Blockbusters ist der einzelne Film lediglich die spezifische Instanz (das Mittel) eines umfassenderen Systems, dessen Ziele und Strategien langfristig angelegt sind (die Zwecke). Der Blockbuster stimmt Filme mit Themenparks und Spielzeug ab, er erhält Kinoketten und Multiplexe am Leben, die wiederum in Kulturund-Unterhaltungszentren eingebettet sind, und er bewirbt sie – im Gleichklang mit Einkaufszentren, Fußgängerpassagen und Gated Communities – als »Sicherheits- und Wohlfühlzonen«8. Das Kino, in seiner reflexiven

7

Diese Begriffe gehen zurück auf: Wyatt, Justin: High Concept: Movies and Marketing in Hollywood, Austin: University of Texas Press 1994.

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1986 gestattete der US-Supreme Court in einem Paramount Gerichtsurteil wichtigen amerikanischen Vertriebsgesellschaften (denn zu solchen waren die Studios inzwischen geworden) im Sektor Filmvorführung aktiv zu werden,

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Verdopplung als Produktanbieter und »Dienstleister«, das eine erfüllte Zeit an einem angenehmen Ort verkauft, passt sich so notwendigerweise auch an die vorherrschenden Sicherheits- und Überwachungs-Paradigmen an. Zumindest entwickelt es sich nach deren Vorbild, wodurch der angebotene Service in eine neue Form von »Kontrolle« im Sinne von Michel Foucault oder Gilles Deleuze verwandelt wird. Zugleich sind Franchisefilme wie LORD OF THE RINGS (NZ/USA 20012003, R: Peter Jackson), PIRATES OF THE CARIBBEAN (USA 2003–, R: div.), SHREK (USA 2001–, R: div.), HARRY POTTER (UK 2001-2011, R: div.), TOY STORY (USA 1996–, R: div.) oder die diversen Serien über Superhelden mit ihren Sequels und Prequels sowohl eigenständige Unterhaltung (die Nervenkitzel und sinnliches Erleben in einem sicheren Umfeld bieten) als auch Dienstleistungsplattformen, durch die sich Produkte (Bücher, Spielwaren, T-Shirts, Kostüme, Aufkleber, Musik, DVDs usw.) bewerben und verkaufen lassen9. Dieses Bewusstsein von ›Zeit‹, ›Ort‹ und ›Markt‹ ist auch eine Form von Rekursivität, die häufig von den Filmen auf den Zuschauer projiziert wird. Untersuchungen zu Marketingstrategien und Franchisefilmen liefern auch empirische Hinweise auf weitere Anstrengungen, das Studiosystem Hollywood (als Industrie und Geschäft) mit dem textuellen System Hollywood (als Narrativ und soziale Symbolik) zu verbinden. Besonders bemerkenswert sind dabei Versuche, Hollywood-Filme als Allegorien ihrer eigenen Produktionsbedingungen zu lesen, als Parabeln für die Selbstdar-

wodurch die vertikale Integration ein weiteres Mal wirtschaftliche Realität wurde. Die Folge war das Konzept der Multiplex-/Megaplex-Kinos, ein neuer Kinotypus, dessen Ziel es war, »spaces of total entertainment« zu schaffen, die durch »upscaling, comfort, courteousness, cleanliness, total entertainment, and prestige« definiert wurden. Acland, Charles R.: Screen Traffic: Movies, Multiplexes, and Global Culture, Durham, NC: Duke University Press 2003, S. 106. 9

Eine Abhandlung der Frage, wie Medienbilder zu ›Dingen‹ werden und umgekehrt und wie sich Kommunikation (erneut) durch (totemische) Objekte vollzieht, bieten Scott Lash und Celia Lury. Vgl. Lash, Scott/Lury, Celia: Global Culture Industry: The Mediation of Things, London: Polity 2007.

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stellung ihrer Studios und als Kommentar dazu, wie Hollywood seine Firmengeschichte weiter- und umschreibt10. Anders als eine frühere allegorische Hermeneutik, die versuchte, Parallelen zwischen einem Genre wie dem Western und der aktuellen Politik zu ziehen – indem sie beispielsweise zwischen »demokratischen« (HIGH NOON (USA 1952, R: Fred Zinnemann)) und »republikanischen« (RIO BRAVO (USA 1959, R: Howard Hawks)) Western unterschied oder einen Film als einen »Barry-Goldwater-Western« oder einen »Joseph-McCarthy-Western« identifizierte11 –, verfügen aktuelle allegorische Lesarten über ein verfeinertes Verständnis für textuelle, paratextuelle und intertextuelle Effekte. Sie sind eher in den Techniken der Dekonstruktion geschult, als dass sie sich der »Hermeneutik des (ideologischen) Verdachts« einer früheren Generation von Filmkritikern bedienen. Eine Reihe bedeutender Artikel von Jerome Christensen und J. D. Conner zeigen die Resultate solcher Lesarten12. Christensen versucht, »Fir-

10 Ein Beispiel aus den 1930er Jahren, wie ein Filmstudio durch ein Genre seine eigene Geschichte (um)schreibt, findet sich in meinem Kapitel über William Dieterle und das Warner Bros Biopic in T. Elsaesser, Persistence, S. 145-158. 11 Siehe beispielsweise French, Philip: Westerns: Aspects of a Movie Genre, New York: Viking 1973. Glenn Erickson fasst zusammen: »French […] categorized Westerns by the American political figures he thought they most resembled. Thus High Noon and Johnny Guitar are McCarthy Westerns because both show individuals persecuted or abandoned by hostile political environments. The Magnificent Seven was judged Kennedyesque by virtue of its Peace Corpsstyle American professional supermen taking their superior skills and firepower out to right wrongs beyond U.S. borders. Goldwater Westerns, on the other hand, tended to take the patronizing Republican/Conservative tack of upholding the past and ›old ways‹ as the ideal to be aspired to. Erickson, Glenn: »Foreign Intervention and the American Western«, http://www.dvd talk.com/dvdsavant/s80west.html. 12 Christensen, Jerome: »Delirious Warner Bros: Studio Authorship and The Fountainhead«, in: Velvet Light Trap, Nr. 57, (2006), S. 17-31; Ders.: »Spike Lee: Corporate Populist«, in: Critical Inquiry, Bd. 17, Nr. 3, (1991), S. 582595; Ders.: »Studio Identity, Studio Art: MGM, Mrs Miniver and Planning the

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men-Autorenschaft« (»corporate authorship«) zu rekonstruieren – ein Begriff, der teils den Managementtheorien von Peter Drucker13 entnommen und teils als Kritik an der filmwissenschaftlichen Autorentheorie zu verstehen ist. Mit Blick auf die Fusion von Time Inc. und Warner Brothers liest Christensen sowohl Tim Burtons BATMAN (USA/UK 1989) als auch Oliver Stones JFK (F/USA 1991) nicht etwa als Manifestationen der persönlichen Vision dieser beiden höchst eigenwilligen Regisseure, sondern als »Äußerungen der Studios« (»corporate expressions«). Das dahinterstehende politische Argument wäre, dass Hollywood aktiv daran arbeitet, die repräsentative Demokratie und den Gesellschaftsvertrag zu suspendieren, indem es, an den Fetisch der Marke appellierend, die asoziale, rein monetäre Bindung zwischen Verbraucher und Konsumware fördert. Doch ist die allegorische Lesart auch symptomatisch für den Wunsch, die häufig eingeräumte Reflexivität des zeitgenössischen Hollywood-Films »materialistisch« zu begründen und zugleich Unzufriedenheit damit auszudrücken, dass eine solche Reflexivität in der Regel einer universell einsetzbaren ›Anything-goes‹-Postmoderne zugeschrieben wird14. Ähnlich interpretiert Connor die massiven organisatorischen Umwälzungen, die in den 1980er Jahren die amerikanische Filmindustrie im PostStudio-Zeitalter der Fusionen und horizontalen Diversifikationen umgeformt haben, als Subtexte, die er in wichtigen Hollywood-Produktionen allegorisch dargestellt findet. Insbesondere interessiert er sich für Erzählungen, die auf einige signifikante Entwicklungen reagieren: Das Einbrin-

Postwar Era«, in: ELH, Bd. 67, Nr. 1, (2000), S. 257-292; Ders.: »Taking it to the Next Level: You’ve Got Mail, Havholm and Sandifer«, in: Critical Inquiry, Bd. 30, Nr. 1, (2003), S. 198-215; Ders.: »The Time Warner Conspiracy: JFK, Batman, and the Manager Theory of Hollywood Film«, in: Critical Inquiry, Bd. 28, Nr. 3, (2002), S. 591-616. 13 Drucker, Peter: The Practice of Management, New York: Harper Collins 1954. 14 Christensen wiederum musste ziemlich scharfe Angriffe von Peter Havholm und Philip Sandifer ertragen, die ihn der Willkür und Tautologie bezichtigten. Havholm, Peter/Sandifer, Philip: »Corporate Authorship: A Response to Jerome Christensen«, in: Critical Inquiry, 30 (1) (August 2003), S. 187-197). Christensen reagierte darauf mit Taking it to the next level, S. 198-215.

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gen von frischem kreativen Talent, als sich Hollywood den ›unabhängigen‹ Sektor einverleibte; die Praxis des ›Outsourcens‹ bestimmter Spezialaufgaben wie des Computer Generated Imaging; die kreative Abhängigkeit Hollywoods von ausländischen Mitarbeitern und seine wirtschaftliche Abhängigkeit von einem globalem Publikum, und schließlich die Notwendigkeit, die umfangreichen Bestände an alten Filmen durch den Verkaufs von DVDs und durch andere Teilmärkte zu Geld zu machen15. Connor und Christensen stellen Hollywoods »Allegorien der Selbstdarstellung« heraus, auch wenn sie dazu neigen, die spezielle studiointerne Reflexivität der Selbstdarstellung allzu leicht mit dem generellen Kapitalismus amerikanischer Prägung zu vermischen. Dennoch bestehen sie darauf, dass eine historisch fundierte Analyse Hollywoods als kalifornische High-Tech-Industrie und globales Unternehmen auch die Filme selbst als genau durchdachte, komplex konstruierte Gebilde, vielschichtige Narrative und universell einsetzbare Mythen, die auf verschiedenen Plattformen, in unterschiedlichen Medienformaten und für verschiedene Zielgruppen gleich gut funktionieren müssen, einbeziehen sollte. Indem sie die Allegorie als die am besten geeignete Hermeneutik postulieren, verflechten sie das Ökonomische und das Textuelle zu unabdingbaren Voraussetzungen für den Erfolg eines Films. Dabei berücksichtigen sie die Tatsache, dass jede in Hollywood arbeitende Person tagein, tagaus die Firmenstrategie leben muss und sich aus diesem Grund der Konflikte zwischen finanzieller Kreativität (Geschäftsmodellen) Marketing-Kreativität (Werbestrategien) und künstlerischer Kreativität (die Handschrift des Filmautors) nur allzu bewusst ist. Ihre Filmauswahl (die über die Trennlinie zwischen klassisch und post-klassisch hinausgeht) deutet darauf hin, dass solche Formen des (Selbst-) Allegorisierens schon immer existiert haben, auch wenn die industriellen Umbrüche der letzten drei Jahrzehnte ihnen eine neue selbstkorrigierende und selbstregulierende Dringlichkeit verliehen haben. Um es zusammenzufassen: Das zur Debatte stehende allgemeine Prinzip dürfte sein, dass das klassische, das postklassische und das zeitgenössische Hollywood-Kino nicht sukzessiv oder chronologisch aufeinander

15 Zum Geschäftszweig der Studio-Filmarchive siehe Horak, Jan-Christopher: »The Hollywood History Business«, in: Jon Lewis (Hg.), The End of Cinema as We Know It: American Film in the Nineties, London: Pluto 2002, S. 33-42.

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folgen. Vielmehr sind sie alle zueinander – und als Antwort aufeinander – reflexiv, indem das eine Hollywood-Kino das andere determiniert und seinerseits (retroaktiv) von ihm determiniert wird. Tatsächlich handelt es sich hierbei um die Fachdefinition von ›Reflexivität‹, insbesondere in den Sozialwissenschaften, in denen der Terminus sich auf zyklische oder in zwei Richtungen verlaufende Relationen zwischen Ursache und Wirkung bezieht, bei denen das eine das jeweils andere so verändert oder definiert, dass beide als Ursachen und Wirkungen fungieren. Wenn allerdings die Reflexivität Situationen der Selbstreferenz benennt, in denen eine Aktion auf die Aktion zurückverweist und dadurch den Sachverhalt oder den Akteur, der sie auslöste, verändert oder beeinflusst, wäre es möglicherweise korrekter, von »Feedback« zu sprechen, im positiven und auch negativen Sinne. Während das klassische Hollywood gewissermaßen die Dominanz des negativen Feedbacks (der Selbstregulierung und Abstreitbarkeit) repräsentiert, lässt das zeitgenössische Hollywood die Existenz und Effektivität von positiven Feedback-Schleifen erkennen, welche die neuen Technologien und sozialen Netzwerke dem Management einer Filmgesellschaft oder eines Filmstudios in der postklassischen Phase quasi aufgezwungen haben. Die traditionellen negativen Feedback-Schleifen (Selbstregulierung und Copyright) und die neueren, positiven Feedback-Schleifen (z.B. YouTube, Netflix, hulu, Amazon Prime mit ihren ›likes‹ und ›preferences‹ aber auch Rotten Tomatoes und ›user comments‹) im Gleichgewicht zu halten, ist die vielleicht größte Herausforderung, vor der Hollywood in den vergangenen zehn Jahren gestanden hat. Heute lässt sich zwischen negativem Feedback (die Kontrollinstanzen des Systems, die als stabilisierendes Element einen inneren Bezugsrahmen liefern) und positivem Feedback (die Reaktion der User und Fans) unterscheiden. Obwohl die Folgen für Hollywood schwerer vorherzusehen sind, ist positives Feedback dennoch erwünscht und gesucht – vielleicht weniger aufgrund der »nutzergenerierten Inhalte« an sich, sondern weil die partizipatorische Einbindung der Fans in das Filmemachen den Hollywood Studios wertvolle Daten zu den Vorlieben und Präferenzen ihres Publikums liefert. Beim direkten Feedback ist allerdings der Übergang zur Inkohärenz und Kakophonie bald erreicht, wie es z.B. bei SNAKES ON A PLANE (USA/D 2006, R: David R.

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Ellis) der Fall war16. Die Verlagerung des Fokus’ auf die Markenbildung und das Logo (im oben genannten Sinne) wäre dann eher ein Prinzip der Homöostase, eine Möglichkeit, nicht nur das Verhältnis zwischen Produkt und Konsumenten neu zu verhandeln, sondern – unter den Bedingungen eines positiven oder selbstverstärkenden Feedbacks, wie es von sozialen Netzwerken erzeugt wird – eine Hauptstrategie zur Erfassung und Steuerung dieses volatilen Publikums, zum Recycling von Output als Input und damit zur Schaffung eines neuen Typs von Cinephilie und letztlich einer anderen Hermeneutik. Ursprünglich war die Cinephilie ein Diskurs, der sich um eine Liebe drehte, die sich in höchst widersprüchlichen, narzisstischen, altruistischen, kommunikativen und autistischen Formen manifestierte. Teil dieser Cinephilie ist allerdings auch eine Krise des Gedächtnisses: zunächst einmal des filmischen Gedächtnisses, zu einer Zeit als es weder Videorecorder noch DVDs gab. Doch betrifft die Krise ebenso unsere moderne Vorstellung von Gedächtnis als einer Vergegenwärtigung, die durch technische Aufnahme-, Speicher- und Abrufverfahren medial vermittelt wird. Die Unmöglichkeit innezuhalten, um die Gegenwart zu erleben, und das Bedürfnis, sich immer zweier Zeitlichkeiten bewusst zu sein – etwas, das für die Cinephilie in ihrer ursprünglichen Form grundlegend war –, ist heute zu einer allgemeinen kulturellen Disposition geworden: der neue Normalzustand unserer Zeiterfahrung. Durch unsere allumfassende Mobilität sind wir ›Touristen des Lebens‹ geworden, die sich ständig selbst beobachten und dokumentieren, also die (staatlichen) Überwachungsapparate dank der Selfie-Kultur verinnerlichen und vorauseilend bedienen. Wir verwenden das Smartphone in der Hand oder häufig auch nur im Kopf, um uns selbst zu vergewissern, dass das Jetzt ein »ich (bin), nun, hier« ist. Unser Erleben

16 Bekanntlich forderten die Macher von SNAKES ON A PLANE zur Einreichung von Beiträgen für das Drehbuch auf, was sich als zweifelhafter Segen herausstellte: »In response to the Internet fan base, New Line Cinema incorporated feedback from online users into its production, and added five days of reshooting […] Despite the immense Internet buzz, the film’s gross revenue did not live up to expectations, earning US$15.25 million in its opening weekend.« N.N.: Snakes on a Plane, https://en.wikipedia.org/wiki/Snakes_on_a_Plane.

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der Gegenwart ist immer schon ein (Medien-)Gedächtnis, und dieses sich im-Jetzt-schon-in-die- Zukunft-versetzende Gedächtnis steht für den notwendigerweise scheiternden Versuch der Selbst-Präsenz: anstatt im Augenblick zu leben benutzen wir die Medien, um in den Besitz eines Gedächtnisses zu gelangen, das das Erlebnis retrospektiv wieder erfahrbar macht. Hierdurch erhält die doppelt versetzte Zeiterfahrung der ursprünglichen Cinephilie eine neue Rolle, vielleicht sogar einen neuen kulturellen Status: der Cinephile als Sammler und als Archivar, der sich nicht nur mit unserem flüchtigen Kino-Erlebnis als vielmehr mit unserem nicht weniger flüchtigen Selbst-Erleben befasst. Das wäre dann das ›zweite Leben‹ der Cinephilie: einerseits hervorgebracht von der technisch ermöglichten Fähigkeit, den vormals nicht umkehrbaren Fluss der filmischen Zeit anzuhalten, dank Fernbedienung, Pausentaste, Rücklauf und Standbild. Ein Gutteil des heutigen Hollywood-Kinos gründet auf der Voraussetzung des Wiederabspielens und Zurückspulens, weshalb bei vielen Szenen mehr für das Verständnis notwendige Informationen vorhanden sind, als wir beim ersten Durchlauf aufnehmen können. So werden wir sofort angeregt, uns der Film-Erfahrung in einer anderen Wiedergabeform (z.B. DVD, Download oder Streaming) erneut zu vergewissern und sie uns nochmals einzuverleiben. Andererseits ermutigt das zweite Leben der Cinephilie auch zum Dialog, durch Sampling und Mashup, durch eine Reorganisation von Handlung, Figuren, Genre und Ton. Digitale Software erlaubt es heute fast jedem, den Filmtext zu manipulieren und so (aber auch durch die Wahl des Träger- und Speichermediums) den Eindruck der einmaligen Erfahrung, das Gefühl eines bestimmten Ortes, eines Anlasses oder Moments neu zu schaffen. Eine solche Tätigkeit des Bewahrens und Wiedergebens führt (wie jede Tätigkeit, in der es um Gedächtnis und Archivieren geht) zu einer Neubewertung des Fragments und meist zu seiner Fetischisierung als ›pars pro toto‹, als Teil, der für das (verlorene) Ganze steht. Doch ist ›Fragment‹ hier auch auf eine besondere Weise zu verstehen: Jeder Film ist nicht nur ein Fragment jener Gesamtheit von bewegten Bildern, die unser Verständnis, unser Wissen und sogar unsere Liebe stets überschreitet, sondern auch ein Fragment im Sinne der Repräsentation, in welcher Form auch immer wir ihn anschauen oder erleben, nur ein Teil, ein Aspekt, ein Aggregatzustand der vielen, potentiell unendlichen Aggregatzustände, durch die die

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Bilder unseres filmischen Erbes heute in der Kultur zirkulieren. Die »Liebe, die niemals lügt« (»the love that never lies«: Cinephilie als Liebe des (Zelluloid-)Originals, der Authentizität, der Indexikalität der Zeit, bei der jede Filmvorführung ein einzigartiges Ereignis ist), tritt an gegen die »Liebe, die niemals stirbt« (»the love that never dies«). Diese Cinephilie lebt von Nostalgie und Wiederholung, wird von Fans und Kult-Klassikern revitalisiert und fordert das Video, die DVD oder das Download. Während eine solche Liebe die technologische Performativität der digital aufbereiteten Bilder und Töne als gegeben voraussetzt, nobilitiert sie auch das, was einst eher bloßer Abfall oder Überschuss war. Die neue Cinephilie verwandelt das unbegrenzte Archiv unseres medialen Gedächtnisses (das auch das einst ungeliebte oder übersehene Allerlei in den Archiven, lang vergessene Spielfilme oder in Ungnade gefallene Fernsehsendungen enthält) in potentiell begehrenswerte und geschätzte Clips, Extras und Kompilationen. Bedeutet dies, dass alle Formen von Cinephilie als reflexives Feedback der Filmindustrie selbst oder als Social-Media-Feedback kooptiert wurden? Die Anhänger des sogenannten Videoessays machen sich darüber Gedanken. Als Hybrid zwischen dem Mashup von YouTube-Lieblingsclips und einer Form der Reflexivität, bei der Filme ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten, rhetorischen Strategien und innere Logik kommentieren sollen, kann der Videoessay sowohl ästhetisch ansprechend sein als auch echte Einblicke in das Eigenleben bewegter Bilder bieten. Dennoch äußert einer der führenden Vertreter des Online-Videoessays, Kevin B. Lee, auch ein wachsendes Unbehagen: »Does this type of production herald an exciting new era for media literacy, enacting Alexandre Astruc’s prophecy of cinema becoming our new lingua franca? Or is it just an insidious new form of media consumption? At least that’s how much of what lately is termed ›video essay‹ strikes me: an onslaught of supercuts, list-based

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montages and fan videos that do less to shed critical insight into their source material than offer a new way for the pop culture snake to eat its long tail.«17

Lee endet ein wenig optimistischer, wenn er darauf hofft, dass »the essay film may serve as a springboard to launch into a vital investigation of knowledge, art and culture in the 21st century, including the question of what role cinema itself might play in this critical project: articulating discontent with its own place in the world«.18 Einer der Blockbuster der internationalen Kunstszene war 2010/11 Christian Marclays THE CLOCK (UK 2010), ein 24 Stunden umfassendes Uhrwerk, das aus Tausenden von Filmfragmenten besteht, wobei jeder Filmschnipsel seinen eigenen minutengenauen Index enthält, während die Laufzeit auf dem Bildschirm perfekt auf die gelebte Zeit des Zuschauers abgestimmt ist. Marclays Glanzleistung stellt den Höhe- und Endpunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung dar, in der Künstler aus (häufig sehr bekannten) Filmen eine einzelne Szene, einen Blickwechsel, ein Dialogfragment oder ein Setting extrahierten bzw. operativ entfernten, um aus diesen »Fundstücken« eine kunstvolle Montage oder Kompilation zu fertigen und sie einem neuen Film-Körper aufzupfropfen, der noch menschlich, zugleich aber auch unbestreitbar mechanisch ist. Einer der Pioniere dieser ›Uncanny-Valley‹-Montage zwischen Automaton und Organischem ist Matthias Müller, der in den späten 1980er Jahren mit Found Footage (diversen Filmformaten, Amateurvideos und Fernsehaufnahmen) experimentierte und seit Anfang der 1990er Jahre mit Christoph Girardet zusammenarbeitet. HOME STORIES (UK 1990) beispielsweise ist ein Kompilationsfilm über Frauenfiguren in Melodramen der 1950er Jahre, die sich schlaflos in ihren Betten wälzen, in den Morgenmantel schlüpfen, um ängstlich jemandem zu öffnen, zu Tagesanbruch oder -ende sorgenvoll warten, an geschlossenen Türen horchen oder durch

17 Lee, Kevin B.: »Video Essay: The Essay Film – Some Thoughts of Discontent«, in: Sight and Sound vom 18.11.2016, https://www.bfi.org.uk/news-opinion/sight-sound-magazine/features/deep-focus/video-essay-essay-film-somethoughts. 18 Ebd.

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Fenster mit bedrückend schweren Vorhängen spähen, bevor sie – von Panik erfüllt – lange Flure entlangrennen oder endlich ins Freie gelangen. Auf brillante Art verdichtet HOME STORIES die Hysterie des Genres zu einem Ballett aus Körpern und Gesten von Frauen, die in ihrem häuslichen Paradies gefangen sind und dennoch heroisch aus ihren goldenen Käfigen ausbrechen, während die unterschwelligen, an Bernard Hermann erinnernden Streicher- und Perkussionsklänge der Tonspur (für die Dirk Schäfer verantwortlich war) uns darauf hinweisen, dass das Melodram – das als Körper-Genre gilt – irgendwo zwischen dem Musical und dem Thriller anzusiedeln ist, denn es besitzt die rastlose Bewegung des Ersteren und erzeugt die packende Spannung des Letzteren. Müller achtet darauf, dass in den zwanghaften Wiederholungen auch eine Art Entwicklung, Steigerung und narrative Progression sichtbar wird, und sei sie auch noch so gering, noch so verhalten oder auf sich selbst zurückweisend. Dasselbe gilt natürlich auch für Marclays THE CLOCK, wodurch sich die inhärente Rekursivität der Hollywood-Erzählform – die Strategie der »repetition-resolution«, wie es Raymond Bellour nannte – manifestieren kann. Doch wenden Müller und Girardet in einer weiteren Kompilation eine andere Strategie an, um eine Form von Reflexivität an die Oberfläche zu treiben, die zwischen dem »Autor als System« und dem »System als Autor« oszilliert. Sie nennen diese Arbeit PHOENIX TAPES (UK 2000). Für das sechsteilige Werk, noch ambitionierter als HOME STORIES, wurden 40 Hitchcock-Filme auseinandergenommen und zu einem veritablen Katalog obsessiver Wiederholungen und zwanghafter Fixierungen verdichtet. Adrian Searle, Kunstkritiker des Guardian, beschreibt das atemlose Tempo der PHOENIX TAPES: »Christophe Girardet and Matthias Müller have collected Hitchcock clips of pockets, wallets, handbags, corners, crossroads and trains, the light under doors, objects falling and breaking, bad mothers and mad lovers, stranglings, guns and violent disrobings, in their run-together snippets of clips from the movies, shown on monitors throughout the exhibition. These compilations are especially telling, in that they record the film-maker’s abiding obsessions, his tics, his filmic repetitions.

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They give an inkling of just how rich Hitchcock is as a film-maker, how circular his obsessions.«19

Man kann die PHOENIX TAPES als einen Catalogue raisonné de la déraison bezeichnen, als einen vernünftig aufgebauten Katalog des Aberwitzes und des Wahnsinns, dem mehr als nur ein Hauch von Surrealismus anhaftet. Bei Searle allerdings wirkt der Kompilationsfilm etwas zu sehr wie ein Oberseminar über Hitchcock, das die persönlichen Tics und beständigen ›Themen‹ des großen Auteurs untersucht. Als Anschauungsunterricht für ödipale Verwicklungen und eine unbewältigte Mutterfixierung sind die PHOENIX TAPES ebenso sehr eine Hommage an Sigmund Freud wie eine Hitchcock-Interpretation, weshalb es durchaus passend ist, dass das Werk 2007 im Sigmund-Freud-Museum in der Berggasse in Wien gezeigt wurde. Doch gerade weil die Clips so gut zu einer bestimmten Vorstellung von Psychoanalyse passen (einige der Clips zeigen professionelle Analytiker), lassen sie uns mit der Frage zurück, wessen Unbewusstes es ist, das da durch die zwanghaften Wiederholungen identischer Gesten, Redewendungen und Gesichtsausdrücke enthüllt wird. Zunächst einmal sind es die geheimen Wünsche und Triebe der fiktionalen Charaktere, doch bei so vielen Protagonisten mit so offensichtlich ähnlichen Verhaltensweisen drängt sich ein allgemeineres Muster auf, das sich durch die geschickte Montage nahezu identischer Szenen aus unterschiedlichsten Filmen auf eindrucksvolle Weise offenbart. Wir neigen dazu, solche Muster ihrem Schöpfer – also dem Regisseur – zuzuschreiben. Angesichts einer Persönlichkeit, die sich so extravagant selbst erschuf wie Hitchcock, und einer Person, die so sehr mit düsteren Konflikten und Traumata beladen war, wie viele seiner Biografen behaupten, ist es nur allzu leicht, es dabei zu belassen. Doch warum sollten wir Müllers und Girardets lange Stunden des Sichtens und Auswählens von Filmmaterial nicht als ›Gedankenexperiment‹ behandeln? Eines, das beweist, dass das Kino selbst und insbesondere das System Hollywood (und sein Genrekino) ein eigenes Unbewusstes hat, das vielleicht reichhaltiger (und turbulenter) ist als selbst das seiner

19 Searle, Adrian: »Hitch and Run Tactics«, in: The Guardian vom 20.07.1999, https://www.theguardian.com/culture/1999/ jul/20/artsfeatures2.

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brillantesten Vertreter? Während HOME STORIES reine Choreografie und Fluss ist und folglich eine verdichtende Wirkung hervorbringt (im Gegensatz zu beispielweise Martin Arnolds analytisch-dekonstruktiven Übungen wie PIÈCE TOUCHÉE (AT 1989), PASSAGE À L’ACTE (AT 1993) und ALONE. LIFE WASTES ANDY HARDY (AT 1998), beruhen die einzelnen Folgen von THE PHOENIX TAPES eher auf Gegenüber- und Nebeneinanderstellung, wobei sie (wie auch Arnold) die latente Aggressivität und Gewalt zutage fördern, die der filmischen Darstellungs- und Artikulationsform per se innewohnen: Die Gewalt auf der Leinwand ist häufig lediglich der visuelle Kanal für die Gewalt der Leinwand. Anders ausgedrückt, enthüllen diese Montagen nicht nur die raue und versteckte Unterseite von Hollywoods glattem Kontinuitätssystem, sondern auch die Gründe dafür, warum diese Unterseite notwendig ist, damit wir gefesselt und hineingezogen werden und am Haken (des Suspense) zappeln, oftmals gegen unseren Willen. Das erklärt, warum Hitchcocks Bösewichte faszinierender sind als seine Helden: Sie haben ein reichhaltigeres und stärker konfliktbeladenes »filmisches Unbewusstes«, und während ihre Triebe und Zwänge für das Vorantreiben der Handlung wesentlich sind, werden ihre Handlungen letztendlich in unserem Namen durchgeführt. Das wäre die Doppelbotschaft oder rekursive Schleife der hollywoodschen Persistenz, die der Videoessay in Form einer cinephilen Gegenrede kontert, indem er deren Bann zu brechen bemüht ist, auch wenn er ihn mit einer eigenen obsessiven Intensität gleichzeitig nährt und bestätigt. Natürlich beweist dies lediglich, dass jeder »Hollywood-Turn« uns in unserer eigenen Reflexivität einfängt, ob diese sich nun in der Freude am Austüfteln der narrativen Zauberwürfel (siehe ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004, R: Michel Gondry)) oder am Rätsel des sich weiterdrehenden Kreisels (siehe INCEPTION) entzündet. Oder ob es die Meinung von Kevin B. Lee bestätigt, dass der Videoessay die »Unzufriedenheit« des Kinos »mit seinem eigenen Wert in der Welt« reflektiert.

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L ITERATUR Acland, Charles R.: Screen Traffic: Movies, Multiplexes, and Global Culture, Durham, NC: Duke University Press 2003. Christensen, Jerome: »Delirious Warner Bros: Studio Authorship and The Fountainhead«, in: Velvet Light Trap, Nr. 57, (2006), S. 17-31. Christensen, Jerome: »Spike Lee: Corporate Populist«, in: Critical Inquiry, Bd. 17, Nr. 3, (1991), S. 582-595. Christensen, Jerome: »Studio Identity, Studio Art: MGM, Mrs Miniver and Planning the Postwar Era«, in: ELH, Bd. 67, Nr. 1, (2000), S. 257292. Christensen, Jerome: »Taking it to the Next Level: You’ve Got Mail, Havholm and Sandifer«, in: Critical Inquiry, Bd. 30, Nr. 1, (2003), S. 198-215. Christensen, Jerome: »The Time Warner Conspiracy: JFK, Batman, and the Manager Theory of Hollywood Film«, in: Critical Inquiry, Bd. 28, Nr. 3, (2002), S. 591-616. Drucker, Peter: The Practice of Management, New York: Harper Collins 1954. Elsaesser, Thomas: The Persistence of Hollywood, London: Routledge 2012. Erickson, Glenn: »Foreign Intervention and the American Western«, http://www.dvdtalk.com/dvdsavant/s80west.html French, Philip: Westerns: Aspects of a Movie Genre, New York: Viking 1973. Havholm, Peter/Sandifer, Philip: »Corporate Authorship: A Response to Jerome Christensen«, in: Critical Inquiry, 30 (1) (August 2003), S. 187-197. Hediger, Vinzenz.: »The Original is Always Lost: Film History, Copyright Industries and the Problem of Reconstruction«, in: Marijke de Valck/Malte Hagener (Hg.), Cinephilia: Movies, Love and Memory, Amsterdam: Amsterdam University Press 2005, S. 135-149. Hediger, Vinzenz: »Politique des Archives: European Cinema and the Invention of Tradition in the Digital Age«, in: Rouge, http://www.rouge.com.au/12/hediger.html

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Hoberman, James: An Army of Phantoms: American Movies and the Making of the Cold War, New York: New Press 2011. Hoberman, James: »Nashville contra Jaws, or ›The Imagination of Disaster‹ revisited«, in: Thomas Elsaesser/Alexander Horwath/Noel King (Hg.), The Last Great American Picture Show: New Hollywood Cinema in the 1970s, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, S. 195-222. Horak, Jan-Christopher: »The Hollywood History Business«, in Jon Lewis (Hg.), The End of Cinema as We Know It: American Film in the Nineties, London: Pluto 2002, S. 33-42. Lash, Scott/Lury, Celia: Global Culture Industry: The Mediation of Things, London: Polity 2007. Lee, Kevin B.: »Video Essay: The Essay Film – Some Thoughts of Discontent«, in: Sight and Sound vom 18.11.2016, https://www.bfi.or g.uk/news-opinion/sight-sound-magazine/features/deep-focus/video-es say-essay-film-some-thoughts Levy, Emmanuel: All About Oscar: The History and Politics of the Academy Awards, New York: Continuum 2003. Maltby, Richard: »The Production Code and the Hays Office«, in: Tino Balio (Hg.), Grand Design: Hollywood as a Modern Business Enterprise, 1930-1939, New York: Scribner’s, 1993, S. 37-72. Maltby, Richard: Hollywood Cinema, 2. Aufl. Oxford: Blackwell 2003. N.N.: »Snakes on a Plane«, https://en.wikipedia.org/wiki/Snakes_on_ a_Plane Searle, Adrian: »Hitch and Run Tactics«, in: The Guardian vom 20.07.1999, https://www.theguardian.com/culture/1999/jul/20/artsfeatures2 Vasey, Ruth: The World According to Hollywood, 1918-1939, Madison: University of Wisconsin Press 1997. Wyatt, Justin: High Concept: Movies and Marketing in Hollywood, Austin: University of Texas Press 1994.

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F ILME ALONE. LIFE WASTES ANDY HARDY (AT 1998, R: Martin Arnold) BATMAN (USA/UK 1989, R: Tim Burton) ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004, R: Michel Gondry) HARRY POTTER (UK 2001-2011, R: div.) HIGH NOON (USA 1952, R: Fred Zinnemann) HOME STORIES (UK 1990, R: Christoph Girardet/Matthias Müller) INCEPTION (USA 2010, R: Christopher Nolan) JFK (F/USA 1991, R: Oliver Stone) LORD OF THE RINGS (NZ/USA 2001-2003, R: Peter Jackson) PASSAGE À L’ACTE (AT 1993, R: Martin Arnold) PHOENIX TAPES (UK 2000, R: Christoph Girardet/Matthias Müller) PIÈCE TOUCHÉE (AT 1989, R: Martin Arnold) PIRATES OF THE CARIBBEAN (USA 2003–, R: div.) RIO BRAVO (USA 1959, R: Howard Hawks) SHREK (USA 2001–, R: div.) SNAKES ON A PLANE (USA/D 2006, R: David R. Ellis) THE CLOCK (UK 2010, R: Christian Marclay) TOY STORY (USA 1996–, R: div.)

II. Hollywood | Welten

Vertrauen in die Welt? Komplexes Erzählen in MEMENTO und INCEPTION J OSEF F RÜCHTL

Wer ein Buch vorlegt unter dem Titel Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films kann, wenig überraschend, mit einigermaßen überraschten Reaktionen rechnen1. Der Film als solcher, und dann vor allem der zeitgenössische Film, soll Vertrauen schaffen, und dann auch noch in die Welt als solche? Wenn der Autor intellektuell und akademisch in Frankfurt zur Schule gegangen ist, steigert sich die Überraschung zur Skepsis. Hat uns nicht Theodor W. Adorno immer wieder gelehrt, dass authentische Kunst Negativität und damit tiefgründiges Misstrauen in die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck bringt? Und nun soll die Kunst – wenn man dem Film die Ehre zuerkennen will, ihn unter anderem auch als Kunst gelten zu lassen – vielmehr ontologisch affirmativ sein? Wäre das nicht eine neue, vielleicht sogar heimtückischere Variante jenes affirmativen Charakters der Kultur, den Herbert Marcuse in den 1930er Jahren auseinandergelegt hat? Wenn dem so wäre – das lässt sich immerhin sogleich antworten –, müsste in der Affirmation auch ein Moment des Negativen und Kritischen aufscheinen. Und in der Tat möchte ich das behaupten. Die cinematischästhetische Erfahrung bietet uns eine Erfahrung von Weltvertrauen, die 1

Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films, München: Fink 2013; englischsprachige Version: Trust in the World. A Philosophy of Film, übers. v. Sarah Kirkby, New York/London: Routledge 2018.

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nicht nur, wie alles Vertrauen, ebenso grundlegend wie unsicher bleiben muss, sondern diese Doppelung ihrerseits erfahrbar macht. Die philosophische Ästhetik hat, Kant folgend, dies unter dem Kürzel des ›Als ob‹ thematisiert. Ästhetische Erfahrungen bestärken uns auf evidente Weise darin, so zu tun, als ob wir – im ontologischen Sinn – Vertrauen in die Welt haben könnten. Sie verstärken noch einmal die Haltung des ›Als ob‹, die dem Vertrauen an sich schon innewohnt. Auf spezifische Weise trifft dies auch auf den ästhetisch gelungenen Film zu. Und noch spezifischer auf den ästhetisch gelungenen komplexen Film. Um dies in gebotener Kürze zu zeigen, liegt es nahe, exemplarisch vorzugehen, das heißt, sich auf einen Film oder Filme zu fokussieren, die nicht nur beliebiger Fall, sondern individueller Repräsentant eines Allgemeinen sind. Ich habe dabei zwei Filme von Christopher Nolan im Auge, MEMENTO (USA 2000) und INCEPTION (USA 2010). Der allgemeine Grund für diese Wahl besteht darin, dass diese Filme Beispiele liefern für komplexes Erzählen im zeitgenössischen Hollywoodfilm. Diese Art des filmischen Erzählens beginnt fulminant mit Quentin Tarantinos PULP FICTION (USA 1994) und setzt sich, außerhalb Hollywoods, spielerisch fort mit Tom Tykwers LOLA RENNT (D 1997), bevor es mit David Lynchs LOST HIGHWAY (USA 1997) einen ersten Höhepunkt erreicht; David Fincher folgt psychodramatisch mit FIGHT CLUB (USA 1999), Spike Jonze phantastisch-komödiantisch mit BEING JOHN MALKOVICH (USA 1999), erneut David Lynch, dieses Mal mit MULHOLLAND DRIVE (USA 2001), im selben Jahr, in dem auch Richard Kellys DONNIE DARKO (USA 2001) und Cameron Crows VANILLA SKY (USA 2001), der Neuverfilmung von Alejandro Amenábars ABRE LOS OJOS (E/F/I 1997), in die Kinos kommen. Michel Gondrys ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004), im Deutschen nicht minder sarkastisch wiedergegeben als VERGISS MEIN NICHT, darf auch nicht fehlen. Die Reihe entsprechender Filme könnte problemlos weiter ausgeführt werden. Komplexität ist ein Begriff, der in unserer Zeit durch die sogenannte Chaos-Theorie Bedeutung gewonnen hat. Berühmt ist die Formulierung des amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz, dass ein Schmetter-

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ling, der in Brasilien mit seinen Flügelchen schlägt, zuletzt einen Wirbelsturm in Texas auslösen könnte2. Die computergestützte Wettervorhersage löst damit auf mathematisch-naturwissenschaftliche Weise ein, was der ›common sense‹ auf seine Weise schon lange gewusst hat, dass nämlich kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Kleinste Abweichungen verstärken sich durch positive Rückkopplungen und führen zu großformatigen Effekten. Das Wetter ist chaotisch, weil schon ein minimales, unvorhergesehenes Element dafür sorgen kann, dass alles anders wird; es ist chaotisch, nicht mit Sicherheit vorherzusagen, weil die Zusammenhänge zu komplex sind. Ein Phänomen ist komplex, heißt in diesem Kontext – und es ist nicht nur derjenige der Meteorologie, sondern auch der Medizin (Gehirnforschung), der Wirtschaftswissenschaften und anderer Disziplinen –, dass Prognosen schwierig und immer mit Unsicherheit behaftet sind. So lässt sich, ein anderes einfaches Beispiel, nicht vorhersagen, wann an einem bestimmten Autobahnkreuz der nächste Stau entstehen und wann er sich wieder auflösen wird. Wiewohl die Chaos- oder Komplexitätsforschung also, wie alle empirische Forschung, durch (mehr oder weniger eintretende) Prognosen einen Blick in die Zukunft gestattet, lautet ihr Prinzip doch, dass alles auch anders sein kann. Allgemeiner formuliert, nennen wir etwas – eine Wetterlage, eine Situation, eine Person – komplex, wenn sie nicht einfach zu erklären oder zu verstehen ist. Eine einfache Erklärung wäre eine reduktionistische und kausal-lineare. In der Philosophie arbeitet man demgegenüber seit Platon mit der Unterscheidung zwischen nous und diánoia, dem kontemplativen Erkennen der Ideen als des wahrhaft Seienden und dem methodisch analysierenden und fortschreitenden Denken, eine Unterscheidung, die ins Lateinische übersetzt wird als die zwischen intellectus und ratio, ins Deutsche als ›Verstand‹ und ›Vernunft‹, mit der Eigenheit, dass bis zu Kant der intellectus, der Verstand, als das oberste Denkvermögen gilt, während mit Kant diese Zuordnung umgekehrt und die ratio, die Vernunft, als oberstes

2

Lorenz, Edward N.: »Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil Set Off a Tornado in Texas?«, Vortrag auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science vom 29.12.1972, http://static.gymportalen.dk/sites/lru.dk/files/lru/132_kap6_lorenz_artikel_the _butterfly_effect.pdf

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Denkvermögen hervorgehoben wird. In dieser Tradition beschreibt Nikolaus von Kues Mitte des 15. Jahrhunderts Gott als complexio oder coinicidentia oppositorum, die allein dem intellectus begreiflich ist. Er prägt damit einen Terminus, der über die Philosophie hinaus – mit Hegels »Dialektik« als berühmtester Ausformulierung – auch in der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs und in der Politischen Philosophie Carl Schmitts eine Rolle spielt3. Mit dem Begriff der Komplexität, so kann man zusammenfassend sagen, bezeichnet die philosophisch-wissenschaftliche Tradition die Einheit eines Mannigfaltigen, die sich aus zahlreichen und verschiedenartigen Elementen und aus ebenso zahlreichen wie verschiedenartigen, im Extremfall gegensätzlichen Verknüpfungen zwischen den Elementen zusammensetzt4. Alltagssprachlich ausgedrückt: Etwas ist komplex, wenn es aus vielen, verschiedenen und zugleich vielfach miteinander verbundenen Elementen besteht (»wie ein verschlungenes Netzwerk von unterschiedlichen Kanälen«). Wissenschaftstheoretisch ist freilich anzumerken, dass Komplexität »nicht mehr die alte Unübersichtlichkeit aufgrund vieler Variablen und der daraus folgenden Vielzahl möglicher Entwicklungen« meint, sondern »aus der Nicht-Linearität der Entwicklungsgesetze« resultiert. »Das

3

Carl Gustav Jung und seine Schule haben den Begriff des ›Komplexes‹ im psychologischen Sinn populär gemacht: »einen Komplex haben« heißt ein Neurotiker sein. Der Komplex ist eine complexio oppositorum in dem Sinn, dass er eine affektgeladene, als ich fremd erlebte Assoziation von Vorstellungen ist (vgl. Wellek, Albert: »Komplex«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K (1976), S. 936.); zu Schmitt vgl. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2008[1923], in der er die katholische Kirche als complexio oppositorum, als eine alles umfassende Einheit der Widersprüche beschreibt.

4

Vgl. zu dieser Definition den – wenn auch gewohnt komplizierten – Artikel von Niklas Luhmann, »Komplexität« in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co 1976, S. 939-942.

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überschaubar Einfache kann chaotisch sein.«5 Die Affinität geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorien zu dieser Art von Forschung ist nicht überraschend, denn es erscheint, als hätte die – in der breitesten Bedeutung des Begriffs – ›Kritische Theorie‹ die Naturwissenschaften erreicht: Hinter der glatten Fassade der Ordnung herrscht das Unruhe stiftende Prinzip der Unordnung. Komplex kann man dementsprechend Filme nennen, die das Geschichtenerzählen durch die (quantitativ) vielfache und (qualitativ) ungewöhnliche Verbindung seiner Grundelemente (Handlung/plot, Bilder, Musik, Ton) komplizieren, also schwieriger, verwickelter, undurchsichtiger machen, charakterisiert durch das Prinzip der Nicht-Linearität. Die narrative Struktur eines Films besteht aus der spezifischen und nicht-linearen, tendenziell holistischen Verbindung dieser Elemente. Jedes von ihnen ist im wörtlichen Sinn bedeutsam. Komplex sind Filme, die das Geschichtenerzählen so weit komplizieren, dass es bis zur Undurchschaubarkeit verwickelt wird; die das Geschichtenerzählen, mit anderen Worten, so vielschichtig machen, dass es die philosophische Zuspitzungsebene erreicht, auf der es unter anderem um epistemologische und ontologische Probleme geht, Fragen also danach, wie wir wissen können, was wir wissen; was wir überhaupt wissen können, und wie wir uns unserer Welt, des Seins im Allgemeinen und der Existenz anderer versichern können. Die Filmtheorie hat für dieses ›complex storytelling‹ verschiedene Namen vorgeschlagen: ›modular narrative‹, ›puzzle film‹, ›mindgame film‹, vor allem im Internet beliebt: ›mind(fuck) film‹, oder zuletzt ›mind-tricking narrative‹6. Immer

5

Küppers, Günter: Chaos und Ordnung. Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, Stuttgart: Reclam 1996, S. 173; zur Unordnung hinter der Ordnung vgl. S. 149.

6

Vgl. Cameron, Allan: Modular Narratives in Contemporary Cinema, London: Palgrave Macmillan 2008; Warren Buckland (Hg.): Puzzle Films: Complex Storytelling in Contemporary Cinema, Oxford: Wiley-Blackwell 2009; Elsaesser, Thomas: »The Minde-Game Film«, in: Buckland, Puzzle Films (2009), S. 13-41; Eig, Jonathan: »A Beautiful Mind(fuck): Hollywood Structures of Identity«, in: Jump Cut. A Review of Contemporary Media von 2003, http://www.ejumpcut.org/archive/jc46.2003/eig.mindfilms/index.html; Klecker, Cornelia: »Mind-Tricking Narratives: Between Classical and Art-

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geht es um Täuschungen der Zuschauer und die logische Verwirrung, die durch Paradoxa und Inkongruenzen erzeugt wird. Wie soll ein Film dieser Art Vertrauen in die Welt herstellen? Der spezielle Grund für meine Wahl von MEMENTO und INCEPTION ist der, dass diese Filme eine Art, sagen wir: intrikate Versuchsanordnung von Erinnerung und Ichidentität, einen Test auf die Idee der Wahrheit und ein Spiel von Traum und Wirklichkeit vorführen, das um die zentralen philosophischen Fragen kreist, ob und, wenn ja, wie die Sphären von Wahrheit und Falschheit bzw. Wirklichkeit und Traum überhaupt und vielleicht auch noch trennscharf zu unterscheiden sind. Seit Descartes verfolgt uns diese Frage, schon seit der griechischen Antike aber ist uns die begleitende philosophische Position gegenwärtig, nämlich der Skeptizismus. Wie können wir sicher wissen, dass das, was uns als wirklich erscheint, wirklich ist? Wie können wir sicher sein, dass wir nicht träumen? Diese philosophisch-epistemologische Frage verknüpft INCEPTION darüber hinaus mit dem kulturphilosophischen Motiv der Heimkehr, wie sie der abendländischen Tradition im Urbild der homerischen Odyssee vorgezeichnet ist. Heimat als Topos des Erzählens ist natürlich auch im Hollywoodfilm

Cinema Narration«, in: Poetics Today 34 (2013), S. 119-146. Was speziell Bucklands Begriff des »puzzle-film« betrifft, ist anzumerken, dass für ihn dieser Begriff die Steigerungsform des »einfachen« (simple) und »komplexen« (complex) Films ist: »not just complex, but complicating and perplexing« (Buckland, Puzzle Films (2009), S. 3). Von verschiedener Seite aber wird Buckland dafür kritisiert, dass er mit seiner Begriffsbestimmung des Rätsels nicht weniger vage ist als mit der des Komplexen (vgl. zusammenfassend: Kiss, Miklós/Willemsen, Steven: Impossible Puzzle Films: A Cognitive Approach to Contemporary Complex Cinema, Edinburgh: Edinburgh University Press 2016, S. 19f.). Dem theoretischen Potential des systemtheoretischen Verständnisses von Komplexität, das ich einleitend benutze, hat Maria Poulaki eine ausgebreitete Studie gewidmet: Poulaki, Maria: Before or Beyond Narrative? Towards a Complex Systems Theory of Contemporary Films, Unv. Dissertation: University of Amsterdam 2011.

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mächtig präsent7. Im Falle von INCEPTION aber erhält der Topos eine medial-selbstreflexive Wendung, die auf die Frage hinausläuft, ob nicht allein das Medium des Films traumanalog in der Lage ist, den Wunsch, nach Hause zu kehren, zu erfüllen, und damit gerade nicht wirklich zu erfüllen. Ob nicht mit anderen Worten der Film wie alle Kunst eine eigene Form der Wunscherfüllung ausbildet, eine praktische, vertrauensbasierte Form, die ihre skeptizistische Lektion gelernt hat.

M EMENTO ,

ODER GLAUBEN WILL

M AN

GLAUBT NUR , WAS MAN

Doch nähern wir uns zuerst MEMENTO. Auch dieser Film ist eine Demonstration in Sachen Skeptizismus. Wenn die angemessene Antwort dem Skeptizismus gegenüber nur sein kann, die Illusion sicheren Wissens durch eine Haltung des epistemischen Glaubens oder des Vertrauens zu ersetzen, zeigt MEMENTO einerseits die menschlich-allzumenschliche Gefahr dieser Haltung, nämlich die Selbsttäuschung auf, andererseits aber auch die Ambivalenz dieser Haltung, die, gerade in ihrer Ambivalenz, also wenn man sie nicht einseitig, sich selber täuschend auflöst, eine wie auch immer prekäre Lösung anbietet. MEMENTO erzählt die Geschichte eines Racheakts vom Ende her. Jede Sequenz erzählt ein Stück Vorgeschichte zur vergangenen. Das »und dann …, und dann …«, das die vertraute Art von Erzählen strukturiert, wird abgewandelt in ein »und davor …, und davor …«. Insofern bleibt die Kontinuität des Erzählens gewahrt, wird aber in der Richtung umgekehrt. Die Sequenzen zeigt der Film in Farbe, unterbricht und kompensiert sie allerdings gegenläufig mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die sich kontinuierlich mit den Farbaufnahmen abwechseln, schlicht der herkömmlich vertrauten Erzählstruktur folgen und – teilweise als Flashbacks des Protagonisten –

7

Vgl. Bronfen, Elisabeth: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Volk und Welt 1999; zum odysseeischen Erzählmotiv in Inception vgl. Lederle, Sebastian: »›Welcome home, Mr. Cobb!‹ Imaginäre Heimkehr und Skepsis in Christopher Nolans Inception« (unveröffentl. Man.).

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peu á peu das Hintergrund-geschehen, Andeutungen des wahren Geschehens freilegen8. Diese zwei (wenn man die Flashbacks als eigene Form hervorhebt: drei) Formen, erzählerisch-filmisch mit Zeit umzugehen, werden eingerahmt von der Erfahrungszeit des Zuschauers, für den der Film selbstverständlich einen Anfang und ein Ende hat. Zu Beginn sehen wir, wie der Protagonist Leonard einen Mann namens Teddy erschießt, am Ende wissen wir immerhin ziemlich genau, wie es dazu gekommen ist. Teddy nämlich konfrontiert Leonard allem Anschein nach (denn ganz sicher ist man in diesem Film nie) mit der Wahrheit, die darin besteht, dass er seine Rache an dem Mann, der seine Frau vergewaltigt und (angeblich) ermordet hat, bereits vollzogen, dass er dies aber wegen des traumatisch bedingten Verlustes seines Gedächtnisses vergessen hat. Bei dem Überfall auf ihn und seine Frau trifft ihn ein Schlag so heftig auf den Kopf, dass er zwar erinnern kann, was vor diesem Ereignis war, aber keine neuen Erinnerungen aufbauen kann; man nennt das eine ›anterograde Amnesie‹. So kann er sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr an das erinnern, worüber er mit Menschen soeben noch gesprochen hat. Er muss sich daher alles aufschreiben und mit Fotos den Menschen

8

Die Erzählstruktur lässt sich folgendermaßen schematisieren: Credits, 1, V, 2, U, 3, T, 4, S, 5…, wobei die Großbuchstaben für die Farbszenen, also die chronologisch umgekehrten Szenen stehen und die Zahlen für die chronologisch ablaufenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen, vgl. Klein, Andy: »Everything you wanted to know about Memento«, in: Salon vom 28.06.2001, https://www.salon.com/2001/06/28/memento_analysis. Der Filmkritiker Michael Althen weist darauf hin, dass Nolans retrogrades Erzählen, wiewohl in seiner Konsequenz einmalig, Vorläufer kennt in Harold Pinters Theaterstück Betrayal (1978), das 1983 als Film adaptiert wird (BETRAYAL (UK 1983, R: David Hugh Jones) in den männlichen Hauptrollen Jeremy Irons und Ben Kingsley), und in Martin Amis Roman Time‘s Arrow: or The Nature of the Offence (1991). Vgl. Alten, Michael: Alzheimers Wahn, in: FAZ vom 13.12.2001, http://michaelalthen.de/texte/themenfelder/filmkritiken/memento. Während bei Pinter im Hintergrund Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit steht, ist für Amis, wie für Nolans MEMENTO, die psychoanalytische Bedeutung des Traumas leitend.

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zuschreiben, die darauf abgebildet sind. Sehr wichtige Informationen graviert er als Tattoo in seinen Körper ein: »John G. hat meine Frau vergewaltigt und umgebracht.« Und spiegelverkehrt geschrieben: »Finde und töte ihn!«. Was Teddy angeht, glaubt Leonhard ihm nicht und notiert den folgenschweren Satz auf das Polaroidfoto, auf dem der sogenannte Kumpel abgebildet ist: »Glaube seinen Lügen nicht!« Damit sind die Weichen gestellt. Leonard wird Teddy nicht mehr glauben. Er stellt einen einmal niedergeschriebenen Satz nicht mehr in Frage. Denn er hält daran fest, muss daran festhalten, dass das, was er einmal aufgeschrieben hat, biblisch gesprochen: was geschrieben steht, ein Faktum ist. Das ist sein tragischer Fehler. Leonard entscheidet sich in dieser Szene – die am Ende des Films, also am Anfang der erzählten Geschichte steht, die also eine Ursache ist für das, was dann folgt – sogar bewusst für diesen Satz, obwohl er offenbar zumindest ahnt, dass Teddy recht haben könnte mit dem, was er sagt, nämlich dass Leonard nur das tue, was wir alle täten, nämlich die Augen vor unangenehmen Wahrheiten zu verschließen und einen Grund für das Weiterleben zu suchen. Leonard will Teddys Aussagen nicht glauben, brandmarkt sie als Lügen, weil er ahnt, dass damit seine eigene posttraumatische Lebenslüge ausgesprochen wird. So sieht man ihn in einer kurzen Erinnerungssequenz mit entblößtem Oberkörper zusammen mit seiner Frau. Überraschenderweise hat er dabei bereits Tätowierungen auf seiner Brust, so dass man sich fragen muss, ob diese wirklich eine Reaktion auf die Vergewaltigung und den Tod seiner Frau sind. Vielleicht ist sie gar nicht ermordet worden. Der Film zeigt, dass sie nach der Vergewaltigung noch lebte, und Teddy bestätigt das in seiner Erzählung. Der Film legt überdies nahe, dass Leonards Frau zuckerkrank war und dass sie durch eine Überdosis an Insulin gestorben ist, verabreicht durch Leonard selber, weil seine Frau testen wollte, ob seine Amnesie tatsächlich so weit führen würde, die eigene Frau zu töten, denn er weiß ja nach wenigen Minuten bereits nicht mehr, dass er ihr bereits eine Spritze gesetzt hat. Genauso, wie Leonard es in der Geschichte eines Mannes erzählt, den er, von Beruf Versicherungsagent, der Simulation eines Gedächtnisverlustes verdächtigte, der gleichen Krankheit, an der nun er selber leidet. Diese Parallelgeschichte von Amnesie kann also eine rationalisierende Erfindung Leonards sein, eine uneingestandene Variante seiner eigenen Geschichte.

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Wie kann man sich seiner selbst und seiner Welt versichern? Diese philosophische Frage spielt MEMENTO durch, indem der Film die klärende Kraft eines extremen Beispiels aufruft. Wie also kann man sich seiner selbst und seiner Welt versichern, wenn man nicht über ein funktionierendes Gedächtnis, das mentale Festhalten von Zeit und damit einer kontinuierlichen Ichidentität verfügt? Die praktische Antwort lautet: Indem man Bilder (Fotografien) von Personen und Gegenständen aufnimmt und sie mit Kommentaren beschriftet. Aber der Film zeigt zugleich, dass Kommentare Personen betreffend nicht ein für alle Mal genommen werden dürfen. »Das einzig Zuverlässige«, so sagt sich der Protagonist im Brustton empiristischer Überzeugung, »sind Fakten.« Aber der Film führt vor, wie leicht sie manipulativ verändert oder unglücklicherweise verwechselt werden können9. Wir schreiben etwas nieder und legen damit etwas – wie eine Wahrheit – fest. Eine Lehre aus MEMENTO aber müsste erneut sein, dass wir, wenn wir genötigt sind, etwas niederzuschreiben, dann in der Form eines Textes, in dem verschiedene Ansichten auftreten und um die Wahrheit konkurrieren. Es muss um eine fortlaufende und bewegliche Form der Selbst- und Weltversicherung gehen – wie bei einem ausführlichen Text, einem Roman oder eben einem Film bzw. einem Drehbuch. MEMENTO führt uns vor Augen, wie der Protagonist das Puzzle seiner Welt, verstreut in Fotos und Notizen auf seinem Hotelbett, zusammenzusetzen sucht wie ein Mosaik. Er erinnert uns dabei auch daran, dass es einer Menge Kleinarbeit, Geduld, kriminalistischen Scharfsinns und des glücklichen Zufalls bedürfte, um es so korrekt wie möglich zusammenzusetzen. Der Film entlässt uns also nicht nur im Zustand epistemologischen Zweifels, nahe der Verzweiflung an unserer Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit, sondern er bekräftigt auch die dahinter liegende, mit kantianischem Unterton ausgesprochene Idee der Wahrheit, oder die mit hegelianischem Unterton ausgesprochene These, dass das Wahre das Ganze ist – eine Idee allerdings, die nicht zu erfüllen ist (eben dies macht sie zu einer ›Idee‹), ein Ganzes, das nicht zu haben ist; ebenso notwendig wie

9

Bezeichnend etwa die mehrfache Verwechslung eines Autokennzeichens, bei dem in der englischen Schreibweise die 1 zu einem vertikalen Strich bzw. dem groß geschriebenen Buchstaben I wird und umgekehrt. So wird »SG13 7IU« zu »SGI3 7IU« und schließlich zu »SG13 71U«.

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unmöglich. Beides – die Notwendigkeit wie die Unmöglichkeit – bekräftigt der Film. Man könnte angesichts dieser Absurdität neufranzösisch oder postmodernistisch ein hohes Lied auf die Paradoxie anstimmen. Oder man könnte MEMENTO als ein demonstratives Beispiel deleuzescher »Zeitbilder« begreifen, die wegen ihrer Negation chronologischer und kausaler Linearität keine Unterscheidung mehr zulassen zwischen Wahrem und Falschem10. Das erscheint mir aber als ein mitunter lieb gewordenes intellektuelles Klischee. Deleuze scheint sich mehr als seine folgsamen Schüler bewusst, dass der Bereich jenseits des Wahren und Falschen derjenige der Fiktion ist, den die Philosophie, vorneweg die Ästhetik, seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur als Bereich des Trugs beschreibt, sondern auch als eines Eigenbereichs jenseits der Alternative von wahr und falsch. In der Wissenschaft spricht man dann von einer Hypothese, einer nicht als wahr geltenden, aber prinzipiell wahrheitsfähigen Aussage. Kant reserviert dafür den Begriff der Idee als eines Vernunftbegriffs, dem kein wirklicher, aber doch ein möglicher Gegenstand entspricht. Nietzsche und Heidegger betonen schließlich die Metapher als linguistisch-literarisches Medium der Fiktion, als »Eröffnung« oder »Erschließung« eines Wahrheitsfeldes, als Einführung neuer Kandidaten für wörtliche oder propositionale Wahrheit. Die »Wahrheit« der Kunst und der ästhetisch getragenen Philosophie ist demnach eine, die erst angedeutet ist, möglich erscheint, noch aussteht; eine – wenn es gut geht – kommende Wahrheit. Deleuze entspricht dem

10 Vgl. Clarke, Melissa: »The Space-Time Image: The Case of Bergson, Deleuze, and Memento«, in: The Journal of Speculative Philosophy, Vol. 16, No. 3, (2002), S. 167-181; kritisch dazu auch Hven, Steffen: Cinema and Narrative Complexity. Embodying the Fabula, Amsterdam University Press 2017, Kap. 7; Lyons, Diran, »Vengeance, the Powers of the False, and the Time-Image in Christopher Nolan’s Memento: A Note on Resentment at the Beginning of the New Millennium«, in: Angelaki 11 (2006), S. 127-135; Cole, David R./Bradley, Joff P.N.: A Pedagogy of Cinema, Rotterdam: Sense Publishers 2016, S. 104-108.; Zahn, Manuel: »Memento. Zur Zeitlichkeit des Films und seiner bildenden Erfahrung«, in: Gerhard Chr. Buckow/Johannes Fromme/Benjamin Jörissen (Hg.), Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, Wiesbaden: VS-Verlag 2012, S. 67-100.

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mit der Auszeichnung der Philosophie als einer Art Science Fiction, die sich im Zwischenbereich von – wohlgemerkt – Wissen und Nichtwissen bewegt11. Dieser dritte Bereich ist der interessanteste, denn hier findet produktives Denken, »revolutionäre Wissenschaft« (Thomas Kuhn), die Erfindung des Neuen statt. Diesen Zwischenbereich möchte ich nun auch hervorheben, wenn ich an die alltägliche Praxis des Vertrauens erinnere. Vertrauen nennen wir in diesem Zusammenhang eine Einstellung, die uns angesichts verschiedener Optionen (wir könnten uns für dies entscheiden oder für etwas anderes) und in intersubjektiv-kooperativer Orientierung (Vertrauensbeziehungen spielen sich in sozialen Praktiken ein) davon ausgehen lässt, dass etwas, das für uns wünschenswert ist, eintreten wird, ohne dass wir mit Gewissheit vorhersagen können, dass es eintreten wird12. Vertrauen heißt immer, so tun als ob. Da uns kein sicheres Wissen über das Resultat unseres Handelns gegeben ist, wir aber handeln müssen, müssen wir so tun, als hätten wir so ein Wissen. Anders würden wir nicht handeln. Ein Film wie MEMENTO lässt uns dann auf verunsichernde Weise erfahren, dass das Vertrauen in die Welt und der Glaube an Gewissheit unzuverlässig sind, sogar extrem unzuverlässig sein können, dass wir aber als handelnde Wesen so tun müssen, als ob sie zuverlässig wären. Auch Handeln heißt insofern immer, so tun als ob, was aber nicht bedeutet, dass es nur durch dieses fiktionale Element gekennzeichnet ist. Wir tun tatsächlich etwas, wenn wir etwa ein Fenster öffnen, um frische Luft in ein Zimmer zu lassen. Aber wir würden es nicht tun, wir würden nicht beginnen, es zu tun, wüssten wir im Vorhinein, dass das Resultat unseren praktisch eingespielten Erwartungen hart entgegenstehen wird und das Fenster beim Versuch, es zu öffnen, aus dem Rahmen fällt. Diese Thematik verbindet MEMENTO in der Tat mit der der Zeit, aber anders, als die Deleuze-Schule es gerne sähe. Zu Beginn des Films, wir sind noch im Intro, flappt jemand ein eben belichtetes Polaroid hin und

11 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 13f.; zum Begriff der Fiktion vgl. Früchtl, Vertrauen in die Welt, (2013), S. 22ff. (Trust in the World (2018), S. 12.) 12 Hartmann, Martin: Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 56.

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her. Es zeigt kurz einen blutüberströmten Menschen, dann verblasst die Farbe, das Bild wird heller, schließlich wieder so unbelichtet weiß, wie es einmal war, bevor es schließlich in die Fotokamera zurückgesaugt wird. Entsprechend fliegt die Kugel wieder aus dem Kopf der Leiche heraus zurück in die Waffe. Diese Szene erscheint als das Motto des gesamte Films: »Eine Tat ist ungeschehen gemacht durch die Umkehr der Zeit.« 13 Der Film kann uns vor Augen führen – erfahren lassen –, wozu wir in der alltäglichen Praxis nicht in der Lage sind: ein Geschehen ungeschehen machen. Indem er die Zeit des Erzählens umkehrt, versucht MEMENTO etwas Vergleichbares. Auch er kann das Geschehen, den Mord, nicht ungeschehen machen, aber es ist, als wolle er genau das; als wolle er mit jedem neuen Bild das vorhergehende auslöschen, bis die Zuschauer am Ende schließlich verschwinden in der Blackbox der eigenen Erinnerung, der aus Überlebensgründen selektiv aufgespeicherten Zeit, aus dem das Handeln seinen Ausgangspunkt nimmt. Wie die Hauptfigur versuchen auch wir permanent, uns an das zu erinnern, was wir soeben gesehen haben. Am Ende des Films können wir uns nicht mehr (genau) erinnern an das, was wir gesehen und erfahren haben, und so wollen wir ihn, wenn auch widerwillig, noch einmal sehen. Der Film ermöglicht uns auf diese Weise nicht nur eine Analogerfahrung von Amnesie, sondern eine ontologische Erfahrung. Überhaupt liegt die Stärke des Films in seiner Erfahrungsqualität. Die Umkehrung der Zeit impliziert eine Irrealisierung des ausgeführten Handelns. Es ist, als ob der Protagonist – und der Zuschauer mit ihm – nicht gehandelt hätte. Es ist, als ob es diese Welt nicht gegeben hätte.

I NCEPTION , ODER W ELCOME W ELCOME HOME ?

HOME !

In INCEPTION präsentiert Nolan dieses Thema in einer anderen Variation. Der Film ist ein Thriller aus dem Bereich des Big Business, verwoben mit einem Psychodrama, unter der Science-Fiction-Bedingung des ›dream

13 Worthmann, Merten: »Ich bin, der ich war. Aber wer war ich?«, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 13.12.2001, https://www.zeit.de/2001/51/Ich_bin_der_ich_war_Aber_wer_war

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sharing‹. Der Protagonist des Films, ›Dom‹ Cobb, ist ein Spezialist in der Beeinflussung des Bewusstseins anderer durch gemeinsames Träumen. Während eines inszenierten Traums werden entweder ökonomisch wertvolle Informationen aus dem Unbewussten des Opfers gestohlen – man nennt das ›extraction‹ – oder umgekehrt ein Gedanke in das Unterbewusstsein des Opfers eingepflanzt – die sogenannte ›inception‹. Cobb wird zu diesem Zweck von einem japanischen Unternehmer, Saito, angeheuert, um eine weitreichende Entscheidung von dessen größtem Konkurrenten eigengünstig zu beeinflussen. Gelingt der Auftrag, darf der Protagonist nach Hause zurückkehren und seine Kinder wiedersehen. Denn da man ihn des Mordes an seiner Frau verdächtigt, musste er fliehen. Der Tod seiner Frau war aber vielmehr ein tragisches Unglück. Mit ihr zusammen hat er das Phänomen des luziden Träumens zu einer Technik ausgebaut, bei der einige wenige Stunden der Realzeit den Träumenden als Jahre erscheinen, während derer sie nach Belieben, aufbauend auf ihren gemeinsamen Erinnerungen, eine Welt konstruieren können. Als sie aus diesem Traum wieder erwachen, will die Ehefrau nicht akzeptieren, dass sie nicht mehr in einem Traum sind. Ihr Sturz aus einem Fenster wird dadurch zu einem Suizid, und nachdem sie vorher gewisse Dokumente hinterlegt hat, erscheint ihr Ehemann, Cobb, als Mörder. Die Manipulation von Saitos Konkurrent gelingt – INCEPTION läuft hier in der Tradition des Actionkinos zu Hochform auf, indem der Film das parallel ablaufende Geschehen auf vier Traumebenen in unterschiedlichen Zeitformaten vorführt und dabei Edith Piafs berühmtes Lied Non, je ne regrette rien (1960) für das exakte, daher wiederum unterschiedlich gedehnte Timing des übereinander gelagerten Träumens verwendet –, und Cobb kann am Ende seine Kinder in die Arme schließen. INCEPTION spielt die Frage nach der Wirklichkeit am Gegenbegriff des Traums durch. Speziell ist ihm am sogenannten Klartraum oder dem luziden Träumen gelegen, dem Phänomen also, dass man als Träumender weiß, dass man träumt, und dass man einen Traum daher auch bewusst lenken kann. Dieses Phänomen wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben und, heutzutage in sogenannten Schlaflabors, manchmal auch in Kontaktsuche mit buddhistischen Meditationspraktiken, erforscht. INCEPTION weidet das paradox anmutende Faszinosum des wachen Träumens genüsslich aus. Denn als Film kann er wieder einmal zeigen, was ein

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Film und nur ein Film alles kann, nämlich alles, was gedacht und imaginiert werden kann, in realistische Bilder zu überführen. Das ist ein Genuss nicht nur für Cineasten, sondern auch für radikale Konstruktivisten. Im luziden Traum erfüllt sich wie im digital animierten Kino der Traum des radikalen Konstruktivismus, Objektivität vollständig durch Subjektivität zu ersetzen. Was wir Welt nennen, ist eine jeweils subjektive Schöpfung. Paris gilt als eine elegante, sich in blassen Farben stolz präsentierende Stadt. Aber im Film kann ich sie wie im Traum zusammenklappen lassen wie einen grauen Eierpappkarton. INCEPTION fügt dem Phänomen des luziden Träumens aber ein Element hinzu, das weit über die bis dato verfügbare empirische Forschung hinausgeht, nämlich das sogenannte ›dream sharing‹. Während man von der Antike bis in unsere Gegenwart davon ausgeht, dass wir nur im Wachen eine gemeinsame Welt haben, im Schlaf und Traum dagegen nur eine private Welt14, ebnet INCEPTION diesen Unterschied ein. Das hat natürlich eine weitreichende ontologische und epistemologische Konsequenz. Wenn es möglich ist, gemeinsam zu träumen, in einem Traum gemeinsam zu agieren, können wir den Traum nicht mehr von der (Wach-)Wirklichkeit unterscheiden. INCEPTION selber führt als neues Unterscheidungsmerkmal das sogenannte Totem ein, ein kleines Objekt, dessen unterscheidende Bedeutung nur dem Besitzer bekannt ist. Im Falle Cobbs ist es ein Kreisel: dreht er sich ins Unendliche fort, ist Cobb in einem Traum, genauer gesagt im Traum eines anderen; fällt er, ist Cobb nicht im Traum eines anderen, wohl aber möglicherweise in seinem eigenen Traum, also nicht notwendigerweise in der (Wach-)Wirklichkeit. Die (Un-)Unterscheidbarkeit von Traum und Realität erhält einen zusätzlichen Reiz, wenn man sie mit der zwischen Film und Realität parallelisiert. INCEPTION bietet das mehrfach an. Gemeinsam zu träumen ist demnach eine Beschreibung, die sich für die sogenannte Traumfabrik des Kinos wörtlich anbietet. Wir sitzen zusammen mit anderen im Kinosaal und

14 Vgl. im Rückgriff auf antike Quellen die Formulierung Kants aus der Anthropologie und den Träumen eines Geistersehers: Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg: Meiner 1999.

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tauchen (mental und psychologisch) ein in die Traumwelt auf der Leinwand. Aber diese Parallele hat ersichtlich eine Grenze. Wir wissen in der Regel sehr wohl, in welcher Welt wir uns raumzeitlich, also wirklich befinden. Ein anderer Aspekt erhält nun aber eine noch größere Dringlichkeit. Eine Traumfabrik nennt man das Kino ja auch deshalb, weil es, so die psychologisch-politische Kritik, Gedanken in das Unbewusste der Rezipienten einzupflanzen und durch diese geschickte Manipulation ideologisches Bewusstsein zu erzeugen vermag. Wenn dem Kino dies gelingt, verschwindet, der klassischen Kritischen Theorie zufolge, der letzte Rest an Negativität aus dem affirmativen Charakter, der der bürgerlich-autonomen Kunst zu eigen ist. Verfällt INCEPTION diesem Urteil? Die Frage, wie man einen Gedanken (»an idea«) in einen anderen Kopf bekommt, ist eine Grundfrage der Philosophie, der Pädagogik und der Psychologie, vor allem, wenn man damit politische, konsumästhetische und überhaupt instrumentelle Motive verbindet. INCEPTION bedient sich bekannter psychoanalytischer Theoreme wie der Verdrängung und des Ödipuskonflikts, um so eine Einpflanzung zu erklären. So nutzt das Team um Cobb die schlechte Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn des Konkurrenzunternehmens von Saito, um dem Sohn eine entsprechende Lösung dieses Beziehungsproblems einpflanzen zu können. Der lösende und erlösende Gedanke muss so erscheinen, als habe ihn der Sohn autonom gewonnen. Die beste Manipulation ist die, die nicht durchschaut wird; und sie wird nicht durchschaut, wenn sie aufgeht in der subjektiven Überzeugung des Objekts der Manipulation. Die beste Manipulation ist die, an die geglaubt wird wie an einen eigenen Gedanken; als wäre sie hervorgegangen aus einem eigenen Gedanken; als wäre der Akt der Heteronomie hervorgegangen aus der Autonomie der Person, die man manipuliert. Übertragen auf die Ebene des Films und der Zuschauer, finden wir uns als Objekte der »inception« wieder. Auf welche Weise versucht der Film uns ein mentales Samenkorn einzupflanzen? Welchen Gedanken, welches Gedankenexperiment möchte er attraktiv machen? Philosophisch müsste die Antwort wohl lauten: Der Film versucht dies dadurch, dass er eine Erfahrung auslöst, also die epistemischen Elemente der Erfahrung – Affek-

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tion, Perzeption, Imagination, Kognition und alles miteinander verbindende Emotion15 – individuell verdichtet. Eine Konzeption des Films, die ihn primär als Erfahrung begreift, macht in diesem Kontext noch einmal klar, dass sein narrativer Gehalt nie allein durch das kognitive Element analysiert werden kann. Aber diese Antwort ist selbstverständlich nicht spezifisch genug. Spezifisch wird sie, wenn wir INCEPTION vom Ende her betrachten. Die metanarrativ erschließende Szene ist in INCEPTION nicht, wie in MEMENTO, die einführende, sondern die abschließende. »I’m asking you to take a leap of faith« sagt Cobb am Ende zu Saito auf der tiefsten Ebene des Traumgeschehens, einer Ebene, die der Film »Limbus« (»limbo«) nennt, wohl in Anlehnung an die katholische Theologie, wiewohl er dort einen Ort am »Rand« (lateinisch »limbus«) der Hölle bezeichnet, die populär sogenannte Vorhölle. In der Philosophie hat Kierkegaard für diesen Sprung argumentiert, also Gründe dafür gegeben, weshalb man eine Grenze des Begründens erreicht, an der man in den Bereich des Glaubens hinüberspringen muss. Diesen Sprung vollziehen im Film nun die beiden Akteure, und mit ihnen müssten ihn die Zuschauer vollziehen. Es ist der Sprung in die Wirklichkeit oder das, was man dafür hält, in der Cobb mit Hilfe Saitos endlich nach Hause kehren möchte. Der Tod ist dabei hilfreich. In einem Traum zu sterben, heißt in der Wachwirklichkeit, manchmal aber auch bloß in einem anderen Traum, also einer anderen Wirklichkeit aufzuwachen. So greift Saito nach dem Revolver auf dem Tisch, auf dem sich auch Cobbs Kreisel endlos dreht. Ein filmischer Schnitt versetzt uns jäh in eine andere Welt. Cobb schlägt seine blauen Augen auf. Er sitzt wieder im Flugzeug, dort, wo der manipulative Akt mit Hilfe der Technik des ›dream sharings‹ gestartet wurde. Er schaut etwas ungläubig um sich. Seine Crew ist da. Auch Saito ist da, der sogleich zum Telefon greift und, so dürfen wir annehmen, den für Cobb entscheidenden Anruf tätigt. In der folgenden Szene nähert sich Cobb bereits dem Einreisebeamten, der seinen Pass prüft. »Welcome home, Mr. Cobb!« lauten die erlösenden Worte. Cobb scheint dies alles nicht glauben zu können. Er bewegt sich wie in

15 Vgl. Früchtl, Josef: »Communicating Emotions. On the Rationality of Aesthetic Judgements«, in: Beate Söntgen/Stephanie Marchal (Hg.), Judgement Practices in the Artistic Field (erscheint 2019).

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einem Traum, in einer schwebenden und gebremsten Zeitlichkeit, getragen von orchestraler Musik, Synthesizer-Sounds, von Leiden durchwoben, aber doch zunehmend feierlich. In der letzten Szene steht er dann in seinem Heim. Immer noch unsicher wirkend, lässt er sein Totem auf einem Tisch kreisen, lässt sich aber sogleich davon ablenken, als seine Kinder ihn freudestrahlend begrüßen. Die Kamera schwenkt noch einmal zurück auf den Kreisel. Er dreht sich noch immer, scheint ein klein wenig zu wackeln, aber just hier erfolgt der abschließende Schnitt. Der Film ist zu Ende. Dieses Ende ist wie ein Kick, der die Zuschauer schlagartig in ihre Alltagsrealität zurückbefördert. Um aus einem Traum zu erwachen, bedient sich Cobbs Spezialistengruppe jeweils eines ›Kicks‹, etwa des Gefühls zu fallen oder in kaltes Wasser einzutauchen. Der finale ›Cut‹ hat für die Zuschauer dieselbe Funktion. Er befördert uns hart in den Zustand der Ungewissheit, denn von der Antwort auf die Frage, ob der Kreisel fällt oder nicht, werden wir kurzerhand abgeschnitten. Das Kriterium, das uns Sicherheit geben könnte, kann seine Funktion nicht erfüllen. Und so wissen wir im strengen Sinn nicht, ob Cobb tatsächlich in der Wachwirklichkeit angekommen ist oder (nur) in einer neuen, nämlich seiner eigenen Traumwirklichkeit. Es gibt Indizien für die eine wie für die andere These16.

16 Akribische Analysten wollen allerdings herausgefunden haben, dass Cobbs eigentliches Unterscheidungstotem zwischen Traum- und Wachwirklichkeit der Ehering ist: in allen Traum-Szenen trage er ihn, in der Schlussszene – man muss sehr genau hinsehen – nicht. Außerdem sei die Körperhaltung der spielenden Kinder im Vergleich zu vorhergehenden Szenen, in denen man sie ebenfalls kurz sehen kann, leicht verändert. Und zum ersten Mal drehen sie sich am Ende mit dem Gesicht ihrem Vater zu (vgl. N.N.: »RevolvingDoorProject – Inception: Wait…What happened?«, in: Inception Ending, o.J., http://www.inceptionending.com/theory/revolvingdoorproject-inception-waitwhat-happened/. Etwas anders geartet ist die Interpretation, dass Cobb sich gegen Ende des Films ruhigen Gewissens endlich von seiner toten Frau verabschiedet und daraufhin aufhört, den Ehering zu tragen, in der Traum- wie in der Wachwirklichkeit (vgl. De Benedetti, Luca: »Inception: The Theory of the Ring. An Analysis of the Real Story Told by Nolan’s Movie and a Different

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Aber wir können nicht umhin, letztlich zuzugeben, dass wir uns, philosophisch gesprochen, im Zustand des nüchternen Skeptizismus wiederfinden. Und dafür bietet Stanley Cavell eine wie ich meine überzeugende Lösung an. Sie lautet, dass wir nicht nur in der Nachfolge berühmter Philosophen wie Hume, Kierkegaard, Heidegger und Wittgenstein einen Sprung in eine nicht-theoretische Gewissheit tun sollten, sondern dass der Film in dieser Hinsicht ein nützliches Modell liefert. Denn jeder Film beweist aufs Neue, dass wir als Zuschauer von seiner Wirklichkeit durch eine ontologische Differenz, durch ein anderes raumzeitliches Koordinatensystem und deshalb auch durch Handlungsentzug, ausgeschlossen sind, dass wir diese Wirklichkeit aber mental und affektiv wahrnehmen, als wären wir nicht fundamental von ihr getrennt. Das ›Als ob‹ ist ausschlaggebend. So akzeptieren wir mit jedem Kinobesuch und jedem Home Movie die Haltung, dass wir den Skeptizismus theoretisch-beweisend nicht widerlegen, sondern ihm nur praktisch-vertrauend begegnen können. Ohne viel Aufhebens darum zu machen, leben wir die prekäre, immer von Unsicherheit bedrohte Sicherheit, die wir (nicht religiösen) Glauben oder, weniger missverständlich, Vertrauen nennen. Freilich gibt es auch Vorbehalte gegen den Film INCEPTION. So weitet er gewiss das Phänomen des luziden Träumens gedankenexperimentell aus und präsentiert sich insofern als Science-Fiction-Film, aber er bleibt doch einem althergebrachten Modell von ›science‹ verhaftet. Die Rationalität, die er anpreist, ist letztlich nicht die einer anderen, traumhaften Ordnung. Vielmehr geht es ihm um die Erweiterung der dominanten kausallogischen Ordnung. Und darin folgt er einer häufig uneingestandenen, aber doch generellen Intention der Traumtheorie17. Von daher auch der zwar actiongeladene, aber doch biedere Surrealismus von INCEPTION. In den Traumwelten dieses Films dehnt sich zwar die Zeit in ungeheuerer und

Vision of the Ending«, in: Felix vom 18.02.2013, http://felixonline.co.uk/articles/2013-1-18-inception-the-theory-of-the-ring/ 17 Eine Traumrealität, die man zu manipulieren lernen kann, vergrößert den Radius der Wachwirklichkeit. Es geht letztlich um ein auf Einheit abzielendes Wirklichkeitsverständnis (Gehring, Petra: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt/New York: Campus 2008, S. 236f.).

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fantastischer Weise, beschleunigt sich und verlangsamt sich, aber ansonsten bleibt alles beim Altvertrauten. Er bietet weder einen bedrohlich verunsichernden, bilderaffektiven Surrealismus à la David Lynch noch einen rätselhaften, existentialistischen (und komischen) Surrealismus à la Luis Bunuel. Die Komplexität von INCEPTION ist durchschaubar. Die Stärke des Films liegt auf einer anderen Ebene, nämlich derjenigen des pragmatistisch und ästhetisch aufgelösten Skeptizismus. Realität ist keine Sache theoretischer Sicherheit. Sie ist aber auch nicht schlicht eine Sache des Glaubens.18 Real ist nicht einfach das, woran wir glauben, sondern das, woran zu glauben wir mental genötigt sind. Aufgrund seiner physischen Verletzung, seines Traumas und der daraus folgenden Selbsttäuschung, kann der Protagonist aus MEMENTO nicht anders, als seiner Realität zu folgen. Aus der Außenperspektive können wir diese Verknotung mit guten Gründen kritisieren, aber auch wir müssen uns klar machen, dass wir unserer Gründe und der entsprechenden Hintergrundtheorie (›backing‹) nicht absolut sicher sein können. Es erscheint uns nur ›for the time being‹ als das beste, überzeugendste, am wenigsten anfechtbare Modell. Realität ist also – eine exaktere Definition – dasjenige, woran zu glauben wir mental, das heißt nun aus guten Gründen genötigt sind, und gut sind Gründe, sofern sie intersubjektiv nachvollziehbar sind, denn nur dann reagieren sie adäquat auf die Widerstände in unserer Erfahrung, die Unterschiede (»Qualia«), Ungereimtheiten und Widersprüche, und legen sich diese Widerstände nicht willkürlich zurecht. Real ist, woran zu glauben wir aus intersubjektiv beglaubigter Erfahrung genötigt sind19. Und diese

18 Das ist der Irrtum von Rennett, Michael: »Plugging in to the Experience Machine«, in: Thorsten Botz-Bornstein (Hg.), Inception and Philosophy: Ideas to Die for, Chicago: Open Curt Publishing Company 2011, S. 63-64. 19 Diese Definition von Realität kann sich einer breiten philosophischen Tradition versichern. Sie reicht, um nur einige prominente Vertreter zu nennen, von Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1998 (mit dem Realen als sinnlich und begrifflich konstituierten Gegenstand) und Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, 4.Aufl. Berlin: Holzinger 2015 (der methodisch ausgearbeiteten »Erfahrung«, die das Bewusstsein mit seinem Anderen macht) über Dewey, John: Kunst als Erfahrung, 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 (Kapitel 1) und Lewis, Clarence Irving: Mind

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sanfte, stets von Unsicherheit begleitete Nötigung nennen wir schließlich in der Alltagspraxis Vertrauen. Wir vertrauen, solange wir in einer bestimmten Situation keinen Grund haben, der gegen das Vertrauen spricht. Die besondere Leistung der Kunst und des ästhetisch gelungenen Films besteht dann darin, Realität als (holistische) Erfahrung, mit anderen Worten Realität in ihrer Komplexität zu präsentieren, statt sie, wie die Wissenschaft, auch die Komplexitätsforschung, zu analysieren. Nichts ist komplexer als die Realität einer Lebenswelt. In den Worten von Marcel Proust: »Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten« – die Philosophie des Geistes würde sagen: mit Qualia – »angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen, die uns« – man muss es betonen – »gleichzeitig umgeben – eine Beziehung, die bei einer einfachen kinematographischen Wiedergabe verlorengehen würde«20 bei einer komplexen allerdings, so dürfen wir hinzufügen, wiedergefunden werden könnte. Erinnern wir uns abschließend noch der einprägsamen Definition von Niklas Luhmann, der zufolge Vertrauen die soziale Funktion der »Reduzierung von Komplexität« innehat21. Wir haben Vertrauen und wir haben Vertrauen nötig, weil das, was unsere Welt, unseren Lebens- und Bedeutungszusammenhang ausmacht, sich als ein Netzwerk unkontrollierbarer Komplexität darstellt, in dem zu jedem beliebigen Zeitpunkt sehr verschiedene Ereignisse stattfinden können. Leben aber heißt, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu handeln, und Vertrauen schafft Handlungsmöglichkeiten,

and the World-Order. Outline of a Theory of Knowledge, New York/Chicago/Boston: Scribner’s 1929 (mit der terminologischen Bestimmung von Qualia) bis zu Lacan (real ist, was der Symbolisierung und Imaginierung absoluten Widerstand entgegensetzt). – Den Hinweis auf Lewis verdanke ich Stefan Niklas. 20 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 10: Die wiedergefundene Zeit, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 3966. 21 Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Lucius & Lucius 2000 [1968].

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indem es aus guten Gründen Unsicherheiten beiseite schiebt. Kinematografisch komplexe Geschichten zu erzählen oder besser zu präsentieren, bedeutet, so könnte man dann meinen, die Komplexität zu erhöhen und dem Vertrauen in unser Weltverständnis entgegen zu wirken. Aber richtiger ist es zu sagen, dass solche Filme ein Test sind auf das Wiedergewinnen und damit die Bestärkung von Vertrauen. Diese Art des Erzählens ist (nur) eine reflektierte Form dessen, was der Film – wie alle Kunst – generell tut, nämlich eine Welt, d.h. Bedeutung – einen unendlichen, offen holistischen, nur in Evidenzerfahrungen zu konfigurierenden Bedeutungszusammenhang – zugleich aufzubauen und zu entziehen, zu ›dekonstruieren‹. Die Ambivalenz des Als-ob, die aller Kunst zu eigen ist, wird in solchen Filmen noch einmal zu einer exhibitionistischen Geste gesteigert. INCEPTION bestärkt unser Weltvertrauen, weil der Film sich von der theoretischen Widerlegung des Skeptizismus und der Fixierung auf sicheres Wissen gleichgültig abwendet. Wir sollten Cobb am Ende als Vorbild sehen und den Kreisel nicht weiter beachten.

L ITERATUR Alten, Michael: »Alzheimers Wahn«, in: FAZ vom 13.12.2001, http://michaelalthen.de/texte/themenfelder/filmkritiken/memento/ Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg: Meiner 1999. Bronfen, Elisabeth: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Volk und Welt 1999. Buckland, Warren (Hg.): Puzzle Films: Complex Storytelling in Contemporary Cinema, Oxford: Wieley-Blackwell 2009. Cameron, Allan: Modular Narratives in Contemporary Cinema, London: Palgrave Macmillan 2008. Lewis, Clarence Irving: Mind and the World-Order. Outline of a Theory of Knowledge, New York/Chicago/Boston: Scribner’s 1929. Clarke, Melissa: »The Space-Time Image: the Case of Bergson, Deleuze, and Memento«, in: The Journal of Speculative Philosophy, Vol. 16, No. 3, (2002), S. 167-181.

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Cole, David R./Bradley, Joff P.N.: A Pedagogy of Cinema, Rotterdam: Sense Publishers 2016. De Benedetti, Luca: »Inception: The Theory of the Ring. An Analysis of the Real Story Told by Nolan’s Movie and a Different Vision of the Ending«, in: Felix vom 18.02.2013, http://felixonline.co.uk/articles/ 2013-1-18-inception-the-theory-of-the-ring/ Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992. Dewey, John: Kunst als Erfahrung, 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Eig, Jonathan: »A Beautiful Mind(fuck): Hollywood Structures of Identity«, in: Jump Cut. A Review of Contemporary Media von 2003, http://www.ejumpcut.org/archive/jc46.2003/eig.mindfilms/index.html Elsaesser, Thomas: »The Minde-Game Film«, in: Warren Buckland, Puzzle Films (2009), S. 13-41. Früchtl, Josef: »Communicating Emotions. On the Rationality of Aesthetic Judgements«, in: Beate Söntgen/Stephanie Marchal (Hg.), Judgement Practices in the Artistic Field (erscheint 2019). Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films, München: Fink 2013; englischsprachige Version: Trust in the World. A Philosophy of Film, übers. v. Sarah Kirkby, New York/London: Routledge 2018. Gehring, Petra: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt/New York: Campus 2008. Hartmann, Martin: Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, 4. Aufl. Berlin: Holzinger 2015. Hven, Steffen: Cinema and Narrative Complexity. Embodying the Fabula, Amsterdam University Press 2017. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1998. Kiss, Miklós/Willemsen, Steven: Impossible Puzzle Films: A Cognitive Approach to Contemporary Complex Cinema, Edinburgh: Edinburgh University Press 2016. Klecker, Cornelia: »Mind-Tricking Narratives: Between Classical and Art-Cinema Narration«, in: Poetics Today 34 (2013), S. 119-146.

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Klein, Andy: »Everything you wanted to know about Memento«, in: Salon vom 28.06.2001, https://www.salon.com/2001/06/28/memento_an alysis/ Küppers, Günter: Chaos und Ordnung. Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, Stuttgart: Reclam 1996. Lederle, Sebastian: »›Welcome home, Mr. Cobb!‹ Imaginäre Heimkehr und Skepsis in Christopher Nolans Inception« (unveröffentl. Man.). Lorenz, Edward N.: »Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil Set Off a Tornado in Texas?«, Vortrag auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science vom 29.12.1972, http://static.gymportalen.dk/sites/lru.dk/files/lru/132_kap 6_lorenz_artikel_the_butterfly_effect.pdf Luhmann, Niklas: »Komplexität«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co 1976, S. 939-942. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Lucius & Lucius 2000 [1968]. Lyons, Diran, »Vengeance, the Powers of the False, and the Time-Image in Christopher Nolan’s Memento: A Note on Resentment at the Beginning of the New Millennium«, in: Angelaki 11 (2006), S. 127-135. N.N.: »RevolvingDoorProject – Inception: Wait…What happened?«, in: Inception Ending, o.J., http://www.inceptionending.com/theory/revolvingdoorproject-inception-wait-what-happened/ Poulaki, Maria: Before or Beyond Narrative? Towards a Complex Systems Theory of Contemporary Films, Unv. Dissertation: University of Amsterdam 2011. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 10: Die wiedergefundene Zeit, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Rennett, Michael: »Plugging in to the Experience Machine«, in: Thorsten Botz-Bornstein (Hg.), Inception and Philosophy: Ideas to Die for, Chicago: Open Curt Publishing Company 2011, S. 53-64. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2008 [1923]. Wellek, Albert: »Komplex«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K (1976), S. 936.

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Worthmann, Merten: »Ich bin, der ich war. Aber wer war ich?«, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 13.12.2001, https://www.zeit.de/2001/51/Ich_bin_der_ich_war_Aber_wer_war Zahn, Manuel: »Memento. Zur Zeitlichkeit des Films und seiner bildenden Erfahrung«, in: Gerhard Chr. Buckow/Johannes Fromme/Benjamin Jörissen (Hg.), Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, Wiesbaden: VS-Verlag 2012, S. 67-100.

F ILME ABRE LOS OJOS (E/F/I 1997, R: Alejandro Amenábars) BEING JOHN MALKOVICH (USA 1999, R: Spike Jonze) BETRAYAL (UK 1983, R: David Hugh Jones) DONNIE DARKO (USA 2001, R: Richard Kelly) ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004, R: Michel Gondry) FIGHT CLUB (USA 1999, R: David Fincher) INCEPTION (USA 2010, R: Christopher Nolan) LOLA RENNT (D 1997, R: Tom Tykwer) LOST HIGHWAY (USA 1997, R: David Lynch) MEMENTO (USA 2000, R: Christopher Nolan) MULHOLLAND DRIVE (USA 2001, R: David Lynch) PULP FICTION (USA 1994, R: Quentin Tarantino) VANILLA SKY (USA 2001, R: Cameron Crow)

Am Nullpunkt der Dinge Hollywood und das neue Weltdesign M ARTIN G ESSMANN

I. Hollywood im Zeitalter des Post-Cinema: die Ausgangsfrage war, was bleibt. Die klassische Herangehensweise an die Frage sieht wohl so aus, dass man zuerst von den medialen und technischen Veränderungen ausgeht – gut kulturtheoretisch gedacht und noch im Sinne des Konstruktivismus, kann das nicht falsch sein. Dann folgt man etwa Friedrich Kittler und versteht, dass sich mit den neuen Formaten der Streamingdienste vor allem die Erzählformen ändern. Nicht mehr der abendfüllende Spielfilm ist das Ausgangsmodell, sondern die Fortsetzungsgeschichte, die mit Längen von 30 bis 60 Minuten arbeitet. Bekannte Umstellungen sind die Folge: wir haben es mit einer gespaltenen Zielführung zu tun, d.h. nicht mehr einem einzigen, übersichtlichen und durchgängigen Spannungsbogen, sondern vielen kleinen, die episodenweise funktionieren müssen und überwölbt werden von einem übergeordneten Gesamtplot. Auswirkungen hat das dann etwa bei der Charakterformung des Personals: nicht mehr Held(in) oder Hauptperson ist die interessanteste, weil komplexeste, es sind vielmehr die Nebencharaktere, die auf unstete Weise auf- und auch wieder abtauchen können. Eben weil sie sensibler und radikaler auf Umstände reagieren können, schillern sie so oder anders, je schlaglichtartiger das Licht der Aufmerksamkeit auf sie fällt. Eine lange Reihe von Veränderungen schließt an jenen Strukturwandel an, neue künstlerische Kurz-

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und Kürzestformen entstehen, so die übliche Zusammenfassung am Anfang einer jeden neuen Folge, die resümiert, was bisher geschah. Künstlerisch können solche Resümees leicht werden, je besser es gelingt, die Anmoderation des Folgenden im Lichte des Vergangenen möglichst unausdrücklich zu halten, und am besten sogar ganz zum Verschwinden zu bringen. Im Reflex kurzer, neuer Ereignisse, die dazuhin möglichst trivial erscheinen, lassen sich dann vorangegangene Episoden und ihre Plots wieder ins Gedächtnis bringen. Die Literaturwissenschaft ist dabei, solche Umstellungen und Neuerungen zu entdecken und zu schätzen. Leitfaden der Forschung dürfte dann sein, dass wir schon einmal in der Literaturgeschichte mit einer vergleichbaren, durch Medienwechsel inspirierten Fortschreibung des Genres zu tun hatten. Eben als im frühen 19. Jahrhundert die Zeitungen damit begannen, Fortsetzungsromane zu drucken und sich wie heute in Hollywood zum ersten Mal Autorenteams daran machten, die Anforderung hebdomadären oder vierzehntäglicher Folgenproduktion im Schreibakkord zu bedienen. Alexandre Dumas und Eugène Sue machten damals das Genre im besten Sinne massentauglich, und es verwundert kaum, dass Romanproduktionen wie der Graf von Monte Christo (1844) uns heute vorbildhaft für die Erzähldramaturgie und ihre besonderen Mittel wie Cliffhanger und weitgespannte, jedoch nie durchhängende Spannungsverläufe erscheint. Wie wir alle wissen, strahlte das Schreiben im neuen Fortsetzungsformat auf andere intellektuelle Einlassungen aus, so etwa die Literaturkritik, wie in Charles-Augustin Sainte-Beuves Causeries du Lundi (1850), der Essaykultur etwa eines Thomas Babington Macaulay oder auch dem Format der Kurzgeschichte, die eben keine klassische Novelle mehr ist und etwa mit Guy de Maupassant zu einem eigenständigen Großgenre wurde. Reiche Pfründe für die Literaturwissenschaft tun sich auf diese Weise auf, und die eben erfolgte Anmoderation ist bestenfalls in der Lage anzudeuten, was in umfänglicher Betrachtung alles zu entdecken und zu erforschen ist. Man folgt dann einer Serie von Transformationen und Disruptionen, die in ihren Wechselwirkungen unvorhersehbar erscheinen und dabei durchaus in der Lage, das alte Hochglanzkino in neue und überzeugende Formate zu überführen. Die Nominierung verschiedener Netflix-Produktionen für die Oscars kann als ein Beleg für letztere Tendenz angesehen werden.

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Was von Hollywood im Zeitalter des Post-Cinema bleibt, kann angesichts solch komplexer Veränderungen nur sehr pauschal angegangen werden. Am leichtesten tut man sich, wenn man sich weniger auf die laufende Strukturumbildung einlässt, als auf den immer noch gegebenen Rahmen des filmischen Erzählens. Wann auch immer wir von Hollywood sprechen, haben wir schließlich ein ganz bestimmtes Set von Grundeinstellungen und Verarbeitungsmaximen vor Augen. Als Grundregel gilt etwa französischen Filmemachern die Einsicht, dass man in Hollywood sehr einfache Geschichten mit nahezu unendlichem Aufwand, in Frankreich dagegen sehr komplexe Geschichten mit sehr beschränkten Mitteln zu realisieren hat. Und ebenso intuitiv richtig erscheint uns die Grundannahme, dass jene einfachen Geschichten, die so wirkmächtig ausstaffiert werden, grundsätzlich mit der Unterscheidung von Gut und Böse zu tun haben – in welcher einfachen oder vertrackten Form auch immer. Von der klassischen Western-Produktion bis zu den Science-Fiction Abenteuern unserer Tage scheinen Fragen einer aufrechten Gesinnung und ihrer Anfechtung ein probater Lektüre-Schlüssel zu sein. Wer will, kann in John Bunyans The Pilgrim’s Progress from This World to That Which Is to Come (1678) – ein puritanisches Erbauungsbuch aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert – bis heute ein Musterbuch für die Grunddramaturgie aller möglichen Charakterentwicklungen sehen. Die suchende Seele, die verlorene Seele, die Seele, die zurück auf den rechten Weg findet: kein Familienvater (-mutter), kein Cop (egal welchen Geschlechts), kein(e) Präsident(in) kommt jemals ohne das innere Ringen aus, das mit dem Fortschritt zum (filmischen) Heil und damit zugleich dem wahren Fortschritt der Geschichte zu tun hat. So pauschal und auch abgedroschen jene Kurzbeschreibung erscheinen mag – vielleicht gerade deshalb immer noch richtig? – eine Diskussion über ihre Zulässigkeit braucht in nachfolgenden Zusammenhang gar nicht auf- und angenommen zu werden. Denn es soll im Folgenden nicht um die filmischen Vordergründe gehen, die sich in der Charakterführung niederschlagen, sondern um die kinematischen Hintergründe. Es soll um das gehen, was im Theater die Kulisse wäre, die Art und Weise ihrer Inszenierung und ihrer Beleuchtung, ihrer Farbgebung und Tiefenschärfe sowie ihrer formalen Einfassung. Im Film korrespondiert dem die gesamte Ausstattung, die Auswahl der Landschaften und Architekturen, die di-

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gitalen Zugaben oder auch Neuschöpfungen sowie das Augenmerk auf Atmosphären, wie sie von der ursprünglichen Kameraführung bis hin zur Postproduktion generiert werden können. Die nachfolgenden Einlassungen gehen von der methodischen Hoffnung aus, dass sich die anzitierten Binsenweisheiten im diffuseren Reflex der Dinge zuerst einmal nicht als grob falsch erweisen. Weiter besteht die Hoffnung, dass sich mit Bezug auf eine feiner vorgehende Filmtheorie der theoretische Zugriff noch etwas schematischer und zugleich methodischer gestalten lässt. Eine Anleihe soll dementsprechend aufgenommen werden bei der Vorstellung einer ›second chance‹, wie sie mit Stanley Cavell als Dreh- und Angelpunkt einer jeden hollywoodesken Drehbuchgestaltung angenommen werden muss. Es handelt sich dabei offensichtlich um eine Variante und zugleich Säkularisierung der schon angesprochenen Heilsgeschichte und Seelenumkehr. So wie in Heilsfragen eine grundsätzliche Neubesinnung möglich ist, so auch in der Welt ein radikaler Schnitt und Neuanfang. Es scheint demnach so, als sei der weltliche Gang der Dinge grundsätzlich schwierig und tückisch, zumindest mit einer ihr eigenen Ambivalenz des möglichen Schiefgehens behaftet. Nachdem das übliche Vorgehen und übliche Streben – versehen mit allen Unbedachtsamkeiten und tieferliegenden Egoismen – einmal zum Scheitern gebracht wurde, liegt im vollkommenen Cut die Chance, es richtig zu machen. Richtig erscheinen die Dinge dann nicht im komparativen Sinn, sondern in einem absoluten. Der Neuanfang ist nicht eine bloße Verbesserung der bisherigen Geschichte, sondern ihre Transposition auf ein anderes – im Zweifelsfall immer irgendwie moralisch grundiertes Level. Cavell hat bei der Erprobung seiner Theorie die Screwball Comedies der 1930er- und 1940erJahre vor Augen1. Er nennt sie auch, seiner Theorie folgend, »comedy of remarriage«. Die Pointe ist an dem Punkt zu finden, an dem hinter dem Slapstick und der klassischen Vaudeville-Inszenierung ein tiefernster Befund offenbar wird. Demnach kann es beim ersten Mal der Verheiratung gar nicht gut gehen, eben weil die Dinge in ihrem Eigenlauf ganz grundsätzlich auf dem Irrweg sind. Erst, wenn durch das Scheitern der Ehe erfolgt ist und nachfolgende ›Seitensprünge‹ durchlebt werden, erscheint

1

Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage, Harvard: Harvard University Press, 1981.

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eine Läuterung möglich, und die Beteiligten biegen auf den rechten Weg ein, was jedoch nichts weniger bedeutet als: ›back to square one‹, man heiratet also noch einmal dieselbe Person, von der man sich zuvor trennte, weil es vollkommen unmöglich schien, mit ihr weiterzumachen. Eine oberflächliche Kritik wollte in dem Verfahren nur einen Kunstgriff sehen, einer prüden Zensur entgegenzukommen, die von der Vorstellung einer ehelichen Liebe, bis der Tod sie scheidet, nicht lassen wollte. Die außerehelichen Abenteuer würden durch die Wiederverheiratung zuletzt (gerade noch) geheilt. Cavell sieht jedoch eine eingehendere Wahrheit am Filmwerk. Eben weil das Glück nun erneut mit eben derselben Person gesucht – und nun auch gefunden – wird, wird für ihn offenbar, dass der Fehllauf in erster Instanz nicht an den äußeren Umständen liegen konnte; vielmehr ist es einer inneren Umkehr und Neuausrichtung geschuldet, dass man überhaupt im Leben einmal auf die richtige Spur kommt. Cavell bildet selbstverständlich nur die Spitze eines theoretischen Eisbergs. Die Vorstellung einer ›second chance‹, welche die einzig wahre ist, durchdringt verschiedene Filmtheorien und -methodologien in unterschiedlichster Weise und in unterschiedlichen Graden der Vergegenwärtigung. Vivian Sobchack2 etwa setzt auf eine leibphänomenologische Betrachtung, in der wir erst dann einen echten Zugriff auf die Welt bekommen, wenn unsere leibliche Sphäre von Grund auf gefährdet erscheint und im Anschluss daran auch erstmals vollkommen präsent wird. Die Kamera sind unsere Hände, der Blick ein gefühlvolles Zugreifen, wie Sobchacks Interpretation etwa von Jane Campion’s Film THE PIANO (NZ/AU/F 1993) nahelegt3. Wo dieser gefühlvolle Blick verstümmelt zu werden droht, erscheint uns die Welt in ihrer Wahrheit, wenn man so will: in ihrem drohenden Verschwinden4. Schon in den 1960er-Jahren

2

Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton, NJ: Princeton University Press 1992.

3

Vgl. Sobchack, Vivian: Carnal Thoughts: Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley: University of California Press 2004, S. 62ff.

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Vgl. Zechner, Anke: »Fingerübungen. Von der Struktur des cinematographischen Körpers zur haptischen Wahrnehmung. Vivian Sobchacks phänomenologische Filmtheorie und die Debatte um Jane Campions The Piano«, in: montage AV 25/2/2016, S. 105-117.

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hatte Susan Sontag darauf bestanden, sich der Filmerfahrung wieder ›leiblich‹ hinzugeben. Eine beinahe magische Verwandlung soll damit wieder möglich werden, wie wir sie beim Zuschauen erfahren – für Sontag nicht damals noch erotisch und sensuell grundiert. »Against Interpretation« war so gesehen ein Schlachtruf, der sich gegen den kontinentalen Überbau der Filmtheorie richtete, damals vor allem mit Anleihen bei Marx und Freud – auch wenn Sontag das so nicht hätte stehen lassen wollen. Eine mögliche Wesensverwandlung erschien ihr jedenfalls wichtiger – und dies lässt sich ganz schlüssig in einer neue Welt (Erneuerung der Welt)-Perspektive beschreiben5.

II. ›Second chance‹ im Sinne eines Neuanfangs ist also klassischerweise ein Thema mit Blick auf das Personal, auf die handelnden Personen. Wie angedeutet möchte ich im Folgenden jedoch einem Neuanfang mit Blick auf die Dinge nachgehen. Nicht Handlungen und ihr vollkommener Neuansatz stehen im Mittelpunkt, sondern die Kulissen, das Dekor, das Filmsetting – und damit zuletzt auch die ganze Filmwelt. ›Second chance‹ wird damit nicht mehr nur dramatisch verstanden, sondern auch ontologisch. Ein Neuanfang im Wesen der Dinge orchestriert und komplettiert einen Neubeginn im Wesen der Charaktere. ›Second chance‹ legt so gesehen nahe, dass wir, wenn immer es nötig ist, nicht nur unser Leben radikal neuausrichten sollen, sondern zugleich auch in eine ganz neue Welt eintreten müssen. Es wird von einer umfassenden Reform ausgegangen, die ein Gesamt-Design verlangt, und zwar ein solches, das einer ganz neuen Welt gilt. Design einer neuen Welt ist im Sinne Hollywoods notwendig Weltdesign, daher auch der Untertitel, in dem die Rede ist von: Neue-Welt-Design, mit zwei Bindestrichen. Eine – oder besser gleich die – neue Welt wird designt in einem neuen Weltdesign. Welche Filmgenres besonders ergiebig sein können für eine solche Betrachtung, ist absehbar. Es muss thematisiert werden einerseits eine

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Sontag, Susan: Against Interpretation and Other Essays, London: Penguin Books 2009 [1966].

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Welt, die vollkommen neu ist, in der nichts so erscheint, wie wir es heute gewohnt sind; und andererseits auch wiederum alles zugleich vertraut erscheint, so als wäre die neue Umgebung immer schon wirklicher und einschlägiger gewesen als alles, was wir bisher für sinnvoll und gegeben hielten. Es geht um eine Welt, wie sie noch niemand so gesehen hat oder gesehen haben kann, und doch schon beim ersten Hinsehen als eine Welt erscheint, in der wir wahrhaft wir selbst und wirklich zuhause sind. Klarerweise nähern sich zwei Genres eine solche Vorgabe. Einerseits Science-Fiction, andererseits der Historienfilm. In der Science-Fiction erahnen wir ein fremdes künftiges Leben, das unser eigenes sein wird oder sein könnte, wenn wir nicht in letzter Lebensminute noch unsterblich werden; im Historiendrama werden wir zurückversetzt in eine Welt, welche der unseren vorangegangen ist und schon so weit zurückliegt, dass niemand mehr genau weiß, wie es damals wirklich zuging. Beide Male können wir durchspielen, was es heißt, in der Welt zu sein, wie sie ist, nur eben ganz anders und vollkommen neu konzipiert. Die Welt wird als eine Chance begriffen, alles ganz neu zu machen und damit vielleicht auch – für einmal – wirklich besser oder sogar vollkommen richtig. Science-Fiction und Historiendrama als filmgewordene ›second chance‹, es einmal insgesamt besser zu machen, nicht nur einzelne Menschen zur Wesenserneuerung zu bewegen, sondern auch gleich noch das ganze Menschengeschlecht, zuletzt die ganze Menschheit überhaupt. Mögliche Rettung oder auch fragliche Rettung, dieses Motiv wird im Folgenden noch konkreter aufscheinen. Mit welcher Methode man sich dem Thema nähert ist damit auch schon fast vorentschieden. Wir haben es mit Gegenständen zu tun, die so noch nie jemand gesehen hat, geschweige denn damit umgegangen ist. Keine traditionelle Vorgabe, keine Konvention und auch keine Üblichkeiten beschränken den Filmmacher in dem, was zu entwerfen ist. Es ähnelt sehr die Lage, die Roland Barthes als den ›degré zéro de l’écriture‹, also den Nullpunkt des Schreibens, bezeichnet hat6. Vor uns liegt das leere Blatt Papier. Anders als bei Barthes geht es nun aber nicht mehr nur um den Plot und alle Konventionen und Traditionen des Erzählens, die er endlich außer Kraft gesetzt sah. Es geht vielmehr noch um die Erschei-

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Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture, Paris: Editions du Seuil 1972.

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nung der Dinge, ihr Aussehen und ihr Arrangement, um das also, was sie im Rahmen eines Film-Settings überhaupt darstellen können. Als Hintergrunddisziplin wird deshalb auch nicht die Literaturgeschichte, sondern die Kunstgeschichte herangezogen.

III. Im Sommer 2017 gab es im Belvedere Museum in Wien eine Ausstellung zu Lawrence Alma-Tadema. Geworben wurde unter anderem mit dem Umstand, dass der niederländische Salonmaler einen unübersehbaren Einfluss auf das Filmschaffen des 20. Jahrhunderts gehabt habe, einen Einfluss, der bis heute weiter anhält. Ein für die Ausstellungsmacher evidentes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie antike Salonmotive des Genremalers in Ridley Scotts GLADIATOR (USA/UK/MT/MA 2000) erneut auftauchten. Zum einen gibt es dafür bildliche Zitate und Wiederaufnahmen, wie etwa der Auftritt eines Jongleurs, der einem Bild AlmaTademas mit gleichnamigem Titel nachempfunden ist7. Dann gibt es weiterhin auch Ausstattungsvarianten, bei denen sich die Macher von dem Salonmaler inspirieren ließen. Nachvollziehbar ist das etwa bei der Frage, wie das römische Kolosseum tatsächlich ausgesehen hat. Wie standen die Statuen in den Nischen, wie gestalteten sich die Vorhangsegel als Blendschutz für die Nachmittagsveranstaltungen? In besonderem Maße wurde offenbar bei der filmischen Innenausstattung der Alltags- wie der Palasträume auf Alma-Tademas ›Vorarbeiten‹ zurückgegriffen. Antike Tische und Sessel, das kunstvolle Interieur von Häusern von Mäzenen, das Innenleben der Tavernen: für mehr oder weniger alles, was die Fantasie anregt, hatte Alma-Tadema Vorlagen geliefert, an die die Filmema-

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Nachzuvollziehen im Katalog zur damaligen Ausstellung: Trippi, Peter/Prettejohn, Elizabeth (Hg.): Lawrence Alma-Tadema. Klassische Verführung, München/London/New York: Prestel 2017, S. 199.

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cher anschlossen – sehr bewusst und in den Filmkommentaren auch ausdrücklich eingestanden8. Das kunstgeschichtliche Weiterleben Alma-Tademas in Hollywood war aber nicht nur erstaunlich im Sinne einer Wirkungsgeschichte, wobei gleich noch hinzugefügt werden muss, dass selbstverständlich Ridley Scott nicht der erste Regisseur war, der Alma-Tadema zum Gewährsmann hatte. Schon die ersten Sandalen- und Heroenfilme im frühen 20. Jahrhundert griffen auf das bestehende Bildmaterial des in England geadelten Holländers zurück. Interessant erschien die kunstgeschichtliche Parallele aus einem anderen, methodischen Grund. Sowohl der Maler als auch die Filmemacher standen nämlich vor einem Deutungsproblem, genauer gesagt einer Schwierigkeit der Ausdeutung. Kein Zeitgenosse war je dabei und vor Ort gewesen und kann dementsprechend wissen, wie es im Alltagsleben der Antike tatsächlich zuging. Was wir vor uns haben sind archäologische Relikte, Artefakte, bei denen zuweilen Komponenten fehlen, wie etwa die ursprünglich aufgetragene Farbe. Wir haben weiter Bilder von Artefakten auf Wasen oder auch Fresken, auf denen Interieurs zu sehen sind, Münzen, auf denen etwa die Umrisse von Gebäuden – stilisiert vereinfacht – nachvollziehbar werden. Der lebensweltliche Rest, wie man tatsächlich damit umging, wie man die Tische deckte, die Stühle gruppierte, die Wände schmückte, das Atrium beschattete, die Paläste auskleidete und die Fassaden bemalte, bleibt angewiesen auf Vermutungen und Spekulationen und kann bestenfalls mit dem Anspruch einer wahrscheinlichen Rekonstruktion rechnen. Über Lawrence AlmaTadema als Kunstschaffenden wäre an dieser Stelle manches zu berichten. Zu seiner Zeit ein Star der Szene – zusammen mit Frederic Leighton und Jean-Léon Gérôme – wird er von der Kunstgeschichte bis heute eher stiefmütterlich behandelt, gehört er im Rückblick doch nicht gerade zu den Heroen der klassischen Moderne und ihrer Vorläufer und Avantgarden. Für unseren Zusammenhang ist ein biografisches Detail nicht unerheblich – der sachliche Umstand nämlich, dass Alma-Tadema ursprünglich kein Engländer war, sondern Niederländer und auch im niederländi-

8

Vgl. dazu den Essay von Ivo Blom im oben zitierten Ausstellungskatalog: Blom, Ivo: »Das zweite Leben des Lawrence Alma-Tadema«, in: Trippi/Prettejohn, Lawrence Alma-Tadema (2017), S. 187-199.

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schen Kunstschaffen sozialisiert wurde. Vor diesem biografischen Hintergrund versuchte Alma-Tadema zwei Dinge zusammenzubringen: erstens eine neue Begeisterung für exotische und antike Stoffe, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Schwange war, mit zweitens: jener Akribie und Detailversessenheit, die der niederländischer Genremalerei seit dem goldenen Zeitalter eigen waren, besonders mit Blick auf ihre Stillleben und Fijnschilder. Er machte sich auf nach Pompei und Rom, vermaß dort Räume und skizzierte im Museum all jene Artefakte, die er dort damals noch vorfand. Er ließ sich galvanoplastische Repliken machen von Ausgrabungsgegenständen, etwa einem Silberkübel aus dem Hildesheimer Silberfund. Und mit all dem Wissen ausgestattet versuchte AlmaTadema in einem methodischen Spagat: einerseits eben alles so archäologisch fundiert wie möglich darzustellen, andererseits aber auch noch die gestalterischen Lücken zu füllen, die eine noch so informierte Rekonstruktion offenlassen musste. Die Begeisterung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert plötzlich die antiken Stoffe belebte, ließ sich schwerlich befriedigen mit einem Könnte-Sein und einem Vielleicht-Vielleicht, sie brauchte ein ganz bestimmtes Bild, an das die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und Größen anschließen konnte. Und jenes Bild, das sich Alma-Tadema von der rekonstruierten römischen Antike machte – um vollständig zu sein: auch das alte Ägypten wird behandelt, auch griechisch-antike Themen kommen vor – musste natürlich genau in jene Erwartungshaltung hineinpassen, die man in Zeiten beginnender Dekadenz als idealvorbildlich verstehen konnte. Wie viele Kritiker es immer wieder vorwurfsvoll vorbringen, nicht nur gegen Alma-Tadema, sondern selbstverständlich auch gegen Ridley Scott und sein Ausstattungsteam: dass es dem Maler ganz zuletzt eben doch nicht um historische Authentizität ging, sondern um zeitgenössische Vereinnahmung, das ist unstrittig und auch völlig einsehbar. Es entspricht im Übrigen der Ausgangslage einer jeden hermeneutischen Herangehensweise. Den Zeitkontext, aus dem heraus man deutet und argumentiert, kann man niemals ganz abstreifen. Dies ein- und zugestanden kommt aber noch einmal eine Besonderheit hinzu im vorliegenden Deutungsfall. Und das betrifft die einmalige Begeisterung, die von der Rekonstruktion bzw. kreativen Ausmalung ausgehen muss. So sagen auch die Filmemacher ganz offen, sie säßen im selben Boot wie Alma-Tadema hinsichtlich einer Anforderung: Holly-

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wood will eben nicht nur eine Vorstellung geben davon, wie es vermutlich aussah, und wie es uns auch noch zeitgenössisch plausibel erscheint – Hollywood will ›blockbustern‹, es soll so aussehen, dass wir unmittelbar eingenommen werden von einer Szenerie, unmittelbar mitfühlen können, mitagieren, mitleiden. Es darf dementsprechend keine Einfühlungswiderstände geben, kein umständliches Zurechtlegen der Szenerie, kein Nachfragen und kein Herumvermuten: was wir sehen muss uns umstandslos mitnehmen in eine Zeit, die überhaupt nicht die unsere ist, in der wir aber sogleich und voll und ganz aufgehen können. Wir müssen in eine Szenerie eintauchen können und dort sogleich heimisch werden, noch ehe wir in der Lage sind nachzufragen, warum wir in Wahrheit niemals je dorthin kommen können. Setzen wir uns aufs hohe Ross der Kunstkritik, droht sogleich der Kitschverdacht. Ein Bild, an dem man mit Blick auf Alma-Tadema derartige Einwände verbindet, ist etwa A Summer’s Offering (1911)9. Besteigen wir das ebenso hohe Ross der Kulturkritik, sind wir sogleich beim Vorwurf der bloßen Konsumierbarkeit, dem interessierten Kniefall vor dem Box Office. Der Film muss sich eben verkaufen. All das mag sein wie es will, festzuhalten ist an der Stelle aber eine besondere hermeneutische Situation, aus der es gleich noch etwas zu machen gilt: auf der einen Seite eine Ausmalung der vorzeitlichen Szenerie, die dem Geist einer authentischen Rekonstruktion verpflichtet ist; auf der anderen Seite eine Ausgestaltung, die auf die größtmöglich zu erreichende Immersion abzielt. Es scheint wie der berühmte amerikanische Kuchen, den man nicht haben kann und zugleich essen. Und doch muss beides gehen, sonst sind wir entweder nicht wirklich in der Vergangenheit oder nicht in Hollywood.

IV. Der Kitschvorwurf muss so aber nicht stehenbleiben. Ins Spiel kommt jetzt der Punkt, von dem zu Anfang die Rede war. Das ästhetisch Seichte und offen Kommerzielle erweist sich nämlich beim zweiten Hinsehen doch noch als doppeldeutig. Das kann man noch einmal im Beispielfall 9

P. Trippi/ A. Prettejohn: Lawrence Alma-Tadema, S. 131.

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des GLADIATORS nachvollziehen und bekommt dabei zugleich einen Fingerzeig, wie man sich eine neuerliche Öffnung der Interpretation vorzustellen hat. Man muss dazu nur den Deutungsrahmen anders bestimmen, in dem es um das Verständnis der Dinge geht. Die Kritiker waren ausgegangen von einem Mangel an wissenschaftlicher Verlässlichkeit – die Dinge so darzustellen, wie es im Film geschieht, sei eine Festlegung, die man in Wahrheit nicht treffen könne10. Ein objektives Versagen wurde also zur Last gelegt. Demgegenüber zielt die Filmgeschichte aber nicht auf eine objektive Vieldeutigkeit ab – dafür wäre sie klarerweise das falsche Medium, sondern auf eine subjektive Unentschiedenheit. Nicht Gestalt und Gebrauch der Dinge sollen fragwürdig erscheinen, sondern ihr moralischer Charakter. Nicht ihr ›Sein‹, wie man es mit Heidegger fassen wollte, steht in Frage, sondern ihr sittliches Gutsein. Das Setting im Film gibt demnach nicht Fragen der Interpretation auf, oder will sie sogar lösen, sondern der Exhortation. Nicht um Verstehen geht es, sondern um eine andere Einstellung. Nicht die Dinge sollen wir uns als andere vorstellen können, sondern uns selbst. Ein Appell geht vom Setting aus: Du sollst ein anderer Mensch werden, ein neuer Mensch. Dinge sollen auf uns abfärben, und dort, wo sie moralisch zweideutig sind, sollen wir uns entschließen, uns zu positionieren, moralisch, in einer schwierig gewordenen Welt. Im GLADIATOR wird das ersichtlich an dem Punkt, an dem die Ausstatter bewusst und entschlossen von der Vorlage Alma-Tademas abweichen. Alma-Tadema war bekannt und berühmt geworden unter anderem dafür, dass er den besonderen Ehrgeiz entwickelte, Marmor in allen Schattierungen und im ›plein air‹ mediterraner Lichtverhältnisse aufscheinen zu lassen. Man sollte die Kühle, Erhabenheit und Eleganz des Stoffes spüren, beinahe fühlen können, drinnen wie draußen. Viele seiner Bilder können deshalb gar nicht anders als grundsätzlich hell, heiter und bunt gestimmt zu sein.

10 Vgl. etwa Coleman, Kathleen M.: »The Pedant Goes to Hollywood: The Role of the Academic Consultant«, in: Martin M. Winkler (Hg.), Gladiator: Film and History, Malden/Oxford/Victoria: Blackwell Publishing 2004, S. 45-52.

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Die Kulissenmacher im Film wollen es anders sehen. Für sie ist der Marmor nicht grundsätzlich weiß, sondern eher dunkelblau. Dort wo zuvor Licht in aller Helle gebrochen wurde, sind es nun Schatten, die farblich verschieden durchgespielt werden. Zumindest dann, wenn die Größe Roms und seiner Paläste thematisiert wird, werden vormals beinahe durchsichtigen Oberflächen undurchsichtig und undurchschaubar. Es wächst ihnen ein Charakter zu, der etwas mit der Macht zu tun hat, die sie repräsentieren. Zweideutigkeit kommt ins Spiel: Marmor könnte erstrahlen im hellen Licht und wäre dann ein Zeichen für moralischen Ruhm und Größe, für die der Philosophenkaiser Marc Aurel im Film steht. Marmor kann aber auch die Schattenseite aller Macht wiederspiegeln, insofern ein dekadenter Sprössling sich an ihr vergreift. In der Filmlogik wird es womöglich schwierig zu entscheiden: tanzen die Schatten in den Palästen, weil der darin hausende Herrscher ein schlechtes Licht auf die Dinge wirft, oder ist es schon wieder das Setting selbst, das die Bewohner korrumpiert? Reicht das Licht im unsteten Fackelschein der Interieurs aus, um jede Moral in Diskredit zu bringen, oder gilt es nur, alle Drapierungen wieder beiseite zu nehmen, um dem Ganzen ein würdiges Aussehen zurückzugeben? Die Dinge scheinen an einem Umschlagpunkt ihrer Deutung zu sein, so wie wir selbst auch, die sie als solche wahrnehmen. Doch geht es eben nicht mehr darum, wie es damals wirklich gewesen war, sondern darum, wie wir in Zukunft sein sollen.

V. Derart konkret auszudeuten verbietet sich eigentlich, wenn man Filme anspruchsvoll interpretieren will, und deshalb soll sogleich nachgeliefert werden, wie sich eine derart moralphilosophische Zuspitzung – aus der Sicht des Verfassers – durchaus nahelegen kann. Noch einmal kommt die Kunstgeschichte ins Spiel, und es geht jetzt um spezifisch USamerikanische Quellen der Inspiration. Ein Beispiel, das im vorliegenden Zusammenhang weiterhelfen kann, findet sich darin in der Landschaftsund Ruinenmalerei. Um dies anschaulich zu machen, soll Thomas Coles

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Bildzyklus The Course of Empire – wörtlich übersetzt: Der Weg des Imperiums – herangezogen werden. Es handelt sich um insgesamt fünf Gemälde, dessen letztes 1836 fertiggestellt wurde. Der Zyklus folgt gestalterisch einem Tagesablauf von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang mit einem wettertechnisch dramatischen Wende- und Mittelpunkt. Eine Skizze zur ursprünglichen Hängung verdeutlicht dies. Die Bildperspektive verändert sich dabei in der Art, dass wir eine Art Kamerafahrt nachvollziehen. Das zeigt sich, wenn man den Blick an dem Felsvorsprung im Hintergrund orientiert. Auf den fünf ausgemalten Bildern folgen wir dem Aufstieg und Abstieg einer Zivilisation. Das legen die Titel nahe: Bild eins zeigt The Savage State, Bild zwei The Arcadian or Pastoral State, Bild drei The Consummation of Empire (also die Vollendung des Reichs), Bild vier Destruction, Bild fünf Desolation. Unendlich viel gäbe es kunsthistorisch zu referieren über Vorbilder, Einflüsse, Inspirationen, Malstil und so weiter. Das alles kann an dieser Stelle und in dem Zusammenhang nicht geleistet werden, schon aus Platzgründen. Zum Allgemeinwissen gehört aber soviel: Man rechnet Thomas Cole zur sogenannten ›Hudson River School‹, einer romantischen Bewegung amerikanischer Landschaftsmalerei. Man muss sich diese lose vernetzt denken etwa mit der Düsseldorfer Malerschule oder der Impressionisten-(Vor)-Schule von Barbizon. Cole nimmt selbstverständlich auch Inspirationen aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf, etwa von Claude Lorrain oder dem Ruinenmaler Hubert Robert. Angerissen werden soll dagegen der moral- und geschichtsphilosophische Unterbau der Komposition. Der Titel The Course of Empire ist einem Gedicht George Berkeleys entnommen, stammt also von dem Bischof Berkeley, den man unter Philosophen als Skeptiker und radikalen Subjektivisten kennt. Genauer gesagt handelt es sich um den Bruchteil einer Verszeile, die aus dem Gedicht On the Prospect of Planting Arts and Learning in America (1726) stammt und ausgeschrieben lautet: »Westward the course of empire takes its way«. Die Zeile kann man optimistisch verstehen, und das war zu Coles Zeiten durchaus konsensfähig. Wer schon einmal im Washingtoner Kapitol war, erinnert sich vermutlich an ein Monumentalgemälde von Emanuel Gottlieb Leutze – der Maler stammt aus Schwäbisch Gmünd und wurde in Düsseldorf ausgebildet, bevor er 1859 endgültig nach Amerika übersiedelte – mit eben diesem

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Titel. In dem Bild von 1861 ist im unteren Panorama unter dem Hauptbild die noch jungfräuliche Bucht von San Francisco zu sehen. Im Hauptbild ist zu erkennen, wie die Richtungsanzeige ›westward‹ offenbar nicht nur horizontal gemeint ist, sondern zugleich auch vertikal. Der Westen ist immer auch mit der Wegweisung des Blicks nach oben verbunden. Letztere Blickregie kann man auch zum Anlass nehmen, die Verszeile nachdenklicher zu deuten, wenn nicht gar schon pessimistisch. Das geschieht ganz offenbar so bei Cole, wenn er in seinem Zyklus davon ausgeht, dass wir es grundsätzlich mit weltlichen Reichen zu tun haben, die bei ihrem Aufstieg auch schon dem Untergang geweiht sind. Es ist eine klassische Geschichtsphilosophie mit religiösem Goldrand. Im Übergang vom dritten zum vierten Bild nimmt der damit verbundene, grundsätzliche Pessimismus – es kann nicht gutgehen, niemals wirklich – seinen Lauf. Die Bildachsen kippen: von horizontal und vertikal zu diagonal. Die Farben schattieren sich: symbolisch im Übergang der zuvor blendenden Marmorfassaden zum Verrauchten und Verruchten einer eben noch gefeierten Größe und Stärke. Von Ost nach West dringt jetzt ein Feuersturm, dessen Gewalt wiederholt und versinnbildlicht erscheint in einer kopflos voranstürmenden Monumentalstatue eines Kämpfers oder sogar Gladiators – ein weiteres Mal zitiert, wiederholt und transformiert in der verfolgten Unschuld einer Frauenfigur, die dabei ist, sich ins aufgewühlte Wasser zu stürzen und von einem herbeielenden Soldaten gerade noch zurückgehalten wird. Aus dem Triumphzug und der selbstfeierlichen Prozession in The Consummation of Empire ist eine heillose Fluchtbewegung in anschließende Verzweiflung geworden. Alles ist im Fallen begriffen. Über die Szenerie des letzten Bildes Desolation im Zyklus ist dann schon vernebeltes Mondlicht ausgebreitet. Ein neues Arkadien bricht über den Trümmern der Geschichte an, von Menschen ist jedoch keine Spur mehr. Die Natur übernimmt erneut die Herrschaft und ist sich offenbar selbst genug, Hoffnung anscheinend nur noch an ganz anderer Stelle zu finden. Man versteht gleich, dass solche Darstellung wie auch jene in GLADIATOR Resonanzräume bis in die Transzendenz hinein eröffnen, welche verschiedentlich ausgelotet werden können. Im Film GLADIATOR sind dementsprechend auch stoische Motive präsent, anmoderiert etwa durch das geistige Erbe Marc Aurels, der als Philosophenkaiser vorgestellt

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wird. Der weltliche Kampf des Gladiators ist damit auch als Ankämpfen zu verstehen gegen eine Versuchung, sich einer Natur und Weltvernunft anzuvertrauen, in der zuletzt alles gerichtet erscheint und wiedervereint. An mehr als einer Stelle sehen wir den Helden sich müde zurücklehnen in dem Wunsch, am liebsten schon gleich nicht mehr von dieser Welt zu sein. Auch Emanzipationsthemen werden angesprochen, Fragen nach Kolonisierung und Moral, Fragen nach Herrscher und Beherrschten, Mann und Frau. Die Deutung des Films hat das alles inzwischen vorbildlich herausgearbeitet.

VI. Zum Schluss noch kurze Ausblicke. Das Genre der Science-Fiction muss vorläufig unbesprochen bleiben. Ist die Deutungslage im Rückblick auf Längst-Vergangenes schon unübersichtlich, muss sie Vorblick auf Erstnoch-Kommendes diffus und vernebelt erscheinen. Der Möglichkeitsraum der Deutung erscheint um ein Vielfaches weiter ausgespannt, die hermeneutische Situation exponentiell verschärft. Gibt es für die älteren Altertümer wenigstens noch eine archäologische Zeugenschaft der Dinge, bleibt im Blick auf eine ferne Zukunft nur noch eine Rekonstruktion, die sich in reinen Fiktionen ergehen muss. Nach dem eben durchlaufenen, kunstgeschichtlichen Exkurs legen sich jedoch noch einfache Parallelen nahe, die wenigstens als eine mögliche, wirklich kleine Pointe noch erwähnt sein sollen. Wie gesehen zielen die Historiendramen über den Sturz der Weltreiche bevorzugt, darin dem historiografischen Urbild Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776) folgend, auf den Umschlagpunkt des Geschehens, in der Bildregie des coleschen Zyklus also ungefähr auf dessen Mitte. Science-Fiction nimmt sich neuerdings derselben Sache an, ändert jedoch die Verlaufsrichtung und kehrt sie konsequent um. Unzählige, vor allem jüngere Produktionen starten dementsprechend mit einer Welt, wie sie aussieht, wenn sie der Mensch – oder die von ihm geschaffenen Maschinen oder uns Menschen sehr ähnliche Aliens – dermal einst verwüstet haben werden. Die colesche Desolation hat sich auf der Welt ausgebreitet, wenn wir wie eben erst mit der Hauptfigur Cassie auf die

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Welt nach der 5. Welle schauen; oder klassischer mit dem Protagonisten John Connor auf einer Megacity-Ruine, die von Terminatoren zerschossen wurde; oder mit dem Filmhelden Neo in MATRIX REVOLUTIONS (USA 2003, R: Lana/Lilly Wachowski) einmal einen Blick in die reale Weltlandschaft werfen; mit den Augen des Schauspiels Tom Cruise in OBLIVION (USA 2013, R: Joseph Kosinski) auf einen halbierten Mond schauen; auch der colesche Mond verdeckte ja sein Gesicht schon mindestens zur Hälfte – der Beispiele mehr ließen sich noch viele finden.

N ACHTRAG Beinahe unnötig zu sagen, dass die Verhältnisse im europäischen Kino durchaus andere sind. Von einem klaren, metaphysisch untermauerten Geschichtsbild kann nicht in derselben Weise ausgegangen werden, moralische Grundierungen der Geschichten sind zumindest vielfältiger anzusetzen als im Hollywoodkino, und, nochmals so pauschal angenommen: es erscheinen die Lebensgeschichten weit weniger eindeutig konturiert in den ihnen zugrundeliegenden Fragen nach Sinn und Existenz. Eine Binsenweisheit, das sei gerne zugegeben. Dennoch ist, davon ausgehend, gleich einsehbar, dass ein Stilmittel wie die als Leitfaden angenommene ›second chance‹ immer noch ein probates Gestaltungsmittel sein kann. Dies besonders dann, wenn, wie schon bei den HollywoodProdukten angenommen, die nun (moralisch und existenziell) vervielfältigten Hinsichten der Charakterführung ihren Niederschlag in der Weltausstattung der Filme finden können. Die eingangs erwähnte Maxime, dass kontinentale Produktionen im Gegensatz zu Hollywood mit sparsamsten Mitteln vertrackte Zusammenhänge bewältigen müssen, kommt ins Spiel, wenn zum letzten Ende des Referats auf eine besonders radikale Variante eines zweiten – und auch schon geläuterten – Blicks verwiesen werden soll. Radikal einfach erscheint die Lösung im Zusammenhang, weil der Film nun gar nicht mehr Hand an die Hintergründe legt in dem Sinne, dass in irgendeiner Form materiell (Gestalt, Farbe, Atmosphäre etc.) eingegriffen wird. Kein realer oder digitaler Kulissenbau, keine Postproduktion, keine ›enhanced reality‹ oder auch nur ein Dayfor-Night-Filter kommt mehr zum Einsatz. Statt materieller Veränderung

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ist es nur noch die informelle Vorgabe, die zur Veränderung des Wahrgenommenen führt. Dieselbe Szenerie wird nach Ablauf einer Geschichte eine ganz andere, obwohl wir immer noch dasselbe sehen, dieselben Dinge, Architekturen und Landschaften vor uns haben. Wir schauen sozusagen mit ausgewechselten (Film-)Augen um uns herum, und die Welt wird eben dadurch eine ganz andere. Dafür wenigstens ein Beispiel im Kürzestreferat und – das gelte als Motivation wenigstens im Zusammenhang des Vortrags – auch noch eines, das hier am Tagungsort in Wien spielt. In BEFORE SUNRISE (USA/AU/CH 1995, R: Richard Linklater) finden sich zwei Teenager und trieben wie streunende Katzen nachts durch die Wiener Altstadt. Ethan Hawke und Julie Delphie verkörpern im Film das Paar. Sie verlieben sich ineinander, und der Reiz der Geschichte besteht darin, dass sie vorhersehbar – und schicksalhaft, warum auch immer – nur diese eine Nacht für sich haben werden. Eine kleine Phantasmagorie der Orte, Plätze und Nachtfiguren wird durchgespielt, abenteuerlich, jugendlichromantisch und damit seltsamer Weise auch erfüllend. Nachdem sie sich beide am Morgen verabschiedet und damit auch getrennt haben, endet der Film wie folgt: der Protagonist geht im morgendlichen Wien zum Bahnhof und damit noch einmal an denselben Orten vorbei, die zuvor als Paar besucht wurden. Obwohl wir immer noch auf dieselben Gegenstände schauen, sind sie jetzt doch ganz andere geworden. Der Charme des Films besteht wohl auch darin, dass beinahe jeder Filmzuschauer selbst schon einmal mit schlaftrunkenem Blick und hocherstauntem Sinn dem Zauber einer solchen Weltverwandlung frühmorgens erlegen sein dürfte. Die Orte haben schließlich an Bedeutung gewonnen, sie sind jetzt Orte im Gedächtnis, und sie haben selbst ein Gedächtnis. Die Geschichte ist selbst zum Dekor geworden, und in die Hintergründe ist ein Glück eingegangen, das sich in der Welt bereits wieder verlaufen hat, wenn der Film endet. Das (Film-)Gedächtnis ist aber der Ort, an dem das ›happy ending‹ wiederholbar und damit zuletzt wohl dauerhaft erscheint. Wenn im sonnigen Hollywood gerne ein Untergang droht, geht so wenigstens im dekadenten Wien die Sonne immer wieder und von neuem auf.

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L ITERATUR Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture, Paris: Editions du Seuil 1972. Blom, Ivo: »Das zweite Leben des Lawrence Alma-Tadema«, in: Trippi/Prettejohn, Lawrence Alma-Tadema (2017), S. 187-199. Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage, Harvard: Harvard University Press, 1981. Coleman, Kathleen M.: »The Pedant Goes to Hollywood: The Role of the Academic Consultant«, in: Martin M. Winkler (Hg.), Gladiator: Film and History, Malden/Oxford/Victoria: Blackwell Publishing 2004, S. 45-52. Sobchack, Vivian: Carnal Thoughts: Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley: University of California Press 2004. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton, NJ: Princeton University Press 1992. Sontag, Susan: Against Interpretation and Other Essays, London: Penguin Books 2009[1966]. Trippi, Peter/Prettejohn, Elizabeth (Hg.): Lawrence Alma-Tadema. Klassische Verführung, München/London/New York: Prestel 2017. Zechner, Anke: »Fingerübungen. Von der Struktur des cinematographischen Körpers zur haptischen Wahrnehmung. Vivian Sobchacks phänomenologische Filmtheorie und die Debatte um Jane Campions The Piano«, in: montage AV 25/2/2016, S. 105-117.

F ILME BEFORE SUNRISE (USA/AU/CH 1995, R: Richard Linklater) GLADIATOR (USA/UK/MT/MA 2000, R: Ridley Scott) MATRIX REVOLUTIONS (USA 2003, R: Lana/Lilly Wachowski) OBLIVION (USA 2013, R: Joseph Kosinski) THE PIANO (NZ/AU/F 1993, R: Jane Campion)

Helden, Freaks und dunkle Ritter Batman in Hollywood1 T HOMAS HILGERS

Das Hollywoodkino spielt aktuell (und nach wie vor) für die Welterschließung zahlreicher Menschen eine wichtige Rolle. Zumindest gilt dies mit Blick auf die Mitglieder westlicher Gesellschaften; wahrscheinlich gilt es mit Blick auf die Mitglieder anderer Gesellschaften aber häufig ebenso. Somit stimme ich Sebastian Lederle zu, wenn dieser schreibt, »dass auf Hollywoodfilme breitenwirksam Bezug genommen wird, wenn man davon spricht, woran einem liegt und welchem Beispiel folgend man sein Leben führen möchte […].«2 Lederle spricht außerdem von Hollywoods »Reflexionsfiguren« und deren »Orientierungsrelevanz«, womit er nahelegt, dass (zumindest einige) Hollywoodfilme diejenige Rolle erfüllen, die einst Mythen und Sagen erfüllten3. Diese Charakterisierung Hollywoods erscheint mir richtig, und ich möchte sie im Folgenden weiter begründen, 1

Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den ich im Rahmen der im Januar 2018 von Sebastian Lederle an der Universität Wien organisierten Tagung »Hollywood: Zwischen Anpassung und kritischer Zeitgenossenschaft« hielt. Für die hilfreichen Kommentare zu meinem Vortrag danke ich Josef Früchtl, Martin Gessmann, Lisa Gotto, Gertrud Koch, Sebastian Lederle und Martin Seel.

2

Vgl. Lederle, Sebastian: Ankündigungstext der Tagung zum Hollywood-Kino, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist.

3

Ebd.

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indem ich die Helden einiger Hollywoodfilme als Reflexionsfiguren mit außerordentlicher Orientierungsrelevanz genauer betrachten werde4. Offensichtlich besitzt das Hollywoodkino eine besondere Affinität zu Helden, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die Narrative seiner Filme für gewöhnlich auf den Handlungen von Helden beziehungsweise Protagonisten basieren, sondern vor allem in dem Sinne, dass diese Protagonisten oft zu unseren Helden – also zu den Helden der Rezipienten – werden. Hier zeigt sich sehr klar der welterschließende beziehungsweise welteröffnende Charakter dieser Filme, da ein Held oder eine Heldin (im außernarratologischen Sinne) wohl immer eine Reflexionsfigur mit Orientierungsrelevanz ist. Um dies verständlich (und jenseits des allzu Offensichtlichen 4

Für Philosophen, die sich mit dem Kino auseinandersetzen, steht das Verhältnis zwischen Film und Welt oft im Zentrum. Ich denke hier vor allem an Stanley Cavell und Gilles Deleuze. (Vgl. Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections On The Ontology Of Film, enlarged edition, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press 1971; Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M.:Suhrkamp 1997; sowie Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.:Suhrkamp 1997.) Spreche ich davon, dass (einige) Hollywoodfilme einen welterschließenden oder welteröffnenden Charakter besitzen, dann verstehe ich Welteröffnung hier im Sinne Heideggers. In der »Ursprung des Kunstwerkes« behauptet Heidegger, dass jedes Kunstwerk Welt eröffnet, insofern es einen Orientierungspunkt für die in einer Gemeinschaft wirksamen Normen und Sinnzusammenhänge stiftet. (Vgl. hierzu Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2003, S. 1-74 und Hilgers, Thomas: »Kunst, Wirklichkeit und Affirmation. Gedanken zu Heideggers Kunstwerkaufsatz«, in: Johannes Lang/Michael Lüthy/Lotte Everts (Hg.), Affirmation, Transformation und Kritik, Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 19-46.) Meine Ausgangsthese lautet, dass das Hollywoodkino aktuell für die Welteröffnung (zumindest in westlichen Gesellschaften) eine wesentliche Rolle spielt, insofern es Orientierungspunkte für die Fixierung und Reflexion von Normen, Verhaltensmustern und Sinnkontexten liefert. Unter dem Hollywoodkino verstehe ich hier primär Kinofilme, die von der in und um Los Angeles ansässigen sowie etablierten Filmindustrie produziert wurden. Dies ist eine grob-heuristische Bestimmung; für meine Zwecke in diesem Text sollte sie jedoch hinreichend sein.

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und Banalen) auszubuchstabieren, müssen wir konkrete Filme hinzuziehen. Welche Filme bieten sich hier aber an? Spricht man über Helden in Bezug auf Hollywood, dann liegt es nahe, auf das Genre zu schauen, dass den Ausdruck ›Held‹ oder ›hero‹ im Titel führt und auf die Ebene des Superlativen hebt. Gemeint ist hier natürlich das Superhelden-Genre. In den Spielen von Kindern und Jugendlichen sind Superhelden, welche zunächst vor allem aus Comics bekannt waren, seit vielen Jahren von großer Bedeutung. Und auch wenn es eingefleischte Fangemeinden gibt, sind Filme dieses Genres oft Blockbuster. Die Besetzung von Superhelden im Film wird außerdem bisweilen fast zum Politikum. Das heißt, die Frage, ob ein konkreter Schauspieler einen prominenten Superhelden wie Batman oder Superman auf der Leinwand darbieten kann, darf oder soll, wird mitunter nicht nur von versierten Comicexperten leidenschaftlich diskutiert. Dies sind spannende Aushandlungsprozesse, denn an der Konstruktion und Rezeption einer für die heutige (westliche) Welt so prominenten Heldenfigur wie Batman oder Superman lässt sich manches über die Verfassung dieser Welt ablesen. Einige haben dafür argumentiert, dass die hier wirklich entscheidenden Dinge heute eher in Fernsehserien wie MAD MEN (USA 20072015, AMC) oder BREAKING BAD (USA 2008-2013, AMC) geschähen, und dass Hollywood aufgrund seiner narratologischen Stagnation abgehängt sei. Dies mag ein zum Teil durchaus valider Punkt sein. Jedoch sollten wir Vorsicht walten lassen und Hollywood nicht zu schnell abschreiben. Die folgenden Überlegungen sollen diese Vorsicht ein Stück weit begründen5. Im Folgenden werde ich nun zwei Superheldenkonstruktionen aus Hollywood diskutieren: Zunächst wird es um Batman und seine Gegenspieler aus BATMAN RETURNS (USA 1992, R: Tim Burton) gehen und dann um den entsprechenden Figurenkreis aus THE DARK KNIGHT (UK/USA 2008, R: Christopher Nolan) und THE DARK NIGHT RISES (UK/USA 2012, R: Christopher Nolan). Alle Comicexperten sowie Fans von Tim Burton oder Christopher Nolan seien an dieser Stelle gewarnt: Ich werde nur die 5

Vgl. hierzu zum Beispiel: Metz, Markus/Seeßlen, Georg: »Erzählen im Wandel. Die Welt als Serie – die Serie als Welt«, in: Deutschlandfunk vom 07.01.2018,

http://www.deutschlandfunk.de/erzaehlen-im-wandel-die-welt-

als-serie-die-serie-als-welt.1184.de.html?dram:article_id=402123

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genannten Filme diskutieren – und dies äußerst selektiv. Bevor ich mich den einzelnen Filmen nun aber zuwende, gilt es zunächst ein paar grundsätzliche Dinge zum Begriff des Helden und demjenigen des Superhelden auszuführen6.

6

Seit 1938 tritt Batman in unzähligen Comics auf. Außerdem kennen wir ihn aus Radio- und Fernsehsendungen sowie zahlreichen Filmen. Neben BATMAN RETURNS drehte Burton noch BATMAN (USA 1989, R: Tim Burton) und Christopher Nolan begann seine Trilogie mit BATMAN BEGINS (UK/USA 2005, R: Christopher Nolan). Bei der Vielzahl und Diversität seiner Auftritte trifft Dirck Linck einen Punkt, wenn er schreibt: »Jeder, der von Batman redet, redet von einem anderen Batman, von einem spezifischen Punkt auf der Serienkurve.« (Linck, Dirck: Batman & Robin. Das »dynamic duo« und sein Weg in die deutschsprachige Popliteratur der 60er Jahre, Hamburg: Textem Verlag 2012, S. 10.) Was seine Physis angeht, könnte man geneigt sein, zu meinen, dass für die »erzählerischen Figurationen Batmans ein für die Funktion unverzichtbarer Grundbestand [bleibt]: weiß, groß (1,89m), männlich, dunkelhaarig, blauäugig, muskulös (100kg), kantig.« (Ebd., S. 13-14.) Keiner der Batmandarsteller auf der Leinwand erfüllte wohl aber bisher alle diese Bedingungen, obwohl die meisten vom Publikum als Batman akzeptiert wurden. Wie breit und kontrovers die Besetzung einer Heldenfigur diskutiert werden kann, zeigt momentan die Debatte um die Nachfolge von Daniel Craig in der Rolle des James Bond. Craig selbst wurde leidenschaftlich von vielen Fans abgelehnt, bevor CASINO ROYAL (UK/USA/DE/CZ 2006, R: Martin Campbell) im Kino erschien. Seitdem wird er verehrt wie wohl nur Sean Connery vor ihm, und dass obwohl (oder vielleicht gerade weil) er einen ganz anderen Bond gibt. In den neuen Bondfilmen ist es undenkbar, dass die weibliche Hauptfigur ›Pussy‹ heißt. Mit Blick auf die alten Filme hingegen ist es schwer vorstellbar, dass Bond offen lässt, ob er bisexuell ist. Seit einigen Monaten gibt es nun eine lebhafte Debatte darüber, ob es nicht an der Zeit ist, dass ein nicht-weißer Schauspieler Bond spielt. Auch die Frage, ob Bond von einer Frau gespielt werden könnte, wird diskutiert. Im Hinblick auf die Besetzung von Superheldenrollen stellen sich ähnliche Fragen. Denn obwohl es längst viele Superhelden gibt, die keine weißen Männer sind – wie z.B. WONDER WOMAN (USA 2017, R: Patty Jenkins) oder BLACK PANTHER (USA 2018, R: Ryan Coogler) –, waren alle Batmanund Supermandarsteller im Film bisher eben solche. Warum sollten Batman

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Der Heldenbegriff ist historisch und kulturell natürlich äußerst vielschichtig und dynamisch. Ich möchte hier nur ein paar Punkte markieren, um die eigentliche Diskussion vorzubereiten7. Zur Markierung dieser Punkte scheint es mir naheliegend zu sein, auf die griechische Antike zurückzublicken, denn »[n]icht zufällig ist der griechische Terminus ›Heros‹ (ἥρως) in den meisten europäischen Sprachen zur Bezeichnung des Helden überhaupt geworden.«8 Die prototypischen Helden beziehungsweise Heroen der griechischen Antike waren Herakles und Achilles. Beide zeichnen sich durch außergewöhnliche Stärke und Kriegskunst aus, und beide sind Halbgötter. Vor allem der letzte Punkte ist für den antiken Heldenbegriff von Bedeutung: die Heroen stehen zwischen den Göttern und den Menschen; sie sind sterblich, können aber über den Tod hinaus eine gewisse Wirksamkeit entfalten9. Daher bestand dann auch im antiken Griechenland eine besondere Beziehung zwischen dem Heroen- und dem Totenkult: »In der üblichen Verwendung meinte das Wort [›Heros‹ oder ›ἥρως‹] den Kämpfer, Anführer oder Herrscher. Zugleich bezeichnete es Wesen, die zwischen Göttern und Menschen standen oder als eine Art Lokalgott verehrt wurden; auch historische

und Superman aber weiße Männer sein? Würden diese Figuren nicht genauso gut mit anderer Hautfarbe funktionieren, und wäre es nicht wünschenswert, dass Publikum daran zu gewöhnen, dass die auf der Leinwand gezeigten Weltenretter schlechthin keine weißen Männer sein müssen? (Zur kulturellen Bedeutung von Superhelden: Vgl. Dath, Dietmar: Superhelden. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2016, S. 3.) 7

Zur Einführung in den facettenreichen Begriff des Helden oder der Heldin empfehle ich folgende Anthologien: Immer, Nikolas/van Marwyck, Mareen (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden,

Bielefeld:

transcript

Verlag

2013;

sowie

Ramb,

Martin

W./Zaborowski, Holger (Hg.): Helden und Legenden. Oder: Ob sie uns heute noch etwas zu sagen haben, Göttingen: Wallstein Verlag 2015. 8

Heil, Matthäus: »Halbgötter aus dem antiken Griechenland«, in: Immer/van Marwyck (Hg.), Ästhetischer Heroismus (2013), S. 29-50, hier: S. 30.

9

Vgl. ebd., S. 38.

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Persönlichkeiten wie der Spartanerkönig Brasidas konnten in diesen Rang aufrücken. […] Im Extrem konnte man sogar jeden Toten, dem man etwas Gutes nach sagen wollte, als Heros bezeichnen.«10

Wichtig ist hier außerdem, zu betonen, dass im Kontext der antiken griechischen Kultur, Helden nicht »in jedem Fall gut [sind], schon gar nicht in einem moralischen Sinn.«11 Mit Blick auf Helden wie Herakles, Achilles oder Odysseus wird letzteres augenfällig. Die Assoziation zwischen Heldentum und Außergewöhnlichkeit – gerade auch was die körperliche Leistungsfähigkeit betrifft – hat sich im europäischen Kontext bis in die Neuzeit gehalten. Neben der Außergewöhnlichkeit tritt als zweites Moment häufig hinzu, dass sich am Helden etwas für die jeweilige Gesellschaft Relevantes offenbart. So kann der Held oder die Heldin als Vorbild oder Model auftreten, an dem man sich in seinem Denken, Fühlen oder Handeln ausrichtet. Er oder sie kann aber auch eine Figur sein, in der sich paradigmatisch ein Verhalten, eine Situation oder gar eine Krise so verdichtet, dass die Fixierung, Aushandlung, Reflexion oder Kritik der je eigenen Welt- beziehungsweise Sinnzusammenhänge möglich wird. Hier kommt eine wichtige Auffächerung des Heldenbegriffs zum Tragen, da ein Held ja nicht unbedingt außergewöhnlich sein muss, um seine Zeit zu pointieren. Letzteres könnte er gerade auch als Durchschnittsfigur tun – und mit dieser Einsicht wären wir schon fast bei der reduzierten (narratologischen) Idee des Helden als Protagonisten einer Erzählung angelangt12. Auch wenn es nun aber durchaus sinnvoll sein kann, eine Durchschnittsfigur als Helden zu betrachten, meine ich, dass wir nach wie vor dem Helden in der Regel den Status des Außergewöhnlichen zusprechen und dieser Zuspruch wohl mit dafür verantwortlich ist, dass der Heldenbegriff aktuell zu verblassen beziehungsweise unter Druck zu stehen scheint. 10 Ebd., S. 31; S. 39. 11 Ebd., S. 35. 12 Für die Entwicklung des Heldenbegriffes in der Neuzeit – und vor allem für seine Implikationen von Außergewöhnlichkeit und Orientierungsrelevanz – vgl. Immer, Nikolas/van Marwyck, Mareen: »Zur Präsenz und Performanz des Heroischen«, in: Immer/van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013), S. 1128.

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So ist viel davon die Rede, dass wir (als Europäer) in postheroischen Gesellschaften lebten, in denen Ideen des Heldentums verschwänden. Aus normativer Sicht gesprochen wird außerdem die Gefährlichkeit solcher Ideen betont – beziehungsweise es wird behauptet, dass das Bemühen des Heldenbegriffes gesellschaftlich problematische oder gar gefährliche Umstände signalisiere. So schreibt Jürgen Habermas: »Mir scheint, daß sich, wo immer ›Helden‹ verehrt werden, die Frage stellt, wer das braucht – und warum. Auch in diesem harmloseren Sinne kann man Brechts Warnung verstehen: ›Wehe dem Land, das Helden nötig hat.‹«13 Dass das Heroische nicht mehr so recht zur Neuzeit passe, ist freilich ein Gedanke den bereits Hegel vortrug. Hegel zufolge zeichnet sich der Heros durch eine Selbstständigkeit aus, welche »in der Einheit und Durchdringung der Individualität und Allgemeinheit« bestünde14. Der Heros lasse nämlich durch seine Tätigkeiten als konkretes Individuum etwas Allgemeines zur Erscheinung kommen, was ohne ihn nicht real wäre. Andererseits sei er als Individuum real einzig durch das Allgemeine, das er zur Erscheinung bringe: »So treten z. B. die griechischen Heroen in einem 13 Habermas, Jürgen: »Fundamentalismus und Terror. Antworten auf Fragen zum 11. September 2001«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 47. Jg., H. 2, 2002, S. 165-178, hier: S. 178, zitiert nach Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 189. Ganz anders urteilt Iain Thomson. Trotz der potentiellen Gefahren, die Heldenbilder mit sich brächten, sei das Festhalten an solchen Bildern notwendig, um das Entstehen einer leeren Gesellschaft ohne positive Zukunftsvisionen zu vermeiden. Aus Frankfurter Perspektive – oder besser gesagt aus der Perspektive einer kritischen Theorie – könnte eine Gesellschaft ohne positive (im Sinne von konkret ausbuchstabierten) Zukunftsvisionen jedoch gerade wünschenswert sein. (Vgl. hierzu Thomson, Iain: »Deconstrucing the Hero«, in: Jeff McLaughlin (Hg.), Comics as Philosophy, Jackson: University Press of Mississippi 2005, S. 100-129, hier: S. 13, 19, 20.) Die Auffassung, dass wir heute in postheroischen Gesellschaften leben, wurde unter anderem von Herfried Münkler populär gemacht. Münkler knüpft das Heldentum dabei primär an die Opferbereitschaft. (Vgl. Münkler, Herfried, »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur, 61. Jg., H. 700, 2007, S. 742-752.) 14 Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über Ästhetik I, Werke Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 237.

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vorgesetzlichen Zeitalter auf oder werden selber Stifter von Staaten, so daß Recht und Ordnung, Gesetz und Sitte von ihnen ausgehen und sich als ihr individuelles Werk, das an sie geknüpft bleibt, verwirklichen.«15 Bezüglich des heroischen Subjekts gebe es folglich keine Trennung zwischen ihm selbst und dem »sittlichen Ganzen […], dem es angehört.«16 Ganzheit sei aber für dieses Subjekt nicht nur insofern wesentlich, als bei ihm Individualität und Allgemeinheit nicht auseinanderklafften, sondern auch insofern es »für das Ganze seiner Tat mit seiner ganzen Individualität«17 einstünde. Die (neuzeitliche) Ausrede »das wollte ich doch so aber gar nicht« komme ihm daher nicht über die Lippen18. Mit Blick auf die staatliche Ordnung seiner eigenen Zeit, die ich hier als ›Neuzeit‹ oder ›Moderne‹ bezeichne, meint Hegel, dass die Allgemeinheit (der »Gesetze, Gewohnheiten, Rechte«19) nicht auf die zufällige Erscheinung eines besonderen Individuums angewiesen sei. Das Allgemeine und das Individuelle seien vielmehr unabhängig voneinander real und »jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber […].«20 Dennoch konstatiert Hegel – und dies ist für unsere Diskussion spannend – eine gewisse Anhänglichkeit an das Heroische: »Das Interesse nun aber und Bedürfnis solch einer wirklichen, individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen, wir mögen die Wesentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben als noch so ersprießlich und vernünftig anerkennen.«21 Spannend mit Blick auf unser Thema sind 15 Ebd., S. 244. 16 Ebd., S. 247. 17 Ebd., S. 246. 18 Auf die Wichtigkeit von Hegels Diskussion des Heros hat mich vor allem die Lektüre von Josef Früchtls Das unverschämte Ich aufmerksam gemacht. Nicht nur in diesem Punkt verdanke ich dieser Lektüre viel für die Entwicklung der hier vorgetragenen Gedanken (Vgl. J. Früchtl: Das unverschämte Ich, S. 6683). 19 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 239. 20 Ebd., S. 254; S. 255. 21 Ebd., S. 255.

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außerdem folgende drei Punkte: Neben der strukturellen Ähnlichkeit des Heroischen und des Kunstschönen bemerkt Hegel selbst unter den Bedingungen der bürgerlichen Neuzeit einen gewissen Spielraum für das Heroische, und zwar im Kontext von Revolutionen, Kriegen und Ähnlichem – also im Kontext von Zeiten, »in denen die Bande der Ordnung und Gesetze sich auflockern oder brechen.«22 Gotham Citys Zeit könnte man durchaus als eine solche Zeit betrachten, und die daraus resultierende Möglichkeit beziehungsweise Notwendigkeit eines Heldenauftrittes wird vor allem in Nolans Filmen ein ums andere Mal innerhalb der Diegese thematisiert. Zweitens macht Hegel darauf aufmerksam, dass in künstlerischen Darstellungen, Helden in der Regel Adlige seien, und zwar »der vollkommenen Freiheit des Willens und Hervorbringens wegen, welche sich in der Vorstellung der Fürstlichkeit realisiert findet.«23 Batman (alias Bruce Wayne) steht natürlich in dieser Tradition. Schließlich benennt Hegel ein entscheidendes Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft, wenn er schreibt, dass in dieser die gesetzliche Strafe die individuelle Rache ersetze. Bereits Locke hatte bemerkt, dass der Verzicht auf Selbstjustiz eine Bedingung der bürgerlichen Zivilgesellschaft (und deren höherer Sicherheit) sei24. Als vigilante unterminiert Batman diese Bedingung klarerweise25. 22 Ebd., S. 252. 23 Ebd., S. 251. 24 Vgl. hierzu Skoble, Aeon J.: »Superhero Revisionism in Watchmen and The Dark Knight Returns«, in: Tom Morris/Matt Morris (Hg.), Superheros and Philosophy: Truth, Justice, and the Socratic Way, Bd. 13 der Serie Popular Culture and Philosophy, Chicago/La Salle: Open Court Publishing 2005, S. 29-42, hier: S. 30. 25 Josef Früchtl schreibt über Helden: »Sie durchbrechen Regeln, was sie in gefährliche Nähe zu Verbrechern bringt.« (Früchtl, Josef: »Gemacht und dennoch wahr. Die Präsenz des Helden auf der Leinwand«, in: Immer/van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013), S. 131-148, hier: S. 143). Auch dies ist ein Punkt, der im Hinblick auf Batman von Interesse ist. Spätestens seit Frank Millers sogenannten graphic novel Batman – The Dark Knight Returns aus den achtziger Jahren ist Batmans Wesensverwandtschaft mit Verbrechern ein widerkehrender Topos, der erneut in Nolans Filmen stark aufgegriffen wird. Da in diesem Aufsatz häufig von der Neuzeit oder Moderne die Rede ist, möchte ich an dieser Stelle auch auf Früchtls nützliche Arbeitsdefinition der Moderne

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Selbst wenn wir nun aber der These zustimmten, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Heroischen und dem Neuzeitlichen gibt, könnten wir deshalb wohl kaum konstatieren, dass jedweder Heldendiskurs verschwunden sei. Ein Blick auf kulturelle Phänomene wie den Sport, Comics und Hollywoodfilme zeigt dies26. Die eigentliche Frage lautet daher, inwiefern die im Kontext von Sport, Comics, Film und Entertainment auftretenden neuen Helden noch etwas mit den alten Heroen zu tun haben. Wenden wir uns ausgehend von dieser Frage nun unserem Thema zu, dann erscheint es vor dem Hintergrund des bisher ausgeführten so, als ob der Begriff des Superhelden entweder auf einer Redundanz oder einer Steigerung basiere. Denn Helden sind schließlich per se super im Sinne von außergewöhnlich, und insofern ist der Zusatz des ›super‹ redundant. Andererseits könnte man geneigt sein, zu behaupten, dass sich der Superheld vom Helden dadurch unterscheidet, dass er oder sie in außergewöhnlichem Maße außergewöhnlich sei. Mit diesem Schachzug ist begrifflich jedoch wenig gewonnen. Tatsächlich gibt es auch deutlich elaboriertere Definitionsversuche. Die Literatur zu diesem Thema ist lang und divers. Der folgende Versuch beispielsweise definiert den Superhelden als »a heroic character with a selfless, pro-social mission; with superpowers – extraordinary abilities, highly developed physical, mental, or mystical skills, or advanced technology; who has a superhero identity embodied in a codename and iconic costume; which typically expresses his biography or character, powers, or origin (transformation from ordinary person to superhero); and is generically distinct; i.e.

hinweisen: »Modern nennt man in diesem Zusammenhang eine Epoche, die durch rechtsstaatliche Gewaltenteilung, individuelle Freiheit und ökonomische Arbeitsteilung gekennzeichnet ist.« (Ebd., S. 131). 26 Vgl. Nehrlich, Thomas: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird. Zu Geschichte, Wesen und Ästhetik von Superhelden«, in: Immer/van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013), S. 107-130, hier: S. 107. Um die Helden des Sports geht es übrigens auch bei Früchtl (vgl. J. Früchtl, »Gemacht und dennoch wahr. Die Präsenz des Helden auf der Leinwand«, in: Immer/van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013)).

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can be distinguished from characters of related genres (fantasy, science fiction, detective, etc.) by a preponderance of generic conventions. Often superheros have dual identities, the ordinary one of which is usually a closely guarded secret.«27

Ich werde nun nicht alle Bedingungen dieses (oder eines anderen) Definitionsversuches auf ihre Gültigkeit prüfen, sondern stattdessen zwei wesentliche Punkte herausgreifen. Erstens gilt für den Superhelden definitiv das, was für den Helden oder die Heldin im Allgemeinen gilt: er oder sie ist außergewöhnlich. Oft bedeutet dies, dass er oder sie übermenschliche Kräfte besitzt, und insofern zwischen Menschen und Göttern steht. (Hier wäre vor allem Superman zu nennen, dessen Figur einige Jesusparallelen aufweist und letztlich als Messias mit echter Feuerkraft konstruiert ist.) Er kann aber auch – wie Batman – einzig über außergewöhnliche (körperliche und geistige) Fähigkeiten sowie außergewöhnliche finanzielle Mittel verfügen. Bruce Wayne ist bekanntlich Multimilliardär und reichster Mann der Stadt, der auch als »prince of Gotham« bekannt ist. Die von Hegel thematisierte Fürstlichkeit des Helden ist bei ihm somit gegeben. Zweitens ist es für gewöhnlich so, dass ein Superheld eine Maske und/oder ein Kostüm trägt, die seine andere Identität verbergen. Superman zum Beispiel ist (im bürgerlichen Leben) Clark Kent. Aber das wissen innerhalb der fiktionalen Welt nur die Wenigsten. Anders ausgedrückt, Clark Kent verkleidet sich, um als Superman zu erscheinen, und um zu verdecken, dass dieser Superman Clark Kent ist. ›Superman‹ und ›Clark Kent‹ sind somit zwei Eigennamen, die das gleiche Einzelwesen bezeichnen, es aber ganz anders erscheinen lassen. Mit Frege gesprochen könnte man sagen, dass sie bedeutungs- aber nicht sinngleich sind, und Gleiches ließe sich natürlich mit Blick auf andere Superhelden ausführen. Die Sinndifferenz der jeweiligen Eigennamen (Clark Kent/Superman, Bruce Wayne/Batman, Peter Parker/Spiderman usw.) ist dabei außergewöhnlich groß – Superman erscheint wirklich ganz anders als Clark Kent –, während die Bedeutungsgleichheit ein behütetes Geheimnis ist. Selbst wenn letztere 27 Coogan, Peter: »The Definition of the Superhero«, in: Wendy Haslem/Angela Ndalianis/Chris Mackie (Hg.), Super/Heroes. From Hercules to Superman, Washington, D.C.: New Academia Publishing 2007, S. 21-36, hier: S. 21, zitiert nach T. Nehrlich, »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird«, S. 121.

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(wie bei Iron Man) innerhalb der fiktionalen Welt allgemein bekannt ist, bleiben Maskierung und Kostümierung aber dennoch im Spiel, was darauf hinweist, dass deren entscheidende Funktion letztlich weniger im Verdecken der anderen (bürgerlichen) Identität als im Zeigen der besonderen Superidentität des jeweiligen Helden besteht: »Der Superheld, der seine Maske nicht mehr trägt, hört auf, einer zu sein. […] Die Maske ist Bezeichnung und Abbild der Identität des Superhelden – statt sie zu verbergen, macht sie sie sichtbar.«28 Im Hinblick auf Batman sind Maske und Kostüm von noch größerer Bedeutung als im Hinblick auf Superman oder Spiderman. Während man nämlich durchaus sagen könnte, dass Clark Kent Superman bleibt, selbst wenn er nicht dessen Kostüm trägt, lässt sich Gleiches nicht so leicht mit Blick auf Bruce Wayne sagen. Clark Kent ist immer Superman, nutzt aber ein Kostüm, um als dieser in Erscheinung zu treten. Bruce Wayne ist (strenggenommen) nicht immer Batman, sondern vielmehr derjenige, der sich von Zeit zu Zeit durch das Anlegen eines Kostüms in Batman verwandelt. Tatsächlich ist Batman, um wirklich Batman zu sein, von seinem Equipment (Waffen, Umhang usw.) abhängig; Gleiches gilt nicht für Superman. Zumindest in den Comics treten außerdem neben Bruce Wayne andere Figuren als Batman auf. So mag Bruce Wayne zwar der erste (und vielleicht wahre) Batman sein, der einzige ist er nicht. Strenggenommen fungiert ›Batman‹ somit nicht als Name, sondern eher als eine Art Titel, der aber immer nur von einer Person getragen werden kann. Worauf das Recht beruht, diesen Titel zu tragen, lässt sich schwer sagen. Letztlich scheint es wohl vor allem so zu sein, dass derjenige Batman ist, der auf-

28 Ebd., S. 127. Nehrlich sieht in der jeweiligen Maske einen »Hinweis auf das individuelle Rollen- und Selbstverständnis der Figuren«. Ebd., S. 126. Thomson verweist in diesem Kontext auch auf das griechische Theater: »In Greek drama, the mask amplifies the voice and so focuses, rather than hides, the person within […].« I. Thomson: »Deconstrucing the Hero«, S. 26. Ich schulde Lisa Gotto Dank, die mich auf die Bedeutung der Maske in diesem Zusammenhang erstmals aufmerksam machte. Zum Thema der Maske (vgl. D. Dath: Superhelden, S. 44). Bezüglich Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung (vgl. Frege, Gottlob: »Über Sinn und Bedeutung«, in: ders.: Funktion – Begriff – Bedeutung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 23-46).

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grund seiner authentischen Rolleninterpretation allgemein als ›the Batman‹ anerkannt wird. An dieser Konstruktion zeigt sich erneut das politisch Problematische der Batmanfigur, worauf ich am Ende dieses Textes zurückkommen werde. Bevor ich mich nun den Filmen zuwende, gilt es auf einen möglichen Widerspruch zwischen Heldentum und Maskierung hinzuweisen. In Vita activa schreibt Hannah Arendt: »Der Mut, den wir heute als unerlässlich für einen Helden empfinden, gehört bereits, auch wenn er kein heroischer Mut in unserem Sinne ist, zum Handeln und Sprechen als solchen, nämlich zu der Initiative, die wir ergreifen müssen, um uns auf irgendeine Weise in die Welt einzuschalten […] des Mutes und sogar einer gewissen Kühnheit bedarf es bereits, wenn einer sich entschließt, die Schwelle seines Hauses, den eigenen Privatbereich der Verborgenheit, zu überschreiten, um zu zeigen, wer er eigentlich ist, also sich selbst zu exponieren. Das Ausmaß dieses anfänglichen Mutes, ohne den Handeln und Sprechen [...] überhaupt nicht möglich sind, ist nicht weniger groß und vielleicht sogar größer, wenn es sich zufällig ergeben sollte, daß der ›Held‹ leider ein Feigling ist.«29

Wenn der Held notwendigerweise in dem Sinne mutig ist, dass er sich in der Öffentlichkeit exponiert, dann könnte man meinen, dass Batman gerade kein Held ist, weil er eine Maske trägt und sich insofern nicht exponiert. Andererseits könnte man darauf beharren, dass die Maske primär nicht der Verdeckung sondern der Exposition von Bruce Waynes wahrem Charakter dient. Im letzten Teil dieses Textes werde ich auf diesen Punkt zurückkommen30. 29 Arendt, Hannah: Vita activa. Oder Vom tätigen Leben, München/Berlin/Zürich: Piper Verlag 2002, S. 232. 30 Lars Banhold beginnt sein Buch Batman. Re-Konstruktion eines Helden mit der Bemerkung, dass sich die Frage, ob Batman ein Held sei, eigentlich gar nicht stelle: »Man mag das Heldenkonzept an sich kritisieren oder die Ideologie, die man in Batman zu erkennen glaubt, trotzdem bleibt Batman ein Held, sei das nun positiv oder negativ. Er ist eine Identifikationsfigur, eine Projektionsfläche für allerlei imaginäre Wünsche, Indikator für gesellschaftliche Ideale, geteilte ethische Vorstellungen und ein sinnstiftender Mythos.« (Banhold, Lars: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, Berlin: Christian A. Bachmann

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II. B ATMAN R ETURNS Sowohl die Filme von Tim Burton als auch diejenigen von Christopher Nolan thematisieren innerdiegetisch ständig, dass Batmans Verhalten aus der Norm fällt. Und so werden nicht nur der Joker oder der Pinguin von anderen ›Freak‹ genannt. Hierin besteht ein Unterschied zur Fernsehserie der sechziger Jahre, wo es recht natürlich erschien, dass erwachsene Männer in Tierkostümen Kriminelle jagen. Bei Burtons Batman fällt außerdem auf, dass Bruce Wayne bereits ohne Maske ein Sonderling ist. Die Besetzung des Komödianten Michael Keaton sorgte für einige Bedenken seitens der Fans. Dass Keaton durch die Batmanfilme dann zum Star wurde, sein Ruhm aber schnell wieder verblasste, ist eine Geschichte, die in Alejandro Iñárritus BIRDMAN. OR THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE (USA 2014, R: Alejandro González Iñárritus) – mit Keaton in der Hauptrolle – genial aufgegriffen wurde. Wie vielen anderen seiner Figuren gibt Burton seinem Bruce Wayne eine fahrige Note. Anders als Nolans (beziehungsweise Christian Bales) Bruce Wayne ist Burtons (beziehungsweise Keatons) Wayne kein Playboy31. Vielmehr wirkt er ungeschickt und desorientiert. Zwar zeigt er Interesse an Frauen, verhält sich aber steif und verklemmt. Man könnte meinen, dass dies (statt des üblichen Playboytums) die Maskierung dieses Bruce Waynes ist, um sicherzustellen, dass niemand ihn für Batman hält. Ich behaupte jedoch, dass es sich hierbei um keine Maskierung handelt, sondern dass dieser Bruce Wayne tatsächlich so ist. Um kraftvoll und souverän aufzutreten, braucht er seine Batmanmaske. Das Motiv des Freaks tritt vor allem in Burtons zweitem Batmanfilm – BATMAN RETURNS – in den Vordergrund. In diesem Film zeigt Bruce

Verlag 2017, S. 7). Tatsächlich ist Batman wohl all dies. Insofern hat Banhold recht. Außerdem hat er recht, wenn er darauf insistiert, dass »keine völlig einheitliche Darstellung des einen Batman möglich ist.« (Ebd., S. 14). Mein Anliegen in diesem Aufsatz ist es nun aber, unter den zahlreichen Batmans zwei herauszugreifen und zu fragen, inwiefern diese konsistenterweise als Helden gedacht werden können – wobei außer Frage steht, dass sie oft als eben solche betrachtet werden. 31 Vgl. L. Banhold: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, S. 175.

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Wayne melancholisch-depressive Züge. So sehen wir ihn in seiner ersten Szene allein und mit gesenktem Blick in einem dunklen Raum sitzen. Erst das an den Himmel projizierte Batmansignal weckt ihn aus seiner versteinerten Haltung. Es scheint, als könne er als Bruce Wayne wenig mit sich und der Welt anfangen. Um »die Schwelle seines Hauses, den eigenen Privatbereich der Verborgenheit, zu überschreiten«32, und um somit in die Welt einzugreifen, braucht er Kostüm und Maske. Als Batman kostümiert handelt er dann energisch und entschieden – ja zeigt sogar sadistische Züge. Hier begegnet uns ein zweites Motiv der Batmanfilme von Tim Burton: die Rache. Fast alle Protagonisten handeln aus Rachegelüsten. Vor allem Batman und der Pinguin leiden an einem Kindheitstrauma und geben sich dem Wiederholungszwang hin, die mit diesem Trauma verbundene Verletzung durch stellvertretende Bestrafungen zu beseitigen. Bruce Wayne will die von ihm miterlebte Ermordung seiner Eltern rächen und bestraft Kriminelle für deren Mord. Um sich als wirkungsvoller Rächer zu inszenieren, seinen Gegnern Angst einzujagen und ein anderes Trauma zu überwinden, kostümiert er sich als Fledermaus – als das Tier also, vor dem er sich selbst seit seinem Sturz als Kind in eine Fledermaushöhle fürchtet. Oswald Cobblepod (alias der Pinguin) will sich gleich an der ganzen Gesellschaft rächen für seine körperliche Deformation und sein Verstoßenwerden aufgrund dieser. Und Selina Kyle (alias Catwoman) will ihren Chef und diverse andere Männer für die ihr zugefügten Erniedrigungen betrafen: »Life’s a bitch. Now so am I.« (BATMAN RETURNS, 01:00:2801:00:31) Anders als Nolans Wayne kommt Burtons Wayne aus der Rachespirale nicht heraus. Er bleibt Batman33. 32 H. Arendt: Vita activa, S. 232. 33 Elisabeth Bronfen meint, dass Tim Burton »[g]anz im Sinne Althussers […] sichtbar [macht], wie sehr sein Protagonist Bruce Wayne nur durch die symbolische Anrufung in seiner Identität als Held bestätigt werden kann.« (Bronfen, Elisabeth: Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Volk und Welt 1999, S. 477). In ihrem Text zu BATMAN RETURNS arbeitet Bronfen die Motive der Rache, der »Bewältigungsphantasie«, der »traumatischen Kränkung« und des »Wiederholungstriebs« heraus. (Vgl. ebd., S. 478-479). Nicht nur in ihrer Beschreibung dieser Motive stimme ich ihr zu. Insgesamt verdanke ich der Lektüre ihres Textes viel für die Verfassung dieses Aufsatzes. Rache und Traumaverarbeitung gehörten wohl immer schon zu Batmans DNA, aber so

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Dass Burtons Wayne als Batman souverän handelt, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zweifelsohne kann er sich gut schlagen und triumphiert letztlich über den Pinguin, aber selbst als Batman agiert Bruce Wayne steif. Vor allem nach der Begegnung mit Catwoman, stolpert er zunehmend durch die Handlung ohne die Dinge unter Kontrolle zu haben. Batman in love liefert eine desorientierte Performance ab und wird damit vollends zu einem freakigen Helden mit vielen Schrammen. Keineswegs ist er der auf allen Feldern kompetent handelnde Held, wie wir ihn aus anderen Superheldenfilmen kennen. Gleiches gilt auch für seine Gegenspieler. Insbesondere der Pinguin ist definitiv ein Freak: »You’re just jealous, because I’m a genuine freak, and you have to wear a mask« (BATMAN RETURNS, 01:49:12-01:49:18) sagt dieser zu Batman. Oswald Cobblepod wurde von seinen Eltern als Kind ausgesetzt und von Pinguinen großgezogen. Als »postmoderner Moses«34 wird er von ihnen aus dem Kanal gezogen und als »phantasmatische Umkehrung des Heilands«35 führt er 33 Jahre später eine Gruppe von freakigen Jüngern in den Kampf – zumeist ehemalige Zirkusangestellte, die nun als red triangle gang bekannt sind. Verbündet sich Wayne also mit Fledermäusen gegen seine Gegner, so verbündet sich Cobblepod mit Pinguinen und anderen Freaks gegen die seinigen. Die spannendste Figur ist doch wohl aber Selina Kyle, die kein offensichtlicher Freak ist. Burton hat mit ihr zunächst einen Stereotyp ausbuchstabiert. Kyle leidet am lonely secretary syndrome. Ständig erniedrigt, unterdrückt oder enttäuscht von Männern – vor allem von ihrem Chef (dem richtig trat die dunkle und politisch bedenkliche Seite Batmans mit Frank Millers graphic novels aus den achtziger Jahren in den Vordergrund: »Ausgerechnet der standhafte Verbrecherjäger Batman entpuppte sich ab Februar 1986 in Frank Millers The Dark Knight Returns (Die Rückkehr des dunklen Ritters) als autoritärer Psychopath, […].« (D. Dath: Superhelden, S. 7.) Burtons und vor allem Nolans Filme knüpfen stark an Millers Arbeiten an. Im Hinblick auf beide Batmaninterpretationen gilt folgende Aussage Dirck Lincks: »Batman ist unerklärlicher, irrer, gewalttätiger. Schöner! Ihn bewegt ein Zorn, der sich selbst bewegt.« (D. Linck: Batman & Robin, S. 13). 34 E. Bronfen: Heimweh, S. 470. 35 Ebd., S. 471.

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kriminellen Großunternehmer Max Shreck) – sowie von ihrer Mutter hat sie sich in eine zugekitschte, rosa Wohnung mit lauter Stofftieren und Katzenmotiven geflüchtet. Stoisch geht Kyle ihren Routinen nach – inklusive einem wohl täglichen Spiel, bei dem sie ihre Wohnung betritt und ihren imaginären Ehemann begrüßt. Dass sich unter dieser Decke von Kitsch, Routine und Illusion zunehmend Aggressivität sammelt, deutet sich an, als Kyle einen bewusstlosen Kriminellen mit einem Elektroschocker traktiert. Zur Explosion kommt es, nachdem sie einen Teil der betrügerischen Geschäfte ihres Chefs bemerkt, und dieser sie daraufhin aus dem Fenster schmeißt. Zwar überlebt Kyle ihren Sturz, erwacht aber nicht mehr als die Gleiche. Wachgebissen von Katzen – eine Szene, die an die Verwandlungen aus Vampirfilmen erinnert – kehrt sie in ihre Wohnung zurück. Apathisch vollzieht sie dort ihre üblichen Routinen – verschüttet dabei jedoch beim Füttern der Katze (anders als sonst) Milch und trinkt diese so gierig aus der Packung, dass sie ihr am eigenen Körper herunterläuft. Beim Abhören des Anrufbeantworters wandelt sich ihre Apathie in einen Schreikrampf, welcher der Auftakt einer grandiosen Zerstörung beziehungsweise Renovierung ihres Refugiums ist. Parallel zur Demolierung des bisherigen Interieurs schneidert sich Kyle ein Katzenkostüm aus Leder, in dem wir sie am Ende der Szene sehen. »I don’t know about you Miss Kitty, but I feel so much yumier« (00:33:34-00:33:42) sagt sie mit neuer Stimme zu ihrer Katze. Catwoman ist geboren, und wir haben einen Beleg für die These, dass das Kostüm eines Superhelden oder einer Superheldin vor allem Ausdruck ihrer Identität ist36. Selina Kyle braucht ihr Kostüm, um von nun als Catwoman ganz anders in Erscheinung zu treten. Als diese zeigt sie erstaunliche physische Fähigkeiten, schlägt einige Männer in die Flucht und nimmt es selbst mit Batman erfolgreich auf. Hier liegt ein Kontrast zu Nolans Erzählung von der Entstehung Batmans. BATMAN BEGINS zeigt, dass Bruce Wayne ein intensives Training absolvieren muss, um zu dem Kämpfer zu werden, der er als Batman ist. BATMAN RETURNS zeigt, 36 Im Hinblick auf Batman schreibt Jason J. Howard: »Consequently, the purpose of his cape and cowl is not to hide who he is. Rather, it stands as testament to the choices he has made and the man he has become.« (Howard, Jason J.: »Dark Nights and the Call of Conscience«, in: Robert Arp/Mark D. White (Hg.), Batman and Philosophy. The Dark Knight of the Soul, Hoboken, New Jersey: John Wiley & Sons 2008, S. 198-211, hier: S. 210).

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dass Selina Kyle derartiges nicht nötig hat. Sie stürzt einfach und entscheidet sich daraufhin, eine andere zu werden. Ihr Sturz, Entschluss und Auftritt als Catwoman färbt aber auf ihre Auftritte als Selina Kyle ab. Catwomans nächtliche Kämpfe verwandeln Selina Kyle in eine selbstbewusste Frau, die sich nicht mehr herumschubsen lässt. Die Suche nach der je eigenen (authentischen) Identität und dem dazu passenden Aussehen eint Batman, Catwoman und den Pinguin. Neben den Motiven des Freaks und der Rache steht bei Burton das (für alle Superheldennarrative auf die eine oder andere Weise bedeutsame) Wechselspiel zwischen eigener Identitätssuche und Maskierung im Zentrum. Ironischerweise erkennen sich Bruce Wayne und Selina Kyle letztlich als Batman und Catwoman auf einem Maskenball, auf dem sie ausnahmsweise die einzigen sind, die keine Masken tragen. Während des Tanzens ergänzt Wayne eine Aussage Kyles auf genau die gleiche Weise, wie einst Catwoman diese Aussage Batmans ergänzte: »Misteltoe can be deadly if you eat it. A kiss can be even deadlier if you mean it.« (01:37:39-01:37:49) Eine Minute vor dieser offenbarenden Wiederholung hatte Kyle Wayne gestanden: »I guess I am tired of wearing masks« (01:36:17-01:36:19), worauf dieser antwortet: »Me too«. Offen bleibt, welche Masken hier gemeint sind. Ist Selina Kyle müde, als Catwoman maskiert aufzutreten? Oder ist sie müde, als Selina Kyle maskiert aufzutreten, weil Catwoman letztlich die authentischere Erscheinung ihrer selbst ist. Schon bei ihrem ersten Date hatten sich beide über Identität und Dualität ausgetauscht. Wayne berichtete von seiner Exfreundin, die mit seiner Dualität nicht gut klar gekommen sei: »Wayne: Well, there are two truths – you know. She had trouble reconciling them, because I had trouble … ehm … reconciling them. Kyle: Yeah. […] Kyle: Was Vicky right with your difficulty with duality? Wayne: See, if I say ›yes‹, then you gonna think of me as a Norman Bates/Ted Bundy type – and … ehm … well, you might not let me kiss you. Kyle: The so-called normal guys always lead you down. Sickos never scare me. At least, they are committed. Wayne: Well, … ehm … yeah. (01:10:59-01:12:11)«

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Kyle küsst Wayne daraufhin. Das beginnende making out endet jedoch schnell, da beide schmerzhafte Blessuren von ihrer Begegnung als Batman und Catwoman davon getragen haben, welche das Liebesspiel deutlich behindern – vor allem da beide versuchen, diese sich (in ihren anderen Leben) gegenseitig zugefügten Blessuren nun voreinander zu verbergen. Vor allem Wayne scheint den Wunsch zu hegen, eine ganzheitliche Identität zu entwickeln, und er hofft, dass Kyle ihm durch deren eigene Dualität helfen kann, dies zu erreichen: aus zwei Dualitäten mögen sozusagen zwei Identitäten entstehen. Einer berühmten Liebestheorie zufolge – die in Platons Symposium diskutiert wird – sind Liebende immer zwei Teile eines gespalteten Wesens, die sich in der Liebe erneut zu diesem Einzelwesen vereinigen37. Bei der von Bruce Wayne erhofften Liebe geht es hingegen darum, zunächst einmal dem Liebenden als Einzelnem zu seiner Ganzheit zu verhelfen. Das Verbindende zwischen den Liebenden hier ist also das jeweilige Gespaltensein. In der letzten Begegnung zwischen Bruce Wayne und Selina Kyle – diesmal zunächst in ihren Rollen als Batman und Catwoman – bringt Wayne dies klar auf den Punkt: »Let’s just take him to the police [gemeint ist Max Schreck], then we can go home – together. Selina! Don’t you see? We’re the same. We’re the same. Split right down the center. Selina! Please!« (01:52:38-01:53:31) Während er dies sagt, reißt er sich die Batmanmaske herunter und zeigt sich damit auch gegenüber dem anwesenden Max Shreck als Bruce Wayne. Im ganzen Film handelt Wayne (ob nun als Wayne oder Batman) wohl nur in dieser Szene wirklich klar, souverän und (scheinbar) authentisch. Für ein Leben mit Kyle zeigt er sich bereit, seine Existenz als vigilante und Rächer aufzugeben. Er verweist auf die Polizei – eine staatliche Institution, deren Gewaltmonopol er bisher missachtete – und auf das Heim als Ort für ein anderes, bürgerliches Leben – das ihn bisher nicht befriedigte. Kyle (oder besser gesagt Catwoman) scheint zunächst hin und hergerissen, entscheidet sich dann aber klar gegen Waynes Angebot: »Bruce, I would love to live with you in your castle – forever, just like in a fairy tale. [Sie schlägt ihn schreiend zurück.] I just couldn’t live with myself. So, don’t pretend this is a happy ending.« (01:53:34-01:53:54) Was genau sie mit »I just 37 Vgl. hierzu Plato: Symposium, in: ders.: Complete Works, John M. Cooper (Hg.), Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing Company 1997, S. 457505, insbesondere S. 474-475.

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couldn’t live with myself« meint, bleibt unklar. Sie könnte damit andeuten, dass sie sich bereits zu weit von der staatlichen Ordnung und einem bürgerlich-konventionellen Leben entfernt hat. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass sie meint, ein solches Leben entspreche ihr nicht – sei also keine authentische Erscheinung ihrer selbst. In jedem Fall zieht sie es vor, sich gemeinsam mit Max Shreck unter Starkstrom zu setzen. Wayne bleibt somit alleine zurück, und so sehen wir ihn am Ende des Films mit Katze auf dem Arm – aber ohne Frau: »Als Auflösung seines dunklen Weihnachtsmärchens bietet Tim Burton also eine gnadenlose Demontage der symbolischen Fiktion, es könne ein harmonisch geregeltes Zuhause, eine auf sympathischem Einklang basierende Familie und eine in sich stimmige Identität geben. Für seine drei Mischlinge hat der Traum einer geglückten Beheimatung in der Welt – ob im Sinne einer symbolischen oder einer romantischen Anerkennung – traumatische Folgen. Nur die Anerkennung des Fremden in einem selbst, der Extimität, bietet eine Basis, von der aus gehandelt werden kann.«38

Dunkel ist Burtons Film auch im buchstäblichen Sinne. Trotz bisweilen greller Farben ist der Film durch starke Hell-Dunkel Kontraste und Schattenspiele geprägt. Die meisten Szenen spielen bei Nacht, und selbst bei Tage zeigt sich die Sonne über Gotham City selten. Wie oft bei Burton gibt es viele expressionistisch anmutende Stilelemente, die wir mit dem Weimarer Kino assoziieren. Passend dazu verhält sich auch das Fragmentarische – ja fast Kulissenhafte – der Szenerie und das Schrille der Kostüme. Einen expliziten Weimarbezug liefert übrigens Max Shreck, nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit der von ihm geäußerten Absicht, Cobblepod durch ein Ereignis wie »the Reichstagsfire« (00:53:03) zum Bürgermeister machen zu wollen. Will man trotz ihres fragmentarischen Charakters überhaupt von der Welt Gotham Citys sprechen, dann handelt es sich bei dieser um eine dunkle, destabilisierte, gewalttätige und empathielose Welt, die kurz vor irgendeiner Form von Machtergreifung zu stehen scheint, für die es sich eigentlich nicht mehr zu kämpfen lohnt, und für die selbst Batman strenggenommen nicht mehr kämpft. Sein Kampf als

38 E. Bronfen: Heimweh, S. 518.

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Batman ist für Bruce Wayne wohl vor allem die einzige Möglichkeit überhaupt mit dieser Welt noch in Kontakt zu treten. Letztlich jedoch hat Elisabeth Bronfen recht mit ihrer These, dass sowohl Wayne als auch Cobblepod und Kyle durch ein Gefühl der Heimatlosigkeit angetrieben versuchen, selbst noch in dieser abstoßenden Welt heimisch zu werden und in ihr als selbstidentische Subjekte zu existieren39. Angesichts all dieser Punkte könnte es überraschen, dass BATMAN RETURNS ein Kassenerfolg war, und dass das Publikum diesen Batman ak-

39 Vgl. ebd., S. 524-525. In einem trivialen Sinne ist natürlich jedes Einzelwesen mit sich selbstidentisch: »Here’s one thing we know for certain about identity: everything is identical to itself (or self-identical) and not identical to anything else.« (Cowling, Sam/Ragg, Chris: »Could Batman Have Been The Joker«, in: Arp/White: Batman and Philosophy (2008), S. 142-155, hier: S. 144.) In einem anspruchsvolleren Sinne könnte Selbstidentität aber dafür stehen, dass es einem Subjekt gelingt, die verschiedenen und eventuell widersprüchlichen Momente seines Wesens so zu einem Ganzen zu verbinden, dass es sich (angesichts Anderer) mit dieser Ganzheit identifizieren kann. In diesem Sinne verstehe ich hier Selbstidentität. Insofern geht es auch nicht darum, dass Bruce Wayne sein wahres Selbst entdecken müsse. Ich stimme sogar den Autorinnen zu, die bezweifeln, dass es solch ein wahres Selbst gibt: »We are rejecting the idea that there is some ›true‹ self underneath Wayne or Batman that connects them. Obviously the two identities overlap and are aware of each other through memory, but there is much more to it than that.« (Donovan, Sarah K./Richardson, Nicholas P.: »Under The Mask. How Any Person Can Become Batman«, in: Arp/White, Batman and Philosophy (2008), S. 129-141, hier: S. 131.) Meine These ist nun allerdings, dass Burtons Wayne seine Existenz als Wayne und seine Existenz als Batman nicht zu einer Ganzheit verbinden kann, worunter er leidet. Insofern gilt für diesen Batman auch nicht das, was für andere möglicherweise gilt: »Relating every action back to his own personal war gives Batman’s life project a cohesive unity; everything he does is done to serve a single, greater purpose.« (Hart, David M.: »Batman’s Confrontation with Death, Angst, and Freedom«, in: Arp/White, Batman and Philosophy (2008), S. 212-225, hier: S. 213.) In BATMAN RETURNS ist Wayne letztlich bereit, seine Existenz als Batman für das von ihm gewünschte Leben in Selbstidentität aufzugeben.

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zeptierte. (Wobei zu bemerken ist, dass Burtons erster Batmanfilm durchaus erfolgreicher war, was wohl auch an der größeren Radikalität des zweiten lag.) Schließlich waren die frühen neunziger Jahre durch eine positivoptimistische Weltsicht bestimmt. Der kalte Krieg war gewonnen, die freie Marktwirtschaft schien gesiegt zu haben, und die Aussicht auf steigende Profite in einer globalisierten Welt und auf die Ausbreitung westlicher Demokratien ließ einige sogar vom Ende der Geschichte träumen. Zu dieser Welt stand Burtons düster-fragmentierte Welt mit ihren freakigen Helden sehr schief – zumindest oberflächlich betrachtet. Bronfen zufolge zeigt sich allerdings in den Figuren von BATMAN RETURNS etwas, was uns alle betrifft. Und tatsächlich muss man nicht ihre besondere Traumatheorie teilen, um zu bemerken, dass sich in den betreffenden Helden und Heldinnen ein Grundmoment moderner (eingeschlossen postmoderner) Subjekte zeigt, nämlich einerseits ein – trotz allem Feiern von Fragmentierung, Dualität und Offenheit – Ringen um eine möglichst kohärente und authentische Identität, um derentwillen man soziale Anerkennung finden kann, und andererseits die Erfahrung in diesem Ringen immer wieder zu scheitern und damit verbunden die Erfahrung in dieser Welt letztlich nicht heimisch werden zu können, sondern (potentiell) immer auch ein Sonderling, Außenseiter oder Freak zu sein40. Bronfen meint, dass Selina Kyle dem Ringen um Selbstidentität und der Sehnsucht nach Heimat letztlich den Rücken kehrt, wenn sie Bruce Wayne zurückstößt und Max Shreck den elektrisierten Todeskuss gibt. Da Wayne nur Schrecks Leiche findet, und da wir in der letzten Szene eine auf einem Dach stehende Figur im Katzenkostüm sehen, legt der Film nahe, dass Kyle überlebt hat, von nun an aber ihr Leben ausschließlich als Catwoman über den Dächern Gothams fortsetzt. Meines Erachtens muss man diesen Schluss aber nicht so interpretieren, dass Kyle das Projekt der Selbstidentität aufgegeben und die Sehnsucht nach dem Zu-Hause-Sein verloren habe. Vielmehr könnte es so sein, dass sie ihr zu Hause nun über 40 Die These vom Ende der Geschichte nach dem Zusammenbruch der UDSSR wird vor allem mit Arbeiten von Francis Fukuyama assoziiert (vgl. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York: Free Press 1992). Lars Banhold bemerkt zutreffend, dass bereits Burtons erster Batmanfilm dem Zeitgeist widersprach (vgl. L. Banhold: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, S. 174; S. 175).

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den Dächern der Stadt gefunden zu haben meint. Selbstidentität und Fremdheit könnten außerdem in einem komplexeren Verhältnis – das heißt, in keinem rein widersprüchlichen Verhältnis – zueinander stehen. Die Konfrontation mit dem Fremden in sich könnte sogar eine notwendige Bedingung für die immer wieder neu ansetzende Suche nach der eigenen Selbstidentität und deren authentischen Erscheinen sein. Selbstidentität wäre folglich ein Ideal, das vor allem unter den Bedingungen der Moderne nicht zu erreichen ist, dennoch aber vernünftigerweise verfolgt werden könnte. Ob Selina Kyle von diesem Ideal wirklich abgerückt ist, lässt sich nicht abschließend entscheiden. Richtig ist, dass sie sich (wenn sie denn als Catwoman überlebt hat) von der Welt als einem sozialen Gefüge zurückzieht, was ein durchaus extremer und für ein Subjekt eigentlich unmöglicher Schritt ist. Ein Subjekt zeichnet sich nämlich durch sein propositionales Verhalten aus. Das heißt, es zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Tätigkeiten zu begründen und gemäß intersubjektiv geteilter Kriterien zu verbinden versucht. Selbst wenn ein Subjekt also meint, einen authentischen Ausdruck seiner selbst nur in einem äußerst exzentrischen Verhalten zu finden, wird es in der Regel dennoch bereit sein, dieses Verhalten vor anderen zu rechtfertigen und kehrt ihnen somit nie vollkommen den Rücken41. Abgesehen aber von der Frage, ob es für ein Subjekt möglich ist, (einzig) als Catwoman zu existieren, können wir festhalten, dass der Reiz von BATMAN RETURNS darin liegen könnte, dass der Film mit seinen Figuren einen für uns (nach wie vor) bedeutsamen Umstand aufgreift, nämlich den Umstand, dass wir uns – als (moderne) Subjekte – mit der utopischen Aufgabe konfrontiert sehen, eine sowohl kohärente, sozial anerkennbare als auch authentische Identität zu formen. Burtons Batman wird damit kaum

41 Wenn ich Subjektivität hier vor allem durch die Begriffe »propositionales Verhalten«, »Begründung«, »Synthese« und »soziale Anerkennung« bestimme, dann beziehe ich mich damit auf zentrale Gedanken Kants und des deutschen Idealismus sowie auf die Weiterentwicklung dieser Gedanken durch Gegenwartsautoren wie Robert Brandom, Axel Honneth und andere. Zu diesen Gedanken und entsprechenden Literaturhinweisen (vgl. Hilgers, Thomas: Aesthetic Disinterestedness. Art, Experience, and the Self, New York und London: Routledge 2017, S. 12-15; S. 51; S. 94-117).

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zu einem Helden in Hegels Sinne, da durch ihn keine Allgemeinheit Realität gewinnt. Auch im ursprünglich-antiken Sinne ist er strenggenommen kein Held, weil er trotz seiner Außergewöhnlichkeit kein Halbgott ist. In einem schwächeren Sinne ist er letztlich (genauso wie Catwoman) dennoch aber ein Held, weil sich durch ihn eine für uns allgemein bedeutsame Situation zeigt – nämlich die Situation angesichts hartnäckiger Dualitäten, Spannungen und Fremdheiten nach Ganzheit und Zu-Hause-Sein zu streben. Josef Früchtl zufolge zeichnet sich die Moderne vor allem dadurch aus, dass sie uns als Subjekte in eine Auseinandersetzung zwischen Autonomie und Authentizität verstrickt: »Dann müssen beide Aspekte der Freiheit des Subjekts, der Selbstbestimmung bzw. Autonomie einerseits und der Selbstverwirklichung bzw. Authentizität andererseits, als prinzipiell gleichberechtigt gelten und daher miteinander in eine unausweichliche Kollision geraten. […] Unendliche Freiheit, der unabschließbare Drang nach experimenteller Selbsterweiterung, und abschließende Einheit, die totale Integration des Selbst in eine staatliche oder kosmische Gemeinschaft, stehen sich, einander wechselseitig fordernd, gegenüber.«42

Auch bei Bruce Wayne und Selina Kyle können wir diesen Konflikt beobachten, da beide (vor allem aber Wayne) sich einerseits eine integrierte Identität innerhalb der Welt und der bestehenden Gesellschaft wünschen, andererseits jedoch dem »Drang nach experimenteller Selbsterweiterung« durch ihre Auftritte als Batman und Catwoman nachgeben. Im Hinblick auf Bruce Wayne gilt außerdem folgender Satz Früchtls in ausgezeichneter Weise: »Negativ […] behält die Kategorie der Totalität ihre Bedeutung. Was sie meint, ist unerreichbar geworden, bleibt aber als ein Polarstern der existentiellen Suche unverzichtbar.«43 Abgesehen also davon, dass Burtons Inszenierung eines auffallend freakigen Batmans als subversiver Stachel in der Haut einer sich in Siegerstimmung befindenden Gesellschaft betrachtet werden könnte, liegt es nahe, in der existentiellen Suche des Freaks Bruce Wayne (oder des Freaks Selina Kyle) eine zugespitzte Erscheinung der Existenzweise moderner Subjekte zu sehen.

42 J. Früchtl: Das unverschämte Ich, S. 188; S. 207. 43 Ebd., S. 129.

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III. T HE D ARK K NIGHT (R ISES ) Wie bereits erwähnt, wird auch in Nolans Batmanfilmen innerhalb der Diegese thematisiert, dass Batman ein Freak ist. Sehr häufig thematisiert wird außerdem die mögliche Legitimation von Batmans Handeln und damit bekommen die Filme einen rechtstheoretischen Einschlag, den Burtons Filme so nicht hatten. Nolans (beziehungsweise Bales) Batman tritt bei alldem souveräner, mächtiger und martialischer auf als Burtons. Spätestens seit AMERICAN PSYCHO (USA/CAN 2000, R: Mary Haron) gehört Christian Bale zu den bekanntesten Hollywood-Beaus. Sein Wayne kann die Rolle des Playboys gut spielen und spielt diese auch. Außerdem ist er nicht nur ein intelligenter Geschäftsmann, sondern hat auch das soziale Gewissen seiner Eltern geerbt und kämpft demzufolge für die sozio-politische Stabilisierung von Gotham City. Als Batman zeichnet er sich schließlich durch ungewöhnliche Kampffähigkeiten aus. Nolans Batmanfilme gehören mit zum Besten, was Hollywood in den letzten Jahren an Action- und Martial-Arts-Filmen zu bieten hatte. Begleitet von Hans Zimmers bombastischem Soundtrack zeigen die Filme viele großartigen Kämpfe, Verfolgungsjagden und Stuntszenen. Dennoch ist auch Nolans Bruce Wayne ein gebrochener Charakter – angetrieben durch sein Kindheitstrauma, den Mord an seinen Eltern hilflos mitangesehen zu haben. Nolans Trilogie beginnt jedoch mit dem noch früheren Trauma des jungen Bruce Waynes. So sehen wir in der allerersten Szene, wie Bruce mit seiner Freundin Rachel im Garten spielt, in eine Höhle stürzt und sich dort (wild um sich schlagend) gegen auf ihn zustürmende Fledermäuse zur Wehr setzt. Später sehen wir eine Fortsetzung dieser Szene, in welcher Bruces Vater seinen Sohn mit Hilfe dessen zukünftigen Ersatzvaters (des Butlers Alfred) aus der Höhle zieht und ihn eine Maxime lehrt, die den Rahmen der Trilogie steckt: »And why do we fall, Bruce? So we can learn to pick ourselves up.« (BATMAN BEGINS, 00:10:14-00:10:18) Mehrmals wird Bruce Wayne im Laufe seiner durch die Filme dargestellten Entwicklung an diese Maxime erinnert – entweder durch Alfred oder durch die Erscheinung seines Vaters im Traum. Dass der mächtige Bruce Wayne beziehungsweise Batman dabei ständig fällt, hat mit der Macht seiner Gegner zu tun. In BATMAN BEGINS ist es der Terrorist Ra’s al Ghul, der Gotham City zerstören will. In THE DARK KNIGHT

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ist es dann der Joker, der versucht, allgemeines Chaos zu stiften und andere auf seine Seite zu ziehen. Leicht fällt ihm dies mit Staatsanwalt Harvey Dent, schwerer mit Batman, der nicht bereit ist, seine einzige Regel (nämlich nicht zu töten) zu brechen. Auch der Joker wird Batman aber nicht töten. Stattdessen gibt er an, den Kampf zwischen den beiden ewig fortführen zu wollen: »And I won’t kill you, because you’re just too much fun.« (THE DARK KNIGHT, 02:08:29-02:08:35) Dieser Wunsch nach einem ewigen Weiter wiederholt sich formal durch die Längen des Films. Nach zwei Stunden – bei einer Gesamtlaufzeit von 152 Minuten – mit überlangen Verfolgungsjagden und zahlreichen Explosionen beginnt man sich als Rezipient zu fragen, worauf das Ganze eigentlich hinauslaufen soll. Nur eine extreme Maßnahme – der Einsatz einer Technik, die es Batman gestattet, alles und jeden in der Stadt zu beobachten – lässt Batman den Joker fassen. Außerdem nimmt er Dents Verbrechen auf sich, so dass letzterer weiterhin als Held gilt und dessen Notverordnungen in Kraft bleiben. Die Stabilisierung des Status quo basiert somit auf Batmans Selbstopfer und auf einer Lüge. In THE DARK KNIGHT RISES tritt Batman schließlich gegen Ra’s al Ghuls Tochter und deren Mitstreiter Bane an. Hatte der Joker Batman seelisch-moralisch nahezu zerstört, so tut es Bane nun physisch. Zunächst scheint dieser, Batman das Rückgrat zu brechen. Anschließend wirft er ihn in ein archaisch anmutendes Gefängnis unter der Erde, aus dem bisher einzig ein Kind hinausklettern konnte. In diesem Loch kommt es zum endgültigen Comeback und zur erfolgreichen Traumaverarbeitung. Bruce Wayne rafft sich auf und klettert heraus, und zwar nachdem er davon träumte, wie sein Vater ihn als Kind aus der Höhle zog und ihn die zentrale Maxime seines Lebens lehrte, und nachdem er auf den Sicherheitsgurt verzichtete, um seine Todesangst zurückzugewinnen. Er kehrt als Batman nach Gotham zurück, besiegt mit der Hilfe von Catwoman Bane und wirft die Gotham bedrohende Bombe ins Meer. Bei dieser Aktion scheint er jedoch zu sterben, so dass am Ende sowohl Wayne als auch der nun als Held verehrte Batman für tot gehalten werden. In der vorletzten Szene sehen wir allerdings, wie Alfred (wahrscheinlich während eines Italienurlaubes und genauso, wie er es sich erträumte) Bruce Wayne und Selina Kyle in einem Café sitzen sieht. Diesmal sehen wir Bruce Wayne schlussendlich also

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ohne Katze, dafür aber mit Frau. Er ist nicht mehr Batman, obwohl letzterer durch einen anderen (den ehemaligen Polizisten John Blake) wiederkehren wird – zumindest legt dies die letzte Szene nahe, in der wir sehen, wie Blake die Batmanhöhle betritt. Auch wenn das Motiv des Freaks in Nolans Filmen eine Rolle spielt, ist es deutlich weniger prägnant als in Burtons Filmen. Es gibt keine Figur wie den Pinguin und Nolans Selina Kyle ist im Vergleich zu Burtons (beziehungsweise Michel Pfeiffers) fast schon langweilig. Die einzigen wirklichen Freaks sind Batman und vor allem der Joker. Heath Ledger spielt einen fantastischen Joker, der mit seiner ganzen Erscheinung (seiner Gestalt, seinen Bewegungen, seiner Stimme, seiner Sprache usw.) das Wesen dieser Figur auf den Punkt bringt: der Joker scheint alle Regeln, vor allem alle moralischen, zu negieren. Er scheint auch keinen rational nachvollziehbaren Plan zu verfolgen. Jede Warum-Frage scheint bei ihm ihren Sinn zu verlieren. Zwar ist er ein Subjekt, aber irgendwie ist er es auch nicht. Durch seine Ablehnung aller Regeln ist er seinen Gegnern fast immer überlegen und lässt sie oft verzweifeln. Auch Bruce Wayne ist nach dem Tod seiner Freundin Rachel Dawes am Rande der Verzweiflung. Am Härtesten jedoch trifft es Staatsanwalt Harvey Dent, den der Joker vollkommen zerrüttet: »Joker (in der Kleidung einer Krankenschwester am Bett des schwer verletzten Harvey Dents): Do I really look like a guy with a plan? You know what I am? I’m a dog chasing cars. I wouldn’t know what to do with one if I caught it. You know – I just do things. The Mob have plans. The cops have plans. Gordon’s got plans. You know, they’re schemers. Schemers trying to control their little worlds. I’m not a schemer. I try to show the schemers how pathetic their attempts to control things really are. (THE DARK KNIGHT, 01:43:50-01:44:24)«44

44 Dass der Joker keine Regeln befolgt und aufgrund dessen keine wirkliche Identität oder Persönlichkeit besitzt, ist ein Punkt, der bereits in den Comics selbst aufgegriffen wird. So erklärt die Psychotherapeutin Ruth Adams in Arkham Asylum: »Unlike you and I, the Joker seems to have no control over the sensory information he’s receiving from the outside world. He can only cope with that chaotic barrage of input by going with the flow. He has no real personality. He creates himself each day. He sees himself as the lord of misrule, and the world

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Mit dem letzten Satz lässt der Joker allerdings durchblicken, dass er letztlich doch einen Plan verfolgt – nämlich andere in Situationen zu bringen, in denen sie sich in ihren eigenen Plänen und Regeln verheddern beziehungsweise in Dilemmata verstricken. Auf die Frage, warum er dies beabsichtigt, gibt es aber wohl keine Antwort mehr. Alfred scheint der Sache nahe zu kommen, wenn er Bruce Wayne erklärt: »[S]ome men aren’t looking for anything logical, like money. […] Some men just wanna watch the world burn.« (00:52:49-00:53:00) Diese Interpretation wird vom Joker selbst bestätigt, wenn er seine Leidenschaften beschreibt: »I enjoy … dynamite … and gunpowder … and gasoline.« (01:38:30-01:38:39) Zweifelsohne geht von dieser Schurkenfigur aufgrund ihrer Fremdheit, ihres radikal Bösen und ihres exzessiven Spaßes am Chaos eine gewisse Faszination für die Zuschauer aus. Interessant ist dabei, dass der Joker einen Bezug zwischen Chaos und Gerechtigkeit sieht und sich damit an den innerdiegetischen Gerechtigkeitsdiskursen der Trilogie beteiligt: »I am an agent of chaos. Oh, and you know the thing about chaos? It’s fair.« (01:45:58-01:46:18)45 Batmans Tod will er übrigens nicht, da er sich mit diesem symbiotisch verbunden fühlt: »Joker (lachend): I don’t wanna kill you. What would I do without you? Go back to ripping off Mob dealers. No! No! No! No, you … you complete me. Batman: You’re garbage who kills for money. Joker: Don’t talk like one of them. You’re not. Even if you’d like to be. To them, you’re just a freak … like me. They need you right now, but when they don’t, they’ll cast you out like a leper.« (01:24:20-01:25:01)

Dass Batman ein Freak beziehungsweise eine gestörte Persönlichkeit ist, wird tatsächlich von mehreren Figuren behauptet. Die Überlegungen, die Wayne zur Erschaffung von Batman führen, zeigen dabei durchaus Züge des Größenwahnsinns. Zu Anfang von BATMAN BEGINS erklärt er, dass er as a theatre of the absurd.« (Die Passage ist zitiert nach S. Donovan/N. P. Richardson: »Under The Mask«, S. 134.) 45 Lars Banhold schreibt zum Joker: »Er beweist wiederholt in diversen Experimenten, dass die in Batman Begins behauptete Ordnung, oder zumindest der Zusammenhang von Wahrheit, Ordnung und Moral, eine Illusion ist.« (L. Banhold: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, S. 231).

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gegen Kriminalität und Ungerechtigkeit kämpfen und ein dramatisches Beispiel liefern wolle, um Gothams Bürger aufzuwecken. Anstatt eines sterblichen Menschen müsse dieses Beispiel aber ein dauerhaftes Symbol sein. (BATMAN BEGINS, 00:40:19-00:40:41) Dass Batman ein Symbol ist, meint unter anderem auch Harvey Dent. Als Staatsanwalt müsste er die Legitimation von Batmans Handeln eigentlich vehement negieren. Stattdessen hält er ihn für einen Helden. Anders als in den Filmen von Burton spielt das Motiv des Helden eine große Rolle in Nolans Trilogie und wird innerdiegetisch häufig aufgegriffen: »Harvey Dent: Gotham City is proud of an ordinary citizen standing up for what’s right. Natascha: Gotham needs heroes like you, elected officials and not a man who thinks he’s above the law. Bruce Wayne: Exactly. Who appointed the Batman? Harvey Dent: We did. All of us who stood by and let scum control our city. Natascha: But this is a democracy Harvey. Harvey Dent: When their enemies were at the gates, the Romans would suspend democracy and appoint one man to protect the city. It wasn’t considered an honor, it was a public service. Rachel Dawes: Harvey, the last man that they appointed to protect the republic was named Caesar and he never gave up his power. Harvey Dent: Okay, fine. You either die a hero or you live long enough to see yourself become the villain.« (THE DARK KNIGHT, 00:19:36-00:20:11)

Sowohl Waynes eigentliche (in diesem Gespräch jedoch nicht geäußerten) als auch Dents Gedanken unterstützen Hegels Beobachtung, dass politische Krisen Raum für Heldenauftritte schaffen, und zwar selbst unter den Bedingungen der Moderne. Dents letzte Bemerkung impliziert außerdem den Gedanken, dass ein Held vorzeitig sterben müsse, um Held zu bleiben. Dent selbst, der komplementär zu Batman als Gothams white knight bekannt ist, stirbt am Ende des Films, allerdings nachdem er (entsprechend seinen Sympathien für das Diktatorische) zunächst das Gesetz in die eigene Hand nahm und dann als buchstäblicher Harvey Two Face einen irren Rachefeldzug begann. Aufgrund dieser Verbrechen sehen Batman und

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Commissioner Gordon Dents Heldenstatus verspielt. Da Gotham aber seinen Helden brauche, entscheidet sich Batman, diese Verbrechen auf sich zu nehmen. Gordon zeigt sich mit diesem Vorgehen letztlich einverstanden und erklärt in der letzten Szene des Films Batmans Flucht gegenüber seinem Sohn folgendermaßen: »Because he’s the hero Gotham deserves, but not the one it needs right now. So we’ll hunt him, because he can take it. Because he’s not our hero. He’s a silent guardian, a watchful protector, a dark knight.« (02:18-03-02:18:36) Dass Batman der Held ist, den Gotham verdient, auch wenn es ihn als anerkannten Helden momentan nicht brauchen kann, unterstreicht der Film, indem er die tradierte Verbindung zwischen Heldentum und Opferbereitschaft aufgreift. Dieser Punkt tritt am Ende der Trilogie noch einmal stärker in den Vordergrund, wenn Batman nach seinem (scheinbaren) Opfertod auch öffentlich als Held verehrt wird und wir anstelle eines groß ausgestellten Bildes von Harvey Dent nun die Enthüllung einer Batmanstatue sehen. Endlich ist Batman also nicht mehr nur der Held, den Gotham verdient, sondern auch der, den es braucht, und zwar jetzt, weil er sein Opfer nicht mehr zum Schutz eines anderen heimlich erbrachte, sondern es vor den Augen der Stadt tat. Jedoch bringt er dieses Opfer immer noch unter einer Maske, was uns zu der Frage zurückführt, ob die Maskierung seinem Heldenstatus nicht widerspricht. Fragt ihn Gordon vor seinem Abflug mit der Bombe, ob die Menschen nicht wissen sollten, wer der Held war, der sie rettete, meint Batman: »A hero can be anyone.« (THE DARK KNIGHT RISES, 02:23:09) Selbst wenn wir jedoch (entgegen guter Gründe) die durch die Filme nahegelegte Verbindung zwischen Heldentum und Opferbereitschaft akzeptieren, bleibt dennoch zu fragen, ob ein maskierter Akteur wirklich mutig und heldenhaft sein kann. Neben den Motiven des Freaks, des Helden, der Gerechtigkeit und des Wiederaufstehens spielt auch das Motiv der Maskierung in Nolans Filmen eine Rolle. Am Ende von BATMAN BEGINS spricht Rachel Dawes mit Bruce Wayne über dessen Maske, wobei sie jedoch nicht dessen Batmanmaske meint. Während sie sein Gesicht berührt, bemerkt sie: »No. This is your mask. Your real face is the one that criminals now fear.« (BATMAN BEGINS, 02:02:14-02:02:23) Mit dieser Bemerkung unterstützt Dawes die These, dass die Batmanmaske nicht primär dazu dient, Bruce Waynes Identität zu verdecken, sondern dessen wahres Selbst zu zeigen. Selbst

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wenn es aber zutrifft, dass er sich als Batman kostümiert gemäß seiner eigentlichen Identität austoben kann, steht er für seine Handlungen nicht mit seiner ganzen (bürgerlichen) Identität ein. Sollte es somit als Batman nicht wie gewünscht laufen, bleibt ihm stets der Rückzug ins Privatleben als Bruce Wayne. Als dieser muss er sich nicht rechtfertigen für das, was er als Batman getan hat. Trotz seiner Erklärungen und Verweise auf die Notwendigkeit eines Symbols können wir Bruce Wayne dies als Feigheit auslegen. Er ist schlichtweg nicht bereit, als rechenschaftspflichtiger Bürger seine Ziele zu verfolgen – offensichtlich weil er meint, sie so nicht erfolgreich verfolgen zu können. Insofern ist er aber in Arendts Sinne auch nicht mutig, und diese Konklusion ist in der Tat ein guter Grund, Batmans Heldenhaftigkeit anzuzweifeln. Überhaupt wurde Nolans Batmankonstruktion von einigen Kritikern als sehr problematisch und wenig heldenhaft (in der alltagsgebräuchlichen Bedeutung des Wortes) beurteilt. Anstoß erregte hierbei vor allem der letzte Teil der Trilogie. Titel wie »Batman’s political right turn« oder »The fascist we deserve« geben schon eine Ahnung von der Stoßrichtung der Kritik46. Nolans Batmanfilme – und insbesondere THE DARK KNIGHT RISES – affirmierten den Status quo einer neoliberal-autoritären Gesellschaft. Die Hauptangreifer würden als brutale Terroristen dargestellt, denen sich einzig der gute Kapitalist und reichste Mann der Stadt erfolgreich in den Weg stelle. Bruce Wayne glaube an die Reformierbarkeit des Systems, nicht aber an dessen Ersetzung. Er habe kein Problem mit einer profitorientierten Wirtschaft, in der er sowohl an der Börse als auch mit Waffen-

46 Vgl. Fisher, Mark: »Batman’s Political Right Turn«, in: The Guardian vom 22.07.2012,

https://www.theguardian.com/commentisfree/2012/jul/22/bat-

man-political-right-turn; Žižek, Slavoj: »The politics of Batman«, in: New Statesman

vom

23.08.2012,

https://www.newstatesman.com/culture/cul-

ture/2012/08/slavoj-%C5%BEi%C5%BEek-politics-batman; sowie Filipovich, Mark: »The Fascist We Deserve: The Authoritarian Ideology of Christopher Nolan’s Dark Night Trilogy« vom 27.04.2015, https://bigtallwords.com/2015/04/27/the-fascist-we-deserve-the-authoritarian-ideology-ofchristopher-nolans-dark-knight-trilogy/. In meiner Rekonstruktion der Kritik an Nolans Filmen referiere ich im Wesentlichen Positionen dieser drei Texte – insbesondere des letzten Textes.

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verkäufen Geld verdiene, solange den Armen etwas abgegeben werde. Unter Zuhilfenahme seines Waffenarsenals – dessen Inszenierung manche als faschistoide Technikbegeisterung betrachten – setze er sich über das Gesetz hinweg, um den Fortbestand dieser (insbesondere durch ihn selbst) reformierbaren Gesellschaft zu sichern. Die Bürger der Stadt hingegen würden als hilflos, leicht zu kriminalisieren sowie potentieller Gewaltmob dargestellt. Bei einer solchen Bevölkerung, solchen Gegnern und solchen Eliten müsse man wohl tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass das Schicksal der Polis und derer Bürger am Besten in der Hand eines kompetenten und autoritären Anführers aufgehoben sei – beziehungsweise in der Hand eines Multimilliardärs mit entsprechenden Möglichkeiten. Mark Filipovich fasst dies so zusammen: »Regardless of the director’s intentions, these films offer a view of the society that endorses violent preservation of the bourgeoisie and the monied people in positions of leadership. It does so first by championing a wealth-based social hierarchy, then next by demonstrating how vulnerable the hierarchy is without a violent protector to keep it in place.«47 Slavoj Žižek formuliert es vorsichtiger: »THE DARK KNIGHT RISES attests yet again to how Hollywood blockbusters are precise indicators of the ideological predicament of our societies.«48 Dabei sorgte insbesondere diejenige Szene des Films für kritische Diskussionen, in der Bane die durch den Dent Act zu Unrecht Inhaftierten befreit und alle Bürger dazu auffordert, sich ihre Stadt zurückzuholen. Daraufhin sehen wir verschiedene Einstellungen von randalierenden Menschen, Plünderungen und Gerichtsszenen. Einige meinen, hier einen Bezug zur Occupy-Bewegung zu beobachten. Da der Film 2012 erschien, ist dies gewiss alles andere als weit hergeholt. In THE DARK KNIGHT RISES degeneriert die revolutionäre Masse jedoch sofort zum Gewaltmob, was natürlich den Vorwurf motiviert, dass hier ein inhärenter Zusammenhang zwischen Revolution und Terror nahegelegt werde. Meines Erachtens ist diese Kritik an Nolans Filmen teilweise berechtigt. Als Gegenrede seien dennoch drei Punkte angeführt: Zunächst einmal wird nicht nur Batmans Handeln und Legitimation von den Filmen innerdiegetisch problematisiert und hinterfragt – so dass es sich hier keineswegs so eindeutig und klar um eine filmische Affirmation dieser Figur handelt 47 M. Filipovich: »The Fascist We Deserve«. 48 S. Žižek: »The politics of Batman«.

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–, sondern auch die eklatante Ungerechtigkeit der Gesellschaft kommt deutlich zur Sprache: »There’s a storm coming, Mr. Wayne. You and your friends better batten down the hatches, because when it hits you’re all gonna wonder how you ever thought you can live so large and leave so little for the rest of us« (THE DARK KNIGHT RISES, 00:34:03-00:34:18) sagt Selina Kyle zu Bruce Wayne. Zweitens offenbaren die Darstellungen der durch Bane entfachten Gewalt bisweilen einen ambivalenten Charakter. Diese Gewaltszenen spekulieren nämlich manchmal auf die Lust – ansatzweise sogar Zustimmung – der Rezipienten. Wird Bane beispielsweise beim Besetzen der Börse von einem Händler erklärt: »This is a stock exchange. There’s no money you can steal«, dann ist (zwei Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise) der heimliche Zuschauerapplaus bei Banes Antwort einkalkuliert: »Really? Then why are you people here?« (00:41:05-00:41:10) Und auch die Szene, in der ein Pförtner die ehemals reichen Herrschaften herumschubst, könnte es zumindest auf ein leichtes Schmunzeln seitens der Zuschauer absehen. Das heißt, als Rezipienten verhalten wir uns wohl kaum rein ablehnend gegenüber der gezeigten Revolte, auch wenn wir diese aufgrund ihrer Brutalität und Willkür sowie aufgrund des Wissens, dass es sich um ein von Bane inszeniertes Spiel handelt, das mit der baldigen Zerstörung der ganzen Stadt durch eine Bombe enden soll, nicht affirmieren können. Drittens ist es nicht verwerflich, auf den engen Zusammenhang von Revolution und Gewalt hinzuweisen. Žižek zufolge haben Revolutionen immer ein gewalttätiges Moment, was aber nicht notwendigerweise etwas mit Terror zu tun haben müsse. Worin genau dieses nicht-terroristische Gewaltmoment bestehen könnte, und ob es zur gewalttätigen Revolution letztlich nicht doch eine vielversprechende Alternative in Form ernsthafter und tiefgreifender Reformen gibt, das sind Fragen, die den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen49. Ich meine jedoch, dass THE DARK KNIGHT RISES implizit dazu auffordert, diese Fragen zu stellen, und darin könnte ein Wert dieses Films liegen. Žižek folgend behaupte ich außerdem, dass die Erscheinung einer Revolte in einem Hollywoodblockbuster 49 Vgl. S. Žižek: »The politics of Batman«. Für eine berühmte Diskussion der Beziehung von Revolution und Gewalt sowie der Alternative zwischen Revolution und Reform (vgl. Stark, Franz: Revolution oder Reform? Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, München: Kösel 1971).

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in jedem Fall bemerkenswert ist: »This is why external critique of the film is not enough. The critique has to be immanent; it has to locate inside the film a multitude of signs that point towards the authentic event. […] The event – the ›People’s Republic of Gotham City‹, a dictatorship of the proletariat in Manhattan – is immanent to the film. It is its absent centre.«50 Hinsichtlich letzterem wäre ich zurückhaltender. Interpretieren wir den Film wohlwollend – und vernachlässigen wir die problematische Heldenstilisierung mit ihren bombastischen Klängen und Bildern – dann sind ihm doch wohl vor allem Fragen immanent. Das heißt, der Film öffnet eine Welt, insofern er Sinnzusammenhänge zur Debatte stellt und zum Nachdenken oder sogar Träumen einlädt. Aufgrund seiner dissonanten Luststruktur und seiner komplexen Fügung unterschiedlicher Perspektiven lässt er letztlich keine klare Zuordnung einer Weltsicht zu. So ist mein Fazit, dass trotz der teilweise berechtigten Problematisierung von Nolans Batman, dessen Trilogie eine gute Rolle für die kritische Reflexion des gesellschaftlichen Status quo spielen könnte51. Was nun die Frage von Batmans Heldentum angeht, komme ich in Bezug auf Nolans Filme zu einer leicht paradoxen Schlussfolgerung. Abgesehen vom angesprochenen Widerspruch zwischen Maskierung und Heldentum qualifizieren sich nämlich Burtons Batman sowie Catwoman viel eher als Helden – und dass, obwohl Nolans Batmaninszenierung landläufigen Heldenvorstellungen, wie der tradierten Verbindung von Heldentum und Opferbereitschaft, viel mehr entspricht, und auch obwohl das Motiv des Helden bei ihm eine viel prägnantere Rolle spielt. Hinsichtlich seines Bruce Waynes (alias Batman) und hinsichtlich seiner Selina Kyle (alias Catwoman) lässt sich aber keine Argumentation entwickeln, die analog wäre zu derjenigen, die ich hinsichtlich von Burtons Figuren im zweiten Abschnitt entwickelt habe. Das heißt, ich sehe nicht, wie in oder durch Nolans Figuren etwas für uns genauso allgemein Relevantes zur Erscheinung kommt. Letztlich sind Burtons freakige Heldenkonstruktionen – gerade auch weil er deren Außergewöhnlichkeit nicht aufbläst und sich von Ideen wie Opferbereitschaft fern hält – subtiler und subversiver. Was man Nolans Filmen hingegen zu Gute halten könnte ist, dass sie eine Kompensation für eine vielleicht kaum abzulegende Sehnsucht nach einer aufgrund 50 S. Žižek: »The politics of Batman«. 51 Vgl. hierzu L. Banhold: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, S. 244.

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ihrer archaisch anmutenden Macht gefährlichen Heldenfigur liefert. Insofern könnte hinsichtlich dieser Filme das gelten, was Thomas Nehrlich zufolge hinsichtlich von Comics allgemein gilt: »Mit ihrer Kombination von Identifikationsangebot und Fiktionalitätssignalen leiten die Comics das Bedürfnis nach Helden von der Wirklichkeit ab in die Fiktion. In einer Kultur, in der gelebtes Heldentum an Bedeutung verloren hat, bewahren die Superhelden diesem einen letzten akzeptierten Modus: den eines ästhetischen Heroismus.«52

L ITERATUR Arendt, Hannah: Vita activa. Oder Vom tätigen Leben, München/Berlin/Zürich: Piper 2002. Arp, Robert/White, Mark D. (Hg.): Batman and Philosophy: The Dark Knight of the Soul, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2008. Banhold, Lars: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, Berlin: Christian A. Bachmann 2017. Bronfen, Elisabeth: Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Volk und Welt 1999. Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections On The Ontology Of Film, enlarged edition, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1971. Coogan, Peter: »The Definition of the Superhero«, in: Haslem/Ndalianis/Mackie (Hg.), Super/Heroes. From Hercules to Superman (2007), S. 21-36. Cowling, Sam/Ragg, Chris: »Could Batman Have Been The Joker«, in: Arp/White (Hg.), Batman and Philosophy (2008), S. 142-155. Dath, Dietmar: Superhelden. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2016. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Ders.: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.:Suhrkamp 1997.

52 T. Nehrlich: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird«, S. 128.

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F ILME AMERICAN PSYCHO (USA/CAN 2000, R: Mary Haron) BATMAN (USA 1989, R: Tim Burton) BATMAN BEGINNS (UK/USA 2005, R: Christopher Nolan) BATMAN RETURNS (USA 1992, R: Tim Burton) BLACK PANTHER (USA 2018, R: Ryan Coogler) BIRDMAN. OR THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE (USA 2014, R: Alejandro González Iñárritus) BREAKING BAD (USA 2008-2013, AMC) CASINO ROYAL (UK/USA/DE/CZ 2006, R: Martin Campbell) MAD MEN (USA 2007-2015, AMC) THE DARK KNIGHT (UK/USA 2008, R: Christopher Nolan) THE DARK KNIGHT RISES (UK/USA 2012, R: Christopher Nolan) WONDER WOMAN (USA 2017, R: Patty Jenkins)

Schnee von Übermorgen THE DAY AFTER TOMORROW L ISA G OTTO

Worum es in THE DAY AFTER TOMORROW (USA 2004, R: Roland Emmerich) geht, ist schnell gesagt: Durch eine Verschiebung des globalen Klimas versinkt die Welt in Eis und Schnee. Roland Emmerichs Blockbuster ist damit ein frühes Beispiel für Katastrophenfilme, die ihre Vernichtungsszenarien in Verbindung mit dem Klimawandel bringen1. Die historisch lange gehegte Vorliebe Hollywoods für das Katastrophale findet hier einen neuen Zielpunkt. Mit der spektakulären Inszenierung des ökologischen Desasters entwirft das Kino eine Perspektive, die aufs Ganze geht: Die Umweltzerstörung ist nicht punktuell begrenzbar, sondern dehnt sich aus bis zur globalen Vernichtung. Die ganze Welt steht auf dem Spiel, einschließlich aller, die sich auf und in ihr befinden. Wenn es um Welt-Bilder geht, sind damit immer auch Fragen nach ihren Herstellungsweisen und Konstruktionsbedingungen verbunden2. Insofern sind Hollywoods Fragen nach der ganzen Welt auch Fragen, die

1

Folgebeispiele für Klima-Katastrophenfilme sind: THE LAST WINTER (USA 2006, R: Larry Fessenden), THE HAPPENING (USA 2008, R: M. Night Shyamalan), TAKE SHELTER (USA 2011, R: Jeff Nichols), SNOWPIERCER (USA 2013, R: Bong Joon-ho) und GEOSTORM (USA 2017, R: Dean Devlin).

2

Vgl. dazu wegweisend: Bergermann, Ulrike/Otto, Isabell/Schabacher, Gabriele (Hg.): Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München: Fink 2010.

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sich an den Film selbst richten. Besonders dringlich können und müssen sie in Zeiten des Umschlags und Umschwungs gestellt werden. Dafür ist die Umbauphase, die den Übergang vom Kino ins Zeitalter des Post Cinema kennzeichnet, ein schlagendes Beispiel. Im Folgenden interessiert mich daher weniger das Sujet der Klimakatastrophe3, auch wenn der Film hier seinen Ausgangspunkt nimmt. Entscheidend erscheint mir vielmehr, dass das Kino mit der Frage des Klimawandels seinen eigenen Bildwandel thematisiert und reflektiert4. Anders gesagt: Hollywood kann den Umschwung und Wandel, dem es selbst ausgesetzt ist, nicht nur assoziativ aufrufen, sondern auch reflexiv entfalten – auch und gerade, wenn es um seine eigenen Bildprozesse geht. Dieser These werde ich im Folgenden in drei Abschnitten nachgehen. Der erste behandelt den ästhetischen Attraktionswert von THE DAY AFTER TOMORROW als gleichzeitiges Ausstellen und Verbergen seiner postkinematographischen Produktionsweise, der zweite befasst sich mit dem Modellcharakter der Klimasimulation als beweglicher Bauform und der dritte diskutiert spekulative Aushandlungsverfahren als schwankende Bildformationen, denen der Film einerseits unterliegt und die er andererseits selbst hervorbringt. Sie alle treffen sich in der Beobachtung, dass Hollywood im Zeitalter des Post Cinema seine eigenen Bilderfordernisse neu 3

Kara, Selmin: »Anthropocenema: Cinema in the Age of Mass Extinctions«, in: Shane Denson/Julia Leyda (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 750-784, hier: S. 753. Zum Verhältnis von Kino und Klimakatastrophe vgl. weiterhin: Kaplan, E. Ann: Climate Trauma: Foreseeing the Future in Dystopian Film and Fiction, New Brunswick: Rutgers University Press 2016 sowie Bell, Robert/Ficociello, Robert (Hg.): Eco Culture: Disaster, Narrative, Discourse, Lanham: Lexington 2018.

4

Insofern ist davon auszugehen, dass es bei der Frage des postkinematographischen Wandels weniger um einen Auslöschungs- als einen Anpassungsprozess geht, wie Francesco Casetti angesichts der Umformung von medialen Umweltbedingungen bemerkt: »This diffusion gives movies new trajectories along which to circulate, new formats, new environments in which they can be enjoyed. It allows cinema to continue to live—and not only to survive—as it adapts to a new landscape«. Casetti, Francesco: »The Relocation of Cinema«, in: Shane Denson/Julia Leyda (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 569-615, hier: S. 571.

S CHNEE VON Ü BERMORGEN . T HE DAY A FTER TOMORROW

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ausrichtet und diesen Prozess durch filmische Operationen zur Anschauung bringt.

1. ATTRAKTION Der Auftakt des Films THE DAY AFTER TOMORROW präsentiert eine bemerkenswerte Attraktion: die Entdeckung der digitalen Kunsteiswelt. Am Anfang durchquert die Kamera den Raum, um ihn zu erschließen. Ihr Blick ist von oben nach unten gerichtet, während sie nach vorne fährt oder besser fliegt. Dabei folgt die Kamera keiner Figur, sondern durchmisst den Raum ohne Konzentration auf ein einzelnes Objekt – sie orientiert sich allein an und in der Landschaft, deren Erkundung bildbeherrschend wird. Abbildung 1: THE DAY AFTER TOMORROW

Langsam schwebt die Kamera über das Polarmeer, gleitet über Eisschollen, fliegt an schneebedeckten Plateaus und Eisbergen vorbei und weitet den Blick schließlich bis zur vollständigen Ansicht einer arktischen Eiswüste. Diese Bewegungsvielfalt entfaltet sich jedoch nicht als rasant rhythmisiertes Wechselspiel, sondern als ruhiges Fließen, als ständiger Wandel von Blick- und Raumverhältnissen, als etwas, das erst in der Kontinuität aufgeht. Stets aufs Neue zeigen sich die Flexibilisierung der Ansichten und die Unabgeschlossenheit der Blickmöglichkeiten. Kaum haben wir ein Bild erfasst, erweitert sich seine Grenze; kaum meinen wir eine Szenerie zu erschließen, präsentiert sie sich als eine vorläufige, die von

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einer anderen abgelöst wird. Das alles gestaltet der Film nicht in Form der klassischen Montage, also als eine Aneinanderreihung von festen und klar abgrenzbaren Einstellungen, in der ein Element auf das andere folgt. Vielmehr sind die Übergänge immer schon im Bild selbst enthalten, um sich dort als prozessuale Bewegung zu entfalten. Anschließend an Tom Gunnings einflussreiche Definition des ›cinema of attractions‹ erklärt Wanda Strauven: »The spectacular dimension of attraction grounds itself on the literal and physical sense of the term, namely ›the force that draws or sucks in‹.«5 Bezogen auf die Bildwelten des Kinos sind damit spektakuläre Schauwerte gemeint, die die Funktion der Narration abschwächen oder sich komplett von ihr lösen. Die Attraktion ist der Erzählung nicht verpflichtet oder ihr untergeordnet, sondern steht ganz für sich selbst. Ihr Ziel besteht darin, die Zuschauer sinnlich zu überwältigen, die Schaulust zu stimulieren und diesen Reiz zu exponieren6. Auch die aufwändig produzierte Präsentation der digitalen Kunsteiswelt in THE DAY AFTER TOMORROW arbeitet mit der Attraktion des Zeigens, gestaltet sie aber nicht als eruptive Überraschung oder singuläres Überwältigungsmoment, sondern als eine Art Schauübung für digitale Bildprozesse. Auffällig an der kontinuierlich fließenden Auftaktsequenz ist zunächst, dass sie wie eine einzige lange Einstellung aussieht, also ohne sichtbaren Schnitt auskommt. Dieses formale Prinzip ist im Zeitalter des 5

Strauven, Wanda: »Introduction to an Attractive Concept«, in: dies. (Hg.): The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam: Amsterdam University Press 2006, S. 11-27, hier: S. 18.

6

Dieser Aspekt wurde in der Debatte um das postklassische Kino wiederholt aufgenommen und auf die Attraktionswerte der digitalen Spezialeffekte bezogen. Vgl. Darley, Andrew: Visual Digital Culture: Surface Play and Spectacle in New Media Genres, New York: Routledge 2000; Bukatman, Scott: Matters of Gravity: Special Effects and Supermen in the 20th Century, Durham: Duke University Press 2003, Tomasovic, Dick: »The Hollywood Cobweb. New Laws of Attraction«, in: Strauven, Wanda (Hg.), The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam: Amsterdam University Press 2006, S. 309-320, Whissel, Kristen: Spectacular Digital Effects: CGI and Contemporary Cinema, Durham: Duke University Press 2014, Turnock, Julie: Plastic Reality: Special Effects, Technology, and the Emergence of 1970s Blockbuster Aesthetics, New York: Columbia University Press 2015.

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Post Cinema jedoch kein stilistischer Sonderfall, sondern zur ästhetischen Konvention geworden. War einst die Plansequenz des analogen Kinos eine ungewöhnliche Abweichung von der dominierenden Montage-Logik, sind ungeschnittene Bildstrecken heute als Teil von neuen Blickdispositiven bekannter und vertrauter. So sorgt bereits die durch die Digitalisierung ermöglichte Ausweitung der Speicherkapazitäten für eine potenzielle Ausdehnung der filmischen Aufnahmedauer. Sie wird nicht länger durch die materielle Grundlage der analogen Apparatur begrenzt, sondern erfährt eine Erweiterung, in deren Folge sich auch ästhetische Formationen zu wandeln beginnen: »Just as the cuts in classical cinema were motivated, in part, by the limits of how long filming could continue before the camera needed to be reloaded, the cuts in digital and HD cinema will evolve into a new grammar at least partially motivated by the fact, that, literally, a film can be shot in one take with no cuts.«7

Tatsächlich kann dieses Prinzip heute bereits umstandslos von jedem Smartphone-Nutzer realisiert werden. Die zahllosen ungeschnittenen Filme, die sich bei YouTube, Facebook, Instagram und anderen digitalen Plattformen finden lassen, zeigen, dass die kontinuierliche Aufnahme als ästhetisches Phänomen inzwischen ein selbstverständliches Muster filmischen Produzierens und Rezipierens geworden ist. Eine weitere Routine, die das kontinuierliche Seherlebnis in die mediale Erfahrungswelt integriert, wird durch digitale Computerspiele vorangetrieben. Ihre Ästhetik orientiert sich nicht an zerstückelten Schauanordnungen, sondern erwächst aus der ununterbrochenen Bewegung durch den dreidimensionalen Raum, wie Lev Manovich bemerkt: »Many computer games also obey the aesthetics of continuity in that, in cinematic terms, they are single-takes. They have no cuts. From beginning to end, they present a single, continuous trajectory, through 3D space.«8 Angeleitet und inspiriert durch neue Bildformen und Seherfahrungen bleibt das Kino im digitalen Zeitalter nicht

7

Rombes, Nicholas: Cinema in the Digital Age, London: Wallflower Press 2009, S. 39.

8

Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge: MIT Press 2001, S. 142f.

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was und wie es einmal war. Unter dem Einfluss einer umfassenden medialen Re-Organisation von Perspektivverständnissen und Blickverhältnissen überdenkt es seine ästhetischen Möglichkeiten und formt dabei seine Erzähl- und Ausdrucksweisen um. Die lange ungeschnittene Sequenz, die der Hollywood-Film THE DAY AFTER TOMORROW so prominent an seinen Anfang setzt, ist damit zunächst lesbar als eine kinematographische Adaptionsform der durch die digitale Medienkultur ermöglichten und durch sie vorangetriebenen raumzeitlichen Kontinuität und Fluidität. Zu den Merkmalen des digitalen Schauwerts einer scheinbar ungeschnittenen Sequenz gehört, wie Dominik Maeder am Beispiel von BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (USA 2014, R: Alejandro González Iñárritu)9 ausführt, das gleichzeitige Verbergen und Ausstellen der sie konstituierenden Mechanismen: »Denn wir sehen, dass wir die Schnitte nicht-sehen. Das Unsichtbare ist eigentlicher Attraktionswert des Visuellen im Zeitalter des post cinema.«10 Das gilt sicherlich auch für THE DAY AFTER TOMORROW, allerdings in besonderer Zuspitzung. Einerseits wird auch hier die »Postproduktion zum special effect gerade wo sie jeglichen Montage-Effekt unterdrückt.«11 Andererseits wird das Gleiten und Fließen, das den Eindruck einer ununterbrochenen Kontinuität ermöglicht, zugleich mit einer signifikanten Überlagerung kombiniert und konfrontiert, nämlich mit der Einblendung der Opening Credits. Dabei ist auffällig, dass sich das Schriftbild nicht wie eine Unterbrechung vom Film abhebt, sondern dass es sich gleichsam in die Visualität der Eislandschaft einmodelliert. 9

Neben diesem Beispiel können zahlreiche weitere Filme genannt werden, die den long take als bevorzugtes Stilmittel einsetzen, etwa: THE ROYAL TENENBAUMS

(USA 2002, R: Wes Anderson), PANIC ROOM (USA 2002, R: David

Fincher), MINORITY REPORT (USA 2002, R: Steven Spielberg), IRRÉVERSIBLE (F 2002, R: Gaspar Noé), ELEPHANT (USA 2003, R: Gus van Sant), OLDBOY (KOR 2003, R: Park Chan-wook), CHILDREN OF MEN (USA 2006, R: Alfonso Cuarón), GRAVITY (USA 2013, R: Alfonso Cuarón) oder auch die Auftaktsequenz von SPECTRE (UK 2015, R: Sam Mendes). 10 Maeder, Dominik: »Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) (2014)«, in: Oliver Fahle/Lisa Gotto/Britta Neitzel (Hg.), Filmische Moderne. 60 Fragmente, Bielefeld: transcript 2019, S. 425-431, hier: S. 426. 11 Ebd.

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Abbildung 2: THE DAY AFTER TOMORROW

Die Schrift ist dem Bild nicht vor- oder nachgestellt, sie geht erst in ihm auf. Denn sie verläuft nicht als ein Abrollen von oben nach unten, sie vollzieht sich auch nicht als gleichmäßiges oder gleichförmiges Ein- und Ausblenden, sondern sie wandelt sich in einer Weise, die sich der Landschaft anverwandelt. So erscheinen etwa die ersten Credits als weiße Schrift, die sich im Tiefblau des Wassers zu spiegeln vermag. Die Schrift fällt nicht flächig auf die Leinwand, sondern scheint zwischen der Kamera und dem abgefilmten Gebiet zu schweben: Sie erscheint nicht zwei- sondern dreidimensional. Es entsteht also der Eindruck, dass die Schrift die Landschaft nicht überlagert, sondern dass sie sich in sie einformt. Sie lässt sich nicht auf die Landschaft ein, sondern sie lässt sich in sie ein. Das wird auch daran deutlich, dass sie sich den Bedingungen der Landschaft unterordnet und sich ihnen anpasst. Ist der Untergrund dunkel, wird die Schrift weiß; ist der Untergrund weiß, wird die Schrift dunkel. Dazu kommen die im Bild versammelten unterschiedlichen Aggregatzustände des Wassers: So bietet das bewegte, fließende Wasser des Meeres am Anfang die Grundlage für die Spiegelung der Schrift, deren Reflexion dann selbst beweglich wird; und so bietet der feste Zustand des gefrorenen Wassers als Eis und Schnee einen Untergrund, der sehr viel ebenmäßiger erscheint und auch die Schrift wieder flächiger werden lässt. Weiterhin ist die Schrift auch von den Lichtverhältnissen betroffen, die in der und durch die Landschaft wirken. Wenn etwa am rechten Bildrand die Sonne einstrahlt, dann strahlt sie auch auf das rechte Ende der Schrifteinblendung aus, die so im rechten Lichtwinkel beleuchtet wird. Dennoch ist die Schrift nicht Teil der Landschaft, sondern vielmehr Teil ihrer Erzeugung. Denn sie hat es nicht nur mit dem zu tun, was es zu

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sehen gibt, sondern auch mit dessen Voraussetzungen und Erscheinungsbedingungen. Sie ist daher nicht allein in das Bild eingelassen, sondern in den Prozess des Bildens selbst. Das wird schon daran deutlich, dass die Credits sich mit der Ausrichtung der Kamera (also der Veränderung ihrer Positionen und Perspektiven, etwa bei der Kippbewegung des Aufrichtens) verändern. Und schließlich bewegt sich die Funktion der Credits (also der Grund dafür, dass sie überhaupt da sind), innerhalb eines eigenen Ambivalenzfeldes. Der Anfang des Films ist der Anfang der Geschichte, die er zu erzählen hat, und gleichzeitig der Verweis auf seine eigene Geschichte. Denn mit der Angabe der Credits erzählt der Vorspann die Geschichte der Produktion des Films. Er ist daher nicht Teil der Fiktion, obwohl er in sie einführt bzw. eine Schleuse für sie öffnet. Der Film kündigt an, dass er im Begriff ist, etwas zu entwickeln – und er teilt auch die Umstände dieser Entwicklung mit. Es sind hier die Umstände einer digital produzierten Entwicklung, die besonders deutlich ins Auge fallen, einerseits durch die in den Credits enthaltenen Informationen (etwa die Ankündigung der Attraktion der »Visual Effects«), andererseits aber auch durch die Effekte, die im Bild, das sie ankündigt, selbst enthalten sind. Im Zeitalter des Post Cinema sind diese Elemente nicht mehr als getrennte zu haben. Sie sind ein Gesamtkomplex, der sich einerseits unauffällig-unsichtbar macht und sich andererseits als Gemachtes ausstellt12. In dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der Kontinuität der Diskontinuität liegt der neue Attraktionswert des Post Cinema.

12 Diesen Aspekt betont auch Angela Ndalianis: »Spectators are placed in an ambiguous relationship with the screen in that they are invited both to be immersed in and to understand the illusion (the magic) as a reality, and in the methods used to construct that illusion that ruptures its reality. […] The technology must be both disguised and visible.« Vgl. Ndalianis, Angela: »Special Effects, Morphing Magic, and the 1990s Cinema of Attraction«, in: Sobchack, Vivian (Hg.), Meta Morphing. Visual Transformation and the Culture of Quick-Change, Minneapolis: University of Minnesota Press 2000, S. 251-273, hier: S. 262. Siehe dazu auch ausführlich: Ndalianis, Angela: Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment, Cambridge: MIT Press 2004.

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2. SIMULATION Was der Auftakt von THE DAY AFTER TOMORROW als attraktionsgeladenen Schauwert präsentiert, wird im weiteren Verlauf des Films intensiviert und reflektiert. Denn die computergenerierte Eislandschaft wird hier nicht nur als Produkt, sondern auch als Prozess vorgeführt. Anders gesagt: Wir sehen sowohl das Ergebnis als auch die Bauformen eines Modells, das keine Referenz in der Wirklichkeit hat, sondern komplett künstlich hergestellt ist. Das herausragende Beispiel dieses Erzeugungsverfahrens ist das computergenerierten Klimamodell. Der Film befasst sich geradezu obsessiv mit dieser Bildform, die er immer wieder ins Blickfeld rückt. Zu sehen sind dabei einfache graphische Formen, etwa als Verlaufskurven von bereits erhobenen Daten, aber auch bewegte, dreidimensionale Simulationen, die die Bewegungen des Weltklimas vor ihrem Vollzug zu visualisieren versuchen. Abbildung 3: THE DAY AFTER TOMORROW

Die Weite und Unermesslichkeit der Landschaft zeigt sich hier als Berechenbares, zumindest in der Berechenbarkeit eines bildgebenden Verfahrens. Nicht nur ist das Land kartografisch erfasst, sondern auch der Prozess seiner Veränderung soll dem Blick zugänglich gemacht werden. Damit wird eine besondere Visualisierungstechnik präsentiert – und mit ihr eine eigene Operation der Erfassung und Vermessung von Landschaft und Landschaftsbetrachtung. Bisweilen rückt der Film sie dermaßen deutlich in den Vordergrund, dass alles andere aus dem Blick gerät, wie etwa in einer Einstellung, in dem das Modell seinen Rahmen verliert. In dem Moment, da der Geräterahmen des Rechners verschwindet, wird das Bildschirmbild leinwandfüllend: Es scheint sich auf der Ebene des Filmbildes auszubreiten und es wie ein Belag zu überziehen. Bemerkenswerter Weise

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konfrontiert der Film dieses Bild jedoch bald darauf mit seiner Rückseite, d.h. mit einer Ansicht des durch filmische Spezialeffekte erzeugten Eissturms, der in der Geschichte des Films die Welt zur Eiswüste werden lässt. Fast sieht es so aus, als sei hier das Bild eines Making Of in den Hauptfilm geraten: Auf die Ansicht des zweidimensionalen Modells am Computer (als eine Art Rastervorlage) folgt die vollständig animierte dreidimensionale Graphik (als VFX Ergebnis). Abbildung 4: THE DAY AFTER TOMORROW

In seiner Auseinandersetzung mit den Charakteristika des Postkinematographischen erwähnt Richard Grusin einen Transformationsprozess, den er als Ästhetisierung der Animation bezeichnet. Diesem Ansatz zufolge ist das digitale Kino dadurch gekennzeichnet, dass die Rezeption entlang einer Aufweichung der Trennlinie zwischen Statischem und Kinetischem sowie zwischen Animierten und Nichtanimierten verläuft: »The digital cinema of interactions entails what I think of as an aesthetic of the animate, in which spectators or users feel or act as if the inanimate is animate, in which we simultaneously know that the mediated or the programmed are inanimate even while we behave as if they were animate.«13 13 Grusin, Richard: »DVDs, Videogames, and the Cinema of Interactions«, in: Shane Denson/Julia Leyda (Hg.), Post Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 65-87, hier: S. 68. In eine ähnliche Richtung argumentiert Vivan Sobchack: »Although photographically verisimilar, the motion picture fragments, reorders, and synthesizes time and space as animation in a completely new ›cinematic‹ mode that finds no necessity in the objective teleo-logic of realism.«, Vgl. Sobchack, Vivian: »The Scene of the Screen: Envisioning Photographic, Cinematic, and Electronic ›Presence‹«, in: Shane Denson/Julia Leyda (Hg.), Post Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 88-128, hier: S. 102.

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Wenn es zutrifft, dass die Ästhetik des digitalen Kinos mit einer neuen Konjunktur der Animation verbunden ist, dann spielt das Visualisierungsverfahren der Computersimulation dabei eine besondere Rolle. In THE DAY AFTER TOMORROW wird sie insbesondere dort auffällig, wo es um die Darstellbarkeit der Klimadaten geht, genauer: um ihre medial spezifische Präsentation, Interpretation und Narration. Dabei zeigt der Film zunächst, gleichsam als historische Rückschau, analoge Verfahren der Datenaufbereitung. Zu ihnen gehören großformatige Diagramme und Karten auf Papier, die und aus- und eingerollt, auf Tischen ausgebreitet oder an Wänden aufgehängt werden. In einem weiteren Schritt werden die aufbereiteten Daten über die Computermonitore präsentiert, und zwar zunächst wiederum in unbewegter Darstellung, also vornehmlich in statischer Tabellenform als Auflistung von Zahlen und Messwerten. Eine besondere Dynamik – und dies sowohl auf ästhetischer als auch auf dramaturgischer Ebene – erhält die Verdatung jedoch erst in dem Moment, da sie als animierte Simulation in Erscheinung tritt. Zu den Merkmalen dieser computergenerierten Bildverfahren gehört wesentlich ein zeitbasierter Faktor, aus der die Illusion einer flüssigen Bewegung entsteht, wie Barbara Flückiger verdeutlicht: »Computersimulationen enthalten meist eine dynamische, zeitliche Komponente. Es handelt sich also mehrheitlich um einen regelbasierten Nachvollzug von Prozessen. Aus diesem Grund werden ihre Resultate häufig in Form von Animationen dargestellt.«14 Es ist eben jene Bewegung und Beweglichkeit, die den Klimabildern einen besonderen Status verleiht. Denn ihre ästhetische Mobilität ist verbunden mit einer symbolischen Flexibilität: Die Klimasimulation zeigt Veränderung an, stellt aber zugleich auch eine Pluralität von Ableitungsmöglichkeiten bereit. Weiterhin sind die Konstruktionsbedingungen der Klimasimulation ihrerseits höchst beweglich. Das hängt, wie Claus Pias gezeigt hat, »damit zusammen, dass Phänomene simuliert werden, die analytisch (und auch experimentell) schwer oder gar nicht zugänglich sind (die Validierung erfolgt be-

14 Flückiger, Barbara: Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2006, S. 279.

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kanntlich über historische Daten der Klima- und Wettergeschichte, die unvollständig und inhomogen sind). Die Adäquatheit eines einzelnen Modells jedenfalls kann nicht bewiesen, sondern nur demonstriert werden.«15

Die Klimasimulation rückt damit ein in den Bereich des Fiktiven; zumindest ist sie ihm näher als dem des Dokumentarischen. Das wird auch daran deutlich, dass sie das Vokabular der Fiktion in ihre Darstellungsformen implementiert, etwa wenn die Modelle von »story lines« ausgehen oder zukünftige Entwicklungen als »Szenarien« vorstellen. Ihr narrativer Charakter leistet somit einen zentralen Beitrag für die Vermittlung des Abstrakten, mehr noch: sie ermöglichen als mediale Übersetzungsverfahren überhaupt erst, dass aus der Datensammlung eine anschlussfähige Visualisierung wird. Birgit Schneider betont: »Die kulturelle Leistung der Visualisierung besteht im Fall der Klimakurve darin, ein Verfahren der Metamorphose von einer Ordnung der Daten und Messungen in eine Ordnung der Bilder zu liefern, der eine ganze Kette von Übersetzungen und Entscheidungen vorangeht. Im Fall der Klimavisualisierungen sind die Resultate nicht weniger als ›Weltbilder‹.«16

Diese Art ›Weltbilder‹ werden von Hollywood in eine neue Form überführt. Denn es geht in den computergenerierten Visualisierungsverfahren, die das Kino vorführt, nicht um eine nachträgliche Abbildung, sondern um genuin neue Ausformung, also weniger um eine Wiedergabe bereits existierender Modelle, sondern mehr um eine Befragung ihrer Möglichkeiten und Grenzen sowie um eine ästhetische Überbietung ihres Wissensangebots. Birgit Schneider hat nachgewiesen, dass in der Forschungsgeschichte 15 Pias, Claus: »Klimasimulation«, in: Petra Lutz/Thomas Macho (Hg.), 2°. Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen: Wallstein 2008, S. 108-115, hier: S. 114. 16 Schneider, Birgit: »Ein Darstellungsproblem des klimatischen Wandels? Zur Analyse und Kritik wissenschaftlicher Expertenbilder und ihrer Grenzen«, in: kritische berichte 3 (2010), S. 80-91, hier: S. 86. Zum Status der Klimavisualisierung als epistemisches Bild vgl. weiterhin: Schneider, Birgit: Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel, Berlin: Matthes und Seitz 2018.

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»Klima und Klimaveränderung sowie ihre Ursachen […] nur mittels Sichtbarmachung als Forschungsobjekte erkannt, konstruiert und vergegenständlicht werden«17 konnten. Dabei betont sie, dass konventionalisierten Darstellungsformen wie die Infografik »nur eine äußerst dürftige sinnliche Faszination herzurufen«18 vermochten. Die Lücke, die durch die NichtErfahrbarkeit abstrakter Datenvisualisierungen entsteht, weiß Hollywood durch virtuellen Bildbestände zu füllen, die das abstrakt Vorstellbare durch konkrete Inszenierungen ersetzen. In der Folge gewinnen die HollywoodBilder einen eigenen Beglaubigungsstatus dadurch, dass sie die Leere des nicht Darstellbaren mit computergenerierten Simulationen aufladen, die dann ihrerseits auf die Frage der Klimasimulation zurückwirken19. So löste etwa der Dokumentarfilm AN INCONVENIENT TRUTH (USA 2006, R: Davis Guggenheim) das Problem des nicht existenten dokumentarischen Bildmaterials der schmelzenden Polkappen dadurch, dass er sich der computergenerierte Auftaktsequenz von THE DAY AFTER TOMORROW bediente: Was in dem Dokumentarfilm als vermeintlich reale Aufnahme der schwindenden Gletscher in der Antarktis gezeigt wird, hat seinen Ort nirgendwo anders als in den Special Effects-Laboren Hollywoods20. Ihre Zielvorgabe finden die Hollywood-Simulationen somit nicht im Nachbau eines Vorfindlichen oder exakt Gegebenen. Stattdessen betonen 17 B. Schneider: »Ein Darstellungsproblem des klimatischen Wandels«, S. 86. 18 Ebd., S. 84. 19 Darauf, dass die Form des ›Was wäre wenn‹ die Wirklichkeit nicht unbeeindruckt lässt, hat Elena Esposito hingewiesen. Denn schließlich ist »die Orientierung an der fiktiven Realität […] ein Teil der realen Realität. Sie ist ein Faktor, der ihre zukünftige Entwicklung bestimmt.« Vgl. Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 38. 20 Bemerkenswerterweise hat die Enthüllung der Verwendung von künstlich hergestellten Hollywood-Bildern als Nachweis für den real statthabenden Klimawandel für keine größere Irritation gesorgt – zumindest nicht in Hollywood. Angesprochen auf das offensichtliche Plagiat antwortet Karen E. Goulekas, Visual Effects Supervisor von THE DAY AFTER TOMORROW, in einem Interview für ABC News: »Yeah, that’s our shot. That's a fully computer generated shot. There’s nothing real in there. […] That was one hell of a shot. I think it’s great that he used it«. Vgl. ABC News, 18.04.2008, https://www.youtube. com/watch?v=SnvJDwv3Z-w

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sie das künstlich Gemachte als Regelwerk, dessen Regeln stets erweiterbar sind. Dies gilt auch und im Besonderen für das regelbasierte Generieren von Computersimulationen. Im Fall von THE DAY AFTER TOMORROW wurden die Simulationen als bildkompositorische Faktoren verwendet und verarbeitet. Das gilt etwa für das digital erstellte 3D-Environment, die Partikelanimationen und die mit ihnen zusammenhängenden Flüssigkeitsund Schneesimulationen. Dabei liegt die mediale Eigendynamik der hier zur Anwendung gebrachten Partikelanimationen darin, dass sie sich systembasiert, also nach festgelegten Regeln verhalten. Als prozedurale Animationen unterliegen sie nicht länger dem individuellen Eingriff, sondern der Steuerung des Programms. Barbara Flückiger beschreibt die sich daraus ergebenden »Friktionen zwischen den Automatismen der Simulation und den Zielen der filmischen Darstellung«21 wie folgt: »Dieses Spannungsfeld zwischen künstlerischer Intention und regelbasierten Mechanismen prägt das ganze Feld prozeduraler Systeme. Immer geht es darum, den größten Nutzen aus der Komplexität zu ziehen, die das System anbietet, es aber so umzuformen, dass es sich den ästhetischen und narrativen Zielen anpasst.« 22

Die Leistung der Hollywood-Bilder liegt darin, dass sie ihre Simulationen an ästhetischen Erfordernissen ausrichten, mehr noch: dass sie erst im Ästhetischen aufgehen. Eben darin liegt ihr produktiver Charakter: Sie begreifen sich nicht als Nachvollzug des bereits Bestehenden oder als Nachbau eines gegebenen Schemas. Vielmehr arbeiten sie daran, komplexe Systeme umzumodellieren. Statt ausnahmslos auf den Regelvollzug zu bestehen, verlegt sich Hollywood darauf, sich das System ästhetisch anzueignen und es dadurch noch einmal umzubiegen.

21 B. Flückiger: Visual Effects, S. 143. 22 Ebd., S. 144.

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3. S PEKULATION THE DAY AFTER TOMORROW entwirft ein eigenes Spekulationsterrain. Das gilt zunächst für sein Sujet, namentlich das Narrativ einer möglichen Klimakatstrophe, weiterhin aber auch für seine filmästhetischen Inszenierungsverfahren und sein bildtechnologisches Gerüst, d.h. für die Frage, was digitale Bilder sind und zu was sie zukünftig werden könnten. Diese beiden Spekulationsebenen lässt der Film jedoch nicht einfach nebeneinander herlaufen, sondern führt sie als verschiedene Aspekte der gleichen Exploration vor. Eben darin liegt dann auch die Spekulationsrendite, die THE DAY AFTER TOMORROW als Reflexionsform des Post Cinema in Aussicht stellt. Auf der Ebene der Narrative entfaltet sich die Spekulation zunächst als ein durchgängiges Abwägen von konkurrierenden Wissensangeboten. Zurückgekehrt von seiner Antarktis-Expedition, präsentiert der Klimatologe Jack Hall seine Forschungsergebnisse auf einer UN-Klimakonferenz in Neu-Delhi, an der auch der US-Vizepräsident teilnimmt. Während der Forscher erklärt, dass der Golfstrom wegen der schmelzenden Polkappen drastisch abkühlen und so eine neue Eiszeit initiieren könnte, ignoriert der Politiker die Warnungen vor einer nahenden Klimakatastrophe und verweist stattdessen auf die Instabilität der Weltmärkte (also auf ein anderes, wenngleich verwandtes Spekulationsfeld). Die Spekulation zeigt sich hier als ein Medium der Offenheit, in dem die Ungewissheit über das, was ist und sein wird, narrative und ästhetische Gestalt gewinnt. Mehr noch: Am Beispiel der Infografiken, Schautafeln und Kurvenverläufe können wir sehen, wie sich die Spekulation als Medientechnologie manifestiert und materialisiert. In der Folge entwickelt sich eine Art der Wissensproduktion, die spezialisierte Progonoseverfahren mit anschlussfähigen Interpretations-gesten verbindet. Sehr gut kann man das etwa an der Kombination von Klima-Weltkarten im Bildhintergrund mit erläuternden Forschern und Politikern im Bildvordergrund sehen. Die dort artikulierten Ausführungen konzentrieren sich weniger auf meteorologische Details, sondern vielmehr auf narrative Mechanismen, die der Klimasituation eine besondere Dramaturgie verleihen. Daraus ergibt sich ein eigenes Mischverhältnis von Informationsvergabe, Wissensproduktion und Bildmodulation. Als prognostische Verfahren treiben Datenvisualisierungen die Spekulation einerseits

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voran und versuchen andererseits, die entstandene Unsicherheit durch bildbasierte Darstellungsformen zurückzudrängen. Wie sehr allerdings nicht nur das Klima, sondern auch die seiner Visualisierung dienenden Bildverfahren von Instabilitäten betroffen sind, zeigt sich wenig später. Um die Erwartung zukünftiger Entwicklungen exakter darstellen zu können, arbeitet der Klimatologe zusammen mit einer NASA-Meteorologin an einem vergrößerten Modell, einer weltumspannenden Klimasimulation. Doch das, was zunächst wie eine Erweiterung von Blickmöglichkeiten aussieht, ist immer auch schon mit der Gefahr der Blickbeschränkung verknüpft. Entsprechend zeigt der Film nicht nur die Arbeit am Muster, sondern auch seinen Kollaps. Kurz bevor das Modell seine Simulationen zur vollständigen Ansicht einer weltweiten Eis-Landschaft bringen kann, bricht es auch schon zusammen. Die Rechenkapazitäten sind zu klein, um die Datenmengen zu verarbeiten – das System hat den orientierenden Blick verloren. Dieses Schwanken zwischen Aufbruch und Zusammenbruch wirft den Film immer wieder auf sich selbst zurück. Dabei geht es nicht allein darum, dass ein globales Thema (das Klima) über ein globales Kino (Hollywood) verhandelt wird, sondern vielmehr darum, wie das als bildtechnischer Prozess von statten geht und wie sich dieses Aushandeln als postkinematographische Reflexionsform behaupten kann. Vielleicht ist die synthetische Schneelandschaft sogar ein besonders geeigneter Übungsraum für diese spekulative Operation. Denn das, was den Schnee in seiner Motivhaftigkeit auszeichnet – die unfeste Gestalt, die Charakteristik des Amorphen – wird auf der Grundlage dessen, was es zur Erscheinung bringt, reflektiert. Dabei bewegt sich der Film in einem Feld, das ihn selbst betrifft: Deutet der Schnee auf etwas, das alle Formen annehmen und wieder aufgeben kann, dann steckt der Film mitten drin. Er befasst sich mit dem Widerspiel von Eingrenzung und Entgrenzung, von Konkretion und Abstraktion, von Gestaltbildung und Gestaltauflösung – und letztlich auch mit dem Wechselverhältnis von Blickschärfung und Blicktrübung. Das lässt sich an verschiedenen Bildbeispielen zeigen. Die Auftaktsequenz präsentiert zahlreiche Möglichkeiten der Raumbildung, insbesondere die Transformierbarkeit des Bildraums durch virtuelle Fahrt, Zoom, Lichtsetzung und Schärfenverlagerung. Während der Film an seinem An-

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fang alle diese Möglichkeiten durchspielt, geht er in seinem weiteren Verlauf hinter die Illusion räumlicher Tiefe zurück. Es gibt Bilder, die vollkommen flächig wirken und jede Möglichkeit der Orientierung ausschließen. Abbildung 5: THE DAY AFTER TOMORROW

Dieser Verlust an Orientierung vollzieht sich allmählich. So ist beispielsweise zunächst noch die Unterscheidung von Bildvordergrund und Bildhintergrund möglich (im Vordergrund ist ein Stück Gemäuer zu sehen, im Hintergrund, deutlich kleiner, das Gebäude der Wetterstation). Aber bereits hier wird deutlich, dass die Unterscheidung bedroht ist, da das Diesige dem Bild einiges an Tiefe nimmt. So sind die Konturen der Wetterstation zwar noch zu erkennen, was sich allerdings dahinter befindet, kann schon nicht mehr ausgemacht werden. Das schneebedeckte Haus scheint sich in die formlose Umgebung einzumodellieren, um schließlich darin zu verschwinden. Schon im nächsten Augenblick nimmt das Diffuse überhand und breitet sich über das Bild aus: Nun sind allenfalls vage einige Reste dessen zu erkennen, was das Bild zuvor strukturierte. Eine Steigerung dieses Vorgangs zeigt ein weiteres Bild, in dem wir zunächst noch Bein und Fuß einer in den Schnee stapfenden Figur erkennen können. Doch kurz darauf sind sie vollkommen verschwunden, und es gibt nicht mehr zu sehen als ein Bild, das seine Ausgerichtetheit verloren hat. Abbildung 6: THE DAY AFTER TOMORROW

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Sämtliche Anhalts- und Referenzpunkte sind verschluckt: Oben und Unten, rechts und links sind nicht mehr voreinander zu unterscheiden. Man könnte dieses Bild nun drehen wie man wollte – es gäbe immer das gleiche zu sehen. Das Ganze sieht aus wie ein Freeze Frame, obwohl es sich darum eigentlich nicht handelt, denn das Bewegtbild läuft ununterbrochen weiter. Dennoch scheint sich der Film für einen Moment still zu stellen. Hier scheint nichts weiter zu gehen, hier ist die Ordnungsmacht der Orientierung in Frage gestellt, hier hat sich das Bild der Richtungslosigkeit ergeben. Der Film zeigt den Übergang vom erschließenden zum verschlossenen Blick weiterhin auch über diejenigen Verfahren, die das Erfassen der Landschaft zunächst ermöglichen, diese Möglichkeit aber zunehmend einbüßen. Ein Beispiel dafür ist der Blick durch das Autofenster. Abbildung 7: THE DAY AFTER TOMORROW

Dieser Blick ist ein bewegter, genauer einer, der durch die Bewegung des Vehikels in Gang gesetzt wird. Wir sehen diesen Vorgang zunächst in seiner klassischen Anordnung, wobei auch hier schon Eintrübungen zu erkennen sind (etwa der Schneeregen, der den unverstellten Blick durch die Scheibe mit einem ersten Hindernis konfrontiert). Im Folgenden gerät dann diese Möglichkeit der Landschaftserschließung an ihre Grenze. Inmitten des Schneegestöbers verliert der Blick nach Außen seine Koordinaten: Er ist einem undurchschaubaren Weiß ausgesetzt, das selbst durch Bewegung unverändert bleibt. Nun ziehen keine wechselnden Ansichten mehr vorüber, nun ist das panoramatische Sehen ausgesetzt. Und nun ist auch der Blick durch die Windschutzscheibe kein Blick in die Tiefe mehr, sondern lediglich ein Blick auf das, was nicht mehr in Gänze gesehen werden kann. Diese reduzierte Sicht hängt nicht nur mit der extrem eingeschränkten Bewegungsfähigkeit des Fahrzeugs zusammen, sondern auch

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damit, dass das Auto selbst immer wieder dem Einfall des Schnees ausgesetzt ist. So rutscht der Schnee, der sich auf dem Autodach angesammelt hat, häufig auf die Frontscheibe herab, so dass sich das Blickfeld verkleinert und nur noch merkwürdig verschobene Ansichten preisgibt. Was den Insassen des Fahrzeugs hier zustößt, ist der Verlust des Weitblicks – ein folgenreicher Entzug der Ferne, der die Probleme der perspektivischen Bildeinrichtung erneut vor Augen führt. In THE DAY AFTER TOMORROW breitet sich das Wechselverhältnis von Gestaltbildung und Gestaltauflösung als andauernder Umschlag aus. Der Kondensationspunkt ist dabei der Blue Screen, der allerdings weniger als ein allgemeines Kälte-Motiv, sondern vielmehr als die mediale Bedingung der Schneelandschaft selbst erscheint. Wir haben den Blue Screen bereits in den Bildern der Schneeverwehung gesehen. Er lässt sich jedoch als Ablösung von der Diegese noch einmal neu betrachten. Einerseits nämlich verweist er auf die Blue-Screen-Technik, auf ein Verfahren also, das es ermöglicht, Gegenstände oder Personen nachträglich vor einen Hintergrund zu setzen, der entweder eine reale Filmaufnahme oder eine Computergrafik (z.B. eine Landschaft) enthalten kann23. Andererseits ist der Blue Screen jedoch auch als das Gegenteil des Erschaffens, nämlich als Zusammenbruch von Visualisierungsmöglichkeiten bekannt, zumindest, wenn man es mit Microsoft Windows Betriebssystem zu tun hat. Dort kann es nämlich passieren, dass auf einmal alle Fenster verschwinden, dass es also zu einem Absturz des Systems kommt. Es erfolgt dann eine Fehlermeldung, die unter dem Namen »BSoD«, also »Blue Screen of Death«, firmiert. Dabei wird die Bedienoberfläche des Betriebssystems vollständig durch einen blauen Bildschirm ersetzt, auf dem in weißer Schrift Fehlerinformationen erscheinen. Im Blue Screen sammeln sich generische wie destruktive Kräfte, hier kann etwas zum Vorschein und zum Verschwinden gebracht werden. Dieses Verhältnis reicht ins Studio bzw. den Rechenraum zurück, aus dem es

23 Hierzu wird der Gegenstand oder die Person vor einem blauen Hintergrund aufgenommen. Um jenes Objekt dann freizustellen, wird eine Aussparungsmaske benutzt, die den sichtbaren und unsichtbaren Bildbereich definiert. Schließlich werden der Hintergrundfilm und der freigestellte Vordergrundfilm kombiniert, um damit neue Bildlandschaften zu erzeugen.

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hervorgegangen ist, und greift noch weiter aus. Im postkinematografischen Zeitalter entstehen neue Filmbilder und neue Wahrnehmungsweisen – neue Techniken des Produzierens und Rezipierens, zu denen das Kino sich zu verhalten hat. Insofern ist dasKino selbst eingebunden in einen spekulativen Transformationsprozess, der seinerseits spekulative Explorationen erfordert, wie Shane Denson und Julia Leyda erklären: »The speculative thinking demanded by such a situation is intimately tied to the notion of post-cinema as an ongoing, non-teleologically determined transition, in the very midst of which we find ourselves.« 24 An anderer Stelle spricht Denson von »the new speculative quality of post-cinema«25, einem spekulativen Vermögen, das die prinzipielle Offenheit des Kinos für seine eigenen Aushandlungsfragen betrifft. Dabei schlägt er vor »to see postcinema neither in terms of everything that follows the invention of cinema […] nor as something that follows the demise of cinema […] but as a potential or speculative possibility inherent in cinema itself«26. Das Spekulationsfeld des Post Cinema steht damit einerseits für das Auslöschen des Kinos, wie wir es gekannt haben (Abschied vom Zelluloid, Verlust der Indexikalität, Transformation des Dispositivs), und andererseits für die Erschaffung neuer Bildräume, die uns noch nicht bekannt sind (digital prozessierte und mikrotemporal generierte Bildformen, die gleichsam unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle liegen, also ›post-perzeptuell‹ sind27). Welche ästhetischen Fragen damit verbunden sind, führt uns THE DAY AFTER TOMORROW wie ein spekulativer Testlauf vor Augen. Seine Fragen kreisen um das Verhältnis von Form und Festigkeit, von Aufbau und Abbau, von Musterbildung und Musterverlust. Es sind Fragen, die für Umschlag und Umschwung stehen, für das Ungewisse und Unabgeschlossene. Damit folgt das Hollywood-Kino nicht nur einer umfassenden

24 Denson, Shane; Leyda, Julia: »Perspectives on Post-Cinema. An Introduction«, in: dies. (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 1-19, hier: S. 6. 25 Denson, Shane: »Speculation, Transition, and the Passing of Post-Cinema«, in: Cinéma & Cie, Vol. XIV, No. 26-27, Spring/Summer 2016, S. 21-32, hier: S. 28. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 22.

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Umgestaltung seiner selbst, sondern macht sie auch bewusst und erkennbar. Spekulativ gewendet bedeutet das, dass THE DAY AFTER TOMORROW über den medialen Erfahrungsbereich seiner Entstehungszeit weit hinausweist. Es geht in diesem Film nicht um das Markieren eines festen Bezugsrahmens, sondern um seine Überschreitung: Erst das Absehen von einer klar verfassten Medialität ermöglicht ja die Vorausschau auf ihre Umformung und Erweiterung. Was daraus noch folgen könnte, bleibt spekulativer Überschuss: Schnee von Übermorgen.

L ITERATUR Bell, Robert/Ficociello, Robert (Hg.): Eco Culture: Disaster, Narrative, Discourse, Lanham: Lexington 2018. Bergermann, Ulrike/Otto, Isabell/Schabacher, Gabriele (Hg.): Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München: Fink 2010. Bukatman, Scott: Matters of Gravity: Special Effects and Supermen in the 20th Century, Durham: Duke University Press 2003. Casetti, Francesco: »The Relocation of Cinema«, in: Shane Denson/Julia Leyda (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 569-615. Darley, Andrew: Visual Digital Culture: Surface Play and Spectacle in New Media Genres, New York: Routledge 2000. Denson, Shane/Leyda, Julia: »Perspectives on Post-Cinema. An Introduction«, in: dies. (Hg.), Post-Cinema. Theorizing 21st-Century Film, Falmer: Reframe Books 2016, S. 1-19. Denson, Shane: »Speculation, Transition, and the Passing of Post-Cinema«, in: Cinéma & Cie, Vol. XIV, No. 26-27, Spring/Summer 2016, S. 21-32. Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Flückiger, Barbara: Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2006.

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FILME AN INCONVENIENT TRUTH (USA 2006, R: Davis Guggenheim) BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (USA 2014, R: Alejandro González Iñárritu) CHILDREN OF MEN (USA 2006, R: Alfonso Cuarón) ELEPHANT (USA 2003, R: Gus van Sant) GEOSTORM (USA 2017, R: Dean Devlin) GRAVITY (USA 2013, R: Alfonso Cuarón) IRRÉVERSIBLE (F 2002, R: Gaspar Noé) MINORITY REPORT (USA 2002, R: Steven Spielberg) OLDBOY (KOR 2003, R: Park Chan-wook) PANIC ROOM (USA 2002, R: David Fincher) SNOWPIERCER (USA 2013, R: Bong Joon-ho) SPECTRE (UK 2015, R: Sam Mendes) TAKE SHELTER (USA 2011, R: Jeff Nichols) THE DAY AFTER TOMORROW (USA 2004, R: Roland Emmerich) THE HAPPENING (USA 2008, R: M. Night Shyamalan) THE LAST WINTER (USA 2006, R: Larry Fessenden) THE ROYAL TENENBAUMS (USA 2002, R: Wes Anderson)

III. Hollywood | Weiten

Solus ipse Theatrale Performanz in HOUSE OF CARDS S EBASTIAN L EDERLE

Wenn man fragt, in welchem Verhältnis Hollywood zur Kultur, Gesellschaft und Geschichte der USA steht, so hat man es mit einer komplexen Konstellation zu tun, die von zahlreichen Spiegelungen, Verstärkungen, aber auch von Brüchen und Unstimmigkeiten durchzogen ist. Zum einen fungiert Hollywood als ein Brennglas des amerikanischen Selbstverständnisses und seiner Imaginarien. Es liefert geradezu einen umfassenden Entwurf dessen, was die USA auszumachen scheint. Hollywood zeigt in seinen Produktionen, wenn man zunächst einmal vom Kinofilm ausgeht, die Welt der USA in ihren vielen Facetten, weil es sich in seiner Weltkonstruktion besonders den Umstand zunutze macht, den eine filmische Welt als solche kennzeichnet: die bewegtbildliche Darbietung einer anschaulichen Totalität. Die USA als Ganzes, als artikulierten Kosmos in eine Form der Darstellung zu bringen, die dem medial gerecht zu werden scheint, ist ein Grund für das Fortdauern Hollywoods1 trotz der zahlreichen Herausforderungen und Anfechtungen, denen es immer wieder ausgesetzt war und nicht zuletzt in Zeiten des post cinema ausgesetzt bleibt. 1

So die hier ins Deutsche übertragene treffende Formulierung Thomas Elsaessers in seiner titelgebenden Veröffentlichung The Persistence of Hollywood. From Cinephile Moments to Blockbuster Memories. London: Routledge 2012.

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Welche Bedeutung etwa dem individuellen pursuit of happiness als dem zentralen Recht der Verfassung und dem Versprechen einer liberalen Lebensweise zukommt, dem Vertrauen darauf, immer wieder von neuem anfangen und sich neu erfinden zu können, in dem sich Unternehmergeist und persönliches Schicksal nicht selten miteinander verbinden, dem Glauben an eine offene, unabgegoltene Zukunft, die jede Krise zu überwinden vermag und als Grenze sich stets weiter nach vorn verschiebt, dem alltäglichen Pluralismus und Pragmatismus, für den sich auch die Hochkultur nie zu schade ist, und besonders dem Stolz auf die eigene demokratisch-rechtsstaatliche Tradition2, erschließt sich in sinnfälliger Weise, wenn man sich die Hervorbringungen jener Industrie ansieht, für die gemeinhin der Name Hollywood steht. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich dies nur in Hollywood-Produktionen thematisiert finden würde. Um die parteiliche Befestigung eines fragwürdigen Monopols kann es in diesem Zusammenhang nicht gehen. Vielmehr interessiert, warum Hollywood über lange Zeit eine kulturelle Repräsentationsmacht der USA zugesprochen worden ist, die durchaus monopolartige Züge getragen hat und immer noch trägt. Natürlich handelt es sich dabei um eine verwickelte Fragestellung, von der hier nur zwei Aspekte aufgegriffen werden sollen. Erstens: Wenn von Repräsentationsmacht die Rede ist, so verschränken sich im Hollywood-Kino zwei Formen der Repräsentation: Zum einen gibt es eine Kultur, die durch Hollywood aufgegriffen, bearbeitet und dargestellt und im Wortsinne re-präsentiert, also wiedergezeigt wird. Zum anderen ist Hollywood auch eine kulturprägende Industrie, die nicht nur etwas, was auch in vielen anderen Medien und Künsten zur Darstellung gebracht wird, zeigt, sondern für etwas zu stehen beansprucht, was jene Kultur besonders macht, was ihr Imaginarium charakterisiert und was für ein großes Publikum ohne größere Probleme zugänglich ist. Ein solcher Anspruch weist auf die politische Konnotation der Repräsentation hin. Hollywood schafft Muster und Bezugspunkte der Identifikation und Zustimmbarkeit, indem es dank der Eigenschaften des filmischen Mediums die prima facie dispersiven Elemente eines Imaginariums zu 2

Für eine gute Einführung und Kritik zur Kultur der USA, vor allem zum Aspekt der Selbstfindung, siehe: Thomä, Dieter: Unter Amerikanern. Eine Lebensart wird besichtigt, München: Beck 2001.

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einer welthaften Ganzheit zusammenfügt, die zwar nicht weniger imaginär ist, dafür aber eine sinnhafte Anschaulichkeit und unmittelbare Nachvollziehbarkeit bietet. Zweitens: Der american way of life findet sich kinematographisch vorgestellt wieder. Das, was von Hollywood repräsentiert wird, ist so immer auch die Selbsterfindung der USA durch Hollywood. Das, wofür Hollywood steht, ist beides: Es steht für eine Kultur und ihre zahlreichen symbolischen Erzeugnisse, woran es Anteil hat. Es steht aber als eine kulturelle Produktivkraft auch für sich selbst, indem erst durch Hollywood etwas auf eine Weise in die Welt gesetzt wird, das so ohne weiteres nicht dagewesen wäre: Die integrativ-anschauliche Repräsentation einer als amerikanisch geltenden Lebensform. Daher muss immer die grundlegende Zweideutigkeit der repräsentativen Produktionsform Hollywoods im Auge behalten werden. Auch in der Zugänglichkeit schwingen beide Seiten mit: Es wird etwas vorgestellt, was zahlenmäßig viele erreicht, und mit Zuspruch rechnen darf. Wenn das Hollywood-Kino für lange Zeit eine wichtige kulturelle Agentur der Selbstverständigung und Selbstbestimmung sein konnte, dann deswegen, weil das, was in ihm zu sehen ist, weder als flüchtige Marginalie noch unverbindliches Angebot auftritt, sondern einen welthaften Entwurf dessen originär hervorbringt, was es heißt, amerikanisch zu sein. Und wenn trotz der Auflösungserscheinungen und wiederkehrenden Krisen der Hegemonie Hollywoods immer noch von einer Repräsentationsmacht gesprochen werden kann, dann deswegen, weil Hollywood immer wieder genau jenen Motor der phantasmatischen Maschine anwirft, der einen Sitz im Leben hat: Neuanfang und Selbsterfindung. Das Repetitorium der Wiederbelebung gelingt, weil Hollywood – und darin liegt eben die eigentümliche Verschränkung von Reflexivität und Produktivität – darin eine Sicht der USA auf sich selbst aufnimmt, exemplarisch vollzieht und mit der Suggestionskraft des Kinofilms versieht, die geradezu den Inbegriff einer der Zukunft zugewandten Affirmation darstellt. Das originäre Hervorbringen ist kein Sonderfall des american way of life, sondern, so könnte man mit einem Anflug von Pathos sagen, hält ihn in Atem. Im Finden wird erfunden und im Erfinden wird gefunden. So gesehen ist das Kino Hollywoods eine kulturelle Praxis in zweierlei Hinsicht: Es ist Teil einer Kultur, aus der es nicht nur hervorgeht und die es nicht nur mitgestaltet, sondern die sie in

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einem ausgezeichneten Sinne auch in Szene setzt und dadurch als Ganzes legitimiert, d.h. zu vertreten beansprucht. Allerdings ist festzuhalten, dass es bei den Filmen, die den american way of life als Grundlage haben, nicht immer darum gehen muss, diesen blind zu affirmieren, sondern ihn auch in seiner Fragwürdigkeit zu reflektieren. Bezeichnend an den Filmen, die sich kritisch mit dem durch Hollywood gezeichneten Bild der USA auseinandersetzen, ist, dass sie oft die genannte Wirkmacht Hollywoods als etwas mitverhandeln, dem man kaum zu entkommen scheint, wenn man überhaupt nach dem kulturellen und weiterhin durch Filme mitgebildeten Selbstverständnis der USA fragt. Denn nicht nur artikuliert Hollywood wichtige Elemente der amerikanischen Lebensweise, die auch ohne ihre filmische Veranschaulichung von großem Gewicht sind. Vielmehr wirkt es, wie angedeutet, normativ-legitimierend auf jene Lebensweise zurück, indem durch Hollywood eine bestimmte Perspektive darauf, was die amerikanische Lebensweise ausmacht, als repräsentativ und damit erstrebenswert dargestellt wird. Um dies mit einem einfachen, aber vielsagenden Beispiel zu verdeutlichen: Wer von der Überzeugung geprägt ist, individueller Einsatz und Leistung erlauben es in einem Land, in dem diese Vorstellungen ebenfalls geteilt werden, sein Glück zu machen, der wird das Narrativ »Vom Tellerwäscher zum Millionär« in allen seinen Variationen und Sublimierungen für einleuchtend halten. Darüber hinaus wird derjenige, welcher es auf Grund solcher Überzeugungen in seinem Leben zu etwas bringt, geneigt sein, sich eines solchen Narrativs zu bedienen, um sein Leben erzählbar und fasslich zu machen. Alternative Sichtweisen werden tendenziell ausgeschlossen oder marginalisiert, weil ihnen prima facie kaum Plausiblität zukommt. Warum sollte man auch eine Auffassung in Zweifel ziehen, die es jedem nicht allein einräumt, aus sich etwas zu machen, sondern die auch die Freiheit dazu, alles erreichen zu können, gerade als Losung eines amerikanischen Lebensweges ausgibt, auf die eine ganze Gesellschaft hört. Und in der Tat scheint es so zu sein, dass eine Kultur des Neuanfangens sich motivierender auswirkt als eine Kultur des Scheiterns. Hollywoods Blick auf die USA schafft ein Arrangement positiver Identifikationspunkte mit einer Lebensweise, für die es in diesem Beispiel keine grundsätzlichen Schwächen und endgültige Rück-

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schläge gibt, sondern die sich durch permanenten Aufbruch bestimmt sieht. Darin liegt, um es nochmals zu sagen, die reflexive Produktivität Hollywoods: Es stellt ein kulturelles Selbstverständnis für ein breites Publikum aus und ermöglicht deswegen eine weitflächige Teilnahme daran. Zugleich wirkt es auf es normierend zurück, indem sich an Hollywood und seinen Deutungsangeboten zu orientieren dann heißt, sich an dem auszurichten, was für ein Leben in diesem Land als maßgeblich gesehen wird. Statt Hollywood einzuklammern oder zu umgehen, vollzieht sich eine Kritik Hollywoods zugleich als Selbstkritik, die beim Versuch, durch die von Hollywood geprägte Welt der Filme und Bilder hindurch auf Ressourcen und Potentiale einer unverkürzten Sicht auf sich selbst zu greifen, zu konstatieren hat, dass die Selbsterfindung ein wesentlicher Teil jenes amerikanischen Imaginariums ist. Eine Selbstkritik der amerikanischen Lebensform geschieht immer auch als Rückgriff auf ein Narrativ, in das der Neuanfang als treibende Kraft und Prämisse eingebaut ist, die nicht zuletzt Hollywood als industrielle Produktionsform aktualisiert. Bezeichnend dabei ist, dass es im Grenzfall unklar wird, ob und warum noch von einem Narrativ, das die progressive amerikanische Lebensform organisiert, gesprochen werden kann, insofern die klassischaristotelische Fassung einer Erzählung durch einen Anfang und ein abschließendes Ende qualifiziert ist. Man sieht, dass dies weniger trivial ist, als es zunächst scheint: Ein Ende, das stets ein vorletztes sein kann, droht sich in einer endlosen Suchbewegung aufzulösen, von der es außer ständigen Revisionen und Fortsetzungen wenig zu berichten gilt. Der Verdacht, sich auf dem sprichwörtlichen Holzweg oder einem Irrweg zu befinden rührt so auch da her, dass die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, unmittelbar umschlägt in den Schrecken, nirgendwo bzw. im Nirgendwo anzukommen, wovon man sich wiederum nur durch eine radikale Ziel- und Wegneuschöpfung befreien kann. Es bedarf nur einer kleinen, aber bedeutsamen Verschiebung, um den Stellenwert dessen, was das Haben von Projekten, also dem, was vor einem liegt, für die amerikanische Lebensform zu verstehen: Ist es kein Ziel mehr, zu dem man sich unterwegs befindet, sondern ein Ziel, das man sich selber gibt und aus dem man schöpft, ist die Lage nie so aussichtslos, dass man sich

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nicht einmal mehr in Bewegung setzen könnte. Doch auch hier ist der Schritt nicht weit vom Projekt zur Projektion: Wer sich zu einem Projekt hat, sich die Ziele schafft und neu erfindet, muss damit rechnen, dass all dies keinen Gegenhalt in der Wirklichkeit findet. Kippt die Wippe vom Projekt, in und mit dem man sich (erneut) zu verwirklichen sucht, auf die Seite der Projektion, so bedeutet dies die Aufkündigung des Realitätsbezugs und das Überhandnehmen einer fiktionalisierenden oder fiktionalistischen Einstellung zu sich selbst und der Welt, in der man sich aufhält. Darin verschlingen sich Anziehungskraft und Abgründigkeit eines way of life, dessen positives Credo der Selbsterfindung und des Neuanfanges sich stets in sein Negativ verkehren kann. Im Extremfall hat man es mit einer Tautologie zu tun, der die Kriterien mangeln, durch die Verbindlichkeit über den Tag hinaus geschaffen werden könnte: Was das eine Mal ein gelungener Neuanfang ist, weil er faktisch von Erfolg gekrönt war, entpuppt sich das andere Mal als planlose Flucht nach vorn und Realitätsverweigerung. Die binäre Codierung von Vorder- und Rückseite ist es jedoch, die es paradoxerweise erlaubt, das Neue unversehens als Grund dafür anzusehen, wieder mit der Geschichte und damit auch dem Erzählen einer Geschichte anzufangen. In diesem Sinne schließen sich die Serialität des Immerwieder mit dem Anheben einer erzählbaren Geschichte nicht aus, sondern gehen unter dem Titel des Projekts ohne Projektionen eine originäre Verbindung ein, der als Verdrehung die Projektion ohne Projekte auflauert. Vor dem Hintergrund der bisher angestellten Überlegungen ist die Serie HOUSE OF CARDS (USA 2013-2018, Netflix)3 von besonderem Interesse. Sie vereinigt im Grunde genommen alles, wovon einleitend die Rede gewesen ist: Sie exemplifiziert anhand des von Kevin Spacey gespielten Protagonisten Francis Underwood einen homo novus aus dem 3

Bei den Ausführungen muss außer Acht bleiben, wie sich HOUSE OF CARDS genauer auf die gleichnamige britische Vorlage von 1990 bezieht. Auch konnte die im Herbst 2018 ausgestrahlte sechste Staffel nicht in die Überlegungen einbezogen werden. Dies erscheint aber vertretbar, da sich das in diesem Zusammenhang gestellte Thema vor allem auf die fünfte Staffel bezieht. Siehe zu HOUSE OF CARDS allgemein die Beiträge in Hackett, J. Edgar (Hg.): House of Cards and Philosophy. Underwood’s Republic, Chichester: Wiley 2016.

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Süden der USA, wie er für die mit Ambitionen versehene männliche weiße Mittelschicht der USA als durchaus exemplarisch gelten kann, dessen Aufstiegsbestrebungen mit zunehmenden Erfolg und dem Erklimmen einer Sprosse nach der anderen auf der parteipolitischen Erfolgsleiter der Demokraten zu skrupellosem Machtwillen und Zynismus werden, die ihm zuletzt mit Hilfe dubioser Schachzüge die USPräsidentschaft einbringen – allerdings um den Preis einer in Kauf genommenen bzw. aktiv betriebenen Aushöhlung demokratischer Institutionen, die das von einer politischen Elite bestimmt scheinende Geschick des Landes an den Rand einer tiefgreifenden Krise bringt, deren Auslöser zwar Underwood ist, die aber auch die Anfälligkeit des ins Politische gewendeten Selbsterfindungscredos für einen katastrophalen Realitätsverlust demonstriert, der in der unbedingten Vorrangstellung individueller Ziele terminiert, von denen zuletzt unverständlich wird, warum sie überhaupt mit Rücksicht auf andere verfolgt werden sollten. Mag Hollywood als explizites Thema der Diegesis von HOUSE OF CARDS nicht vorhanden sein, so bildet es als kulturelle Repräsentationsmacht einen wichtigen Hintergrund der Serie und ist daher ständig implizit gegenwärtig. Was sich in Underwood und seinem Handlungsumfeld zeigt, ist nicht zu verstehen ohne den Rückbezug auf die politische Kultur der USA, die wiederum in einen breiteren kulturellen Kontext einbettet ist, durch den Hollywood als Vermittler und Rahmen auf die Serie indirekten Einfluss hat. Darüber hinaus besteht noch eine weitere offensichtliche Verbindung zwischen HOUSE OF CARDS und Hollywood, die sich nicht auf die Diegesis und die medial-ästhetische Gestaltung bezieht, sondern mit der natürlichen und juristischen Person Kevin Spacey zu tun hat. Nachdem im Herbst 2017 verschiedene Vorwürfe und Anklagen gegen Spacey wegen sexueller Belästigung gegenüber minderjährigen Männern und Schauspielern öffentlich vorgebracht worden waren, war dessen Karriere als Schauspieler innerhalb von kurzer Zeit beendet. Dies wurde besonders augenfällig in Ridley Scotts Entscheidung, Spacey aus dem Film ALL THE MONEY IN THE WORLD (USA 2017, R: Ridley Scott) herauszuschneiden und die entsprechenden Szenen mit Christopher Plummer nachzudrehen. Auch Netflix erklärte seine Zusammenarbeit mit Spacey

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mit sofortiger Wirkung für beendet. Spacey war und bleibt aus Hollywood verbannt, er ist zur allgemeinen persona non grata geworden4. Die Frage, die sich im Anschluss für eine Interpretation und Analyse der Serie stellt, lautet, wie man den Zusammenhang zwischen den Anschuldigungen gegen Spacey und seinem Status als persona non grata in der Öffentlichkeit und der Rolle, die er in HOUSE OF CARDS spielt, fasst. Zunächst ist »Underwood« klanglich so nahe an »Hollywood«, dass man hier eine Art dunkle Rückseite vermuten könnte. Weiterhin ist HOUSE OF CARDS nicht nur als Antizipation oder Reflexion des realen politischen Geschehens lesbar, sondern möglicherweise auch als ambivalente Aushandlung der Produktionsbedingungen Hollywoods. Die Tatsache, dass Spacey wegen Missbrauchsvorwürfen aus Hollywood gleichsam herausgeschnitten worden ist, steht, so darf vermutet werden, in direktem Zusammenhang mit dem Skandal um einen großen HollywoodProduzenten, nämlich Harvey Weinstein und den gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs. Wenn es, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in HOUSE OF CARDS um das Aufeinanderverweisen von fiktionalem Geschehen und Weltbezug geht, dann ist auch in dieser Hinsicht Hollywood für eine umfassende Verortung der Serie in die Pflicht zu nehmen – nicht zuletzt in Bezug auf die Frage, wie das Publikum einbezogen wird, das die Absetzung Spaceys ja mit vorangetrieben hat. Wenn also in den hier angestellten Überlegungen vom solus ipse Underwoods die Rede ist, so geschieht dies immer im Bewusstsein der Durchsichtigkeit der Figur Underwoods hin auf die Produktionsbedingungen Hollywoods, in deren Zentrum der mächtige alte weiße patricharale Produzent gestellt werden kann. Dabei geht es dann zumindest um drei analytisch unterscheidbare Fragen: Wie repräsentiert die fiktive Persona Underwood einen solchen Produzenten und das damit verbundene Hollywood-System unabhängig von der sie spielenden Person Kevin 4

Stellvertretend für zahlreiche damalige Artikel und Berichte über die Anschuldigungen gegen Spacey und seine Verbannung aus Hollywood ein Beitrag in der SZ: N.N.: »Regisseur schneidet Kevin Spacey aus neuem Film.«, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 09.03.2017, https://www.sueddeutsch e.de/kultur/uebergriffe-in-hollywood-regisseur-schneidet-kevin-spacey-ausneuem-film-1.3741885

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Spacey? Inwiefern repräsentiert Kevin Spacey dies als Einzelperson in der Rolle Francis Underwood? Und: Inwiefern repräsentiert Spacey pars pro toto dies in der Rolle von Underwood? Damit einher geht die Beobachtung einer die Serie vor allem in der fünften Staffel in starkem Ausmaße dominierende Porösität, d.h. einer Durchlässigkeit und Verunklarung zwischen den Ebenen der Fiktionalität und der durch die Serie in ihrem Universum als wirklich gesetzten Ereignissen. Obschon die Serie als Ganze freilich im Rahmen der Fiktionalitätsinstitution verläuft, verhandelt sie doch die Schwierigkeit einer genauen Grenzziehung zwischen einer expliziten, medial eingerahmten Fiktionalitätssetzung und einer schleichenden mediengetragenen Fiktionalisierung der Wirklichkeit, an der nicht vorbeizukommen ist, sofern man von Wirklichkeit ohne die Medien, durch die und worin sie gegeben ist, gar nicht sprechen kann. Genau darin besteht das Argument einer Befragung des Verhältnisses zwischen Spacey, Underwood und der Figur des HollywoodProduzenten, bedeutet es doch nichts anderes als eine Selbstanwendung des Verlaufs der Serie von einer Fiktion in Latenz zu einem offenen Übergreifen der Fiktion auf non-fiktionale Bereiche im Modus der Fiktion. Ein Übergeifen allerdings, das nicht ohne Methode ist. Und darin liegt der springende Punkt. Ausgehend von der Relevanz, die die Herstellung eines Bezugs zwischen HOUSE OF CARDS und Hollywood beispielsweise an Hand der vorgestellten drei Fragen unbestreitbar besitzt, verstehen sich die folgenden Überlegungen auch als eine Art Prolegomena zu dieser Problematik, indem sie mit Hilfe des Begriffs der theatralen Performanz die Selbstfiktionalisierung Underwoods und des Serienuniversums zu erklären suchen und von dort aus einen Bezug zur politischen Kultur der USA herstellen. Wenn also eine zentrale Pointe der Serie darin besteht, sich nach einem ihr entsprechenden non-fiktionalen Außen umzusehen, das ihr wegen eigener Fiktionalisierungseinschlüsse entgegenkommt, dann muss neben dem diegetisch naheliegenden Bezug auf den US-Präsidenten grundsätzlich auch Hollywood samt seiner machthabenden Vertreter angesprochen werden. Für eine Klärung der Repräsentationsverhältnisse zwischen Hollywood, HOUSE OF CARDS und dem kulturellen Imaginarium, erscheint es aber als Vorarbeit unerlässlich, einen genaueren Blick auf die medial-ästhetische Aufhebung der Realitätssetzung der Serie zu werfen.

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T HEATRALE P ERFORMANZ

ALS

F ORMGESETZ

Theatrale Performanz kann, so lautet der Vorschlag, der im Folgenden unterbreitet werden soll, als ästhetisches Formgesetz5 der Serie HOUSE OF CARDS betrachtet werden. Um dies hier skizzieren zu können, muss ich vieles, was zu HOUSE OF CARDS auch gehört, auslassen oder nur andeuten. Die zahlreichen Nebenhandlungen und Nebenfiguren, die vielen Anspielungen und Details, die oft in Formulierungen oder kurzen Einstellungen kenntlich werden, die Vielzahl der Themen, die zusammen weit über das politische Washington hinaus gehen und ein Bild der zeitgenössischen USA entwerfen, oder das komplexe narrative Ineinandergreifen der verschiedenen Handlungsstränge, Rezeption und Kritik, die die Serie nicht nur parallel begleitet haben, sondern auch selbst ein Teil dessen sind, was in HOUSE OF CARDS als Subtext ständig präsent und mitverhandelt wird – all dies und mehr gehört selbstverständlich auch dazu, wenn man sich mit HOUSE OF CARDS beschäftigt. Ich werde mich im Folgenden jedoch hauptsächlich auf die beiden Hauptakteure der Serie, Francis und Claire Underwood, konzentrieren im Bewusstsein, dass dabei vieles unbeachtet bleibt und nur eine Perspektive unter vielen auf das komplexe und vielschichtige Gefüge des Serienuniversums eingenommen werden kann. Untersucht man HOUSE OF CARDS im Hinblick auf theatrale Performanz6, so erschließt sich dies besonders gut im Rückblick von der fünften Staffel aus. Dort nehmen die längeren theatralen Sequenzen deutlich zu, alles wird zur Bühne in zweifacher Hinsicht: Einerseits wird die politische und soziale Welt, in der Francis Underwood sich bewegt, immer mehr im Sinne einer Bühne inszeniert und von ihm auch so wahrgenommen, andererseits ist es eine Bühne, auf der er auch auftritt. Er ist nicht einfach ein Zuschauer einer bühnenhaft gewordenen Welt, sondern gibt sich in einem viel umfassenderen Weise als das in den bisherigen vier Staffeln der Serie deutlich geworden ist, als Arrangeur und Inszena-

5

Zum Begriff des ästhetischen Formgesetzes vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

6

Zum Begriff der Theatralität und Performativität einführend etwa FischerLichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012.

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tor desjenigen Geschehens zu erkennen, das auch für das Publikum der Serie zu sehen ist. Die theatrale Performanz ist als solche bereits medial verfasst: Das, was die Zuschauer und Zuschauerinnen von Francis Underwood zu sehen bekommen, ist stets als eine Version markiert, die von Underwood freigegeben und zensiert ist. Man hat es also mit einer Geste umfassender Kontrolle der medialen Erscheinung Underwoods zu tun, die gleichzeitig nirgendwo unabhängig ihrer medialen Vermittlung sonst statthat. Dies ist sowohl die Bedingung der Kontrolle des Bilds, welches Underwood dem Publikum präsentiert, als auch seine Einschränkung. Nur in dem Zusammenhang eines vermeintlich lückenlosen und auf die mediale Präsentationsform abgestimmten impression managements7 lässt sich etwas über Underwood sagen. Man muss bei dem Bild, das die Zuschauer sich von ihm bilden, stets mitbedenken, dass dieses bereits auf jenem Bild Underwoods aufruht, welches bewusst zur Schau stellt. Die Reflexivität einer Person, deren Öffentlichkeit sich zu einem großen Teil ihrer medialen Präsenz verdankt, ist in die formale Struktur der Anrede des Publikums und des Blicks in die Kamera von Anfang an in die Serie eingebaut und auf die Person Francis Underwoods konzentriert. Es ist daher durchaus konsequent, wenn Underwoods Blick auf die Geschehnisse in der Welt, in der er zu handeln hat, im Laufe der Serie immer mehr zu einem Blick wird, der die Welt in sich absorbiert, eine Welt, die sich seinem Handeln fügt, bis schließlich die fünfte Staffel eine Welt zeigt, die auf das Extrem tendiert, nicht mehr von Underwoods Absichten, Plänen, strategischen Schachzügen und intentionalen Vorgriffen unterscheidbar zu sein. Genau an jenem Punkt einer solchen Ununterscheidbarkeit tritt die Theatralität offen als konstitutives ästhetisches Moment der Serie hervor, insofern sie in ihrer Struktur nun durchspielt, wie es wäre, wenn sich die von ihr gezeigte Welt radikal und ohne nennenswerte Widerstände den Machenschaften ihres Protagonisten fügen würde – und gleichzeitig diesen in den Konjunktiv gesetzten Zustand 7

Der Begriff des ›impression managements‹ dient zur Bezeichnung, Lenkung und Beeinflussung, wie man von anderen in sozialen Kontexten gesehen wird und gesehen werden möchte. Er geht in der hier verwendeten expliziten theatralen Konnotation einschlägig auf Ervin Goffmans berühmtes Buch Wir alle spielen Theater zurück. Vgl. Goffman, Ervin: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2009.

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einer von Underwood dominierten Welt, die einen bloß politischen Machterhalt längst hinter sich gelassen und despotische Züge angenommen hat, vorführt. Beides wird miteinander verschränkt: Präsentation einer Möglichkeit unter fiktionalem Vorbehalt und Präsentation einer Fiktion mit Ausblick auf eine Realität, die fiktionale Züge an sich hat. Es geht allerdings weniger um ein in der politischen Wirklichkeit identifizierbares Vorbild für Underwood als um die Darstellung eines Entgleisungsprozesses politischer Macht, den die Serie echtzeitlich in seiner Zuspitzung verfolgt und daher konsequenterweise den Weg einer offenen Fiktionalisierung wählt, weil eine auf Ähnlichkeit basierende Anlehnung an eine realpolitische Entsprechung die Beziehung zwischen Ungreifbarkeit von Macht und Fiktion8, wie später gezeigt werden soll, nicht thematisieren kann. Darin liegt die Pointe der Rede einer theatralen Performanz als Interpretationsthese vor allem der fünften Staffel von HOUSE OF CARDS: Es geht nicht nur darum, einen skrupellosen, zynischen Machtpolitiker innerhalb des zunehmend ausgehöhlten und sich als aushöhlbar erweisenden demokratischen Systems der USA zu porträtieren, sondern auch sein Vorgehen auf die formale Anlage der Serie zu übertragen. Das Bühnenhafte meint die Ausstellung des Gedankenspiels, wie es wäre, wenn eine Welt Underwoods Plänen keinen Widerstand mehr entgegensetzen würde, die Performanz liegt in dem Umstand, dass die Serie formal und inhaltlich eine solche offensichtlich fiktiv-experimentelle Übersteigerung zeigt, in der das Handeln Underwoods in einer Welt, die von ihm noch unterschieden ist, und deren Fiktionalisierung zu einer Welt für Underwood, die nichts anderes als die Projektionsfläche seines Machtwillens abgibt, bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschwimmen. Theatrale Performanz als ästhetisches Formgesetz reflektiert die machiavellistische Anlage des Protagonisten Underwoods, steigert sie bis zu einem Extrem, bei dem das, was die Serie zeigt, mit der Anmutung verbunden ist, nichts mehr außerhalb der Einflusssphäre Underwoods zu zeigen bzw. zeigen zu können, in der also ein Außerhalb Underwoods unmöglich geworden scheint. Dass dies nur so scheint und den Charakter 8

Diesem Zusammenhang geht instruktiv und umfassend nach: Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007.

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einer Anmutung hat, ist dabei kalkuliert. Denn die Fiktionalisierung gibt nicht vor, dass sich der Weltentwurf von HOUSE OF CARDS nun vollständig in eine Underwood-Welt aufgelöst hat, sondern treibt die Entwicklung der Figur Underwood bis zu dem Punkt voran, wo es so sein könnte und sich die Serie auf sich zurückbeugt und die Frage thematisiert, wie eine Welt auszusehen hätte, die restlos von Underwood beherrscht würde, d.h. die fünfte Staffel führt genau jene Genese, die die ersten vier Staffeln beschreiben, zu einem Ende. Ein solches Ende lässt sich jedoch – um hier absichtsvoll ein Paradox zu riskieren – realistisch nur dann zeigen, wenn es offen seine Fiktionalisierung betreibt und damit einerseits an Plausibilität gegenüber den realpolitischen Verhältnissen verliert, andererseits aber auf einer tieferen Ebene erlaubt, die Frage nach der Zugänglichkeit der politischen Realität selbst – und nicht nur die der USA – zu stellen. Dass dies gleichzeitig auch eine Typisierung des Charakters bedeutet, also es in Folge auch darum geht, wie die Welt beschaffen wäre, in der einer wie Underwood so umfassend regiert, dass kein Außerhalb mehr zu denken ist, belegt die politische Brisanz der Serie, die gerade in ihren kontrafaktischen Vorgriffen und Zuspitzungen liegt, also dort, wo sie die Ebene einer mehr oder wenigen direkten Kommentierung der realpolitischen Geschehnisse verlässt und sich als Teil eines offenen Aushandlungsprozesses begreift: Wie wäre es, wenn es eine Underwood-Welt gäbe? Warum ist dies für eine demokratische Lebensform so desaströs wie ihr als Möglichkeit inhärent? Wie kann es geschehen, dass ein demokratisches System sich an den Rand einer Despotie bringt, die entweder niemand hat kommen sehen oder nicht hat verhindern können? Wie sähe eine Welt reiner Instrumentalität aus, in der es keinen Zweck gäbe, der sich nicht doch wieder nur als ein Mittel zu einem weiteren Mittel erweisen würde? Zu welchem Ende kommt ein politisches System, dessen Akteure nur noch strategisch handeln? Ist eine am strategischen Kalkül und allein an instrumenteller Vernunft orientierte Welt wünschenswert und vorstellbar? Kann man in einer politischen Welt leben, in der jedes Vertrauen ineinander erodiert ist und im Verdacht steht, als Mittel der Manipulation missbraucht zu werden? Dies ist nicht ohne weiters eine rhetorische Frage, weil bei einem gegenteiligen Weltentwurf ebenso unklar wäre, wie eine solche Welt, in der all dies nicht der Fall

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wäre, genauer auszusehen hätte – ohne sich dabei in eine auf ebenso fragwürdige Weise realitätsentlastete Utopie zu verklären. Eine Welt zu zeigen, die von reiner Instrumentalität beherrscht ist, heißt nun aber mitnichten, diese auch als wünschenswert hinzustellen. Es heißt im Gegenteil, ihre normative Unmoralität auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die nicht einfach von sich aus moralisch verfasst ist. Durch eine Totalisierung und Intensivierung9 eines lückenlosen instrumentellen, strategischen und machtpolitischen Zusammenhangs, der sich in Underwood zusammenzieht, gelingt es HOUSE OF CARDS, die Fragwürdigkeit strategischen Handelns inmitten demokratischer Rahmenbedingungen vorzuführen und sie nicht einfach aus solchen herauszusetzen. HOUSE OF CARDS wechselt in der fünften Staffel verstärkt in den exemplarischen Modus, um diese Frage anhand einer versuchten Machtergreifung Underwoods durchzuspielen, die eben auch auf die Bedingungen seiner medialen und seriellen Existenz überzugreifen sucht. Der Blick in die Kamera, der die Zuschauer einweiht und mitwissen lässt, was er als nächstes zu tun gedenkt, wird von einem Beiseitesprechen zu den Mitwissenden zu einer Frontalität der Entgegensetzung zwischen der Welt-Macht Underwood und seinem Publikum, das dem Geschehen ohnmächtig zu folgen hat.

B EISPIELSZENEN

THEATRALER

P ERFORMANZ

Eine versuchte Machtergreifung in dem eben beschriebenen Sinn zeigt sich schon zu Beginn der ersten Folge der fünften Staffel, in der Underwood gleichsam wie von der Tarantel gestochen eine »Declaration of

9

Alexander Garcia-Düttmann argumentiert in Love Machine dahingehend, dass Totalisierung und Intensivierung den Schein eines lückenlosen Immanenzzusammenhangs von innen her aufzubrechen imstande sind, ohne dabei behaupten zu müssen, sich frei von Verstrickung auf einem archimedischen Blickpunkt außerhalb eines solchen Zusammenhangs zu finden. Er verbindet dies mit der Frage nach dem Widerstandspotenzial der Kunst in der Gesellschaft (vgl. Garcia-Düttmann, Alexander: Love Machine. Der Ursprung des Kunstwerks, Konstanz: Konstanz University Press 2018, S. 112ff.)

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War« im Kongress fordert, zu dem er sich juristisch gesehen nur durch einen Trick Zugang verschaffen kann (s. Abb. 1). Abbildung 1: HOUSE OF CARDS

Die geforderte Kriegserklärung gilt einer Gruppe inländisch agierender IS-Terroristen, die am Ende der vierten Staffel eine US-amerikanische Geisel vor laufender Kamera ermordet haben. Präsident Underwood nutzt diese Situation, um durch eine formelle Kriegserklärung seine Exekutivmacht zu stärken und so eine drohende Abwahl zu verschleppen. Sein Auftritt im Kongress verwandelt sich kurz nach Beginn seiner Ansprache in eine tumultartige Szene, er beginnt nach anfänglich noch geordneter Rede regelrecht nach einer Kriegserklärung gegen den IS zu schreien. Für einen kurzen Moment hat es den Anschein, als stehe ein Putsch kurz bevor, als habe Underwood die Kontrolle über sich und die Szene verloren. Der aus den Staffeln zuvor bekannte Blick beiseite, bei dem er gefasst und abgeklärt deutlich macht, dass er keineswegs die Kontrolle verloren hat, zeigt, wie weit die Schere inzwischen auseinandergegangen ist: Underwood ist bereit, einen Tumult im Kongress anzuzetteln, um seine Ziele durchzusetzen. Auffällig ist, dass es dabei nicht mehr wie vorher um das Erreichen eines Etappenziels geht, das dem übergeordneten Ziel seiner Präsidentschaft zuarbeitet. Es geht um

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Machterhalt um jeden Preis, für den er im Extremfall auch bereit ist, das parlamentarische Gegengewicht zu umgehen. Dass der Machterhalt als solches kein normatives Ziel im Sinne einer politischen Programmatik und eines Regierungskurses ist, wird in dieser Szene besonders augenfällig, weil sein despotisches, kalkuliertes Entgleisen vor dem Kongress die Zentrierung des gesamten Geschehens auf seine Person und seinen Willen veranschaulicht. Die Entgleisung ist nicht nur eine seiner Person, sondern eine, auf die das politische Washington zusteuert, wenn sie der Feind- und Kriegstreiber-Rhetorik Underwoods keinen Einhalt gebietet. Underwood wiederum macht keinen Hehl mehr daraus, dass er seine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Kongress aufzukündigen gedenkt. So agiert ein Demagoge und Despot, wenn es weder darum geht, einen argumentativen Diskurs zu führen noch einen Kompromiss herbeizuführen. Es gibt hier nicht einmal mehr persuasive Rhetorik, die Underwood ja sonst meisterhaft beherrscht und zur Erreichung seiner Ziele gekonnt und oft erfolgreich einsetzt. Eine weitere Sequenz der Entgleisung ist eine von Underwood betriebene Vollversammlung aller Gouverneure der USA, bei der er im Laufe einer Rede unversehens anfängt im Raum umherzugehen wie während eines Bühnenmonologs. Die wilde Entschlossenheit, sich gegen jeden Gegner durchzusetzen und um jeden Preis an der Macht zu halten, blitzt hier im plötzlichen Wechsel vom staatsmännischen Gestus in die demonstrative Verachtung eines Underwood um, der nicht mehr weit entfernt vom Despoten ist bzw. durch die in die narrative Szene direkt eingreifende Präsentation seines Machtpositivismus. Underwood ersetzt bei seiner Rede die Berufung auf Paragraphen durch ein buchstäbliches ›Blabla‹. Deutlicher kann sein Entschluss, sich von einer rechtsstaatlichen Rahmung seiner Präsidentschaft notfalls lossagen zu wollen, kaum ausfallen. Erneut wird die argumentative und diskursive Rede, die durch eine demokratische Willensbildung zustande kommt, offensiv torpediert und unversehens zum monologischen Echoraum Underwoods, der genau genommen als monolallisch zu bezeichnen wäre. In Underwoods ›Blabla‹ kreuzen sich wiederholt eine tatsächliche mit einer kalkulierten Eskalation. Für das Publikum wird es zunehmend schwerer, eindeutig zwischen dem Underwood zu unterscheiden, der weiterhin kühl und kontrolliert strategisch verfährt und demjenigen, der

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keinen Bezug mehr zu einem nicht durch ihn vermittelten und manipulierten Außen hat. Die Schwierigkeit besteht, wie gezeigt, in dem Übergriff der Sicht Underwoods auf die Gesamtinszenierung der seriellen Welt, die dem Publikum ständig alle Möglichkeiten, sich selbst außerhalb von Underwoods Perspektive zu platzieren, entzieht. Dass dieser Sog gerade nicht so verstanden werden muss, als würde den Zuschauern eine Zustimmung zu den Machenschaften Underwoods angesonnen, erscheint umso naheliegender, weil, wie anzunehmen ist, jeder auf dem moralisch-ethisch relevanten Unterschied zwischen Mitwisserschaft und Komplizenschaft bestehen wird – dieses Bestehen in sich ist ja bereits eine moralisch-ethisch motivierte Stellungnahme dagegen. Durch die theatrale Performanz wird man im Sinne des Mitwissens zwar in Mitleidenschaft gezogen, aber gerade deswegen bleibt die Konfrontation damit, ob man die Underwoodisierung der Sphäre demokratischer Öffentlichkeit, die einem vorgeführt wird, auch gutzuheißen bereit ist. Man kann so durchaus von einer indirekten ethischen Imprägnierung der Serie sprechen. Indem sie einen politischen Radikalisierungsprozess in Richtung auf einen Zerfall der Demokratie von innen heraus als eine Möglichkeit anhand von Underwoods Agenda kleinteilig und beispielhaft in aller Aufdringlichkeit und Unverkennbarkeit vorführt, wird das Publikum, sofern es sich fragt, was es von dem, was es zu sehen bekommt, denn halten soll, in seiner Urteilskraft adressiert. Eine ähnliche Zuspitzung weist jener Monolog Underwoods auf, mit dem er sein demagogische und machtgetriebenes Agieren mit einer Begründung versieht und bei dem er das Publikum als Wahlberechtigte adressiert und ihm offen unterstellt, es würde an seinem von langer Hand geplanten und entsprechend inszenierten Rücktritt als Präsident, der einem Abgang mit Paukenschlag gleicht und so an Entertainment nichts zu wünschen übrig ließe, nur Gefallen finden. In Folge 12 der fünften Staffel bringt Underwood sein Selbstverständnis als Präsident und damit seine Geringschätzung gegenüber der Demokratie als politischer Lebensform unmissverständlich zum Ausdruck: »Oh, don’t deny it, you loved it. You don’t actually need me to stand for anything. You just need me to stand. To be the strong man, the man of action. (…) It doesn’t matter, what I say, it doesn't matter, what I do. (…) as long as I win (…)

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With all the foolishness and indecesion in your lifes why not a man like me? Welcome to the death of the Age of Reason. There is no right or wrong. Not anymore. There is only being in and then being out.«

Ins Auge fallen drei Gleichsetzungen, die Underwood in diesem pointierten Monolog vornimmt. Sie sind eng miteinander verbunden und ergeben so die Schieflage, durch die die demokratischen Verhältnisse ins Rutschen geraten: Erstens werden die Zuschauer auf ihr passives Mitansehen eines Spektakels reduziert, das sich keiner normativen Kritik mehr auszusetzen hat. Indem Underwood zweitens den Unterschied Zuschauer und Wahlberechtigten bis zur Unkenntlichkeit verwischt, geschieht eine Übertragung des hingenommenen Spektakels auf den Bereich der Politik, wo die politische Mündigkeit und Willensbildung der Bürger sowie die diskursiven und institutionellen Verfahren der Legitimitätssicherung zugunsten der Show des starken Mannes offen durchgestrichen werden. Drittens bringt Underwood absichtsvoll die Differenz zwischen Mitwisserschaft und Mittäterschaft auf Seiten der zuschauenden Wähler durcheinander, da er wenn schon keinen Willen zum so doch eine perverse Lust am passiven Geschehenlassen einer katastrophalen Entwicklung auf ihrer Seite suggeriert. Auch in dieser prägnanten Szene fallen das Tun, Sagen und Darstellen Underwoods in einer theatralischen Performanz zusammen, bei der es für die realen Zuschauer nahezu unmöglich wird, den Unterschied zwischen einer kalkulierten und tatsächlichen Entgrenzung innerhalb der knapp zwei Minuten dauernden Einstellung festzumachen – weil diese auf nichts anderes als eine Entgrenzung hin angelegt ist. Der Unterschied muss aktiv von Seiten der Zuschauer gesetzt werden. Auf die Gleichsetzungen, die Underwood vornimmt und die er repräsentiert, so wird deutlich, reagiert man nur dann angemessen, wenn man sie vernehmlich verneint. Der Passivisierung der Wähler als Publikum und seinem Lustobjekt, dem Aktivismus des vermeintlich starken Mannes, ist eine Widerständigkeit entgegenzusetzen, die bereits im Zusehen aufkeimt und sich gegen eine subkutane, persuasive Vereinnahmung durch Underwood als Repräsentanten einer völligen Entleerung des politischen Diskurses sperrt.

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Das in HOUSE OF CARDS vorherrschende und, wie oft bemerkt worden ist, an Shakespeares Schurken10 gemahnende Schmieden von Intrigen und Ausspielen von Gegnern wird in der fünften Staffel zunehmend von einer direkten und brachialen Verhandlungsführung abgelöst. In vielen Diskussionen ist es so, dass Underwood gar nicht erst versucht, kompromissbereit und persuasiv etwas zu erreichen, sondern abrupt sagt, was er will und sich von seinem Gegenüber erwartet. Sprache als Mittel der Verständigung verkommt, wie erwähnt, buchstäblich zum ›Blabla‹. Dies hat Underwood vorher immer weitestgehend vermieden, und zwar so lange, wie Etikette oder Höflichkeit als Fassade beizubehalten im Regelfall noch den meisten Erfolg zu versprechen schien. Die Zuschauer dringen jetzt mit der fallen gelassenen Fassade gleichsam ins Innere Underwoods vor, in das später Claire für einige Zeit Eingang finden wird, sie blicken seinem, wie er ihn im Verlauf der ganzen Serie immer wieder zitiert, »ruthless pragmatism«, seinem solitären Machtwillen, seiner Ideologielosigkeit unvermittelt ins Auge.

D IE STABILE I NNEN -A USSEN -D IFFERENZ DER ERSTEN VIER S TAFFELN Die offen ausgestellte Künstlichkeit und Inszeniertheit dieser Szenen bringt das ästhetische Formgesetz der Serie nicht nur innerdigetisch zum Ausdruck, sondern erklärt zuletzt auch die Diegesis zum prätendierten Entwurf Underwoods. Die angesprochenen Szenen vertiefen den aus den bisherigen Staffeln bekannten Blick in die Kamera, weil sie in der Welt

10 Vgl. beispielsweise den Artikel in der FAZ vom 22.04.2016, der die Verwandtschaft mit Richard III. herausstellt: Döring, Tobias: »Das Wintermärchen

kommt

in

die

Babyklappe«,

in:

FAZ

vom

22.04.2016,

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/shakespeare-im-21-jahrhundert -aus-dem-werk-des-dichters-werden-acht-neue-romane-14164247/richard-iiireloaded-frank-14165569.html. Siehe darüber hinaus die erhellenden Ausführungen zur Figur des politischen Tyrannen bei Greenblatt, Stephen: Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert, München: Siedler 2018.

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der Serie das Bühnenhafte, das ja von Anfang an in den Zuwendungen des Akteurs zum Publikum, das in alles eingeweiht wird, enthalten war, immer weiteren Einzug hält. Diese Szenen heben sich zunächst auch deutlich von dem innerfilmisch etablierten und immer wieder stabilisierten Realitätsabgleich ab. Zumindest hat man als Zuschauer der ersten vier Staffeln eine hinreichend belastbare Erwartung hinsichtlich der Differenz zwischen dem, was Underwood sein Publikum wissen lässt und ankündigt zu tun auf der einen Seite, und dem, was er dann tut, womit er es zu tun bekommt, wer ihm entgegenarbeitet etc. auf der anderen Seite. Realitätsabgleich meint die Möglichkeit der Zuschauer, beim Sehen der Serie klar zwischen Underwoods Perspektive auf die Welt und die Welt, in der diese Perspektive unter anderen vorkommt, zu unterscheiden, wobei dies nicht ausschließt, dass der Perspektive Underwoods eine zentrale Stellung zukommt. Schließlich sieht man die Welt immer wieder auch aus der Perspektive Underwoods und kann daher wissen, wes Geistes Kind er ist. Doch die serielle Diegesis11 verortet seinen Blick immer noch innerhalb der erzählten Welt, weil es sein Blick auf die Welt bleibt. Blick und Welt stehen zwar in einem Verhältnis der Wechselwirkung zueinander, bleiben aber für die Zuschauer analytisch unterscheidbar, weil die Diegesis eine Unterschiedenheit anbietet, die trotz Underwoods eingreifendem Blick stabil bleibt. Allerdings wird dieser Unterschied kalkuliert zum Verschwinden gebracht oder für den Zuschauer zunehmend unkenntlich gemacht. Die eindeutige und klare Unterscheidbarkeit wird durch die prätendierte Ineinssetzung von Welt und Blick verunmöglicht. Das passt zu der geradezu solipsistischen Selbstbezüglichkeit Underwoods, nach der für ihn die Welt und die Menschen in ihr nur als Manövriermasse, als Spielsteine und -züge in Betracht kommen. Der Limeswert hierfür würde etwa, wenn man es in einem Satz formulieren wollte, lauten: »Was die Welt für Underwood ist, ist sie nur durch ihn.« Underwood handelt nicht mehr nur so, als wäre die Welt Washingtons eine Bühne bzw. seine Bühne, sondern sie wird es tatsächlich auch immer mehr. Und indem sie es wird, 11 Zum Komplex des Erzählens im Film im Zeichen der Unzuverlässigkeit siehe Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit, Audiovisualität, Musik, Bielefeld: transcript 2009.

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wird sie für den Zuschauer in ihrem fiktionalen Als-Ob kenntlich. Man weiß nicht mehr, ob die Welt, die man in der Serie zu sehen bekommt, tatsächlich eine Welt ist, die durch Underwood im (Würge-)Griff gehalten wird, oder ob es sich beim Gesehenen um den Realitätsverlust eines paranoiden Machtpolitikers handelt, für den es kein Außen mehr gibt. Die fünfte Staffel lässt einen im Unklaren darüber, wie man das Gesehene einzuschätzen hat. Dies ist wiederum ein Resultat des Übergriffigwerdens der entfesselten Person Underwoods. Das unentscheidbare Oszillieren zwischen Blick auf die Welt und Welt als Blick braucht einerseits den manifesten Verdacht, dass es eine Underwood-Welt sein könnte, und das Umkippen eines solchen Verdachts ins Bewusstsein seiner Unmöglichkeit angesichts dessen, was die Serie als zunehmende Fiktionalisierung vorführt. Das Manifestwerden des Verdachts, so sei hier behauptet, liegt nicht darin, dass man plötzlich das wahre Gesicht des Zynikers Underwood zu sehen bekommen hätte, sondern darin, dass die in der Serie gezeigte Welt, in der man sich in der fünften Staffel vorfindet, zu einer Welt Underwoods geworden sein könnte, und zwar vor aller, d.h. des Publikums Augen. Die Ambivalenz, die in der Mitwisserschaft des Publikums zum Ausdruck kommt, zeigt sich auch in einer unauflösbaren Unschlüssigkeit darüber, ob man die um sich greifende Underwoodisierung der Diegesis als etwas verstehen soll, das man unbeteiligt, weil durch den fiktionalen Als-ob-Vorbehalt geschützt, geschehen lassen kann oder mit einigem Schrecken ohnmächtig mit ansehen muss. Es gibt freilich verstreut Szenen und Sequenzen in den Staffeln davor, die bereits so gebaut sind, dass sie die reflexiv-theatrale Performanz kenntlich machen. Doch, so scheint es, wird dies erst in der fünften Staffel so weit getrieben, dass die szenisch-theatralen Momente gegenüber einer kohärenten Handlungsfortführung mehr Gewicht erhalten. So schlägt Underwood in der vierten Folge der dritten Staffel, nun bereits sitting president, einem Richter des obersten Gerichtshofs, von dessen Alzheimer-Diagnose er erfahren hat, vor, mit der öffentlichen Bekanntgabe seiner Krankheit und seinem Rücktritt bis nach der Wahl zu warten. Interessant ist daran in dem hier thematisierten Zusammenhang weniger oder nicht nur, dass er später die Alzheimer-Diagnose als Druckmittel gegen den Richter einsetzt, um mit einem frühen Rücktritt Heather Dunbar, seine Konkurrentin um das Präsidentenamt, mit einem Richterposten

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abzuspeisen und sie als Gegenkandidatin zu eliminieren, sondern dass der Richter für einige Sekunden Underwoods Selbstgespräch, an dem ja sonst nur das Publikum12 partizipiert, mitzuhören scheint. Das Beiseite wird porös, diffundiert für einen Augenblick in die Welt, ins Außerhalb des Bewusstseins Underwoods. Doch nur für einen Augenblick, da der Realitätsabgleich, der im Unterschied zwischen den in die Kamera geäußerten Absichten und deren Umsetzung besteht, sofort wieder greift.

C LAIRE UND F RANCIS U NDERWOOD : Z WEI S OLIPSISTEN UNTER SICH In den letzten Minuten der letzten Folge der vierten Staffel ändert sich dies grundlegend, da Francis’ Ehefrau Claire nun in die UnderwoodImmanenz regelrecht hineingenommen wird. Es gibt nur eine Person, die Francis Underwood zu nahe kommen kann, weil sie ihm auf Grund einer langjährigen Ehe faktisch nahe ist: Claire. Beide geben ein ›power couple‹ ab, wie es im Buche steht. Das funktioniert, so wird in den ersten vier Staffeln deutlich, insofern beider Interessen nicht in Konflikt geraten und beide in der Wahrnehmung ihrer Agenda auch voneinander profitieren können oder sich zumindest neutral zueinander verhalten. Hier, so ließe sich mit gewisser Süffisanz sagen, haben zwei rationale Egoisten gerne miteinander zu tun und zwar genau solange beide voneinander bekommen, was sie wollen. Es gibt dabei durchaus Momente, wo das Paar an eine verschworene Gemeinschaft zu zweit erinnert, die nichts in der Welt aufhalten kann bzw. die nicht vorhat, sich durch etwas in der Welt aufhalten zu lassen. Nur hat dies nichts, wie immer wieder deutlich wird, von einer Nähe, die etwa auf Vertrautheit und Intimität beruht: Am Ende der vierten Staffel betritt Claire die monologische Bühne Underwoods, nachdem die Entführung eines US-Bürgers durch IS-Terroristen blutig geendet hatte. Bezeichnend dabei ist, dass alles andere als ein 12 An ausgewählten Stellen ist dies auch, wie zu ergänzen bliebe, Gott, der aber innerdiegetisch gebannt bleibt, da Underwood in seinen Monologen selbst ganz bewusst zwischen Gott und den Zuschauern unterscheidet, die er explizit an seinen Überlegungen zumindest passiv teilhaben lässt.

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Dialog zwischen Claire und Francis Underwood entsteht. Vielmehr, so legt es auch schon die Einstellung nahe, sind beide einander zum Verwechseln ähnlich, und alle Unterschiede sind nur äußerlich. Einmal in die Underwood-Immanenz eingetreten, besteht die einzige Gemeinsamkeit darin, dass jeder oder jede kompromisslos für sich steht. Beide blicken gleich ausgerichtet in die Kamera, sie sind sich näher gekommen, allerdings nicht im Sinne größerer Intimität und auch nicht größeren Vertrauens ineinander. Sie gleichen sich unabhängig voneinander in ihrer Skrupellosigkeit und Selbstbezogenheit. Größer und entzweiender könnte eine Gemeinsamkeit nicht sein, sie sind, wenn man so will, negativ aufeinander bezogen, zwei Solipsisten unter sich. Abbildung 2: HOUSE OF CARDS

Der Machtkampf zwischen Claire und Francis verschärft sich im Verlauf der fünften Staffel immer weiter. Es ist daher nur konsequent, wie sie endet: Claire spricht nun wie Frank in einer frontal zum Publikum gewendeten Einstellung im Oval Office, die Unmissverständlichkeit und brutale Direktheit bedeutet, direkt in die Kamera mit den Worten: »My turn!« Sie ist, so mag es scheinen, wie Francis geworden, und wie Francis kann auch sie schlussendlich niemanden auf gleicher Augenhöhe neben sich dulden. Von hier aus lässt sich auch überlegen, welche Mög-

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lichkeiten es für Claire überhaupt gegeben hätte, anders als durch Angleichung an ihren Mann Erfolg zu haben. Darin liegt der Limeswert einer Underwoodisierung: Es gibt nichts mehr außer Underwood, weil Underwood alle ist bzw. alle sind wie Underwood. Das zeigt sich etwa zu Beginn der letzten Folge der fünften Staffel: Das Offenbarungsgespräch zwischen Francis und Claire, bei dem er ihr ins Gesicht sagt: »I designed this« und damit nicht nur ihr, sondern auch dem Zuschauer enthüllt, dass das, was Plot der vergangenen Folgen war, d.h. seine Selbstmarginalisierung bis zur Abdankung als Präsident, vollständig nach seiner Regie gelaufen sei. Hier kommt es zu einer Interferenz zwischen manifester, gezeigter Handlung und Planungsrationalität bzw. intentionalem Entwurf, weil sich kaum mehr sagen lässt, was von dem, was man gesehen hat, das Produkt Underwoods ist und was nicht. Die Verunsicherung des Publikums über den Status des Gesehenen wird erreicht, indem Underwood für einen Moment zum innerdiegetisch verorteten Erzähler der Totalität der Geschichte wird, die logisch gesehen nicht als Teil innerhalb der Diegesis vorkommen kann, aber dennoch als von einer Figur innerhalb ihrer als geplant und durchgeführt behauptet wird. Theatrale Performanz meint auch hier wieder, dass es so sein könnte, als sei alles eine Inszenierung Underwoods. Und doch bleibt den Zuschauern nichts anderes übrig, als justament den Worten Underwoods zu vertrauen, der behauptet, alles sei sein Plan und nach Plan verlaufen. Nun hat Francis nicht nur in die Kamera blickend gesagt, was er vor hat, sondern auch seiner Frau Claire, die spätestens zu diesem Zeitpunkt entdecken muss, ebenso hintergangen und instrumentalisiert worden zu sein. Hinter allem zu stecken und auch noch hinter seinem eigenen Abgang – das ist zumindest der Anspruch, mit dem Underwood in seinen letzten Minuten der Serie auftritt. Die Hauptgeschehnisse der letzten Folgen seit seinem Sturz auf den Elysian Fields in der Mitte der fünften Staffel waren, so wäre die Pointe, von ihm orchestriert, gelenkt, inszeniert. Gleichwohl bleibt diese Macht davon bedroht, sich binnen Sekunden, wie sich am Ende der Staffel zeigt, in Nichts aufzulösen: Die Begnadigung, die die neue Interimspräsidentin Claire Underwood ihm zugesichert hat, bleibt aus. Dass dies überhaupt geschehen kann, verweist einmal mehr auf das Gegengewicht zur scheinbar alternativlosen Underwood-Immanenz und ihrer verhängnisvollen Geschlossenheit, aus der es

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kein Ausbrechen zu geben scheint: Die in einer Person manifest werdende Machtfülle ist um ein Nichts vom Realitätsverlust des Protagonisten bedroht, ja es steht zwischen beiden im Grunde nichts. Solange die Macht dauert, scheint es, als könnte es gar nicht anders sein als wie es gekommen ist, bis nach dem Verschwinden unverständlich wird, wie es überhaupt hat soweit kommen können, dass jemand wie Underwood zum US-Präsidenten aufgestiegen ist. Die theatrale Performanz ist das ästhetische Mittel der Darstellung der Entgleisung der politischen Macht. Dass dieses Mittel nicht moralisch oder ethisch indifferent ist, liegt an der provozierten Nicht-Indifferenz der Zuschauer gegenüber einem Geschehen, dem es an jeder normativen Grundlage fehlt.

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Der Wegfall der vierten Wand, der in den ersten vier Staffeln kunstvoll und vielfältig eingesetzt wird, erfährt also eine Steigerung. Während es vorher einen Unterschied zwischen den mentalen Beschlüssen Underwoods und deren Umsetzungen gab, entsteht nun immer stärker der Eindruck, dass alles, was wir in HOUSE OF CARDS sehen, auch das Ergebnis der Machenschaften Underwoods sein könnte. Es liegt eine strukturelle Verunsicherung über den Status dessen, was wir sehen und mit welchen Maßstäben wir es bewerten sollen, vor. Sie macht den Kern der prekären Inszenierung der Serie aus und in diese Richtung wird auch das Wechselspiel zwischen Underwood und dem Publikum modelliert. Man sieht jetzt nicht mehr nur zu, wie Underwood seine Pläne durchführt oder die Unabwägbarkeit und Schachzüge seiner Gegner antizipiert, sondern die Differenz von Plan und Umsetzung verliert sich, wird immer poröser. Man bekommt eine Welt zu sehen, die ganz die Underwoods wäre. Der Konjunktiv zeigt bereits an, was die Kehrseite der politischen Macht ist: Wo der Unterschied zwischen Entwurf und Realität zu verschwindet droht, da wird nichts mehr in der Wirklichkeit erreicht, weil Underwood in einer solipsistischen Immanenz verbleibt. Mit theatraler Performanz könnte man also den Umstand bezeichnen, dass die Art und Weise der Darstellung sich an die Weltsicht des Dargestellten angleicht: Underwood dreht sich im Grunde immer nur um sich

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selbst, er kennt kein vertrauensvolles Gegenüber oder Partner, mit denen er sich etwa kommunikativ und kooperativ verständigt, sondern nur Hindernisse, Widerstände etc., die es gefügig zu machen, zu umgehen, zu vermeiden oder zu beseitigen gilt. Diesem Umsichkreisen ohne Außen entspricht eine Darstellung am besten, die durch Aufführen und Vorführen charakterisiert ist. Das Publikum ist von Anfang an bei allem, was Underwood tut, dabei und kann beobachten, wie er das, was er angekündigt, herbeiführt und anstellt. Aber ebenso von Anfang an wurde die Beobachterdistanz durch den Blick in die Kamera abgebaut oder mitverhandelt. Als Zuschauer und Zuschauerin kann man es sich nie wirklich bequem machen. Das Eintauchen in die Welt von HOUSE OF CARDS war immer zugleich vermittelt durch den Blick Underwoods auf sie. Die fünfte Staffel wird immer mehr zur Underwood-Welt, sie wird gleichsam absorbiert oder aufgesogen von seiner strategischen Manipulation, der die Theatralität als stilistisches Mittel korrespondiert oder die sie reflektiert. Underwood zeigt sich in dem, was er ist. Und was er ist, ist nicht mehr als der Inbegriff des instrumentellen und strategischen Verfügens über andere. Nicht von ungefähr ist Underwood von Anfang an durch eine eigenartige Flächigkeit und zweidimensionale Frontalität gekennzeichnet, die eine Schauseite ohne etwas abgibt, was sich dahinter abspielen würde. Denn in jedes vermeintliche Dahinter folgt ihm das Publikum, es bekommt nie etwas anderes als die Vorderansicht einer vermeintlichen Tiefe zu sehen, hinter der nichts ist, weil es sie nicht gibt – genauso wie es keinen Zweck oder Entwurf einer positiven Form des politischen Zusammenlebens gibt, für die Underwood eintreten würde. Underwood steht, wie der als Underwood-Kritiker auftretende Enthüllungsjournalist Hirsch in einem Redaktionstreffen seiner Zeitung in der fünften Staffel einmal sichtlich entsetzt feststellt, für buchstäblich nichts, er sei ohne Ideologie. Wenn man nun eine Zuspitzung riskieren wollte, könnte man sagen: Was Underwood seinem Wesen nach ist, ist eine Unperson. Wer so ist wie er, so wäre die These, läuft Gefahr seine Selbsthaftigkeit13 zu verlie13 Die Zweifel daran, wer Underwood eigentlich ist, lassen sich, so die Pointe, eben nicht unabhängig vom Zweifel daran verstehen, ob er überhaupt jemand ist und was es demnach bedeuten kann, von jemandem wie Underwood zu sagen, er habe ein oder habe kein Selbst. Dass er ohne Frage ein Akteur und

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ren und nicht mehr als wirkliche handelnde und denkende Person erkennbar zu sein. Underwood wäre so der Entwurf einer Person, der es im Gegensatz zu Hannah Arendts Insistenz nichts ausmacht, mit sich als »einem Mörder oder einem Lügner zusammenleben«14 zu wollen bzw. können. Es lassen sich Zweifel daran hegen, ob Underwood im Sinne von Arendt denkt, also einen »stummen Dialog« führt und »einen ständigen Umgang[s] mit sich selbst«15 hat. Mit sich zusammenleben kann Underwood offensichtlich sehr gut. Darüber hinaus scheint er sich auch permanent in einem inneren Selbstgespräch zu befinden. Dies erscheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich: Denn der vermeintliche Umgang mit sich selbst, das innere Zwiegespräch ist nur das, was die Zuschauer von Underwood zu sehen und hören bekommen. Eine Selbstbefragung und Rechtfertigung, die von ethischer wie moralischer Relevanz für sein Denken wäre, kennt Underwood nicht. Hier liegt der Punkt der Abstoßung zwischen dem solus ipse Underwood und dem Selbstverhältnis der jeweiligen Zuschauer und Zuschauerinnen. Sie mögen zwar ein consicus oder eine consica, Mitwissende sein. Doch ist die Betrachter*innendistanz, die sie zum Prozess der Underwoodisierung haben, keine der Indifferenz oder gar der ansteckenden Komplizenschaft16, Zuschreibungspunkt seiner Unternehmungen ist, berührt dabei nicht die tiefgreifende Skepsis in Bezug darauf, ob man moralisch-normativ so handeln und denken möchte bzw. sollte und ob man ethisch-ontologisch so sein kann. Vielmehr kommt die Skepsis gerade in Folge der Abwesenheit jedweden moralisch imprägnierten Skrupels bei Underwood auf, sodass sein welthaftes Selbst sich immer mehr in die Performanz einer persona wandelt, die einen zuletzt offen ausgestellten fiktiven Index mit sich führt. Weil Underwood nur strategisch-instrumentelles Raisonnieren kennt und ihm Zögern wie Skrupel per se fremd sind, kann er als komplementäre Figur einer schönen Seele gelten, die moralisch mit sich vollkommen im Reinen ist. Beides konvergiert darauf, unplausibel zu sein, und vermag als künstlerisches Mittel verwendet etwas über die Gegenwart in Erfahrung zu bringen. 14 Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München: Piper 2006, S. 72. 15 Ebd. S. 73. 16 An diesem Punkt unterscheidet sich die hier angestellte Überlegung von der Einschätzung Birgit Reckis, die das Verhältnis zwischen Underwood und

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sondern ein Abstand, der durch einen ethisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen Denken und Selbstsein begründet wird. Es gibt einen Abstand zwischen Zuschauer und Underwood, der auch durch das größte Mitwissen und Miteinbezogensein nicht eingezogen wird: derjenige der bedingt, dass man sich nicht vorstellen kann, so zu sein wie Underwood bzw. es eben sich nur vorstellen könnte. Genau das ist der Grund, warum der Underwood der fünften Staffel nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstfiktionalisierung kohärent verhandelbar bleibt. Es ist genau jene Maskenhaftigkeit, jene Unmöglichkeit, sich vorzustellen, was im Inneren Underwoods vorgeht, die in Unruhe versetzt. Die Frage taucht auf, wer Underwood eigentlich ist, wenn er in diesem Sinne ein Niemand ist. Hierauf bezieht sich die Typisierung, die fragt, wer einer wie Underwood ist und dies dann als exemplarisches Signum einer bestimmten sozialen Konstellation nimmt, bei der strategisches Handeln und instrumentelle Vernunft vorherrschen.

U NDERWOOD

ALS SOZIALE

R EFLEXIONSFIGUR

Die Serie schien, sofern man sie als fiktiven Kommentar zur US-Politik nehmen mochte17, eher mit einem »ruthless pragmatist« im Weißen Haus

dem Publikum als eine »kommunikativ gestiftete Komplizenschaft« (Recki, Birgit: »›Ich fühle mich wie ein Verbrecher‹. Über filmästhetische Formen prekärer Identifikation.«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3/2015, S. 18-28, hier: S. 25) bezeichnet. Ungeachtet dessen trifft Recki das unter den Titel einer prekären Identifikation gestellte Problem, was die Zuschauer mit den Vorgängen, deren Zeugen sie dank Underwood werden, anfangen sollen. 17 Mit der Wahl Trumps in das US-Präsidentenamt wurde aber die Möglichkeit der Serie einer solchen Kommentierung in Zweifel gezogen, weil die Realität die Absurdität der Serie überholt habe (vgl. dazu stellvertretend für die diesbezüglichen Diskussionen den Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 3.6.2017: Batthyany, Sacha: »Selbst House of Cards hat gegen die Realität keine Chance«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.06.2017, https://www.sued

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nach Barack Obama zu rechnen, mehr mit einem normativ entkernten und ideenlosen, von Krise zu Krise schlitternden Demokraten als mit Donald Trump18. Daran knüpft sich auch die Frage danach, was es bei einer Figur wie Francis Underwood heißen kann, er sei unrealistisch oder realistisch gezeichnet, wenn man trotz aller Reflexivität der Figur Underwood genauer zeigen möchte, was sie nicht nur mit einem USPolitiker, Präsidenten, sondern auch mit dem politischen System und der demokratischen Kultur zu tun hat. Underwood begeht im Laufe der Serie je nach Zählung zwei oder drei Morde und ist in einem Maße von Zynismus durchdrungen, dass es scheinbar mehr Sinn macht, zu überlegen, warum Underwood in seiner krassen machtbewussten und machtbesessenen Einstellung so überzeichnet ist, als zu monieren, so einer sei im realen Washington nicht anzutreffen. Indem die Serie durch zahlreiche Kunstgriffe den fiktiven Status von Underwood immer wieder bzw., wie hier argumentiert worden ist, immer mehr herausstellt, kann sie eine Perspektivierung des realen Washingtons liefern, in der durch Steigerung und Bündelung vorfindlicher Elemente und Tendenzen so etwas wie ein zeitdiagnostisches Porträt machtpolitischen Kalküls entstand, das in dieser Deutlichkeit nur in oder dank einer ästhetisch gehaltvollen Fiktion zu haben ist. Indem sie etwas auf die Spitze treibt, kann sie es auf den Punkt bringen, ohne dabei zu vereinfachen. deutsche.de/medien/us-serie-selbst-house-of-cards-hat-gegen-die-realitaet-kei ne-chance-1.3532039. 18 In seinem Buch Die Abwicklung, das den bezeichnenden Untertitel Eine innere Geschichte des neuen Amerika trägt, versucht der Autor George Packer dem Entstehen eines Zustandes der USA nachzuzeichnen, den er als eine umgreifende Auflösung des sozialen Bands zu beschreiben versucht (vgl. Packer, George: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika, Frankfurt a.M.: Fischer 2014, S. 9-15). Wie auch immer man aus politologischer, soziologischer oder historischer Sicht zur journalistisch an Einzelschicksalen orientierter Großreportage Packers stehen mag, leuchtet an seiner Diagnose einer Krise der Demokratie, die er als Krise sozialer Freiheit begreift, einiges ein. Zum Verhältnis zwischen westlicher Demokratie und Populismus ab den 2010er-Jahren siehe Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2016.

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Der Wegfall der vierten Wand zeigt nicht nur, wie sehr die Welt, in der Underwood agiert, seine Welt ist bzw. er dazu entschlossen ist, sie zu einem Produkt seines Willens zu machen, sondern macht auch das Publikum zum permanenten Mitwisser. Was bedeutet aber nun diese Mitwisserschaft über das ästhetische Verfahren des Beiseitesprechens hinaus? Wie viel von Underwood steckt in der realpolitischen Wirklichkeit? Kann man sich von Underwood so distanzieren wie Underwood sich von dem Kneipenbesitzer Freddy distanziert, als dessen kriminelle Vergangenheit ans Licht kommt? Underwood: eine exemplarische Figur, für die die Welt, in der er handelt, frei nach Arendt in Vita Activa im Grunde keine »menschliche Bedingtheit«19 mehr kennt bzw. kennen will, sondern nur noch Bedingtheiten, die sich manipulativ oder durch manifest strategisches Handeln der eigenen Agenda fügen – oder nicht. Für eine Figur wie Underwood und die Tendenz, die sich in ihr verkörpert, ist der politische Mord ja durchaus konsequent, wenn alle anderen Mittel nicht fruchten. Über den betont fiktiven Charakter Underwoods wird die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit als Grenze zwischen reiner Instrumentalität und Unverfügbarkeit verhandelt. Und damit auch die Anfechtbarkeit moralischer Integrität, sobald sie es mit den Anfechtungen der manipulativ-strategischer Rationalität zu tun bekommt, die nicht zuletzt auch der schönen Seele nicht fremd sind. Die Frage lautet also: Ist Francis Underwood eine soziale Reflexionsfigur20? Lässt sich mit ihr bzw. durch die Zusammenziehung auf eine fiktive Person, die sich bis zur Grenze ihrer Selbstfiktionalisierung/theatralisierung reflektiert, etwas an den realen Verhältnissen zeigen? Wenn an dieser Intuition etwas stimmen sollte, dann wäre das Formgesetz der theatralen Performanz nicht einfach nur eine artistische Ent19 Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 2002, S. 16. 20 Zum Begriff einer Sozialfigur siehe Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010. Was hier zur Sozialfigur noch hinzutritt, ist ihre allgemein antreffbare und zu ihrer Typik gehörende Reflexivität. In diesem Sinn wäre an die glückliche Prägung »reflexiver Mitspiele« zu erinnern, die Sighard Neckel zu verdanken ist. Vgl. Neckel, Sigard: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 2008, S. 31.

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scheidung, sondern würde auch auf ein politisches System verweisen, das sich nolens volens bei allem, was es tut, selber über die Schulter schaut und dem an nichts anderem gelegen ist als der Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten und Aushöhlung eines demokratischen Ethos und demokratischer Institutionen. Underwood als Typus, als soziale Reflexionsfigur würde dann auch besagen, dass die Verhältnisse eben so sind, dass eine entsprechend platzierte und mit genügend Ressourcen ausgestattete Person die demokratische Lebensform, ihre Institutionen und ihr politisches System so für sich ausnutzen und bis zum Kollaps unter seine Botmäßigkeit bringen kann21. Das heißt aber auch, dass dies anderen auch gelingen kann und

21 Wendy Brown eröffnet ihren 2009 zuerst veröffentlichten luziden Beitrag zu einer Debatte über das fraglich gewordene Selbstverständnis westlicher Demokratien mit folgender Vermutung: »Die Demokratie erfreut sich heute einer nie dagewesenen weltweiten Popularität und ist gleichzeitig nie zuvor konzeptuell vager beziehungsweise substanzärmer gewesen. Vielleicht ist ihre aktuelle Beliebtheit auf die Offenheit, ja sogar Inhaltslosigkeit ihrer Bedeutung und Praxis zurückzuführen – wie Barack Obama ist sie ein leerer Signifikant, an den jeder seine Träume und Hoffnungen knüpfen kann.« (Brown, Wendy: »Wir sind alle Demokraten«, in: Agamben, Giorgio (Hg.), Demokratie? Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 55-72, hier: S. 55). Mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA und seiner Amtseinführung 2016 bzw. 2017 sieht etwa Nancy Fraser die Zeit des von ihr so benannten progressiven Neoliberalismus an eine Ende gekommen (Fraser, Nancy: »Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus«, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.), Die große Regression, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 77-93). Underwood als leerer Signifikant könnte alle Fragen danach, wie die politische Kultur der USA innerhalb nur weniger Jahre ihren personalisierten Ausdruck so radikal verändert konnte, bündeln: vom demokratischen Hoffnungsträger Obama zum reaktionären Populisten Trump. Was war es, das der progressive Neoliberalismus im Sinne Frasers sträflich ignoriert hat, dem die Präsidentschaft Obamas nicht genug entgegenwirken konnte und das sich bei Trumps unterlegener Gegenkandidatin Hilary Clinton weiter fortgesetzt hätte? Frasers Analyse widmet sich vor allem der immer weiter fortschreitenden Entsolidarisierung der US-Gesellschaft und Exklusion

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nicht Francis Underwood allein vorbehalten bleibt. Darin liegt ein Grund für die Unruhe, die der Blick Underwoods in die Kamera beim Zuschauer auszulösen vermag. Weil unklar ist, wer – wenn überhaupt jemand – einen anblickt, kommt die bange Frage auf, ob da nicht einer alles daran setzt, einem den Ball zuzuspielen und somit doch noch im Publikum einen generalisierten Komplizen zu finden. Die fünfte Staffel zeigt ja, dass es Francis genauso ergehen wird wie seinem Vorgänger. Doch ist dies nicht deswegen der Fall, weil er das Publikum erfolgreich zu seinen Komplizen machen würde, sondern weil die Demokratie, so wie sie gezeigt wird und angesichts der Machtelite, die in ihrem Herzen ihr regelrechtes Unwesen treibt, von innen heraus ausgehöhlt ist. Mit anderen Worten: Demokratie als normatives Ideal und als gelebte Praxis22 kommt nicht mehr länger vor. Es ist deren blanke Abwesenheit, die in Underwood für alle Sehenden als durchaus reale Gefahr sichtbar wird.

D ER V ORSPANN

ALS IRONISCHE

R AHMUNG

Abschließend soll noch eine kurze Interpretation des Vorspanns der Serie skizziert werden. Er steht gewissermaßen im Kontrast zu den Geschehnissen der Serie selbst und gibt einen symbolischen Rahmen dafür ab. Alle Einstellungen des Vorspanns werden im Zeitraffer gezeigt. Gegenläufig dazu erscheint die getragene, schreitende Hauptmusik der Serie. Dadurch sticht das Bleibende hervor: die Gebäude, Monumente, der

derjenigen Teile der Bevölkerung, die vom politisch progressiven Moment eines ökonomischen Neoliberalismus strukturell ausgeklammert wurden. 22 Siehe im Hinblick auf Europa nach der Finanzkrise 2008 den brillanten Essay von Hauke Brunkhorst Das doppelte Gesicht Europas (Brunkhorst, Hauke: Das doppelte Gesicht Europas, Berlin: Suhrkamp 2014), in dem er ein kantisch geprägtes, normatives Verständnis von Europa und Demokratie gegen eine Sicht auf Europa und Demokratie stellt, bei der evolutionäre Anpassung und Marktkonformität vorherrschen. Brunkhorst zeichnet nach, wie das ›kantian mindset‹ immer stärkeren Angriffen ausgesetzt ist, sich aber durchaus immer wieder Gehör verschaffen und seine Wege in die Praxis finden kann. Underwood ist kein Kantianer.

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Capitol Hill und diverse Viertel der Stadt, durch die der Verkehr der Stadt umso schneller hindurch zieht und worüber die Wolken Tag ein Tag aus, Monat für Monat und Jahr für Jahr unbeeindruckt ziehen. Auffällig ist, dass zwar Washington gezeigt wird, aber keine Bewohner und schon gar nicht die Gesichter der Protagonisten. Das lässt verschiedene Deutungen zu: Washington als Sinnbild der Polis, Politik als gemeinsame Regelung der menschlichen Angelegenheiten (s. Abb. 3). Abbildung 3: HOUSE OF CARDS

Was ist politische Macht, wie sie Underwood so beeindruckend und kompromisslos akkumuliert und im Handumdrehen wieder verliert, im Gegensatz zu dem, was bleibt? Erstens die Polis oder Stadt im Sinne einer grundlegenden politischen Öffentlichkeit, in der Menschen einander erscheinen und miteinander handeln und sich nach Grundsätzen und Prinzipien eine Verfassung ihres Zusammenlebens geben. Zweitens diejenige Natur, die alles Menschenwerk überdauert und die sich so herzlich wenig um die Belange der Sterblichen kümmert. Inwiefern der Blick in den Himmel, der im Vorspann eine obere horizontale Rahmung der irdischen Geschehnisse abgibt, eine Grenze für das symbolisiert, was Menschen erreichen können, was ihnen gemäß ist und wie eine solche Grenze auch als der Rahmen zu sehen ist, in dem sich ein gelingendes politisches Leben abzuspielen hat, könnte einen Zusammenhang abgeben zwischen dem Vorspann, der die Handlung der Serie in Washington

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situiert und der, um mit George Packer zu sprechen, Abwicklung der amerikanischen Demokratie23, die Underwood betreibt. Dass es nicht allzu viele Anzeichen für eine Politik oder das Politische im Sinne der Frage nach dem Sinn und Zweck der menschlichen Angelegenheiten und wie sie am besten einzurichten seien in den USA dieser Zeit bzw. der letzten Jahre gibt, zeigt schon die nach unten zeigende Flagge des Vorspanns von HOUSE OF CARDS, die gemeinhin einen Notstand anzeigt, eine Verkehrung dessen, worum es der Politik eigentlich gehen sollte oder könnte24. So gesehen eignet dem Vorspann ein ironischer Unterton: Was hier wetterwendisch und fragil ist, spurlos vorbeizieht wie die Wolken am Himmel, sind im Gegensatz zum vermeintlich unverbindlichen Treiben am Himmel justament jene menschlichen Versuche, etwas auf und für die Dauer zu errichten, etwas, das nicht gleich angefressen ist von Machterhalt, Schadensbegrenzung und »ruthless pragmatism«.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München: Piper 2006. Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 2002. Batthyany, Sacha: »Selbst House of Cards hat gegen die Realität keine Chance«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.06.2017, https://www.sued deutsche.de/medien/us-serie-selbst-house-of-cards-hat-gegen-die-rea litaet-keine-chance-1.3532039

23 Siehe Fußnote 9. 24 Vgl. etwa folgenden Artikel im Spiegel aus dem Frühjahr 2017: N.N.: »Spicers US-Flagge steht kopf«, in: Spiegel Online vom 10.03.2017, http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-sprecher-sean-spicertritt-mit-auf-dem-kopf-stehender-flagge-auf-a-1138316.html.

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Brown, Wendy: »Wir sind alle Demokraten«, in: Agamben, Giorgio (Hg.), Demokratie? Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp 2012, 55-72. Brunkhorst, Hauke: Das doppelte Gesicht Europas, Berlin: Suhrkamp 2014. Döring, Tobias: »Das Wintermärchen kommt in die Babyklappe«, in: FAZ vom 22.04.2016, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ shakespeare-im-21-jahrhundert-aus-dem-werk-des-dichters-werdenacht-neue-romane-14164247/richard-iii-reloaded-frank-14165569. html Elsaesser, Thomas: The Persistence of Hollywood. From Cinephile Moments to Blockbuster Memories, London: Routledge 2012. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012. Fraser, Nancy: »Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus«, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.), Die große Regression, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 77-93. Garcia-Düttmann, Alexander: Love Machine. Der Ursprung des Kunstwerks, Konstanz: Konstanz University Press 2018. Goffman, Ervin: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2009. Greenblatt, Stephen: Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert, München: Siedler 2018. Hackett, J. Edgar (Hg.): House of Cards and Philosophy. Underwood‘s Republic, Chichester: Wiley 2016. Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer 2007. Kaul, Susanne/Palmier, Jean-Pierre/Skrandies, Timo (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit, Audiovisualität, Musik, Bielefeld: transcript 2009. Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010. Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2016. Neckel, Sigard: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 2008.

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N.N.: »Spicers US-Flagge steht kopf«, in: Spiegel Online vom 10.03.2017, http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trumpsprecher-sean-spicer-tritt-mit-auf-dem-kopf-stehender-flagge-auf-a-1 138316.html N.N.: »Regisseur schneidet Kevin Spacey aus neuem Film«, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 09.03.2017, https://www.sueddeutsche.de/kultur/uebergriffe-in-hollywood-regisse ur-schneidet-kevin-spacey-aus-neuem-film-1.3741885 Packer, George: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika, Frankfurt a.M.: Fischer 2014. Recki, Birgit: »›Ich fühle mich wie ein Verbrecher‹. Über filmästhetische Formen prekärer Identifikation.«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 3/2015, 18-28. Thomä, Dieter: Unter Amerikanern. Eine Lebensart wird besichtigt, München: Beck 2001.

F ILME ALL THE MONEY IN THE WORLD (USA 2017, R: Ridley Scott) HOUSE OF CARDS (USA 2013-2018, Netflix)

Weltende nordwestlich von Hollywood Zur Rückkehr von TWIN PEAKS HANNA HAMEL

TWIN PEAKS ist dem Fernsehpublikum der frühen 1990er-Jahre vertraut als amerikanische Kleinstadt, situiert im gleichermaßen düsteren wie pittoresken Nordwesten der USA. In David Lynchs TWIN PEAKS geschehen zwar gelegentlich Dinge, die aus der Reihe fallen, das Szenario der gleichnamigen Serie1 zeichnet sich aber in erster Linie durch Aufgehobenheit in beschaulicher Kontinuität aus: Es gibt ein Diner, dessen freundliche Wirtin Norma den besten Cherry Pie weit und breit zubereitet, ein Hotel mit preiswerten und komfortablen Zimmern (»clean place, reasonably priced«, wie die Hauptfigur Cooper die eigenen Ansprüche vorbildhaft realisiert sieht), eine Polizeistation, in der jede und jeder entsprechend den eigenen Kräften und Fähigkeiten mithilft, die Ordnung und nicht zuletzt die Stimmung vor Ort zu sichern. Twin Peaks erweist sich bereits nach wenigen Folgen als potentieller Sehnsuchtsort – exemplarisch bebildert im idyllisierenden Vorspann, der mit musikalischer Untermalung durch Angelo Badalamentis TWIN PEAKS Theme das Setting eines naturbelassenen Nordwestens und den ästhetisierten industriellen Umgang mit dem Holz der umliegenden Wälder malerisch in Szene setzt. Auch der Protagonist FBI Special Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan), der nach Twin Peaks gekommen ist, um seiner Arbeit nachzugehen, 1

TWIN PEAKS (USA 1990-1991, ABC); TWIN PEAKS: THE RETURN (USA 2017, Showtime).

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hegt bald Gedanken, sich hier dauerhaft niederzulassen. Beinah könnte man darüber vergessen, dass Cooper den Mordfall an der Homecoming Queen Laura Palmer (Sheryl Lee) lösen soll. Seine Präsenz lässt die Tragweite der Tat erahnen: Hier geht es nicht um ein lokales Drama, sondern um ein Verbrechen von – mindestens – nationalem Interesse. Die Spannung aus Aufgehobenheit im beschaulichen Setting und blankem Horror ist charakteristisch für die Stimmung der Serie: Zum einen gibt es Folge für Folge die Freude des Zurückkehrens, immer wieder an denselben Ort2. TWIN PEAKS setzt eine Art universal-amerikanische, räumliche und soziale Topographie ins Bild, verbunden mit Nostalgie und Verlustängsten3. Die Rezeption der ersten beiden Staffeln (erstmals ausgestrahlt 1990 bis 1991 über den amerikanischen Fernsehsender ABC) kann durchaus den Eindruck vermitteln, als hörte hier ein von unbeugsamen Amerikanern bevölkertes Dorf nicht auf, einem Eindringling Widerstand zu leisten – wobei über weite Strecken völlig unklar ist, wer oder was dieser Eindringling ist. Die düstere Logik von TWIN PEAKS legt nahe, dass er (sie? es?) immer schon da war. Darin besteht die zwillingshafte »Doppelexistenz«4 und -ästhetik des Ortes, an dem »unsere Zivilisationsgeschichte« bereits »an ihrem Ende« angelangt sein soll5. Zunächst ist die erste Staffel der Serie aber eine Eröffnung, sowohl für die Fantasie des Mediums (›Quality TV‹) als auch für diejenige des Publikums: In jedem mit gleichberechtigter Aufmerksamkeit inszenierten Detail scheinen sich Hinweise zu verstecken, die dazu anregen, mit detektivischer Neugier verfolgt zu werden. Weil es immer noch etwas zu entdecken gibt, kann man die Serie ohne weiteres und ohne das Gefühl von Redundanz mehrmals sehen. In TWIN PEAKS entspinnt sich nicht nur ei2

Vgl. zum Beispiel die Beschreibung von TWIN PEAKS als »Spiegelsaal der eigenen Projektionen, Illusionen und Wunschbilder« von Neuroth, Kevin: »Surreale Seifenoper. Abtauchen in eine irrwitzige Welt aus Kitsch, Horror, Nostalgie und Verstörung. Warum ich einmal im Jahr TWIN PEAKS schaue«, in: Die Zeit vom 19.05.2018, http://www.zeit.de/kultur/film/2017-05/twinpeaks-david-lynch-serie

3

Seeßlen, Georg: »Point of (No) Return: Twin Peak« in: ders.: David Lynch

4

Ebd., S. 114.

5

Ebd., S. 117.

und seine Filme. 6. Aufl., Marburg: Schüren 2007, S. 112-121, hier S. 112.

W ELTENDE NORDWESTLICH

VON

HOLLYWOOD | 279

ner, sondern es entspinnen sich mehrere Plots, die sich gleich gültig nebeneinander entfalten und ineinander verschränken. Davon profitieren auch das TWIN PEAKS-Merchandising und die Fanfiction, wobei manchmal nicht ganz eindeutig ist, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Die Produzenten der Serie und ihr Umfeld werden dabei buchstäblich zu Fans des eigenen Produkts. Beispielhaft hierfür ist das von Jennifer Lynch verfasste Secret Diary of Laura Palmer (1990)6 – ein zentrales Requisit der fiktionalen Welt, das auf den realen Buchmarkt durchdringt – oder auch die von Mark Frost im Vorfeld zur THE RETURN-Staffel herausgegebenen Bücher The Secret History of Twin Peaks (2016)7 und Twin Peaks: The Final Dossier (2017)8, die Spekulationen und Neugier gleichermaßen befeuern und unbefriedigt lassen. Das Darstellungsprinzip von TWIN PEAKS ist damit selbst in Serie gegangen, nicht zuletzt, indem die Serie von anderen Autoren und Regisseuren fortgesetzt wurde. Auch TWIN PEAKS: THE RETURN setzt noch auf die Zuneigung zu dieser Welt, die mit TWIN PEAKS erschaffen wurde und die punktuelle Übergänge in die reale Welt der Zuseherinnen und Zuseher hat, – Tore, die sich auch abseits des Fernsehbildschirms zu öffnen scheinen. Allerdings wird die (Vor-)Freude auf diese, vermutlich finale Rückkehr dem – nun streamenden, nicht länger fernsehenden – Publikum 25 Jahre später, im Jahr 2017, gehörig verdorben. Mit dem sogenannten, durch das Publikum selbst provozierten9 ›Return‹ nach TWIN PEAKS als ›Limited Event Series‹, als Ereignis und Abschluss, bricht das Filmkunstwerk endgültig aus einer konventionellen Serienlogik aus und zugleich eine katastrophische Grundstruktur in die filmische Welt ein, von der man erst im Nachhinein 6

Lynch, Jennifer: The Secret Diary of Laura Palmer, London: Simon & Schuster UK Ltd. 2012.

7

Frost, Mark: The Secret History of Twin Peaks, New York: Flatiron Books

8

Frost, Mark: Twin Peaks: The Final Dossier, New York: Flatiron Books

2016. 2017. 9

Vgl. David Lynchs Hinweis, dass bereits eine Diskussion im Internet über die Rückkehr nach Twin Peaks nach 25 Jahren bestanden habe, bevor die Entscheidung über die Fortsetzung der Serie gefallen war. (N.N.: »Mystery Man. Entretien avec David Lynch«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 8-18, hier S. 18.)

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begreift, wie (relativ) heil sie eigentlich in den zwei Staffeln aus den 90er-Jahren noch war. TWIN PEAKS: THE RETURN führt die eröffnete Serienlogik vor und zugleich zu einem Ende. Dass die sogenannte dritte Staffel selbst nicht als Serie, sondern von der Redaktion der Cahiers du cinéma als »événement le plus important de la décennie« zum besten Film des Jahres 2017 gewählt wurde, erscheint nur folgerichtig10. Hier werden mit Bezug auf das Ende der Serie, das zugleich ein Weltende ist, entsprechend zwei Aspekte entwickelt: Erstens zeigt David Lynch in der aktuellen Serie eine ganz eigene Form des Weltendes, das berühmten Katastrophen made in Hollywood diametral entgegensteht. Zweitens zeigt sich im Verhältnis der früher sehr erfolgreichen Serie und der gegenwärtigen Arbeit von David Lynch ein kritischer (Selbst-) Kommentar, an dem sich exemplarisch auch das Verhältnis von kreativen Produktionsbedingungen in und außerhalb Hollywoods thematisieren lässt. Hollywood firmiert dabei nicht nur als Inbegriff einer ästhetischen Richtung oder als Marke, sondern auch als Chiffre der (amerikanischen) Moderne.

T WIN P EAKS UND T HE R ETURN : E INE W IEDERHOLUNG UND EIN F ILM Die erste Folge der ersten Staffel, die im Jahr 1990 ihre Fernsehpremiere hatte, eröffnet mit einer für Kriminalfilme vertrauten Episode, und zwar mit dem Fund der Leiche. Bei der Toten handelt es sich um Laura Palmer, ihr Körper liegt am Flussufer und ist von einer transparenten Plane umhüllt: ›wrapped in plastic‹. Allerdings bildet dieses prominente Ereignis nicht die eigentliche Eröffnung. Die erste Szene spielt sich ein wenig früher am Wohnort einer Gruppe von Nebenfiguren ab, im Haus der Sägewerkbesitzer Catherine (Piper Laurie) und Pete Martell (Jack Nance). Pete Martell, der bald darauf die Leiche findet, hat seinen ersten Auftritt bereits in den eigenen vier Wänden, wo er zu seiner Frau die eröffnenden

10 Delorme, Stéphane: »Mystère«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 5. Vgl. auch N.N.: »Top Ten de la Rédaction«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 6-7.

W ELTENDE NORDWESTLICH

VON

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Worte der Serie sagt: »Gone fishing.« Hier geht es nicht nur um eine kontingente Motivation für den Fund der Leiche, sondern mit diesen zwei Worten wird zum ersten Mal ein Meta-Motiv der Serie aufgerufen. Im Titel des autobiographischen Künstler-Buchs Catching the Big Fish (2006) von David Lynch scheint ein deutlicher Hinweis für die Aufschlüsselung der Motivik zu liegen. Unter dem Titel »Gone Fishing, again« beschreibt Lynch die eigene künstlerische Praxis: »It’s like fishing. You caught a beautiful fish yesterday, and you’re out today with the same bait, and you’re wondering if you’re going to catch another. But if you carry on the analogy of fishing, sometimes, even if you sit with lots and lots of patience, no fish come. You’re in the wrong area. And so maybe you reel in the hook, get the paddle, and move to another place. That means you leave the chair where you’re daydreaming or you move on to another thing. Just by changing something, the desire often gets fulfilled. It doesn’t mean that if you just sit and wait that it will come. I don’t know quite what brings it. But the desire, if it’s kept alive, will often be validated with an idea. When you get an idea, you know you’ve got a validation.«11

Der ›big fish‹ wird als ›Idee‹ von TWIN PEAKS selbst mit den ersten ausgesprochenen Worten zum legendären Fang. Der buchstäbliche Fisch entfaltet dabei ein unberechenbares Eigenleben und wird handlungstreibender Teil: Er kehrt dem Hörensagen nach wieder in der ersten Staffel im Kaffeekocher von Pete Martell (keiner weiß, wie er in dieses andere, zentrale und einschlägige Element, den Kaffee, hineingeraten ist) und als Fang, der gemeinsam mit einem gestohlenen Wagen abhanden kommt (»twelve rainbow trouts«, die allein aufgrund ihrer Anzahl wiederum »twelve sycamore trees« assoziieren lassen, ein entscheidender Hinweis an diesem Punkt der Serie). Tot und ausgestopft findet der Fisch – bis auf die Ausnahme einer Szene, in der Pete ein gefangenes, aber leider geschrumpftes Exemplar vom Präparator abgeholt hat, unkommentiert – Eingang ins Szenenbild. Als Wappentier auf dem Holzschild des »Fat Trout Trailer Parks« in FIRE WALK WITH ME (F/USA 1992, R: David 11 Lynch, David: Catching the big fish. Meditation, Consciousness, and Creativity, New York/London: Jeremy P. Tarcher/Penguin 2008, S. 167-168.

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Lynch) und THE RETURN springt den ZuseherInnen das gemalte Bild der Forelle dann förmlich ins Auge. Hier hat es symbolische Bedeutung für einen Ort, an dem enigmatische Dinge geschehen. Das Fisch-Motiv bleibt in seinem zeichenhaften Einsatz uneindeutig: Es wird zum Index für Orte bzw. Momente, an und in denen für die Serienhandlung zentrale Ereignisse geschehen, es ist darüber hinaus aber auch ein Symbol, dessen Bedeutung durch seine Wiederholung in unterschiedlichen Kontexten in der Serienwelt vervielfältigt wird, aber unaufgelöst bleibt. Der Fisch, von dem alle – Menschen wie Schilder – zeugen, lässt sich nicht fangen, er entgleitet noch, wenn er schon gefangen ist. Dieses wie andere Zeichen sind aber auch keine leeren Signifikanten, sie gewinnen Bedeutung durch ihre Wiederholung. Das erinnert an Adornos Beschreibung des Fremdspracherwerbs, den er in der Philosophischen Terminologie am Beispiel der Lektüre von Kriminalromanen erläutert: »[Es] bestand die Notwendigkeit, mir englische Kenntnisse so rasch wie nur möglich anzueignen. Ich habe das getan, indem ich ungezählte Kriminalromane las, und zwar ohne dabei ein Wörterbuch zu benutzen. [...] Wenn man demselben Ausdruck an ungezählten Stellen immer wieder begegnet, dann weiß man schließlich, was der Ausdruck bedeutet, und man weiß es dann nicht nur abstrakt, nicht nur in dem allgemeinsten begrifflichen Umfang, [...] Man lernt [...], daß diese Worte nicht eine sich selbst gleichbleibende, unveränderliche Bedeutung haben, sondern daß sie je nach dem gedanklichen und sprachlichen Zusammenhang, in dem sie auftreten, sich auch modifizieren.«12

Wollte man mit TWIN PEAKS die eigens kreierte Zeichensprache der Serie lernen, so müsste man darauf verzichten, sich die Bedeutung der Zeichen qua Vokabelliste anzueignen; man würde sie nur noch als kontextabhängig variierend begreifen können – als Zeichen, die nicht durch ihre Bedeutung in unterschiedlichen Kontexten verbunden sind und Bedeutung gewinnen, sondern die auch unterschiedliche Kontexte durch ihre Verwendung verbinden. Entsprechend anders als bei konventionell aufgebauten Kriminalromanen, in denen es in der Regel zumindest identifizierbare Elemente gibt 12 Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 34.

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– den Täter, die Mordwaffe, das Motiv, das Opfer, die immer in denselben Konstellationen gestellten Fragen der Detektive etc., sodass in seiner Lektüre sowohl ein Fall wie auch die Sprachverwendung aufgeklärt werden können –, entzieht sich TWIN PEAKS nicht nur konventionellen Logiken der Kriminalgeschichten. Die Serie entwickelt auch eine eigene Logik des Motiv- und Elementeinsatzes, den ich im Folgenden als ›nachbarschaftlich‹ oder auch nachbarschaftsstiftend bezeichnen möchte. Illustriert wird das am besten durch den Ort Twin Peaks selbst, der zwar einen beschaulichen Eindruck macht, dessen Topographie jedoch vollkommen opak bleibt. Die einzelnen Schauplätze wie das Haus der Palmers, das Sägewerk, das RR-Diner, das Roadhouse, das Great Northern Hotel etc. haben hohen Wiedererkennungswert, insbesondere von Außen. Sie werden wiederholt als Establishing Shot gezeigt, bevor eine Szene im Inneren beginnt. Ein Ortsgefühl für Twin Peaks erhält aber auch der aufmerksame Zuschauer nach allen gesehenen Folgen nicht. Die Orte scheinen vielmehr anstelle von einem nachvollziehbaren Straßennetz durch innere Übergänge – wie die Motive, beispielsweise dem ausgezeichneten Kaffee, den Cooper an jedem Ort, an dem er auftritt, serviert bekommt – miteinander verbunden. Alles ist nur einen Schnitt voneinander entfernt, während die eigentliche Topographie ausgespart wird. Die Vorgärten gehen ineinander über wie der Ort Twin Peaks in den Wald, der ihn als schützende Zuflucht und als dunkle Bedrohung umhüllt. Für das Umland gibt es nur eine indigene Topographie, die immer wieder in Form einer historischen Karte ins Bild kommt, welche aber bis zu THE RETURN in ihrer Lesbarkeit stets eine Herausforderung bleibt. Damit gibt die Serie auch wieder, was Teil ihrer Produktionsbedingung ist: Twin Peaks ist ein zusammengesuchter Ort, der Schauplätze aus unterschiedlichen Orten mit dem Namen eines kalifornischen Naturschutzgebietes verbindet und in den äußersten Nordwesten der USA verlegt. Wie in einem Kriminalfilm leitet ein kriminalistischer Impuls die Hauptfigur in TWIN PEAKS durch das unwägbare Gelände. Ähnlich wie der Kriminalromane lesende Adorno möchte Cooper intuitiv diejenige Sprache lernen, die scheinbar gesprochen wird. Dabei wird sukzessive deutlich, dass es das Ganze dieser Sprache nicht geben kann; und dass es auch niemanden gibt, der sie entsprechend zur Gänze beherrscht. Das macht die Wiederholung als Struktur in der Produktion wie in der Rezeption umso wichti-

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ger: Durch die Wiederholung bestimmter Motive gewinnt man den Eindruck, dass hier überhaupt etwas verständlich werden kann. Wie die Orte wird auch die Zeit nicht linear-chronologisch, sondern in Nachbarschaft zu verschiedenen und in der dritten Staffel sogar alternativen Vergangenheiten und Zukünften organisiert: »Is it future or is it past?«, fragt die Figur »Man from another place« (resp. »The Arm«) bereits in der ersten Staffel im »Red Room«, einer fantastisch-höllischen Gegenwelt, deren Tore sich nur im Zusammenhang mit größter Liebe und größtem Hass öffnen. In den ersten zwei Staffeln geht es vor allem um die Antizipation des Noch-nicht-Geschehenen und um das Wiederaufrufen des Geschehenen in Träumen und traumähnlichen Zuständen, die es einerseits den Figuren erlauben, Künftiges und Vergangenes in der Gegenwart zu erleben, und andererseits der Serie, Vergangenes, Künftiges und Gegenwärtiges eingebettet in die linear verlaufende Zeit der Darstellung ganz ohne Rückblende vorzuführen. Zugleich zeigt sich diese Technik der Inversion des Vergangenen und Künftigen aber auch noch einmal in konkreten Motiven und Handlungen, beispielsweise der unreflektierten (und historisch falschen) Reinszenierung der Geschichte des Civil War in Benjamin Hornes Arbeitszimmer mithilfe von Zinnsoldaten. Benjamin Horne (Richard Beymer), der selbstherrliche Besitzer des Great Northern Hotel, lebt in seinem Arbeitszimmer eine Weile in einer anderen Zeit, als Südstaatengeneral. Um mit ihm zu kommunizieren, müssen die Gäste Rollen in seiner persönlichen Geschichts- und Gegenwartsdarstellung annehmen. Damit öffnet sich mit der Tür zum Arbeitszimmer ganz buchstäblich eine Tür zu einer anderen Zeit. Somit stehen nicht nur die Motive (wie der Fisch und der Kaffee) und die Zeitebenen in Nachbarschaft zueinander: Sie berühren und überschneiden sich in undefinierten Grenzbereichen, in denen die Gegenwart und die Bedeutung mindestens zweideutig werden, so auch die Figuren – insbesondere der Mörder wird verdächtigt, Tür an Tür mit seinem Opfer zu leben. Es ist Lauras Vater, Leland Palmer (Ray Wise), der sich später als vom Bösen besessener Mörder entpuppt, der den mordverdächtigen »BOB« als Nachbarn seiner Großeltern identifiziert, den er schon als Kind unheimlich fand. Die Aufklärung des Mordes in der Mitte der zweiten Staffel widerspricht allerdings gerade dieser skizzierten filmischen Logik, die auf

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Wiederholung in Abwandlung anstatt auf Identität, auf vielfältige Verwobenheit anstatt auf ein lineares Narrativ oder zentrale Anordnung setzt. Das Zusammenfallen der Inkarnation des Bösen, »BOB« (Frank Silva), mit Leland, dem Vater der Ermordeten selbst, der seinerseits ein von »BOB« besessenes Opfer ist, zentriert das Gewebe von TWIN PEAKS um eine Erklärung der seltsamen Vorgänge und eine Lösung des Kriminalfalls. Dass diese Entscheidung vielmehr ökonomischer als künstlerischer Natur war und eine Reaktion auf den Druck ist, den der Sender ausgeübt hat, ist in Kommentaren von David Lynch zu den Herstellungsbedingungen der zweiten Staffel dokumentiert. David Lynch und Mark Frost haben das Drehbuch hierfür nicht ausschließlich selbst geschrieben und auch andere Regisseure und Regisseurinnen sind an der Inszenierung beteiligt. Das Kompositionsprinzip der Serie scheint dabei so eingängig zu sein, dass es sich in beliebigen Reihen fortsetzen lässt. Georg Seeßlen hat die zweite Staffel in einem Text aus den 2000er-Jahren, der den geradezu prognostischen Titel »Point of (no) return« trägt, auch als »Dokumente des angewandten Lynchismus« bezeichnet13. Allerdings übersieht diese Deutung, die aus einer Zeit vor der Rückkehr nach Twin Peaks stammt, dass es sich beim Formprinzip von Lynchs Serie gerade nicht um eine applizierbare Methodik handelt. Die Wiederholung in TWIN PEAKS lebt von ihren unerwarteten Variationen, nicht von der Reproduktion einer lehr- und lernbaren Technik. David Lynch kommentiert die inkonsequente Entwicklung der Serie pragmatisch nur wie folgt: »Mark Frost und ich wollten den Mord an Laura Palmer nie aufklären. Im zweiten Jahr kam ich wieder dazu und machte hier und da etwas an der Serie, aber eigentlich war ich aus dem Projekt ausgestiegen, weil man nicht alles machen kann.«14

Die Aufklärung des Mordes folgt exemplarischen Modellen, die das Publikum auf dem Fernsehmarkt erwarten kann, weil sie – beispielsweise – auch in Hollywood Konvention sind. Dazu gehört die Struktur der Hel13 Der Text ist in einem Band erschienen, der erstmals 2002 publiziert wurde: G. Seeßlen: »Point of (No) Return: Twin Peak«, in: ders., David Lynch und seine Filme (2007), S. 112-121, hier S. 113. 14 Rodley, Chris (Hg.): Lynch über Lynch, übers. v. Marion Kagerer u. Daniel Bickermann, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2006, S. 41.

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denreise, die irgendwann nach vielen Prüfungen ein positives Ende findet. Dass TWIN PEAKS für eine solche Umstrukturierung potentiell offen ist, aber ihr nicht entspricht, bestätigt die Beobachtung, die Werner Spies zu David Lynchs Umgang mit Hollywood formuliert hat. Lynchs Spielfilme »jonglier[t]en mit dem mitreißenden großen Orchester der hollywoodschen Produktion und unterminier[t]en jeweils die Illusion, wenn sie ihre Klimax erreicht hat, mit den Mitteln von Experimentalfilm.«15 Was für die Spielfilme von Lynch gilt und in ihnen gelungen ist, kommt in der Serie, die sich – wenn zunächst auch unbeabsichtigt – an ein breites Fernsehpublikum richtet, noch viel stärker und auf problematische Weise zum Tragen. Die Jonglage mit der publikumsorientierten Präsentation wird in dem Moment zum Problem, in dem sich weitere AutorInnen und RegisseurInnen mit einem konventionelleren Verständnis des Plottens in das Darstellungsprinzip einschalten. In diesen Momenten kollabiert die diffizile Anordnung zeitweise in eine narrative Linearität. Vor allem die Lösung des Falls bleibt ein Fremdkörper in der Serie, die damit zum Inzestdrama wird. Allerdings ist sie es nicht in erster Linie, sondern sie ist auch ein Inzestdrama. Dass es durch die Produktionsbedingungen – und damit durch die Lösung des Falls – explizit zu einem solchen wurde, sagt mehr aus über eine dominante Erzähltradition made in Hollywood als über TWIN PEAKS. David Lynchs TWIN PEAKS: THE RETURN ist ein Umschreiben der eigenen Geschichte, die zu etwas zurückkehrt, was bereits in ihr angelegt, aber bislang nicht entfaltet war. Das zentrale Erbe für den amerikanischen Film – und auch für David Lynch persönlich – ist das klassische Hollywoodkino. THE WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming), oder auch THE RED SHOES (USA 1948, R: Michael Powell, Emeric Pressburger) sind erklärtermaßen Lieblingsfilme des Regisseurs. Aus SUNSET BOULEVARD (USA 1950, R: Billy Wilder) hat Lynch den Namen seiner eigenen Rolle in TWIN PEAKS, Gordon Cole, entlehnt16. Allerdings ist das Verhältnis – wenig überraschend – nicht spannungsfrei. 1997 15 Spies, Werner: Dark Splendor/Dunkler Glanz. David Lynch der Maler, Berlin: Berlin University Press 2013, S. 10. 16 Die Selbstreflexivität wird in THE RETURN noch auf die Spitze getrieben, indem sich Gordon Cole eine Szene aus SUNSET BOULEVARD im Fernsehen ansieht. Für diesen Hinweis danke ich Philipp Schlögl.

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formuliert David Lynch mit Blick auf Hollywood für seine eigene Arbeit: »Wenn ich mit einem Studio zusammenarbeite, bedeutet das, dass ich Kompromisse eingehen muss. Aber mit Kompromissen kenne ich mich nicht so gut aus.«17 Lynchs Filmographie seit den frühen 90er-Jahren lässt sich auch als Dokument dieser Probleme mit der etablierten Film- und Fernsehbranche und zugleich als Arbeit an einer möglichen Richtigstellung des Narrativs von TWIN PEAKS deuten. Die implizite Arbeit an der Rückkehr beginnt mit der letzten Episode der zweiten Staffel, bei der David Lynch wieder selbst Regie geführt hat und die abermals verstörendes Ende und Eröffnung zugleich ist: Dale Cooper wird Opfer des Bösen und ist nun besessen von »BOB«. Das eröffnet eine neue Runde im Kampf gegen das Böse: Wird »BOB« in einem einzelnen Menschen erkannt und vernichtet, sucht er sich parasitär und potentiell beliebig oft einen neuen Wirt. Damit legt Lynch einen Grundstein für THE RETURN. Deren zentrales Axiom ist erstaunlicherweise nicht der erwartbare Kampf des Guten gegen das Böse in einer Figur, sondern die Existenz von (mindestens) zwei CooperFiguren. Bereits der von Lynch 1992 veröffentlichte Prequel-Film TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME kann als Wiederaufnahme eines durch den großen Erfolg aus dem Blick der ZuschauerInnen geratenen Erzählprinzips von TWIN PEAKS gedeutet werden. Die Erwartungshaltung an den Film war, dass er Licht auf die letzte Woche im Leben von Laura Palmer werfen würde. Tatsächlich lässt er alles Wesentliche im Dunklen, wird dafür in Cannes, wo Lynch erst zwei Jahre zuvor mit WILD AT HEART (USA 1990) den Hauptpreis gewonnen hatte, ausgebuht und zum finanziellen Misserfolg. MULHOLLAND DRIVE (USA/F 2001, R: David Lynch) aus dem Jahr 2001 ist zehn Jahre nach TWIN PEAKS als erneuter Versuch eines Serienstarts entstanden, wurde als Pilot jedoch vom Fernsehsender ABC abgelehnt und kam dann als erweiterte Version ins Kino, wo er wiederum als künstlerischer Triumph von der Kritik gefeiert wurde. Der namensgebende ›Mulholland Drive‹ ist in der Nachbarschaft von Lynchs eigenem Haus in Hollywood gelegen18. Vom Mulholland Drive aus hat 17 Donlon, Helen (Hg.): David Lynch – Talking, übers. v. Madeleine Lampe, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2008, S. 88. 18 Vgl. C. Rodley (Hg.): Lynch über Lynch, S. 359.

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man, wie Lynch beschreibt, Ausblick auf Hollywood. Die Auseinandersetzung mit den Produktionsbedingungen vor Ort, die den Film als Pilot einer Fernsehserie nach Lynchs Beschreibungen mit der Vorgabe massiver Kürzungen und der Freigabe von Requisiten und Szenenbild vor dem Nachdreh beinahe zugrunde gerichtet hätten, ist deutlich. Als explizite und prominente Ausstellung der Konflikte im Arbeitsprozess firmiert ein Gespräch, in dem die Produzenten der Figur des Regisseurs Adam Kesher (Justin Theroux) eine Hauptdarstellerin diktieren, obwohl er schon eine andere, passendere Schauspielerin für die Rolle gefunden hat. Dem mafiösen Produzenten (gespielt von Angelo Badalamenti, dem Komponisten der Twin Peaks-Titelmelodie) wird ein kleiner, eigens zubereiteter Espresso serviert. Unter den erwartungsvollen Blicken aller Anwesenden spuckt er bereits den ersten Schluck extrem angewidert in eine Stoffserviette. Im Kontext von Twin Peaks gewinnt die Szene noch an symbolischer Bedeutung: Coffee, das ist das Lebenselixier von Dale Cooper, das er sich im Diner als Refill ausschenken lässt oder das er in The Return, als Figur des Dougie noch nicht wieder zu seiner Identität als Cooper zurückgekehrt, aus großen Coffee-to-go-Bechern schlürft. Symbole, Figurennamen und Schauspieler bilden nicht nur innerhalb einer einzelnen Arbeit Übergänge zwischen fremden Kontexten, sondern vermitteln und verweben auch das Gesamtwerk von David Lynch. Dieses Kompositionsprinzip richtet sich dabei aber, und das wird in der neuen Limited Event-Serie deutlich, gegen die Rezeptionsgewohnheiten der ZuseherInnen, die von einem narrativen Kino – oder auch: der Serienrezeption wie sie beispielsweise HOUSE OF CARDS (USA 20132018, Netflix) nahelegt – trainiert sind. Die Erwartung richtet sich auf ein Kompositionsprinzip, in dem alle Einzelteile verständlich sind oder zumindest enträtselbar bleiben, selbst wenn sie nicht unbedingt eine finale, sondern nur episodische Lösungen erfahren. Das Gegenteil ist in TWIN PEAKS: THE RETURN der Fall: Alle Motive und Szenen wie auch die verdichteten Dialoge fordern ihr eigenes Recht. Das heißt, sie sind nicht nur lediglich aus dynamischen Kontexten nachzuvollziehen, sondern sie haben jeweils gleichberechtigt das Potential, die Kontexte und damit die ganze Geschichte der Serie neu zu organisieren.

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Die erste Katastrophe, von der die ZuschauerInnen erfahren, ist der Mord an Laura Palmer. Sie ist verbunden mit einer zweiten Katastrophe, nämlich der sukzessive aufgeklärten Täterrolle des Vaters. Diese Katastrophe trifft das amerikanische Herzstück der Kernfamilie, das selbst zum unentrinnbaren Horrorszenario wird. Anders also, als es in großen Hollywood-Katastrophenfilmen, wie beispielsweise denjenigen von Roland Emmerich der Fall ist, bricht die Katastrophe nicht von außen ein, sondern ist latent immer schon gegenwärtig. In Hollywood wird bei Meteoriteneinschlägen und Eiszeiten die ganze Welt in einem entscheidenden Moment vernichtet. Eine Mehrheit von Plots ist allerdings darauf angelegt, gerade wider alle Prognosen das Überleben einer ganz besonderen Kernfamilie nachzuvollziehen19. Zwar gibt es leichte Modifikationen, wie zum Beispiel in DEEP IMPACT (USA 1998, R: Mimi Leder): Hier wird die neue Kernfamilie aus einem Jungen, einem Mädchen und dessen kleiner Schwester im Säuglingsalter aus der Not neu formiert. Als Zuspitzung könnte man auch die älteren, menschengemachten Apokalypsen von FAIL-SAFE (USA 1964, R: Sidney Lumet) oder DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (UK/USA 1964, R: Stanley Kubrick) betrachten: Es überlebt nicht einmal mehr die Kernfamilie bzw. muss die heile Kernfamilie geopfert werden, da schlicht die ganze (Lebens-)Welt an menschlicher Selbstüberschätzung zu Grunde geht. Weder den Spannungsaufbau noch die Festlegung der Katastrophe auf einen Ort und einen Zeitpunkt teilt TWIN PEAKS: THE RETURN mit diesen Hollywood-Katastrophen. Die Katastrophe ist in TWIN PEAKS nichts Äußerliches, das die funktionierende Lebenswelt treffen würde. Stattdessen tragen die Familienverhältnisse selbst gleichermaßen alle Zeichen des Katastrophischen und des Glücks, die sich abwechselnd und in unauflöslicher Verschränkung dem Blick der Zuschauerin darbieten. Der stets schon geschehene Einbruch des Bösen in die familiäre Geborgenheit lässt sich geradezu als Umkehrung des Hollywoodnarrativs begreifen: Das scheinbar Schützenswerte selbst ist 19 Vgl. zu den »Familienzusammenführungsromanzen« Hollywoods auch Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, hier S. 195.

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der Ort, an und in dem sich die Katastrophen abspielen. Die Umkehrung von und Kritik an Hollywood besteht dabei aber gerade nicht in der Negation der Geborgenheit, sondern in der Aufhebung der Idee einer geborgenen modernen Lebenswelt, die man bloß schützen müsste. Dafür gibt die Infiltration des familiären Nukleus durch das Böse ein besonders geeignetes Beispiel. Dass die Katastrophe unentrinnbarer Teil der Welt von TWIN PEAKS ist, wird spätestens in Folge 8 von THE RETURN anschaulich. Hier zeigt sich ein möglicher Ursprung des Bösen, der sich rückblickend in die Tradition nuklearer Katastrophenszenarien einschreibt. Die Explosion der Atombombe ist in der Erzählung von TWIN PEAKS nicht zu verhindern, sie gewinnt vielmehr nachträglich konstitutiven Charakter, der aber erst in THE RETURN nachvollziehbar wird: Die Katastrophe hat in der Testexplosion von 1945, die die USA in New Mexico durchgeführt haben, bereits lange Zeit stattgefunden. Folge 8 setzt TWIN PEAKS dabei gleichermaßen in Bezug zu anderen fiktionalen Szenarien wie auch – mit der eingeblendeten Datierung (»JULY 16, 1945«) – zur realen Geschichte. Neu ist auch die Perspektive auf die Katastrophe: Die Explosion wird zunächst aus der Entfernung, dann aber mit der eindringlichen Musik von Krzysztof Pendereckis Threnody to the Victims of Hiroshima (1960) auch von innen gezeigt. Man befindet sich geradezu inmitten der Atomexplosion. Sie ist, wie sich herausstellt, der Ursprung von BOB, dessen Gesicht sich in einer Wolke aus der Explosion löst. Angesichts der Uneindeutigkeit, in der THE RETURN verbleibt, lässt sich selbst die Atomexplosion nicht als einzige Ursache des Bösen betrachten, sondern abermals nur als symbolische Illustration: Sie sei da »[p]our faire un trou«, verrät David Lynch in einem Interview mit den Cahiers du cinéma20. Sie ist Inbegriff einer symbolischen modernen Kernspaltung, also der grundsätzlich problematischen Struktur von Entzweiung und Polarität, sei es in der Form von Gut und Böse, Innen und Außen, Frau und Mann oder auch der inneren, schizophrenen Entfremdung von sich selbst. Mit dem modernen Problem, das Gleichgewicht zwischen den Polen wiederherzustellen, ist Cooper ohne Unterlass beschäftigt. Bis in die 17. (vorletzte) Folge hinein muss er in der Hülle von Dougie damit kämpfen, mit sich selbst – einer Art Körper-Maschine, die ›manufactured‹ wurde – 20 N.N.: »Mystery Man. Entretien avec David Lynch«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 8-18, hier S. 18.

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zusammenzufallen. An fremden kosmischen Orten (im »Non-Existent«, wie der Doppelgänger von »The Arm« in der Black Lodge kreischt, bevor sich der schwarz-weiße Fischgratboden öffnet und Cooper ins All gezogen wird), bekommt Cooper sachdienliche Hinweis: »When you get there, you will already be there.« Das stimmt doppelt: Mr. C, die von Bob besessene Cooper-Figur ist bereits genauso in der Welt wie Dougie, der Cooper zwar gleicht, aber nur in der Welt ist, um Coopers Rückkehr zu blockieren. Die Trennung, die Cooper von sich selbst erfährt, ist somit vielfältig, lässt sich weder in einer einzelnen Synthese auflösen noch in einer binären Opposition darstellen. Sie steht als modernes Erbe im Raum. Abermals illustriert wird die Ambivalenz von heilem und in seiner Teilbarkeit Unheil bringenden Nukleus in einer anderen Sequenz aus Folge 8: In einem Film noir-Setting aufgenommen, sieht man die Verabschiedung eines jungen Paares im Jahr 1956. Es kommt zu einem verstohlenen Abschiedskuss an der Haustür des Mädchens. Sie geht hinein und hört in ihrem Zimmer Radio. Gleichzeitig zerquetscht an einem anderen Ort eine düster verwahrloste männliche Gestalt dem Mitarbeiter einer Radiostation mit der Hand den Kopf und spricht dabei kryptische Verse ins Mikrofon, die alle ZuhörerInnen an den Radios einschlafen lässt. So im Schlaf schlüpft dem Mädchen eine amphibienhafte Kreatur in den Mund. Das kleine Monster ist zuvor aus dem mexikanischen Sand gekrochen; es liegt nahe, dass es ebenfalls ein Produkt der Atomexplosion ist, angezogen von der Liebe des jungen Paares, also abermals der Sehnsucht nach Synthese. Im Begehren, die Trennung zu überwinden, schlägt nicht nur das Glück, sondern auch das Böse seine Wurzeln. Es ist die Spannung, die ›electricity‹, die sich zwischen den Polen bildet, die nicht nur die symbiotische Vereinigung der Pole in Aussicht stellt, sondern alle möglichen Zu- und Übergänge in Gegenwelten öffnet, durch die auch das Böse hereinschlüpft. So wenig sich eine heile Welt gegen das Böse immunisieren und verschließen könnte, so wenig lässt sich das diffuse Böse abkapseln. Bebildert wird das bereits in der ersten Folge der neuen Staffel: Im Inneren eines nahezu fensterlosen New Yorker Hochhauses ist eine Art faradayscher Käfig mit einer einzigen Öffnung nach außen aufgebaut, umzingelt

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von Kameras21. In dem fabrikhallenartigen Raum sitzt ein junger Mann, der den Kubus überwacht, aber niemandem von seinen Beobachtungen berichten darf, auch nicht seiner Freundin, die ihn mit Kaffee besucht. Als der Security-Mitarbeiter vor der Tür an einem Abend nicht auf seinem Platz ist, kann der junge Mann seine Freundin mit in den Raum nehmen. Das Paar zieht sich aus und ist dabei, vor dem Kubus Sex zu haben, als der Glaskasten sich verdunkelt und die beiden nur noch sehen, wie sich aus einer dunklen Wolke eine menschenähnliche Gestalt formiert. Sie zersprengt den Kubus, der nicht in der Lage ist, die Energien abzuleiten, die er anzieht, und zerfetzt die beiden. Neben dem Motiv jugendlicher Liebe, die das Böse anzieht und ihm Zugang zur Welt verschafft, ist – ganz ähnlich wie im Familienszenario um die hergestellte Figur des Dougie – die Leerstelle auffällig, die die Konstellationen aufweisen: Der reiche New Yorker, der sich Turm und Kubus zur Überwachung leistet, ist abwesend. Man kennt weder seinen Namen noch seine Intention. Er bietet nur eine Struktur an, die sich als unzureichend erweist: Der Käfig ist zu instabil, um das Böse zu bändigen. Abwesend ist auch das Familienoberhaupt Dougie, der zwar eine familiäre Struktur zusammenzuhalten scheint, dem aber sowohl die Prostituierte Jade als auch seine Frau Janey-E (Naomi Watts) aufgrund hoffnungsloser Verlorenheit in der Welt jeweils »two rides« geben müssen. Abwesende Patriarchen stellen die Öffnungen zu einer Gegenwelt her: Für einen Moment schwebt auch der gute Cooper unbeobachtet in der New Yorker Glasbox, bevor er ins »Non-Existent« zurückkatapultiert wird und ihm in einem zweiten Anlauf nur der Weg durch Dougie in die Welt bleibt. Dougie, der orientierungslose Familienvater, wird durch einen elektrischen Schock und nach einem Koma zum guten alten Cooper, der sofort (endlich!) zur Rettung der Welt, das heißt zur Vernichtung des Bösen, schreiten will: Als Inkorporation institutionellen Heils (»I am the FBI«, sagt Cooper, kurz nachdem er zu sich gekommen ist) muss er Frau und Kind zurücklassen. Damit versagt er als Familienvater ein weiteres Mal. Obwohl er mit der Hilfe von Freddie (Jake Wardle), einem jungen Mann mit angewachsenen Wunderhandschuh, »BOB« in Form einer Blase zerschmettern kann, gelingt es ihm wiederum nicht, Laura Palmer als Laura 21 Vgl. Tessé, Jean-Philippe: »Électricité«, in: Cahiers du cinéma 735 (2017), S. 26-27.

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Palmer zu retten – und damit den Mord des Vaters Leland Palmer an seiner eigenen Tochter rückgängig zu machen. TWIN PEAKS führt so den Verlust einer modernen Lebenswelt vor, die sich auch in Narrativen bespiegelt und bestätigt, welche unter dem Begriff ›Hollywood‹22 versammelt werden können – sei es in Form von Heldenreisen oder Überlebensgeschichten einer idealtypischen Kernfamilie. TWIN PEAKS bietet im Verhältnis dazu keine alternative Erzählung, sondern eine alternative Erzählform an, die auf mögliche Traumata der Moderne eingeht und sie als untrennbar mit Glücks- und Erfüllungsmomenten verwobenes Erbe akzeptiert. David Lynchs Arbeit ist damit kein dialektischer Gegenpol zu einer Stilrichtung ›Hollywood‹, sondern als Arbeit an der Gegenwart der Versuch einer Transformation des Erbes Hollywoods, das ein modernes Erbe ist. TWIN PEAKS wird damit auch zum Doppel- und Wiedergänger Hollywoods: Die »hollys«, also die für Hollywood namensgebenden Stechpalmen, werden in TWIN PEAKS ersetzt durch »douglas firs«. Der Nadelbaum ist ein Doppelgänger, der sich nicht sofort als solcher identifizieren lässt, wie Dougie ein Doppelgänger von Cooper ist. Erst durch den punktuellen, symbolischen Zusammenfall – Dougie wird wieder zu Cooper – kann man für einen Moment erahnen, was auch für Hollywood und TWIN PEAKS gilt: TWIN PEAKS muss punktuell mit Hollywood zusammenfallen, um überhaupt in die Welt zu kommen, ohne dass sich beide miteinander identifizieren lassen oder dialektisch ineinander umschlagen könnten. Die neue Staffel von TWIN PEAKS zelebriert die Dezentrierung, indem die Schauplätze nahezu willkürlich über die ganzen USA verstreut werden. TWIN PEAKS wird auch nicht mehr vor dem Kamin des 20. Jahrhunderts, also mit versammelter Familie oder mit Kollegen vor dem Fernseher, und noch nicht im Kino, sondern individuellen Sehgewohnheiten entsprechend jederzeit und überall verfügbar über das Internet gestreamt. Die Optik hat sich gewandelt hin zu klaren, hochauflösenden Digitalbildern 22 Dabei steht nicht die dichotome Trennung von ›Hollywood‹ und allen anderen filmischen Arbeiten als Kritik, Deviation o.ä. im Vordergrund, im Gegenteil: Es geht bei Lynch um eine Aneignung von Elementen, die dem Hollywoodkino zugeschrieben werden, und um ihre Überführung in eine neue Filmsprache. Vgl. zur Problematisierung von ›Hollywood‹: Seel, Martin: »Hollywood« ignorieren. Vom Kino, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017.

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mit kalten Farben, und die Serie ist durchsetzt von aufwändigen Special Effects23. Der Übergang ins 21. Jahrhundert ist gelungen, auch wenn man meinen könnte, dass die Digitalisierung dem TWIN PEAKS der 1990erJahre ewig fremd bleiben müsste. Das Gegenteil ist der Fall, und in diesem Übergang liegt ein wesentlicher Reiz der neuen Folgen: Fast organisch wächst der Computerbildschirm aus dem holzgezimmerten Schreibtisch der Sheriff Station von Twin Peaks. Und trotzdem bleibt die Rückkehr nach Twin Peaks eine Enttäuschung: In die moderne Lebenswelt, deren Nostalgie in den Folgen der 90er-Jahre noch gefeiert werden konnte, gibt es keine Rückkehr. Der Held der Serie muss an der Vielfalt seiner Aufgaben scheitern. Sein Perfektionismus, also sein Wunsch, überhaupt heldenhaft zu handeln, konfrontiert ihn am Ende mit der Realität. Die Rückkehr nach Twin Peaks ist mindestens eine doppelte, nämlich eine geglückte (in Folge 17, in der »BOB« endgültig zerstört wird) und eine gescheiterte (in Folge 18, in der auch alles geschehene Leid rückgängig gemacht werden soll). Cooper, der sich darin versucht, die Geschichte zu verändern und damit den Mord an Laura Palmer in der Vergangenheit zu verhindern, sieht sich in der Gegenwart mit einer alternativen Identität von Laura Palmer als Carrie Page konfrontiert. Und auch die Realität von Twin Peaks ist eine andere, seit Laura nicht in ihr aufgewachsen ist: Den Ort, den die ZuseherInnen kennen und lieben gelernt haben, gibt es nicht. Cooper und Carrie Page alias Laura Palmer läuten an einer Tür, die eine Frau namens Alice Tremond (Mary Reber) öffnet und die sich nicht an frühere Besitzer mit dem Namen Palmer erinnert. Sie wird gespielt von der wirklichen Besitzerin des Hauses (und trägt zudem den Namen einer anderen Figur aus den ersten beiden Staffeln, eine alte Dame, der Laura Palmer Essen über Meals on wheels gebracht hat)24. Nur die Stimme von Lauras Mutter, die nach ihrer Tochter ruft, erinnert an die andere Welt in derselben und bringt Carrie Page zum Schreien. Der Preis für das scheinbare Rückgän23 Mit dem Hersteller der Special Effects Pierre Buffin ist abermals Hollywood in TWIN PEAKS präsent: Vgl. das Interview mit Buffin, der mit seiner Firma BUF u.a. für die Effekte in MATRIX oder BATMAN BEGINS zuständig war: N.N.: »Primitif. Entretien avec Pierre Buffin, créateur des effets spéciaux«, in: Cahiers du cinéma 737 (2017), S. 22-23. 24 Vgl. N.N.: »Générique«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 36.

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gig- und Wiedergutmachen der Vergangenheit überführt in eine andere Welt, in der Leid und Glück sich nur anders und auf andere Personen verteilen. Die Frage nach der Gegenwart ist die finale Frage von Cooper. In ihrer Akzeptanz liegt die Enttäuschung, aber auch der kraftvolle Realismus von TWIN PEAKS. TWIN PEAKS ist ein Film für die Gegenwart, wie David Lynch unumwunden zugibt: »[N]ous sommes devant la maison des Palmer.«25

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Delorme, Stéphane: »Mystère«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017). Donlon, Helen (Hg.): David Lynch – Talking, übers. v. Madeleine Lampe, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2008. Frost, Mark: The Secret History of Twin Peaks, New York: Flatiron Books 2016. Frost, Mark: Twin Peaks: The Final Dossier, New York: Flatiron Books 2017. Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014. Lynch, David: Catching the big fish. Meditation, Consciousness, and Creativity, New York/London: Jeremy P. Tarcher/Penguin 2008. Lynch, Jennifer: The Secret Diary of Laura Palmer, London: Simon & Schuster UK Ltd. 2012. Neuroth, Kevin: »Surreale Seifenoper. Abtauchen in eine irrwitzige Welt aus Kitsch, Horror, Nostalgie und Verstörung. Warum ich einmal im Jahr Twin Peaks schaue«, in: Die Zeit vom 19.05.2018, http://www.zeit.de/kultur/film/2017-05/twin-peaks-david-lynch-serie N.N.: »Générique«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017). N.N.: »Mystery Man. Entretien avec David Lynch«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017).

25 N.N.: »Mystery Man. Entretien avec David Lynch«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017), S. 8-18, hier S. 10.

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N.N.: »Primitif. Entretien avec Pierre Buffin, créateur des effets spéciaux«, in: Cahiers du cinéma 737 (2017). N.N.: »Top Ten de la Rédaction«, in: Cahiers du cinéma 739 (2017). Rodley, Chris (Hg.): Lynch über Lynch, übers. v. Marion Kagerer u. Daniel Bickermann, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2006. Seel, Martin: »Hollywood« ignorieren. Vom Kino, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017. Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme. 6. Aufl., Marburg: Schüren 2007. Seeßlen, Georg: »Point of (No) Return: Twin Peak« in: ders.: David Lynch und seine Filme. 6. Aufl., Marburg: Schüren 2007, S. 112-121. Spies, Werner: Dark Splendor/Dunkler Glanz. David Lynch der Maler, Berlin: Berlin University Press 2013. Tessé, Jean-Philippe: »Électricité«, in: Cahiers du cinéma 735 (2017).

F ILME DEEP IMPACT (USA 1998, R: Mimi Leder) DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (UK/USA 1964, R: Stanley Kubrick) FAIL-SAFE (USA 1964, R: Sidney Lumet) HOUSE OF CARDS (USA 2013-2018, Netflix) MULHOLLAND DRIVE (USA/F 2001, R: David Lynch) THE RED SHOES (USA 1948, R: Michael Powell, Emeric Pressburger) THE WIZARD OF OZ (USA 1939. R: Victor Fleming) TWIN PEAKS (USA 1990-1991, ABC) TWIN PEAKS: THE RETURN (USA 2017, Showtime) TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME (F/USA 1992, R: David Lynch) SUNSET BOULEVARD (USA 1950, R: Billy Wilder) WILD AT HEART (USA 1990, R: David Lynch)

Hollywoods Nebeneffekt Der afrikanische Film MICHAELA OTT

Da die hiesige Untersuchung sich an die gewagte Aufgabe macht, den jüngeren Spielfilm aus Afrika pointiert als ›Nebeneffekt‹ des Hollywoodkinos zu untersuchen, ergeben sich umgehend mindestens zwei erkenntnistheoretische Probleme: zum einen, welche Kennzeichen überhaupt als typisch für das Hollywoodkino, zum zweiten, welche Filme als repräsentativ für das ›afrikanische‹ Kino zu betrachten sind. Noch vor der Problematisierung dieser groben Zuschreibungen gilt es erst einmal festzuhalten, dass die Bezugnahme auf den Hollywoodfilm im Kinogeschehen des afrikanischen Kontinents jüngeren Datums ist, da sich der Spielfilm in afrikanischen und vor allem westafrikanischen Ländern zunächst in Anlehnung an europäisch-koloniale Kinematografien, vor allem die französische Nouvelle Vague etabliert. Da zu Frankreichs kulturellem Selbstverständnis, früher und entschiedener als in anderen europäischen Ländern, das Kino gehört, tendieren Künstler*innen aus den französischen Kolonien – eindeutiger als aus anderen – zu dieser symbolischen Ausdrucksform. Anspielungen auf den Hollywoodfilm dagegen erfolgen, soweit sich beobachten lässt, erst ab den 1990er Jahren, dann auch in Produktionen englischsprachiger Länder Afrikas, was wiederum nicht bedeutet, dass dann vorwiegend auf zeitgleiche Produktionen des Hollywoodkinos Bezug genommen wird. Ein Ungleichgewicht in der Relationierung der beiden Kinematografien ergibt sich bereits daraus, dass die finanzkräftige und global-offensive

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Produktion des US-Standorts mit wenigen ausgesuchten, vergleichsweise unterfinanzierten Produktionen aus verschiedenen afrikanischen Ländern ins Verhältnis gesetzt wird, welche zudem nur an ausgewählten Orten, etwa bei den Filmfestivals von Ouagadougou (Burkina Faso) oder Carthage (Tunesien), zu sehen sind. Nach dem afrikanischen Film muss frau suchen, während der Hollywoodfilm, mehr als möglicherweise gewünscht, sich auf allen medialen Kanälen in die Wahrnehmung drängt. Um dennoch ein Schlaglicht auf die beobachtete Fernwirkung des Hollywoodfilms auf afrikanische Filme zu werfen, kann ersterer nur in seinen besonders charakteristischen Zügen, das afrikanische Kino wiederum nur in einzelnen aussagekräftigen Versionen, die Anspielungen auf oder Anlehnungen an das Hollywoodkino aufweisen, betrachtet werden. Manche von ihnen setzen sich explizit mit der Hollywood-Dramaturgie auseinander bzw. setzen sich ausdrücklich von ihr ab. Andere übertragen GenreStereotype, etwa Western- oder Actionfilm-Szenarien humorvoll bis kritisch in den afrikanischen Raum. Wieder andere spielen auf HollywoodStars oder bekannte Sciencefiction-Settings an und verleihen sich darüber selbst Status und Erkennbarkeit. Noch einmal andere kritisieren die kulthafte Verehrung afrikanischer Kinofans für US-Action-Movies und deren Geringschätzung einer experimentellen, ›afrikanischen‹ Ausdrucksform. Und nicht zuletzt schreiben neuere Filme das Blaxploitation-Format im afrikanischen Film weiter und legen eine Genealogie Schwarzer Heldinnen an. Im Sinne solch humorvoller, kritischer bis parodistischer Auseinanderund Absetzungen mit dem/vom Hollywoodfilm beziehen sich die hier ausgewählten Filme vorzugsweise auf Merkmale des ›klassischen‹ Hollywoodkinos, d.h. auf Western, Action-Movies und den SciencefictionFilm. Hollywood-Auteur-Filme, die sich nicht deren Handlungsmustern, audiovisuellen Stereotypen und Settings beugen und, wie etwa New Hollywood, eher im urbanen Milieu angesiedelt sind, kommen hier als Referenzgrößen nicht in Betracht. Wie ersichtlich steht damit nicht die gesamte Spannweite des Hollywoodkinos zwischen anspruchsvollem Autorenfilm und marktorientierter Blockbusterproduktion zur Diskussion. Auch die zeitgenössischen Tendenzen des Hollywoodkinos, sich über narrative Reprisen, über Serialisierungen und Adaptionen benachbarter Filmsprachen wie etwa des Bollywoodkinos am Leben zu erhalten, sind hier nicht von

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Belang, da sie schon aus finanziellen Gründen im afrikanischen Film keine Verlängerung finden. Nicht auch wird das Bestreben des Hollywoodkinos, phantasmatisch Weltgesellschaften oder gar Universen zu entwerfen und darin Afrika einen Platz zuzuweisen, wie jüngst in dem Blockbuster BLACK PANTHER (USA 2018, R: Ryan Coogler), Gegenstand der Diskussion.1 Allerdings findet die wachsende Entspezifizierung der HollywoodÄsthetik, ihre Tendenz zum Genre-Mix, gegen Ende Erwähnung, da sie mit aktuellen Produktionen aus Afrika zu konvergieren scheint. Unter den afrikanischen Filmen kommen nur jene in Betracht, die auf wiedererkennbare Züge des Hollywoodfilms Bezug nehmen, und sei es in der Weise der Distanzierung oder Parodie. Da mein Ausgangspunkt beim afrikanischen Film liegt, wird der Umgang mit dem Hollywoodfilm aus den Filmen selbst deduziert, immer entlang der Frage, welche Charakteristika des Hollywoodkinos sich als bedeutsam für den jeweiligen Film und seine Positionierung im afrikanischen Kontext erweisen, welche Anlass zu innerfilmischen Auseinandersetzungen oder zu formalen Abgrenzungen geben. Einen Nachteil dieser Fokussierung mag man darin erblicken, dass damit bestimmte westafrikanische Spielfilme, die sich dezidiert um eine eigene Filmsprache bemühen, wie etwa Souleymane Cissés eigenwilliger Spielfilm YELEEN (1987) aus Mali oder Diop Mambétys Experimentalfilm TOUKI BOUKI (1973) aus Senegal, gerade ob ihrer Spezifik und ihrer gewollt afrikanischen Artikulation, hier nicht aufgenommen werden und mithin erneut keine Würdigung erfahren. Notwendig im Rahmen der hiesigen symptomatischen Lektüre, die die allgemeine Verwiesenheit des afrikanischen Spielfilms auf westlich/ nördliche Ausdrucksstandards und -formate, Finanzierungsmöglichkeiten und Distributionskanäle mitthematisiert, ist die raumzeitliche Kontextualisierung dieser »Extraversion«2, dieser als unumgänglich wahrgenommenen

1

Ich selbst habe ein Phantasma der US-Gesellschaft aus Hollywoodfilmen der 1990er Jahre herausgelesen, siehe: Ott, Michaela: u.a. Hollywood. Phantasma/Symbolische Ordnung in Zeiten des Blockbuster-Films, München: edition text+kritik 1998.

2

Terminus von Paulin J. Hountjoundji: vgl. ders.: The Struggle for Meaning, Reflections on Philosophy, Culture, and Democracy in Africa, Athens: Ohio Univ. Center 2002.

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und häufig kritisierten Orientierung afrikanischer Produktionen an westlich/nördlichen Ästhetikstandards. Nicht ausdrücklich herausgestellt werden muss, dass in der Extraversion heute ein Grundzug (post)kolonialer Bedingung erkannt wird, weshalb der afrikanische Film diese Abhängigkeit sowohl beklagt wie als Chance für sein Ausdrucksbegehren nutzt und mittlerweile seine eigene Ambivalenz mitreflektiert. Zumindest in ihren ästhetischen Zügen hat sich die Außenzuwendung historisch verändert, weshalb entlang dieser Veränderung eine kurze Genealogie des afrikanischen Films rekonstruiert werden kann. Denn die Bezugnahme des afrikanischen Films auf den Hollywoodfilm erfolgt, wie erwähnt, erst ab den 1990er Jahren und löst damit die vormalige Ausrichtung auf europäische Filmsprachen, u.a. bedingt durch die Ausbildungsstätten der Filmemacher, weitgehend ab. In einem ersten Kapitel soll daher das Vorspiel zur Hollywood-Orientierung skizziert werden: die Anlehnung an verschiedene Traditionen des europäischen Films. Mit den Export-Offensiven des Hollywoodkinos seit den 1970er Jahren, seiner Konzentration auf gewinnmaximierende Blockbuster-Produktionen und seinem Bestreben, kommerziell und phantasmatisch das weltweite Bewegtbildgeschehen zu beherrschen, kommt auch das afrikanische Kino nicht darum herum, sich von ihm audiovisuell oder narrativ angegangen und mithervorgebracht zu bekunden - und zu entscheiden, wie es sich zu dieser neokolonialen Supermacht verhalten will. Die filmischen Anspielungen auf Hollywood-Phantasmen erfolgen spät, zeitversetzt, zum Teil erst, nachdem die anzitierten Genres wie etwa der Western bereits in den Hintergrund getreten sind. Aus vermutlich soziologisch-medialen Gründen nicht rezipiert werden jüngere Hollywood-Filme, die sich vorzugsweise an ein jugendliches Publikum richten und der Familienunterhaltung dienen wie die Blockbusterproduktion von JAWS (USA 1975, R: Steven Spielberg) bis zur ewig fortlebenden STAR WARS-Serie (USA 1977-2017, R: Diverse). Einzig Jean-Pierre Bekolos ARISTOTLE´S PLOT (CMR 1995) spielt auf Steven Spielbergs E.T. (USA 1987) an; die zeitgenössischen TV-Serien aus den USA finden ein gewisses Echo in der von ihm im Kamerun realisierten, französisch finanzierten TV-Serie OUR WISHES (F/CMR 2018/19), die allerdings im Hinblick auf ihr historisches Narrativ und ihren Appell zu einer veränderten Begegnung mit dem ehemaligen (deutschen) Kolonisator von Hollywood-Vorlagen abweicht.

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Obwohl es problematisch ist, anhand nur weniger audiovisueller Statements allgemeinere Aussagen zu Anlehnungen afrikanischer Filme an westlich/nördliche Kinematografien zu treffen, lassen sich doch zeitbedingte Veränderungen in den filmischen Selbstverständnissen und unterschiedliche Außenzuwendungen erkennen: Die ersten Spielfilme der 1960er Jahre aus Senegal oder Algerien ziehen aus dem Transfer europäischer Filmsprachen nach Afrika Gewinn für (post)kolonial-kritische Narrative und den Befund andauernder ökonomisch-kultureller Überfremdung. Sie verstehen sich als kontrastbildende, medial und geographisch erweiternde Aneignungen europäischer Stil- und Textvorlagen und als deren ironische bis anklagende Umdeutungen. Trotz ihrer Anlehnungen an die Ästhetik der Nouvelle Vague und des europäischen Arthouse-Kinos exponieren sie innerdiegetisch oder formbezogen deren politisch-epistemische Gewalt. Ab den 1990er Jahren dagegen spielen die filmischen Produktionen aus Kamerun, Burkina Faso oder Südafrika vergleichsweise routiniert, beiläufig, melancholisch oder parodistisch auf hollywoodsche Dramaturgien, Genre-Stereotype oder Schauspieler-Imagos an. Anspruchsvolle Spielfilme kombinieren die produktions- und distributionstechnisch aufgenötigten Darstellungszwänge mit Anleihen bei Hollywood-Vorlagen und aktualisieren diese durch lokalkulturelle Problemstellungen, erweitern sie schließlich zu global gültigen Parabeln oder auch Afrika-kritischen Parodien. Die westlichen Ermöglichungsbedingungen audiovisuellen Erzählens werden hier bewusst ambivalent in Einsatz gebracht, da sie ja immerhin erlauben, Bilder und Texte afrikanischer Personen hervor- und an anderen Orten in Umlauf zu bringen und die zunehmenden kulturellen Verflechtungen zu exponieren. Sie ermöglichen afrikanische Autokritik vorzutragen und die beobachtete Lethargie in Sachen filmästhetischer Innovation zu persiflieren. Im besten Fall entwickeln die Filmemacher hollywoodeske Sciencefiction-Settings, um darüber ein Bild afrikanischer Zukunft zu skizzieren. Der Schwenk weg vom europäischen Kino hin zum Hollywoodfilm erzählt noch einmal von dessen zunehmender Dominanz auf dem Weltmarkt, von globalen Distributionsstrategien und einem gezielten Publikums-Targeting, wozu TV-Präsenzen, DVD-Verkäufe und Release-Offensiven in Cinemaxx-Kinos weltweit gehören. Auf dem afrikanischen

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Kontinent, der vor allem aufgrund des DVD-Vertriebs ein dramatisches Kinosterben zu verzeichnen hat, allerdings auch Initiativen zur Wiederbelebung der (west)afrikanischen Kinematografie kennt, ist das Verhältnis zu Hollywood notgedrungen zwiegespalten, wie Bekolos ARISTOTLE‘S PLOT deutlich macht. Diese Zwiespältigkeit löst das noch einmal anders zwiespältige Verhältnis zu Europa ab. Vielleicht auch lässt sich die teils leidenschaftliche Zuwendung zu US-amerikanischen Action-Movies aus der vergleichsweise weniger belasteten historischen Beziehung zu den USA erklären. In den 2010er Jahren mehren sich kompositkulturelle Filme, wie ich sie nennen möchte, die ihre Extraversion sichtbar machen, schon mal einen deutschsprachigen Film anzitieren und ihr kulturelles Dazwischen mitexponieren. Angesiedelt in einem austauschbaren marginalisierten Großstadtmilieu, sei es in Algiers, Kampala, Nairobi oder Johannisburg, bieten die zeitgenössischen Spielfilme vorzugsweise Coming-of-Age-Geschichten und Narrative von Überlebenskämpfen Jugendlicher in einem nicht-mehr-kulturspezifischen Setting urbaner Realität. Der algerische Regisseur Merzak Allouache beklagt denn auch diese Entspezifizierung, die sowohl kulturell wie filmästhetisch zu beobachten sei. Themen und Form dieser Filme nähern sich lateinamerikanischen Großstadtspielfilmen an, konvergieren mit ihnen in unübersichtlichen Schilderungen jugendlicher Gewalt und von aus Wertschöpfungsketten ausgeschlossenen Existenzweisen, die Achille Mbembe unter eine »Schwarze Vernunft« subsumiert verstehen will. Zu diesen Überlebenskämpfen gehört auch jener des afrikanischen Kinos selbst. Denn die Spielfilme der letzten 25 Jahre sind in dem Faktum verbunden, dass sie von europäischen Geldgebern mitfinanziert und logistisch und ideell unterstützt worden sind, weshalb sich eine eigenlogische Abstandnahme von westlich/nördlichen Erzählstandards und Formaten, mithin ein ›afrikanischer‹ Film im strengen Sinn, nur ausnahmsweise und graduell realisierbar erweist.

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I. B EZUGNAHMEN AUF EUROPÄISCHE F ILMÄSTHETIKEN Unverkennbar ist, dass frühe Spielfilme aus Afrika, also jene, die ab den 1960er Jahren in den unabhängig werdenden ehemaligen Kolonien von einheimischen Filmemachern realisiert werden, vor allem der französischen Idee des Autorenkinos verpflichtet sind. Insbesondere in den westafrikanischen, von der französischen (Kolonial)Kultur geprägten Ländern, wird eine mit französischen Fördergeldern unterstützte Filmproduktion auf den Weg gebracht, die sich am Auteurskonzept der Nouvelle Vague orientiert und dieses kontextbedingt anreichert und modifiziert. Als Beispiel dafür lässt sich Merzak Allouaches algerischer, jüngst restaurierter Spielfilm OMAR GATLATO (DZA) von 1976 anführen. Dieses Erstlingswerk des Doyens des algerischen Kinos porträtiert einen jungen Mann, der in Gewandung und Schlaksigkeit an den jungen Belmondo aus À BOUT DE SOUFFLE (F 1959, R: Jean-Luc Godard) erinnert. Nach Godards Aussage soll dieser Spielfilm wiederum von Jean Rouchs Dokumentation MOI, UN NOIR (CI/F), 1958 in der Elfenbeinküste gedreht, seinen Anstoß erhalten haben, was gleich anfänglich einen kuriosen Reigen zwischen in Afrika und in Frankreich realisierten, ästhetisch verwandten Filmen sichtbar werden lässt. Der Protagonist Omar Gatlato wird in seiner sexuellen Desorientiertheit im männlichen Umfeld Algiers porträtiert und führt die gesellschaftliche Verlorenheit der 1970er Jahre vor, in der kein Unabhängigkeitshochgefühl mehr über die neuen Identitätsprobleme des Landes und seiner Bevölkerung hinwegtäuschen kann. Daher sucht der junge Flaneur Zuflucht bei Bollywood-Ikonen und der populären »chaabi«-Musik. Da die Milieuschilderung des Films ihrerseits einen Bogen zu Rouchs Alltagsbeobachtungen in MOI, UN NOIR schlägt, in denen Jugendliche aus einfachsten sozialen Verhältnissen in ihren eher unbestimmten Wünschen und ihrem ziellosen Herumstreunen porträtiert werden, verrät dieser algerische Film seinen zeittypischen Charakter als französisch-afrikanisches Hybrid. Der überhaupt erste südsaharische Spielfilm von 1964, LA NOIRE DE… (SN/F) des senegalesischen Filmpioneers Ousmane Sembène, steht ebenfalls in der französischen Tradition, wendet die Extraversion aber in eine Kritik der (post)kolonialen Verhältnisse um. LA NOIRE DE…, vier Jahre

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nach der Unabhängigkeit des Senegals gedreht, schildert in akzentuierter Schwarz-Weiß-Ästhetik die Reise einer jungen Senegalesin in die französische Kleinstadt Antibes, um eine Anstellung bei einer französischen Familie anzutreten. Der klassen- und kulturbedingte Konflikt in der letztlich todbringenden Begegnung wird in einen selbstreflexiven Einsatz der filmästhetischen Mittel übersetzt: Die anfänglich reizvolle Einfügung der schwarzen Haut und der gemusterten Kleider des Dienstmädchens, die mit den Fußbodenstreifen der Wohnung opartig changieren, in die moderne weiße Großstadtarchitektur und das schwarz-weiße Design des Filmmaterials schlägt in die Schilderung extremer Kontraste und in mit diesen verbundene Be- bzw. Abwertungen um. Wenn sich die zur modernen Sklavin degradierte Person auf ihr Bett und auf dessen ornamentale Decken wirft, scheint sie in deren Mustern zu versinken, tritt in ihren Konturen zurück, wird zunehmend unsichtbar. In Übereinstimmung mit der französischen Nachkriegskunst des »Tachismus« macht sie zuletzt »Fleck« (tache): In der weißen Badewanne bringt sie, mit aufgeschnittenen Pulsadern, als wachsende schwarze Unform, den ästhetisch-medialen wie politisch-kulturellen Schwarz-Weiß-Kontrast ins Schwimmen und verweist auf das Verdrängte und Ungelöste der historischen Konfrontation. Von solch eindeutigen ästhetischen Umdeutungen und Umwertungen ist im afrikanischen Kino der Gegenwart nichts mehr zu sehen. Nicht mehr möchte man sich in Nähe und Distanz zu ehemaligen Kolonialkulturen definieren, selbst wenn ein Großteil der Filmfördermittel nach wie vor aus Europa, von Canal Plus, TV5, arte oder deutschen Filmboards kommt. Der heute verstärkt kulturpolitisch agierende (Post)Kolonisator verfügt schon aus ökonomischen Gründen weiterhin über die kulturelle Definitionsmacht, kann nach wie vor über die Regime des Sicht- und Sagbaren, die ästhetischen Normen und Formate, die Arten der Distribution und Teilhabe bestimmen und ist als »silent referent in historical knowledge«3 bei der Generierung von Wissensstrukturen bislang nicht abgelöst. Afrikanische Intellektuelle wie etwa Paulin J. Hountjoundi beklagen nach wie vor die ihnen aufgezwungene Extraversion. Und doch ziehen es Filmema-

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Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2000, S. 28.

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cher*innen und Theoretiker*innen des afrikanischen Kontinents heute zunehmend vor, von Verflechtungen und Teilhaben zu sprechen und diese in Texten und audiovisuellen Statements zu exponieren4.

II. H OLLYWOOD -ANSPIELUNGEN Mit der zwangsweisen Verwiesenheit auf westliche Erzähl- und Medienformate gehen zeitgenössische Filmemacher wie der Kameruner JeanPierre Bekolo oder der Senegalese Djibril Diop Mambéty offensiv und anders als in den 1960er Jahren um. Ihre Filme greifen unter Umständen ebenfalls auf europäische Stoffe oder Ideen zurück, nutzen diese aber zu Analysen der afrikanischen Lage in ihrer Abhängigkeit von globalen Finanzkreisläufen und politischen Bedingungen weltweit. Insgesamt verhalten sich die Filme seit den 1990er Jahren anders zu den westlich/nördlichen, nunmehr weniger europäischen als Hollywood-Vorlagen: Sie zitieren diese an, übertragen deren Dramaturgien, Genre-Settings und Handlungsmodelle selbstbewusst in den afrikanischen Raum, übersetzen sie in andere gesellschaftliche Konfliktlagen, statten sie mit einem veränderten Personal aus, verändern den Ton, kritisieren die Plots unter Umständen als provinziell, deuten sie um und verleihen ihren Filmen darüber ein weltläufiges Flair. HYÈNES (1992) von Djibril Diop Mambéty Das eindeutigste Beispiel filmischer Anlehnung an eine europäisch-literarische Vorlage und zugleich an ein Hollywoodgenre – und mithin eine besondere Mischform – stellt der Spielfilm HYÈNES (SN 1992) von Djibril Diop Mambéty aus dem Senegal dar. Auf der DVD wird er als »Literaturverfilmung à lʼafricaine« frei nach Friedrich Dürrenmatts ›tragischer Komödie‹ Der Besuch der alten Dame (1956, überarbeitet 1980) angepriesen. Der Film ist ein mit schweizerischen Produktionsmitteln finanziertes und von trigon-film vertriebenes kompositkulturelles Exportprodukt, das ein

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Vgl. Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika, Berlin: Suhrkamp 2016.

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bitteres Statement aus afrikanischer Perspektive zur weltweiten ökonomisch-politischen Lage formuliert. Irritierenderweise preist sich die DVD im Begleittext mit einem befremdlich stereotypen Afrikabild an: »Elefanten ziehen durch die Wüste. Die Einwohnerinnen und Einwohner des kleinen afrikanischen Dorfes Colobane leben in einfachsten Verhältnissen in der staubigen Hitze des Sahel«. Dieses exotisierte Afrikabild aus fremder Natur und ökonomisch-armer Kultur steht in scharfem Kontrast zu Mambétys Intention, den Film als zweiten Teil seiner kritischen Trilogie zu den »fatalen Folgen von Macht und Wahnsinn«, wie er in Anspielung auf Texte von Michel Foucault sagt, von Kolonialismus und Konsumismus, zu verstehen. Der Spielfilm HYÈNES weicht von der literarischen Vorlage an verschiedenen Punkten ab bzw. bettet diese in einen geopolitischen Raum ein, der keine einfache Verortung des Geschehens erlaubt, sondern bereits ein afrikanisches Kompositbild zum Besten gibt. Der filmische Vorspann ist mit Bildern von aus Kenia eingeführten Tieren unterlegt und verdeutlicht das Anliegen, dem Geschehen eine über Mambétys Heimatdorf Colobane hinausgehende politische Bedeutung zu verleihen und die Erzählung von Verrat und Käuflichkeit als Drama anzubieten, das für den gesamten afrikanischen Kontinent und darüber hinaus Geltung beanspruchen darf5. Dass der Regisseur die alte Dame als Verkörperung des Internationalen Währungsfonds, aber auch der Weltbank präsentiert, die bereits allen Grund und Boden des Landes aufgekauft hat und darüber ihrer erpresserischen Forderung Nachdruck zu verleihen sucht, verstärkt die innere Dra-

5

Djibril Diop Mambéty: »My goal was to make a continental film, one that crosses boundaries. To make Hyènes even more continental, we borrowed elephants from Masai of Kenya, hyenas from Uganda, and people from Senegal. And to make it global, we borrowed somebody from Japan, and carnival scenes from the annual Carnival of Humanity of the French Communist Party in Paris. All of these are intended to open horizons, to make Hyènes universal. The film depicts a human drama. My task was to identify the enemy of humankind: money, the International Monetary Fund. And the World Bank.« In: Ukadike, N. Frank: »The Hyena's Last Laugh. A Conversation With Djibril Diop Mambéty«, in: Transition 78 8.2 (1999), S.123-153.

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matik seines Films, stehen doch die europäischen Geldgeber und Produktionsfirmen mit diesen Institutionen im Bund. Die aus Uganda eingeführten Hyänen, die später zu sehen sind, fungieren als Metapher für die angeprangerte Geldgier und den Ausverkauf der Werte, was als finanzkapitalistisch bedingte, mörderische Entkulturalisierung ausgemacht wird. Mambéty fragt daher mit diesem Film: Kann gegen die an das Dorf herangetragene ökonomisch-moralisch-juristische Herausforderung ein uneindeutig-widerständiges Modell im Audiovisuellen aufgeboten werden? Afrika wird als vergleichsweise weniger korrumpiert porträtiert: Angesichts der von der alten Dame ausgesprochenen Erpressung finden sich empörte, selbstvergewissernde und polemisch umwertende Bemerkungen wie: »Das hier ist immer noch Afrika! Die Dürre hat uns nicht zu Wilden gemacht!« (Szene: 9). Dass die afrikanische Moral über jener von Hollywood und den USA steht, spricht sich auch in medienbezogenen Vorwürfen und kulturabgrenzenden Zuschreibungen aus: »Wir sind nicht in Amerika. Wir töten nicht sinnlos.« (Szene: 10). Vor allem aber legt der Regisseur den Film als vielbezügliches und kompositkulturelles Statement an, baut Western-Anspielungen ein, thematisiert die Verwiesenheit auf differente Erzählformen, bildliche Stereotype und ökonomische Zwänge und spielt moralische Haltungen aus. Er dividuiert die bereits von Dürrenmatt als ›tragische Komödie‹ bezeichnete hybride und ambivalent angelegte Ausdrucksform weiter, indem er eine Mischung aus realistischem Spiel und moritatenhafter Parabel entfaltet, in der die handelnden Figuren weniger psychologisch porträtiert denn als Vertreter*innen moralischer Entscheidungen vorgeführt werden. Die weibliche Protagonistin Linguère Ramatou tritt – in Anlehnung an das Westerngenre – als nach langer Abwesenheit wiederkehrende und jetzt Genugtuung fordernde Frau auf, die sich kapitalbasierte Rachemethoden zu eigen gemacht hat und sich in der Kleidung vormaliger Kolonisator*innen mit beigem Tropenhut und Reisekostüm präsentiert. Während des späteren Tribunals steht sie als schwarzgekleidete Rachegöttin hoch über den zu ihr aufblickenden Dorfbewohner*innen, verkündet ihre erpresserische Forderung von Geldsegen versus Mord und belegt das Dorf mit einem Fluch, der in einem nicht-eindeutigen Geschehen von Rache und Erlösung mündet. In jedem Fall setzt sie ein Geschehen in Gang, das in seiner räum-

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lichen Anordnung und in der Konfrontation von Einzel- und Gruppenprotagonist*innen unter freiem Himmel, im Wechsel der Open-Air-Schauplätze mit weitem Horizont durchaus an das Westerngenre erinnert. Die karge, wüstenartige, leicht wellige Landschaft unterstreicht diese Assoziation. Die chorartigen Formationen der Dorfbevölkerung gehen dabei von einer armen, gutwilligen in eine gierige, mit Hyänen assoziierte Menge und schließlich in einen – westernnahen – Lynchmob über und führen die bestechungsbedingte Dekomposition einer vormals integren Dorfgemeinschaft vor. Gleichwohl wird die kulturelle Situiertheit des Geschehens durch lokale Musik, durch spezifische Tänze und Opferrituale betont. Dass der Film ein globales, auch US-amerikanisches Kinopublikum adressiert, macht er auf vielfache Weise klar. Die Originalsprache Wolof und die Zweitsprache Französisch werden auf der DVD durch Untertitel in Deutsch, Italienisch und Englisch ergänzt. Der senegalesische, ins Afrikanische erweiterte Kontext wird als von westlichen Waren und Vorstellungen durchsetzt und korrumpiert vorgeführt: In der Kneipe, die einem Western-Saloon ähnelt, stehen Coca-Cola-Flaschen und Reis aus den USA zum Verkauf. Während der Barbesitzer Draaman Draameh den Mittellosen noch kostenlos Rotwein ausschenkt, achtet seine Frau auf ökonomisch effiziente Geschäftsführung. Der Bürgermeister hebt sich von den lokal gewandeten Dorfbewohnern und Kneipenbesuchern durch westliche Anzüge und Kutschenfahrten ab. Der Zug der Alten Dame hält mangels Bahnhof auf offener Strecke, wo Schlagbäume mitten im flachen Land Grenzen markieren und Western-Anleihen mit Lokalspezifika amalgamieren. Die Auseinandersetzung zwischen den Protagonist*innen wird im Gegensatz zur Literaturvorlage, die in den Alpen spielt, auf Sanddünen unter offenem Himmel ausgetragen. Die Natur erscheint, darin erneut dem Western verwandt, als Raum kollektiver Rechtssprechung, in dem über die Schuld Draaman Draamehs befunden und ein allerdings nicht-durchschaubares Urteil gefällt wird. Zu sehen ist am Ende nurmehr sein Mantel, am Boden als formloser Überrest aufgebahrt. Kodwo Eshun liest diese – von westlichen und Western-Vorgaben deutlich abweichende –Unsichtbarmachung des Opfers als bewusste Inszenierung von Opazität, insofern der statt des Körpers des Schuldigen übrig bleibende Mantel zwar einen Fleck macht, ein dunkles Geschehen verrät und dieses doch zugleich verdeckt.

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Indem die Dorfbewohner den Schuldigen ›absorbieren‹, verweisen sie darauf, dass die Schuld nicht nur beim Einzelnen, sondern in der Gemeinschaft zu suchen ist. Eshun erblickt in diesem Geschehen eine der aufklärerischen Dramaturgie sich widersetzende ›Gegenpoesie‹, die Recht qua Ton und Musik restituiert: das Recht, sich nicht rechtfertigen zu müssen, das Recht, gehört, aber nicht verstanden zu werden, nicht repräsentativ sprechen zu müssen, als Verweigerung von Universalität und Partikularität zugleich: »We enter the desert of the political«6 – so die Kurzformel dieser Verweigerung. Die audiovisuelle Ergänzung zu Dürrenmatts Theaterstück dient Mambéty zu einer verallgemeinerten Anklage der Überfremdungsverhältnisse im globalen Süden: der Pervertierung des kollektiv ausgehandelten Gemeinschaftslebens und der moralischen Integrität der Person. Aufgrund der zunehmenden Inkonsistenz ist das Dorf am Ende verschwunden, am Horizont zeichnet sich eine moderne Megacity ab. Ein Statement zur aufgezwungenen ökonomischen und moralischen Westernisierung Afrikas? ARISTOTLE'S PLOT (1995) von Jean-Pierre Bekolo Von allen afrikanischen Filmemachern sucht der Kameruner Jean-Pierre Bekolo am Ausdrücklichsten nicht-erwartbare Filmsprachen zu entwickeln und sich von den westlichen Vorgaben, den aristotelisierenden Dramaturgien und ästhetischen Normen zu distanzieren. In seinem Spielfilm ARISTOTLE´S PLOT von 1995 wird die in Hollywood übliche Dramaturgie linearer Handlungsführung in raumzeitlicher Kontinuität, von Spannungssteigerung und kathartischer Auflösung als afrikauntauglich zurückgewiesen. Kritisiert wird, dass die produktionsbedingte Aufoktroyierung eines kulturrelativen und nicht mediumsgerechten Narrativs überhaupt erst die stereotypen Katastrophenerzählungen und klischeehaften Afrikabilder hervorgebracht habe. Bekolos filmische Parodie gefällt sich in einem intramedialen, afrika-reflexiven Abgrenzungsspiel und erhebt das Kino selbst zum Sujet des Films. Dieses wird als in Afrika keineswegs selbstverständliche, sondern umkämpfte Größe porträtiert. Zu diesem Zweck

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Zitiert aus einem Vortrag von Kodwo Eshun, gehalten am 8.5.2016 bei der Konferenz »Etats d'opacité« im Rahmen der Dak'Art in Dakar/Senegal.

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wird das Action-Movie-Format auf seine Tauglichkeit für den afrikanischen Kontinent getestet und in eine völlig andere Problemlage transferiert. Als Auftragsarbeit für das British Film Institute zum hundertsten Geburtstag des Kinos 1995 entstanden, zu welchem der kamerunische Filmemacher einen ›afrikanischen‹ Beitrag liefern sollte, fragt der Film, was denn das Afrikanische an einem in Afrika gedrehten Spielfilm sei: folklorisierende Bilder mit Zebras und Giraffen vielleicht? Situiert in der Nähe von Bahngleisen, an einem nicht näher spezifizierten staubigen Ort, wird ein auch selbstironisches Spiel zwischen den phonetischen Freunden Cinéast und Sillyass bzw. zwei filmfanatischen Protagonisten entfaltet, die sich in ihrer Wertschätzung von Filmen diametral gegenüberstehen. Das Alter Ego des Filmemachers, ein an westlichen Filmhochschulen ausgebildeter Cinéast, bewegt sich in seinem anti-aktionistischen Filmbegehren suchend wie E.T. durch die afrikanische Gesellschaft; die Polizei, die mit dem Namen »Cinéma« nichts anfangen kann, verdächtigt ihn wie auch seinen Gegenspieler krimineller Absichten. Dem Ansinnen des Cinéasten stehen die Anhänger der Action-Movies, von Van Damme, Bruce Lee und Arnold Schwarzenegger, gegenüber: Sie werfen sich vor den auf der Leinwand erscheinenden Namen ihrer Helden in Pose, ziehen sich entsprechend coole Kleidung über, auch wenn sie im Alltag auf Eselskarren fahren. Mit der Polizei liefern sie sich actionbetonte Schaukämpfe, suchen ›Saloons‹ auf und errichten gegen afrotümelnde Tendenzen ein improvisiertes ›New Africa‹-Kino, wobei sie ihre Schaulust mit zotigen Kommentaren unterfüttern. Einer von ihnen, der auf den Namen »Cinéma« hört, zeigt bei Bedarf Ausweise aller afrikanischen Regisseure mit seinem eigenen Konterfei vor. Die Kritik des Cinéasten an seinem/ihrem stereotypen Kinogeschmack beantworten sie mit Fäusten und Gewehren. Dabei fällt die Kinoreklame »Cinéma Africa« von der Wand. Unter den gegebenen Umständen, so das Ergebnis der Recherche des Cinéasten, sei keine lineare Handlungsführung darstellbar, nur Stillstand, Sackgassen, zyklische Wiederkehr; auch die Unterscheidung von Fiktion und Realität verschwimme in Afrika. Die Befragung ortsansässiger Personen hilft bei der Klärung des afrikanischen Kinos nicht weiter, da der Film ob seiner illusionären Effekte, etwa der Möglichkeit, jemanden in einer Szene sterben und in der nächsten wiederauferstehen zu lassen, entweder

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als abergläubisch oder als Zombie-Produktion abgelehnt wird. Dabei liege in der Wiederkehr des Toten, so der sarkastische Einwand, doch die tiefste Wahrheit des Films, da er, wie an den US-amerikanischen Blockbustern ersichtlich, vor allem Bilder des Todes produziere und in Afrika de facto bereits gestorben sei – das letzte Kino in Kamerun habe vor wenigen Jahren zugemacht. Im Film wird explizit das Fehlen eines zweiten Kapitels in Aristoteles' Poetik beklagt, das von Gangstern und korrupten Regierungen handeln und den Kontinent in einer narrativen Falle gefangen vorführen müsste. Allerdings treffe Aristoteles an einem Punkt doch die afrikanische Situation: Da es Massaker und Elend mehr als genug in Afrika gebe, lasse sich die von ihm geforderte Produktion von Mitleid und Furcht hier besonders gut einlösen: Afrika sei der Kontinent der Katharsis schlechthin. Die Narration von ARISTOTLE‘S PLOT bewegt sich im Kreis, ist am Ende dort, wo sie begonnen hat, konfrontiert mit der Frage: »The Cinema – dead or alive?« Ironische Spitzen gegen westliche Beurteilungen des afrikanischen Kunstgeschehens werden eingestreut wie etwa jene, dass der afrikanische Künstler immer in Entwicklung begriffen sei, bis er dann plötzlich als Achtzigjähriger zum Ahnherrn einer künstlerischen Strömung avanciert. DISTRICT 9 (2009) von Neill Blomkamp Der Film DISTRICT 9 (RSA 2009) des weißen südafrikanischen Regisseurs Neill Blomkamp greift auf Sciencefiction-Motive Hollywoods zurück, um eine Parabel auf die rassistische Umsiedlung der Bewohner*innen und den Abriss des District 6 in Cape Town unter dem Apartheid-Regime zu entfalten: DISTRICT 9 setzt im Jahr 1982 ein, als über Johannesburg ein Raumschiff zu stehen kommt, das visuell auf jenes aus dem Sciencefiction INDEPENDENCE DAY (USA 1996, R: Roland Emmerich) verweist. Nach drei Monaten ergebnislosen Wartens auf einen apokalyptischen Angriff beschließt die südafrikanische Regierung, in das Raumschiff vorzudringen, wo man verwahrloste, insektoid-anthropomorphe Aliens entdeckt. Diese werden segregiert und im District 9 untergebracht. Die 1,8 Mio. Aliens hausen nun in Baracken, notdürftig von Hilfsorganisationen versorgt; die private Militärorganisation MNU interessiert sich hauptsächlich für die

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hochentwickelten Technologien der Aliens, insbesondere für ihre Waffen, die jenen aus dem Film MEN IN BLACK (USA 1997, R: Barry Sonnenfeld) auffallend ähnlich sehen. Aufgrund der notwendigen Gen-Identifikation können Menschen diese allerdings nicht benutzen. Die Handlung des Films entspinnt sich, als die Aliens in das neue Zeltlager District 10 umgesiedelt werden sollen, damit die MNU ungehindert deren Technik erbeuten und erforschen kann. Die Geschichte wird aus der Perspektive des weißen Leiters der Räumungsaktion Wikus van de Merwe erzählt, der von den Aliens abfällig als »Prawns« spricht und das Abfackeln einer ihrer Brutstätten für einen Nachrichtensender kommentiert: »That's a popping sound that you're hearing. It's almost like popcorn.« Nicht nur der Nachwuchs der Aliens wird getötet, die militärische Gewalt ist im District 9 allgegenwärtig, Aliens werden bei der geringsten, oft fehlgedeuteten Handbewegung erschossen, sind faktisch rechtlos, unterliegen schikanösen staatlichen Kontrollen und werden für grausame Experimente entführt. Merwe kommt schließlich unabsichtlich mit einer Alien-Flüssigkeit in Berührung, wird nun selbst ›alienated‹, seine Körperteile mutieren, was zur erneuten Erörterung der in den Alien-Filmen aufgeworfenen Frage nach der conditio humana führt. Eine avancierte Problematisierung wird allerdings nicht aufgeboten, sondern auf genetisch begründeter Differenz beharrt. Merwe flieht kurz vor seiner Vivisektion und versteckt sich im District 9. Er kämpft nun gemeinsam mit den Aliens gegen den technomilitärischen Komplex, wobei eine von Achtung und Solidarität getragene Verbindung entsteht. Das Sciencefiction-Genre wird hier, unter Anspielung auf die US-Alien-Serie und weitere Hollywoodfilme, in einen südafrikanischen Kontext übertragen; aus einer westlich/nördlichen Perspektive wird der Widerstand der Aliens und die Frage weißer Empathie und Solidarität diskutiert. Äußerst problematisch erscheint, wie Sophie Lembcke zu Recht moniert7, dass die Aliens für die Schwarzen Bewohner*innen des District 6 stehen

7

Siehe: Lemcke, Sophie/Ott, Michaela: »Von Kritik und Umnutzung. Filmische Übersetzungsprozesse im europäisch-afrikanisch-afrodiasporischen Rahmen«, in: Claudia Benthien/Gabriele Klein (Hg.), Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen, Leiden: Fink 2017, S. 279-298.

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sollen. Der Film folgt der offiziellen Begründung des Apartheidregimes für ›urban relocations‹, visualisiert die vorgebliche Gewalt und Prostitution in dem Viertel und verlängert gewisse stereotype Rollenbilder Hollywoods: jene der technisch hochentwickelten und doch animalischen Aliens, des lernfähigen weißen Mannes, schießwütiger Cops und eines brutalen nigerianischen Hehlers. Durch die Einpassung in den Alien-Topos und die Regeln der Hollywooddramaturgie, die einen actionreichen Showdown erforderlich machen, werden die historischen sozialen Kämpfe in Südafrika tendenziell entdifferenziert und die Aliens qua Festschreibung ihres Opferstatus jeglicher widerständiger Agency beraubt. LE FAUTEUIL (2009) von Missa Hebie An das Blaxploitation-Genre von COFFY (USA 1973, R: Jack Hill) und FOXY BROWN (USA 1974, R: Jack Hill), das in Quentin Tarantinos JACKY BROWN (USA 1997) mit Pam Grier zu einem feministischen Kunstfilm verfeinert wurde, knüpft von Ferne der Spielfilm LE FAUTEUIL (2009) von Missa Hebie aus Burkina Faso an. Der Film zeichnet ein drastisches Bild disfunktionaler afrikanischer Gesellschaft: Neben den in politischen und administrativen Vorgängen üblichen Bestechungen klagt er an, dass der Einzelne nur über Seilschaften an einen Posten kommt; einmal dahin gelangt, delegiert er die Aufgaben nach unten weiter, lässt sich für Gefälligkeiten bezahlen, vernachlässigt seine Pflichten und verlängert den allgemeinen Schlendrian. Der Titel gebende Sessel gibt den Ort und Inbegriff dieses kollektiven Ausruhens ab und spielt auf das dramaturgische Prinzip der Rotation seiner Besitzer*innen an. Von US-amerikanischen Blaxploitation-Vorlagen weicht der Film dahingehend ab, dass er neben Machogebahren, Standesdünkel und sexistischen Vorurteilen auch Fetischkulte, Marabout-Konsultationen und weitere mystifizierende Praktiken der Lächerlichkeit zeiht. Erst als eine junge ambitionierte Frau den Posten des »directeur générale« der Minenverwaltung erhält, ändern sich die eingeschliffenen Verhältnisse. Da die pflichtbewusste Direktorin nun eine Kommission zur Begutachtung von Anträgen und zur Verteilung von Aufträgen einsetzt und Bestechungen rigoros ablehnt, bekommt sie mit dem eigenen Ehemann Schwierigkeiten; da sie privilegierte Beziehungen nicht ausgespielt

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wissen will, verärgert sie auch ihren ehemaligen Professor und Gönner. Ihr eigener Sohn verlangt plötzlich mehr Geld von ihr, ihr Ehemann beginnt sie zu schlagen, Mitarbeiter boykottieren sie. Unter der Last der Anwürfe und Schläge bricht sie schier zusammen, ist bereit zu kündigen – da sagt ihr der entsprechende Minister plötzlich sein volles Vertrauen zu. Wie Jacky Brown setzt sich die aufrechte Protagonistin gegen männliche Kumpanei zur Wehr, unterbindet deren Machtspiele und Schludrigkeiten, erzieht ihre Entourage zu gesellschaftlicher Aufrichtigkeit und schreibt die Imago Schwarzer Heldinnen in die Kinematografie des afrikanischen Kontinents ein.

III. K ULTURUNSPEZIFISCHE F ILMARTIKULATIONEN Seit den 2010er Jahre begegnen zunehmend Spielfilme auf dem afrikanischen Kontinent, die sich als ästhetischer Niederschlag der ökonomischen Globalisierung zu erkennen geben und in globalisiert-urbanen Milieus angesiedelt sind; da sie ihre kulturell-geographische Herkunft nicht mehr verraten, sondern ein Durchschnittsbild dürftigen Überlebenskampfes bieten, möchte ich sie als dividuelle Filme bezeichnen. Ihre weitgehend unspezifische Artikulation ergibt sich zum einen aus der Ausdrucksarmut des gezeigten Milieus, zum anderen aus heutigen filmischen Produktionsweisen, die ihrerseits von digitalen Anleihen und durch sie ermöglichten ästhetischen Mischungen leben, ihre audiovisuellen Daten transversal kommunizieren, Genre-Mixe hervorbringen und sich wie die großstädtischen Atmosphären in ihrer Erscheinungsweise zum Verwechseln angleichen. Diese zunehmend (entin-)dividuierten Filmprodukte fallen gleichwohl unterschiedlich aus. Denn während mit Achille Mbembe »afropolitan«8 zu nennende Kunstwerke relativ selbstbestimmt verschiedenkulturelle Züge und hippe Kulturaccessoires appropriieren und diese je nach Begehr je besonders amalgamieren, leben Filme, die in armen Großstadtmilieus angesiedelt sind, notgedrungen von der Schilderung von Überlebenskämpfen zwischen Müll und zivilisatorischen Resten, die relativ kultur-unspezifisch sind. Diese Filme teilen Merkmale mit ähnlich situierten Filmen auf

8

Vgl. A. Mbeme: Ausgang aus der langen Nacht, 2016.

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anderen Kontinenten; afrikanische und lateinamerikanische Kinematografien gehen – in Weiterschreibung auch von Luis Bunuels LOS OLVIDADOS (MEX 1950) – ineinander über, kombinieren ähnliche ästhetischen Elemente, werden verwechselbar. Mbembe will derartige Produktionen wie auch ihre Protagonist*innen unter einer »Schwarzen Vernunft« versammelt wissen, gerade weil sie nicht an Wertschöpfungsketten partizipieren und von der Wertschätzung des globalen Nordens ausgeschlossen sind. Ich selbst habe sie als »Überlebensfilme« porträtiert9, da sie nicht nur Überlebenskämpfe von Protagonist*innen mini-dramatisieren und prekäre Überlebensaffekte zur Ansicht bieten, sondern damit auch um ihr Überleben als Film kämpfen. NAIROBI HALF LIFE (2012) von Tosh Gitonga Der kenianische Spielfilm NAIROBI HALF LIFE (DE/KEN 2012) des Regisseurs Tosh Gitonga, weil entstanden in einem vom Goethe-Institut durchgeführten Workshop mit Tom Tykwer und anderen, stellt nur ein eingeschränkt signifikantes Beispiel für diesen sich auch in Afrika durchsetzenden dividuellen Durchschnittsfilm dar. Er kennt das Setting verwahrloster Großstadtmilieus mit elternlosen Jugendlichen, die auf der Straße von Drogenverkauf und Diebstahl leben. Und doch liefert diese Version eines Nairober Großstadtdschungels gut deutsch, in der Wiedergabe einer Coming-of-Age-Geschichte, einen aufklärerischen Beitrag zur Selbstverständigung des Landes und zugleich zu sozialen Problemen der Zeit. Mit erzieherischem Impetus tritt er an, reflektiert den Wert des symbolischen Handelns – in diesem Fall die Aufführung eines Theaterstücks durch eine Gruppe marginalisierter Jugendlicher als ›Gegenaufführung‹ ihrer sozialen Nöte – und diversifiziert seine narrative Linearität durch den interkulturellen Querverweis. Indem er den deutschsprachigen Film DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (DE 2004) von Hans Weingartner als Theateraufführung in die Diegese einflicht, formuliert er eine lebenspraktische und ästhetische Alternative zur Deadline-Dramaturgie des Hollywoodfilms, aber

9

Ott, Michaela: Affizierung. Überlebensaffekte im zeitgenössischen Film, Hamburg: textem 2018, S. 101-110.

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auch zu dem erwartbaren Schicksal der Jugendlichen im skizzierten Überlebenskampf. Das Straßenkind, der junge Schauspieler nunmehr, darf sich qua Rollenspiel in Handlungsalternativen kennen lernen und gelangt mittels sekundärer symbolischer Rahmung aus dem sozialen Zwangskreislauf heraus. Indem der Film zudem mit den ästhetischen Normierungen spielerisch umgeht, präsentiert er das künstlerische Handeln als Autonomiezugewinn – und den Austritt aus den Zwangsverhältnissen dieses Milieus als Utopie. T HE BODA BODA T HIEVES (2014) von Donald Mugisha und James Taylor Dieser ugandische Spielfilm, THE BODA BODA THIEVES (R: Donald Mugisha/James Taylor) von 2014, lebt von der Anlehnung an Vittorio de Sicas neorealistischen Spielfilm LADRI DI BICICLETTE (IT) von 1948. Er übernimmt das Motiv eines arbeits- und erwerbsgarantierenden Fahrrads bzw. Motorrads und von dessen Diebstahl, um das nackte, vergleichsweise wenig ausagierte, kaum individuums-zentrierte und dramatisierbare Überleben einer Familie in einem Slum Kampalas zum Thema zu machen. Die Familie, auf das kreditfinanzierte Motorrad als Überlebenshilfe angewiesen, muss gleichzeitig das geliehene Geld abstottern, was ihr aufgrund der spärlichen Einnahmen des Vaters nicht ausreichend gelingt. Die einzige Person, die regelmäßig Geld verdient, ist die Mutter, die als Steineklopferin ein hartes Dasein fristet, aber ihren jugendlichen Sohn mit Geld unterstützen kann. Dieser verspielt es indes bei Fußballwetten. Als der Vater nach einem Unfall bettlägrig wird, übernimmt der Sohn das Motorrad, allerdings nur, um es für Überfälle auf Landsleute und Touristen und für Diebstahlsdelikte in Einsatz zu bringen. Als bei einem dieser Überfälle die attackierte Person ums Leben kommt, haut der begleitende Freund und Mittäter mit dem Motorrad ab. Der Sohn meldet das Motorrad als von Unbekannt gestohlen bei der Polizei. Die Mutter, die ahnt, dass hinter dem Motorradverschwinden mehr als nur Diebstahl steckt, dringt in ihren Sohn und bittet schließlich die Polizei, ihn an Stelle des Vaters, der für die Nichttilgbarkeit der Schulden verhaftet worden ist, einzulochen. Nachdem der Sohn seinen Kumpan und das Mo-

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torrad wiedergefunden und gegen dessen Rat, damit abzutauchen, zurückgebracht hat, wandert er in den Knast: Die moralische Situation hat sich aufgrund der Schuld des Sohnes gegenüber der italienischen Vorlage verkehrt. Aber auch die Drehbedingungen sind verschieden. Anders als die Fahrraddiebe sucht THE BODA BODA THIEVES, vom World Cinema Fund mitfinanziert und bei der Berlinale 2015 gezeigt, nicht als sorgfältig inszenierter Schwarz-weiß-Film, sondern als sichtbar schnell gedrehter und auf keiner kinematografischen Routine basierender Videofilm zu plausibilisieren, dass in derart mittellosen Milieus kein Überleben in unbescholtener Weise zu haben ist. Will man sich nicht – wie die Mutter – tagtäglich abschinden, scheint ein halbkrimineller Existenzkampf samt moralischer Kompromittierung unausweichlich. MADAME COURAGE (2015) von Merzak Allouache Dieser ugandisch-düstere Spielfilm wird in seinem Narrativ der Ausweglosigkeit allenfalls noch von dem aktuellen Quasi-Action-Movie MADAME COURAGE (F 2015) von Merzak Allouache übertroffen. In ihm gibt es keine funktionierende Familie und keine Fragen von Schuld und Moral mehr. Der Sohn hält zwar mit den Diebstählen eine Mutter-SchwesterRestfamilie am Leben, was die Diebstähle gerechtfertigt erscheinen lässt. Er ist jedoch eine von vornherein todgeweihte, allenfalls die Überlebensspanne um ein Kleines verlängernde Figur. Die gesellschaftliche Randzone und ihre Problematik, die der Film in bedrohlich suggestiven Bildern in Szene setzt, ist in verschiedenen Ländern dieser Welt zugleich situiert: Das von ihm skizzierte algerische Milieu der Gegenwart ist auch in Brasilien oder Kolumbien, auf den Philippinen oder in Uganda zu finden. Die filmischen Ausdrucksweisen der Länder nähern sich zum Verwechseln einander an; ein städtisches Subproletariat gibt die Passioneurs-Akteure ab, die um ein basales Überleben kämpfen, in vorwiegend physischem Einsatz, mittels krimineller Akte, in denen sie sich wechselseitig übervorteilen – Daseinsweisen von mondialisierten Nicht-Teilhaber*innen, die in diesen urbanen Randlagen kaum zu unterscheiden sind. Dieses dividuelle Filmgenre, das im Prinzip Waisenkinder, vaterlose Jugendbanden porträtiert, wurde, wie erwähnt, von Luis Bunuel mit LOS OLVIDADOS in Mexiko in den 1950er Jahren etabliert und lebt bis heute

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fort. Es weist sich durch wiederkehrende Schilderungen eines ökonomisch prekären, sozial randständigen und quasi-renatualisierten Gewaltmilieus aus, welches Deleuze daher dem »Triebbild«10 zuordnet. Dass dieses Genre aufgrund seiner handlungsmäßigen Verarmung und der Entspezifizierung seiner Akteur*innen auch an die Grenzen von Filmgenres überhaupt rührt, dürfte auf die zunehmende Auflösung von Genremerkmalen in dieser Art Weltkino vorausverweisen: Integriert es doch Züge des Action-Kinos, ohne dass sich die Protagonist*innen zu Handlungen und das Kino zu Totalen und Aktionsbildern ermächtigen könnten; des Western, insofern es physische Überlebenskämpfe, auch um Terrains, in wenig kodierten Landschaften, in städtischen Wüsten oder an den quasi-renaturalisierten Rändern von Städten austragen lässt; des Dramas, insofern es melodrama-nahe Eifersuchtsszenen, Zwiste und tödliche Akte zwischen Nahestehenden und Verwandten aufscheinen lässt, obwohl sogar der Überlebensaffekt der Einzelnen auf ein Minimum herabgesunken ist; des Sciencefiction, insofern die Marginalisierten aufgrund ihrer Marginalisierung zu zombie- und monsterartigen Figuren zu werden tendieren. Das »Black to the Future!«, das gewisse afrikanische Sciencefiction-Filme entwerfen möchten, wird hier hart auf die Probe gestellt. Mittlerweile bedient sich auch Hollywood selbst afrofuturistischer Phantasien, um das schwarze Publikum stärker an sich zu binden: Das MarvelImperium bietet bekanntlich mit BLACK PANTHER das Bild eines futuristischen und politisch korrekten afrikanischen Staates auf. Dieser schottet sich dezidiert von anderen Ländern und Globalisierungsprozessen ab, da er keine kriegerischen Auseinandersetzungen und kein Dominanzgebaren zu entwickeln wünscht. Nur im Innern gibt es physische Konkurrenzkämpfe, wodurch ein als unliebsam porträtierter Kämpfer, der sich für die Sache der gesamten Menschheit einsetzen möchte, nach langen inneren Kämpfen vom ›guten‹ Helden abgelöst wird. Ist aus dieser Produktion zu schließen, dass fürderhin Hollywood nicht nur bei Afroamerikanern in Serien wie THE WIRE (USA 2002-2008, HBO) narrative Anleihen beziehen

10 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 171-192.

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wird, sondern mittels Entwürfen eines friedlichen Afrikas sein eigenes Überleben zu garantieren sucht?

L ITERATUR Benthien, Claudia/Klein, Gabriele (Hg.): Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen, Leiden: Fink 2017. Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press 2000. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Hountjoundji, Paulin J.: The Struggle for Meaning, Reflections on Philosophy, Culture, and Democracy in Africa, Athens: Ohio Univ. Center 2002. Lemcke, Sophie/Ott, Michaela: »Von Kritik und Umnutzung. Filmische Übersetzungsprozesse im europäisch-afrikanisch-afrodiasporischen Rahmen«, in: Benthien/Klein (Hg.), Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen, 2017, S. 279-298. Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika, Berlin: Suhrkamp 2016. Ott, Michaela: u.a. Hollywood. Phantasma/Symbolische Ordnung in Zeiten des Blockbuster-Films, München: edition text+kritik 1998. Ott, Michaela: Affizierung. Überlebensaffekte im zeitgenössischen Film, Hamburg: textem 2018. Ukadike, N. Frank: »The Hynea's Last Laugh. A Conversation With Djibril Diop Mambéty«, in: Transition 78 8.2 (1999), S. 123-153.

F ILME À BOUT DE SOUFFLE (F 1959, R: Jean-Luc Godard) ARISTOTLE'S PLOT (CMR 1995, R: Jean-Pierre Bekolo) BLACK PANTHER (USA 2018, R: Ryan Coogler) COFFY (USA 1973, R: Jack Hill) DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (DE 2004, R: Hans Weingartner)

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DISTRICT 9 (RSA 2009, R: Neill Blomkamp) E.T. (USA 1987, R: Steven Spielberg) FOXY BROWN (USA 1974, R: Jack Hill) HYÈNES (SN 1992, R: Djibril Diop Mambéty) INDEPENDENCE DAY (USA 1996, R: Roland Emmerich) JAWS (USA 1975, R: Steven Spielberg) JACKY BROWN (USA 1997, R: Quentin Tarantino) LADRI DI BICICLETTE (IT 1948, R: Vittorio de Sica) LA NOIRE DE… (SN/F 1964, R: Ousmane Sembène) LE FAUTEUIL (BFA 2009, R: Missa Hebie) LOS OLVIDADOS (MEX 1950, R: Luis Buñel) MADAME COURAGE (F 2015, R: Merzak Allouache) MEN IN BLACK (USA 1997, R: Barry Sonnenfeld) MOI, UN NOIR (CI/F 1959, R: Jean Rouch) NAIROBI HALF LIFE (DE/KEN 2012, R: Tosh Gitonga) OMAR GATLATO (DZA 1976, R: Merzak Allouache) STAR WARS (USA 1977-2017, R: Diverse) THE BODA BODA THIEVES (UGA 2014, R: Donald Mugisha/James Taylor) THE WIRE (USA 2002-2008, HBO) TOUKI BOUKI (SN 1973, R: Djibril Diop Mambéty) YELEEN (MLI 1987, R: Souleymane Cissé)

Hollywood – Heterotopien des Kinos und des Körpers Vier Thesen G ERTRUD K OCH

1. W ORT

UND

N AME

›Hollywood‹ ist der Name eines Stadtteils von Los Angeles. Zur Namensgebung gibt es eine Anekdote, die Wikipedia getreulich verzeichnet: »According to the diary of H. J. Whitley, also known as the ›Father of Hollywood‹, on his honeymoon in 1886 he stood at the top of the hill looking out over the valley. Along came a Chinese man in a wagon carrying wood. The man got out of the wagon and bowed. The Chinese man was asked what he was doing and replied, ›I holly-wood‹, meaning ›hauling wood‹. H. J. Whitley had an epiphany and decided to name his new town Hollywood. ›Holly‹ would represent England and ›wood‹ would represent his Scottish heritage. Whitley had already started over 100 towns across the western United States«.1

Diese kleine Anekdote kann man unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt als Gründungsmythos lesen: ›Hollywood‹ war also schon im Moment seiner Namensgebung ein Artefakt, ein Name, der durch eine phonetische Überschreibung zweier Sprachen zwischen einem Kanadier 1

https://en.wikipedia.org/wiki/Hollywood

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und einem Chinesen entstand und an zwei Orte erinnern sollte, an England wie an Schottland, an die sich der in Toronto geborene Whitley in diesem Moment auf dem Hügel über Los Angeles als sein Erbe erinnerte. »English holly« oder »Christmas holly« ist jene Stechpalme mit roten Beeren, deren Zweige zum Kranz gebunden an Weihnachten an die Tür gehängt werden, was offensichtlich angloamerikanische Tradition geworden ist. ›Hollywood‹, der Stechpalmenwald, wurde also als Zeichen gesetzt für die abwesenden Orte der Emigranten. »Real-estate magnate H.J. Whitley, known as the »Father of Hollywood«, subsequently transformed Hollywood into a wealthy and popular residential area. At the turn of the 20th century, Whitley was responsible for bringing telephone, electric, and gas lines into the new suburb.«2 Damit waren alle Voraussetzungen geschaffen zur Gründung von ›Hollywood‹ als Eigennamen eines Produktionssystems, das in diesem Stadtteil auf- und über ihn hinausgewachsen ist; ein Produktionssystem, das Film populär gemacht hat und selbst mit populären Filmen groß geworden ist. ›Hollywood‹ ist sowohl ein konkreter Ort wie ein Sammelbegriff für eine ganze Kultur der Herstellung und der Partizipation an ihr über die Trennung von Arbeit und Konsum. Als das Studiosystem etabliert war, wurde ›Hollywood‹ zum größten Arbeitgeber Kaliforniens. Es wurde eine Industrie mit Unternehmern und Arbeitern, Gewerkschaften und Managern, die nach der wirtschaftlichen Logik des Kapitalismus funktionierte. Die neu erfundenen Technologien wurden kapitalisiert, und das humane, das lebendige Kapital vom Botenjungen, Statisten bis zu den großen Stars wurde Teil dieses Systems. Von anderen Industriebetrieben unterschied sich ›Hollywood‹ freilich dadurch, dass der Anteil an ›lebendiger Arbeit‹ (Karl Marx), der Anteil an menschlicher Arbeit eine eigene Dynamik entwickelte. Stars konnten selbst Unternehmer werden, sie stellten zusammen mit den vielen an einem Film beteiligten künstlerischen Akteuren und Handwerkern auch eine eigene Kraft ästhetischer Prägung dar. Die Autoren, Regisseure, Schauspieler, Musiker, Komponisten, Kameraleute, Bühnenbildner etc. ließen sich nicht so ohne weiteres an den technologischen und betrieblichen Apparat anschweißen, sondern bildeten eine besondere Gruppe, die auch eine gewisse Autonomie in ihrer Arbeit beanspruchen

2

https://www.britannica.com/place/Hollywood-California#ref1005664

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DES

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konnte, zumindest, um die ästhetische Verdichtung und Konturierung möglich zu machen, die den fertigen Film, wenn er auch in Serie produziert wurde, so doch als einzelnes Produkt markierte. Nicht zufällig greifen Theorien von Hollywood als Industrie weniger auf den Produktionsprozess selbst zu als vielmehr auf die Form der Warenzirkulation, für die sie gemacht wurden. Die einschränkenden Maßnahmen kamen von außen durch Verhaltenscodes wie den Hays Code oder die Kontrolle durch Publikumsbefragungen und Testvorführungen, um die Marktgängigkeit eines Films zu prüfen und eventuell das produzierte Ende durch ein neues zu ersetzen etc. Als Unterhaltungsindustrie wurden die Filme nun selbst Teil einer Makrostruktur, die auf der Differenz von Arbeit und Freizeit aufbaut. ›Hollywood‹ wurde also brisant, wo es diese Abkopplung in seinen eigenen Produkten vorantrieb, also genau da, wo sich die Welt des Kinos am weitesten von der Arbeit entfernt. ›Hollywood‹ wird zu einem heterotopischen Set in dem Sinne, in dem Foucault das Kino als heterotopisch beschreibt: Wenn ich im Kino bin, bin ich anderswo. Wenn Chaplin in MODERN TIMES (USA 1936, R: Charles Chaplin) in der Maschine verschwindet, dann wird selbst dieser Ort in der Maschine heterotopisch, ein Ort der Transformation, die den Arbeiter als Tänzer aus ihr entlässt. Das Modell ist global geworden, es gibt neben ›Hollywood‹ in den USA auch ›Bollywood‹ in Indien, ›Nollywood‹ in Nigeria – und folgt man den diversen Interneteinträgen von Fans und Sammlern, dann gibt es auf allen Kontinenten weitere unzählige Filmproduktionsstandorte, die unter Spitznamen aus lokalen Standorten mit der historischen Endung ›wood‹ geführt werden. Was, glaubt man der Anekdote, launische Entdeckung eines Hochzeitsreisenden war, ist vom Eigennamen eines Ortes zum Begriff ›Hollywood‹ geworden – und als solcher die abstrakte Begleitung eines konkret sich vollziehenden Prozesses der Globalisierung, in dem Produktion und Konsumtion, Warenförmigkeit und ästhetische Subversion ineinandergreifen.

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2. K ULTURELLE ARBEIT IN ›H OLLYWOOD ‹

AM

S EX

UND

S EXARBEIT

Hollywood hat immer gerne über sich selbst in der dritten Person sprechen lassen, wie in Billy Wilders legendärem SUNSET BOULEVARD (USA 1950), in dem ein Ich-Erzähler als Voice-Over die Perspektive Hollywoods auf Hollywood setzt. Überspitzt gesagt: Hollywood findet immer woanders statt, es ist gleichzeitig Perspektive und ihr Gegenstand. ›Hollywood‹ ist gleichzeitig eine Metapher geworden für einen filmischen Stil, der sich der Realität verweigert und für einen Stil, der sich als bloße Verdopplung des Realen erweisen soll. Und genau in dieser paradoxen Figur liegt das Geheimnis von Hollywood: gleichzeitig Traumfabrik und Tretmühle zu sein, in der Stars Millionen Dollar dafür verdienen, dass sie genau die Pretty Girls spielen, die sie am Set nicht mehr sein wollen. Michael Jackson hat sie besungen in Hollywood Tonight (2010):

Lipstick in hand Tahitian tan In her painted on jeans She dreams of fame She changed her name To one that fits the movie screen She's headed for the big time that means She's going Hollywood She's going Hollywood tonight (...)

West bound Greyhound To tinsel town Just to pursue her movie star dreams She's giving hot tricks to men Just to get in When she was taught that that's not clean She's headed for the big time that means (...)

Im Pornofilm der 1930er Jahre, als Hollywood der größte Arbeitgeber Kaliforniens war, ist die ›casting couch‹ als Triebfeder Hollywoods ausgewiesen, wo der ›American Dream‹ vom Aufstieg als sex work beginnt. 2017 kehrt die story von der ›casting couch‹ als ›morality tale‹ wieder zurück, die nun im neuen Hollywood, im TV und den Print Medien erzählt wird, von den Stars aus Hollywood, die so über Hollywood erzählen, als hätten sie nie dazu gehört. Denn zu Hollywood gehörte auch der Pornofilm, der in den hinteren Reihen gedreht wurde mit den gescheiterten Frauen, die sich in Hollywood eine Filmkarriere erträumt hatten und es nur ins Pornogenre geschafft haben. Linda Lovelace, mit DEEP THROAT

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(USA 1972, 1974, R: Gerard Damiano, Joseph W. Sarno) zum Pornostar der frühen 1970er Jahre aufgestiegen, als Pornofilme in Kinos liefen und noch nicht auf YouPorn, transformiert sich zur Autorin ihrer eigenen Opfer-Biografie und wird in den 1980er Jahren zur Ikone des Kampfes gegen Pornografie. 2013 wird unter dem Namen LOVELACE (USA 2013, R: Rob Epstein, Jeffrey Friedman) schließlich eine Spielfilmversion ihrer Autobiografien präsentiert, die auf unfreiwillige Weise das körperpolitische Repräsentationsmodell ›Hollywoods‹ reproduziert: das der zwei Körper. Die Queens unter den Stars, aber nicht nur sie, haben zwei Körper, den biologischen und den verkörperten symbolischen. In LOVELACE wird der biologische Körper zum verkauften Objekt, das im Film vorgeführt wird als fleischgewordenes Opfer der Pornoindustrie, während Linda Lovelace, dem Star, die Autorität einer Selbsterzählung zugeschrieben wird, die als Metaerzählung über die Pornoindustrie die noble Geschichte einer Läuterung und Selbstbefreiung erzählt. Die Struktur ist aber auch in der Unsichtbarmachung der Trennung in die zwei Körper vorhanden, wenn viele Nackt- und Sexszenen der weiblichen Stars mit deren Body-Doubles gedreht werden – wir sehen also immer schon ein Kompositum, den Körper einer Frau, die für die Sexszenen bezahlt wird, und den Körper des Stars als Rollenverkörperung. Wie man es auch dreht und wendet, Attraktion und Faszination des Systems ›Hollywood‹ hat einen starken Grund in diesem merkwürdigen pornografischen Realismus, dass wirkliche Körper in Aktion zu sehen sind, auch wenn wir über die Identität der Köper getäuscht werden mögen. Pornografie und personalisierte Fiktionen, die die Sexualität der Figuren einschließen, waren zwar immer getrennt, aber zugleich unauflösbar ineinander verwoben. Davon zeugen die Body-Doubles ebenso wie die Versuche der Verschmelzung beider Register in Filmen wie Nagisa Oshimas AI NO KORIDA (F 1976) und Bernardo Bertoluccis LAST TANGO IN PARIS (I, F 1972), die als eine ästhetische Antwort auf die Porno-und Sexfilme, die auf den großen Kinoleinwänden zu sehen waren, verstanden werden können. Angesichts der MeToo-Bewegung, die Hollywoods weibliche Stars dazu gebracht hat, über die sexistischen Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz zu reden, schadet es nichts, einen Blick zurück auf das Startkapital zu werfen, das sich in ihren Körpern als kulturelles Kapital akkumulierte.

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War die feministische Kritik am ›Hollywood‹ der 1970er Jahre eine bildtheoretisch argumentierende Kritik an der kulturellen Kodierung des Begehrens, das das Bild der Frau mediatisierte und zur Funktion eines männlichen Begehrens nach einem fetischisierten Ersatz-Objekt stilisierte, das hinter den Exzessen ikonischer Weiblichkeit den Ausschluss der Frauen zur Voraussetzung hatte, zielt die MeToo-Bewegung auf eine andere Ebene. Wurden in den fetischisierten Ikonen noch sexuelle Versprechungen gemacht, die nicht gehalten werden konnten, aber doch zumindest noch das Begehren, das in ihnen artikuliert wird, lebendig halten, kürzt die MeToo-Bewegung die Diskussion um die toten Winkel des Sexuellen ab. Im Kern wird Sexualität mit Macht gleichgesetzt, und zwar mit derjenigen Macht, die über Erfolg und Chancen auf dem Arbeitsmarkt ›Hollywood‹ entscheidet, also Produzenten, Regisseure und andere, die in die Nahrungskette eingebunden sind, in der die tollen Hechte das Sagen haben. Es stellt sich so dar, dass der Kampf der MeToo-Bewegung eine viel engere Grenze zieht als dies die Frauenbewegung in ihren theoretisch ambitionierten Phasen getan hat: Es geht nun um eine Bewegung, die innerhalb des Marktes bleibt, es geht um die Neuverhandlung von Startplätzen und Chancenverteilung, der Star und sein Body-Double fechten einen Kampf in der Profession aus. Es geht um die Professionalisierung von Arbeitsbedingungen und nicht um die Arbeit selbst und ihre Implikationen für die Herstellung und Mediatisierung kultureller und geschlechtlicher Projektionen von Sexualität und Begehren. Sexualität erscheint in diesen völlig berechtigten Kämpfen geschrumpft auf die Domäne der Macht und deren Neigung zur Zwangsprostitution der Frauen. In einem Akt ständiger Demütigung wird jede einzelne auf den Status des weiblichen, biologischen Körpers als materieller Grundlage der eigenen Profession festgezurrt und damit genau der professionelle Wert reduziert, der in der Verkörperung von Rollen liegt. Die brutale machistische Überzeugung, dass in jeder Frau eine Hure zu finden ist, die man sich durch das Medium Geld verfügbar machen kann, ist die sexuelle, männliche Variante einer generellen ökonomistischen Ideologie, dass Angebot und Nachfrage den Marktwert bestimmen. Die MeToo-Bewegung bleibt im Rahmen des liberalen Marktmodells, insofern sie die Marktchancen in einem Vertragsmodell absichern möchte, das ausschließt, dass Frauen eine extra Leistung zu erbrin-

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gen gezwungen werden, wenn sie professionell reüssieren wollen. Die Erfahrung, dass diese Chancengleichheit nicht einfach herzustellen ist durch formales Recht, war einmal die Voraussetzung einer kulturtheoretischen Wende des Feminismus, die die Doppelstruktur des weiblichen Körpers als symbolische Strukturierung begriffen hat. Nicht zufällig wird dieselbe Diskussion innerhalb der Prostitution geführt als eine über die Professionalisierung, die den Sex-Arbeiterinnen mehr legalen Rechtsschutz auf dem undurchsichtigen Arbeitsmarkt bieten soll. Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen wird dabei als Partizipationsrecht definiert, sie sollen am Arbeitsmarkt selbst bestimmen, was sie verkaufen wollen. Im Kreislauf der Medien werden nun Körper und Bilder gegen Geld getauscht.

3. H OLLYWOOD – B ABYLON ›Hollywood‹ als Sündenstadt, als Metapher für die Korruption des Begehrens, das den Regeln des Marktes folgt, erfindet die großen Narrative, in denen Geld das Medium ist, in dem alles reguliert werden muss, Lust, Gewalt und Macht, so wie paradigmatisch in Hitchcocks Suspicion (USA 1941): Eine reiche Erbin verliebt sich in einen Mann, den sie für ebenbürtig reich hält, heiratet ihn und hält ihn für einen Eheschwindler, der sie umbringen will, sobald sie realisiert, dass er nur ein leichtsinniger Spieler ohne jedwede Fortune ist. Der eigentliche ›agent provocateur‹ ist das Geld, das als Garant des Charakters eintritt und das nicht durch Liebe entmachtet werden kann. Trotz des Happy Ends ein Film noir, denn in der visuellen Inszenierung streut der Film den Zweifel, der kulminiert im paradoxen Bild eines leuchtenden Glases Milch, das von innen heraus strahlt, als sei es verstrahlt vom Gift, das in ihm vermutlich verabreicht werden soll, und keineswegs als erleuchtete Gloriole eines liebenden, wenn auch mittellosen Ehemanns erscheint. Der freundlich gemeinte, liebevolle Schlummertrunk wird so zur verstrahlten Emanation eines investierten Interesses einer ökonomischen Funktion. Man könnte sagen, dass in den ›Hollywood‹Erzählungen von ›Sex & Crime‹ ein ›kapitalistischer Realismus‹ zum Tragen kommt, der auch in einem Bonmot deutlich wird, das Marilyn Monroe in einer ihrer Komödien als Antwort auf den Vorwurf, sie sei nur hinter

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dem Geld eines Mannes her, gibt : »Wollen Sie denn nicht auch lieber, dass Ihre Tochter sich in einen reichen Mann verliebt?«. Im Film noir ist der negative Konnex von Sex und Geld besonders deutlich. Werden die Frauen in die Prostitution verführt, werden liebende Männer für Verbrechen instrumentalisiert, sie verkaufen nicht ihre Körper, sondern ihre Handlungsmacht. Man könnte also schlussendlich die These aufstellen, dass ›Hollywood‹-Filme ihr explosives Potential genau in diesen beiden Tendenzen entfaltet hatten: im pornografischen Naturalismus des Mediums, der zumindest momentweise die Spaltung in den biologischen und den symbolischen Körper in einer Fiktion aussetzt, und in dem Offenhalten eines ›kapitalistischen Realismus‹, der das Scheitern der Liebe im Medienwechsel des Geldes festmacht.

4. R EFRAIN : D ER U RSPRUNG U RSPRUNG H OLLYWOODS

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1866 malt Gustave Courbet einen Frauentorso, dessen gespreizte Beine den Blick auf die Vulva freigeben: L’origine du monde (Der Ursprung der Welt). Dieses viel zitierte Bild wiederholt sich ein weiteres Mal in einem Bildmotiv zu Hollywood. In Madonnas Album American Life von 2003 präsentiert sie einen Song auf Hollywood, der fast alle ikonischen Bilder zitiert, die sich mit der Doppelstruktur des weiblichen Körpers zwischen der pornografischen ›casting couch‹ und dem hoch dekorierten Vamp des film noir finden und immer wieder erfinden lassen. Die Lyrics erzählen von den Aufstiegswünschen, der beschädigten Reputation, und damit erzählen sie tatsächlich noch einmal den Mythos der speziellen Nachbarschaft Hollywood: Abbildung 1: Madonna, »Hollywood«

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Everybody comes to Hollywood They wanna make it in the neighborhood They like the smell of it in Hollywood How could it hurt you when it looks so good

Music stations always play the same songs I'm bored with the concept of right and wrong

Shine your light now This time it's gotta be good You get it right now Yeah 'Cause you're in Hollywood

(Everybody comes to Hollywood...) (Shine your light now...)

There's something in the air in Hollywood The sun is shining like you knew it would You're riding in your car in Hollywood You got the top down and it feels so good

'Cause you're in Hollywood 'Cause you're in Hollywood In Hollywood In Hollywood In Hollywood Check it out This bird has flown

(Everybody comes to Hollywood...) I lost my memory in Hollywood I've had a million visions Bad and good There's something in the air in Hollywood I tried to leave it but I never could (Shine your light now...) There's something in the air in Hollywood I've lost my reputation Bad and good You're riding in your car in Hollywood You got the top down and it feels so good

(Shine your light now...) 'Cause you're in Hollywood 'Cause you're in Hollywood In Hollywood In Hollywood In Hollywood Push the button Don't push the button Trip the station Change the channel (Push the button...) (Push the button...) (Push the button...)

F ILME AI NO KORIDA (F 1976, R: Nagisa Oshima) DEEP THROAT (USA 1972, 1974, R: Gerard Damiano, Joseph W. Sarno) LAST TANGO IN PARIS (I, F 1972, R: Bernardo Bertoluccis) LOVELACE (USA 2013, R: Rob Epstein, Jeffrey Friedman) MODERN TIMES (USA 1936, R: Charles Chaplin) SUNSET BOULEVARD (USA 1950, R: Billy Wilder) SUSPICION (USA 1941, R: Alfred Hitchcock)

Autorinnen und Autoren

Elsaesser, Thomas, Professor Emeritus an der Fakultät Medien und Kultur der Universität von Amsterdam. Von 2006-2012 Gastprofessor an der Yale University, seitdem an der Columbia University, New York. Publikationen u.a.: R.W. Fassbinder (Berlin 2001, neu bearbeitet 2012), Filmgeschichte und Frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels (München 2002), Filmtheorie: zur Einführung (mit Malte Hagener, Hamburg 2007, 5. Auflage 2013), Hollywood Heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino (Berlin 2009), Körper, Tod und Technik: Metamorphosen des Kriegsfilms (mit Michael Wedel, Paderborn 2016). Engell, Lorenz, Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar; Forschungsschwerpunkte: Anthropologie und Ontologie des Films und des Fernsehens; Ästhetik des Dioramas. Publikationen u.a. Thinking Through Television (Amsterdam 2019, im Erscheinen); Medienanthropologische Szenen. Die Conditio humana im Zeitalter der Medien (Hg. zus. m. Katerina Krtilova u. Christiane Voss, München 2019); »Die Leere und die Fülle. Vom Bewegungsbild des Films zum Raumbild des Dioramas«, in: Medienkomparatistik. Beiträge zur vergleichenden Medienwissenschaft, 1/1 (2019), S. 37-58. Früchtl, Josef, Professor für Kunst und Kultur an der Universität Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und ihr Verhältnis zu Ethik und Politik, Kritische Theorie der Kultur und Kulturwissenschaften, Philosophie des Films. Veröffentlichungen u.a.: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt am Main 2004, Vertrauen in die

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Welt. Eine Philosophie des Films, München 2013, »Aesthetic-Philosophical Realism: How Intuition Matters for Ontology and Cinema«, in: Christine Reeh, José Manuel Martins (Hg.): Thinking Reality and Time through Film, Cambridge 2017, S. 180-199, »Trust in the World. Going to the Movies With Cavell, Wittgenstein, and Some Prior Philosophers«, in: Stefan Majetschak, Anja Weinberg (Hg.): Aesthetics Today. Berlin/New York 2017, S. 193-206. Gessmann, Martin, Professor für Kultur- und Techniktheorie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Forschungsschwerpunkte: Künstliche Intelligenz und Design; Gedächtnis und Philosophie; Philosophie und Fußball. Publikationen (zus. mit Hannah Monyer): Das geniale Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht, München 2015, Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft, Paderborn/München 2014, Die Zukunft der Hermeneutik, Paderborn/München 2012. Gotto, Lisa, Professorin für Theorie des Films an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Film- und Medientheorie, Digitale Medienkultur. Publikationen u.a.: Fernsehserie und Literatur. Facetten einer Medienbeziehung (Hg. zus. mit Vincent Fröhlich und Jens Ruchatz), München 2019, »Wandern im Runden. Rotation und Immersion in Björks Wanderlust«, in: Imorde, Joseph; Zeising, Andreas (Hg.): Runde Formationen. Mediale Aspekte des Zirkulären, Siegen 2019, S. 147-158, »Beweglich werden. Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt«, in: Ruf, Oliver (Hg.): Smartphone-Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien, Bielefeld 2018, S. 227-242. Hamel, Hanna, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, Leitung des Projekts »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur«. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Film der Gegenwart, Naturästhetik. Publikationen u.a.: »Die Zeit des Klimas. Zur Verzeitlichung von Natur in der literarischen Moderne« (zus. mit Eva Horn, Solvejg Nitzke), in: Michael Bies/Michael Gamper (Hg.): Ästhetische Eigenzeiten. Bilanz der ersten Projektphase, Hannover 2019, S. 301-324.

A UTORINNEN

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Hilgers, Thomas, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ethik/Ästhetik am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Ästhetik, Philosophie der Technik, Philosophie der Zeit, Geschichte der Deutschen Philosophie (insbesondere Kant und Heidegger). Publikationen u.a.: Aesthetic Disinterestedness. Art, Experience, and the Self. New York und London 2017, Perspektive und Fiktion (Hg. mit Gertud Koch), Paderborn: 2017. Koch, Gertrud, Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Visiting Professor an der Brown University, USA. Forschungsaufenthalte am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, am Getty Research Center in Los Angeles u.v.a. Publikationen u.a.: Siegfried Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996; Breaking Bad, Berlin 2015; Die Wiederkehr der Illusion. Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin 2016; Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur, Judith Keilbach/Thomas Morsch (Hg.), München 2016. Lederle, Sebastian, Research Fellow am IKKM Weimar im Winter 2019. Davor Vertretungsprofessor an der HfG Offenbach am Main im WS 2018/19 und wissenschaftlicher Post-Doc-Mitarbeiter beim FWF-Projekt »Religion als Herausforderung für das Denken in der Moderne«. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie und Hermeneutik, Pragmatismus, Ästhetik, Philosophie des Films. Publikation u.a.: »Illusionsästhetik und leibgebundene Immersion im Kinofilm«, in: Thiemo Breyer/Dawid Kasprowicz (Hg): Immersion. Grenzen und Metaphorik des digitalen Subjekts (Navigationen 1/2019), S.123-143. Ott, Michaela, Professorin für Ästhetische Theorien an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische Philosophie, Ästhetik und Politik, Ästhetik des Films, Theorien des Raums, Theorien der Affekte und Affizierungen, Fragen des Kunst-Wissens, Theorien der (In)Dividuation, Biennaleforschung, postkoloniale Fragestellungen, afrikanischer und arabischer Film. Publikationen u.a.: Welches Außen des Denkens? Wien/Berlin 2018, Affektionsbilder: ihre trans-

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kulturelle Migration, Hamburg 2016, Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin 2015, Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München 2010. Ritzer, Ivo, Juniorprofessor für Medien in Afrika an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Medienphilosophie, Medien-kulturtechnikforschung, Medienanthropologie. Herausgeber der Schriftenreihen »Neue Perspektiven der Medienästhetik« und »Medienwissenschaft: Einführungen kompakt«. Publikationen u.a.: Medientheorie der Globalisierung, Wiesbaden 2018; Mediale Dispositive (Hg. mit Peter W. Schulze) Wiesbaden 2018; Medialität der Mise-en-scène: Zur Archäologie telekinematischer Räume, Wiesbaden 2017. Seel, Martin, Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a.M. Buchveröffentlichungen u.a.: Ästhetik des Erscheinens, München 2000, Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, Theorien Frankfurt a.M. 2009, 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue Frankfurt a.M. 2011, Die Künste des Kinos, Frankfurt a.M. 2013, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a.M. 2014, Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele, Frankfurt a.M. 2018.

Medienwissenschaften Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)

Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0

Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

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Medienwissenschaft Winfried Gerling, Susanne Holschbach, Petra Löffler

Bilder verteilen Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur 2018, 290 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 31 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4070-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4070-4

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 19 Jg. 10, Heft 2/2018: Faktizitäten / Klasse 2018, 256 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4097-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-4097-1 EPUB: ISBN 978-3-7328-4097-7

Ramón Reichert, Mathias Fuchs, Pablo Abend, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 4, Issue 1/2018 – Rethinking AI: Neural Networks, Biometrics and the New Artificial Intelligence 2018, 244 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4266-7 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4266-1

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