Leibniz' Weg ins perspektivische Universum: Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung 3787313427, 378731606X, 9783787313426

Leibniz' frühe Schriften sind bisher kaum systematisch erschlossen worden. Weil sich jedoch gerade in ihnen eine ep

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Leibniz' Weg ins perspektivische Universum: Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung
 3787313427, 378731606X, 9783787313426

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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ

Frühe Schriften zum Naturrecht

Herausgegeben, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen sowie unter Mitwirkung von Hans Zimmermann übersetzt von

hubertus busche

Lateinisch – deutsch

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.

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IN HALT

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

1. Leibniz als Naturrechtsdenker (XI) – 2. Leben, Werke und Interessen des frühen Leibniz (XIX) – 3. Überblick über die Grundgedanken (XLVIII) : – Zu Text I : Die Harmonisierung von Freiheit und physischer Notwendigkeit im Konzept vom selbstreflexiven Punkt des Geistes (XLVIII) – Zu Text II : Die »Neue Methode« (LIV) – Zum Verhältnis von positivem Recht und Naturrecht (LIX) – Die drei Stufen des Naturrechts (LXVIII) – Zur Textgruppe III : Inhalte und Zusammenhang der Entwürfe zu den »Elementen des Naturrechts« (CI) – Zur Textgruppe IV : Vier Briefe über das Recht (CXI)

GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ

Frühe Schriften zum Naturrecht I. Das Leib-Seele-Pentagon und die moralische Sphäre des Verstandes (1663 ?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

II. Aus der Neuen Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren (1667) 1. Einteilung und Methode der Jurisprudenz . . . . . . . . . 2. Die Elemente und Quellen des reinen Rechts . . . . . . . 3. Die zwei Augen des Richters : Naturrecht und Nomothetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die drei Stufen des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . b) Die höchsten Zwecke der Gesetzgebung . . . . . . . .

27 45 71 75 85

VI

Inhalt

III. Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts (1669 –1671) 1. Gerechtigkeit mit und ohne Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungen zum strengen Recht, zur Billigkeit und zur Pietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Proportionen des Gerechten und Billigen . . . . . . . b) Fragen der angemessenen Strafe und Entschädigung c) Strenges Recht, Billigkeit und Pietät bei Unglück und bei Rettungskonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergänzungen zum Staats- und Eigentumsrecht . . . e) Definitionen zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3. Definitionen zur Gerechtigkeit und Billigkeit . . . . . . . 4. Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Fortschritte der Naturbeherrschung und die Stagnation der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerechtigkeit als Proportionalität zwischen eigenem und fremdem Wohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Unzulänglichkeit aller positiven Definitionen des Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Liebe als Findung eigenen Glücks im Glück anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Wissenschaft vom Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Axiome zur deontischen Logik der Liebe . . . . b) Definitionen und Lehrsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Axiome und Definitionen zum guten Menschen . . . .

91 99 99 103 119 151 193 201 215 215 221 229 237 245 245 247 301

IV. Vier Briefe zum Verhältnis von positivem und natürlichem Recht (1670 –1672) 1. Leibniz an Hermann Conring, 13./23. Januar 1670 : Politik, Naturrecht und römisches Recht . . . . . . . . . . 323 2. Leibniz an Hermann Conring, 9./19. April 1670 : Die Subsidiaritätshierarchie der Rechtssysteme . . . . . 339

Inhalt

VII

3. Leibniz an Jean Chapelain ( ?), 1. Hälfte 1670 ( ?) : Römisches Recht, Naturrecht und Rechtsreform . . . . 349 4. Leibniz an Louis Ferrand, 31. Januar 1672 : Der Werkplan für die Rechtsreform . . . . . . . . . . . . . . 375 Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

VO R BE M E R KU N G

Die vorliegende Studienausgabe macht Leibniz’ weitgehend unbekannte Frühschriften zum Naturrecht einem größeren Publikum zugänglich. Sie liegen hier erstmals in deutscher Übersetzung vor. Die ausführliche Einleitung skizziert erstens die Geschichte der Entdeckung Leibnizens als Naturrechtsdenker, informiert zweitens über Leben, Werke und Interessen des frühen Leibniz und zeigt so die biographische Verwurzelung der vorliegenden Schriften auf, und gibt drittens einen systematischen Überblick über die Grundgedanken und Zusammenhänge der vier Textgruppen. Hierbei wird auch die Auswahl der vorliegenden Texte näher begründet. Während die Einleitung eine allgemeine Orientierung vorgibt, erläutern die Anmerkungen sachliche, historische und philologische Einzelheiten. Da Leibniz teilweise außerordentlich gelehrsam schreibt und viele Autoritäten nennt, wurden die Anmerkungen auf das Wesentliche beschränkt. Hätte man dagegen auch noch historische Bezüge zum Naturrecht der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit erläutern wollen, so wäre der Rahmen einer Studienausgabe gesprengt worden. Die umfassende, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Bibliographie gilt Leibniz’ Naturrecht sowie seiner Ethik und allgemeinen Rechtstheorie, soweit sie in ihrer Einheit mit dem Naturrecht betrachtet werden. Leibniz’ lateinische Texte wurden der Akademie-Ausgabe entnommen. Allerdings wurde auf ihre Lesarten verzichtet. Das dort gesperr t Gesetzte wurde kursiv wiedergegeben. Klaus Luig, Emeritus für römisches Recht, Köln, danke ich für Ratschläge und Hinweise, Hans Zimmermann, Görlitz, für die freundschaftliche Mitarbeit bei der Übertragung der Texte. Bonn, im Januar 2003

Hubertus Busche

E I N LE IT UN G

1. Leibniz als Naturrechtsdenker Leibniz wird in der Geschichte des Naturrechts oder gar der Ethik selten berücksichtigt. Sofern überhaupt sein Name zwischen Grotius, Pufendorf und Locke genannt wird, geschieht es zwar in der Regel mit einer kurzen ehrfürchtigen Verbeugung vor dem Universalgenie. Gelegentlich erfolgt auch der Hinweis, daß Leibniz sich in seinen Jugendjahren mit dem Naturrecht beschäftigt und es dann später irgendwie auf die Formel von der »Liebe des Weisen« gebracht habe. Leibnizens Naturrechtslehre selbst aber blieb lange Zeit erstaunlich unbekannt.¹ Die »Vernachlässigung von Leibniz« selbst »in den meisten rechtsphilosophischen Gesamtdarstellungen«² hat vor allem zwei historische Gründe. Erstens war es die unglaubliche Vielseitigkeit von Leibniz’ enzyklopädischer Tätigkeit, die ihm schon seit dem 25. Lebensjahr kaum noch Muße ließ, die umfangreichen rechtsphilosophischen Entwürfe seiner Jugendzeit ¹ Den Erkenntnisstand von 1967 formuliert treffend Hans-Peter Schneider : Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des ›christlichen Naturrechts‹ bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a. M. 1967 : Mit dem »Hinweis, daß Leibniz kein zusammenhängendes Werk ›De Jure Naturae et Gentium‹ hinterlassen habe, ist vielfach bezweifelt worden, ob sein Rechtsdenken überhaupt eine eigene Naturrechtslehre enthalte und so einen Platz in der Naturrechtstradition des 17. Jahrhunderts beanspruchen könne« (1). »Seine naturrechtlichen Gedanken sind […] bisher nur sehr zögernd und unvollständig behandelt worden, obwohl sie hinter all seinen Lehren sichtbar werden und den Kern seines Rechtsdenkens zu bilden scheinen« (3). ² So schon Karl Larenz : Sittlichkeit und Recht. Untersuchungen zur Geschichte des deutschen Rechtsdenkens und zur Sittenlehre, in : Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Bd. 1, Stuttgart – Berlin 1943, 169 – 412, insb. 224 – 249, hier 225.

XII

Einleitung

fertigzustellen und zu veröffentlichen. Nur wenige Winke des reifen Leibniz verraten, daß er die Umrisse einer methodisch wohldurchdachten, wenngleich nicht zum vollständigen System ausgereiften Naturrechtslehre gleichsam in der Schublade hatte. Zweitens aber war es die allgemein unglückliche Editionsgeschichte von Leibniz’ gigantischem Nachlaß mit seinen 75 000 wissenschaftlichen Manuskripten und 15 000 Briefen. Nachdem zunächst nur Bruchstücke vom Leibnizschen Naturrecht überliefert wurden,³ war es erstmals die Akademie-Ausgabe von Leibnizens sämtlichen Schriften und Briefen, welche die frühen Texte hier vollständig zugänglich machte : Leibniz’ bedeutende Briefe zum Naturrecht wurden 1926 ediert,⁴ seine frühen Entwürfe zum Naturrecht 1930.⁵ Daß aber auch diese Texte nach über 70 Jahren gedanklich noch kaum erschlossen sind, mag sich wiederum dadurch erklären, daß sie philosophisch höchst anspruchsvoll und noch dazu in einem teilweise schwierigen Latein geschrieben sind, dessen juristische Fachterminologie, dessen oft komplizierter und unübersichtlicher Satzbau und dessen oft elliptischer Notizenstil der Albtraum jedes Übersetzers sind. In den wenigen rechtsphilosophischen Schriften dagegen, die Leibniz zu seinen Lebzeiten selbst veröffentlicht hat, ist die hintergründige Konzeption seines Naturrechts allenfalls angedeutet. Und so kam es, daß sich Zeitgenossen und unmittelbare Nachwelt zunächst mit Leibniz als Rechtsreformer auseinandersetzten.⁶ Im .

.

³ Georg Mollat: Rechtsphilosophisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Leipzig 1885 ; 2. Aufl. unter dem Titel : Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Kassel 1887 ; Neue Bearbeitung Leipzig .1893 (= Mollat). ⁴ Gottfried Wilhelm Leibniz : Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Zweite Reihe : Philosophischer Briefwechsel. Erster Band : 1663–1685, Darmstadt 1926 (= A). ⁵ Gottfried Wilhelm Leibniz : Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Sechste Reihe : Philosophische Schriften. Erster Band : 1663–1672, Darmstadt 1930. ⁶ Eine erste Kritik an Leibniz’ Nova Methodus discendae docendaeque jurisprudentiae gibt Nicolaus Christoph Lyncker : Protribunalia, Gießen

Hubertus Busche

XIII

19. Jahrhundert war es dann Leibniz als Rechtstheoretiker im engeren Sinne, dem eine zunehmende Aufmerksamkeit zuteil wurde,⁷ solange die ersten großen Editionen Leibnizscher Schriften nur weniges zum Naturrecht, doch einiges zur Jurisprudenz zutage förderten.⁸ Zwar wurde Leibniz auch, etwa wegen seines Bekenntnisses .

1669. Erste konservativ-kritische Bemerkungen zu Leibniz’ »Ratio Corporis Juris reconcinnandi« finden sich in der juristischen Dissertation von Christfried Wächtler : De vetere jure enucleando ad Nicetam Spilium ÄéÜóðáóìá, Straßburg 1684, in : Wächtler : Opuscula juridico-philologica rariora in unum volumen collecta cum praefatione Christ. Henr. Trotz, Trajecti ad Rh. 1733, 337– 391. Zu den Verteidigern von Leibnizens »Neuer Methode« zählen dagegen Johann Ulrich Cramer : Ungrund der Beschweerden des Herrn Geheimden Raths und Cantzlers von Ludewig über den Methodum demonstrativam in jure, in vorigem 1735 Jahre, Marburg [1736], § 8; sowie Christian Wolff in seinem Vorwort zu Leibniz : Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae, ex artis didacticae principiis in parte generali praepraemissis, experientiaeque luce, Leipzig und Halle 1748. ⁷ So zum Beispiel [Gustav von] Hugo : Lehrbuch einer civilistischen Litterairgeschichte, Berlin 1812, 258– 260 ; Paul Wigand : Leibnitz, über germanisches und römisches Recht, und über Femgerichte, in : Wetzlar’sche Beiträge für Geschichte und Rechtsalterthümer, Bd. 3, Gießen 1851, 53– 61 ; H.[ermann] F.[riedrich] W.[ilhelm] Hinrichs : Geschichte der Rechts- und Staatsprincipien seit der Reformation bis auf die Gegenwart in historisch-philosophischer Entwickelung, Bd. 3, Leipzig 1852, 1–122 ; Ludwig Laistner : Das Recht in der Strafe. Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Versuch einer Dialektik des Strafrechtsproblems, München 1872, insb. 78 – 82 ; Felix Hecht : Leibniz als Jurist, in : Preußische Jahrbücher, 43 (1879), 1– 25 ; Gustav Hartmann : Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, Tübingen 1892 (auch in : Gottfried Wilhelm Leibniz : Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae, Glashütten im Taunus 1974, 1–121) ; Franck Alengry : De jure apud Leibnitium, Bordeaux 1899. ⁸ Leibniz’ akademische Jugendschriften, einige politische Frühschriften sowie einige das Recht betreffende Briefe (insbesondere an Kestner) präsentierte Louis Dutens (Hg.) : Leibnitii Opera omnia nunc primum collecta, 5 Bände, Genf 1768, Bd. 4, Teil 3 (Jurisprudentia). Von Gottschalk Eduard Guhrauer (Hg.) : Leibnitz’s Deutsche Schriften, 2 Bände, Berlin 1838 –1840, sind im Grunde nur zwei kleine späte Texte »Vom Naturrecht« zu nennen (Bd. 1, 414 – 419), welche die »natürlichen Gemeinschaften« betreffen. Und bei Johann Eduard Erdmann (Hg.) : Gottfried Wilhelm Leibniz. Opera

XIV

Einleitung

zum Naturrecht im Vorwort zum Codex Juris Gentium diplomaticus, »mit dem Naturrecht in Verbindung gebracht, doch herrschten über die nähere Ausgestaltung dieser Verbindung nur verschwommene, mitunter sogar abenteuerlich anmutende Vorstellungen«.⁹ Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zwar, unterstützt durch neue Editionen,¹⁰ zu ersten Deutungen des Leibnizschen Naturrechtsdenkens.¹¹ Doch diese ersten Ein-Mann-Expeditionen in die allgemeine »terra incognita Leibnitiana«¹² blieben .

philosophica, quae exstant latina, gallica, germanica omnia, 2 Bände, Berlin 1840, findet sich zum (Natur-)Rechtlichen nur die Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus (I, 118–120). Zu den Editionen von Georg Mollat s. o. Anm. 3. ⁹ Hartmut Schiedermair : Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Wiesbaden 1970, 1. ¹⁰ Onno Klopp (Hg.) : Die Werke von Leibniz. Erste Reihe : Historisch-politische und staatswissenschaftliche Schriften, 11 Bände, Hannover 1864 –1884 (= Klopp) ; Carl Immanuel Gerhardt (Hg.) : Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, 7 Bände, Berlin 1875 –1890 (= GP). ¹¹ Robert Zimmermann : Das Rechtsprinzip bei Leibnitz. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsphilosophie, Wien 1852 ; Adolf Trendelenburg : Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besondern in Leibnizens philosophischer Betrachtung und dessen Naturrecht ; ders. : Bruchstücke in Leibnizens Nachlass zum Naturrecht gehörig, in : Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 : Vermischte Abhandlungen, Berlin 1855, 233 – 256 ; 257– 282 ; Otto Gierke : Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1880, 74, 178 f., 302 ; Robert Kahn : Die Grundbegriffe der Philosophie Leibnizens unter besonderer Berücksichtigung der Leibnizschen Rechtsphilosophie, Tübingen 1909, 47– 79 ; Erich Cassirer : Natur- und Völkerrecht im Lichte der Geschichte und der systematischen Philosophie, Berlin 1919, 200 – 224 ; Herbert Feddersen : Die Behandlung des naturrechtlichen Problems bei Leibniz und die Bedeutung seiner Gedanken für die Gegenwart, in : Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Wien, 9 (1930), 231– 260 ; Johann Sauter : Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, Wien 1932, 98 –104 ; Giorgio del Vecchio : La Giustizia, 2. Aufl. Bologna 1924, 13 – 21, deutsch : Die Gerechtigkeit, 2. Aufl. Basel 1950, 23 – 45. ¹² Kurt Müller : Gottfried Wilhelm Leibniz, in : Wilhelm Totok u. Carl Haase (Hg.) : Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Welt, Hannover 1966, 2.

Hubertus Busche

XV

wegen der allzu schmalen Textbasis auf nur wenige Aspekte begrenzt und enthielten zudem manche Fehlurteile. Auch wenn diese Lage leicht verbessert wurde durch einige abstrakte Skizzen zur metaphysisch-theologischen Dimension des Leibnizschen Naturrechts,¹³ zu Leibniz’ Stellung gegenüber Pufendorf,¹⁴ zu seiner Konzeption des Völkerrechts¹⁵ und Sozialrechts¹⁶ sowie zu seiner ethischen Idee des Staates,¹⁷ blieb es doch erst der seit 1945 einsetzenden Leibniz-Renaissance vorbehalten, ein diffenzierteres Bild und eine angemessenere Einschätzung des Leibnizschen Naturrechtsdenkens zu entwickeln. Editorisch Bahnbrechendes leistete hier v. a. Gaston Grua, der nach fast zehnjähriger Arbeit am Leibniz-Nachlaß der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover eine umfangreiche Sammlung mit meist unbekannten Schriften des späteren Leibniz herausgab, die entweder direkt juristischen Inhalts waren oder eine Verbindung zum Leibnizschen Rechts- und Naturrechtsdenken erkennen ließen.¹⁸ Gruas Auswertungen des neuen Materials in zwei Monographien lieferten erst.

¹³ Hans Liermann : Barocke Jurisprudenz bei Leibniz, in : Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft, Jena, 2 (1939), 348 – 360 ; Erik Wolf : Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts, in : Karl Larenz (Hg.) : Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Bd. 1, Stuttgart – Berlin 1943, 33 –168, insb. 133 –168 ; Larenz : Sittlichkeit und Recht, insb. 224 – 249 ; Gioele Solari : Metafisica e diritto in Leibniz, in : Rivista di filosofia, 38 (1947), 35 – 64. ¹⁴ Norberto Bobbio : Leibniz e Pufendorf, in : Rivista di filosofia, 38 (1947), 118 –129. ¹⁵ Paul Schrecker : Leibniz’s Principles of international justice, in : Journal of the History of Ideas, 7, 4 (1946), 484 – 498 ; deutsch : Leibniz’ Prinzipien des Völkerrechts, in : Amerikanische Rundschau, 3 (1947), 114 –122. ¹⁶ Georges Gurvitsch : L’idée du droit social, Paris 1932, 171– 215. ¹⁷ Michele Barillari : La filosofia di Leibniz e l’idea etica dello stato, Salerno 1947. ¹⁸ Gaston Grua (Hg.) : G. W. Leibniz, Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinçiale de Hanovre, 2 Bände, Paris 1948 (= Grua).

XVI

Einleitung

mals umfassende Darstellungen, auch wenn sie selten über bloße Paraphrasen hinauskamen.¹⁹ Seitdem beginnt sich die komplexe und differenzierte Leibnizsche Naturrechtslehre allmählich in ihrer Einheit zu erschließen. Man erkennt, daß Leibniz – »bislang zum letzten Male« – »die Grundzüge einer idealistischen Naturrechtslehre von fast vollkommener Reinheit und Folgerichtigkeit« entwickelt hat.²⁰ Man gelangt zu der Einschätzung, daß Leibniz neben Grotius, Pufendorf und Locke zu den Gründern der Naturrechtsschule des 17. Jahrhunderts gehört, aber viel stärker als diese um die »Synthese« des Traditionellen mit dem Neuen gerungen²¹ und deshalb die modernistische Säkularisierung des Naturrechts kritisiert hat.²² Die vorliegende Ausgabe dokumentiert recht deutlich, in welcher Weise Leibniz das alteuropäische Ordo-Denken eines teleologisch gefügten Kosmos verbindet mit dem neuzeitlichem Individualismus und mit dem mathematischem Rationalitätsideal des »mos geometricus«.²³ ¹⁹ Gaston Grua : Jurisprudence universelle et théodicée selon Leibniz, Paris 1953 ; ders. : La justice humaine selon Leibniz, Paris 1956. ²⁰ Hanz Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Göttingen 1951), 4. Aufl. Göttingen 1962, 145. »In der ganzen Naturrechtslehre gibt es keinen Denker, der der platonischen Ideenlehre für das Recht einen so reinen und unverfälschten und glanzvollen Ausdruck verliehen hat wie Leibniz« (154). Weil Welzel aber nur wenige Texte des frühen Leibniz berücksichtigt, kommt er zu dem falschen Urteil, daß Leibniz keine »Antwort auf jene materialen Fragen der Gerechtigkeit« gebe (155). ²¹ Michel Villey : Les fondateurs de l’école du droit naturel moderne au XVII e siècle, in : Archives de Philosophie du Droit, N. S. 6 (1961), 73 –105, insb. 97–105. ²² René Sève : Leibniz et l’école moderne du droit naturel, Paris 1989. ²³ Zur Einordnung Leibnizens in diese Tradition von Hobbes, Grotius, Weigel und Pufendorf vgl. Wolfgang Röd : Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 70).

Hubertus Busche

XVII

Auch entdeckt man, daß »die Tatsache, daß Leibniz kein Lehrbuch des Naturrechts geschrieben hat«, nicht etwa das »Fehlen einer Naturrechtslehre« bedeutet. Vielmehr hat Leibniz durchaus eine Art Synthese des »christlichen Naturrechts« geschaffen, die das von Natur aus Gerechte »mit der aristotelisch-ciceronianischen Gerechtigkeitslehre einerseits« und »mit der patristisch-scholastischen Gottesrechtslehre« andererseits verbindet. Leibniz’ allmähliche Entfaltung dieser Synthese ist, trotz ständiger Erweiterung um neue Aspekte, von einer »überraschenden Einheitlichkeit und Kontinuität der Gedankenführung«.²⁴ Seine erstaunliche Beständigkeit im Grundsätzlichen bei allen Fortschritten im einzelnen wird jetzt auch bestätigt durch den vierten Band der AkademieAusgabe, der u. a. Leibniz’ Entwürfe zur »Scientia juris naturalis« aus der Zeit von 1677 bis ungefähr 1686 enthält.²⁵ Einige jüngere Forschungen haben die frühen Entwicklungsstadien des Leibnizschen Naturrechts minutiös rekonstruiert²⁶ und sie in Beziehung zum enzyklopädischen Systemganzen gesetzt.²⁷ Doch diese gedanklichen Stadien ändern nichts daran, daß Leibniz in den hier vorliegenden Frühschriften seine sehr konstanten »rechts- und ²⁴ Schneider : Justitia universalis, 1, 4, 485. ²⁵ Gottfried Wilhelm Leibniz : Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Sechste Reihe : Philosophische Schriften. Vierter Band : 1677 – Juni 1690, Berlin 1999, Teil C, 2751– 2900. ²⁶ Robert Joseph Mulvaney : The Development of Leibniz’s Concept of Justice, Phil. Diss. masch., Atlanta 1965 ; ders. : The early Development of Leibniz’s Concept of Justice, in : Journal of the History of Ideas 29 (1968), 53 – 72 ; Werner Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, in : Zeitschrift für philos. Forschung 20 (1966), 607– 650 ; ders. : Respublica optima. Zur metaphysischen und moralischen Fundierung der Politik bei Leibniz, in : Studia Leibnitiana 9 (1977), 1– 26. ²⁷ Patrick Riley : Leibniz’ Universal Jurisprudence. Justice as the Charity of the Wise, Cambridge (Mass.) 1996. Hubertus Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997, 91–120, 168 – 217, 297 – 403.

XVIII

Einleitung

staatsphilosophischen Grundgedanken« entwickelt, die er auch später »stets festgehalten« hat.²⁸ Was Leibniz in seinen späteren Texten zum Naturrecht hinzufügt, sind lediglich Ergänzungen, Differenzierungen oder Präzisierungen dieser frühen Schriften. Die Einsicht in die Stringenz, aber auch in die Probleme dieses nachgelassenen Naturrechts dürfte Leibniz künftig einen größeren Platz in der Geschichte des Naturrechts einräumen. Schließlich wird auch erkennbar, wie wertvoll es für sein Naturrecht wurde, daß Leibniz die historisch selten zusammen auftretenden Kompetenzen der Rechtsgelehrsamkeit und der Philosophie in hohem Maße vereinigte. Wurde doch dem gelernten Juristen schon mit 23 Jahren eine Professur für Rechtsgelehrsamkeit angeboten, nachdem er drei glänzende Arbeiten über schwierige Fragen der Rechtslogik verfaßt hatte. Leibniz erkannte und bedauerte das Auseinanderfallen jener Kompetenzen, die in seiner Person vereint waren,²⁹ stets als großes Hindernis für die Systematisierung des Naturrechts. So schreibt er im Hinblick auf sein unvollendetes Werk zum Naturrecht und römischen Recht : »Es sind viele Jahre her, daß ich versprochen habe, eine Rechtslehre ans Licht zu bringen und den unermeßlichen Ozean des Rechts auf wenige klare Quellen der folgerichtigen Vernunft zurückzuführen, damit einerseits klar würde, wie zu entscheiden wäre, wenn wir keine Gesetze hätten, und andererseits klar würde, in welchen Hinsichten man sich beim geltenden Recht von den einfachen Grundsätzen der Natur entfernt hat bzw. warum man jenen Grundsätzen etwas hinzufügen muß. Denn viele haben zwar das Naturrecht behandelt, doch waren hierbei nur wenige von ihnen unterrichtet vom Inneren der Philosophie und zugleich von der Kenntnis des römi²⁸ So schon Larenz : Sittlichkeit und Recht, 227, der die »auffallend frühe Ausbildung« dieser Gedanken hervorhebt. ²⁹ Im Specimen von 1664 schreibt Leibniz selbst : »Von der Philosophie genährt, hatte ich meinen Geist der Jurisprudenz zugewandt. Ich sprang aber zur ersten zurück, sooft sich eine Gelegenheit bot. Und neugierig hielt ich fest, was entweder aus beiden Wissenschaften selbst kam oder ihnen verwandt war« (A VI 1, 73, 6 – 8).

Hubertus Busche

XIX

schen Rechts«.³⁰ Dagegen hat man über Leibniz selbst folgendes treffendes Urteil gesprochen : »Unter den deutschen Philosophen, ja : unter den großen Denkern des Abendlandes hat keiner ein so unmittelbares Verhältnis zum Recht und zur Rechtswissenschaft gehabt, und vor allem : so hoch von ihrem Gegenstande und ihrer Aufgabe gedacht wie Leibniz.«³¹ Und so war es kein Zufall, daß die berühmteste »Theodizee« der Philosophiegeschichte gerade von einem Juristen geschrieben wurde. Die anschließende Übersicht über Leben und Werke des frühen Leibniz kann zunächst zeigen, wie seine frühen Schriften zum Naturrecht in seiner Biographie verwurzelt sind, dann auch, wo seine allgemeinen systematischen Interessen liegen.

2. Leben, Werke und Interessen des frühen Leibniz ³² Kindheit mit Klassikern Gottfried Wilhelm Leibniz wird am Sonntag, den 1. Juli 1646,³³ in Leipzig geboren. Dem ersten Kind aus der dritten Ehe des Notars und Professors für Moralphilosophie, Friedrich Leibniz, und der Tochter eines bekannten Leipziger Juristen, Katharina Schmuck, ist die Jurisprudenz gleichsam in die Wiege gelegt. Und er wird die Familientradition fortsetzen, als er sich später für das Studium der Rechtsgelehrsamkeit entscheidet. »Schon seit dem Knaben³⁰ Leibniz an Magliabechi, 20./30. September 1697, GP VI 4 Anm. ³¹ Larenz : Sittlichkeit und Recht, 224. ³² Von den neueren Biographien sehr empfehlenswert sind Eric J. Aiton : Leibniz. A Biography, Bristol, Boston 1985, dt. Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Biographie, Frankfurt a. M., Leipzig 1991 ; sowie Eike Christian Hirsch : Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie, München 2000. ³³ Die folgenden Angaben beziehen sich stets auf die Zeitrechnung »neuen Stils (n. St.)« nach dem Gregorianischen Kalender ; für das entsprechende Datum nach dem »alten Stil (a. St.)« des Julianischen Kalenders sind jeweils 10 Tage abzuziehen.

XX

Einleitung

Alter« hat er »eine sitzende Lebensart« und »wenig Bewegung«. Aber die Verinnerlichung der Bewegung ins Geistige, die dafür »seine Lebensgeister« in »zu starker Thätigkeit« hält,³⁴ führt schon früh zur Entwicklung einer ernsten inneren Gedankenwelt. »Anstatt des Spiels« findet das Kind »am Lesen von Geschichten ein außerordentliches Vergnügen« und beginnt »die Histori und poesin« sowie »notitiam rei literariae« zu lieben.³⁵ Leibniz ist keine sechs Jahre alt, als sein Vater, der ihn im lutherischen Bekenntnis erzogen und große Hoffnungen auf ihn gesetzt hat, stirbt. Und so wird er zum universalen »Autodidakten«,³⁶ der sich jenseits der Leipziger Nikolaischule, die er von Juli 1653 bis Ostern 1661 besucht, seine geistige Prägung weitgehend selbst gibt : »Das meiste […] habe ich von mir selbst gelernt«.³⁷ Für diese innere Freiheit im Wahrnehmen, Vorstellen und Denken bleibt Leibniz zeitlebens dankbar. Er habe »das glück gehabt, vor mich über Bücher von allerhand Sprachen, Religionen, und Scientien, wiewohl ohne gebührende ordnung zu kommen, und solche anfangs nur aus trieb der delectation zu lesen, davon ich aber unempfindtlich den nuzen geschöpfet, daß ich von gemeinen praejudiciis befreyet worden, und auff viele dinge kommen, daran ich sonst nimmermehr gedacht hätte«. Entsprechend selbständig konnte er später »fast propria speculatione philosophiam und jura lernen«.³⁸ ³⁴ So Leibniz in einer lateinischen Selbstbeschreibung, die er für eine ärztliche Konsultation verfaßte, in : Kurt Müller u. Gisela Krönert : Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik, Frankfurt a. M. 1969 (= Chronik), 1 f. ³⁵ Chronik 4. ³⁶ Ebd. 1. ³⁷ »Pleraque enim de meo discebam«, schreibt Leibniz selbst (Klopp I 1, XXXIX f.). ³⁸ An Herzog Johann Friedrich, Oktober 1671 (A II 1, 159, 25 – 30). Ähnlich schreibt Leibniz um 1679 in einem Fragment zur Universalcharakteristik : »Zweierlei hat mir wunderbar genützt, was doch sonst bedenklich und vielen schädlich zu sein pflegt : erstens, daß ich fast Autodidakt gewesen bin, zweitens, daß ich in jeder Wissenschaft Neues suchte, sobald ich nur ihre Bekanntschaft gemacht und oft noch nicht einmal das Ele-

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Über die Bildungsmächte des frühreifen Kindes³⁹ wissen wir kaum mehr, als Leibniz’ spätere Selbstzeugnisse⁴⁰ nennen, die nicht frei von Stilisierungen in Wunderkind-Attitüde sind. Die lateinische Sprache, in der sich der Gelehrte später so virtuos bewegen wird, bringt sich der kaum Achtjährige zunächst anhand einer bebilderten Ausgabe des Livius selbst bei und findet schon bald Gelegenheit, diese Kenntnis auszubauen. Denn ein Freund der Familie, der die Zeichen des sich regenden Talentes erkennt, bewirkt 1654, daß dem Kind die streng verschlossene väterliche Bibliothek geöffnet wird, und der wissensdurstige Junge triumphiert, als wenn er »einen Schatz gefunden hätte. Ich war glücklich, dort die meisten Alten zu finden, die ich nur dem Namen nach kannte : Cicero und Seneca, Plinius, Herodot, Xenophon, Platon, die Geschichtsschreiber der Kaiserzeit und viele lateinische und griechische Kirchenväter. Sie verschlang ich, wie der Eifer mich trieb, und erfreute mich an der wunderbaren Vielfalt der Dinge.«⁴¹ Vermutlich mit Eintritt in die Tertia, 1656, erlernt der Zehnjährige auch das Griechische, schreibt Verse und gelangt im Studium .

mentarste genügend erfaßt hatte. Auf diese Weise habe ich zwei Vorteile gewonnen : erstens, daß ich meinen Geist nicht mit leeren und wieder zu verlernenden Dingen anfüllte, die man mehr auf Autorität seiner Lehrer hin als auf Gründe hin annimmt, und zweitens, daß ich nicht eher ruhte, als bis ich die Fasern und Wurzeln jeder Wissenschaft bloßgelegt und zu ihren Prinzipien durchgedrungen war, aus denen ich dann alles, was ich behandelte, durch eigene Anstrengung finden konnte« (übersetzt nach A VI 4, Teil A, 264, 24 – 265, 6). ³⁹ Zu den einzelnen Lernstoffen der Schulzeit vgl. Willy Kabitz : Die Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, in : Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, 2 (1912), 165 –184, insb. 167–173. ⁴⁰ Die meisten dieser lateinischen autobiographischen Skizzen, darunter besonders wichtig die Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata, finden sich bei Klopp I 1, XXXII – XLV , übersetzt in Gottfried Wilhelm Leibniz : Schöpferische Vernunft. Schriften aus den Jahren 1668 –1686, zusammengestellt, übersetzt u. erläutert v. Wolf von Engelhardt, Marburg 1951, 397– 410. ⁴¹ Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata (Klopp I 1, XXXV ).

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der schönen Künste so weit, daß Freunde fürchten, er werde »von der Süße der verlockenden Musen gefangen«. Er aber nimmt ihnen diese Sorge und widmet sich auch dem »Ernsteren und Herben«, indem er spielerisch und »mit großer Leidenschaft« die Logik durchdringt,⁴² gegen deren »Spitzfindigkeiten« die anderen nur Abneigung entwickeln. Seine Lehrer überfordert er beispielweise mit der Frage, warum man nicht, analog zur Einteilung der einfachen Termini in die Klassen der Kategorien, auch für die komplexen Termini oder Sätze gewisse »Prädikamente der Aussagen« aufstellt. Was die Philosophie betrifft, so liest er schon bald Zabarella, Rubius, Fonseca und andere Scholastiker – darunter den Suarez angeblich so mühelos, wie andere die milesischen Fabeln lesen –, bleibt jedoch nicht an ihren »Subtilitäten« hängen.⁴³ Beim Stöbern in der väterlichen Bibliothek stößt er auch auf kontroverstheologische Bücher, die er nach seiner gängigen Lektürepraxis mit eigenen Anmerkungen versieht, was ihn »einmal beinahe in Gefahr« bringt. In seiner weitherzigen, die Wahrheit zwischen den christlichen Konfessionen suchenden Religiosität, die »von keinen Vorurteilen befleckt« ist, beschäftigt er sich besonders mit dem Prädestinationsproblem und erfreut sich früh an den unionstheologischen Schriften eines Georg Calixt, liest aber auch »viele suspekte Bücher«, die ihn gerade wegen ihrer »Neuigkeit« interessieren, und beginnt »erstmals zu erkennen, daß nicht alles, was man« in Glaubenssachen »gewöhnlich für sicher hält, auch tatsächlich sicher ist, und daß man sich oft mit allzu großer ⁴² Im Brief an Gabriel Wagner vom 3. Januar 1697 bekennt Leibniz, daß ihm »die Logick, auch wie man sie in schuhlen lehret, ein großes gefruchtet« habe. »Sobald ich die Logick anfienge zu höhren, da fand ich mich sehr gerühret durch die vertheilung und ordnung der gedancken, die ich darinn wahrnahm. Ich begund gleich zu mercken, daß ein großes darinn stecken müße, soviel etwa ein Knabe von 13 jahren in dergleichen mercken kan. Die gröste lust empfand ich an den so genanten praedicamenten, so mir vorkam als eine Muster-Rolle aller Dinge der welt, und suchte ich allerhand Logicken nach, umb zu sehen, wo solche allgemeine Register am besten und außführlichsten zu finden.« (GP VI I 516) ⁴³ Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata (Klopp I 1, XXXVI f.).

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Heftigkeit über Dinge herumstreitet, die gar nicht von so großer Bedeutung sind«. Deshalb plant schon der Sechzehnjährige, dem später die Reunion der christlichen Konfessionen zu einer vordringlichen Lebensaufgabe werden sollte, »eine genaue Untersuchung gewisser Kontroversen« und zieht hierfür die maßgebliche Literatur heran.⁴⁴ Entsprechend früh zeigt sich auch schon Leibnizens Januskopf. Einerseits blickt er noch alteuropäisch zurück in den geschlossenen Kosmos der Antike und in die bergende christliche Schöpfungsordnung, andererseits aber schaut er schon modern vorwärts, den großen Fortschritten der Wissenschaft und Technik entgegen. Er erkennt den unaufhaltsamen Siegeszug der kausal erklärenden Naturwissenschaften, in deren methodischer Weltentzauberung, sofern sich diese nur ihrer Abstraktionen bewußt bleibt, er auch keine Gefahr für die Religion sieht. Und er teilt die Baconsche Fortschrittsvision⁴⁵ von der Vermehrung des menschlichen Wohlstands durch die methodisch-technische Beschleunigung der Entdeckungen und Erfindungen (Elemente des Naturrechts 4, s. u. 215 –217). Deshalb ist die Schilderung jenes legendär gewordenen Waldganges, den Leibniz in späteren Briefen als seinen intellektuellen Wendepunkt beschrieben hat, durch und durch glaubwürdig. »Befreit von der trivialen Schulphilosophie« sei er »auf die Modernen gestoßen«. Gerade fünfzehn Jahre alt, also zwischen 1661 und 1662, habe er einen Spaziergang durch das »Rosendal«-Wäldchen bei Leipzig unternommen, um zu überlegen, ob er die »substantiellen Formen«, d. h. die scholastisch verstandenen Prinzipien der aristotelischen Naturphilosophie, überhaupt noch »beibehalten« solle. Schließlich habe der »Mechanizismus« in seiner atomisti⁴⁴ Ebd. XXXIX f. ⁴⁵ Das zeigen seine frühen Anmerkungen zu Johann Heinrich Bisterfeld (A VI 1, 152, Anm. 1 ; 157, Anm. 27 ; 161, Anm. 4) sowie seine Berufung auf Verulams Idee des augmentum scientiarum in De arte combinatoria (A VI 1, 194, 22) und in der Nova methodus (A VI 1, 284, 13 –15 ; 307, 1 f. ; 363, 6 f.). An Foucher schreibt Leibniz 1675 : »Bacon et Gassendi me sont tombé les premiers entre les mains« (A II 1, 247, 12 f.).

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schen Variante »gesiegt« und ihn dazu bewogen, sich »den mathematischen Wissenschaften zu widmen«.⁴⁶ Dies sei für ihn eine Entscheidung »zwischen Aristoteles und Demokrit« gewesen.⁴⁷ Alle Argumente, die Kabitz 1909 dazu bewogen haben, diesen Besinnungswaldgang »etwa ins Jahr 1665« hinauszuschieben und Leibniz’ eigene Datierung für eine »Gedächtnistäuschung« zu erklären, sind gegenstandslos und lehren bloß, daß man die geistige Frühreife des Leibnizschen Ingeniums nicht unterschätzen sollte.⁴⁸ Entkräftet wird Kabitz’ biographische Verschlimmbesserung nicht zuletzt durch das erste Dokument unserer vorliegenden Edition, nämlich die geometrische Hieroglyphe des Leib-Seele-Pentagons. Sie stammt sehr wahrscheinlich schon von 1663 und illustriert die Umsetzung von intellektuellen Entscheidungsprozessen in Handlungen durch eine mechanistische Erklärung der aristotelischen Psychologie (s. u. 5 ff.). .

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Studium der Philosophie und Jurisprudenz in Leipzig, Jena und Altdorf Mit den weitblickenden Interessen seiner umfassenden Vorbildung beginnt der fünfzehnjährige Leibniz im April 1661 das Jurastudium an der heimatlichen Universität Leipzig, die vom Geist des protestantischen Aristotelismus durchdrungen ist.⁴⁹ Zunächst studiert er, im Hinblick auf einen breiten enzyklopädischen Fächerkreis, die Philosophie, später dann die Jurisprudenz. Was die erste Studienhälfte betrifft, so besucht er außer den philosophischen Vor⁴⁶ An Nicolas Remond, 10. Januar 1714 (GP III 606). ⁴⁷ An Thomas Burnett, 8./18. Mai 1697 (GP III 205). ⁴⁸ Willy Kabitz : Die Philosophie des jungen Leibniz. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte seines Systems, Heidelberg 1909, 49 f. Zur Entkräftung der Kabitzschen Mutmaßungen vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 51– 56. ⁴⁹ Zu Art und Inhalten der Lehre an der Leipziger Universität vgl. Kabitz : Bildungsgeschichte, 173 –177.

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lesungen, die sich besonders Aristoteles widmen, auch Vorlesungen über Mathematik (namentlich über Euklid), über griechische und lateinische Literatur sowie über hebräische Sprache. 1662 kommt eine Vorlesung über Rhetorik bei Jakob Thomasius (1622 –1684) hinzu. Thomasius, der Vater des berühmten Philosophen und Juristen Christian Thomasius (1655–1728), ist nicht nur ab 1652 Professor für Moralphilosophie, ab 1656 für Dialektik und ab 1659 für Eloquenz an der Universität, sondern nebenher auch Rektor der Thomasschule bzw. Konrektor der Nikolaischule. Vor allem aber ist er ein glänzender Philosophiehistoriker, der sich in der Antike, Patristik und Scholastik, wenn auch kaum in der Neuzeit zuhause weiß. Den Schriften und persönlichen Anregungen dieses Mannes, der nach Leibnizens Urteil »eine Geschichte nicht der Philosophen, sondern der Philosophie« etabliert,⁵⁰ verdankt der Schüler einen Großteil seiner philosophiehistorischen Kenntnisse. Und so darf sein griechisches Wortspiel vom »bewundernswürdigen [èáõìÜóéïò, thaumasios ] Thomasius«⁵¹ als echter Ausdruck tiefer Wertschätzung gegenüber diesem ersten großen »Lehrer und Förderer«⁵² gelten. Nachdem Leibniz am 22. November 1662 unter dem Dekanat von Thomasius zum Bakkalaureus (damals hieß dieser niedrigste akademische Grad »Baccalarius«) befördert worden ist, hält er am 30. Mai 1663 eine »Metaphysische Disputation über das Individuationsprinzip«, die noch im selben Jahr als seine Erstlingsschrift gedruckt wird. Thomasius, der den Vorsitz führt, bescheinigt seinem Schüler, daß er für sein »wahrlich jugendliches Alter« eine erstaunliche Fähigkeit besitzt, die unübersichtlichen scholastischen Frontverläufe in den »sehr schwierigen und weitläufigen Kontroversen« zu überblicken.⁵³ ⁵⁰ An Jakob Thomasius, 20./30. April 1669 (A II 1, 14, 18 f.). ⁵¹ So im Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum von 1664 (A VI 1, 88, 15). ⁵² So das Titelblatt der Disputation über das Individuationsprinzip (A VI 1, 9). ⁵³ Vorwort zur Disputatio metaphysica de principio individui (A VI 1, 5, 12 –14).

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Im Juni 1663 verläßt Leibniz seine Heimatstadt, um für ein Gastsemester in Jena zu studieren. Sehr plausibel ist die Vermutung, daß es das in Leipzig unbefriedigte »Bedürfnis nach Mathematik« ist, welches den Sechzehnjährigen dazu bewegt, beim berühmten Erhard Weigel (1625–1699) zu hören, der »den Aristoteles mit der Philosophie und Physik der neuen Zeit zu versöhnen« sucht⁵⁴ und hierfür »außer den mathematischen Fächern« gerade »die Philosophie und das Naturrecht im Sinne der neueren, antischolastischen Wissenschaft behandelt[…]«.⁵⁵ Ganz allgemein herrscht zu dieser Zeit an der Universität Jena »ein etwas modernerer Geist«, während in Leipzig noch ein »besonders enger, streng konservativer Geist« weht, »der jede irgendwie tiefer eingreifende Neuerung in Organisation und Lehre verhindert[…]«.⁵⁶ Doch es sollte vor allem der damals als »Archimedes redidivus dieses unseres Seculi« gefeierte Weigel sein,⁵⁷ dessen Philosophieren nach ›Euklidscher Methode‹ den in Leibniz ungeduldig schlummernden esprit géométrique erwecken sollte. Unser erster Text (s. u. 5 – 23) verrät ganz deutlich die entscheidenden Inspirationen durch Weigel. Zum Wintersemester 1663/64 kehrt Leibniz aus Jena zurück, um an der Universität Leipzig sein juristisches Fachstudium zu beginnen. Zunächst aber promoviert er am 7. Februar 1664 (neun Tage vor dem Tod seiner Mutter) zum Magister der Philosophie und führt am Jahresende den Vorsitz bei der Disputation über eine von ihm selbst verfaßte »Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind«. Schon diese zweite philosophische Abhandlung zeigt, daß ihn die Rechtsgelehrsamkeit nicht als ⁵⁴ Kuno Fischer : Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre, Fünfte, durchges. Aufl., Heidelberg 1920, 40. ⁵⁵ Eduard Zeller : Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 2. Aufl., München 1875, 69 f. ⁵⁶ Kabitz : Bildungsgeschichte, 179, 174. ⁵⁷ Wilhelm Hestermeyer : Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969, 20.

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enge Spezialdisziplin für den Broterwerb interessiert, sondern als die philosophische Zentralwissenschaft, in der – gemäß der Formel Ulpians – die »Kenntnis der menschlichen und der göttlichen Angelegenheiten« sich systematisch durchdringt. Wie Leibniz im Vorwort darlegt, soll die Schrift der tendenziellen »Verachtung der Philosophie« bei den eingeengten Rechtsverwaltern entgegenwirken durch den Nachweis, daß die meisten Stellen des Rechts ohne die Leitung der Philosophie ein »unentwirrbares Labyrinth« bleiben müssen und daß mit den antiken Rechtsgelehrten zugleich »die höchsten Mysterienpriester der Weisheit in Vergessenheit geraten« sind.⁵⁸ Dieser schon für das Naturrecht des frühesten Leibniz’ grundlegende ›Juriszentrismus‹, der die gesamte Schöpfung als Rechtsordnung des Schöpfers versteht (als »respublica entium«, »respublica universalis« oder »civitas mundi«), ist weiter unten (LV LVII ) näher zu betrachten. In seinen juristischen Fachsemestern vertieft sich Leibniz schnell in die Geschichte und Systematik des Rechts. Bei Georg Tobias Schwendendörffer hört er über die Dekretalen, bei Franciscus Romanus über den Codex Justinianus, bei Quirinus Schacher über die Pandekten, bei Bartholomäus Leonhard Schwendendörffer über die Institutionen und bei Amadeus Eckold über den Digesten-Titel De verborum significatione (Dig. 50, 16). »Der unsagbar langweilige, schwerfällige juristische Vorlesungsbetrieb hätte einem anderen als Leibniz leicht das juristische Studium verleiden können. Er aber fand sich« aufgrund seiner zuvor geleisteten »philologisch-historischen« wie »logisch-philosophischen Studien« mit ganz »erstaunlicher Leichtigkeit darin zurecht«.⁵⁹ Aufschlußreich für Leibnizens Selbsteinschätzung und Einstellung zum Studium ist hier wieder seine autobiographische Skizze, in der er betont, daß sein »Geist nicht durch eine einzige Art von Beschäftigung ausgefüllt werden kann. Sobald ich […] eingesehen hatte, daß ich ⁵⁸ Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum (A VI 1, 73, 9 –13). ⁵⁹ Kabitz : Bildungsgeschichte, 182.

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für das Studium des Rechtes bestimmt war, ließ ich alles andere und wandte meinen Geist dorthin, wo sich der größte Gewinn für meine Studien zeigte. Ich merkte aber, daß meine früheren historischen und philosophischen Studien mir eine große geistige Gewandtheit für die Jurisprudenz verschafften. Deshalb verstand ich die Gesetze sehr leicht, hielt mich nicht lange mit der Fachtheorie auf, die ich als trivial geringschätzte, sondern verlegte mich auf die Rechtspraxis. Ich hatte einen Freund, der Assessor am Hofgericht zu Leipzig war. Dieser nahm mich oft mit, gab mir Akten zu lesen und belehrte mich durch Beispiele, wie die Urteile abgefaßt werden müssen. So drang ich früh in das Innerste dieser Wissenschaft ein. Denn an dem Beruf des Richters fand ich Freude, während ich mich von den Intrigen der Advokaten abgestoßen fühlte. Aus diesem Grunde habe ich nie Prozesse führen wollen, obgleich ich nach übereinstimmendem Urteil auch in der deutschen Sprache sehr gediegen und geschickt schrieb. So wurde ich siebzehn Jahre alt, über nichts glücklicher, als daß ich meine Studien nicht nach der Meinung anderer, sondern nach der eigenen Lust gestaltet hatte. Auf diese Weise hatte ich erreicht, daß ich unter meinen Altersgenossen in allen Vorlesungen und in öffentlichen wie privaten Zusammenkünften immer als der erste galt, und dies nicht nur nach dem Zeugnis meiner Lehrer, sondern auch meiner Kommilitonen«.⁶⁰ Leibniz, der in diesen Jahren auch Mitglied und Kassenwart einer wissenschaftlichen »Societas Conferentium (Lipsiensis)« ist,⁶¹ erwirbt am 28. September 1665 den Grad eines »Bakkalaureus beider Rechte (juris utriusque baccalarius)«, nachdem er die obligatorische Erörterung veröffentlicht hat. Weil der Disputationsakt auf den 24. Juli und den 27. August aufgeteilt wird, erscheint auch .

⁶⁰ Vita Leibnitii a seipso breviter delineata (Klopp I 1, XXXVII ). ⁶¹ Es handelt sich um einen Verein junger Leipziger Gelehrter, der 1664 gegründet wurde »zum Ruhme Gottes, zum Gedeihen des christlichen Staates und zur Kultur nützlicher Studien«. Erhalten ist uns der Vortrag De collegiis, den Leibniz auf einer ihrer regelmäßigen Sitzungen gehalten hat (A VI 2, 4 –13)

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»Über Bedingungen« in zwei Teilen.⁶² Nach der Euklidischen Methode verfaßt ⁶³ sucht das Werk das damals vieldiskutierte Problem der rückwirkenden Kraft der erfüllten Bedingung⁶⁴ zu lösen durch »Ansätze zu einer juristischen Aussagenlogik«, die hier nicht erörtert werden können.⁶⁵ Angesichts dieses erstaunlich fortgeschrittenen Theorieniveaus in der Jurisprudenz überrascht es lediglich unter zeitlichem Aspekt, daß der neunzehnjährige Enzyklopädist noch die Muße findet, sich am 17. März 1666 zugleich um eine Dozentur an der Philosophischen Fakultät zu bewerben. Aus dem Kern dieser für seine philosophische Entwicklung höchst bedeutsamen Habilitationsschrift »Arithmetische Erörterung der Verknüp⁶² Disputatio juridica (prior) de conditionibus, Leipzig 1665 (A VI 1, 97–124) ; Disputatio juridica posterior de conditionibus, Leipzig 1665 (A VI 1, 125–150). Eine zweite Auflage beider Teile erscheint 1669 in den Specimina juris, (vermutlich Nürnberg) 1669 (vgl. A VI 2, 559 f.). ⁶³ Leibniz gilt bereits der stringente Aufbau des Corpus Juris als höchst geeignet für den »mos geometricus«. Er wolle nicht übergehen, »daß die alten Rechtsgelehrten bei der Abfassung des Rechts mit einem so großen Genie und einer so großen Tiefe zu Werke gegangen sind, daß es eher eine Arbeit des Anordnens als eine des Ergänzens ist, ihre Bescheide auf höchst gewisse und beinahe mathematische Beweise zurückzuführen (in certissimas ac penè mathematicas demonstrationes […] redigendi)« (A VI 1, 101, 28 – 31). ⁶⁴ Zum rechtshistorischen Hintergrund vgl. Schneider : Justitia universalis, 35– 37. ⁶⁵ Vgl. hierzu Heinrich Schepers : Leibniz’ Disputationen ›De Conditionibus‹. Ansätze zu einer juristischen Aussagenlogik, in : Akten des II . Internationalen Leibniz-Kongresses 4 (Studia Leibnitiana, Suppl. 15 : Logik, Erkenntnistheorie, Methodologie, Sprachphilosophie), Wiesbaden 1975, 1– 18. Schepers zeigt, wie Leibniz eine erste »aussagenlogisch fundierte, durch spezifisch juristische Postulate und durch logische und juristische Modalitäten modifizierte Theorie der bedingten Rechtsgeschäfte als Teil einer Rechtslogik entworfen« hat (1). Eine historische Ergänzung gibt Georges Kalinowski : La Logique Juridique de Leibniz. Conception et contenu, in : Studia Leibnitiana 9, (1977), 168 –189. Zur Problemgeschichte und Literatur vgl. W. Krawietz : Logik, juristische, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter et al., Basel / Darmstadt 1971 ff. V, 423 – 434.

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fungen«, die Leibniz »möglicherweise schon im Herbst 1665 oder gar noch früher« verfaßt, erwächst schon bald »die umfangreichste seiner Jugendarbeiten«, die weitgehend more geometrico aufgebaut ist und den Rahmen einer üblichen Disputationsschrift sprengt : die »Dissertation über die Kombinatorische Wissenschaft«.⁶⁶ Die Übertragung der mathematischen Kombinatorik auf die Logik sollte das wissenschaftliche Denken zu einer Art exakten Rechnens machen, das alle Grundbegriffe bis in letzte Elemente analysiert und nach rationaler Methode wieder synthetisiert. Die Ars Combinatoria war bahnbrechend nicht nur für die Lösung praktischer Probleme, sondern auch für Leibniz’ spätere Arbeiten zum logischen Kalkül, zur Inventionslogik und zur Universalcharakteristik.⁶⁷ Bis ins hohe Alter hat Leibniz auf die Grundgedanken dieses Werkes »als Keime seiner größten Entdeckungen und Erfindungen zurückverwiesen«, auch wenn er »ihre Mängel und Fehler« nicht »verschwieg«.⁶⁸ Nach diesen glänzenden Erfolgen gedenkt Leibniz eigentlich an der Juristischen Fakultät in Leipzig zum Lizentiaten und dann zum Doktor beider Rechte zu promovieren. Doch es gibt »Hindernisse«, von denen wir »nicht sicher« wissen, »welcher Art« sie sind und »von welcher Seite« sie kommen.⁶⁹ Leibniz selbst führt .

⁶⁶ Sie erschien 1666 in Leipzig. Die Disputatio arithmetica de Complexionibus, als kleiner Bestandteil der Dissertatio de arte combinatoria, umfaßt nur die Seiten A VI 1, 170, 14 – 175, 32 sowie die vier Korollarien (ebd. 228 – 230). Zur Entstehung und Publikation vgl. A VI 1, XIV f. u. A VI 2, 548 f. Text : A VI 1, 163 – 230 ; ohne Folgesätze auch in GP IV 27–102. ⁶⁷ Vgl. Louis Couturat : La logique de Leibniz, d’après des documents inédits, Paris 1901, 33 – 45 (Kap. II ). ⁶⁸ A VI 1, XV . Vgl. hierzu Leibniz’ anonyme Erklärung in den Acta Eruditorum, Februar 1691. Hier äußert er sich anläßlich eines ohne sein Wissen erfolgten Nachdrucks dieses Werkes (Frankfurt a. M. 1690) mit kritischem Stolz über seine Jugendschrift (A VI 2, 549 f.). ⁶⁹ So die Einleitung zu A VI 1, XV . Schneider : Justitia universalis, 41, beschreibt das institutionelle Problem folgendermaßen : »Die Leipziger Juristenfakultät, zu deren Mitgliedschaft die Promotion berechtigte, bestand außer den Professoren aus einem Spruchkollegium von zwölf As-

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sie auf eine Intrige von Konkurrenten zurück und nimmt sie zum Anlaß, seine Weltkenntnis zu erweitern.⁷⁰ Ende September 1666 verläßt der ungeduldige Frühreife seine Heimatstadt und holt an der fortschrittlichen nürnbergischen Universität zu Altdorf ⁷¹ nach, was Leipzig ihm verwehrte. Hier legt er unter dem Dekanat von Goethes Urahn, Johann Wolfgang Textor, am 15. November seine sessoren, so daß Leibniz de facto nur hätte aufgenommen werden können, wenn ein freier Platz vorhanden gewesen wäre. Gleichzeitig waren unter den älteren Anwärtern Bestrebungen im Gange, jüngere Bewerber zunächst von der Promotion zurückzustellen, und diesen Vorschlag unterstützte die Fakultät«. ⁷⁰ »Ich erkannte, daß ich bei früher Erlangung des Doktorgrades als einer der ersten ein Mitglied der Fakultät werden und mein sicheres Glück machen würde. Doch gerade damals entstand ein heftiger Streit, weil einige allein zum Doktor gemacht werden wollten und hierfür die Jüngeren auszuschließen und auf einen späteren Promotionstermin zu verdrängen suchten. Sie fanden die Gunst bei der Mehrheit aus der Fakultät. Als ich das Kunststück meiner Nebenbuhler bemerkte, änderte ich meine Pläne und beschloß, meinen Aufenthaltsort zu wechseln und die mathematischen Disziplinen zu studieren. Ich meinte, daß es eines jungen Mannes unwürdig sei, wie angenagelt an einem bestimmten Ort klebenzubleiben. Auch brannte ich schon lange vor Begierde nach größerem Ruhm in den Studien und nach Kenntnis der Welt draußen« (Vita Leibnitii a seipso breviter delineata, Klopp I 1, XXXVIII ). In dieser zwiespältigen Selbstbeurteilung hat Kuno Fischer »das Gefühl einer unverdienten Zurücksetzung« artikuliert gefunden. Unbeweisbar bleiben hingegen Gerüchte über andere außersachliche Abweisungsmotive, z. B. daß Leibniz »die Professoren gegen sich verstimmt hat«, »weil er die Autorität des Aristoteles und der Scholastiker bestritten« hatte, oder daß gar »die Frau des Dekans aus Abneigung gegen Leibniz diese Intrigue angezettelt« hat (Kuno Fischer : Leibniz. Leben, Werke und Lehre, 45, 44). Weitere Motive diskutiert Kabitz : Bildungsgeschichte, 183 f. ⁷¹ Konrad Moll : Der junge Leibniz, Bd. II : Der Übergang vom Atomismus zu einem mechanistischen Aristotelismus. Der revidierte Anschluß an Pierre Gassendi, Stuttgart – Bad Cannstatt 1982, 104, Anm. 130, weist auf den nicht unwichtigen Sachverhalt hin, daß Altdorf nicht nur für den wissenschaftlichen Fortschritt sehr aufgeschlossen, sondern damals »die einzige lutherische Universität auf deutschem Boden war, welche dem Cartesianismus freien Lauf ließ«.

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»Erörterung der verwickelten Fälle im Recht« ab.⁷² Die scharfsinnige Analyse und Lösungsstrategie gilt den Rechtsfällen, deren Konstellation einen unaufhebbaren sachlogischen Widerspruch enthält,⁷³ und sie bringt Leibniz bei den Rechtsgelehrten auch anderer Universitäten so viel Ruhm,⁷⁴ daß ihm gleich nach der feierlichen Promotion am 22. Februar 1667 eine Professur in Altdorf angeboten wird. »Doch ich hatte ganz andere Dinge im Sinn.«⁷⁵ In dieser vieldeutigen Absage des Zwanzigjährigen an die Universitätslauf.

⁷² Disputatio de casibus perplexis in jure, (Nürnberg) 1666 (A VI 1, 231– 256 ; zum Kontext vgl. A VI 2, 552). ⁷³ Zum Hintergrund vgl. Schneider : Justitia universalis, 42 f. ⁷⁴ Obwohl Leibniz die überschwengliche Bewunderung, die ihm z. B. durch einen unbekannten Gelehrten zuteil wurde, »fast beschämte«, beschreibt er doch stolz, wie er den Doktorgrad »maximo omnium applausu« erwarb. »Denn als ich öffentlich disputierte, führte ich die Erörterung mit einer solchen Leichtigkeit und legte meine Gedanken mit einer solchen Geistesklarheit dar, daß nicht nur die Zuhörer über die neuartige und insbesondere bei einem Rechtsgelehrten ungewohnte Akribie sich wunderten, sondern auch die, die eigentlich opponieren sollten, öffentlich bekannten, sie seien hervorragend zufriedengestellt worden«. Ähnlich aufschlußreich für Leibnizens Wortgewandtheit selbst im Lateinischen ist sein Bericht von seinen zwei Reden beim Promotionsakt, von denen er eine sogar in Versform hält. »Ein Professor sagte öffentlich, daß von jenem Katheder herab noch niemals derartige Verse gesprochen worden seien«. Als Leibniz sich bei seiner Versrede wegen seiner Kurzsichtigkeit das Blatt ganz nahe vor Augen halten muß, glauben die Zuhörer zunächst zu erkennen, daß er seine zuvor gehaltene Prosarede gar nicht vom Konzept abgelesen, sondern auswendig gelernt hat – bis sich durch Vorlage des abweichenden Konzeptes erweist, daß er sich die ganze Rede »aus dem Stegreif […] während des Vortragens« ausgedacht hatte, zumal ihm die Worte »latine« ebenso leicht daherfließen, wie anderen »germanice« (Vita Leibnitii a seipso breviter delineata, Klopp I 1, XXXVIII f.). ⁷⁵ »Sed ego longe alia animo agitabam« (Klopp I 1, XXXIX ). Schon Gottschalk Eduard Guhrauer : Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibnitz. Eine Biographie, mit Beilagen, 2 Bände, Breslau 1842, I 44, hat den Grund für die Absage darin vermutet, daß Leibniz die ihm vorschwebende »Reform und Verbesserung der Wissenschaften« in den »Schranken einer Universität« für undurchführbar hielt.

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bahn verbirgt sich das Geheimnis jener Übergangsphase von 1667, in der Leibniz in Nürnberg wohnt und »vertrauten Umgang mit anderen Nürnberger Gelehrten« hat.⁷⁶ Sie ist in der Tat »one of the most obscure periods in Leibniz’s life«, zumal Leibniz hier Sekretär einer alchemistischen Gesellschaft ist, die oft als Vereinigung von Rosenkreuzern hingestellt wird.⁷⁷

Der Rechtsreformer am Mainzer Hof Bevor Leibniz im Frühjahr 1668 nach Mainz übersiedelt, hält er sich einige Monate in Frankfurt auf. Vielleicht hier oder sogar schon in Nürnberg macht er die folgenschwere Bekanntschaft mit dem Freiherrn Johann Christian von Boineburg (1622 –1672), der für die kommenden Jahre sein nächster Vertrauter und Förderer wird.⁷⁸ Boineburg, der hochgebildete Diplomat und einflußrei⁷⁶ Im Brief an Bierling vom 16. März 1712 schreibt Leibniz, er habe damals Daniel Wülfer, den mutmaßlichen Präsidenten der alchemistischen Gesellschaft, oft besucht, und ergänzt : »aliis ejus temporis viris doctis Norimbergiensibus familiaris fui« (GP VII 504). ⁷⁷ So George MacDonald Ross : Leibniz and the Nuremberg Alchemical Society, in : Studia Leibnitiana, 6 (1974), 222 – 248, hier 222. Ross hat sehr sorgfältig die Quellen für einen Versuch zusammengetragen, »to disentangle the truth […] from the myths that have grown up about the society and Leibniz’ s relations to it« (222). – Aus dem späten Rückblick schreibt Leibniz : »Mich hat Nürnberg zuerst in chemische Studien eingeweiht, und es reut mich nicht, in der Jugend gelernt zu haben, was mich als Mann vorsichtig werden ließ. Denn später bin ich oft zu derartigen [alchemistischen] Studien gedrängt worden, weniger aus eigenem Antriebe als aus dem der Fürsten, bei denen ich Zutritt hatte. Auch ließ ich es nicht an Neugier fehlen, hielt sie jedoch durch die gebotene Kritik in Grenzen. Ich habe gesehen, wie (Johann Joachim) Becher und andere mir sehr bekannte Leute Schiffbruch erlitten, während sie mit dem günstigen Winde ihrer Alchemistenträume zu segeln glaubten« (Chronik 11). ⁷⁸ Während einige Quellen dafür sprechen, daß Leibniz Boineburg schon in Nürnberg kennengelernt und dieser ihm zumindest indirekt den Zugang zum Mainzer Hof eröffnet hat, stellt sich Leibniz in späteren

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che Mitbegründer des Rheinbundes, gilt damals als das ›politische Orakel Europas‹, denn bis vor kurzem war er lange Zeit Außenminister des kurfürstlichen Erzbischofs von Mainz und Erfurt, Johann Philipp von Schönborn (1605–1673), dem man nachsagt, der ›Gleichgewichtshalter des Reichs‹ zu sein. Am Mainzer Hof hat man gerade begonnen mit einer groß angelegten Reform des Corpus juris civilis, die von dem Justizrat Hermann Andreas Lasser († 1676) geleitet wird. Diese große Mainzer Rechtsreform wird es sein, die Leibniz zu jenen frühen Entwürfen zu den Elementen des Naturrechts motiviert, die in der vorliegenden Textgruppe III versammelt sind. Als hochkarätiger Jurist darf Leibniz sich wie kaum ein anderer berufen fühlen, als er sie vom Frühjahr 1668 an erheblich mitgestalten darf.⁷⁹ Von Boineburg wird Leibniz ohnehin sehr Selbstzeugnissen als ganz unabhängig dar, so als hätte er höchstselbig am Portal der Mainzer Residenz angeklopft. Ein deutschsprachiger Text von Leibniz deutet das Dunkel seiner damaligen Lebenspläne an. »Im 21. jahr habe in utroque jure mit ungemeiner approbation promoviret, und darauff meine reisen angetreten, als ich aber durch Maynz passiret, der meinung nach Holland und weiter [ !] zu gehen, bin ich bey dem damahligen berühmten Churfürsten Johann Philipp in Kundschafft kommen, der mich bey sich behalten« (Chronik 11). »Die Erklärung für den Grund dieser langen Reise von Nürnberg aus (den zu bagatellisieren kein Anlaß vorliegt), muß in Zielen gesucht werden, die ihn schon dort und nicht erst in Frankfurt bestimmt haben konnten«, z. B. »die ihm in Frankfurt angebotene Stellung eines Reisebegleiters oder Hofmeisters«. »Ob er sich an einer holländischen Universität eine Ausweitung seines wissenschaftlichen Horizontes erhofft hat ? Wir wissen es bis jetzt nicht« (A VI 2, XVIII ). Für die komplexen Tatsachen und Legenden über Leibnizens Begegnung mit Boineburg sei verwiesen auf die mit Scharfsinn und Fleiß zusammengestellte Erörterung bei Paul Wiedeburg : Der junge Leibniz. Das Reich und Europa, I . Teil : Mainz, 2 Bände, Wiesbaden 1962, 2 : Anmerkungsband, Anm. 110 (80 – 87). ⁷⁹ Nach Wiedeburg : Der junge Leibniz, I .1, 106, könnte Leibniz »schon in Altdorf oder Frankfurt erfahren« haben, daß Lasser »bereits in kurfürstlichem Auftrag eine Revision des ›Corpus Juris‹ in Angriff genommen« hatte. Plausibel ist auch die Vermutung von Schneider : Justitia universalis, 46 : »Boineburg wird ihm [Leibniz] mitgeteilt haben, daß man sich in

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schnell anerkannt als ein »sehr gebildeter, vortrefflicher Philosoph, voll Ausdauer, zu spekulativen Gedankengängen fähig und entschlossen«,⁸⁰ und bald schätzt auch Lasser ihn als ein »sehr capax subjectum«, das einen »ganzen universalisten verspühren« lasse.⁸¹ Als eine Art Empfehlungsschrift für seinen ersten großen Tätigkeitsbereich hat Leibniz seine »Neue Methode, Rechtswissenschaft zu lernen und zu lehren« verfaßt, die anonym erscheint und dem Kurfürsten gewidmet ist.⁸² Das Werk wurde zwar Ende 1667 eilig »auf der Reise, ohne jeden Bücherapparat«, »in einem Frankfurter Gasthaus« zu Papier gebracht,⁸³ ist jedoch aus umfangreichen VorMainz sehr eifrig um eine Erneuerung des Römischen Rechts bemühte« ; »wahrscheinlich gehen die Arbeiten zur Vereinfachung des Corpus Juris in Mainz ursprünglich sogar auf die Initiative Boineburgs zurück, der als Schüler von Conring dessen Reformvorschläge aus der Schrift ›De origine Juris Germanici‹, Helmstedt 1643, Kap. XXXV , verwirklichen wollte« (ebd., Anm. 84). ⁸⁰ So Boineburg an Hermann Conring, 26. April 1668 (Chronik 13). ⁸¹ So Lasser in einem Schreiben an Peter Lambeck vom 19. August 1668, das zugleich den Prodromus Corporis Juris reconcinnandi enthält (A VI 2, XXI ). ⁸² Der genaue Titel lautet : Nova Methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae. Ex artis Didacticae Principiis in parte Generali prae-praemissis, Experientiaeque Luce : Autore G. G. L. L., Frankfurt 1667. Das Werk ist abgedruckt in A VI 1, 261– 364. ⁸³ Leibniz an Bierling, 16. März und 19. April 1712 (GP VI I 504 f.). Im Brief an den Herzog Johann Friedrich vom 21. Mai 1671 spricht Leibniz von einem »ausm stegreiff undt auff der reise auffgesetzten Tractätlein« (A II 1, 107, 32 f.). Auch die seit 1667 mit »Eile« betriebene Neuausgabe seiner bisherigen juristischen Disputationsschriften unter dem Titel Specimina juris plante Leibniz wohl deshalb, »weil er sich mit diesen wissenschaftlichen Leistungen auf juristischem Gebiet in Mainz oder anderwärts empfehlend einführen wollte«. Den Faszikel der »Druckvorlage« für die Nürnberger Buchdruckerei Mildenberger hat Leibniz nach eigenen Angaben 1667 eingereicht. Nach Mildenbergers baldigem Tod konnte er über das Schicksal seiner Vorlage nichts mehr in Erfahrung bringen, bis er »erst nach zwanzig Jahren« durch den »Studiosus der Rechte Johann Heinrich Pape« erfuhr, daß die Specimina »im Jahre 1669, ohne Angabe des Drukkers und Druckortes«, erschienen waren (A VI 1, XVIII f. u. A VI 2, 559).

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arbeiten erwachsen, die zum Teil noch aus der frühen Studienzeit stammen.⁸⁴ Diese lange Reifung erklärt, weshalb die für das Naturrecht höchst bedeutsame Schrift, aus der unser Text II entnommen ist, am Ende doch ein architektonisches Meisterwerk wurde. Die ausgereifte Konzeption erklärt ferner, weshalb Leibniz, bei aller Unzufriedenheit im Detail, von 1671 bis zu seinem Tod eine verbesserte Neuauflage des gelungenen Jugendwurfes plante und hierfür umfangreiche Revisionen vornahm.⁸⁵ Schon das erlaubt in der Tat den Schluß, daß es zwischen den juristischen »Schriften der Jugendzeit und denen der späteren Periode in den Hauptpunkten keinen wesentlichen Unterschied« gibt.⁸⁶ Wie der Titel des Werkes andeutet, soll durch eine neue Lernund Lehrmethode das juristische Studium, ja die Jurisprudenz im ganzen reformiert werden.⁸⁷ Seitdem Leibniz nämlich aus eigenem Erleben und Erleiden merkte, »wieviel Überflüssiges und Dunkles, wiewenig aber an der richtigen Stelle im Gesetzeswerk steht, bedauerte« er »die Jugend, die ihre Zeit mit solchen Albernheiten vergeudet«, und prüfte, ob man nicht zur »Heilung dieses Übels« ⁸⁴ Zahlreiche Belege hierfür sind genannt in A VI 2, XVII f. ⁸⁵ Drei unterscheidbare Revisionsstufen aus den Jahren kurz vor 1700 sind in der Akademie-Ausgabe abgedruckt. Einiges aus den durchschossenen Handexemplaren Leibnizens ist als Fußnotenreihe unter dem Text der Erstausgabe wiedergegeben (A VI 1, 263 – 364) ; anderes wurde separat nachgetragen in A VI 2, 25– 35. Nach Schneider : Justitia universalis, 50, Anm. 107, hat man nach Leibniz’ Tod auf seinem Schreibtisch ein aufgeschlagenes Exemplar der Nova methodus gefunden. ⁸⁶ So schon Kahn : Die Grundbegriffe der Philosophie Leibnizens, 47 f. Der Unterschied im Detail beziehe sich »weniger […] auf den Inhalt als auf die Form«. ⁸⁷ Schon Ernst Heymann : Leibniz’ Plan einer juristischen Studienreform vom Jahre 1667, in : Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1931, Philosophisch-historische Klasse, Berlin 1931, CV , weist darauf hin, daß die Nova methodus, diese »Arbeit eines scharfen Kritikers am ganzen Zustande der Rechtswissenschaft«, doch »mitten in einer jahrhundertelangen Kette von Reformschriften« steht. Vgl. auch Schneider : Justitia universalis, 46 f.

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den ganzen Wust von Gesetzen »auf wenige Sätze zurückführen könnte«.⁸⁸ Einige Jahre später wird Leibniz keinem Geringeren als Kaiser Leopold I. höchstselbig die Gründe für die Notwendigkeit einer Neuordnung des Rechts nach einer rationalen Methode unterbreiten. In seinem »Bedenken, welchergestalt den Mängeln des .Justizwesens in theoria abzuhelfen« legt der Fünfundzwanzigjährige dar, daß die ganze öffentliche Rechtsklarheit, Rechtssicherheit, ja Rechtsgleichheit zum einen am schlimmen Zustand der Gesetze leidet, der zum »deckmantel vieler ungerechtigkeiten« geworden sei, zum anderen aber an einer methodischen Mangelhaftigkeit, die »das Justizwesen sowohl in Schuhlen als Gerichten verwirret« habe.⁸⁹ Je intensiver sich Leibniz in das Corpus juris und seine Geschichte eingräbt, desto klarer werden ihm die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Rechts, die übrigens »im 17. Jahrhundert oft beklagt[…]« wurden.⁹⁰ Er führt sie allesamt zurück auf die vier Laster »Überflüssigkeit, Mangelhaftigkeit, Dunkelheit und Verworrenheit (superfluitas, defectus, obscuritas, confusio)«.⁹¹ Je mehr er aber der Mainzer Reform seinen Stempel der Gründlichkeit aufprägt, desto größere Ausmaße nimmt das Reformunternehmen der ›jurisprudentia rationalis‹ an. Schließlich wird es in drei Abteilungen untergliedert.⁹² Als Grundlage und Vorspann zum geltenden Recht soll ein Kompendium des Naturrechts mit dem Titel »Elemente des Natur⁸⁸ Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata (Klopp I, XL ). ⁸⁹ Bericht an den Kaiser, vermutlich August 1671 (A I 1, 57– 62, hier : 58, 31 u. 57, 14). Der genannte Titel stammt von Guhrauer, der den Text erstmals in einer kürzeren Fassung präsentiert hat ; Guhrauer (Hg.) : Leibnitz’s Deutsche Schriften, I 256 – 263. ⁹⁰ So Schneider : Justitia universalis, 40. ⁹¹ Ratio corporis juris reconcinnandi, Juni 1668 (A VI 2, 93 –113, hier 94, 14 f.). ⁹² Diese Dreiteilung erläutert Leibniz insbesondere im Brief an Jean Chapelain ( ?) aus der 1. Hälfte 1670 (s. u. 369 f.), aber auch im Brief an Louis Ferrand vom 31. Januar 1672 (s. u. 375 f.) ; hier unterstreicht Leibniz auch, daß die ersten zwei Teile, d. h. die Elementa, von ihm selbst verfaßt worden sind, der Nucleus und das Corpus hingegen mit Lassers Hilfe.

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rechts« dienen. Die Schriften, die Leibniz hierfür in der Mainzer Zeit fertiggestellt hat, bilden die Textgruppe III der vorliegenden Sammlung. Ihre Definitionen, Axiome und Lehrsätze des von Natur aus Gerechten sollen Richtern und anderen Entscheidungsbefugten bei zweifelhaften Rechtsfällen und Billigkeitserwägungen exakte Maßstäbe der Orientierung an die Hand geben. Das Naturrecht ist gleichsam der »Kompaß« auf dem unermeßlichen und stürmischen »Ozean« juristischer Kontroversen.⁹³ Als zweiter Teil sollen dann die »Elemente des heutigen römischen Rechts«, später auch »Elemente des heutigen gemeinsamen Zivilrechts« genannt, die »Fundamente« des römischen Rechts in eine tabulatorische Übersichtlichkeit bringen, durch die man »alle vorgegebene Fragen nach den gemeinen römischen Rechten auflösen« kann.⁹⁴ Der dritte Teil schließlich, das »Verbesserte Rechtskorpus« selbst, wird am Ende nochmals untergliedert in einen »Kern der Gesetze«, der die wichtigsten Gesetze des römischen Zivilrechts enthalten soll, und in das Gesetzesbuch selbst, das den ganzen neugeordneten Stoff des Rechtskorpus umfassen soll.⁹⁵ Trotz der immensen Arbeit an der Rechtsreform gehören Leibniz’ Mainzer Lehrjahre vom Mai 1668 bis zum März 1672 zu den ruhigsten und fruchtbarsten seines Lebens.⁹⁶ In ihnen reifen die Grundgedanken seiner späteren praktischen Philosophie, aber

⁹³ So bereits die Neue Methode, II , § 69 (s. u. 71). ⁹⁴ An Herzog Johann Friedrich, Oktober 1671 (A II 1, 162, 9 –15). Wichtige Erläuterungen gibt Leibniz auch in seinen Briefen an Conring vom 13./23. Januar 1670 (s. u. 335) und vom 9./19. April 1670 (s. u. 345). Die Entwürfe für diese Elementa juris romani hodierni sind unter dem Titel Elementa juris civilis abgedruckt in A VI 2, 35– 93. ⁹⁵ Dieses Corpus juris reconcinnatum einschließlich des Nucleus legum muß heute »vorerst als verloren gelten« (A VI 2, XXIII ). Zum Gesamtplan und zur Textüberlieferung vgl. Schneider : Justitia universalis, 55– 60. ⁹⁶ Nach der treffenden Einschätzung von Mulvaney : The early Development of Leibniz’s Concept of Justice, bilden die Mainzer Jahre »a period of tremendous growth« (55).

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auch seiner Kosmologie und Monadenmetaphysik heran.⁹⁷ Die »gesellschaftliche Zurückgezogenheit«⁹⁸ im Dienst der Rechtsverbesserung gibt ihm Konzentration und inneren Freiraum, um eine rege Korrespondenz mit großen Gelehrten zu beginnen, bei denen er allmählich große Anerkennung findet.⁹⁹ Die meisten sind persönliche Bekannte seines Förderers Boineburg, dem er als Sekretär, Bibliothekar und Berater dient. Am Hof des kurfürstlichen Erzbischofs gerät Leibniz in den »Dunstkreis europäischer Politik«¹⁰⁰ und zugleich als Lutheraner in eine fast ökumenische Atmosphäre. Boineburg gehört zum Konvertitenzirkel bei Hofe, sieht »mit Besorgnis die Ausbreitung des Atheismus in Europa«¹⁰¹ und regt Leibniz an, ein Werk zur Reunion der christlichen Konfessionen zu schreiben. Schon 1668/69 entwirft der Philosoph einen differenzierten Plan zu einer »systematisch-vollständigen Apologie der christlichen Lehre und Kirche gegen Atheisten und Sektierer«.¹⁰² Der erhalten gebliebene »Abriß der allumfassenden Beweise«¹⁰³ ist .

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⁹⁷ Zur These, daß Leibniz’ Mainzer Hypothese vom selbstregulativen System der dynamischen Ätherpunkte eine Vorform der Monadenkonzeption darstellt, vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 404 – 467 u. 501– 559. ⁹⁸ Wiedeburg : Der junge Leibniz, I .2, 148, belegt diese Einschätzung mit einem Brief von Leibniz. ⁹⁹ Vgl. Georg Gerber : Leibniz und seine Korrespondenz, in : Totok, Haase (Hg.) : Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Welt, 141–171. ¹⁰⁰ Guhrauer : Leibnitz, I 49. ¹⁰¹ So die Herausgeber in der Einleitung zu A VI 2, 570, 6 f. ¹⁰² A VI 1, XX . ¹⁰³ Der Demonstrationum Catholicarum Conspectus ist abgedruckt in A VI 1, 494 – 500. Er sieht vier Gruppen von Beweisen vor : I . fünf Gottesbeweise und die Kritik exemplarischer theologischer Trugschlüsse (Paralogismen) ; II . Beweise der Unsterblichkeit der Seele ; III . ein in 57 Kapitel unterteilter »Beweis der Möglichkeit der Christlichen Glaubensgeheimnisse (Demonstratio Possibilitatis Mysteriorum Fidei Christianae)«, der sich vom Allwissenheitsmodus Gottes über die Trinität, den Sündenfall, die Menschwerdung und die Transsubstantiation bis hin zum Strafgericht und der seligen Schau erstreckt ; IV . Beweise zur Vermittlung zwischen der römischen Amtsautorität und der evangelischen Schriftautorität.

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von großer Bedeutung für die gesamte Wissenschaftssystematik des frühen Leibniz. Die groß angelegten Beweise selbst, die das umfassend Allgemeine (Katholische) der christlichen Kirche gegen Häretiker und Schismatiker¹⁰⁴ darlegen und mit dem Zeitalter des Mechanizismus und der mathematischen Rationalität versöhnen sollen,¹⁰⁵ bleiben das verborgene Zentrum von Leibniz’ vielseitigen Mainzer Aktivitäten, die hier kaum aufzählbar sind.¹⁰⁶ Den Beweisen zugrunde liegen sollen als »Prolegomena« die enzyklopädischen »Elemente der Philosophie«. Sie gliedern sich in »die ersten Prinzipien der Metaphysik (Vom Seienden), der Logik (Vom Geist), der Mathematik (Vom Raum), der Naturphilosophie (Vom Körper) und der Praktischen Philosophie (Vom Staat)«.¹⁰⁷ Ein Ju-

¹⁰⁴ In diesen Kreis gehören kleinere Schriften gegen die Unitarier (Boineburg stand in gegnerischem Briefwechsel mit dem polnischen Sozinianer Andreas Wissowatius) wie die Defensio trinitatis per nova reperta logica von 1669 und die Refutatio objectionum Dan. Zwickeri contra trinitatem et incarnationem Dei von 1669/70 (A VI 1, 518 – 532). ¹⁰⁵ Zum universellen Nachweis der Vereinbarkeit der christlichen Glaubensgeheimnisse mit der mechanischen Naturerklärung gehören die unter dem Titel Demonstratio possibilitatis mysteriorum eucharistiae zusammengefaßten Aufzeichnungen (A VI 1, 501– 517), aber auch De incarnatione Dei seu de unione hypostatica von 1669/70 (ebd. 532 – 535) und De possibilitate gratiae divinae von 1669 – 71 (ebd. 535 f.) ; ferner der deutschsprachige Aufsatz Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen von 1670/71 (ebd. 537– 546) sowie die Texte De unitate ecclesiae romanae von 1669 – 71 (ebd. 547 f.) und Commentatiuncula de judice controversiarum (ebd. 548 – 559). ¹⁰⁶ So bittet Leibniz z. B. 1668 in seiner ersten Eingabe an Kaiser Leopold I ., De scopo et usu nuclei librarii semestralis, um die Erlaubnis einer gelehrten Zeitschrift, die nach dem Vorbild des »Journal des Sçavans« die Neuerscheinungen der Buchmessen von Frankfurt und Leipzig zusammenfaßt (A I 1, 3 – 7). ¹⁰⁷ »Prolegomena continebunt Elementa Philosophiae. Nempe prima principia Metaphysicae (de Ente) Logicae (de Mente) Matheseos (de Spatio) Physicae (de Corpore) Philosophiae Practicae (de Civitate).« (Demonstrationum Catholicarum Conspectus, A VI 1, 494, 4 – 6).

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gendgelübde, dieses opus magnum zu schreiben,¹⁰⁸ wird Leibniz bis zum Tode motivieren. Es wird sich zu einem in Umfang und enzyklopädischer Spannbreite unvergleichlichen Lebenswerk entfalten : einem philosophischen System, das auf 75 000 Manuskripten verzettelt ist, ohne daß die Nachwelt es bisher zu einem Ganzen hätte rekonstruieren können. Als Leibniz Ende März 1672 in geheimer politischer Mission nach Paris übersiedelt¹⁰⁹ und dort auch die gelehrte Bühne keineswegs für Nebenrollen betritt, hat er zu fast allen genannten Teilgebieten der »Elementa philosophiae« umfangreiche Vorarbeiten hinterlassen. Normative Prinzipien der Logik und Mathematik hatte er schon 1666 in »Über die kombinatorische Wissenschaft« skizziert. Erste Ansätze zu den Elementen vom Körper zeigen die naturphilosophischen Schriften : vom »Bekenntnis zur Natur gegen die Atheisten« (1668)¹¹⁰ über die »Theorie der abstrakten Bewegung«, die die vom physikalischen System unabhängigen, rein geometrisch-phoronomischen Gesetze formuliert,¹¹¹ bis hin zur »Theorie der konkreten Bewegung«, die die »neue physikalische Hypothese« vom zirkulierenden Äther aufstellt¹¹² (1669 – 71). Von den Elementen der praktischen Philosophie beginnt Leibniz in Mainz immerhin den naturrechtlichen bzw. ethischen Teil auszuarbeiten, wie unsere Textgruppe III belegt. Sein Bemühen hingegen, auch den politischen Teil auf das Niveau einer echten »Scientia politica (Nomothetica)« zu heben,¹¹³ ist in Mainz nicht weit ¹⁰⁸ Vgl. Leibniz’ Bemerkung in einem Brief an Burnett von 1697 (Dutens, VI 1, 248 f.). ¹⁰⁹ Leibniz sollte in Paris u. a. das Consilium Aegyptiacum verfolgen, d. h. jenen seit dem Sommer 1670 von Boineburg betriebenen Plan, Ludwig XIV . zu einem Feldzug gegen Ägypten zu überreden, um ihn von seinen Expansionsgelüsten gegen Holland und Deutschland abzulenken. ¹¹⁰ Confessio Naturae contra Atheistas (A VI 1, 489 – 493 ; zur Überlieferung vgl. A VI 2, 569 f.). ¹¹¹ Theoria motus abstracti, Vorarbeiten (A VI 2, 157–186) und Endfassung (ebd. 258 – 276). ¹¹² Hypothesis Physica Nova (A VI 2, 219 – 257). ¹¹³ An Hermann Conring, 13./23. Januar 1670 (s. u. 325).

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gediehen. Leibniz’ umfangreiche politische Schriften dieser Zeit bleiben vielmehr zweckbezogene Gelegenheitsschriften und sind deshalb nicht frei von taktischen Rücksichtnahmen und strategischen Parteinahmen.¹¹⁴ Eine so konzentrierte und kreative Lebensphase wie die Mainzer Epoche, die ihm an fast allen Segmenten des enzyklopädischen Wissensglobus gleichzeitig zu arbeiten erlaubt, wird Leibniz später nicht mehr finden. Seine Energie wird sich derartig vielseitig zerstreuen, daß er am Ende den Überblick über seine Manuskripte verliert. Deshalb scheint es hilfreich, abschließend kurz die fundamentalen Interessen des frühen Leibniz zusammenfassen, die er zeitlebens nicht verlieren wird.

Leibniz’ leitende Interessen Die leitenden Motive, die schon früh Leibnizens Denkweg organisieren und bis zum Tod die Einheit seines enzyklopädischen Schaffens bilden, lassen sich in vier Ziele gliedern. Auf der Ebene einer direkt praktischen Zielsetzung liegen erstens die oben beschriebene rationale Neuordnung des Rechts und des Justizwesens für eine gerechtere Rechtspraxis, aber auch zweitens die durch Gründung von Akademien methodisch organisierte »Perfektionierung« der Wissenschaften und Künste¹¹⁵ im Dienste einer Förderung der öffent¹¹⁴ Hierzu gehören etwa die anonyme Flugschrift Specimen demonstrationum politicarum pro elegendo rege polonorum novo scribendi genere ad claram certitudinem exactum vom Winter 1668/69 (A IV 1, 3 – 98), die Ursachen worumb Canstatt füglich zur Hauptstatt des Herzogthums Würtenberg zu machen vom Mai 1669 (ebd. 101–111) und das Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich auf festen Fuß zu stellen von 1670 (ebd. 133 – 214). Die Untersuchung von Wiedeburg : Der junge Leibniz, I .1 u. I .2, ist im wesentlichen eine Interpretation dieser politischen Schriften. ¹¹⁵ »Summa Votorum meorum ist, wie ich zu einem solchen Ruhigen Stand gelangen möge, daß ich darinn mein weniges von Gott verliehenes

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lichen Wohlfahrt.¹¹⁶ Auf der Ebene einer zunächst theoretischen, mittelbar jedoch ebenfalls praktischen Zielsetzung liegt dagegen drittens der Nachweis, dem Leibniz’ ganzes philosophisches Stretalent zur perfectionirung der Wißenschafften anlegen könne, dazu ich nirgend beßere Anstalt aniezo als in Franckreich sehe, alda Ihre Mayt die Königliche resolution gefaßet Leüte von denen etwas zu gewarten, durch pensionen zu encouragiren« (an Herzog Johann Friedrich, Oktober [ ?] 1671, A II 1, 165, 6 –10). Auch diese »perfectionirung der Natur-Kündigung und realen Künste« werde ihren »Nuzen im Menschlichen Leben« zeigen (Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät, A IV 1, 535, 19 – 22). ¹¹⁶ In keinen anderen Schriften hat Leibniz die Mittel und Ziele seines wissenschaftlichen Reformprogramm so eindrucksvoll vor Augen gestellt wie im Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societät in Teütschland zu auffnehmen der Künste und Wißenschafften und dem zugehörigen Bedencken selbst. Beide Schriften verfaßt er zwischen 1670 und 1671, um für die Gründung einer deutschen Akademie der Wissenschaften zu werben. Seine Hoffnung richtet sich auf die Kooperation von Forschungsprojekten durch das Teamwork von Experten und Universalgelehrten, Empirikern und Theoretikern an Akademien, dessen Wirksamkeit wächst wie ein akkumuliertes Kapital, sobald die »machine« einmal »in schwang gebracht« worden ist (A IV 1, 537, 27). Bis jetzt dagegen verfügen wir zwar »über eine unglaubliche Menge ausgezeichneter Experimente, aber sie ist roh und ungeordnet und ohne einen Nutzen, der mehr als zufällig ist« (Elemente des Naturrechts 4, s. u. 217 f.). – Die Programmpunkte, mit denen Leibniz bereits unser spätmodernes kyklopisches Zeitalter der von Wissenschaft und Technik durchplanten Lebenswelt heraufbeschwört, sind für seinen Reformgeist höchst aufschlußreich. »Künste und wißenschafften zu vermehren und zu verbeßern« durch »gleichsam einen handel und commercium mit wißenschafften« ; »Rem literariam zu verbeßern«, indem »Catalogos fast aller bücher erstellt«, »der Kern aus den Büchern gezogen und vortheilhaffte leichte loci communes gemacht werden«, um so »alles in ordnung und indicibus zu haben« ; »Hospitäle, stipendia, waisenheüser, communitäten, Landschuhlen, ja gar universitäten« zu fördern, »armen studiosis unterhalt zu schaffen«, und dabei »die jugend nicht sowohl auff poëticam, logicam et philosophiam scholasticam, als realia : historiam, mathesin, geographiam, und physicam veram, moralia et civilia studia zu leiten« ; »Rem Medicam et Chirurgicam zu verbeßern«, d. h. etwa »exactissima interrogatoria Medica per artem combinatoriam zu formi-

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ben gilt : daß sich die Prinzipien der neuen, mechanischen Naturerklärung widerspruchslos harmonisieren lassen mit den Glaubensgeheimnissen der christlichen Religion.¹¹⁷ Mit diesem philosophiren, damit keine circumstanz noch indication ohne reflexion entwischen könne«, wobei auch noch die »graduum sanitatis et ad morbos inclinationum, das ist temperamentorum indicationes et contraindicationes in regeln zu bringen« sind ; »die Manufacturen zu verbeßern« mit »Mühlwerck, Drechselbäncken, Glasschleiffen und perspectiven, allerhand Machinen und Uhren, Waßer-künsten, schiffs-vortheilen, Mahlerey und andern figurirenden Künsten, Weberey, Glas blasen und bilden, Färberey, Apotheker-kunst, Stahl- und andern metallischen wercken, chymie« usw. ; und – nicht zu vergessen – »die Commercien zu verbeßern«, indem man »von allen was handel und wandel betrifft genaue relationes und überschläge« berechnet (A IV 1, 538– 543). ¹¹⁷ Die Defensivstellung der christlichen Metaphysik gegenüber dem physikalischen Naturalismus der Neueren ist sogar die kardinale Herausforderung, auf die Leibniz’ Denken als ganzes eine überzeugende Antwort geben will. Die Glaubensgeheimnisse können nicht überzeugend verteidigt werden, solange sie dem unverbrüchlichen Kausalnexus eines geschlossenen Naturmechanismus widersprechen. Deshalb darf die Theologie sich jenem »unaufhaltsamen Siegeszug (inevitabilis eventus) der reformierten Philosophie selbst« nicht versperren, der durch die Traditionslinie der »magni illi viri Verulamius, Gassendus, Hobbius, Digbaeus«, aber auch Galilei, Descartes und andere »novatores« gebildet wird (an Jakob Thomasius, 20./30. April 1669, A II 1, 21, 17 f. ; 14, 21 – 26). Das polemische Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Theologie bzw. Metaphysik kann nur dadurch aufgehoben werden, daß sie als komplementäre Perspektiven erwiesen werden. Der wirkkausalen Naturentzauberung wird zwar ein autonomes Gebiet eingeräumt ; weil sie jedoch eine reduzierte Abstraktionsansicht der Natur ist, muß sie durch finale Begründungsprinzipien ergänzt werden. Leibniz hat das spekulative Interesse an dieser philosophischen Lebensaufgabe vielleicht nie wieder so komprimiert wie im Bekenntnis zur Natur gegen die Atheisten von 1668. »Francis Bacon von Verulam, dieser Mann von göttlichen Geistesgaben, hat richtig geurteilt, daß die Philosophie von Gott wegführt, wenn man von ihr bloß im Vorübergehen genascht hat, daß sie aber zu ihm zurückführt, wenn sie aus der innersten Tiefe geschöpft ist. Wir erfahren das in unserem Jahrhundert, das gleichermaßen fruchtbar ist für die Wissenschaft und für die Unfrömmigkeit. Denn nicht nur wurde durch die hervorragend verfeinerten ma-

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schen Lebensziel unauflöslich verknüpft ist schließlich auch das vierte Interesse : die logische Klärung und weitestmögliche Harmonisierung dogmatischer Kontroversen für ein interkonfessionelles Christentum.¹¹⁸ Was von Anfang an diese vier Motive umthematischen Techniken und durch die in Chemie und Anatomie durchforschten inneren Strukturen der Dinge offenbar, daß das meiste aus der Figur und Bewegung der Körper gleichsam mechanisch abgeleitet werden kann, was die Alten allein auf den Schöpfer oder auf ich weiß nicht welche unkörperlichen Formen zurückgeführt hatten. Vielmehr begannen geniale Köpfe in der Tat erstmals auszuprobieren, ob nicht die natürlichen Phänomene bzw. das, was an den Körpern offensichtlich ist, bewahrt und erklärt werden könnten, ohne daß überhaupt Gott herangezogen oder in die Schlußfolgerungen mit einbezogen wird. Sobald dieser Versuch nur etwas Erfolg zeigte (bevor sie nämlich auf die Grundlagen und Prinzipien gestoßen waren), verkündeteten sie gleichsam voll Freude über ihre Sorglosigkeit als ausgereifte Wahrheit, daß sie weder Gott noch die Unsterblichkeit der Seele mit der natürlichen Vernunft entdecken könnten, sondern daß der Glaube hieran nur aufgrund staatlicher Vorschriften oder historischer Überlieferung nötig sei. So befand es der höchst scharfsinnige Hobbes, der es wegen seiner Entdeckungen eigentlich verdient hätte, nicht in diesem Zusammenhang genannt zu werden, wenn nicht gerade seiner Autorität, die einen weniger guten Einfluß ausüben dürfte, ausdrücklich entgegenzutreten wäre. Und wären hier bloß nicht andere noch weitergegangen, die den Atheismus unverhohlen der Welt eingeflößt haben, indem sie bereits an der Autorität der Heiligen Schrift, an der Wahrheit der biblischen Geschichte und der Überlieferung der Erzählungen zweifelten. Mir aber ist dies bis zum letzten Maß unwürdig erschienen, daß unser Geist durch sein eigenes Licht, d. h. durch Philosophie geblendet wird (animum nostrum sua ipsius luce, id est Philosophia praestringi). Deshalb habe ich angefangen, mich selbst der Erforschung der Dinge zu widmen, und zwar umso intensiver, je weniger erträglich ich es fand, durch die Spitzfindigkeiten der Neuerer meines größten Lebensgutes beraubt zu werden, nämlich der Gewißheit der Ewigkeit nach dem Tod und der Hoffnung auf die göttliche Gunst, die einst den Guten und Schuldlosen erwiesen wird.« (Confessio naturae contra Atheistas, A VI 1, 489, 7– 26) ¹¹⁸ Leibniz’ frühe Bestrebungen zur Reunion der Kirchen enthalten ein kritisches und ein affirmatives Anliegen. Zunächst sollen die Kontroverspunkte logisch exakt und sprachanalytisch wachsam geklärt werden. Was Leibniz 1671 von seiner soeben lateinisch abgefaßten, leider nicht erhalte-

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greift, ist Leibniz’ Bemühung um eine beweisfähige Methode der Wissenschaft, die er – wie viele andere im 17. Jahrhundert – in der ›mathematischen Methode‹ nach dem Vorbild des Euklidischen nen »meditation« über Freiheit, Gnadenwahl und Vorsehung schreibt, gilt prinzipiell für alle anderen Streitpunkte und ist sehr aufschlußreich für die Leibnizsche Denkhaltung. »Mein Zweck aber ist […] auch hier gewesen, nicht etwa mit leeren, in die luft geschriebenen büchern die läden zu füllen, sondern wo müglich damit einen nuzen zu schaffen ; und habe daher gegenwärtige arbeit vorgenommen, um mit diesem specimine zu beweisen, wie oft wichtige dinge, so durch wunderliche terminos verdunckelt worden, leicht [werden], wenn man diese nebelkappe abziehe und alles mit solchen worten gebe, so jedermann in seiner sprache braucht. Was ist wohl jemals mit mehrer Hize verfochten worden von allen seiten der philosophen und religionen der Völcker, als die materie von der praedestination und was ihr anhängig ? und gleichwohl hat ein großer Politiker recht gesehen, nemblich daß einer den andern nicht verstehe, daß aller dieser zanck von mißbrauch der worte komme, daß (kürtzlich zu sagen) in der that der unterschied gering und zum wenigsten nicht capital, oder wie man heutzutage redet, fundamental sey. Ich getraue mir, wenns der mühe werth wäre, über hundert unterschiedene secten und meinungen (dem ansehen nach), in der that [jedoch nur] widereinander laufende arten zu reden, in dieser materie zusammen zu bringen, so ihre autores nicht anders, als wenn der menschliche wohlstand daran hinge, verfolgt, und diesen artikel zu einem solchen labyrint gemacht haben, daß dergleichen keiner in der welt zu finden und daß der längstlebende mensch nicht zeit genug haben würde, nur die und dergleichen distinctionen und verdrehungen der worte zusammen zu bringen und aus einander zu sezen. Weil aber ein einiges, clares, von jedermann erkannt – aus gemeinem leben genommen – mit einer gewissen definition umbschränktes wort, mehr krafft hat, die gemüther zu erleuchten, als tausend termini scholastici und distinctiones, so habe ich das wiewohl unzählbare spinngewebe abgekehrt und mit natürlichen redearten […] alles geben. Ich hätte es lieber teutsch geschrieben, sonderlich weil die teutsche sprache keine terminaisonen leidet, man wolte dann fremde worte ungescheut hineinflicken ; allein es hätte dergestalt dem ausländer nicht communicirt werden können.« (An Herzog Johann Friedrich, 13. Februar [ ?] 1671, A II 1, 83, 32 – 84, 22). Als zweiten Schritt nach der Analyse der Kontroverspunkte hat Leibniz das Fernziel eines interkonfessionellen Symbolons vor Augen, das den

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›mos geometricus‹ sah. Wie unser Text I zeigt, gehört schon der Siebzehnjährige zu denjenigen in Deutschland, die um 1663 auch in der Philosophie das Exaktheitsideal eines Denkens »more mathematico« anstreben (Pentagon, s. u. 4). In der Vervollkommnung und Ausweitung jener mathematischen Rationalität, deren technische Folgen uns im 21. Jahrhundert so beklemmend anmuten, sieht der frühe Leibniz die Universalmedizin, um mehr Übersichtlichkeit in die Gesetze und mehr Rechtsklarheit und -sicherheit in die juristische Praxis zu bringen, um die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Natur zu steigern, um der Philosophie eine wissenschaftliche Form zu geben und um der in Religionskriegen sich äußernden religiös kostümierten Intoleranz durch eine unparteiische Klärung der Kontroverspunkte den Legitimationsboden zu entziehen. Leibniz’ früher Versuch, die vier Aufgabenfelder mit Hilfe der mathematischen Rationalität zu bewältigen, betrifft also zum einen die Natur und den Geist selbst, zum anderen die allgemeine Form der wissenschaftlichen Methode. Das zeigt sich auch, wenn man im folgenden die Grundgedanken der hier vorliegenden Texte I bis III überblickt. kirchlichen Autoritäten nicht ohne List abzuringen wäre. Die genannte Meditation war nur eine Musterprobe für eine umfassende Exposition der christlichen Lehre in ›ökumenischem‹ Geiste. »Meine intention nun damit ist gewesen, zu versuchen, ob etwa mit guter manier, verständiger sanftmuth, von theologen von allen seiten, von catholischen, evangelischen, reformirten, remonstranten und sogenannten Iansenisten, practicirte judicia, und dieses zum wenigsten erhalten werden könte, daß, wo sie nicht alles billigten, dennoch bekenneten, nichts darin, so verdammlich oder dem also lebenden oder sterbenden an seiner seeligkeit schädlich, zu finden. Welches gewißlich ein schöner grad zu einer mehreren näherung und einigkeit wäre, wenn in einer so wichtigen und schweren sache dergleichen specimen zu bewircken wäre. Es müsten aber die, so judiciren sollen, weder den autorem und dessen religion, noch die intention der mitcensores wissen, und jeder der meinung seyn, daß es von einem seiner parthey komme. Wie solches vielleicht am füglichsten zu thun, habe dem Herrn Baron von Boyneburg ausführlicher zugeschrieben.« (Ebd., A II 1, 84, 23 – 33)

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3. Überblick über die Grundgedanken Zu Text I : Die Harmonisierung von Freiheit und physischer Notwendigkeit im Konzept vom selbstreflexiven Punkt des Geistes Noch bevor Leibniz seine ersten Gedanken zum Naturrecht formuliert, hält er in einer gedanklich schwer zu durchdringenden, aber bahnbrechenden Privatnotiz, die gewiß im Jenaer Gastsemester durch Erhard Weigel angeregt wurde, das grundlegende Konzept fest, mit dem er zeitlebens die Vereinbarkeit zwischen der Freiheit des Geistes und dem unverbrüchlichen Kausalzusammenhang der mechanisch determinierten Körperwelt gewährleistet sieht. Diese Privataufzeichnung vom Leib-Seele-Pentagon wurde aus zwei Gründen in die vorliegende Ausgabe aufgenommen. Erstens setzt sie sich mit dem Naturrecht Weigels auseinander. Zweitens aber legt sie die naturphilosophische Dimension der im Naturrecht vorausgesetzten Freiheitslehre offen. Ohne das Konzept vom auf sich selbst reflektierenden geistigen Punkt blieben zahlreiche Textstellen zu den »Elementen des Naturrechts« unverständlich. So setzen z. B. einige Definitionen die Lehre vom »conatus« voraus, und einige Folgesätze zum Naturrecht handeln von einem psychophysischen Parallelismus zwischen mentalen Vorgängen und mikrophysikalischen Prozessen im Gehirn. In einem eigenen »Lehrstück vom Zusammenlaufen der Willensregungen (doctrina de concursu voluntatum)« nimmt Leibniz etwa an, daß auch den seelischen »Liebesantrieben (amores)«, die bei einem guten, um Gerechtigkeit bemühten Menschen unvermeidlich im Konflikt sind, gewisse physische »Antriebsmomente (conatus)« korrespondieren, von denen sich innerhalb des geistigen Punktes die jeweils stärksten durchsetzen und handlungsproduktiv werden (Elemente des Naturrechts 5, s. u. 295 – 299). Auch zeigt die frühe Privatnotiz, welchen Hintergrund die Leibnizsche Rede hat, daß jeder Geist ein Spiegel der göttlichen Harmonie sei, dessen »kleine Welt« im »Brennpunkt« die »Sehstrahlen der sichtba-

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ren Dinge sammelt« (Elemente des Naturrechts 2, 4 u. 6, s. u. 123, 239 f. u. 309). Die Erklärungen, die Leibniz seiner hieroglyphischen Zeichnung des Pentagons beifügt, geben uns einen unverfälschten Einblick in die naturphilosophische Dimension seiner Ethik und Naturrechtslehre. Leibniz selbst hat seine Lehre vom geistigen Punkt inmitten des Leibes niemals in seinen veröffentlichten Schriften expliziert. Er zählt sie zu den »Geheimnissen der Dinge (arcana rerum)«, in die nur »wenige« Einblick haben.¹¹⁹ An der punktuellen Natur des Geistes hängt Leibniz’ Überzeugung, daß sich die Dynamik zwischen Körper und Geist »so gut wie in der Mathematik aufs beste klarmachen« läßt (Pentagon, s. u. 5) und auch der Mechanizismus der kausalen Naturerklärung widerspruchslos harmonisieren läßt mit der christlichen Geistmetaphysik. Hier empfiehlt es sich, die Einzelheiten des Konzepts vom leiblichen Pentagon und seinem geistigen Mittelpunkt in den Anmerkungen zu erläutern, die angesichts der Schwierigkeit dieses Textes allerdings besonders umfangreich ausfallen müssen. Für den Überblick über das Wesentliche genügen folgende Hinweise. Wie die dem Text vorangestellte Zeichnung Leibnizens (s. u. 4) und ihre erläuternde Variante (s. u. 5) zeigen, symbolisiert das äußere Fünfeck den menschlichen Leib mit seinen fünf Sinnen. Die innerste, von Leibniz überproportional groß gezeichnete »sphaera intellectus« steht dagegen für das Wirkfeld des menschlichen Geistes, das Leibniz tatsächlich als einen winzigen Punkt in einem unzerstörbaren Zentrum des Gehirns konzipiert, der aber als ein rein intelligibler Fluchtpunkt prinzipiell keiner empirischen Erforschung zugänglich ist. Innerhalb dieser Verstandessphäre kann der im Punkt e residierende tätige Intellekt auf gedankliche Koordinaten wie das höchste Gut (a) oder das Nützliche (c) reflektieren. Die Verstandessphäre, die das Vehikel des im Mittelpunkt residierenden »Geistes« (»mens« oder »Gemüt«) bildet, ist gleich¹¹⁹ De incarnatione Dei seu De unione hypostatica, 1669 –1670 (A VI 1, 535, 22).

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sam das Allerheiligste im Tempel des menschlichen Leibes. Die vier Gründe, weshalb Leibniz für den Geist diese punktuelle Natur postuliert, werden in Anm. 14 dargelegt. Mit dem Punktkonzept interpretiert er die Seelenlehre der aristotelischen Tradition – bei Verlegung des Zentralorgans vom Herzen ins Gehirn – auf mechanistische Weise, so daß die innerste Struktur des Geistes selbst, »die ganze natura mentis«, »geometricè ercläret werden« kann.¹²⁰ Bei diesem geistigen Zentrum, dessen psychische und physische Dimension einen exakten Parallelismus bilden, sind die sensorische und die intellektuelle Funktion zu unterscheiden. Zum einen fällt die »sphaera intellectus« als ganze mit dem inneren Sinn oder Apperzeptionspunkt zusammen, an den alle Informationen der fünf peripheren Sinne rückgemeldet werden. Bei Aristoteles hieß er das »gemeinsame« oder »letzte Sensorium« aller peripheren Einzelsensorien.¹²¹ Beim sinnlichen Wahrnehmen ist die geistige Sphäre also ein bloß rezeptiver Endpunkt, an den alle gegebenen Eindrücke, die sich von den affizierenden Dingen der Außenwelt über die Nerven ins Leibesinnere fortpflanzen, verinnerlicht werden und dadurch zu Bewußtsein kommen : »Gleichwie in Centro alle strahlen concurrieren, so lauffen auch in mente alle impressiones sensibilium per nervos zusammen«.¹²² Das »Gemüth« muß sich am Ort des Zusammenlaufens befinden, »in Loco concursus aller bewegungen die von den objectis sensuum unß imprimirt werden. Dann wann ich schliesen will, daß ein mir vorgegeben Corpus gold sey, so nehme ich zusammen seinen glantz, klang undt gewicht, undt schliese darauß daß es gold sey, muß also das gemüth ahn einem orth sein, da alle diese Linien visûs, auditûs, tactûs zusammen fallen, undt also in einem punct«.¹²³ Zugleich ¹²⁰ An Herzog Johann Friedrich, Oktober ( ?) 1671 (A II 1, 163, 4 f.). ¹²¹ Aristoteles : De juventute et senectute 1, 467 b 28 f. ; De somno et vigilia 2, 455 a 12 – 27 ; De anima III 2, 426 b 16 ; III 7, 431 a 19. Zur aristotelischen Physiologie der Wahrnehmung vgl. Hubertus Busche : Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001, 40 – 57. ¹²² An Herzog Johann Friedrich, Oktober ( ?) 1671 (A II 1, 163, 1 f.). ¹²³ An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671 (A II 1, 108, 13 –17).

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bildet der geistige Punkt als Zentrum des optischen Systems jenen perspektivischen Fokus, aus dem heraus das Individuum seine Umwelt individuell perzipiert. Leibniz wird ihn später den »point de vue« des Individuums nennen. Insofern dokumentiert das ganze Schema nichts Geringeres als Leibnizens Entdeckung der individualperspektivisch repräsentierenden Monade. Zum anderen aber ist der geistige Punkt beim Menschen in sich gebrochen oder reflektiert. Sein visueller Blickpunkt, der durch die ganze innerste Sphäre dargestellt ist, hat nochmals ein Zentrum : den intellektualen Gesichtspunkt, der durch den mathematischen Mittelpunkt e dargestellt ist. Er bildet das kognitive und volitive Zentrum, das einerseits die von außen empfangenen sinnlichen Anschauungen (species sensibiles), die in den Blickpunkt fallen, gedanklich interpretieren, andererseits aber die von innen entworfenen Vorstellungen (species intelligibiles) auf abstrakte Gedanken hin durchleuchten kann. Als intellektuell einsichtsfähige Struktur ist also »mens eine kleine in einem Punct begriffene Welt, so aus denen Ideis, wie centrum ex Angulis bestehet«.¹²⁴ Beim Denken von Ideen wird der geistige Mikrokosmos spontan von innen heraus tätig, indem er innerhalb seiner punktuellen Sphäre aktiv Vorstellungen erzeugt und gedanklich auf sie reflektiert. »Geben wir dem Gemüth einen grösern platz alß einen punct, so istß schon ein Cörper, undt hat partes extra partes, ist daher sich nicht selbst intimè praesens undt kann also auch nicht auff alle seine stücke undt Actiones reflectiren, darinn doch die Essentz gleichsamb deß Gemüthß bestehet.«¹²⁵ Als ein solcher gedanklich selbstreflexiver Punkt ist die Verstandessphäre dasjenige, was Aristoteles den »Ort der Ideen« genannt hatte¹²⁶ und was Leibniz »das Feld der Vernunft und des Verstandes« nennt, »in dem die intelligiblen Erscheinungen«, d. h. die gedanklich zu überformenden Vorstellungen, »auseinanderlaufen und sich hin- und herbewegen« (Pentagon, ¹²⁴ An Herzog Johann Friedrich, Oktober ( ?) 1671 (A II 1, 163, 2 – 4). ¹²⁵ An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671 (A II 1, 108, 17– 20). ¹²⁶ De anima III 4, 429 a 27 f.

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s. u. 9). Hierbei deutet Leibniz den im mathematischen Punkt e liegenden Spontaneitätsquell, aus dem heraus alles Denken geschieht, als den tätigen Intellekt des Aristoteles, die Peripherie des physischen Punktes hingegen, auf der der Verstand seine inneren Objekte bildet, als den rezeptiven, leidenden Intellekt. Da die zwischen dem aktiven Denkzentrum e und der rezeptiven inneren Peripherie gebildeten »Radien des Verstandes« (Pentagon, s. u. 28) die gedachten »Ideen« erzeugen, kann Leibniz resümieren : »In der Idee ist in ideeller Weise sowohl die leidende als auch die tätige Kraft, der tätige wie der leidende Verstand enthalten. Soweit der leidende Verstand mitwirkt, ist Materie in der Idee ; soweit der tätige Verstand mitwirkt, ist Form in der Idee.«¹²⁷ Weil aber die ganze Verstandessphäre, wie bei Aristoteles, »unvermischt« mit dem menschlichen Leib ist und ihr reflektierender Mittelpunkt e bei der Bildung seiner gedanklichen Radien durch keine äußere Macht »auf einen von zwei gegenüberliegenden Punkten festgelegt wird außer durch sich selbst«, verbleibt dem aktiven Verstand, der als intentional gerichteter mit dem menschlichen »Willen« zusammenfällt, beim Reflektieren und Entscheiden eine »unbezwingbare Freiheit« (Pentagon, s. u. 9 u. 19). Die Denk-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit wurzelt also in der durch keine äußere Macht beeinträchtigten Selbstreflexion und somit rationalen Selbstdetermination des geistigen Punktes. In der Einheit seines Reflektierens zeigt sich der menschliche Geist zugleich als Ebenbild Gottes, so daß der Mensch eine »kleine Göttlichkeit (deunculeitas)« darstellt. »Der Geist ist das Symbol der Trinität«.¹²⁸ Der Geist ist »ein einziger, der wohlgemerkt einmal in sich selbst reflektiert wird : er ist das, was einsieht, das was eingesehen wird, und das, wodurch er einsieht und eingesehen wird«.¹²⁹ Diese Selbstreflexion des Geistes ¹²⁷ »In Idea continetur idealiter et potentia passiva et activa, intellectus agens et patiens. Quatenus concurrit intellectus patiens, eatenus in Idea est materia ; quatenus intellectus agens, eatenus forma.« (De Transsubstantiatione, A VI 1, 512, 12 –14) ¹²⁸ De conatu et motu, sensu et cogitatione (A VI 2, 285, 7 f. ; 286, 19 f.). ¹²⁹ »Cum una sit mens qvae qvando reflectitur in seipsam (NB), est

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ist der einzige Fall in der gesamten Natur, wo eine Sache »auf sich selbst wirkt« und somit zugleich auch »durch sich selbst leidet«, und dieses »Wirken auf sich selbst« im »Denken« unterscheidet den Geist vom mechanisch determinierten »Körper«.¹³⁰ Hierbei unterscheiden sich die »Handlungen der Geister (actiones mentium)« von den »Wirkungen der Körper (actiones corporum)« dadurch, daß sie keine lineare »Bewegung (motus)« bilden, sondern nur »sozusagen ein Bewegungsminimum oder einen Bewegungspunkt (motûs, ut sic dicam, minimum vel punctum)«, das Leibniz mit Kepler und Hobbes den »conatus« nennt.¹³¹ Leibniz’ Konzept von der selbstreflexiven Struktur des Verstandes bildet schließlich auch den Hintergrund seiner berühmten Korrekturformel, mit der er schon als Dreiundzwanzigjähriger das »Axiom« des Sensualismus »einzuschränken« für nötig hält : Es ist »nichts im Verstand, was nicht zuvor in der sinnlichen Wahrnehmung war. Es sei denn der Verstand selbst«.¹³² Obwohl Leibniz später mit seiner These von der »Fensterlosigkeit« der Seele gerade die Wechselwirkung (influxus physicus) zwischen der Seele und ihrem Leib zurückweisen wird, spricht doch einiges dafür, daß auch sein Alternativmodell vom »prästabilierten« psychophysischen Parallelismus wechselseitiger »Expressionen« oder »Repräsentationen« zwischen seelischen Regungen und leiblichen Bewegungen weiterhin am Punktmodell der Seele bzw. des Geistes festhält. Denn auch die geistbegabte Monade, die Leibniz als »beseelten Punkt«, »metaphysischen Punkt« oder »metaphysiid qvod intelligit, id qvod intelligitur, et id qvo intelligit et intelligitur.« (Defensio Trinitatis, A VI 1, 527, 24 f.) ¹³⁰ »Nullum corpus agit in se ipsum seu patitur a se ipso« (Dritter Entwurf zur Theoria motus abstracti, A VI 2, 169, 17). »Cogitatio est actio in seipsum« (Elementa juris naturalis 6, A VI 1, 483, 2). »Essentia Mentis [consistit] in actione in se ipsum« (Demonstratio propositionum primarum, A VI 2, 482, 15). ¹³¹ An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671 (A II 1, 108, 9 –11). ¹³² »Axioma incertum est : […] limitandum hoc modo : nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Nisi ipse intellectus« (Aus und zu der Appendix practica von J. J. Becher, A VI 2, 393, 16 u. 26 f.).

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sches Atom« bezeichnen wird,¹³³ bildet eine unauflösliche Einheit aus aktiver und passiver Kraft, aus seelischem Formmoment und dem Moment einer sog. »materia prima«¹³⁴ oder »materia metaphysica«,¹³⁵ die von der »materia secunda« des groben Körpers unterschieden ist. Diese zur Monade gehörige Erstmaterie kann selbst Gott den Seelen nicht rauben,¹³⁶ und sie dürfte identisch sein mit dem von Leibniz postulierten »Äther«.¹³⁷

Zu Text II : Die »Neue Methode« Neben der Naturphilosophie und Erkenntnistheorie hat Leibniz sich schon ebenfalls sehr früh auch dem Naturrecht gewidmet. Auch hier stammen die ersten Belege aus den Anmerkungen zu Thomasius’ Tabellenwerk der »Praktischen Philosophie«. Sie zeigen, daß Leibniz die Ausführungen seines Lehrers teilweise schon kritisch beurteilt. So bestreitet er etwa die These von der Unveränderlichkeit der inneren Verpflichtung gegenüber dem Naturrecht und identifiziert – unter Berufung auf Epikur und seine neuzeitlichen Anhänger wie Lorenzo Valla, Pierre Gassendi und Thomas Hobbes – die Glückseligkeit (åšäáéìïíßá, beatitudo) mit der »Lust des Geistes (voluptas animi)«.¹³⁸ Darüber hinaus lassen die An¹³³ Système nouveau (GP IV 478, 482 f.) ; an des Bosses, 21. Juli 1707 (GP II 336). ¹³⁴ An de Volder, 20. Juni 1703 (GP II 252) ; an des Bosses, 16. Oktober 1706 (GP II 324) ; an des Bosses, 16. März 1709 (GP II 368) ; an des Bosses, 24. April 1709 (GP II 371) ; De ipsa natura (GP IV 510). ¹³⁵ De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis (A VI 4, Teil B, 1504, 6). ¹³⁶ An des Bosses, 16. Oktober 1706 (GP II 324 f.). ¹³⁷ Zum Versuch einer systematischen Rekonstruktion vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 501– 549. ¹³⁸ Adnoten zu Jacobus Thomasius : Philosophia practica continuis Tabellis in usum privatum comprehensa, Leipzig 1661, vermutlich aus der Zeit von 1663 –1664, in : A VI 1, 42 – 67 ; hier 52, 30 – 34 (Adnote 53) u. 62, 25– 28 (Adnote 61).

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merkungen bereits eine gewisse Kenntnis der Werke von Hugo Grotius, Johann von Felden, Samuel Pufendorf und Robert Sharrock erkennen.¹³⁹ Ein erster Ansatz zur späteren Konzeption der dritten Stufe des Naturrechts liegt bereits darin, daß Leibniz die »umfassende Gerechtigkeit (justitia universalis)« der aristotelischen Tradition, d. h. das Ideal des Inbegriffs aller Einzeltugenden, das in der freiwilligen Erfüllung aller juridischen, moralischen und religiösen Normen des geschriebenen wie ungeschriebenen »Gesetzes« besteht,¹⁴⁰ mit der »Pietät (pietas)« gleichsetzt.¹⁴¹ Mehr vom eigenen Standpunkt im Naturrecht verrät Leibniz 1664 in seiner »Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind«. Gegen die zeitgenössische Tendenz zur Einengung der Jurisprudenz auf eine Anwendungslehre des je geltenden Rechts betont Leibniz hier, daß eine wirkliche »Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten (justi atque injusti scientia)« nicht aufgestellt werden kann, wenn man die Rechtswissenschaft nicht im Sinne Ulpians ganz umfassend versteht als »Kenntnis von den göttlichen und menschlichen Dingen (divinarum ac humanarum rerum notitia)«. Sie muß zugleich auch die »Rechtsweisheit (sapientia juris)« einschließen.¹⁴² Die in ihrer ursprünglichen Weite verstandene Rechtswissenschaft muß deshalb die Beschäftigung mit dem positiven Recht integrieren in die Lehre der Theologie vom göttlichen Recht einerseits und in die Lehre der Philosophie vom natürlichen Recht andererseits. Ja mehr noch, schlechthin alle Wissenschaften überhaupt können dazu beitragen, die ganze Welt als die gerechte Verfassung der göttlichen Ordnung zu erklären. Antonius Faber habe deshalb »scharfsinnig« argumentiert, daß, »wie die [universale] Gerechtigkeit die Tugenden einschließt, so die Rechtsgelehrsamkeit alle Wissenschaften umfaßt (ut justiEbd., 50, 34 (Adnote 48) ; 65, 26 (Adnote 81) ; 67, 13 f. (Adnote 87). Vgl. Aristoteles : Ethica Nicomachea, V 3, 1129 b f. Adnoten zu Thomasius, A VI 1, 51, 34 (Adnote 51). Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum (A VI 1, 73, 12 –19).

¹³⁹ ¹⁴⁰ ¹⁴¹ ¹⁴²

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tia virtutes, sic Jurisprudentia scientias omnes contineri)«.¹⁴³ Wenn man den Begriff der »virtus« weit genug als »Bestzustand« oder »Kraft« versteht, was ganz der außermoralischen Grundbedeutung des griechischen PñåôÞ (aretê) entspricht, kann man sogar sagen, daß die Welt überall dort im gerechten Zustand ist, wo vorgegebene ›Zwecke‹ oder Sollbestimmungen in ihrer Bestform verwirklicht sind. »Justitia« in dieser allerweitesten Bedeutung bezeichnet dann sämtliche Zustände in ihrem »gehörigen Gleichgewicht« oder in ihrer »Wohlproportioniertheit«. Diesen Sprachgebrauch teilt nicht nur etwa die neuzeitliche Physiologie, insofern sie die ausgeglichene Verteilung der Kräfte und Säfte im Organismus als »temperamentum ad justitiam« bezeichnet.¹⁴⁴ Auch der frühe Leibniz selbst wendet den Gedanken der ›dynamischen Justierung‹ auf die außermenschliche Natur an, indem er etwa innerhalb des selbstregulativen Systems des zirkulierenden Äthers Bewegungen einräumt, in denen der Äther zunächst »zu einer größeren Menge als gerecht« aus anderen Materien herausgedrängt wird, so daß er aufgrund einer systemimmanent ›ausgleichenden Gerechtigkeit‹ später wieder in sie zurückflutet.¹⁴⁵ Entsprechend kann die Physik die konkrete Verfassung der Welt – im Unterschied zum abstrakten »Naturzustand« der geometrisch beschriebenen Körper – beschreiben als den »gegenwärtigen systematischen und bürgerlichen Zustand (status praesens systematicus atque civilis)« der Natur, in dem alle »Privatbewegungen (motus privati)« der einzelnen Körper gleichsam vergesellschaftet sind, indem sie durch die Wirkungen anderer Körper beeinträchtigt werden und insgesamt an der »öffentlichen Bewegung (motus publicus)« des Äthers teilhaben.¹⁴⁶ Durch ¹⁴³ Ebd. 74, 28 f. ¹⁴⁴ Vgl. hierzu die Darstellung von Fernels »Physiologia« bei Karl E. Rothschuh : Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg – München 1968, 42. ¹⁴⁵ Hypothesis physica nova (A VI 2, 234, 19 – 22). ¹⁴⁶ Ebd., 227, 16 f. ; Leges reflexionis et refractionis demonstratae, 2. Hälfte 1671, A VI 2, 314, 7 – 315, 21. Zur Systematik vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 404 – 467, insb. 440 – 446

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diese ›juriszentrisch‹ analogisierende Ausweitung des Rechts- und Staatsdenkens legt Leibniz den ganzen Kosmos im stoischen Sinne als göttliche Rechtsordnung aus : als »Staat der Wesen (respublica entium)«, in dem es von den Steinen bis zu den Sternen kein »unnützes Mitglied« gibt,¹⁴⁷ als »Universalstaat (respublica universalis)«¹⁴⁸ oder als »Weltstaat (civitas mundi)«.¹⁴⁹ Genau hierin besteht der Leibnizsche ›Juriszentrismus‹, daß er bei seinem enzyklopädischen Programm, den Kreis der Wissenschaften von seinem göttlichen Mittelpunkt, die Schöpfung von ihrem allgegenwärtigen schöpferischen Zentrum her zu erschließen, die Jurisprudenz als die inhaltliche Zentralwissenschaft auffaßt. Die juriszentrische Leitidee bildet auch den Hintergrund unseres Textes II, der »Neuen Methode, Rechtswissenschaft zu lernen und zu lehren«. Die brillante Reformschrift, die unter Berufung auf verschiedene Autoritäten, darunter auch Francis Bacon, eine inhaltliche wie methodische Neuordnung des Rechtsstudiums und seine Verkürzung auf zwei Jahre fordert, entwirft auch einen Plan zur Ausbildung des »vollkommenen Rechtsgelehrten (jurisconsultus perfectissimus)«.¹⁵⁰ Für diese Zwecke umreißt sie im 1. Teil eine Art Philosophie der Bildung unter dem Titel »Von der Ordnung der Studien im allgemeinen«. Für diese Bildungstheorie holt Leibniz sehr weit aus : Alle Dinge der Welt haben einen körperlichen bzw. seelischen »habitus«, d. h. einen dauerhaften Zustand, der ihr spezifisches Wirk- und Aushaltepotential ausmacht. Eine Veredelung dieses Charakters kann bei den unbelebten Dingen durch Gewöhnung und Prägung erfolgen, bei den beseelten Wesen durch Dressur und Konditionierung, bei den geistbegabten zusätzlich durch Bildung aufgrund von Gedächtniskunst, Didak.

¹⁴⁷ Anmerkungen zu Johann Heinrich Bisterfeld, 1663 –1666, A VI 1, 155, 32 (Adnote 17) ; ähnlich 156, 33 (Adnote 24 a). ¹⁴⁸ Nova methodus (A VI 1, 345, 5 f.). ¹⁴⁹ Elementa juris naturalis (A VI 1, 445, 4). ¹⁵⁰ Einen guten Überblick über die »pädagogischen Vorschläge« Leibnizens gibt Heymann : Leibniz’ Plan einer juristischen Studienreform vom Jahre 1667, hier CV .

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tik und Institution. Die Geistesbildung führt wiederum über die Wissensstufen der Geschichte (historia), Beobachtung (observatio) und Wissenschaft (scientia) zum Erlernen der »Elemente der Wissenschaften«.¹⁵¹ Die Nova Methodus ist aber darüber hinaus auch für das Leibnizsche Naturrechtsdenken höchst bedeutsam. Denn bevor sie die »Wege« beschreibt, in Erziehung und Rechtsstudium »zur Vollendung fortzuschreiten«, umreißt sie im 2. Teil (»der speziell ist und sich allein auf die Jurisprudenz beschränkt«) die »Idee der vollkommenen Rechtswissenschaft (idea Jurisprudentiae perfectae)«.¹⁵² In diesem Rahmen skizziert sie auch die »Elemente des Rechts«, d. h. jene grundlegenden Definitionen und Lehrsätze des Rechts, welche die Jurisprudenz nach dem Ideal der Euklidischen Methode in den Rang einer beweisfähigen Wissenschaft heben. Die Elemente definieren nicht nur, was »Moralität«, »Berechtigung und Verpflichtung«, »Subjekt« und »Objekt« des Rechts ist. Sie liefern vielmehr mit den »höchsten Quellen des Rechts« auch eine knappe Begründung, woher die Grundrechte des Menschen stammen und wie Rechte und Pflichten erworben werden. Ferner zeigt die Neue Methode auch die beiden Verfahren auf, durch die man in der Jurisprudenz bei unentschiedenen und zweifelhaften Rechtsfällen zur Entscheidung gelangen kann, nämlich über »ähnliche Gesetze (leges similes)« und über das »Naturrecht«. In diesem Zusammenhang legt Leibniz erstmals – und bis ca. 1680 nicht wieder¹⁵³ – jene drei Stufen des Naturrechts dar, die »das eigentli-

¹⁵¹ Siehe hierzu auch die instruktive Darstellung von Cesare Vasoli : Enciclopedismo, pansofia e riforma ›metodica‹ del diritto nella »Nova methodus« di Leibniz, in : Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, 2 (1973), 37–107. ¹⁵² Vgl. A VI 1, 293, 6 –10 ; 356, 18 – 20. ¹⁵³ Die ersten erhaltenen Texte, die den frühen Ansatz zu den drei Stufen des Naturrechts ausführlich wiederaufgreifen, dürften die Entwürfe für den »Codex novus legum« sein, die in A VI 4, Teil C, 2850 – 2871, abgedruckt sind als Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum.

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che Gerüst seines Naturrechtssystems«¹⁵⁴ bilden und damit auch die innere Architektonik der späteren »Elemente des Naturrechts« prägen werden. Die vorliegende Ausgabe enthält die wichtigsten Paragraphen des zweiten Teils der Schrift. Die Auswahl wird in der ersten Anmerkung (s. u. 405 f.) begründet. Um die Grundgedanken der Nova Methodus im folgenden zu erläutern, sind erstens die Relationen zwischen dem positiven, jeweils geltenden Recht und dem überzeitliche Gültigkeit beanspruchenden Naturrecht zu klären ; zweitens ist Leibniz’ eigentümliche Lehre von den drei Stufen des Naturrechts zu verdeutlichen.

Zum Verhältnis von positivem Recht und Naturrecht In der Neuen Methode selbst wird das Verhältnis zwischen dem positiven Recht, das das Legale formuliert, und dem natürlichen Recht, das das Legitime formuliert, nur kurz angerissen. In § 70 schreibt Leibniz, daß »alles bürgerliche Recht mehr eine Tatsachenfrage als eine Rechtsfrage ist (magis [quaestio] facti est quàm Juris)«. Hier gelte es »nicht aus der Natur der Dinge, sondern aus der Geschichte oder einer Tatsache zu beweisen« (s. u. 71 ; vgl. an Conring, s. u. 323). Haben doch die positiven Gesetze selbst den Charakter von Tatsachen, die innerhalb der bürgerlichen Rechtspflege nicht mehr auf ihre Legitimität hin befragt werden müssen. Hinter der lapidaren Feststellung verbirgt sich bereits eine differenzierte Auffassung des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte, das Leibniz später durch die Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten zum Ausdruck bringen wird. Die besten Erläuterungen hierzu finden sich in den Briefen der Textgruppe IV. Gegenüber Conring erläutert Leibniz zunächst, daß alle »Klugheit (prudentia)« – nicht nur die speziellen Klugheiten der Rechtsgelehrsamkeit (juris prudentia) und der Politik – zwei Dimensionen umfaßt : die rein rationale der Wissenschaft (scientia) und die em¹⁵⁴ Schneider : Justitia universalis, 368.

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pirische der Erfahrung (peritia). Die Wissenschaftlichkeit hängt an Definitionen und Beweisen aus Vernunft, die Erfahrung an der auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Kenntnis von Tatsachen (s. u. 323). Unter den Tatsachen wiederum ragen einige heraus, die gewissermaßen als ›normative‹ Tatsachen eine Schlüsselfunktion für die betreffende Wissensdisziplin besitzen. Dies sind, wie der Brief an Chapelain ergänzt, in der Naturwissenschaft die »Experimente«, die auf die empirische Seite »der Sinneswahrnehmung, des Tatsächlichen und der Geschichte« gehören, während die »abstrakten Beweise« durch Arithmetik, Geometrie und Phoronomie zur rationalen Seite. Was aber im empirischen Teil der Naturwissenschaft die Experimente sind, das entspricht im empirischen Teil der Rechtswissenschaft den positiven Gesetzen, die hier die ›normativen‹ Tatsachen bilden. Und umgekehrt entsprechen den Gesetzen und Beweisen im rationalen Teil der Naturwissenschaft die »Regeln und Schlußfolgerungen des natürlichen Rechts und der Billigkeit« im rationalen Teil der Rechtswissenschaft (s. u. 349). Wie nun speziell innerhalb der Jurisprudenz das Verhältnis zwischen den relevanten positiven Tatsachen und den rein rationalen Erkenntnissen näherhin aufzufassen ist, erläutert Leibniz einerseits unter funktionalem, andererseits unter historischem Aspekt. Die normative Funktion des Naturrechts, Kriterien für die Legitimität des positiven Rechts an die Hand zu geben, wird beim frühen Leibniz nicht sehr stark betont. Allerdings stellt er später einmal richtig, »der Fehler« aller Rechtspositivisten, »die die Gerechtigkeit von der Macht abhängig gemacht haben«, beruhe darauf, »daß sie das Recht mit dem Gesetz verwechselt haben. Das Recht kann nicht ungerecht sein, wohl aber das Gesetz«.¹⁵⁵ Dagegen hebt der frühe Leibniz vor allem die pragmatische Funktion des Naturrechts hervor, eine Art rationales Regelwerk zur Orientierung und ¹⁵⁵ »La faute de ceux, qui ont fait dependre la justice de la puissance, vient en partie de ce qu’ils ont confondu le droit et la loy ; le droit ne saurait être injuste – mais la loy le peut être« (Méditation sur la notion commune de la justice, Mollat 1885, 61).

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Entscheidung bei denjenigen Rechtsfragen zu geben, die durch das positive Recht nicht hinreichend festgelegt werden können. Von den zwei Entscheidungsprinzipien für unentschiedene Rechtsfälle, dem ähnlichen Recht und dem Naturrecht, gibt Leibniz dem letzten den entschiedenen Vorzug. Der Rekurs auf Ähnlichkeit (d. h. abstrakte Gleichheit bei sonstiger Verschiedenheit) mit anderen Gesetzen und Fällen sei nämlich methodisch bedenklich, weil man teils zu dieser, teils zu jener Ähnlichkeit flüchten könne, so daß gerade Richter, die von Fall zu Fall zu entscheiden pflegen, leicht zu einem unüberlegten Assoziieren verführt würden, das bestehende Unterschiede ausblendet zugunsten von vordergründigen Gemeinsamkeiten (§ 70). Das Naturrecht hat demgegenüber den Vorteil, daß es sich nicht wieder auf bloß historisch geltende Gesetze berufen muß, sondern sich auf rationale Argumente berufen kann. Deshalb ist es im Prinzip auch rein rationaler Entscheidungsmethoden fähig, sofern es nur auf den sicheren Weg einer Wissenschaft gebracht ist. Weil Gerechtigkeit seit Aristoteles nach einer Art Grammatik mathematischer Proportionen verstanden wird, verspricht eine hierauf beruhende Naturrechtslehre auch eine quasi mathematisch-apriorische Evidenz : »Die Lehre vom Recht zählt zu denjenigen Lehren, die nicht von Erfahrungen, sondern von Definitionen, nicht von Beweisen der Sinne, sondern von Beweisen der Vernunft abhängen und die sozusagen die Frage nach der Rechtmäßigkeit, nicht die nach dem Sachverhalt betreffen. Weil nämlich Gerechtigkeit in einer bestimmten Kongruenz und Proportion besteht, kann erkannt werden, ob etwas gerecht ist, auch wenn es keinen gäbe, der die Gerechtigkeit ausübte, und keinen, gegen den sie ausgeübt würde – genau wie die Zahlenverhältnisse wahr bleiben, auch wenn niemand zählen würde und nichts zum Zählen vorhanden wäre. Auch über ein Gebäude, eine Maschine oder ein Staatswesen kann man urteilen, ob sie schön, wirksam bzw. glücklich sein würden, falls sie zukünftig einmal existierten, auch wenn sie tatsächlich niemals existieren werden. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Grundsätze dieser Wissenschaften von ewiger Wahrheit sind, denn sie sind allesamt Bedingungssätze

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und lehren nicht das, was existiert, sondern das, was bei vorausgesetzter Existenz des Sachverhalts folgen würde. Sie entspringen nicht der Sinneswahrnehmung, sondern einer klaren und deutlichen Vorstellung, die Platon ›Idee‹ genannt hat und die, wenn man sie mit Worten ausdrückt, dasselbe bedeutet wie eine Definition« (Elemente des Naturrechts 4 ; s. u. 221 f.). Wegen dieser prinzipiell überlegeneren Orientierungs- und Entscheidungsfunktion des Naturrechts bei zweifelhaften Rechtsfällen erklärt Leibniz es zu seinen Hauptaufgaben, die »Wissenschaft des Naturrechts« so weit wie möglich »auf den Gewißheitsgrad« zu heben, »der einer Wissenschaft gebührt« (an Conring, s. u. 327). Während das ähnliche Recht nur eine intuitive Orientierung gleichsam für die zweitbeste Fahrt über den stürmischen Ozean der unausgeloteten Rechtsfälle darstellt, ist das zur Wissenschaft ausgearbeitete Naturrecht ein zuverlässiger »Kompaß« (§ 69). Es ist das schärfere und zugleich weiterschauende von den »zwei Augen des in der Schiedskammer sitzenden Rechtsgelehrten« (§ 70). Allerdings betont Leibniz gerade in den Briefen immer wieder, daß das Naturrecht nicht etwa als die einzige Instanz der Vernunft im Recht mißverstanden werden darf, die dem positiven Recht ständig Vorschriften machen dürfte, weil dieses selbst vernunft- und geistlos wäre. Vielmehr artikuliert sich auch in den unterschiedlichen historischen Rechtssystemen mehr oder weniger die Vernunft in der Geschichte, so daß es hier in Relation zum historisch kontingenten Rechtsregelungsbedarf geeignetere und weniger leistungsfähige Gesetzeswerke gibt. Leibniz unterscheidet innerhalb des positiven Rechts seiner Zeit und seines Rechtsraumes wiederum drei Stufen, die sowohl historisch als von der Reichweite her zu trennen sind. Zusammen mit den drei Stufen des Naturrechts bilden sie eine Art Subsidiaritätshierarchie. Das besagt, daß die höheren Stufen mit ihren abstrakteren Maßstäben im allgemeinen nur dann herangezogen werden müssen, wenn die unteren den Rechtsfall nicht ausreichend bestimmen können. Die höheren Stufen regeln also jeweils das, was durch die unteren nicht hinreichend geregelt ist. Unter Einbeziehung der noch zu klären-

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den drei Stufen des Naturrechts ergibt sich hier folgendes Schema der Regelungshierarchie : 3. Pietät (pietas) ½ 2. Billigkeit (aequitas) ¾ Naturrecht 1. Strenges Recht (jus strictum) ¿ 3. Römisches Recht (jus romanum) 2. Jüngeres allgemeines Reichsrecht (jus imperii universale recens) 1. Gemeinderecht (jus municipale)

½ ° ¾ positives Recht ° ¿

Abb. 1 : Die Subsidiaritätshierarchie der Rechtssysteme

Weil das Naturrecht, und hier zunächst das strenge Recht, die höchste Instanz dieser Subsidiaritätshierarchie bildet, kann es auf den Ebenen des Naturrechts selbst »keine Rechtsfrage geben, die unentschieden bliebe. Es ist nämlich notwendig, daß es etwas Gerechtes gibt, auch wenn überhaupt kein Gesetz, keine Gewohnheit und kein Kommentar auf Erden vorhanden wäre«. Für diese überpositiven Maßstäbe der Gerechtigkeit muß es aber eine »sichere Richtschnur des Gerechten« geben ; andernfalls wäre der Begriff der Gerechtigkeit »ein bloßer Name«, der, wie das Wörtchen »Blitiri«, ohne Sinn und Bedeutung wäre (an Chapelain, s. u. 365). Leibniz sieht, daß eine solche »norma justi«, die als sichere Grundlage des Naturrechts dienen kann, »bislang nicht aufgestellt worden ist« (an Conring, s. u. 327). Er wird sie in den Elementen des Naturrechts zu geben suchen. Von den Stufen des positiven Rechts kommt wiederum dem römischen Recht nach Leibniz eine Sonderstellung zu.¹⁵⁶ Denn erstens genießt es gegenüber den beiden unteren Stufen des bloß »regionalen Rechts« einen sehr großen Raum der Verbreitung und ¹⁵⁶ Zur Übersicht im ganzen vgl. Fritz Sturm : Das römische Recht in der Sicht von Gottfried Wilhelm Leibniz, Tübingen 1968. Allerdings ist seine These von Leibniz’ »Entscheidung für das römische und gegen das germanische Recht« (25) angesichts der oben erwähnten Stufenordnung des positiven Rechts zu einseitig.

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Anerkennung, so daß es »nach beinahe gesamteuropäischer Übereinstimmung« das »gemeinsame Recht« aller darstellt (an Chapelain, s. u. 351) und insofern »für fast ganz Europa in privaten Streitfällen […] nicht viel weniger gemeinsame Geltung besitzt als das Naturrecht« (an Conring, s. u. 343). Diese Verbreitung wäre ihm aber gewiß nicht zuteil geworden, wenn es nicht zweitens auch das inhaltlich leistungsfähigste Rechtssystem überhaupt wäre. Die »höchst offenkundige Eignung« der römischen Gesetze besteht darin, daß ihr feingesponnenes Regelnetz dem Ermessensspielraum des Richters nur noch weniges übrigläßt. »Tatsächlich gibt es ja kein Gesetzbuch auf der ganzen Erde, das mehr Zweifelsfälle definiert und eine größere Fülle an fruchtbaren Lösungen bietet, verbunden mit dem unglaublich raschen Zugriff in die allerfeinsten Tiefen hinein, als es im Korpus des römischen Rechts, besonders in den Digesten zu finden ist«. Deshalb sei es »kein Wunder, daß die mächtigsten europäischen Völker sich so lange von diesem Recht haben leiten lassen« (an Chapelain, s. u. 351). Über seinen hohen Grad an Fallregelungstauglichkeit hinaus hat das römische Recht nach Leibniz auch den Vorzug, der formalen wie inhaltlichen Systematik des Naturrechts weit entgegenzukommen. Als Jurist und Rechtsreformer macht Leibniz die »Entdekkung, daß im üppig verwucherten Wald der römischen Gesetze eine großartige Materie für das Naturrecht enthalten ist, und zwar […] so bedeutend, wie sie sich seit Gründung des Erdkreises in keinem anderen Werk findet, das es nur geben mag« (an Conring, s. u. 345). Genauergesagt »entdeckt« Leibniz, »daß die Regeln des Naturrechts im strengen Sinne mit den Rechtsregeln der Digesten auf wundersame Weise harmonieren und daß beim Beurteilen dieser Sache die alten Rechtsgelehrten eine unglaubliche Sorgfalt walten ließen«. Wie unser Philosoph treffend bemerkt, hätten dagegen die späteren Kaiser oft die Idee der »Billigkeit« dafür benutzt, dieses einmalig klare Regelwerk zugunsten ihrer eigenen Interessen »in Verwirrung« zu bringen. Aus Leibnizens Hochschätzung des römischen Rechts und der klassischen Rechtsgelehrten folgt auch nur konsequent sein Vorwurf an »die meisten der heutigen Begrün-

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der des Naturrechts«, insbesondere an Grotius, sie seien »häufiger von den römischen Gesetzen abgewichen als nötig«, indem sie z. B. »die Proportionen der Billigkeit« vermischt hätten mit der »Notwendigkeit des Rechts im strengen Sinne« (an Conring, s. u. 331 f.). Umgekehrt hatte Leibniz schon sehr früh bemerkt, daß die stringente innere Logik des römischen Rechts – unterhalb ihrer in Verwirrung geratenen Darstellungsoberfläche – seinem eigenen Ideal einer Mathematisierung der Rechtswissenschaft (mos geometricus) sehr entgegenkommt.¹⁵⁷ Die »alten Rechtsgelehrten« seien »bei der Abfassung des Rechts mit einem so großen Genie und einer so großen Tiefe zu Werke gegangen«, daß es »eher eine Arbeit des Anordnens als eine des Ergänzens« sei, »ihre Bescheide auf höchst gewisse und beinahe mathematische Beweise zurückzuführen«.¹⁵⁸ Trotz der überlegenen »Eignung« des römischen Rechts und seiner geheimen Affinität zum Naturrecht erkennt Leibniz jedoch, daß das bestehende Corpus Juris Civilis aufgrund seiner Überlieferungsgeschichte große Mängel aufweist, die sich vor allem in »Dunkelheit und Verwirrung« niederschlagen (an Chapelain, s. u. 353). Wegen des geltungsmäßigen Vorrangs des römischen Rechts vor dem regionalen Recht würde es nichts nützen, »die Gesetze eines jeden Volkes« verbessern zu wollen, ohne zuvor diesen »verworrenen Zustand« der römischen Gesetze selbst zu beseitigen. Was in der von Leibniz betriebenen Reform des römischen Rechts lediglich eine »andere Darstellung«, nicht eine neue Systematik verlangt, sind also weniger »die einzelnen Begriffe der römischen Gesetze« als vielmehr »ihr Geist, ihre Ordnung, ihre Verknüpfung, ¹⁵⁷ Zur historischen Einordnung Leibnizens vgl. Dieter von Stephanitz : Exakte Wissenschaft und Recht. Der Einfluß von Naturwissenschaft und Mathematik auf Rechtsdenken und Rechtswissenschaft in zweieinhalb Jahrtausenden. Ein historischer Grundriß, Berlin 1970, 72 – 81. ¹⁵⁸ »Hîc illud saltem praeterire non possum, tanto ingenio tantàque profunditate in reddendo jure versatos esse JCtos veteres, ut in certissimas ac penè mathematicas demonstrationes eorum responsa redigendi laboris potiùs sit in digerendo, quàm in supplendo ingenii.« (Disputatio juridica de conditionibus, A VI 1, 101, 28 – 31)

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ihre wechselseitige Erhellung und ihre allgemeingültigen Regeln« (an Chapelain, s. u. 357 f.). Hierbei soll das geplante Corpus juris reconcinnatum, d. h. das nach rationaler Methode neugeordnete »System aller Gesetze« selbst, nicht etwa das alte Corpus juris ersetzen wie ein »Nachfolger (successor)«, sondern vielmehr erläutern wie ein »Begleiter (comes)«.¹⁵⁹ Gegenüber dieser voluminösen Neuordnung des Rechtstoffes haben die Elementa juris civilis die Aufgabe, das römische Recht zur Erhöhung seiner Klarheit und Ordnung »auf ganz wenige Elemente«, d. h. »auf wenige Sätze zurückzuführen« und diese wenigen Definitionen und Regeln in eine kartographisch-tabulatorische Übersichtlichkeit zu bringen.¹⁶⁰ Eine solche Reform des römischen Rechts nach rationaler Methode sei es, was bislang »nur ganz wenigen in den Sinn gekommen« sei, »was kaum einer versucht und niemand vollbracht« habe (an Chapelain, s. u. 359). Und weil Leibniz schließlich zu behaupten wagt, »daß die Hälfte des römischen Rechts« seiner verborgenen Systematik nach »reines Naturrecht ist«,¹⁶¹ wird auch klar, weshalb er glaubt, daß bei der Mainzer Rechtsreform »im gleichen Arbeitsgang die Elemente des Naturrechts und die Digesten des römischen Rechts verfaßt werden können«, auch wenn ihre Darstellung in gesonderten Werken erscheinen soll (an Conring, s. u. 345). Leibniz verspricht sich von der »Ehe« zwischen den »Elementen des römischen Rechts« und den »Elementen des Naturrechts« eine »höchst fruchtbare Nachkommenschaft« in Gestalt ganzer Ketten von Lehrsätzen zum Recht in natürlicher Ordnung (an Chapelain, s. u. 367 f.). Und in der Doppelreform des römischen und natür.

¹⁵⁹ Ratio corporis juris reconcinnandi, 1668 (A VI 2, 102, 27 – 29 ; 103, 8 f.). Zur Einbettung des Leibnizschen Reformplanes in die rechtshistorischen Zusammenhänge vgl. Klaus Luig : Die Rolle des deutschen Rechts in Leibniz’ Kodifikationsplänen, in : Ius commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main, hg. v. Helmut Coing, Frankfurt a. M. 1975, 56 – 70. ¹⁶⁰ Zur Aufteilung des Reformwerkes s. o. XXXVII f. ¹⁶¹ »[…] asserere ausim dimidiam Iuris Romani partem meri juris naturalis esse« (an Hobbes, 13./23. Juli 1670, A II 1, 57, 10 f.).

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lichen Rechts sieht er zugleich die notwendige Vorbedingung für eine systematische Reform auch des »deutschen Rechts (jus Germaniae)« (an Conring, s. u. 343). Das letzte Motiv dieser mehrstufigen Rechtsreform liegt aber – gemäß Leibniz’ Motto »Theoria cum praxi« – in der gerechteren Rechtspraxis selbst, die durch sie ermöglicht wird. Der letzte Sinn aller Rationalisierung des Rechts ist für Leibniz die Erhöhung der Rechtsklarheit und damit Rechtssicherheit, die im Interesse aller Bürger liegt. Das praktische Ziel seiner »jurisprudentia rationalis« besteht u. a. darin, »daß mann zu aller betrangten wohlfarth, zu erhaltung der Justitz, zu abwendung der ruin so vieler familien mitt einer so viel möglich sicheren geschwindigkeit zur warheit kommen könne«.¹⁶² Die neue Methode gegen die Dunkelheit und Verworrenheit des Rechts soll das »mittel« sein, um etwa folgende Mißbräuche zu verhindern : »daß kein theil den statum controversiae verwirren […] und seine eigne praesidia vergeßen, den andern mit allerhand vortheilen hintergehen, auff das was ihn am meisten drucket nicht antworten, sondern es fein säuberlich übergehen, benebeln, oder kaum obenhin berühren, hingegen das seinige, ob es schohn offt abgelehnet, mit verschweigung der antwort repetiren, eine sach hundertmahl vorbringen, und dadurch die acta unendtlich, die sach dunckel, den Richter müde machen, und viel ander Künste, so geübte Advocaten wohl wißen, sich gebrauchen könne : wie dann auch anstalt zu machen, daß nicht einmahl in eines unterrichters oder falscher Zeugen macht sey, das factum oder jus zu verdrehen, dem kläger die erlangung des seinigen zu hemmen, dem beclagten oder inqvisiten seine Unschuld zu verdunckeln, und ihren geiz oder haß, oder andere Passionen auszuüben«.¹⁶³ Angesichts der Bedeutsamkeit, die Leibniz dem Naturrecht für eine methodisch-systematische Reform der positiven Gesetzeswerke zuschreibt, ist nun zweitens zu verdeutlichen, worin die Leibnizsche Dreistufung des Naturrechts besteht und was sie leistet. ¹⁶² An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671 (A II 1, 105, 16 – 24). ¹⁶³ Eingabe an den Kaiser, August [ ?] 1671 (A I 1, 57, 27 – 58, 6).

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Die drei Stufen des Naturrechts Leibniz’ berühmte Lehre von den drei Stufen des Naturrechts hat als ganze keine Vorläufer, auch wenn so gut wie alle ihre Komponenten aus der Tradition stammen.¹⁶⁴ Dieser »Kern seiner eigentlichen Rechtsphilosophie«¹⁶⁵ ist vielmehr eine kreative Synthese, die ¹⁶⁴ Grua : La justice humaine selon Leibniz, 77– 82, hat einige Autoren zusammengestellt, die er für die »antécédents« der »synthèse leibnizienne« hält. Doch abgesehen von Grotius kann keiner dieser Denker wirklich als Vorläufer der Synthese selbst gelten. Schneider : Justitia universalis, 356, konstatiert zunächst richtig, daß Leibniz’ Dreistufen-Theorie »keineswegs originär und ausschließlich Leibnizsches Gedankengut« enthält. Dreifach anfechtbar ist jedoch seine unmittelbar folgende These, die den Rechtfertigungsgrund für den ganzen mittleren Teil seines Buches liefern soll : »Auf dem Boden des römischen Rechts […] gewachsen, bildete die Dreiteilung des ›jus naturae‹ [ !] schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts [ !] einen wesentlichen Bestandteil [ !] und ein charakteristisches Merkmal aristotelischer Moralphilosophie, wie sie in ganz ähnlicher Form zunächst in den Werken von Grotius, Lessius und Rachel oder später verbreitet bei Strimesius und Veltheim zum Ausdruck gebracht ist«. – Hiergegen ist einzuwenden, daß bei Grotius eine dritte Stufe des Naturrechts nirgendwo zu finden ist ; für Lessius wird der Beleg gar nicht erst versucht ; und was Rachel betrifft, so räumt Schneiders anderenorts selbst ein, daß Rachels in der Tat sehr leibniznahe Dreistufung des Naturrechts sich erst in den 1676 erschienenen De Jure Naturae et Gentium dissertationes findet. Daraus aber wiederum zu folgern, »daß die Vermutung naheliegt, ein wesentlicher Teil Leibnizscher Rechtsphilosophie […] habe schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbreitet [ !] als überliefertes Gedankengut einer seither versunkenen [ !] Naturrechtstradition gegolten« (212), ist eine recht herbe Verdrehung der Evidenzlage, zumal die Werke von Veltheim und Strimesius nochmals später erschienen. Schneider übersieht, daß die aristotelische Dreiteilung von Gerechtigkeitstypen an sich noch gar nichts zu tun hat mit einer Dreistufung naturrechtlicher Geltungsebenen. Zur Kritik an Schneiders historischen Thesen vgl. auch Werner Schneiders’ Rezension in : Philosophisches Jahrbuch 75 (1967/68), 405– 410 ; dieser stellt u. a. richtig, »daß ein Nachweis der Kombination von Ulpians Regeln und peripatetischer Gerechtigkeitslehre vor Leibniz noch gar nicht geleistet zu sein scheint« (408). ¹⁶⁵ Larenz : Sittlichkeit und Recht, 244.

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aus Leibniz’ fruchtbarer Personalunion von Rechtsgelehrsamkeit und Philosophie entsprungen ist. Konzipiert ist sie im Hinblick auf eine Harmonisierung antiker wie neuzeitlicher NaturrechtsAnsätze. Leibniz umreißt das immense historische Spektrum dieser Integration, die aber bezeichnenderweise das Mittelalter ausspart, in den §§ 71– 72 der Neuen Methode durch die Namen Platon, Aristoteles, Epikur, Cicero, Grotius, Pallavicino, Hobbes, von Felden und Sharrock. Ihre Prinzipien glaubt er »leicht miteinander vereinbaren« zu können, wenn man sie nur richtig auf unterschiedliche Geltungsstufen verteilt (s. u. 79).¹⁶⁶ Leibniz’ Dreistufenlehre stellt näherbetrachtet selbst eine Kombination aus drei Elementen dar, denn sie stützt sich argumentativ erstens auf eine von Ulpian formulierte Dreiheit oberster Rechtsvorschriften, zweitens auf eine von Aristoteles entdeckte Dreiteilung der Gerechtigkeit und drittens auf die Unterscheidung zwischen der äußeren Gerichtsbarkeit (forum externum) einerseits, die sich wiederum zum einen auf das Privatrecht, zum andern auf das öffentliche Recht erstreckt, und der inneren Gerichtsbarkeit (forum internum) andererseits, die in das moralische und im allgemeinen auch religiös gebundene Gewissen des Individuums fällt. Die stärkste Anregung zur komplexen Synthese erhielt Leibniz jedoch schon früh durch das Hauptwerk von Hugo Grotius (1583 –1645), Vom Recht des Krieges und des Friedens.¹⁶⁷ Leibniz fand hier seine zwei unteren Stufen des Naturrechts vorgebildet in Grotius’ Unterscheidung zwischen einem »Recht im eigentlichen oder strengen Sinne gesprochen (jus ¹⁶⁶ Sehr treffend ist die These von Kabitz : Die Philosophie des jungen Leibniz, 101, gerade darin bestehe »das eigentümlich Neue« an Leibniz’ »Begründung des Naturrechts«, daß er mit ihr »die am meisten voneinander abweichenden Ansichten über das Naturrecht und seine Grundlagen miteinander auszusöhnen« suche. ¹⁶⁷ Leibniz, dessen intensive Grotius-Lektüre schon für die Leipziger Studienzeit bezeugt ist (vgl. A VI 1, 50, 32 [Anm. 48] ; 65, 28 [Anm. 82] ; 67, 26 [Anm. 83]), verwendet schon im Specimen von 1664 affirmativ die Unterscheidung zwischen »aequitas naturalis« und »jus strictum« (A VI 1, 89, 3 ; 90, 7 f.).

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proprie aut stricte dictum)«, das eine echte »Befugnis (facultas)« enthalte, die Gegenstand der »ausgleichenden« oder »wiederherstellenden Gerechtigkeit« sei, und einem Recht im weiteren Wortsinne, das jene bloße »Geeignetheit (aptitudo)« für Ansprüche umfasse, die in der aristotelischen Tradition »Würde (Pîßá, dignitas)« heiße und Gegenstand der »zuteilenden Gerechtigkeit« sei.¹⁶⁸ Es dürfte hilfreich sein, die Zusammenhänge zunächst in zwei tabellarischen Schemata vor Augen zu stellen. Erstens muß die geschichtsmächtige aristotelische Untergliederung der Arten von Gerechtigkeit vorangestellt werden, und zwar in ihrer differenzierten Gestalt, die von der Tradition einschließlich Leibniz selbst nur ungenau berücksichtigt wurde.¹⁶⁹ Ihr Schema in Abb. 2 dürfte sich von selbst erklären. Zweitens aber ist der Aufbau von Leibniz’ gedanklicher Synthese selbst zu verdeutlichen, damit im Anschluß die ideellen Elemente der drei Stufen einzeln erläutert werden können. Um der Verdeutlichung willen nimmt das zweite Schema in Abb. 3 auch einige Stichworte des späteren Leibniz vorweg. Jede der drei Stufen des Naturrechts gehört zu einem bestimmten aristotelischen Gerechtigkeitstyp (linke Spalte), hat ihren eigentümlichen Berechtigungs- wie Verpflichtungsaspekt (mittlere Spalte) und steht in einer spezifischen Korrelation zu Bereichen des positiven Rechts (rechte Spalte). Was das Schema nicht eigens aufführt, ist jene Zuordnung von drei praktischen Disziplinen zu den drei Naturrechtsstufen, mit der Leibniz diesen Wissenschaften eine autonome Sphäre sichert : Die »Ethik« (im allerengsten Sinne verstanden) ist die »Wissenschaft vom Naturrecht«, soweit sie vom »Gerechten […] im strengen Sinne« handelt. Die »Politik« als »gesetzgebende Wissenschaft« handelt dagegen »vom Nützlichen, aber im Sinne des Gemeinwohls« ; sie betrifft also dasjenige, »was billig ¹⁶⁸ Hugo Grotius : De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 1, § IV – VIII . ¹⁶⁹ Die traditionelle Verkürzung von Aristoteles’ dreifacher Dichotomie auf eine zweifache durch Verwechslung der kommutativen mit der regulativen Gerechtigkeit wird ausführlich und mit umfangreichem Quellenmaterial bestechend analysiert von del Vecchio : Die Gerechtigkeit, 65– 72.

besteht im Einhalten der Äquivalenz zwischen Schuldmaß und Strafmaß durch den Richter beim unfreiwilligen Austausch, d. h. bei Rechtsdelikten, d. h. im Vergeltungsgleichgewicht.

besteht im Einhalten der Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung durch den Bürger beim freiwilligen Austausch,

d. h. im Entgeltungsgleichgewicht.

=

a:b

Güter Über das Kriterium der Würde, nach dem Gleiche gleich und und Ungleiche ungleich zu behandeln sind, herrscht unaufhebbarer Dissens aufgrund der verschiedenen politischen Ethe : Demokraten : Oligarchen : Aristokraten : nur der freie Status Geburtsadel oder Besitz Tugend

A:B

Personen

Das mathematische Schema dieser Proportionsanalogie ist :

Abb. 2 : Die Arten der Gerechtigkeit (äéêáéïóýíç) nach Aristoteles

Strafgerechtigkeit (justitia correctiva)

Diese die äußeren Güter »zuerteilende« Gerechtigkeit (äéáíåìçôéêx äéêáéïóýíç) besteht in einem Zuteilen öffentlicher Güter (Gelder, Ämter, Ehren) mit Ansehen der Person nach ihrer »Würde (Pîßá)«, d. h. nach geometrischer Proportion, durch die Regierenden.

Diese »beim Austausch die Ordnung wiederherstellende« Gerechtigkeit (äéïñèùôéêx äéêáéïóýíç) besteht in einem Ausgleichen von Schuld-Ungleichgewichten ohne Ansehen der Person und verfährt nach arithmetischer (direkter) Proportion.

Tauschgerechtigkeit (justitia commutativa)

Zuteilungsgerechtigkeit (justitia distributiva)

ist nur »ein Teil der ganzen Gerechtigkeit«,nämlich die spezielle ethische Tugend des Gerechtigkeitssinnes. Sie besteht im freiwilligen Erfüllen gewisser Proportionen von »Gleichheit (kóüôçò)«

bezeichnet metaphorisch die »ganze« oder »vollendete Tugend«, d. h. den Inbegriff aller Einzeltugenden. Sie besteht im freiwilligen Erfüllen aller Normen des geschriebenen und ungeschriebenen »Gesetzes (íüìïò)«.

Ausgleichungsgerechtigkeit (justitia regulativa / directiva)

partikulare Gerechtigkeit (justitia particularis)

universale Gerechtigkeit (justitia universalis)

­ ° ° ° ° justitia ® particularis ° ° ° ° ¯

justitia universalis

­ ° ® ° ¯

­ ° ® ° ¯

­ ° ° justitia commutativa ® ° ° ¯

justitia distributiva

Gerechtigkeitstyp

Abb. 3 : Die drei Stufen des Naturrechts bei Leibniz

a. die zwei unveräußerlichen Grundrechte der Freiheit (libertas) und Befugnis (facultas), b. die zwei Grundpflichten, »die Freiheit und Befugnis eines anderen nicht zu behindern« und die bürgerlichen Gesetze als durch den ›Gesellschaftsvertrag‹ legitmiert anzuerkennen, soweit sie nicht selbst gegen Normen des strengen Naturrechts verstoßen. Das strenge Recht betrifft das Privatwohl (bonum privatum) und enthält Schädigungsverbote ohne Ansehen der Person, zusammengefaßt in Ulpians Rechtsvorschrift »Niemanden verletzen (neminem laedere)«.

1. Strenges Recht (jus strictum) oder Eigentumsrecht (jus proprietatis) umfaßt

a. die auf eine »Geeignetheit (aptitudo)« gegründeten Ansprüche auf »Verhältnismäßigkeit oder Proportion zwischen zwei oder mehreren Rechtsgründen«, b. die daraus entspringenden Verpflichtungen. Die Billigkeit betrifft das öffentliche oder Gemeinwohl (bonum commune) im Staate und enthält Hilfsgebote, teilweise mit Ansehen der Person, zusammengefaßt in Ulpians Rechtsvorschrift »Jedem das Seine zuerteilen (suum cuique tribuere)«.

2. Billigkeit (aequitas) oder Gesellschaftsrecht (jus societatis) umfaßt

a. das Recht des moralisch-religiösen Gewissens auf freie Entscheidung, b. die Verpflichtung gegenüber Gott und dem Gewissen zur Selbstvervollkommnung. Die Pietät als Geist der Gerechtigkeit heißt »richtig geordnete Liebe (caritas recte ordinata)« bzw. »Liebe des Weisen (caritas sapientis)«. Sie betrifft das allgemeine Wohl (bonum universale) der ganzen Schöpfung und enthält moralische wie religiöse Gebote und Verbote, zusammengefaßt in Ulpians Rechtsvorschrift »Ehrenhaft leben (honestè vivere)«.

3. Pietät (pietas) oder inneres Recht (jus internum) umfaßt

Naturrechtsstufe

­ ° ® ° ¯

­ ° ® ° ¯

­ ° ® ° ¯

Die Prinzipien des strengen Rechts müssen differenziert ausgestaltet (positiviert) werden im System des Privatrechts.

Prinzipien der Billigkeit sollten vom Gesetzgeber so weit wie möglich umgesetzt werden im System des öffentlichen Rechts.

Regeln der Menschenliebe können nicht direkt in positives Recht umgesetzt werden, sondern müssen umgekehrt das göttliche wie menschliche Recht berücksichtigen.

Positives Recht

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ist« (an Conring, s. u. 325). Die »Theologie« aber, sofern sie als praktische Disziplin »eine gewisse Unterart der Jurisprudenz« im allerweitesten Sinne ist und »vom Recht und von den Gesetzen, die im Staat oder besser im Reich Gottes über die Menschen herrschen«, handelt, betrifft schließlich die höchste Sphäre der Gerechtigkeit, die Pietät, indem sie das moralische Gewissen an die Vorschriften der göttlichen Offenbarung bindet (Neue Methode, § 5). Leibniz beschreibt die drei Stufen des Naturrechts als Stufen der Vervollkommnung oder Ergänzung. Von ihnen ist »die folgende jeweils vollkommener als die vorhergehende und bekräftigt diese ; im Streitfall hebt sie die untere teilweise auf« (Neue Methode, § 73).¹⁷⁰ Zugleich bilden die Stufen auch eine Hierarchie von Zwecken in einer Ordnung der Subsidiarität : Die oberen kommen erst dann für die Regulierung des Handelns auf, wenn die unteren nicht mehr hinreichen. Folglich »gebietet« es – von den noch zu besprechenden Konfliktfällen abgesehen – prinzipiell »die Billigkeit selbst«, »das strenge Recht zu beachten« (§ 74), so wie es wiederum die gerecht geordnete Pietät selbst verlangt, die Prinzipien der Billigkeit nicht zu verletzen. Die einzelnen Stufen lassen sich nun am Leitfaden ihrer spezifischen Rechtszwecke erläutern, die von unten nach oben im Normalfall eine Art Dringlichkeitsstufung bilden. Das strenge Recht hat den Zweck, das Privatwohl, d. h. konkret Leib und Leben sowie Eigentum des einzelnen zu schützen. Weil dieser elementare Zweck in der Gesellschaft auf die Sicherheit in friedlicher Koexistenz hinausläuft, kann Leibniz später sagen, daß das strenge Recht »aus dem Prinzip der Erhaltung des Friedens entspringt« und »das Elend vermeidet«.¹⁷¹ Schon der frühe Leibniz, der das strenge Recht v. a. durch die Kerngedanken von Grotius .

¹⁷⁰ Auch in späteren Texten heißt es, daß das Recht der höheren Stufe »vollkommener (perfectius)« als das der unteren ist und dieses »ergänzt (supplet)« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, 1680, A VI 4, 2870, 1– 5). ¹⁷¹ »Jus […] strictum nascitur ex principio servandae pacis« ; »jus strictum miseriam vitat« (Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus, um 1693, GP III 388).

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und Hobbes verdeutlicht, hält die Basisstufe des Naturrechts für umfangsidentisch mit dem wohlverstandenen »Kriegs- und Friedensrecht« (Neue Methode, § 73). Denn wer die elementare Rechtsvorschrift »niemanden verletzen« mißachtet, erklärt dem Verletzten dadurch den Krieg, so daß dieser wiederum im Naturzustand das »Kriegsrecht gegen den Verletzer« hat, im Staat jedoch, d. h. unter dem Strafmonopol einer höchsten Macht, lediglich einen Anspruch auf Einklagung seines Anspruchs bzw. auf Bestrafung des Täters hat (ebd. § 17). Leibniz nennt das strenge Recht auch das »bloße« oder »reine Recht (jus merum)«, weil es sich unmittelbar oder rein aus der Idee des Rechts überhaupt, d. h. aus der »Definition« seiner Grundbegriffe ergibt (§ 73, § 20). Von »Natur« aus nämlich, so deklariert Leibniz im Geist der Frühaufklärung gegen jede Ideologie natürlicher Sklaverei, habe jeder Mensch das Grundrecht der »Freiheit«, d. h. das Recht auf den eigenen Körper und dessen ungehinderte Bewegungen, sowie das Grundrecht der »Befugnis«, d. h. das Recht auf Aneignung oder Nutzung von Sachen, die keinem anderen gehören (§§ 16 f. u. 19). Weil jeder Mensch frei geboren ist und sich ein mögliches »Recht an einer Person«, d. h. »Gewalt« im rechtlichen Sinne, nur aus dem historischen Prinzip »Handlung« ableiten läßt (§ 16 f.), kann es, wie Leibniz schon früh festhält, auch »kein absolutes Recht des Staates auf den Bürger« geben.¹⁷² Die zwei Grundrechte müssen in jedem Staate positiviert, d. h. in ein konkretes System geltender Gesetze des Privatrechts umgesetzt werden ; andernfalls verstieße z. B. ein Staat, in dem einer Gruppe von rechtsfähigen und unbescholtenen Personen die Freiheit abgesprochen würde, damit gegen die Grundstufe des Naturrechts. Auf welche Weise allerdings die zwei Grundrechte jeweils in positivem Recht ausgestaltet werden, wieweit z. B. die Erlaubnis zur Eigentums- und Vermögensbildung reichen soll, ist eine Frage einerseits historisch kontingenter Umstände, andererseits aber schon der Berücksichtigung gewisser Prinzipien der Billigkeit. ¹⁷² »Ius prorsus absolutum Reip.[ublicae] in civem nullum est« (Anm. 82 zu Thomasius, A VI 1, 65, 27).

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Aus den beiden Grundrechten ergibt sich zum einen umgekehrt die Pflicht eines jeden, »nicht die Freiheit und Befugnis« des anderen »zu behindern« (§ 16). Weil Leibniz in seiner politischen Philosophie zugleich dem Hobbesschen Modell vom Gesellschaftsvertrag folgt, dem zufolge »jeder beliebige Untertan des Staates« jedem anderen »verspricht«, »daß er dessen Beschlüsse, seien es allgemeine, wie die Gesetze, oder einzelne, wie die Schiedssprüche, für rechtskräftig erachten wird« (§ 18), so ergibt sich zum andern auch die Pflicht, die bürgerlichen Gesetze als legitimiert anzuerkennen, soweit sie nicht selbst eine Norm des strengen Naturrechts mit Füßen treten. Nun weicht Leibniz zwar in zweifacher Hinsicht von Hobbes ab ; denn erstens leugnet er aufgrund seiner theologischen Prämisse vom Gottesstaat einen »rein natürlichen Zustand der Menschen außerhalb jedes Staates«, damit aber auch einen Zustand ursprünglicher Vereinzelung,¹⁷³ und zweitens kritisiert er Hobbes’ rechtspositivistische Konsequenz, daß nach Gründung des Staates schlechthin alles gerecht sein soll, »was dem Staate gefällt« (§ 72). Gleichwohl stimmt er mit Hobbes überein, daß die Autorisierung eines Inhabers höchster Gewalt in einem Staate die Bedeutung hat, daß jeder sein im ›Naturzustand‹ ohne irdischen Staat vorhandenes Kriegsrecht aufgibt (§ 72), um durch Unterwerfung unter die bürgerlichen Gesetze Sicherheit vor gewaltsamen Übergriffen anderer zu erhalten. Weil aber Tiere, Pflanzen und blinde Elemente aufgrund ihrer mangelnden Einsichtsfähigkeit keine Übereinkunft zu einem Sozialvertrag erzielen können, herrscht unter ihnen sowie zwischen ihnen und dem Menschen das Kriegsrecht des Naturzustands, so daß hier z. B. der Kampf um Leib und Leben sowohl auf seiten des Löwen als auch auf seiten des Menschen von Natur aus gerecht ist. Dagegen herrscht zwischen Personen das Friedensrecht, sofern die eine nicht die Grundrechte der anderen verletzt hat (§ 73). Leibniz’ Idee einer ¹⁷³ »Neque diffiteris supposito Mundi Rectore nullum esse posse hominum statum purè naturalem extra omnem Rempublicam, cum Deus sit omnium Monarcha communis« (an Hobbes, 13./23. Juli 1670, A II 1, 56, 28– 30).

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kosmischen Rechtsordnung, sein theologisch fundierter ›Juriszentrismus‹, zeigt sich also auch in der Neuen Methode. Aus alledem ergibt sich, daß die Pflichten des Naturrechts im strengen Sinne fast ausschließlich Schädigungsverbote und insofern Unterlassungsgebote sind, weshalb sie sich unter Ulpians Formel »Niemanden verletzen (neminem laedere)« subsumieren lassen. Die Geltungssphäre des strengen Rechts kann Leibniz später mit dem »Eigentumsrecht« schlechthin identifizieren,¹⁷⁴ weil er schon früh, ähnlich wie wenig später John Locke, den je meinigen Körper selbst als mein primäres Eigentum auffaßt, das ich »vor allem [anderen] besitze« (§ 17). Um der begrifflichen Klarheit willen unterscheidet Leibniz jedoch zwischen dem »Freiheitsrecht (jus libertatis)« (§ 17) und der »Befugnis (facultas)« qua »Sachenrecht (jus in rem)«, das sich wiederum untergliedert in zahlreiche Unterarten wie das Nutz-, Nießbrauch- oder Ersitzungsrecht (§ 16). Das als Eigentumsrecht aufgefaßte strenge Recht schließt aber nach heutigem Sprachgebrauch auch das Vermögensrecht ein,¹⁷⁵ was Leibniz durch die Formel vom »Recht zu besitzen und zu gebrauchen (jus possidendi tractandique)« immerhin andeutet (§ 19). Der Sache nach fällt auch das Vertragsrecht und Erbrecht usw., kurz das gesamte Privatrecht für Leibniz unter das strenge Recht.¹⁷⁶ Denn ¹⁷⁴ »Jus proprietatis est infimus juris gradus habetque locum et in statu naturae rudis, ubi omnes homines aequales habentur« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2868, 1 f.). ¹⁷⁵ So schon Hartmann : Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, 77 ; vgl. Schiedermair : Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts, 111 f. ¹⁷⁶ Nachdem Leibniz’ konkrete Lehre vom Privatrecht lange Zeit von der Forschung unbeachtet geblieben war, ist sie wohl erstmals im Überblick rekonstruiert worden durch Klaus Luig : Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in : Römisches Recht in der europäischen Tradition, hg. v. Okko Behrends, Malte Diesselhorst u. Wulf Eckart Voss, Ebelsbach 1985, 213 – 256 ; ders. : Die Privatrechtsordnung im Rechtssystem von Leibniz, in : Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. v. Günter Birtsch, Göttingen 1987, 347– 374 ; ders : Leibniz und die gerechte Ordnung des Erbrechts, in : Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, hg. v. Frank Grunert

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in diesem herrscht ausnahmslos die kommutative (genauer : regulative) Form der Gerechtigkeit, in der es um ein Ausgleichen von Schuld-Ungleichgewichten ohne Ansehen der Person geht. Weil beim Schutz der Rechte von Freiheit und Eigentum jede Person den gleichen Wert hat, ist es das arithmetische, also direkte Verhältnis, das die Grammatik des strengen Rechts bildet. Die »private« Gerechtigkeit »ist identisch mit der kommutativen und besteht in der Wahrung einer solchen Gleichheit unter den Bürgern, daß alle das gleiche Recht genießen und niemand geschädigt wird, wenn sie etwas tauschen oder weggeben, und daß jedem sein Hab und Gut erhalten bleibt […] – was für die Ruhe notwendig ist«.¹⁷⁷ In den Elementen des Naturrechts wird Leibniz versuchen, diese formale arithmetische Gleichheit anwendbar zu machen durch Staffelung materialer Proportionen von Schadensgewichtungen. Die zweite Stufe des Naturrechts, die Billigkeit, hat den Zweck, über den Schutz des einzelnen hinaus das »öffentliche Wohl (bonum publicum)« im Staate, d. h. das »Gemeinwohl (bonum commune)« zu fördern.¹⁷⁸ Weil aber das Gemeinwohl zusammenfällt mit dem »Wohl des Volkes« und dieses wiederum nach Leibniz’ von Cicero übernommener Formel »das höchste Gesetz des Staates« ist (Neue Methode, § 76), ist die Billigkeit das große Natur.

u. Friedrich Vollhardt, Tübingen 1998, 197– 208 ; ders : Leibniz und die Prinzipien des Vertragsrechts, in : Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie, hg. v. Jean-François Kervégan u. Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1999, 75– 93 ; sowie ders : Leibniz’s Elementa Iuris Civilis and the Private Law of his Time, in : Critical Studies in Ancient Law, Comparative Law and Legal History, hg. v. John W. Cairns u. Olivia F. Robinson, Oxford 2001, 267– 282. ¹⁷⁷ »Privata [justitia] eadem est quae commutativa et consistit in servanda illa aequalitate inter cives, ut eodem omnes jure utantur, et cum commutant aliquid vel sibi detrahunt ut laesio absit et vel cuique res sua servetur […] : quod ad quietem necesse est« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2860, 16 – 20). ¹⁷⁸ Vgl. etwa De tribus praeceptis aeternae legis tres partes justitiae complectentibus, 1678/79 (A VI 4, 2813, 2) sowie Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2852, 14).

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rechtsprinzip, an das die »Politik« in ihrer Gesetzgebung gebunden ist (an Conring, s. u. 325). Deshalb nennt Leibniz die Billigkeit auch das »Gesellschaftsrecht (jus societatis)«¹⁷⁹ und ordnet ihr das »öffentliche Recht (jus publicum)« zu,¹⁸⁰ dessen Regulierungsbereich er – anders als nach unserem heutigen Begriff – schon bei den natürlichen Gemeinschaften der Ehe und Familie beginnen läßt.¹⁸¹ Indem Leibniz dem Wink bei Grotius folgt und das Prinzip der Billigkeit als eine selbständige Stufe des Naturrechts konzipiert, erweitert er einerseits – wie Melanchthon¹⁸² – den aristotelischen Gedanken der Billigkeit (dðéåßêåéá) als einer rechtsimmanenten »Korrektur« zur Erhöhung der Einzelfallgerechtigkeit¹⁸³ ins Systematische, zieht aber andererseits der nachklassischen, von Konstantin bis Justinian geförderten Etablierung eines mit den christlichen Konnotationen der ›humanitas‹ und ›benignitas‹ besetzten jus aequum engere Grenzen.¹⁸⁴ Denn er sieht, daß die ¹⁷⁹ Vgl. etwa Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2867, 21). ¹⁸⁰ Vgl. z. B. Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2861, 3 f. u. 2871, 20 f.). ¹⁸¹ Schon Hartmann : Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, 84, hat erkannt, »daß Leibniz eine oberste Scheidung des Rechts mit der Bezeichnung von ›jus privatum‹ und ›jus publicum‹ in dem technischen Sinn und der Begrenzung der Römischen Juristen stillschweigend ganz und gar verwirft. Das Familienrecht gehört ihm, in scharfem Gegensatz zu dem strengen Proprietätsrecht, mit in das Recht der Sozietät oder Gemeinschaft«. ¹⁸² Zu Melanchthons Unterscheidung zwischen jus strictum und aequitas vgl. Guido Kisch : Melanchthons Rechts- und Soziallehre, Berlin 1967, 168–184. ¹⁸³ Vgl. Aristoteles : Ethica Nicomachea, V 14, 1137 a 31–1138 a 2. ¹⁸⁴ Vgl. Fritz Pringsheim : Jus aequum und jus strictum, in : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 42 (1921), 643 – 668. Für die klassische Zeit stellt er treffend heraus : »Dem jus steht die aequitas gegenüber als eine regulierende, kontrollierende, zuweilen auch berichtigende Idee […] ; aber die römischen Juristen […] stellen das Verhältnis von jus und aequitas nicht klar. Sie bringen es zu einer schönen Vereinigung – Celsus D. 1, 1, 1 pr : jus est ars boni et aequi – aber nicht zu einer begrifflichen Erfassung der beiden Kategorien« (645).

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politische Instrumentalisierung eines solchen billigen Rechts durch die Kaiser und seine Vermischung mit dem strengen Recht historisch viel Verwirrung gestiftet hat (an Conring, s. u. 331 f.). Das Wesen der Billigkeit besteht allgemein in der Ausgewogenheit, »Verhältnismäßigkeit oder Proportion zwischen zwei oder mehreren Rechtsansprüchen«, d. h. in ihrer »Harmonie oder Kongruenz« (Neue Methode, § 74). Wie andere Philosophen von Cicero bis Hobbes hat aber auch Leibniz Probleme, das Billige vom Gerechten begrifflich klar abzugrenzen. Nicht erst unsere deutsche Formel ›recht und billig‹ zeigt, daß es »zweierlei« ist, »ob man (bloß) gerecht oder (darüber hinaus auch) billig handelt« (Elemente des Naturrechts 3, s. u. 203). Was gerecht ist, ist deshalb nicht auch schon billig, denn zur Realisierung der Billigkeit wird mehr verlangt als zur bloßen Gerechtigkeit. Lautete die oberste Regel des strengen Rechts, »daß keinem eine Sache weggenommen werde, die er (ohne hierbei eine Verfehlung begangen zu haben) besitzt«, so lautet nun die oberste Regel der Billigkeit, »daß jedem das zuerteilt werde, was er braucht, um den öffentlichen Nutzen zu befördern« (an Conring, s. u. 329 f.). Weil die Verletzungsverbote des strengen Rechts und seiner positiven Ausgestaltung wesentlich die Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen definieren, die Zuteilungsgebote der Billigkeit hingegen die Grenzen zwischen dem Gebotenen und dem Nichtgebotenen, kann Leibniz bei seiner Abbildung der logischen Modalien auf die juridischen auch das für einen guten Menschen »Mögliche« mit dem »Gerechten« und »Erlaubten«, das für einen guten Menschen »Notwendige« aber mit dem »Gebotenen« und »Billigen« identifizieren (Elemente des Naturrechts 5 und 6, s. u. 245 und 301, Tabellen). Wie die Billigkeit zum einen unter die berühmte Ulpiansche Rechtsvorschrift fällt, »jedem das Seine zuzuteilen (suum cuique tribuere)«, d. h. dasjenige, was ihm gebührt, so fällt sie zum andern unter den Typ der distributiven Gerechtigkeit, deren Grammatik nach Aristoteles die geometrische Proportion ist. Nach der von ihm aufgestellten Proportionsanalogie (s. o. LXXI, Abb. 2) gebührt z. B. einer Person, deren Würde im Vergleich zu einer anderen fünf mal so groß ist,

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auch die fünffache Menge an Gütern. Leibniz läßt keinen Zweifel daran, daß er jenes Kriterium der Würde, das Aristoteles als Streitpunkt der verschiedenen politischen Lager erkannt hatte, nicht nur von Leistung und Verdienst des Individuums abhängig macht, sondern auch vom Nutzen von Individuen und Personengruppen für den obersten Zweck der Förderung des Gemeinwohls. So müssen z. B. nicht nur die Familien, sondern auch die an Fähigkeit und Arbeitsbereitschaft »Besseren« gefördert werden, da die Multiplikatoreffekte ihrer Leistungen das Gemeinwohl ungleich mehr steigern¹⁸⁵ (Elemente des Naturrechts 6, s. u. 307). Die systematische Schwierigkeit, die Prinzipien der Billigkeit begrifflich zu fixieren, erkennt Leibniz darin, daß in einem viel stärkeren Maße strittig ist, worin das öffentliche Wohl besteht und woran man Würde und Verdienst der Menschen messen soll, als darüber, worin jenes elementare Privatwohl besteht, welches das strenge Recht jedem ungeachtet seiner Person schützt. Markierten die Unterlassungsgebote des strengen Rechts ziemlich genau dasjenige, was von der zwangsmächtigen Autorität des Staates mit Gewalt oder bei Strafe erzwungen werden kann, so ist dies bei den Handlungsgeboten der Billigkeit nicht immer möglich. »Billig ist es zweifellos, auch ohne daß wir alle vom Gewissen dazu gehalten sind, daß der Staat sich im bestmöglichen Zustand befindet ; aber sofern die Leute sich hierin nicht einig sind, können sie nicht gezwungen werden«, und zwar weder die Bürger vom Gesetzgeber noch die Inhaber der höchsten Gewalt von übergeordneten politischen Instanzen, wie dem Kaiser. »Wenn es z. B. billig wäre (d. h. von öffentlichem Nutzen), daß alle Zölle aufgehoben würden, könnten doch die absoluten Fürsten nicht schon deshalb zu Recht hierzu gezwungen werden« (an Conring, s. u. 325). Inwieweit sich die Gebote zur Förderung des Gemeinwohls positivieren lassen, hängt also auch vom öffentlichen Konsens und von gewohnten Zumutbarkeitsgrenzen ab. Das ist einer von mehreren Gründen, weshalb Leibniz, obwohl ihm persönlich eher das sozialpolitische .

¹⁸⁵ Vgl. Leibniz an Arnauld, November 1671 (A II 1, 174, 10 – 35).

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Ideal eines »christlichen Wohlfahrtsstaates« als das eines »liberalen oder gar kapitalistischen Staates« vorschwebt,¹⁸⁶ trotzdem naturrechtlich das ganze strenge Recht mit seiner niederen, bloß eigennützigen Antriebslogik vorschaltet und dieses dann bloß subsidiär durch Kriterien der Billigkeit regulieren läßt, statt dem Staat direkt das Monopol einer billigen Verteilungsgerechtigkeit zu übertragen. Politische Gesellschaften können nicht, »wie gewisse religiöse Orden«, so zentralistisch gelenkt werden, »daß alles in der Sorge und Verfügungsgewalt des Staates läge«.¹⁸⁷ Denn erstens wäre eine Verteilung des Eigentums ausschließlich nach den Kriterien der Gemeinwohloptimierung einerseits sowie des Verdienstes und der Würde andererseits kaum möglich ohne »Krieg« oder Unfrieden,¹⁸⁸ falls man nicht auf eine erfolgreiche Umerziehung aller Menschen zu Weisheit und Liebe hofft.¹⁸⁹ Zweitens würde die Ersetzung des .

¹⁸⁶ So Luig: Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, 256; vgl. auch 214. ¹⁸⁷ De jure et justitia, zw. Mai 1679 und Mai 1680 (A VI 4, 2839, 11–13). ¹⁸⁸ »Denn es ist auch offensichtlich, daß ein Urteil über den Vorzug an Verdienst und Würde sehr schwierig ist ; deshalb war es das Beste, daß bei den Dingen, die die Vorsehung bereits unter die Menschen verteilt hat, alle gleich behandelt werden, wenn wir es nicht vorziehen wollen, die göttlichen Entscheidungen umzustoßen und nach Verwirrung der Verhältnisse den Spruch der Vorsehung eher vom Ausgang eines künftigen Krieges zu erwarten als der Vorentscheidung der Gegenwart zu folgen. Denn daß das Menschengeschlecht sich freiwillig den Gesetzen einer gewissen Gemeinschaft unterwirft und alle seine Güter der Entscheidung der Verwalter übergibt, darf nicht gehofft werden« (De jure et justitia, 2839, 21– 2840, 4). ¹⁸⁹ »Man muß aber wissen, daß, wenn die menschlichen Angelegenheiten den bestmöglichen Staat leicht ertragen ließen, die Verwaltung aller Dinge in der öffentlichen Gewalt läge und die Menschen proportional zu ihrer Tugend und zu ihren Verdiensten von den öffentlichen Gütern Gebrauch machen würden, so wie es dann auch die Aufgabe des Staates wäre, jedem die allerbesten Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, damit er seine Aufgabe gut bewerkstelligen kann. Und ich zweifle nicht daran, daß die Menschen dies erreichen könnten, wenn sie nur richtig erzogen wären« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2859, 10 –14).

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Privatrechts durch eine auf staatliche Fürsorge fixierte Billigkeit die Produktivität der Menschen erlahmen lassen.¹⁹⁰ Und drittens ist es unwahrscheinlich, sorgsame und zugleich unparteische Verwalter zu finden, die durch den Umgang mit der Macht nicht korrumpiert werden.¹⁹¹ Aus diesen Gründen hält Leibniz es für das kleinere Übel, daß der Staat die Güter nicht direkt nach Prinzipien der Billigkeit selbst verteilt, sondern die Verteilung den Bürgern überläßt, die sich die Güter gemäß dem strengen Recht nach den Gesetzen der Eigentumsordnung erwerben. »Deshalb bleibt jedem die Freiheit übrig, Güter zu erwerben und verschiedene Dinge, die die Natur aus ihren Tiefen hervorbringt, in die eigene Gewalt zu bringen, und hierbei herrscht bald der Zufall, bald der Fleiß. Folglich wird nach der Einführung des Privateigentums, sooft ein Streit um einen Acker entbrennt, nicht gefragt, wer des Ackers würdiger ist bzw. ihn besser bestellen wird, sondern in wessen Herrschaft er sich befindet«.¹⁹² Angesichts dieses Primats der Privatrechtsgesellschaft unter dem strengen Recht bleibt dem Staat nur die subsidiäre Aufgabe, unbilligen, d. h. unverhältnismäßigen Auswüchsen des positivierten strengen Rechts gegenzusteuern, indem er teils – notfalls bis hin ¹⁹⁰ »Doch weil derartiges«, nämlich eine Organisation staatlicher Fürsorge nach dem Modell eines geistlichen Ordens, »ohne die größte Umkehrung der Verhältnisse nicht erhofft werden kann und die Menschen, so wie sie jetzt geartet sind, sofort durch Trägheit erschlaffen würden, wenn sie frei von Not durch die öffentliche Fürsorge unterhalten würden, so sind einem jeden entweder vom Staat oder vom glücklichen Zufall bzw. von den Vorfahren gewisse Güter zuerteilt worden, bei denen eine Gelegenheit zu privatem Fleiß übriggelassen ist. Und damit nicht ständig alles im Fluß ist, hat man es für gut befunden, daß hier nicht mehr nach dem Verdienst gefragt wird, sondern nur nach dem Besitz und dem Besitzgrund« (De jure et justitia, A VI 4, 2839, 16 – 21 ; vgl. 2859, 14 –16). ¹⁹¹ »Auch ist es schwierig, nichtkorrupte und hinreichend sorgfältige Verwalter zu finden, die allen gegenüber wohlwollend sind« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2859, 16 f.). ¹⁹² Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2859, 17– 21).

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zur Enteignung – gesetzgeberisch eingreift,¹⁹³ teils Anreize für freiwillige Aktivitäten zugunsten des Gemeinwohls schafft. Prinzipien der Billigkeit bilden somit eine Art soziales Regulativ und Korrektiv, dessen Realisierung eher eine Frage des klugen politischen Managements als der dirigistischen Erzwingung ist. Deshalb ist es angesichts des durch Faschismus und Kommunismus historisch belegten Mißbrauchspotentials auch irreführend und ganz gegen die Rangordnung der Leibnizschen Naturrechtsstufen, von einem »Vorrang des Gemeinnutzens vor dem Eigennutz« in dem Sinne zu sprechen, daß der »Eigennutzen« dem »Gemeinnutzen durchaus [ ! ] unterzuordnen« ist.¹⁹⁴ Der Sinn der Billigkeit liegt vielmehr in der am Gemeinwohl orientierten staatlichen Korrektur von Mißverhältnissen der Privatrechtsordnung. Zugleich wird deutlich, daß für Leibniz das Grundproblem nicht eine gerechte Güterverteilung ist, in der die Unterschiede der Menschen zugunsten eines abstrakten Egalitarismus ausgeblendet sind, sondern vielmehr das politische Kunststück einer billigen Güterverteilung, in der die Verdienste und Leistungen der Individuen einerseits berücksichtigt und belohnt werden, andererseits aber auch im Dienste des Gemeinwohls fruchtbar gemacht werden. Hierfür muß man den Bürgern zunächst klarmachen, »daß die Wissenschaft vom Gerechten und die vom Nützlichen, d. h. die vom öffentlichen und die vom privaten Wohl, sich wechselseitig einschließen, und daß niemand mühelos glücklich sein kann mitten unter unglücklichen Menschen« (Elemente des Naturrechts 4, s. u. 219). Und daraus folgt wiederum, »daß man für das Gemeinwohl arbeiten muß, welches dann auch auf uns zurückfließt«.¹⁹⁵ Denn »indem ¹⁹³ »Es kann der Staat jedoch diese Freiheit durch verschiedene Gesetze einschränken, wenn er sie schon nicht gänzlich aufzuheben vermag ; z. B. befiehlt er bisweilen, daß Menschen ihre Waren auch unfreiwillig zu verkaufen gezwungen werden, damit eine Teuerung verringert wird« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2866, 6 – 8). ¹⁹⁴ So aber, im Jahre 1943, Larenz : Sittlichkeit und Recht, 243, 242. ¹⁹⁵ »[…] Unde sequitur pro publico bono laborandum, quod etiam in nos redundat« (Tit. 1 De justitia et jure, Grua II 615).

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jeder dem anderen nützt, soviel er kann, vermehrt er in dem fremden Glück auch sein eigenes«.¹⁹⁶ Weil Leibniz das Billigkeitsprinzip nicht bloß auf eine verdienstbzw. leistungskausale Zuteilung von Gütern durch den Staat einschränkt, sondern als eine umfassende, im Dienst des »bonum commune« stehende Norm der Verhältnismäßigkeit bei konfligierenden Ansprüchen versteht, untergliedert sich das Billigkeitsprinzip bei seiner Anwendung auf verschiedene Gegenstandstypen in zahlreiche Bindestrich-Billigkeiten, die sich allesamt als Unterarten der Distributivgerechtigkeit verstehen lassen, da es bei ihnen um die Zuteilung von Gütern und Übeln nach der Devise »Jedem das Seine« geht. Neben die erwähnte Güterzuteilungs-Billigkeit, wonach sie die »Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen den Gütern und den Verdiensten« ist (Elemente des Naturrechts 2, s. u. 197), treten z. B. eine Entschädigungs-Billigkeit, der zufolge »ich gegen den, der mich verletzt hat, keinen mörderischen Krieg führe, sondern ihn zum Schadenersatz veranlasse«, eine Strafrechts-Billigkeit, nach der die Verhältnismäßigkeit zwischen Schuldmaß und Strafmaß berücksichtigt wird, so daß etwa »nicht so sehr Unklugheit als vielmehr Arglist und Tücke bestraft wird«, sowie eine Vertragsrechts-Billigkeit, nach der etwa »hinterlistige Verträge entkräftet werden« (Neue Methode, § 74). Eine sehr große Bedeutung hat schließlich die Billigkeit sozialer Hilfeleistung der Bürger untereinander, deren Systematisierung Leibniz besonders am Herzen liegt. Hierfür unterscheidet er gemäß einer geheimen Architektonik des römischen Rechts vier verschiedene Dringlichkeitsstufen von Gütern : 1. Die Abwendung von Not, Unglück oder Elend, 2. die Abwendung von bloßem Schaden oder Nachteil, 3. die Gewinnung von Vorteil oder Nutzen und 4. die Erzielung von Überfluß. Der Grundgedanke, aus dem Leibniz hier Proportionen des Billigen ableitet, besagt, daß ich aus Billigkeitsgründen jeweils dazu verpflich¹⁹⁶ »Dum quisque alteri prodest quantum potest, felicitatem suam augeat in aliena« (Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus, GP III 388).

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tet bin, anderen zu helfen, sofern ihr Dringlichkeitsgrad schwerer wiegt als der meinige. »Billig ist es, das Glück des anderen zu fördern, soweit dadurch nicht das eigene beeinträchtigt wird, und das Elend des anderen zu verhindern, soweit dabei eigenes Elend vermieden wird«. Das bedeutet : »dem, was für einen anderen nützlich ist, den Vorrang zu geben vor dem, was für einen selbst überflüssig ist, sowie das, was für einen anderen notabwendend ist, für vorrangiger zu achten als das, was für einen selbst bloß nützlich ist« (Elemente des Naturrechts 3, s. u. 203). Sozial unbillig, weil eine unverhältnismäßige Zumutung, wäre es jedoch wiederum, von einem anderen zu verlangen, daß er »unter Verlust des eigenen Vorteils« oder gar zum eigenen Schaden oder Unglück »den Nachteil des anderen beseitige« (Elemente des Naturrechts 2, s. u. 101). Leibniz erkennt selbstverständlich, daß kein Bürger vom Gesetzgeber zu diesen anspruchsvollen Geboten gestaffelter Hilfeleistung gezwungen werden kann, es sei denn auf der Grundstufe bei Errettung aus Not, so daß die Nichterrettung unter den Tatbestand unterlassener Hilfeleistung fiele. »Anderen zu helfen kann ich in der Regel nicht gezwungen werden« (Elemente des Naturrechts 3, s. u. 201). Das zeigt, wie weit Leibniz von einem politischen Moralismus entfernt ist, der das staatlich Erzwingbare verwechselt mit dem sozial Gebotenen. Umgekehrt kann freilich auch der Bürger keine Billigkeitsentscheidungen vom Staat ›erzwingen‹, indem er sie einklagt. Er besitzt zwar bestenfalls einen begründbaren Anspruch, den Grotius »Geeignetheit (aptitudo)« genannt hatte, nicht jedoch ein einklagbares Recht, das sich lediglich aus dem strengen Recht ableiten läßt. »Allein das Gesetz oder ein Höherer«, d. h. ein Amtsträger mit höheren Befugnissen, »verhilft der Billigkeit zum Durchbruch und räumt ihretwegen manchmal eine Klage oder einen Einspruch ein« (Neue Methode, § 74). Leibniz versucht, alle diese verschiedenen Bindestrich-Billigkeiten als Anwendungen der Goldenen Regel zu verstehen. Billig ist hiernach, was sich billigen läßt aufgrund wechselseitiger Erwartungen. »Billig ist es, daß jeder dem anderen so viel zugesteht, wie er auch vom anderen für sich fordern würde« (Elemente des Na-

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turrechts 3, s. u. 203 ; vgl. Neue Methode, § 74). Doch sieht Leibniz auch, daß diese formalistische Definition für die Billigkeit ebenso untauglich ist wie für die Gerechtigkeit, da sie keine operativen Kriterien dafür enthält, was sich denn wechselseitig fordern läßt (Elemente des Naturrechts 4, s. u. 231). Er muß schließlich erkennen, daß sich das Prinzip Billigkeit »nur sehr schwer auf allgemeine Weise definieren« läßt (Elemente des Naturrechts 3, s. u. 203). Operationalisieren läßt sich der Begriff nur, indem man die spezifischen Verhältnismäßigkeiten des jeweils konkret nach Billigkeitskriterien zu regulierenden Sachbereichs material aufschlüsselt durch Staffelungen oder Dringlichkeitsstufen, wie Leibniz dies etwa bei der sozialen Hilfeleistung der Bürger untereinander versucht. Die Pietät schließlich, als die dritte und höchste Stufe des von Natur aus Gerechten, vervollkommnet die beiden bisherigen Stufen der »partikularen Gerechtigkeit« durch jene innere Haltung, die in der aristotelischen Tradition als Inbegriff der Tugenden gilt und insofern metaphorisch »universale Gerechtigkeit« heißen darf, weil sie im redlichen Bemühen besteht, sämtlichen bisherigen und zusätzlich auch neuen Normen freiwillig gerecht zu werden. Die Pietät hält ein noch höheres Anspruchsniveau, weil sie auf einem neuen Typ von Rationalität und damit auch einem neuen Typ von Motivation bei der Pflichterfüllung beruht. Leider hat Leibniz in der Neuen Methode die verschiedensten Motivationsebenen gar nicht zum Thema gemacht, weil er hier ausschließlich an den objektivierbaren Norm- und Zweckstufen interessiert ist ; in den späteren Schriften aber hat er die Motivationen mit sehr unterschiedlichen Begriffen umschrieben. Diese Undeutlichkeit in der Motivationstheorie hat bei den Kommentatoren Anlaß zu den widersprüchlichsten Antworten auf die Frage gegeben, wie Leibniz das Verhältnis zwischen Recht und Moral bestimmt. Natürlich hängt die Antwort ganz davon ab, was man selbst unter Moral versteht. Legt man von vornherein einen engeren Begriff von Moral zugrunde, der zugleich inhaltlich mit der aristotelischen Tugendauffassung verbunden ist, so zeigt sich eine starke Korrelation zwischen den drei Naturrechtsstufen und drei Sphären der Tugend.

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Die anspruchsloseste Stufe solcher Tugend, die dem strengen Recht korrespondiert, ist die geistige Einstellung, die Gleichheit aller Mitbürger als Bürger zu achten und sowohl in den freiwilligen Tauschbeziehungen als auch im Gerichtswesen auftretende SchuldUngleichgewichte äquivalent auszugleichen. Die zweite Stufe der als Tugend verstandenen partikularen Gerechtigkeit, die der Billigkeit entspricht, besteht in der Willenshaltung, jedem dasjenige zukommen zu lassen, was ihm im Hinblick auf seine durch Verdienst, Leistung und möglicherweise Hilfsbedürftigkeit begründbaren Ansprüche zukommt. Diese schon etwas edlere Einstellung nennt Leibniz großzügigerweise »Menschenliebe (caritas) im engeren Wortsinne«,¹⁹⁷ ja einmal sogar den »Sinn für Humanität«.¹⁹⁸ Diese Tugend schließt auch eine Hilfsbereitschaft ein, welche jedoch eingeschränkt bleibt auf die Bedingung der Wechselseitigkeit, d. h. auf die Erwartungslogik des ›do ut des‹. Gegenüber diesen eingeschränkten Tugenden besteht schließlich die universale und integrative Tugend, die der Naturrechtsstufe der Pietät entspricht, in einem habitualisierten Pflichtbewußtsein und Wohlwollen gegenüber allen Menschen, und zwar auch dort, wo keine Gegenseitigkeit zu erwarten ist. Auf allen drei Stufen gehört zur Moral qua Tugend immer die intrinsische Motivation, die jeweiligen Normen der korrespondierenden Gerechtigkeitsstufe freiwillig aus Einsicht in ihre Notwendigkeit anzuerkennen und das Handeln nach ihnen zu regulieren. .

¹⁹⁷ Vgl. etwa die Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus (GP III 387). ¹⁹⁸ So m.W. jedoch lediglich in De legum rationibus inquirendis von 1678/79, und auch hier bloß indirekt. Leibniz untersucht in dieser Aufzeichnung nicht direkt die drei Stufen des Naturrechts, sondern drei abstrakte Motivationsstufen (»principia ex quibus ad juste agendum movemur«), nämlich erstens die »utilitas propria«, zweitens den »sensus humanitatis, atque honesti«, dem er sogar schon den »conscientiae stimulus« entspringen läßt. Das dritte Prinzip aber nennt er hier »religio«, die hinzukommen müsse, weil bei vielen der Sinn für Humanität und der Gewissensimpuls abgestumpft sei (A VI 4, 2778, 23 – 2779, 14).

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Wenn man dagegen den Begriff »Moral« in einem sehr weiten und anspruchslosen Sinne faßt, nämlich als innere Einstellung des Wertens und Wollens, die vorwiegend durch das für die eigene Person Vorteilhafte motiviert ist, lassen sich wiederum drei Stufen solcher Klugheitsmoral unterscheiden. Sie korrespondieren den Normen der drei Naturrechtsstufen nur insoweit, wie diese durch eine sanktionierende Macht repräsentiert werden. Die Klugheitsmoral der Rechtlichkeit, die zur Erfüllung der positivierten Normen des strengen Rechts im allgemeinen hinreicht, ist motiviert durch die Furcht vor Bestrafung und sozialer Ächtung, d. h. durch die negative Erwartung von Nachteil. Damit hingegen auch die Billigkeitsnormen erfüllt werden, muß zusätzlich eine positive Erwartung von Vorteil hinzukommen ; deshalb wird die Klugheitsmoral der Billigkeit vornehmlich motiviert durch Erwartung sozialer Anerkennung und durch Hoffnung auf die durchs eigene Handeln geförderte Mehrung des Gemeinwohls, die auf das Privatwohl positiv zurückwirkt. Für die dritte Stufe dieser eigennützig motivierten Moral, d. h. für das Klugheitmoment innerhalb der Pietät, macht Leibniz die sanktionierende Macht Gottes geltend. Es ist die im Erwartungshintergrund ruhende, wenn auch nicht stets das Handeln kalkulierend begleitende religiöse Gewißheit göttlicher Belohnungen und Bestrafungen für den irdischen Lebenswandel, die den einzelnen womöglich zu Handlungen motiviert, die über das von der Billigkeit Geforderte noch hinausgehen, z. B. zur Preisgabe des eigenen Lebens für die Rettung anderer Menschen. Der frühe Leibniz zeigt sich nun auffallend darum bemüht, das Klugheitsmoment auf jeder der drei Gerechtigkeitsstufen zu retten. Anders als Grotius nimmt er nämlich das Destruktionspotential im Argument des antiken Skeptikers Karneades ernst, der behauptet hatte, »daß es Gerechtigkeit entweder nicht gebe oder daß sie die größte Dummheit sei, weil sich selbst nur schade, wer sich um die Vorteile anderer sorge«. Wenn es demnach zum Begriff der Gerechtigkeit gehörte, »sich um die Vorteile anderer auf eigenen Nachteil hin zu sorgen«, ohne daß es übergeordnete Aspekte eigennütziger Klugheit gäbe, wäre es um die Befolgung von Gerechtigkeitsnor-

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men schlecht bestellt (Elemente des Naturrechts 1, s. u. 91). Deshalb liegt es dem erfahrenen Juristen Leibniz, der die Menschen nicht gerade von ihrer idealistischen Seite kennengelernt hat, sehr am Herzen, überall die Vorteile gerechten Handelns zu bilanzen und es insgesamt zur Prämisse seiner praktischen Philosophie zu machen, »daß es keine Gerechtigkeit ohne Klugheit geben kann« und dabei »die Klugheit auch nicht vom eigenen Wohl abgetrennt werden kann«. Der letzte Grund aber, weshalb sich Leibniz so stark auf die prudentiale Dimension aller Handlungsantriebe fixiert, ist seine Überzeugung von der letztlichen Unübersteigbarkeit der Selbstliebe. Diese anthropologische Prämisse, auf der seine ganze Naturrechts- und Morallehre beruht, hat Leibniz auf die folgende starke Formulierung gebracht : »Es gibt niemanden, der irgend etwas absichtlich aus einem anderen Grunde täte als um seines Wohles willen«. Von dieser Unmöglichkeit des postlapsarischen Menschen, den Zirkel seiner Selbstliebe zu durchbrechen, nimmt Leibniz nicht einmal die Liebesfähigkeit der Menschen aus. »Denn auch das Wohl derer, die wir lieben, wünschen wir um unserer Freude willen, die wir aus ihrem Glück gewinnen« (Elemente des Naturrechts 4, s. u. 225). Auch die edelsten Formen uneigennütziger Liebe, die nicht auf Wiedererstattung schielen, sind doch strenggenommen niemals selbstlos, weil sie niemals das Verstricktsein in Lust-Unlust-Gefühle überwinden können. Auch wenn der Liebende bewußt nur das Wohl des anderen vor Augen hat, wird er doch heimlich motiviert durch die Freude oder Beglückung, die er am Glück anderer empfindet. Macht man sich diese Voraussetzungen klar, so wird deutlich, daß auch die edelste und anspruchsvollste Stufe moralischer Motivation, die Leibniz beim Menschen für möglich hält, nämlich das Handeln aus Beweggründen der Pietät, prinzipiell unterhalb der Anforderungen liegt, die z. B. Kant an die Moralität gestellt hat. Weil sein motivationaler Rigorismus für ein Handeln aus Pflicht eine wahrhaft autonome Willensbestimmung allein aus der Achtung vor dem Vernunftgesetz unter Ausschluß aller empirischen Triebfedern verlangt, hält zwar auch Kant ein Handeln rein ›aus

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Vernunft‹ für unwahrscheinlich.¹⁹⁹ Doch im Unterschied zu Leibniz, der nur ein Handeln ›mit Vernunft‹ einräumt, hält Kant eine absolute Transzendierung aller in Selbstliebe verwurzelten Neigungen immerhin für prinzipiell möglich. Weil Leibniz das ausschließt, kann er statt auf eine Überwindung lediglich auf eine Veredelung der Selbstliebe setzen, die graduell steigerbar und habitualisierbar ist. Aus alledem muß man die Schlußfolgerung ziehen, daß für Leibniz die rein intrinsische Motivation, die auf den Stufen der als Tugenden beschriebenen Moral im engeren Sinne vorliegt, nichts anderes heißen kann, als daß auch derjenige, der sich ohne bewußte Furcht vor Sanktionen und ohne bewußte Hoffnung auf Vorteile gerecht verhält, doch insgeheim durch andere, unbewußte Antriebe der Selbstliebe bewegt wird. Das hindert Leibniz nicht, die Normstufe der Pietät terminologisch gleichzusetzen mit der »moralischen Redlichkeit (probitas)«.²⁰⁰ Was nämlich die freiwillige Erfüllung der Ulpianschen Vorschrift »ehrenhaft zu leben (honeste vivere)« gewährleisten kann, ist zum einen die religiöse Erwartung einer den irdischen Lebenswandel ausgleichenden ¹⁹⁹ Man denke v. a. an die Bemerkung im zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten : Man kann nicht mit Sicherheit ausschließen, »daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee [der Pflicht] die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei«. […] »Ich will aus Menschenliebe einräumen, daß noch die meisten unserer Handlungen pflichtmäßig seien ; sieht man aber ihr Tichten und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf das liebe Selbst, was immer hervorsticht, worauf und nicht auf das strenge Gebot der Pflicht, welches mehrmals Selbstverleugnung erfordern würde, sich ihre Absicht stützt.« Dem kaltblütigen Beobachter könne deshalb »in gewissen Augenblicken zweifelhaft« werden, »ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde« (Akademie-Ausgabe, Bd. IV , 407). ²⁰⁰ Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus (GP III 387). Die Aufzeichnungen De judice controversiarum von 1677 nennen in einem Atemzug die »vera probitatis atque caritatis natura« (A VI 4, 2161, 5), und die Juris naturalis principia von 1678/79 klassifizieren die drei Naturrechtsstufen als »jus strictum, aequitas, probitas« (A VI 4, 2809, 15).

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göttlichen Gerechtigkeit, zum andern die Gesinnung allgemeiner Menschenliebe oder »Philanthropie«,²⁰¹ in welcher die Tugend sich selbst ihr Lohn ist, insofern sie auch bei fehlender Gegenseitigkeit Freude am Wohlergehen des anderen empfindet. Daß Leibniz diese beiden Motivationshorizonte gleichermaßen der Naturrechtsstufe der Pietät zuordnet, ist nicht unproblematisch, denn auf diese Weise vermengt er den »göttlichen Willen« als eigene Quelle zusätzlicher Gerechtigkeitsnormen, denen zufolge es z. B. nicht erlaubt ist, »wilde Tiere und Geschöpfe zu mißhandeln« und »mit sich selbst Mißbrauch zu treiben« (Neue Methode, § 75), mit dem Prinzip vernünftig zu ordnender Menschenliebe, das nicht notwendig religiös orientiert sein muß. Allerdings wird diese Vermischung durch zwei Umstände wieder etwas gemildert. Erstens klammert Leibniz nämlich das »positive göttliche Gesetz« der Offenbarung ausdrücklich ganz aus der Pietät aus und rechnet ihr nur Gottes »natürlichen Willen« zu. Denn die höchste Stufe des von Natur oder aus Vernunft Gerechten muß ja einen Inbegriff überpositiver Normen umschließen. Zwei Sätze später erläutert Leibniz außerdem, daß der »natürliche Wille« Gottes mit der »Schönheit und Harmonie der Welt« zusammenfällt, so daß dieser Wille derjenige ist, der mit der Natur Gottes und somit seiner Vernunft übereinstimmt (ebd.). Deshalb ist es ein völliges Mißverständnis, diese Stelle als Beleg für einen frühen theologischen Voluntarismus bei Leibniz zu werten, den er erst ab 1670 überwunden habe.²⁰² Weit entfernt von jeder theonomen ²⁰¹ »Ein guter Mensch aber ist, wer alle liebt, soviel es die Vernunft zuläßt. Folglich werden wir, wenn ich nicht irre, die Gerechtigkeit, die die Tugend ist, Herrscherin über dieses Gefühl zu sein, und die die Griechen Philanthropie [öéëáíèñùðßá] nennen, am angemessensten als die Liebe des Weisen [caritas sapientis] definieren, d. h. als diejenige, die den Vorschriften der Weisheit folgt« (Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus, GP III 386). ²⁰² So schon Erwin Ruck : Die Leibniz’sche Staatsidee aus den Quellen dargestellt (jurist. Habilitationsschrift), Tübingen 1909, 21– 24. Breitenwirksam geworden ist dieses Vorurteil später durch Welzel : Naturrecht und

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Naturrechtslehre und Moral nimmt vielmehr schon der früheste Leibniz an, daß das natürliche »Recht« ein »höchster Grund« bzw. eine »höchste Vernunft« ist, »in Gott existierend« und durch die Teilhabe des Geschöpfs am Schöpfer auch dieses normierend.²⁰³ Zweitens wird die Zusammenlegung von jenseitsreligiöser und philanthropischer Moralmotivation auf die Stufe der Pietät auch dadurch gelindert, daß Leibniz die religiöse Liebe zu Gott unter juridisch-moralischem Aspekt an der Menschenliebe mißt. Seine frühe Behauptung, daß die »Pietät, d. h. die Liebe zu Gott«, »in der Caritas besteht« bzw. sich »in der Caritas ausdrückt«,²⁰⁴ be.

materiale Gerechtigkeit. Welzel nahm aufgrund gewisser hobbesnaher Formulierungen bei Leibniz an, daß dieser 1667 noch »reinstes Hobbessches Gedankengut« im Sinne des Voluntarismus vertreten habe, daß aber später mit der »Fortbildung seiner Substanzmetaphysik« ein »radikaler Umschwung in seinen naturrechtlichen Ansichten« eingetreten sei, so daß die »Polemik« des reifen Leibniz gegen die »fiktiven« Gegner Cocceji und Pufendorf »in Wahrheit« nur die Unduldsamkeit gegen »seine eigenen früheren Ansichten« verrate (147). Die These vom folgenreichen Standpunktwechsel beruht jedoch auf einer unzulänglichen Kenntnis von Leibniz’ frühesten Schriften. Klipp und klar heißt es bereits im Specimen von 1664, daß Gott die Welt zwar aufgrund seines Willens auch anders hätte schaffen können, daß dies aber gerade nicht geschehen ist »wegen der Weisheit des Schöpfers, der das Beste auswählte [ob sapientiam Conditoris, qui optimum eligit]« (A VI 1, 86, 28– 30). Schon Larenz : Sittlichkeit und Recht, 235 f., hat gegen die Legenden vom Standpunktwechsel richtiggestellt, daß der höchste Wille in der Nova methodus nicht die schrankenlose Willkür der Allmacht Gottes ist, sondern der »ihm wesensgemäße Wille«, der will, »was an sich gut und gerecht ist«. Entkräftet worden ist das Märchen vom »voluntarismo leibniziano del primo periodo« auch von Tullio Ascarelli : Hobbes e Leibniz e la dogmatica giuridica, in : T. Ascarelli, M. Gianotta (Hg.) : Testi per la storia del pensiero giuridico, Milano 1960, 3 – 69, hier 50 f. ; ferner von Schneider : Justitia universalis, 24 u. 354 f. sowie von Schiedermair : Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts, 60 – 65. ²⁰³ »Cùm igitur jus sit ratio quaedam summa in Deo existens, ejus quadam participatione jus brutis accenseri« (Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum, A VI 1, 83, 32). ²⁰⁴ In der Dissertatio de arte combinatoria von 1666 hieß es : »Pietas, id est amor DEI, quae in Charitate« (A VI 1, 194, 2).

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ruht auf der Prämisse seines praktizistischen Christentums, daß sich alle Gottesliebe in tätiger Menschenliebe bezeugen muß. Ist nämlich Gott als »Geist des Weltalls« selbst die »Harmonie der Dinge«, d. h. das Prinzip der Schönheit in ihnen«,²⁰⁵ so besteht der Dienst an Gott zugleich in der Liebe zu allen seinen Geschöpfen. Deshalb kann man sagen, »daß Caritas, daß Amor Dei super omnia […] nichts anders sey als amare bonum publicum«,²⁰⁶ so »daß es dasselbe ist, alle zu lieben und Gott, den Sitz der Universalharmonie, zu lieben«.²⁰⁷ Durch ihre Ausrichtung auf alle Geschöpfe überhaupt erweitert die Pietät zugleich auch den Umfangsbereich, der auf den beiden Stufen der partikularen Gerechtigkeit zu regulieren war. Betraf das strenge Recht das Privatwohl aller innerhalb eines irdischen Staates, die Billigkeit aber sein Gemeinwohl, so paßt es nun zur universalen Gerechtigkeit der Pietät, daß sie über diese begrenzten Sphären hinaus das allumfassende oder universale Wohl der ganzen Schöpfung berücksichtigen muß. Dieses kommt jedoch aufgrund der jederzeit nur abstrakten und somit beschränkten Übersicht des menschlichen Verstandes immer nur als das »größte allgemeine Wohl (maximum bonum generale)« in den Blick,²⁰⁸ ja strenggenommen sogar nur als das vergleichsweise je »größere allgemeine Wohl (majus bonum generale)«.²⁰⁹ Eine weitere Berechtigung dafür, daß Leibniz die religiöse Erwartung von Gottes ausgleichender Gerechtigkeit und das moralische Gewissen um.

²⁰⁵ »DEUS seu Mens Universi nihil aliud est quàm rer. harmonia, seu principium pulchritudinis in ipsis« (Demonstrationum catholicarum conspectus, 1668– 69, A VI 1, 499, 10 f.). ²⁰⁶ Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät, 1671 (A IV 1, 532, 12 –14). ²⁰⁷ »idem esse amare omnes et amare Deum, sedem harmoniae vniversalis« (an Arnauld, November 1671, A II 1, 174, 8). ²⁰⁸ Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2850, 23 ; 2851, 20 – 2852, 1 ; 2852, 20). ²⁰⁹ Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum (A VI 4, 2863, 18 ; 2864, 16).

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standslos einer einzigen Gerechtigkeitsstufe zuschreibt, ist jedoch seine Überzeugung, daß beim Weisen die religiöse Verpflichtung gegenüber Gott und die Moralität zwar eine Einheit bilden, nicht aber so, daß er auf mögliche Belohnungen Gottes schielt, um sich durch gerechtes Handeln gleichsam im Himmel einzukaufen. Diese sekundäre Stützmotivation durch Gottes Strafe und Belohnung braucht nur, wessen Klugheit noch nicht zur Weisheit durchgedrungen ist. Demnach ist »bei den Weisen Religion und Ehrbarkeit, d. h. Liebe zur Tugend, dasselbe«. Die Weisen »dürfen nicht durch Belohnungen und Bestrafungen bewegt werden, genießen jedoch das Glück wie ein notwendiges Folgestück der Tugend ; die Tugend des Weisen ist sogar, weil sie die größte Lust des Geistes hervorbringt, sich selbst ihr Lohn. Wenn jemand aber nicht zur wahren Weisheit gelangt, so fügt die Religion bei ihm noch etwas an Ehrbarkeit hinzu«.²¹⁰ Entsprechend dieser mehr oder weniger veredelten Einheit von Religion und Moralität laufen in Leibniz’ Begriff der »Pietät« der antike Wortsinn ehrfürchtiger Weltverbundenheit, die christliche Wortbedeutung pflichtbewußter Frömmigkeit und das kosmopolitische Ethos allgemeiner Menschenliebe zusammen. Was es rechtfertigt, alle diese unterscheidbaren Verpflichtungsdimensionen unter die Rechtsvorschrift »honeste vivere« zu subsumieren, ist die Tatsache, daß sie allesamt die bisherigen objektivierbaren Pflichten des strengen Rechts und der Billigkeit übersteigen durch ein Moment moralischer Innerlichkeit, Subjektivität oder Gewissentlichkeit. Zwar lassen sich auch für die Pietät spezifische Normen objektivieren, die gemessen an den Proportionen des strengen Rechts und der Billigkeit supererogatorisch sind, z. B. die Not von Hunderten abzuwenden auf die Gefahr eigener ²¹⁰ »Caeterum apud sapientes religio et honestas seu virtutis amor idem est. […] Itaque licet non praemiis poenisque moveantur, felicitate tamen velut necessario virtutis corollario fruuntur, imo virtus sapientis cum summam animi voluptatem pariat, ipsa praemium sibi est. Si quis vero ad veram sapientiam non pervenit, apud eum religio aliquid honestati superaddit« (De legum rationibus inquirendis, A VI 4, 2779, 16 – 2780, 2).

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Not hin. Es gehört jedoch zum Charakteristikum der dritten Naturrechtsstufe, daß sie von vornherein als eine Geisteshaltung verstanden wird, in der solche abstrakten Normen konkret vermittelt werden, und zwar im Gewissen des einzelnen. Als Paradebeispiel gilt Leibniz der Konfliktfall, in dem von mehreren Schiffbrüchigen nur einer gerettet werden kann. Das strenge Recht verpflichtet mich nur zur Rettung überhaupt, die Billigkeit zur Rettung dessen, der den größten Anspruch auf die Rettung hat. Konkurrieren aber z. B. mein Vater, mein engster Freund und das Staatsoberhaupt ihrerseits um die Rettung, so tritt das Recht der Pietät in Kraft, nach Gründen des moralischen und religiösen Gewissens auswählen zu dürfen (Elemente des Naturrechts 2, s. u. 137). Weil Leibniz nun das Gewissen mit einer traditionellen Metapher als »inneren Gerichtshof (forum internum)« dem »äußeren Gerichtshof« bürgerlicher Rechtspflege entgegensetzt²¹¹ und diesem inneren »Gewissensforum (forum conscientiae)«²¹² nicht nur Verpflichtungen, sondern auch Erlaubnisse zubilligt, leuchtet schließlich ein, weshalb er die Sphäre der Pietät insgesamt als »inneres Recht (jus internum)« bezeichnet. Es ist das Recht des Individuums auf ein Handeln nach seinem moralischen und religiösen, d. h. gegenüber Gott verpflichteten Gewissen. Sind wir zum strengen Privatrecht »durch die einzelnen verpflichtet«, zum billigen öffentlichen Recht aber durch die »Gesellschaft«, so sind wir zum »inneren Recht« der Pietät »durch Gott gehalten«.²¹³ Dieses höchste Recht betrifft »die Tugend im ganzen und die natürliche Verpflichtung gegenüber Gott, auf daß wir für das ewige Heil Rechnung tragen«.²¹⁴ Inhaltlich hat das »Pietätsrecht« die alle Billigkeit noch übersteigende Aufgabe, ²¹¹ De casibus perplexis in jure, 1666 (A VI 1, 239, 13 –15). ²¹² Elementa juris civilis, 1670 – 72 (A VI 2, 82, 18 f.). ²¹³ »Jus item internum quo Deo tenemur, publicum quo societati, privatum, quo singulis obstricti sumus, contineatur« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2853, 11 f.). ²¹⁴ »Jus internum [agit] de virtute universa et obligatione naturali erga Deum, ut felicitati perpetuae consulamus« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2871, 22 f.).

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»alle unsere Handlungen der Ehrbarkeit gemäß zu ordnen, auch wenn sie sich nicht auf die Gemeinschaft zu erstrecken scheinen ; denn gewiß stehen wir mit Gott in der innigsten Gemeinschaft, und gegen ihn sündigen wir, was immer wir übles tun«.²¹⁵ Diese innige Gemeinschaft der Menschen mit Gott im Gewissen identifiziert Leibniz mit dem augustinischen Gottesstaat, der nichts mit einer irdisch-politischen Theokratie zu tun hat, sondern die »moralische Welt innerhalb der natürlichen Welt« bezeichnet, in der Gott nicht nur der »Baumeister der Weltmaschine« ist, sondern zugleich der »Monarch des göttlichen Staates der Geister«.²¹⁶ Innerhalb dieser moralischen Weltordnung garantiert es die höhere Gerechtigkeit Gottes, daß »für die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen festgesetzt« sind, so daß die auf Erden oft ausbleibende Proportionalität von Glück und moralischer Güte notfalls im anderen Leben wiederhergestellt wird und auf diese Weise letztlich »alles Ehrenvolle nützlich und alles Schändliche schädlich ist«. Nur in diesem Sinne des göttlichen Ausgleichs, auf dessen Rationalität hin der Gläubige sich mehr einzusetzen bereit ist als der Ungläubige, ist Leibniz’ Behauptung zu verstehen, daß Gott »der letzte Grund des Naturrechts« ist (Neue Methode, § 75).²¹⁷ Und nur dieses Argument von Gott als dem Garanten des höchsten Gutes (Kant) ist auch der Grund, weshalb sich Leibniz entschieden gegen Grotius’ hypothetische Abtrennung des Naturrechts von der Theologie wendet. Eine umfassende Gerechtigkeit könnte es nicht geben, »wenn kein Gott wäre« (Elemente des Naturrechts 1, s. u. 91). Und weil schließlich in diesem Sinne der moralischen Weltregierung Gottes das »Prinzip« der höchsten Natur.

²¹⁵ »Jus internum seu jus pietatis cujusque est omnes nostras actiones secundum honestatem componere, etiam cum non videntur pertinere ad societatem, quia certe cum Deo nobis societas intima est, in quem peccamus, quicquid male agimus« (Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2867, 22 – 25 ; vgl. 2870, 11–19). ²¹⁶ Monadologie 84 – 87 (GP VI 621 f. ) ²¹⁷ So auch Larenz : Sittlichkeit und Recht, 238, und Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 152.

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rechtsstufe »der Wille eines Höheren« ist, der im Unterschied zum irdischen Souverän (als dem Höheren »durch Vertrag«) der Höhere »von Natur aus« ist, gilt allein auf dieser Stufe die sonst überall zynische These des Thrasymachos, daß »gerecht ist, was dem Mächtigeren nützlich ist« (Neue Methode, § 75). Eine abschließende Verdeutlichung der Subsidiarhierarchie zwischen den drei Stufen des Naturrechts läßt sich gewinnen, wenn man sich die möglichen Konfliktfälle zwischen ihren Normen und Zwecken klarmacht. Zunächst begnügt sich Leibniz bei diesem heiklen Thema lediglich mit formalen Beschreibungen : »Im Streitfall hebt« die höhere Stufe »die untere teilweise auf« (Neue Methode, § 73). So »befiehlt es« zwar »die Billigkeit selbst, das strenge Recht zu beachten« (ebd. § 74), aber – wie Leibniz Jahrzehnte später einschränkt – nur dann, »wenn nichts im Wege steht«.²¹⁸ Auch gibt er später immerhin folgende Erläuterung : »Allerdings empfiehlt uns bei den Geschäften die Billigkeit selbst das strenge Recht, d. h. die Gleichheit der Menschen, wenn nicht eine wichtige Rücksicht auf ein größeres Gut vom strengen Recht abzuweichen befiehlt«. Eine falsche Berufung auf ein solches größeres Gut wäre es selbstverständlich, wenn ich z. B. einer Person ihren zu kleinen Mantel raubte und ihr dafür meinen größeren gäbe, und zwar mit der Begründung, daß auf diese Weise ja beide Personen den zu ihrer Körpergröße passenden Mantel erhielten.²¹⁹ Natürlich sieht Leibniz, daß durch derartige Berufungen auf vorgeblich höhere Güter jegliche Eigentumsordnung, wie auch immer sie historisch gestaltet sein mag, schnell ausgehebelt wäre, obendrein von Leuten, die ²¹⁸ Für eine verbesserte Auflage der Nova Methodus ergänzt Leibniz »si nil obstet« (A VI 1, 344, 26). ²¹⁹ »Namque ipsa aequitas nobis in negotiis jus strictum, id est hominum aequalitatem commendat, nisi cum gravis ratio boni majoris ab ea recedi jubet.« (Vorrede zum Codex Juris Gentium diplomaticus, GP III 388). Leibniz schickt diesem Argument das soeben gegebene Beispiel voraus, hier allerdings bezogen auf einen Rock. Es stammt aus Xenophons Kyropädie, I 3, 17. Zur Deutung vgl. Reinhard Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart – Bad Cannstatt 1974, 9 –21.

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ihre eigennützigen Interessen mit dem Naturrecht bedeckmäntelten. Angesichts der Tragweite dieses Problems stellen sich zwei Fragen. Wann und wem ist eine Verletzung basaler Naturrechtsnormen zugunsten von höheren erlaubt ? Kann es auch legitime Verletzungen der Billigkeit bzw. des strengen Rechts um der Pietät willen geben ? Als mögliches Subjekt einer Verletzung des strengen Rechts um der Billigkeit willen kommen zum einen der Gesetzgeber, zum anderen der Bürger in Betracht. Der Gesetzgeber jedoch kann die strengen Naturrechte der Bürger auf Freiheit und Eigentum aus Gründen der Billigkeit durchaus einschränken, ohne damit bereits Naturrechtsnormen aufzuheben, solange er dadurch nicht Leib und Leben von Personen(gruppen) verletzt. Deshalb kommt für einen Konflikt der ersten Stufe vorwiegend der Bürger in Betracht. Hier aber gibt Leibniz nicht nur ein Beispiel, sondern deutet auch Kriterien an, wann und von welcher Art eine Verletzung stattfinden darf. »Es ist nicht erlaubt, das strenge Recht um der Billigkeit willen zu verletzen, es sei denn mit der sicheren Erwartung auf Sieg und Behauptung. So hat z. B. ein bettelarmer Mensch nicht das Recht, über einen habgierigen Reichen herzufallen und ihn auszuplündern ; auch haben Bauern nicht das Recht, die Reichen zu berauben. Wenn es aber hunderttausend weise Bauern geben könnte, so bestünde kein Zweifel, daß sie sich zu Recht aus einer allgemeinen Notlage befreiten, wenn sie nur sicher wären, daß nicht ein noch größeres Unglück daraus folgen würde, wie es von der Zügellosigkeit und Verwirrung dieser Leute zu erwarten ist.« (Elemente des Naturrechts 3, s. u. 207) Die Stelle legt nahe, daß es um eine Verletzung nicht strenger Naturrechte als solcher geht, sondern ihrer in einem System des Privatrechts positivierten Gestalt. Legitimiert wird folglich nicht die Freiheitsberaubung, Lebensbedrohung oder gar Tötung von Reichen durch Notleidende, sondern allein Diebstahl aus Hungersnot. Zu den Bedingungen, die einen solchen Diebstahl naturrechtlich legitimieren, gehört erstens die Anzahl der im Elend sich befindenden Personen. Besteht nämlich Billigkeit in der Verhältnismäßigkeit konkurrieren-

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der Anspruchsgründe, so wäre die Erduldung einer Misere von Hunderttausenden bei gleichzeitigem Reichtum von wenigen eine unbillige Forderung. Folglich ist die Aufhebung des Elends von so vielen jenes »größere Gut«, das die Verletzung rechtfertigt. (Wo allerdings die quantitative Grenze liegt, etwa auch schon bei tausend Notleidenden, bestimmt Leibniz hier nicht näher.) Als zweites Legitimitätskriterium für eine Verletzung des strengen Rechts nennt Leibniz die sichere Einschätzung, daß der durch die Verletzung gewonnene Zweck, kollektives Elend aufzuheben, obsiegen wird, statt daß umgekehrt durch die Verletzung nur noch größeres Unheil entsteht. Wie jedoch der martialische Irrealis bei den »weisen Bauern« zeigt, hält Leibniz diese Bedingung bei von Hunger aufgewühlten Massen eher für unwahrscheinlich. Obwohl diese kurze Textstelle viele Fragen aufwirft, liefert sie keinen Grund, Leibniz hier eine leichtfertige Neigung zu ›moralisch‹ motivierten Rechtsbrüchen zu bescheinigen, erst recht nicht, wenn man bedenkt, wie hoch seine erkenntnistheoretischen Ansprüche an den Gewißheitsgrad der »sicheren Erwartung« sind.²²⁰ Kann und darf nach alledem auch die Pietät das strenge Recht oder sogar die Billigkeit in Ausnahmefällen verletzen ? Obwohl Leibniz selbst hierfür kein Beispiel und erst recht keine Kriterien nennt, läßt sich doch erschließen, daß auch hier die Verletzung der unteren Naturrechtsstufe erstens nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie um eines »größeren Gutes« willen erfolgt. Und zwar muß sich dieses größere Gut als ein Gebot Gottes erkennen und legitimieren lassen. Indessen ist es gar nicht leicht, überhaupt ein Beispiel für eine mögliche legitime Verletzung von Billigkeitsproportionen um bestimmter Pietätspflichten willen zu finden, weil diese Pflichten von höherem Rang sein müßten als das Gemeinwohl innerhalb eines Staates. Wie jedoch die Formel vom »Vorteil des Menschengeschlechts« nahelegt (Neue Methode, § 75), ließe sich hier etwa an Notwendigkeiten für das Wohl der internationalen Staatenge²²⁰ Zu diesem Problem im Kontext des Widerstandsrechts vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 349 – 355.

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meinschaft bzw. an gewisse Gebote zur Bewahrung der Lebensgrundlagen für künftige Generationen denken, die dem gegenwärtigen Gemeinwohl übergeordnet sind. Auch hier dürfte es jedoch ein notwendiges zweites Legitimitätskriterium sein, daß eine »sichere Erwartung auf Sieg und Behauptung« bei der Realisierung der höherrangigen Ziele gegeben ist. Für diese Erkenntnisgewißheit muß man die Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Realisierung der höheren Güter gewissenhaft einschätzen. Denn »etwas kann höchst wahrscheinlich sein und dennoch nicht sonderlich fruchtbar, wenn es glückt, aber sehr schädlich, wenn es fehlschlägt. Dies wird gewiß kein einsichtiger Mensch in Kauf nehmen. Umgekehrt kann etwas sehr fruchtbar sein, wenn es glückt, aber nicht sonderlich schädlich, wenn es fehlschlägt. In diesem Falle wird es gewiß keine Unbesonnenheit geben, die auf Waghalsigkeit hinausläuft. […] Gesetzt den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit von Handlung A gleich 5 ist und ihre Fruchtbarkeit gleich 4, so wird das Produkt 20 betragen. Wenn nun die Wahrscheinlichkeit von Handlung B gleich 6 ist und ihre Fruchtbarkeit gleich 3, wird das Produkt lediglich 18 betragen. Folglich wird eher die Handlung A zu verfolgen sein als die Handlung B, auch wenn sie weniger wahrscheinlich ist. Daher wird ein guter Mensch schon die geringste Gefahr der Verfehlung vermeiden, auch wenn ihm der größte Gewinn in Aussicht stünde« (Elemente des Naturrechts 5, s. u. 267). Sofern aber die Durchsetzung höherer Ziele der Pietät sogar mit einem Widerstand gegen die Staatsgewalt verbunden sein müßte, muß man erst recht vorsichtig sein gegenüber möglichen Ansprüchen von seiten eines theokratischen Fundamentalismus. »Wenn […] Gott bzw. die Vernunft, d. h. das im ganzen genommen größere Gut, so viel Tod und Folterqualen befiehlt, wie ertragen werden können, […] so wird man es bereits für gewiß halten dürfen, daß dies gerecht sei. Im Staat geschieht diese Vorvermutung zugunsten des Oberhauptes. Das heißt, daß ihm in allem zu gehorchen ist, wenn nicht unser Glück beeinträchtigt zu werden oder Unglück zu drohen scheint. Für diejenigen aber, die Gott anerkennen, ist die Welt ein einziger Staat, dem alle anderen Staaten unterworfen

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sind. Somit ist es nur dann erlaubt, sich dem Staat zu widersetzen, wenn mit Gewißheit feststeht, daß davon ein insgesamt größeres Gut abhängt, d. h. daß Gott es für gut befindet. Weil dies höchst selten feststeht, ist es gewiß, daß man sich dem Staat höchst selten widersetzen darf« (Elemente des Naturrechts 2, 157). Diese doppelte Sorgfaltspflicht bei der Einschätzung von Zielen der Pietät zeigt, daß sich eine Normenverletzung auch auf dieser Naturrechtsstufe mit Leibniz keineswegs leichtfertig rechtfertigen läßt.

Zur Textgruppe III : Inhalte und Zusammenhang der Entwürfe zu den »Elementen des Naturrechts« Leibniz hat wohl niemals das Projekt seiner frühen Mainzer Jahre aufgegeben, die »Elemente des Naturrechts« auszuarbeiten. Er kam aber nicht dazu, sie fertigzustellen. Ein Plan aus der Zeit um 1680 läßt erkennen, daß auch die späteren Entwürfe der »Elementa juris naturalis« auf der Architektonik der drei Naturrechtsstufen beruhen sollten. Vorausgeschickt werden sollte ein allgemeiner Teil, der die Prinzipien (Definitionen und Lehrsätze) der Gerechtigkeit überhaupt aufstellt, die sich aus der Idee der Liebe des weisen bzw. guten Menschen ergeben : »Als erstes wären die allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit darzulegen, die von der Liebe des Weisen handeln ; zweitens das Privatrecht oder die Vorschriften der kommutativen Gerechtigkeit, die von dem handeln, was eingehalten wird zwischen den Menschen, sofern sie als gleich erachtet werden ; drittens das öffentliche Recht, das von der Aufteilung der gemeinsamen Güter und Übel auf die als ungleich erachteten Menschen im Hinblick auf das größere gemeinsame Wohl in diesem Leben handelt ; und viertens das innere Recht, das von der Tugend im ganzen und von der natürlichen Verpflichtung gegenüber Gott handelt, auf daß wir für das ewige Heil Rechnung tragen«.²²¹ ²²¹ Tentamina quaedam ad novum codicem legum condendum, A VI 4, 2871, 18– 23.

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Diese Aufteilung der Elemente des Naturrechts in einen abstrakt definitorischen Teil und in die Prinzipien der drei speziellen Rechts- und Verpflichtungssphären, die den drei Naturrechtsstufen entsprechen, läßt sich zumindest im Ansatz auch schon in den Entwürfen der Mainzer Zeit finden. Wie Leibniz im Brief an Ferrand mitteilt, sollte der reine Teil die »Beweise« aus den »Definitionen« des »guten Menschen« liefern, »der alle liebt«. Im anschließenden, anwendungsbezogenen Teil sollten darüber hinaus »Rechtsregeln« abgeleitet werden, die es ermöglichen, für die unterschiedlichsten Bereiche des strengen Rechts die tatsächlich gegebenen Fälle zu lösen (s. u. 375). Über die Einordnung der Elemente in den Gesamtplan der Mainzer Rechtsreform wurde im biographischen Teil (s. o. XXXVII f.) berichtet. Obwohl das Naturrecht einen Hauptschwerpunkt im Schaffen des frühen Leibniz bildet, ist Leibniz »in Mainz nicht über erste Ansätze hinausgelangt«. Zum einen verschlang die Arbeit am verbesserten Rechtskorpus selbst sehr viel Zeit und Kraft, zum anderen waren Leibniz’ konzeptionelle »Schwierigkeiten« bei der konkreten Systematisierung des Naturrechts wohl »doch größer, als er sie sich zunächst wohl gedacht haben mag«. Und so hat Leibniz in Mainz keine zusammenhängende Schrift, sondern nur einzelne Entwürfe zum Naturrecht verfassen können. Von diesen Entwürfen, in denen er sich »allmählich gewissermaßen vorgetastet hat zu den letzten naturrechtlichen Prinzipien«, ist »noch eine Reihe von Schriftstücken größeren und kleineren Umfangs« erhalten geblieben, die in Leibniz’ Nachlaß »zerstreut« und »und zum Teil nicht mehr vollständig erhalten« sind.²²² Die in der Akademie-Ausgabe vorgenommene Aufteilung der Stücke auf sechs Texte wurde auch in der hier vorliegenden Ausgabe übernommen. Weil die Reihenfolge dieser Entwürfe der mutmaßlichen Zeitfolge ihrer Entstehung entspricht, wurde auch die Numerierung von 1 bis 6 übernommen. Zusätzlich wurden die Texte mit sachbezogenen Überschriften versehen, die dem Leser eine inhaltliche Orientierung ermöglichen. Zwischen²²² So die Beurteilung in A VI 1, XIX .

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überschriften untergliedern die umfangreicheren Stücke nochmals. Im folgenden genügt eine summarische Übersicht über die Inhalte und den Zusammenhang dieser Texte. Nähere Erläuterungen zu den einzelnen Stücken geben die Anmerkungen. Alle sechs Stücke sind mehr oder weniger direkte Entwürfe zu den geplanten »Elementen des Naturrechts«. Sie bilden nicht etwa ein Werk oder eine Schrift.²²³ Bei den Texten 1 bis 3 handelt es sich um bloße Vorarbeiten, in denen Leibniz sich Rechenschaft über Ziele, Prinzipien und Gliederung des Naturrechts ablegt. Die stark ausformulierten Texte 4 bis 6 hingegen dürfen als zumindest teilweise fertige Bestandstücke für die geplante Schrift selbst gelten. Text 1 besteht aus einer lockeren Folge von Grundgedanken, die Leibniz bei seiner erneuten kritischen Lektüre von Grotius festhält. Die nicht zur Veröffentlichung gedachten Aufzeichnungen machen den Eindruck, als wollte sich Leibniz hier Klarheit darüber verschaffen, was ihn prinzipiell von Grotius unterscheidet. Ihnen wurde hier die Überschrift »Gerechtigkeit mit und ohne Gott« gegeben, weil sie hauptsächlich um Leibniz’ mit Hobbes geteilte anthropologische Prämisse kreisen, daß sich alles bewußte Handeln aus Motiven der Selbstliebe speist. Deshalb hätte Karneades tatsächlich Recht mit seiner Behauptung, daß Gerechtigkeit die höchste Dummheit sei, wenn es nicht auch für den gerecht Handelnden klare Vorteile gäbe. Zu diesen gehören auch jene nach Gottes ausgleichender Gerechtigkeit erfolgenden Belohnungen in einem anderen Leben, die Leibniz durch seine dritte Stufe des ²²³ Deshalb ist schon der Titel von Guillén Veras spanischer Ausgabe mißverständlich, der Los elementos del Derecho natural präsentieren will. Obendrein falsch ist seine Behauptung, »der Autor selbst«, d. h. Leibniz, habe die sechs Teile in drei Abschnitte »gruppiert«, indem er dem ersten Stück den Titel »Aufzeichnungen« gegeben habe, dem zweiten und dritten den Titel »Untersuchungen« und den Stücken 4 bis 6 den Titel »Elemente des Naturrechts« (XVI ). Vielmehr stammen die Titel von den Herausgebern der Akademie-Ausgabe. An dieser Stelle sollte übrigens auch nicht verschwiegen werden, daß Guillén Veras Übersetzung aufgrund ihrer Verständnisferne in weiten Teilen unverständlich ist.

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Naturrechts berücksichtigt. Weil man die Gerechtigkeit soweit wie möglich von der Klugheit her verstehen muß, darf man das Naturrecht nicht einmal hypothetisch, wie Grotius das andeutet, abtrennen von Gott als dem Garanten der letzten, umfassenden Gerechtigkeit. Text 2 setzt sich seinerseits aus vier Handschriften zusammen, die sich allesamt als »Untersuchungen zum strengen Recht, zur Billigkeit und zur Pietät« erweisen. Sie sind außerordentlich wertvoll für die materialen Aspekte und inhaltlichen Normen des Naturrechts. Im ersten Teilstück stellt Leibniz zunächst eine Tabelle mit exemplarischen Proportionen zwischen Eigenwohl und fremdem Wohl auf, die von Natur aus als gerecht gelten dürfen, und ergänzt sie durch Proportionen von Hilfeleistungen, die als billig gelten dürfen. Beide Arten von Proportionen, die er auch in der Tiefenstruktur des römischen Rechts selbst beherzigt findet, dienen ihm gewissermaßen als Axiome, aus denen er im folgenden einige strenge Rechte und einige Normen der Billigkeit ableitet. Hierfür spielt Leibniz, der Ordnung der drei abnehmenden Grade von Schuld (Vorsätzlichkeit, Fahrlässigkeit und Mißgeschick) folgend, nach der kombinatorischen Methode einige Fallreihen durch, die für das Naturrecht von exemplarischer Bedeutung sind. Bei den sehr umfangreichen und höchst interessanten Fällen von schuldlosem Mißgeschick untersucht er zunächst diejenigen, die den Schweregrad bloßen Schadens betreffen, dann auch diejenigen, die das Handeln bei Unglück oder Elend betreffen. Leibniz stellt hier überall die quaestio juris, gibt seine Antwort oder faßt die theoretischen Probleme zusammen, die sich für eine Beantwortung ergeben. Zugleich nutzt er die Spannbreite der untersuchten Rechtsfälle dazu, in immer neuen Zwischenbilanzen einen zureichenden Begriff der Gerechtigkeit zu finden, in dem alle bei den Fallbeispielen zu berücksichtigenden Merkmale als abstrakte Definientien integriert sind. Daß trotz dieser ständigen begrifflichen Anreicherungen alle Definitionen unzulänglich bleiben, zeigt nicht zuletzt das abschließende vierte Teilstück, in dem Leibniz eine erste Liste mit Definitionen zum Begriffsfeld der Gerechtigkeit auf-

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stellt, wie sie für die Euklidische Methode im Naturrecht unverzichtbar sind. Dazwischen liefern das zweite und dritte Teilstück recht heterogene Ergänzungen und Vertiefungen, deren thematischer Schwerpunkt um das Staatsrecht und noch mehr um das Eigentumsrecht kreist. Text 3 stellt einen weiter fortgeschrittenen Versuch dar, aufgrund der Problemschärfung durch die vorausgegangene Fallkombinatorik die Begriffe der Gerechtigkeit und der Billigkeit definitorisch gegeneinander abzugrenzen. Zunächst von einigen Überlegungen und Beispielsfällen unterbrochen münden die Begriffsbestimmungen in eine fortlaufende Kette von Definitionen, zu denen Leibniz auch wiederum die Definientien zu definieren sucht. Die späteren Texte 5 und 6 werden sie nochmals verbessern und erweitern. Text 4 ist gegenüber diesen Vorarbeiten »als die erste Fassung des Anfangs der Elementa juris naturalis selbst zu betrachten«.²²⁴ Daß Leibniz sein Kompendium des Naturrechts mit diesen Ausführungen beginnen wollte, legt schon der erhabene Stil der Einleitung nahe, die im Anklang an Francis Bacon die stürmischen Fortschritte der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik kontrastiert mit dem Stillstand in Politik und Ethik. Zwar ist die außermenschliche Natur sehr weit beherrscht, doch ist als letzter Feind des Menschen der Mensch selbst übrig geblieben, der den Regeln des Guten und Gerechten nicht zu folgen geneigt ist. Leibniz’ »Elemente des Gerechten und Billigen« sollen dazu beitragen, diese Trägheit nicht durch Appelle einer Selbstlosigkeits-Moral, sondern durch Klugheitsargumente zu überwinden. Sie grenzen zunächst die Rechtslehre als eine Wissenschaft von Vernunftwahrheiten gegen die Wissenschaft von Tatsachenwahrheiten ab und empfehlen für die Gewinnung gewisser Proportionen des Gerechten eine vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ausgehende, abstraktive Methode. Was den Text aber bahnbrechend macht, ist Leibniz’ Vorstoß zu einer Vorform seiner späteren berühmten Definition der universalen Gerechtigkeit : der »Liebe des Weisen (caritas sapien.

²²⁴ So die Beurteilung in A VI 2, 564, 15 f.

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tis)«.²²⁵ Leibniz entwickelt dieses neue Verständnis infolge eines umfangreichen Nachweises der Unzulänglichkeit aller positiven, d. h. von der Innerlichkeit des Geistes isolierten Definitionen des Gerechten und der Gerechtigkeit, welche die Naturrechtstradition bzw. er selbst in früheren Denkphasen vertreten hatten. Die um 1670 einsetzende Zentrierung des Leibnizschen Naturrechts im Begriff der Liebe hat den wenigen Kommentatoren große Verlegenheit bereitet.²²⁶ Nicht ohne Grund hat man das Aufblühen der Worte amor und caritas aus dem nüchternen Juristenherzen als Ausdruck eines Gesinnungswandels, ja einer Bekehrung gedeutet.²²⁷ Im Lobpreis der Liebe inmitten einer haßverblendeten Welt (Elemente des Naturrechts 6, s. u. 305) könnte zwar in der Tat ein Bekehrungserlebnis mitschwingen. Und doch besteht hier die Gefahr, einer perspektivischen Täuschung zu erliegen. Leibniz hatte nämlich schon sehr früh die Pietät mit der Nächstenliebe und der ²²⁵ Obwohl sich diese endgültige Formel erstmals im Brief an Herzog Johann Friedrich vom Mai 1677 findet (A I 2, 23, 17), ist doch das Urteil von Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 625 f., völlig zutreffend, daß sich später »der Sache nach durch diese neue Bezeichnung wenig geändert hat« gegenüber den Mainzer Elementa juris naturalis. Ähnlich Mulvaney : The early Development of Leibniz’s Concept of Justice, 60 : »At the beginning of the Mainz period Leibniz had no concept of justice which involved both charity and wisdom, whereas at the end of this period he was on the verge of defining justice in these terms«. Dagegen verzerrt Schneider : Justitia universalis, 380 – 386, etwas die terminologische und gedankliche Entwicklung, wenn er behauptet, Leibniz habe die »caritas« erst ab 1677 unter diversen Einflüssen als genuin christliches Prinzip der Gerechtigkeit entdeckt. ²²⁶ Daß »im Laufe des Jahres 1670 […] der Begriff der Liebe […] mehr und mehr in die Erörterung der Gerechtigkeit einbezogen wird«, ist der Befund, den es zu deuten gilt (Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 619). ²²⁷ So v. a. Mulvaney : The early Development of Leibniz’s Concept of Justice. Er spricht von einer »conversion« (67, 69), einem »radical change of heart« (55, 71 f.) aufgrund einer »discovery«, die sich als »earth-shaking« erweise (70).

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Liebe zu Gott identifiziert.²²⁸ Bislang hatte er jedoch sein Augenmerk ganz auf die Gewinnung und Anwendung jener normativen Proportionen gerichtet, die es nur auf den Naturrechtsstufen des strengen Rechts und der Billigkeit gibt. Deshalb entsprach es ganz der Fixierung auf die objektivierbaren Normen der zwei unteren Naturrechtsstufen, daß die moralische Innerlichkeit einer umfassenden Tugend, die über berechnend eigennützige Antriebe hinausgeht und das abstrakte Schema der Proportionen im individuellen Geist der Harmonie vermittelt, bislang ganz im Schatten von Leibniz’ systematischer Aufmerksamkeit blieb. Und so ist es nicht etwa ein biographischer Bruch, sondern nur eine Konsequenz aus der Architektonik der drei Naturrechtsstufen, wenn Leibniz nach seiner experimentellen Ermittlung und Anwendung der Gerechtigkeits- und Billigkeitsnormen jetzt über die bloß kluge justitia particularis hinausgeht zur spezifisch sittlichen justitia universalis der höchsten Stufe. Liebe bricht nicht etwa mit den Proportionen für erlaubtes Benachteiligen und gebotenes Helfen, sondern ist nur das höchste Motiv, die erzwingbaren Rechtspflichten und die begrenzt positivierbaren Billigkeitspflichten rein aus innerer Verpflichtung zu erfüllen oder gar zu übersteigen. Für Leibniz’ Integration aller gerechten Handlungsantriebe in die Stufen eines ordo amoris lassen sich vier Gründe unterscheiden : 1. die Vervollständigung des Spektrums möglicher Motivationen über die bewußt eigennützigen hinaus ; 2. die Einsicht in die Unzulänglichkeit aller kontextisolierten Definitionen des justum ; 3. die Entdeckung, daß sich in der Liebe die Selbstbezogenheit alles Handelns vereinbaren läßt mit der Selbstzweckhaftigkeit anderer Personen ; 4. die Erkenntnis, daß mit der Idee der klug oder gar weise auf alle verteilten Liebe die menschliche Gerechtigkeit von ihrer Ebenbildlichkeit zur göttlichen her ausgelegt werden kann. Der Mensch, der kleine Gott der Welt, repräsentiert ein eingeschränktes Wirk-, Wissens- und Willensquantum der göttlichen caritas sapientis. ²²⁸ So in De arte combinatoria : »Pietas, id est amor DEI, quae in Charitate« (A VI 1, 194, 2).

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Die historische wie systematische Synthese, in der Leibniz’ Suche nach einem zureichenden Definiens der Gerechtigkeit ihren Abschluß findet, beginnt 1669 mit einer durch die Florentiner Akademie inspirierten Definition der Liebe.²²⁹ Leibniz’ bisherige Fixierung auf die bewußt eigennützige Klugheit in der Gerechtigkeit, sein Bestreben, das Gerechte soweit wie möglich als eine kühle Geschäftssache zwischen guten Rechnern zu verstehen, sein Widerwille gegen den unaufrichtigen Hang der Menschen, sich in hehren moralischen Selbstbildern selbstgefällig schöne Flügel anzuheften, hatte ihm vielleicht Blick und Gefühl für jene bereichernde Erweiterung der Ichgrenzen verstellt, die in den Beziehungen der Freundschaft und Liebe stattfindet. Nun aber wird ihm deutlich, daß die Liebe als Fähigkeit, eigenes Glück im Glück anderer finden zu können, der wahrhafte Ausgleich des Wohles anderer mit dem eigenen Wohle ist. Wer liebt, gibt sich im Dienst für andere nicht preis, sondern gewinnt gleichsam durch die Beglückung und durch die Ausdehnung seines sozialen Selbst. Leibniz propagiert insofern keinen selbstlosen und utopisch überspannten Liebesbegriff, sondern versteht ihn minimalistisch als die Gesinnung des Wohlwollens gegenüber allen Menschen.²³⁰ Weil die allgemeine Menschenliebe jedoch ohne eine vernünftige Ausrichtung blind ist, muß sie nach einer rationalen Regel geordnet werden, wenn die Beliebigkeit der Willkür ausgeschlossen werden soll. Was die Menschenliebe zur höchsten Form von »Gerechtigkeit« macht, kann nur ihre angemessene Verteilung auf alle Menschen sein. »Für das Gerechte« im Sinne dieser universalen Normenerfüllung kann es ²²⁹ »Lieben heißt sich an den Gütern des anderen erfreuen. Wir haben gefunden, daß die zahllosen Betrachtungen von Platonikern über die Liebe und das Schöne, die von Philosophen (besonders italienischen), von geistreichen Männern im vorletzten und drittletzten Jahrhundert erneuert worden sind, letztlich alle hierauf zurückführen.« (Specimen demonstrationum politicarum pro elegendo rege polonorum, A IV 1, 34, 27– 29) ²³⁰ Die »virtus amandi seu amicitiae« (Elemente des Naturrechts 3, A VI 1, 455, 24 f.) fällt zusammen mit der »virtus volendi qvod justum est« oder »bene volendi« (Elemente des Naturrechts 2, A VI 1, 454, 8).

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jedoch »kein vorgegebenes Gesetz« geben, das angesichts der Komplexität zwischenmenschlicher Verhältnisse wie ein Algorithmus für die eindeutige Zuordnung von Norm und Einzelfall fungieren könnte (Elemente des Naturrechts 5, s. u. 273). Deshalb muß die Liebe nach der obersten Richtschnur des insgesamt größeren Gutes oder der größtmöglichen Harmonie reguliert werden. Die jeweilige Maximalharmonie im Konkreten zu erkennen, erfordert jedoch Weisheit, und diese verlangt wiederum eine Art Ökonomie in der Verteilung der Liebe, denn das Glück schlechthin aller Personen auf der Erde durch Taten und Worte direkt zu fördern würde jeden Menschen überfordern. Daraus folgert Leibniz, daß es ungeachtet der Liebenswürdigkeit eines jeden Menschen in der Praxis doch »Stufen für die Liebe« gibt, so daß im Konfliktfall diejenigen zu bevorzugen sind, deren größere ethische oder dianoetische Tugend ihrerseits Größeres für das Gemeinwohl zu leisten verspricht (Elemente des Naturrechts 6, s. u. 305 f.). In den Texten 5 und 6 zieht Leibniz nun systematische Konsequenzen aus der entdeckten Vereinigung fremden und eigenen Wohles in der Liebe. Erstmals findet er einen Ansatz, um seinen frühen Jugendtraum zu realisieren, »die Lehre vom Gerechten auf wissenschaftliche Art zu verfassen (doctrina de justo scientificè conscribi)«.²³¹ Während seine bisherigen Untersuchungen zum Naturrecht das Ziel hatten, exemplarische quaestiones juris zu beantworten, d. h. ideelle Normen auf reale Einzelfälle anzuwenden, skizziert Leibniz in den letzten beiden Entwürfen die Umrisse einer streng beweisfähigen »Wissenschaft vom Gerechten (scientia justi)«, in der es gar nicht mehr um die Entscheidung von Fällen nach Kriterien des strengen Rechts, der Billigkeit oder der Pietät geht, sondern um die Aufstellung abstrakter und darum streng allgemeingültiger Lehrsätze, die zusammen eine Art Kanon für die Beurteilung tatsächlicher Fälle an die Hand geben. Ihr einziger Gegenstand ist die regulative Idee des »guten Menschen (vir bonus)«, der »alle liebt«. Dieser Begriff formuliert kein schlechthin un²³¹ Dissertatio de arte combinatoria (A VI 1, 230, 12 f.).

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erreichbares Ideal, wie es der stoische Weise ist, sondern eine ideale Norm, die jedes Individuum mehr oder weniger stark erfüllen und realisieren kann. Dagegen zeugte es von Selbstüberschätzung und Selbstgerechtigkeit, wenn sich jemand vorbehaltslos mit dem »guten Menschen« identifizieren wollte. Nun besteht aber das Wohlwollen der Liebe in der freiwilligen Rücksichtnahme darauf, was einem für das Glück anderer zu tun oder zu unterlassen möglich, unmöglich oder notwendig ist. Diese modale Logik, die der Liebe mit sehenden Augen selbst innewohnt und nach der sie Unterscheidungen und Entscheidungen trifft,²³² wird von Leibniz in ihren tieferen Zusammenhängen aufgedeckt und analysiert : Was demjenigen, der dem Ideal nach alle Menschen liebt, zu tun oder zu lassen möglich ist, das darf naturrechtlich-moralisch als gerecht oder erlaubt gelten, bezeichnet also etwas Gedurftes ; was ihm dagegen unmöglich ist, d. h. was er nicht »übers Herz bringen« kann, ist ungerecht oder unerlaubt, enthält also etwas Verbotenes ; was ihm zu tun oder zu lassen notwendig ist, ist geboten oder billig, d. h. bezeichnet etwas Gesolltes ; was ihm aber nur zufällig oder kontingenterweise zu tun oder zu lassen ist, so daß es unter gewissen Bedingungen auch nicht zu tun oder zu lassen ist, das ist auch etwas Unterlaßbares oder Ungebotenes. Es war die Entdeckung dieser Verhältnisgleichheit zwischen den logischen und den juridisch-moralischen Modalbegriffen, die Leibniz zum Begründer der »deontischen Logik« gemacht hat.²³³ Nach dieser ²³² Vgl. Hubertus Busche : Die innere Logik der Liebe in Leibnizens Elementa Juris Naturalis, in : Studia Leibnitiana 22 (1991), 170 –184. ²³³ Georges Kalinowski: Einführung in die Normenlogik, Frankfurt a. M. 1972, 19 u. 21, faßt diese Entdeckung unter der Einschränkung, daß unserere heutigen Kenntnisse der Logik »im Mittelalter und bei den Arabern« sehr begrenzt sind, vorsichtig zusammen : »Leibniz hätte demnach als erster, lange vor A. Höfler, J. Ray, K. Menger und G. H. von Wright und anderen die Analogie zwischen deontischer und alethischer Modallogik entdeckt (und desgleichen die Analogie zwischen den alethischen und den deontischen Modalbegriffen einerseits und den Quantoren andrerseits, bis hin zu den Begriffen der Zeitlogik (tense-logic) wie manchmal, nie, immer,

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Axiomatik können alle Regeln der klassischen Logik auf die Logik des Gerechten und Billigen angewandt werden. Fügt man nach der Geometrischen Methode Euklids diesen Axiomen noch Definitionen zum »guten Menschen« oder »dem, der alle liebt«, bei, so lassen sich durch eine fortlaufende Analyse und Substitution der Begriffe nach den Regeln der Kombinatorik immer neue Lehrsätze ableiten. Da sie sowohl das Erlaubte (Gerechte) als auch das Gebotene (Billige) umfassen, verkörpern die Lehrsätze sowohl die »Wissenschaft vom Gerechten (scientia justi)« als auch die »Wissenschaft von den Pflichten (scientia officiorum)«. Ihre wichtigsten Theoreme einschließlich gewisser Folgesätze zur Psychophysik der Liebesregungen hat Leibniz in Text 5 zusammengestellt. Text 6 dagegen, der eine Reinschriftfassung des ersten Teils von Text 5 darstellt, enthält zwar noch differenziertere Definitionen zum »vir bonus«, aber keine Lehrsätze. Was schließlich die Leistungskraft jenes »unendlichen Saatfeldes von Lehrsätzen« betrifft, von dem Leibniz nach dem kombinatorischem Schema allein fast anderthalb Millionen mögliche Theoreme errechnet (Elemente des Naturrechts 5, s. u. 293), so kommen ihre Wahrheiten zwar nicht über einen sehr abstrakten und damit trivialen Grad hinaus. Leibniz hegt jedoch die Hoffnung, diese Theoreme, die ja bloß den abstrakt prinzipiellen Teil der Elemente des Naturrechts bilden, später mit den Lehrsätzen aus den Elementen anderer Wissenschaftsdisziplinen zu kombinieren und so zu einem immer dichteren und erschließungsfähigeren Begriffsnetz zu verflechten.

Zur Textgruppe IV : Vier Briefe über das Recht Leibniz hat in Mainz zahlreiche Briefe an europäische Gelehrte geschrieben, um sich bei ihnen durch Darlegung seiner Pläne und Ansichten zu empfehlen. Unter diesen Briefen sind einige, in demanchmal nicht […]), sofern er nicht diesen Gedanken bei irgendeinem Scholastiker gefunden hat«.

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nen er seine Projekte zur Rechtsreform und seine Auffassungen zur Jurisprudenz, insbesondere aber zum Verhältnis von positivem und natürlichem Recht darlegt. Von diesen rechtsbezogenen Briefen dürfen die hier ausgewählten vier als die wichtigsten gelten, da sie die genannten Themen systematisch am ausführlichsten behandeln.²³⁴ Weil ihre Grundgedanken schon oben skizziert wurden (s. o. LIX  LXVII ), braucht hier inhaltlich nichts mehr erläutert zu werden. Die Adressaten der Briefe werden in den Anmerkungen vorgestellt.

²³⁴ Gewisse Ergänzungen zu Projekten, Problemen und Theoretikern des Naturrechts finden sich auch noch in folgenden Briefen Leibnizens : an Johann Georg Graevius, 6./16. April 1670 (A II 1, 37– 39 passim) ; an Lambert van Velthuysen, 6./16. April 1670 (ebd. 39 f., hier 39, 26 – 40, 15) ; an Thomas Hobbes, 13./23. Juli 1670 (ebd. 56 – 59, hier 56, 21 – 57, 12) ; an Hermann Conring, 8. Februar 1670 (ebd. 78 – 82, hier 79, 1–17) ; an Lambert van Velthuysen, Anfang Mai 1671 (ebd. 97– 99, hier 98, 3 –18) ; an Herzog Johann Friedrich, 2. Hälfte Oktober ( ?) 1671 (ebd. 159 –165, hier 162, 6 – 27) ; und an Antoine Arnauld, Anfang November 1671 (ebd. 169 –181, hier 173, 26 – 175, 2). Ferner gehören hierzu : an Peter Lambeck, 22. November ( ?) 1668 (A I 1, 13–16, hier 13, 25 –14, 28) ; an den Kurfürsten von Mainz, 27. März ( ?) 1669 (ebd. 20 f.) ; an den Kaiser, August ( ?) 1671 (ebd. 57– 62) ; an Johann Albrecht Portner, 6. August 1671 (ebd. 65– 67) ; an Daniel Wülfer, 19. Dezember 1669 (ebd. 79 f.) ; an Reinhard Blum, 1669 (ebd. 82 f.) ; an Johann Heinrich Böckler, 12./22. Oktober 1670 (ebd. 104 –106) ; und an Christian Woldenberg, 12. März 1671 (ebd. 126 –128).

GOT TFRIED WILHELM LEIBNIZ Frühe Schriften zum Naturrecht Lateinisch – deutsch

I. Das Leib-Seele-Pentagon und die moralische Sphäre des Verstandes (1663 ?)

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I. Das Leib-Seele-Pentagon

In hac tabula more Mathematico sunt Explicationes Terminorum, vide ipsum schema, ex qvo in fine porismata educuntur. Schemate ad instar Mathematicorum res optimè declarabitur. Igitur describatur Pentagonum regulare, ei inscribatur Circulus, Circulo inscribatur aliud Pentagonum, huic novus Circulus. In hoc circulo sint duo diametri se intersecantes qvomodocunqve. Hoc schemate qvid intelligam velimqve, nunc explicabo.

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und die moralische Sphäre des Verstandes

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Erläuternde Variante des Leib-Seele-Pentagons¹

In dieser Tabelle² finden sich nach mathematischer Methode die Erklärungen der Termini. Man sehe auch das Schema selbst, aus dem am Ende die Folgesätze³ abgeleitet werden. Mit Hilfe des Schemas wird die Sache so gut wie in der Mathematik aufs beste klargemacht werden.⁴ Man zeichne also ein regelmäßiges Fünfeck, dem ein Kreis eingeschrieben ist. Dem Kreis sei ein weiteres Fünfeck eingeschrieben und diesem ein neuer Kreis. In diesem Kreis seien zwei Durchmessergraden, die sich irgendwie schneiden. Was ich mit diesem Schema begreife und bezwecke, werde ich nun erläutern.

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I. Das Leib-Seele-Pentagon

Pentagonum externum membra corporis externa denotat, et ea qvinqve libuit assignare, non tanq. vellem partes corporis designare, sed tanq. subjecta, sensus. Ac poteris si lubet angulos sensibus reliqvis qvinqve, visui, auditui, olfactui, gustui, tactui venereo, reliqva Tactui communi ubiqve diffuso assignare, aut poteris angulos contactus pro sensibus 5 potius accipere, reliqva pro sensu Tactus communi. Circulus igitur Pentagono inscriptus est sensus s. interna qvaedam perceptio, et motus spirituum. Nam mihi sanè nescio qvomodo aptum videtur Lineam rectam corporibus, Circulum admirabilis inexplicabilisqve natura, indeterminatum ad opposita, volubilissimum mobilissimumqve, interminatum, firmissimum, immaterialioribus et subtilioribus comparare. Similiter igitur 5 arcus erunt in circulo, et totidem anguli contactus corpori correspondentes. Nam certum alias est ex Physicis, qvod spiritus ferè figurentur et disponantur ad figuram corporum unde avolant, ex qvo principio sensuum motum Democritaei, imò ipsam generationem hominis, non sine ingenio declarârunt. Pentagonum interius et minus est Affectus, s. spiritus ipsi cum inclinatione considerati, qvi qvasi materia sunt et membra intellectus Practici, et is eorum velut anima est. Hi spiritus igitur qvatenus relati sunt ad membra et dicebantur sensus, circulo repraesentati sunt, qvia corpore subtiliores, saltem ad sensum; nunc collati ad intellectum corporescunt, aut potius sunt id qvod revera sunt, corpora, et alio pentagono describuntur, qvia ut dixi Membra intellectus interna seu spiritus, ut

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Das äußere Fünfeck bezeichnet die äußeren Glieder des Körpers, und mit diesen fünf Seiten möchte ich, weniger um Teile des Körpers damit zu bezeichnen als vielmehr ihre zugrunde liegenden Funktionen, die Sinne kennzeichnen. Und man mag, wenn es beliebt, die Ecken den fünf verbleibenden Sinnen – dem Gesicht, dem Gehör, dem Geruch, dem Geschmack und dem geschlechtlichen Berührungssinn – zuordnen, die übrige Außenfläche aber dem allgemeinen Tastsinn, der sich überallhin erstreckt. Oder noch besser kann man die Winkel der Berührung mit dem größeren Kreis für die fünf Sinne nehmen, das übrige für den allgemeinen Tastsinn.⁵ Dieser Kreis, der dem Fünfeck eingeschrieben ist, ist also die Empfindung, d. h. die innere Wahrnehmung und die Bewegung der Lebensgeister.⁶ Irgendwie scheint es mir nämlich durchaus angemessen, die gerade Linie mit den Körpern zu vergleichen, den Kreis aber wegen seiner wunderbaren und unerklärbaren Natur – unbestimmt in seinen Punkten und Gegenpunkten, absolut drehbar und beweglich, unbegrenzt und völlig stabil – mit den unstofflicheren und feineren Dingen zu vergleichen.⁷ Dementsprechend werden also fünf Bögen in dem Kreis sein und ebensoviele Berührungen der Eckpunkte, die dem Körper korrespondieren.⁸. Denn es ist auch sonst aus der Physik bekannt, daß die Lebensgeister fast immer gemäß derjenigen Figur von Körpern gestaltet und angeordnet werden, von denen sie ausgehen; aus diesem Prinzip erklären die Anhänger des Demokrit, nicht ohne Geist, die Bewegung der Sinne, ja selbst die Zeugung des Menschen.⁹ Das innere und kleinere Fünfeck ist der Affekt, d. h. die Lebensgeister selbst in Anbetracht ihrer Neigungsrichtung, die gleichsam die Materie und die Glieder des praktischen Verstandes sind ;¹⁰ und dieser ist gleichsam ihre Seele.¹¹ Insofern diese Lebensgeister also auf die Glieder bezogen sind und Sinne genannt wurden, sind sie durch den Kreis repräsentiert, weil sie feiner sind als der Körper, zumindest in Vergleich zum Sinnesorgan; jetzt aber, verglichen mit dem Verstand, verkörpern sie sich oder bilden vielmehr das, was sie tatsächlich sind, nämlich Körper, und werden durch das andere Fünfeck beschrieben. Denn die inneren Glieder des Verstandes, wie ich sie

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I. Das Leib-Seele-Pentagon

ex Anatomicis patet, et doctrinâ de Nervis, externis sunt parallela. At Circulus interior est ipse Campus ut ita dicam rationis et intellectus, in qvo Species intelligibiles discurrunt moventurqve. Verè a. intellectus noster circulus est, sui similis, Pìéãxò, non alligatus, tantùm tangens et inclusus, libertas invincibilis remanet, neqve nisi à semet ipso ad alterutrum oppositorum determinatur. In hoc a. circulo, aut si mavis sphaera, posset n. et multo aptiùs in solido reprasentari, duo sunt Diametri, aut si sphaera esset, circuli, qvorum unus sit a b, alter c d. Porro sciendum est duos exinde qvasi Axes oriri, unum tanq. Axem Aeqvatoris in sphaera Mundi; alterum tanq. Axem Eclipticae. Et Polus Antarcticus sit b, tanq. ad inferiora directus. Polus Arcticus sit A. Similiter polus Axis Eclipticae superior sit C, inferior D. Punctum E sit in qvo concurrunt, in eo residet qvasi fons et virtus intellectiva, unde rivuli, nimirum actus et intellectiones elicitae ex allabentibus à sensu speciebus exiliunt. Diameter a. Unus a, seu alter Axis AB, est radius impressus humanae menti, ex qvo judicat simplici intuitione et congruentia qvad. secum concreata aliqvid bonum vel malum esse moraliter. Et radius qvidem s. semidiameter EA, attractivus est et ad polum Arcticum, isqve continet jussum, EB remotivus est ad polum Antarcticum, isqve continet vetitum. Ulterius EC est radius continens Utile, ED est radius continens noxium, ille attractivus et magneticus poli simi-

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genannt habe, d. h. die Lebensgeister, verlaufen parallel zu den äußeren Gliedern, wie aus der Anatomie und Nervenkunde hervorgeht.¹² Der innere Kreis aber ist sozusagen das Feld der Vernunft und des Verstandes selbst, in dem die intelligiblen Erscheinungen auseinanderlaufen und sich hin- und herbewegen.¹³ In der Tat aber ist unser Verstand ein Kreis: sich selbst ähnlich, unvermischt, nicht festgebunden, lediglich berührend und in sich geschlossen;¹⁴. ihm bleibt eine unbezwingbare Freiheit, und er wird durch nichts auf einen von zwei gegenüberliegenden Punkten festgelegt außer durch sich selbst.¹⁵ In diesem Kreis aber oder, wenn man lieber will, in dieser Kugel – es könnte nämlich noch viel besser an einem festen Globus dargestellt werden¹⁶ – gibt es zwei Durchmesser oder, wenn es eine Kugel sein soll, zwei Großkreise, von denen der eine a b, der andere c d heiße.¹⁷ Ferner muß man wissen, daß hieraus gleichsam zwei Achsen entstehen: eine, die der Äquatorialachse der Weltkugel gleicht, und eine andere, die der Eklipsenachse gleicht.¹⁸ Und der Antarktispol sei b, gleichsam nach unten gerichtet, der Arktispol aber a. Entsprechend sei der obere Pol der Eklipsenachse c, der untere d.¹⁹ Punkt e sei der Schnittpunkt, in dem sie zusammenlaufen; in ihm residiert gleichsam die Quelle und Einsichtskraft, aus der die Bächlein herausströmen, d. h. natürlich die Tätigkeiten und Einsichten, die durch die von der sinnlichen Wahrnehmung heranschwebenden Erscheinungen hervorgerufen werden. Der eine Durchmesser mit a aber, andersgesagt die Achse a b, sei derjenige Radius, der dem menschlichen Geist eingeprägt ist.²⁰ Nach diesem beurteilt er durch einfache Intuition und durch eine gewisse mit ihm zusammen erschaffene Kongruenz etwas als moralisch gut oder böse. Und zwar ist der Radius, d. h. der Halbdurchmesser e a, anziehend und auf den arktischen Pol gerichtet, und dieser enthält das Gebotene; e b dagegen ist die abstoßende Richtung auf den antarktischen Pol hin, und dieser enthält das Verbotene. Ferner ist e c der Radius, der sich auf das Nützliche richtet, e d dagegen der Radius, der sich auf das Schädliche richtet.²¹ Jener ist der auf das Verwandte anziehend und magnetisch wirkende Radius des glei-

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I. Das Leib-Seele-Pentagon

lis ad congenerem, hic remotivus s. repulsivus, et Magneticus poli oppositi ad oppositum. Totus a. Axis s. Diameter CD denotat relationem SUMMI BONI , qvod qvisqve intellectu et conscientia errante sibi finxit, et C qvidem denotat Summum ejus Bonum, D summum ejus malum, et qvo summum istud bonum in sphaera hac morali à SUMMO BONO VERO, Honesto nempe s. DEO qvi ipse nostrum praemium erit, distat majori segmento circuli moralis, eò majorem Angulum faciunt Axis aeqvatoris et Eclipticae, et hominis intellectus corruptior est, et judicium magis erroneum. Gradus a. summorum bonorum fictitiorum, et in qvantum unumqvodqve propinqvius sit Summo Bono VERO, s. DEO, poterit ex Augustini ex Varrone speculationibus astimari, ego id nunc suo loco relinqvo. Tum verò Axis aeqvatoris et Eclipticae toto semicircolo distant, vel potius radii, qvando C venit ad B, et D venit ad A. Tum Intellectus est desperatus, et pro fine qvasi habet nihil, et Ens, et Põô’í DEUM habet pro inutili. Hic a. non habitum aestimo s. distantiam impressionis, sed distantiam ab objecto; posset similiter et Habitus aestimari, ut qvando radius EA et EC et EB et ED angulum acutum faciant, homo sit in semivirtute, sed propiore Virtuti, qvando angulum rectum, utrinqve aeqvè distet, qvod nescio tamen an sciri ita accuratè possit in moralibus, qvando faciat Angulum obtusum, sit in semivirtute aut potius vitio magis vitioso, qvando verò toto semicirculo distent, sit in Habitu vitiosissimo et maximè à Virtute distet. Interdum a. ut dixi Axis aeqvatoris et Eclipticae coincidunt qvasi formaliter et Linea, non

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chen Pols; dieser ist der auf das Gegensätzliche abstoßend, d. h. zurückdrängend wirkende Radius des entgegengesetzen magnetischen Pols. Die ganze Achse oder der ganze Durchmesser c d aber bezeichnet die Beziehung desjenigen höchsten Gutes, das sich jeder bei irrendem Verstand und Gewissen eingebildet hat ;²² und zwar bezeichnet c dessen höchstes Gut, d dessen höchstes Übel. Und je mehr ein solches höchstes Gut in dieser moralischen Sphäre vom wahren höchsten Gut, nämlich vom Ehrenvollen, d. h. von Gott, der selbst unsere Belohnung sein wird, abweicht durch ein größeres Segment des moralischen Kreises, desto größer ist der Winkel, den die Äquator- und die Eklipsenachse bilden, und desto verdorbener ist der Verstand eines Menschen und desto irriger ist sein Urteil. Die Grade der bloß eingebildeten höchsten Güter aber, und wie groß die Nähe eines jeden von ihnen zum wahren höchsten Gut oder Gott ist, kann aus den Überlegungen des Varro, die sich bei Augustinus finden, eingeschätzt werden; ich spare dies jetzt für einen anderen Ort auf.²³ Manchmal weichen tatsächlich die Äquator- und die Eklipsenachse, oder vielmehr ihre Radien, durch einen ganzen Halbkreis von einander ab, wenn c nach b rutscht und d nach a.²⁴ Manchmal ist der Verstand verzweifelt, hält gleichsam nichts für ein Ziel und das Wesen, Gott selbst, für unnütz. Hier aber bemesse ich nicht die Geisteshaltung oder den Abstand des Eindrucks, sondern den Abstand vom Objekt.²⁵ In ähnlicher Weise könnte auch die Geisteshaltung bemessen werden, so daß, wenn der Radius e a mit e c sowie e b mit e d einen spitzen Winkel bildet, ein Mensch sich in der Halbtugend befindet; daß er aber der eigentlichen Tugend näher ist, wenn sich ein rechter Winkel bildet und auf beiden Seiten gleichweit absteht. Ich weiß jedoch nicht, ob man dies im Gebiet der Moral so genau wissen kann²⁶: ob, wenn der Radius einen stumpfen Winkel bildet, der Mensch sich in der Halbtugend befindet oder vielmehr in einem noch verwerflicheren Laster, bzw. ob er, wenn die Achsen um einen ganzen Halbkreis abweichen, die übelste Gesinnung hat und am weitesten von der Tugend entfernt ist. Manchmal aber fallen, wie gesagt, die Äquator- und die Eklipsenachse gleichsam der

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verò materialiter et dignatione, et tum radii qvi coincidentes esse debebant sunt planè contrarii (interdum a. coincidunt verè, ut in nostro Salvatore semper). Videbitur a. alicui mirum et qvasi incongruum et absurdum hoc in schemate poni, esse simul circa id actum attractivum et repulsivum. Resp. distincti sunt actus, et primus est qvasi naturalis conscientiae, alter utilitatis, qvippe non impressa sed acqvisita, idqve si à habitu abstrahas, sin verò non objecti sed habitus sinas esse gradus anguli morales, tum res pulchrius explicabitur, nam conscientia eò magis in homine est obliterata qvo habitus est vitiosior, cessabit igitur ejus Actus. Notes qvoqve hic distare sphaeram meam à Weigeliana, nam ut ejus taceam à mea distare constructione, ipse aestimat justitiam et gradus peccati contra legem DEI assignat, qvi nescio an in se et formali peccati assignari possint, ipse aestimat actionem externam, ego internam, ipse qvoqve aestimat actionem. Ego habitum, aut objectum, et sic moralitatem non justitiae et Ethicae qvasi ejus, sed Ethicae qvasi Aristotelicae habitus et beatitudinis expendo. Addo tamen et hoc posse ita concipi, ut summa distantia sit, non 180 gradibus, s. toto semicirculo, sed 90 gradib. s. angulo recto distare, ut coincidentia linearum cum contrarietate evitetur. Sed esset tunc cogitandum qvomodo reliqva qvoqve coaptentur. Ego verò non praecipuè aestimationis causa et ex Geometria ut Wei-

13 taceam ] korrigiert aus ôN Tëëá nach A VI 2, 518 13 distare ] korrigiert aus distant nach A VI 2, 518 14 assignat ] korrigiert aus assignatam nach A VI 2, 518

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Form und Linie nach zusammen, nicht jedoch dem Inhalt und Wert nach; dann sind die Radien, die zusammenfallen sollten, einander völlig entgegengesetzt. (Manchmal auch fallen sie tatsächlich in eins, wie es bei unserem Heiland ständig geschieht.) Nun wird es manchem wundersam und gleichsam unstimmig wie ungereimt erscheinen, daß das, was in der Figur dargestellt ist, zugleich auch von der Anziehungs- und Abstoßungstätigkeit handelt.²⁷ Darauf erwidere ich: Es sind unterschiedliche Tätigkeiten, und die erste ist gewissermaßen die angeborene des Gewissens, die andere die der Nützlichkeit, die freilich nicht angeboren, sondern erworben ist. Und wenn man dies von der Geisteshaltung her versteht, wenn man zuläßt, daß in der Tat die moralischen Winkelgrade nicht zum Objekt, sondern zur Geisteshaltung gehören, dann wird die Sache noch schöner erklärt. Denn das Gewissen ist beim Menschen um so mehr ausgelöscht, je übler die Haltung ist. Folglich wird seine Tätigkeit aussetzen. Man wird auch bemerken, daß sich hier meine Sphäre von der Weigelschen unterscheidet. Denn ganz zu schweigen davon, daß seine Konstruktion von meiner abweicht, bemißt er die Gerechtigkeit und bestimmt Grade der Sünde gegen das Gesetz Gottes; ich hingegen weiß nicht, ob diese in sich und in ihrer abstrakten Form als Grade der Sünden bestimmt werden können.²⁸ Er bemißt die äußere Handlung, ich die innere.²⁹ Auch bemißt er nur die Handlung, ich dagegen die geistige Haltung bzw. den Gegenstand. Und somit prüfe ich nicht die Moralität gleichsam seiner Gerechtigkeit und Ethik, sondern die Moralität gleichsam der Aristotelischen Ethik, nämlich die der Geisteshaltung und des Glükkes. Ich füge jedoch hinzu, daß obiges auch so begriffen werden kann, daß die größte Distanz dann vorliegt, wenn die Achsen nicht um 180 Grad oder über einen ganzen Halbkreis voneinander abweichen, sondern wenn sie zu 90 Grad oder im rechten Winkel voneinander abstehen, so daß das Zusammenfallen der Linien mit ihren entgegengesetzten Richtungen vermieden würde. Dann aber wäre zu bedenken, wie auch das übrige stimmig konzipiert wäre. Ich habe aber diese Dinge nicht vornehmlich um der Bemessung

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gelius, sed etiam adumbrationis ipsius motus causa et ex Statica qvoqve haec delineavi. Nunc ut pergam facto schemate et constructo ipse motus explicandus est, isqve optimè ex Optica et ut ita dicam Statica visus, nam incidentiae objecti instar radii, sensoria et qvae transmittunt instar äéáöáíï™ò concipientur. Nihil nunc de crassitie äéáöáí§í disponam, nam manifestum est crassissimum Polygonum exterius ut appellant Fortificatorii, Circulum exteriorem in secundo, Polygonum interius in tertio, Circulum interiorem in 4to gradu tenuitatis esse debere. Ex hoc illud qvoqve observo, cur nuda polygona s. lineae non refringant, sed qvatenus sunt cum circulo apposito, qvia aptissimâ Analogiâ in Opticis Diaphanum planum nihil ad rem qvod faciat refringit, ut diaphana convexa, it. concava fortem habent refractionem. Porro Radius ex objecto allabens vel recto angulo allabitur vel curvo. Si recto allabitur, tum vel transit vel repercutitur. Si repercutitur, vel in eum tandem statum venit ut transeat, vel ut non transeat. Deinde qvod allabitur in genere vel transit, per potentiam Locomotivam, vel repercutitur. Si simpliciter transit sine repercussione, tum non est bonum malumqve propriè sensile ut pecunia aliena. Imò videtur potiùs sic dicendum, repercuti in externo isto nunqvam prorsus et omnino, aut si planè repercutiatur id fieri sensu in alia intento et non advertente. Sin transeat vel transire simpliciter, et tum non esse bonum malumve sensile, sed

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willen und von der Geometrie aus abgeleitet wie Weigel, sondern auch um der Skizzierung der Bewegung selbst willen und von der Statik aus.³⁰ Um fortzufahren, ist nun nach dem entworfenen und aufgestellten Schema die Bewegung selbst zu erklären, und diese am besten von der Optik und sozusagen der Statik des Sehens her. Denn die Einfallsstrahlen eines Objekts können wie ein Radius aufgefaßt werden, die Sinnesorgane und das, was sie hindurchlassen, wie ein durchsichtiges Glas.³¹ Ich will jetzt nichts über die Grobheit des Durchsichtigen festsetzen, denn es ist offensichtlich, daß das Gröbste das äußere Vieleck sein muß, wie es die Schanztechniker fordern ;³² daß der äußere Kreis vom zweiten Feinheitsgrad, das innere Vieleck vom dritten und der innere Kreis vom vierten Feinheitsgrad sein muß. Hiermit beachte ich auch jenen Umstand, weshalb bloße Vielecke oder Linien keine Refraktion bewirken, sondern nur, insofern sie mit einem Kreis versehen sind. Denn nach dieser höchst geeigneten Analogie aus der Optik wirft ein glattes Durchsichtiges nichts von dem, was die Sache bewirkt, auf sie zurück. Wie konvexe Gläser haben auch konkave eine starke Refraktion. Nun hat der Radius, der vom Objekt herangleitet, entweder einen rechtwinkligen oder einen schrägen Aufprall. Falls er im rechten Winkel herangleitet, geht er entweder hindurch oder wird zurückgeworfen. Wird er zurückgeworfen, so gelangt er schließlich in den Zustand, daß er hindurchgeht oder nicht. Was dann herangleitet, geht im allgemeinen entweder aufgrund der ortsverändernden Kraft hindurch oder wird zurückgeworfen. Falls es einfach hindurchgeht ohne Rückprall, dann handelt es sich nicht um etwas Gutes oder Schlechtes, das im eigentlichen Sinne wahrgenommen werden kann wie z. B. das Geld anderer Leute.³³ Allerdings scheint man aber eher sagen zu müssen, daß der Radius eines Objekts in jenem äußeren Fünfeck niemals geradewegs und vollständig zurückgeworfen wird. Oder, falls er völlig zurückgeworfen wird, geschieht dies mit einem Bewußtsein, das auf anderes gerichtet und nicht aufmerksam ist.³⁴ Falls der Radius aber hindurchgeht, geht er entweder einfach hindurch, und dann ist er kein wahrnehmbares

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sensui indifferens, vel transire cum refractione. Refractio a. nihil aliud est qvàm reflexio cum transitu, ut alibi contra Cartesium et Is. Vossium declarabo. Ita a. comparatum est, ut qvod transit per Polygonum exterius crassissimum illud sine refractione id transeat etiam per circulum sensus, id est Atmosphaeram spirituum adhuc crassiorum inter membra et sensus circulum interjectorum, qvando nimirum tactus communis est, s. extra Angulum contactus; qvando aliqvis reliqvorum est et fit in ipso Angulo contactus, tum simul cum transitu per externum transit per internum, et sic per Circulum. Qvod a. transit per circulum sensus sine reflexione vel refractione, id etiam transit per circulum affectus, affectus n. et Atmosphaera inter sphaeram sensus et sphaeram intellectus ita comparatus est suis poris, ut qvod transmittit sensus, transmittat et ipse, at sensu turbato turbari et ipsum et ordinem confundi necesse est. Si igitur transit per sensum s. externas partes corporis sine motione et affectione vel jucunda vel dolorosa, etiam sic per Affectum transibit. Ulterius qvando refringitur in sensu, tum ubi in affectum deveniat, etiam sic refringi necesse esse. Sed hic êñéôÞñéïí sitne affectui jucundum an dolorosum, qvia jam indifferens non est, est istud: vel debet vi transire qvod incidit, idqve qvâ incidit figura incongrua ad dispositionem Atmosphaerae, tum cedunt qvidem Atomi Atmosphaerae, sed non contrario loco exeunt radiumqve faciunt Activum. Qvando igitur commodè incidit, imprimit Atmosphaerae motum qvem ipse habuit, et sic exit ex altera parte radius

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Gut oder Übel, sondern etwas für die Wahrnehmung Gleichgültiges, oder er geht hindurch mit einer Refraktion. Eine Refraktion ist aber nichts anderes als eine Reflexion mit einem Durchgang, wie ich anderenorts gegen Descartes und Vossius darlegen werde.³⁵. Dementsprechend ergibt der Vergleich, daß dasjenige, was durch jenes Gröbste, das äußere Vieleck, ohne Refraktion hindurchgeht, auch durch den Sinneskreis, d. h. durch die Atmosphäre auch der gröbsten, zwischen die Glieder und den Sinneskreis geschalteten Lebensgeister hindurchgeht, nämlich wenn es sich um den allgemeinen Tastsinn, d. h. die Berührung außerhalb eines Winkels handelt.³⁶ Wenn aber einer von den übrigen Sinnen gereizt wird und die Berührung im Winkel selbst geschieht, dann geht der Radius zugleich mit dem Durchgang durch das Äußere auch durch das Innere und somit durch den Kreis.³⁷ Was aber durch den Sinneskreis ohne Reflexion oder Refraktion hindurchgeht, das geht auch durch den Affektenkreis. Der Affekt nämlich und die Atmosphäre zwischen der Sinnessphäre und der Verstandessphäre sind mit ihren Poren so eingerichtet, daß dasjenige, was der Sinn hindurchschickt, auch der Affekt selbst hindurchschickt.³⁸ Bei verwirrtem Sinn dagegen muß auch er selbst verwirrt und die Ordnung durcheinandergebracht werden. Wenn es also durch den Sinn, d. h. durch dessen äußere Körperteile, ohne Bewegung und Erregung, sei sie nun angenehm oder schmerzhaft, hindurchgeht, wird es auch genauso durch den Affekt hindurchgehen. Weiterhin ist es notwendig, daß es, wenn es im Sensorium eine Refraktion durchmacht, auch ebenso refringiert wird, sobald es in den Affekt gelangt. Das Kriterium dafür aber, ob es dem Affekt angenehm oder schmerzlich ist – denn es gibt hier gar nichts Gleichgültiges – ist folgendes: Entweder muß dasjenige, was eindringt, mit Gewalt hindurchgehen, und zwar mit einer Figur, die mit der inneren Anordnung der Atmosphäre inkongruent ist; dann weichen zwar die Atome der Atmosphäre zurück, treten aber nicht an der gegenüberliegenden Stelle hinaus und bilden keinen Aktionsradius.³⁹ Wenn es also auf angenehme Weise eindringt, prägt es der Atmosphäre die eigene Bewegung ein, und so

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Atmosphaerae in Locomotivam, qvi est Affectus et motus primus praecipitantiae; vel non imprimit iis motum suum sed contrarium contra se, et sic transit in intellectum. Porro qvod incidit in intellectum vel est practicum vel solùm cognoscitivum. S. vel trahit nos vel repellit; vel non afficit. Si non afficit, tum incurrit qvidem intellectus sphaeram, sed non in centrum pervenit, atqve ita neqve ut utile, neqve ut noxium neqve ut indifferens ab intellectu concipitur. Sin a. incidit in centrum, tum considerandum, qvem Angulum faciat ad Axem Eclipticae, s. Diametrum CD, nam vel coincidit ei, vel angulum ad eam facit. Si coincidit, tum vel ingreditur per D , vel per C . Si per D , tum repellitur ad summam rei, nos n. non hic velitationes qvae ultro citroque fiunt boni et utilis intuebimur, id n. infinitum est, sed intuebimur summum bonum, qvod is propositum habet, qvi cogitat, id igitur vel utile judicat ad summum bonum suum, qvod incidit, vel noxium. Si utile, tum attrahit in ultima determinatione, nam in E residet voluntas et determinat, sin noxium, rejicit. Sed qvando praecessit aliqvis affectus praecipitantiae, seu objectum sensui jucundum, fit plerumqve, ut, nisi homo sit fortiter radicatus in suo summo bono imaginario, qvod aliud habet à voluptate corporis, voluptas interni in illo actu sit ei summum bonum, et seponit interim alterum. Id fit in isto Schemate, qvia commoti in eam partem velut mare Atomorum et Atmosphaerae affectuum, in qvam

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tritt auf der anderen Seite der Radius der Atmosphäre hinaus in den Bereich der ortsverändernden Kraft und ist so der Affekt und die erste Regung eines Gefühlsausbruchs.⁴⁰ Oder aber es prägt den Atomen nicht seine Bewegung ein, sondern umgekehrt eine ihm entgegengesetzte, und geht somit hindurch in den Verstand. Was nun in den Verstand eindringt, ist entweder praktisch oder bloß erkenntnisschaffend. Oder, was dasselbe ist, entweder zieht es uns an bzw. stößt uns ab, oder es affiziert nicht. Wenn es nicht affiziert, dann dringt es zwar in die Verstandessphäre ein, gelangt aber nicht bis in ihr Zentrum, sondern wird auf diese Weise vom Verstand weder als nützlich noch als schädlich noch als gleichgültig begriffen. Wenn es aber ins Zentrum eindringt, so ist zu beachten, welchen Winkel es zur Eklipsenachse, d. h. zum Durchmesser c d bildet; denn entweder fällt es ja mit ihm in eins oder bildet zu ihm einen Winkel. Falls es mit ihm zusammenfällt, dann tritt es entweder über d oder über c ein. Wenn über d, dann wird es, im Hinblick auf den höchsten Punkt des Ganzen, zurückgedrängt.⁴¹. Wir werden hier nämlich nicht die Plänkeleien zwischen dem Guten und dem Nützlichen betrachten, die herüber und hinüber geschehen, denn das ginge ins Unendliche.⁴² Vielmehr werden wir nur das höchste Gut betrachten, das derjenige ins Auge faßt, der überlegt. Dasjenige also, was eintritt, beurteilt er im Hinblick auf sein höchstes Gut als nützlich oder als schädlich. Wenn er es als nützlich beurteilt, dann zieht er es in letzter Bestimmung heran, denn im Punkt e residiert und bestimmt ja der Wille.⁴³ Wenn er es dagegen als schädlich beurteilt, stößt er es zurück. Wenn aber ein Gefühlsausbruch oder ein für die Wahrnehmung angenehmes Objekt vorangegangen ist, geschieht es für gewöhnlich, falls der Mensch nicht fest verwurzelt ist in seiner Vorstellung vom höchsten Gut, welches er für etwas von der Körperlust Unterschiedenes erachtet, daß für ihn während jener Tätigkeit die Lust im Inneren das höchste Gut darstellt und daß er in der Zwischenzeit das andere der beiden Güter beiseite schiebt.⁴⁴ Dies geschieht nach dem vorliegenden Schema, weil durch die ganze Bewegung in denjenigen Teil hinein, in den – als das Meer der Atome und Affekte der

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fertur objectum, simul Atomi intellectuales fortiter commoventur in eam partem; nisi igitur firmior sit eradiatio ex intellectu voluntate et determinatione in contrarium objectum, non repelletur, sed impelletur in E. Antea sentiebatur, anteq. veniret in E, qvia intellectus sentit ipsa resistentia et impulsione contra se venientis. Qvando igitur venit ad E, via CE, tum via executionis pellitur in contrarium, nam idem actus intellectus et spiritus, qvi sunt repulsivi, sunt executivi et imperant ad agendum. Sic igitur exeunt radii intellectus in alteram partem et alterum hemisphaerium qvod est Executivum, et sic commovent affectus in eam partem, emissis radiis, ex qvibus radii pertingunt in locomotivam et praecipuè ejus angulos, et sic tandem Actio externa exercetur. Nunc Termini illi explicandi et applicandi sunt: est Sistentia, is est Linea fg incidentium Ima in Polygonum exterius. Non a. solùm qvod in ipsam lineam jussi et vetiti, utilis et noxii incidit, repellitur vel attrahitur (nam illa praecepta et radii mentis sunt majoris propositionis instar, in qvâ se insinuat et subsumtionem praebet, dum illam lineam ingreditur, qvicqvid incidit), sed et qvod incidit in vicina et non 90 gr. distantia; nam qvod ab a et b aut c et d 90 gr. differt, illud est indifferens aut saltem videtur homini illi. Sensatio est refractio ghi. Non-indifferentia Appetitus sensitivi est Incidentia in solidum linea ik. Delectatio Appetitus sensitivi sumta cum linea l m qvatenus ea ex punctis constat. Incidentia in E li-

2 eradiatio ] korrigiert aus eradicatio nach A VI 2, 518 19 vicina ] korrigiert aus vicinia nach A VI 2, 518 21 ghi ] korrigiert aus ghl nach A VI 2, 518

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Atmosphäre – das Objekt eindringt, zugleich auch Atome in der Sphäre des Verstandes heftig in diesen Teil mitbewegt werden.⁴⁵. Wenn es also keine heftigere Ausstrahlung aus dem Verstand aufgrund des Willens und der Bestimmung zum gegensätzlichen Objekt hin gibt, wird das Objekt nicht zurückgedrängt, sondern nach e hin gestoßen werden.⁴⁶ Es wurde zuvor wahrgenommen, ehe es nach e gelangte, denn der Verstand spürt es gerade aufgrund des Widerstandes und des Impulses von seiten dessen, was gegen ihn andrängt. Wenn es also nach e gelangt über c e, dann wird es im Vollstreckungsverfahren zum gegenüberliegenden Punkt getrieben. Denn dieselben Tätigkeiten des Verstandes und des Lebensgeistes, die zurücktreibend sind, sind auch ausführend und gebieten zu handeln. Auf diese Weise also treten die Radien des Verstandes auf die andere Seite, in die andere Halbkugel hinaus, die den ausführenden Teil bildet; und so bewegen sie die Affekte auf den ausgesandten Radien mit in diesen Teil. Von diesen gelangen die Radien in den Bereich der ortsverändernden Kraft und besonders in seine Winkel. Und so wird schließlich eine äußere Handlung ausgeführt. Im folgenden sind die vorher genannten Begriffe zu erläutern und anzuwenden. Es gibt die Einstellung, d. h. die erste Linie f g der in das äußere Vieleck einfallenden Strahlen. Aber nicht nur, was genau auf der Linie des Gebotenen und Verbotenen, des Nützlichen und Schädlichen einfällt, wird zurückgedrängt bzw. herangezogen (denn jene Richtlinien und Radien des Geistes kommen einem Obersatz gleich, in den sich all dasjenige einfügt und für eine Subsumtion anbietet, was einfällt, indem es auf jener Linie eintritt), sondern auch dasjenige, was auf einer benachbarten Linie einfällt und keinen Abstand von 90 Grad hat. Denn was von a und b oder von c und d mit einem Winkel von 90 Grad abweicht, das ist oder scheint zumindest dem betreffenden Menschen gleichgültig. Sinnliche Wahrnehmung ist die Refraktion g h i. Die NichtGleichgültigkeit des sinnlichen Begehrens ist das heftige Einfallen auf der Linie i k. Der Genuß des sinnlichen Begehrens ist das, was mit der Linie l m zusammengenommen wird, sofern sich diese aus

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nea hk continuata est Practicatio ut ita loqvar seu pertinentia ad intellectum practicum. Distantia k minor qvàm 45 gr. à C est nonindifferentia intellectualis. Distantia major ab A qvàm b est turpitudo (ingens) moralis. Distantia tam parva et solùm II graduum à C est ingens utilitas respectu summi boni falsi, qvod ille homo habet. Linea EL nullis s. cyphris constans est radius intellectus assentientis Executivus. Linea LM punctata simul et cyphrata est motus intellectus determinantis s. voluntatis imperantis et appetitus impellentis simul incidens ad M in Locomotivam eamqve ad opus perseqvendum determinans. Porismata Thomasii etiam ex hoc schemate deduco, et primum probo, qvia linea LM prius fit punctata, qvàm intellectus se determinet, de secundo idem ex eodem patet, qvia non solùm non determinatio, sed ne intellectio qvidem distincta praecessit. Voluntatem a. seu Rationem ut ego appello determinantem esse primum movens morale et dignissimum, patet, qvia ejus radii sunt cyphrati. Atqve ita licet nonnulla nunc qvoqve in hoc schemate desiderem, pleraqve tamen mihi videntur luculentè satis et concinnè declarata.

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Punkten zusammensetzt. Das Einfallen in e über die fortgesetzte Linie h k ist sozusagen die Praktikation, d. h. dasjenige, was sich auf den praktischen Verstand bezieht. Der Abstand zwischen k und c, der kleiner ist als 45 Grad, markiert die Nicht-Gleichgültigkeit für den Verstand. Ein größerer Abstand von a als von b bedeutet eine (sehr große) moralische Schändlichkeit. Eine so kleine und lediglich 2 Grade betragende Entfernung von c bedeutet eine außerordentliche Nützlichkeit im Hinblick auf das falsche höchste Gut, das der betreffende Mensch vor Augen hat. Die Linie e l, die aus Nullen oder Kringeln besteht, ist der Ausführungsradius des zustimmenden Verstandes. Die Linie l m, die zugleich punktiert und durch Kringel markiert ist, bildet jene Bewegung des bestimmenden Verstandes, d. h. des befehlenden Willens und des antreibenden Begehrens, die zugleich nach m hin auf den ortsverändernden Teil übergeht und diese zur Durchführung der Tat bestimmt. Die Folgesätze von Thomasius leite ich ebenfalls aus diesem Schema ab. Und zwar beweise ich den ersten⁴⁷ dadurch, daß die Linie l m punktiert wird, noch bevor der Verstand sich bestimmen kann.⁴⁸ Vom zweiten Folgesatz⁴⁹ wird dasselbe aus dem gleichen Grund deutlich, weil nicht nur keine Bestimmung vorhergeht, sondern nicht einmal eine deutliche Einsicht.⁵⁰ Daß aber [drittens ]⁵¹ der Wille oder, wie ich es nenne, die bestimmende Vernunft das erste und höchstwürdige moralische Bewegungsprinzip ist, erhellt daraus, daß ihre Radien durch Kringel markiert sind.⁵² Und somit scheint mir, auch wenn ich jetzt noch einiges in diesem Schema vermisse, dennoch das meiste hinreichend deutlich und stimmig erklärt zu sein.

II. Aus der ›Neuen Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren‹ (1667)

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II. Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren

pars ii. Specialis, ad solam Jurisprudentiam restricta.

[1.] §. 1. Jurisprudentia est Scientia, Juris, proposito aliquo casu seu facto. Cujus tradendae methodum cum moliamur, necesse est ut duo agamus: (1.) in Idea delineemus JCtum perfectum, et quicquid ad ejus consummationem pertinet, quemadmodum Cicero fecit in libris de Oratore; (2.) vias designemus ad perfectionem grassandi, aut sicubi placeret, in secundis tertiisque consistendi. Quemadmodum Plato in libris de Republica, Ideam; in Dialogis verò de Legibus, quod assequi cuique liceret, exposuit. §. 2. Quicquid ad JC ti perfecti eruditionem pertinet, dividi potest ad instar Theologiae in partem Didacticam seu Positivam ea continentem quae in Libris Authenticis expressè extant, et certi juris sunt; Historicam, originem, autores, mutationes, abrogationesque Legum enarrantem; Exegeticam, ipsos Libros Authenticos interpretantem; et denique Apicem caeterarum: Polemicam seu controversiariam, casus in Legibus indecisos ex ratione et similitudine definientem. §. 3. Ex his Didactica et Polemica propriè sunt partes Jurisprudentiae. Historica verò et Exegetica sunt requisita tantùm. Haec Theorica, illa Practica. JC tus enim quâ talis satis habet, si sciat quid

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Aus dem zweiten Teil, der speziell ist und sich allein auf die Jurisprudenz beschränkt.¹

[1. Einteilung und Methode der Jurisprudenz ] § 1. Die Jurisprudenz ist eine Wissenschaft, und zwar vom Recht, das auf einen vorliegenden Fall oder Sachverhalt bezogen ist. Wenn wir ihr Überlieferungsverfahren bearbeiten, ist es nötig, zwei Dinge zu behandeln. Erstens wollen wir der Idee nach den vollkommenen Rechtsgelehrten und alles, was zu seiner vollendeten Ausbildung gehört, skizzieren, in ähnlicher Weise, wie Cicero dies für den Redner getan hat.² Zweitens wollen wir die Wege aufzeigen, auf denen man zur Vervollkommnung hinaufsteigt bzw., wenn es irgendwo angemessen ist, die Wege zweiter und dritter Wahl beschreiben. In ähnlicher Weise hat Platon im Staat dessen Idee dargestellt, in den Gesetzen aber nur dasjenige, was jedem Staate zu erreichen möglich ist.³ § 2. Alles, was zur Unterrichtung des vollkommenen Rechtsgelehrten gehört, kann genau wie in der Theologie eingeteilt werden, nämlich in einen didaktischen oder positiven Teil, der alles dasjenige enthält, was in den als echt geltenden Schriftquellen ausdrücklich vorhanden ist und zum sicheren Recht gehört, in einen historischen Teil, der den Ursprung, die Verfasser, die Veränderungen und Aufhebungen der Gesetze aufzählt, in einen exegetischen Teil, der die als echt geltenden Schriften selbst auslegt, und schließlich, als Gipfel aller übrigen, in einen polemischen oder kontroversen Teil, der die unentschiedenen Fälle unter den Gesetzen aus Vernunftgründen und gemäß ihrer Ähnlichkeit festlegt.⁴ § 3. Von diesen Teilen sind der didaktische und der polemische im eigentlichen Sinne Bestandteile der Jurisprudenz. Der historische und der exegetische aber sind bloße Bedingungen. Diese beiden sind theoretisch, jene beiden ersten praktisch, und das genügt dem Rechtsgelehrten als solchem, wenn er wissen will, was in ei-

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in proposito casu sit juris, quod potest etiam merè pragmaticus assequi, imò qui ne Latina quidem novit, sed difficulter, imò inutiliter; nam si quis negare audeat, non poterit ex historia Legibusque demonstrare: ideò Empirici magis nomen merebitur, quàm ejus qui veram in Jure Philosophiam sit assecutus. §. 4. Meritò autem partitionis nostrae exemplum à Theologia ad Jurisprudentiam transtulimus, quia mira est utriusque Facultatis similitudo. Utraque enim duplex principium habet, partim rationem, hinc Theologia Jurisprudentiaque naturalis (quarum illam Raymundus de Sabunde et Theophilus Raynaudus, hanc verò Grotius, Hobbes caeterique excoluêre, quorum infra §. 70. mentio fiet), partim Scripturam seu librum quendam Authenticum Leges positivas, illic Divinas, hîc Humanas continentem. Male verò nonnulli huic comparationi Medicinam quoque, Philosophiam, ac Mathesin miscuere. Nam Hippocrates, Galenus et Aristoteles erroris saepe convicti sunt; Euclidi non creditur quia dicit, sed quia probat, quod secus est in Legibus Divinis Humanisque, ubi stat pro ratione voluntas. §. 5. Nec mirum est, quod in Jurisprudentia, idem et in Theologia usu venire, quia Theologia species quaedam est Jurisprudentiae universim sumtae, agit enim de Jure et Legibus obtinentibus in Republicâ aut potius regno DEI super homines; moralis de Jure privato, reliqua de Jure publico: Nam, ut nostrammet de Arte Combinatoria commentationem p. 29. aliquantisper exscribamus,

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nem vorliegenden Fall Rechtens ist. Hierauf kann sich auch der bloße Rechtspraktiker verstehen, selbst derjenige, der nicht einmal Latein kann; ein solcher freilich dürfte sich nur mit Schwierigkeiten, wenn nicht sogar ungenügend darauf verstehen. Denn wenn jemand Einspruch zu erheben wagte, könnte er keine Beweise aus der Geschichte und den Gesetzen geltend machen. Deshalb wird er eher den Namen eines Empirikers verdienen als den Namen dessen, der die wahre Philosophie in Sachen des Rechts durchdrungen hat. § 4. Aus gutem Grund aber haben wir unser Einteilungsmuster für die Jurisprudenz von der Theologie übernommen, weil die Ähnlichkeit beider Fakultäten erstaunlich ist. Beide nämlich besitzen ein zweifaches Prinzip: einerseits die Vernunft, aus der die natürliche Theologie und die Naturrechtslehre entspringen (die erste haben Raymund von Sabund ⁵ und Theophile Raynaud ⁶ sorgfältig ausgearbeitet, die zweite aber Grotius, ⁷ Hobbes ⁸ und die anderen, die weiter unten ab § 70 erwähnt werden), andererseits eine Schriftquelle, d. h. ein für echt befundenes Buch mit positiven Gesetzen, und zwar dort mit göttlichen, hier mit menschlichen. Fälschlicherweise haben aber einige diese Übereinstimmung auch auf die Medizin, die Philosophie und die Mathematik übertragen. Denn Hippokrates, Galen und Aristoteles sind häufig eines Irrtums überführt worden.⁹ Auch vertraut man Euklid nicht aufgrund der Autorität seiner Behauptung, sondern aufgrund seiner Beweisführung.¹⁰ Dies ist ganz anders bei jenen göttlichen und menschlichen Gesetzen, wo der Wille an die Stelle der Vernunft tritt.¹¹ § 5. So ist es kein Wunder, daß in der Jurisprudenz notwendig dasselbe wie in der Theologie geschieht, denn die Theologie ist eine gewisse Unterart der Jurisprudenz, diese in einem allgemeinen Sinne verstanden. Sie handelt nämlich vom Recht und von den Gesetzen, die im Staat oder besser im Reich Gottes über die Menschen herrschen; dabei handelt die Moraltheologie vom Privatrecht, die übrige vom öffentlichen Recht. Denn wie wir selbst in unserer Abhandlung Über die Kombinatorische Wissenschaft, S. 29, einige Zeilen lang ausgeführt haben,¹² sind die Un-

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infideles quasi rebelles sunt, Ecclesia velut subditi boni, personae Ecclesiasticae, imò et Magistratus Politicus, velut Ministri et Magistratus subordinati; Excommunicatio velut Bannus, Doctrina de Scriptura Sacra et verbo DEI velut de Legibus et earum interpretatione, de Canone librorum Sacrorum velut de Legum Authentia, de Erroribus fundamentalibus quasi de Delictis Capitalibus, de Judicio extremo, et novissima die, et valitura illic satisfactione Christi, velut de processu Judiciario et termino, et solutione pro alio; de Remissione Peccatorum, velut de Jure aggratiandi, de damnatione aeterna velut de Poena capitali, aut quae morti aequiparatur, perpetui carceris. Breviter tota fere Theologia magnam partem ex Jurisprudentia pendet. Quoties testamenti, quoties haereditatis, quoties servitutis, quoties adoptionis apud D. Paulum mentio est ? In explicatione Testamenti magna pars controversiae de Coena inter Augustanae Confessionis ac Reformatos Theologos consumitur. Faustus profectò Socinus quia à Jurisprudentia ad Theologiam venit, mirum quantum caeteris omnibus facessiverit negotii. Unde non potuit melius refutari quàm ab eo Viro, qui Jurisprudentiam simul ac Theologiam perrepserat, incomparabili illo Hugone Grotio in libro de Satisfactione Christi. Socini verò discipuli quae latibula sub juridica Acceptilationis voce quaerant, recensuit Cl. Zimmermannus peculiari dissertatione. Utrum et quatenus in rebus fidei obtineat praescriptio, nuper nobile par Fratrum Walenburgiorum disseruit; aliorsum iverat Cl. Hulsemannus Augustanae confessionis Theologus peculiari itidem tractatu de praescriptione. Breviter

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gläubigen gewissermaßen Aufrührer, besteht die Kirche gleichsam aus guten Untertanen, sind die geistlichen Personen und mehr noch die kirchlichen Würdenträger gleichsam untertänige Verwalter und Amtsträger, entspricht die Exkommunikation dem Bann, entspricht die Lehre von der Heiligen Schrift und vom Wort Gottes der Lehre von den Gesetzen und ihrer Auslegung, entspricht die Lehre vom Kanon der heiligen Bücher derjenigen von der Echtheit der Gesetze, ist die Lehre von den grundlegenden Irrtümern gewissermaßen eine von den Kapitalverbrechen, entspricht die Lehre vom letzten Gericht, vom jüngsten Tag und von der dort wirkenden Genugtuung Christi derjenigen vom gerichtlichen Prozeß, seinem Termin und der Abzahlung für einen anderen, entspricht die Lehre von der Vergebung der Sünden derjenigen vom Begnadigungsrecht, die von der ewigen Verdammnis derjenigen von der Todesstrafe bzw. von der ewigen Kerkerstrafe, die dem Tod gleichkommt. Kurz, fast die ganze Theologie hängt großenteils an der Jurisprudenz.¹³ Wie oft findet sich beim heiligen Paulus die Erwähnung des Testamentes, der Erbschaft, der Knechtschaft und der Adoption ! Mit der Erklärung des Begriffs »Testament« wird ein Großteil des Abendmahlstreites zwischen den Theologen des Augsburger Bekenntnisses und den Reformierten zugebracht.¹⁴ In der Tat hat Fausto Sozzini allen anderen erstaunlich viele Probleme aufgeladen, weil er von der Jurisprudenz aus zur Theologie kam.¹⁵ Deshalb konnte er nicht besser widerlegt werden als von jenem Manne, der die Jurisprudenz und die Theologie gleichermaßen durchwandert hatte, nämlich vom unvergleichlichen Hugo Grotius im Buch Über die Genugtuung Christi.¹⁶ Die Schlupfwinkel aber, die Sozzinis Schüler im juristischen Begriff der Mündlichen Quittung suchten, hat der hochberühmte Zimmermann in seiner speziellen Abhandlung überprüft.¹⁷ Ob und wie weit in Glaubensangelegenheiten eine Vorschrift bindend gelten mag, hat jüngst das vortreffliche Brüderpaar Walenburch erörtert.¹⁸ In anderem Sinne hatte der hochberühmte Hülsemann, Theologe des Augsburger Bekenntnisses, in seinem ebenfalls besonderen Traktat Über die Vorschrift

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tanta in Theologia Juridicarum controversiarum seges est, ut inter PíÝêäïôá egregii Dorschaei posthumum opus Jurisprudentiae Theologicae titulo restet. §. 6. Jurisprudentia Didactica, Elementorum nomine non ineptè appellabitur ad imitationem Elementorum Euclidis, quem in titulis suorum librorum Th. Hobbes Elementis de Cive et Corpore, ac Joh. à Felde, et Sam. Pufendorf Elementis Jurisprudentiae secuti sunt. Elementa duobus absolvuntur: Explicatione terminorum seu Definitionibus, quibus respondet titulus de verb. sign., et propositionibus seu praeceptis, quò pertinet titulus de reg. jur. §. 7. Definitiones seu explicationes terminorum juridicorum peculiari libello tradendae sunt, nullis admixtis praeceptis seu regulis; hic possit appellari: Partitiones Juris. Methodus ejus non sit Alphabetica, sed accurata et solida. Mirum enim quàm in Methodo solida et naturali res rem explicet, et memoria juvetur. Quam in rem commodissimae sunt Tabellae, quarum ope licet uno obtutu primùm in generali tabula totam scientiae velut geographicam mappam, deinde verò speciatim singulas quasi provincias lustrare. Hae Veteribus incognitae, à Petro Ramo ejusque discipulis primùm celebratae sunt: Magnam quoque in illis diligentiam posuit Theodorus Zwingerus in Ethicis Politicisque, et in Jure Joh. Th. Freigius; hos innumerabilium aliorum caterva secuta est, sed vix assecuta quod optamus, Methodum, inquam, naturalem. Nam, ut rectè Petro Ramo Ramistisque objecit incomparabilis Verulamius, effecêre illi anxietate dichotomiarum, ut rem coangustarent magis quàm com-

11 juridicorum ] korrigiert aus judicorum nach A VI 2, 522

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diese Frage angegangen.¹⁹ Kurz, in der Theologie ist das Feld für juristische Streitigkeiten so groß, daß unter den unveröffentlichten Schriften des hervorragenden Dorsche noch ein Nachlaßwerk mit dem Titel Theologische Rechtslehre übrig ist.²⁰ § 6. Die didaktische Jurisprudenz wird man in Anlehnung an die »Elemente« des Euklid²¹ nicht schlecht »Elemente« nennen. Befolgt haben dies bei ihren Buchtiteln Th. Hobbes in seinen Elementen vom Bürger und vom Körper,²² Joh. von Felden ²³ und Sam. Pufendorf ²⁴ in ihren Elementen der Jurisprudenz. Elemente faßt man in zwei Teile: in die Erläuterung der Begriffe, d. h. Definitionen, denen das Kapitel Von der Bedeutung der Begriffe entspricht,²⁵ und in die Sätze, d. h. Vorschriften, wozu das Kapitel Von den Regeln des [alten] Rechts gehört.²⁶ § 7. Die Definitionen, d. h. die Erklärungen der juristischen Begriffe, sind in einem besonderen Büchlein zu behandeln, ohne daß ihnen Vorschriften oder Regeln beigemischt werden ;²⁷ es kann Einteilungen des Rechts genannt werden. Seine Verfahrensweise soll nicht alphabetisch sein, sondern genau und gründlich. Denn es ist erstaunlich, wie durch eine gründliche und natürliche Methode eine Sache die andere erklärt und das Gedächtnis unterstützt wird. In dieser Angelegenheit sind besonders Tabellen bequem, mit deren Hilfe man auf einen Blick zunächst mit einer allgemeinen Tafel gleichsam die ganze geographische Karte der Wissenschaft, später aber insbesondere gleichsam ihre einzelnen Provinzen durchwandern kann. Solche Tabellen, die den Alten unbekannt waren, sind zuerst von Petrus Ramus und seinen Schülern eifrig benutzt worden.²⁸ Große Sorgfalt bei solchen Tabellen haben auch Theodor Zwinger in der Ethik und Politik²⁹ sowie Joh. Th. Freigius im Recht³⁰ an den Tag gelegt. Ihnen ist eine Schar zahlloser anderer gefolgt, aber sie hat kaum das erreicht, was wir wünschen: eine, wiegesagt, natürliche Methode. Denn wie der unvergleichliche Bacon von Verulam dem Petrus Ramus und den Ramisten zu Recht entgegenhielt,³¹ haben diese durch die ängstliche Sorgfalt ihrer Zweiteilungen lediglich erreicht, daß die Sache mehr eingeengt als ergriffen wurde und ihnen zwischendurch wie ein Aal

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prehenderent, quae intereà velut anguilla elabebatur, aut pro grano proprietatum inutiles divisionum paleas relinquebat. §. 8. Cùm verò docendae Jurisprudentiae Methodus, comprehendat et Methodum disponendae, videamus quas varii vias iniverint. Juris enim in artem redigendi vetus admodum cura est, quam et Cicero olim Gellio teste agitavit. Deinde in eandem curam incubuêre Jurisconsulti veteres, neque enim tantùm confusos Quaestionum et Responsionum libros, sed et Digesta, vel ipso nominis indicio ordinata, et Institutiones confecêre. Sed quia eorum Scripta et mutilata et discerpta sunt, licet tantùm ex Inscriptionibus Legum Justinianearum nonnulla divinare. Tribonianus aliam in Institutis, aliam in Digestis et Codice Methodum tenuit. Illic enim tria Juris objecta constituit, personas, res et actiones, ut Personarum capite explicuit potestatem Patriam, Dominicam, Nuptias, Tutelam, Curam, omnem nempe potestatem in ipsas immediatè personas sine rerum interventu. Alterum caput est quoties res interveniunt, et vel principaliter, ut non certa persona propriè teneatur, sed certa res, ubicunque inveniri possit, quod est Jus in re, aut inter vivos, hinc Dominium, Servitus, Ususfructus, Usus, Habitatio; aut ex Successione, hîc Haereditas ab intestato vel ex Testamento, Legatum, Fideicommissum, etc. Vel res interveniunt minus principaliter, ita ut teneatur certa persona, non verò certa res, tum dicitur Jus ad rem. Jus ad rem est vel ex contractu vel quasi; vel ex delicto vel quasi. Ad tertium caput Actionum pertinent, et Excep-

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entschlüpfte bzw. daß sie ihnen anstelle eines Körnchen Eigentums eine unfruchtbare Spreu von Unterteilungen übrig ließ. § 8. Weil aber das Verfahren, die Jurisprudenz zu lehren, auch das Verfahren sie anzuordnen einschließt, wollen wir betrachten, welche Wege verschiedene Leute eingeschlagen haben. Denn das Bemühen, das Recht in eine wissenschaftliche Kunst zu verwandeln, ist uralt; es hat auch schon Cicero nach dem Zeugnis des Gellius beschäftigt.³² Später haben sich auch die alten Rechtsgelehrten fleißig um diese Aufgabe bemüht, denn sie verfaßten nicht nur die in Verwirrung geratenen Bücher der Streitfragen und Antworten, sondern auch die Digesten bzw. das, was unter diesem Namen zusammengestellt ist, sowie die Institutionen. Weil ihre Schriften aber verstümmelt und zerstückelt sind,³³ können wir nur einiges aus den Überschriften der Justinianischen Gesetze erschließen.³⁴. Tribonian verfolgte in den Institutionen eine andere Methode als in den Digesten und im Kodex.³⁵ In den Institutionen hat er drei Rechtsobjekte angesetzt: Personen, Sachen und Rechtsgeschäfte.³⁶ So hat er im Personenkapitel die väterliche, hausherrschaftliche und eheliche Rechtsgewalt sowie die Vormunds- und Sorgevollmacht aufgelistet, nämlich alle Rechtsgewalt unmittelbar gegenüber Personen, wobei die Befugnis an Sachen ganz ausgespart ist. Das zweite Kapitel enthält alle diejenigen Fälle, wo Sachen ins Spiel kommen. Und zwar geschieht dies zum einen grundsätzlich, so daß nicht eine bestimmte Person im eigentlichen Sinne gehalten ist, sondern eine bestimmte Sache, wo immer dies bewerkstelligt werden kann; dies ist das sogenannte Recht an einer Sache, entweder zwischen Lebenden, wovon sich Hausherrschaft, Knechtschaft, Nießbrauch, gelegentliche und gewohnheitliche Nutzung ableiten, oder aufgrund der Rechtsnachfolge, wozu Erbschaft mit oder ohne Testament, Vermächtnis, Treuhänderschaft usw. gehören. Zum andern kommen Sachen auf eine weniger grundsätzliche Weise ins Spiel, so daß eine bestimmte Person gehalten ist, nicht aber eine bestimmte Sache; dann heißt es Recht auf eine Sache.³⁷ Ein Recht auf die Sache ergibt sich aus einem Vertrag oder ähnlichem bzw. geht auf Delikte oder ähnliches zurück. Zum dritten Kapitel, dem von den Rechts-

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tiones, Replicationes, totusque processus, et denique Judicis Officium. In Digestis verò ac Codice meras solasque Actiones ordine Edicti perpetui Tribonianus recensuit, cùm duobus propè titulis, tantùm de personis rebusque quiddam praelibâsset. §. 9. Jurisconsulti medii aevi nunquam ipsi de Arte Juris vel per somnium cogitârunt, satis habentes, si Leges Glossis, Judices Consiliis obruerent. Quemadmodum igitur Theologi illorum temporum ad Sententias et Thomam, Philosophi ad Summulas et Aristotelem, ita ipsi ad Juris Corpus sua allinebant. Quin imò videntur pro certo habuisse, Methodo Legum semper esse utendum, quasi eae et in Logicam exercerent imperium. Idque et cultissimo hoc aevo nonnullis insignibus viris placuit. Aegidius Mommerius in Dissertatione de Studio Juris negat alios haberi debere Locos Communes, quàm Leges, aliam Methodum, quàm Legum, solas illas in numerato habendas, caetera negligenda. Meierus quoque Collegii Argentoratensis Director in Praefatione obliquè illis irascitur, qui suam Methodum audent Imperatoriae praeferre. Et Antonius Matthaei in Collegio Fundamentorum Juris, ex professo disputat, novam Juris Methodum inutiliter, imò damnosè hoc rerum statu concipi. Fateri sese, Justinianeam optimam non esse; sed quid si, inquit, nec tua sit; fateri, optandum, ut aliud publicâ autoritate Juris corpus extet: Nunc verò quamdiu ad hoc recurrendum sit, novae Methodi

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geschäften, gehören Einsprüche, Wiederaufnahmen, das ganze Prozeßwesen und schließlich das richterliche Amt. In den Digesten und im Kodex dagegen durchmusterte Tribonian einzig und allein die Rechtsgeschäfte in der Reihenfolge der Jahresedikte, während er von den beiden Kapiteln bloß einige Kostproben in bezug auf Personen und Sachen lieferte.³⁸ § 9. Die Rechtsgelehrten des Mittelalters haben nicht einmal im Traum an eine wissenschaftliche Kunst des Rechts gedacht. Sie benügten sich damit, die Gesetze mit Anmerkungen und die Richter mit Ratschlägen zu überhäufen. Wie also die Theologen jener Zeit zu den Sentenzen und zu ihrem Thomas, und wie die Philosophen zu ihren Sümmchen und ihrem Aristoteles, so fügten auch die Rechtsgelehrten zum Rechtskorpus ihre eigenen Zutaten hinzu.³⁹ Ja, sie hielten es sogar für eine ausgemachte Sache, daß der Gesetzesstil auf alles zu übertragen sei, und übten gleichsam ihre Befehlsgewalt auch auf die Logik aus. Dies findet sogar noch in unserem hochkultivierten Zeitalter Zustimmung bei manchen ausgezeichneten Leuten. Ägidius Mommer behauptet in seiner Abhandlung Über das Rechtsstudium ,⁴⁰ man dürfe keine anderen Argumentationsschemata⁴¹ anerkennen als Gesetze und keine andere Methode als die der Gesetze; diese allein seien hochzuhalten, während man alles andere vergessen könne. Auch Meier, der Direktor des Straßburgischen Collegiums, regt sich in der Vorrede seines Werkes⁴² nur halb versteckt über diejenigen auf, die es wagen, ihren eigenen Weg seiner kaiserlichen Prachtstraße vorzuziehen. Auch Antonius Matthaeus argumentiert im Kollegium der Rechtsfundamente ⁴³ unumwunden, es sei unnütz, ja bei dem heutigen Stand der Dinge sogar schädlich, eine neue Rechtsmethodik zu entwerfen. Er gebe zwar zu, daß die Justinianische Methode nicht die beste sei, fragt aber: Was nützt es, wenn auch deine nicht die beste ist ? Es sei zugegebenermaßen wünschenswert, daß ein anderes Rechtskorpus mit staatlicher Autorität verfaßt werde; zum jetzigen Zeitpunkt aber, solange man auf das bestehende zurückgreifen müsse, werde die Arbeit durch die Erfindung einer neuen Methode nur aufs Doppelte anwachsen, weil man dann außer der

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commento laborem in duplum crescere, quia praeter Justinianeam nova quoque Methodus memoriae imprimi debeat. §. 10. Sed nos contrà Methodi Justinianeae vitia, novae utilitatem explicabimus. Primùm in ipsa Methodo Justinianea labor crescit in duplum, dum alia est Institutionum, alia Digestorum Codicisque Methodus. Institutionum Methodus per personas, res et actiones primùm superflua est, actiones enim tàm ex jure personarum, quàm rerum descendunt, et ipsae personae, v. g. servi et filii familias habentur pro rebus, datur enim non minus servi quàm equi vindicatio. Et in filios familias etiam est dominium, sed certis à Republica modis restrictum. Et ut breviter dicam, est haec Methodus non ex Juris sed Facti visceribus sumpta. Personae enim et Res sunt Facti, Potestas et Obligatio, etc. Juris termini. Et si semel Methodum Facti eligere voluit, cur non continuavit, cur non subdivisit personas et res ex Physicis et Ethicis, v. g. Personas in surdos, mutos, coecos, hermaphroditos, perfectos, viros, foeminas, impuberes, minores, adultos, divites, pauperes, nobiles, magistratus, rusticos, peregrinos, haereticos, schismaticos, etc., Res: in dividuas, individuas, pretiosas, viles, mobiles, immobiles, se moventes, thesauros, nummos, res fungibiles, quadrupedes, equos, feras, etc. Cur, inquam, non ita Titulos Juris distribuit, et in singulis quid Juris esset, explicuit ? Agnovit scilicet hac ratione secuturas infinitas repetitiones, nec posse rem ad universalia redigi. Perinde ac si

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Justinianischen auch noch die neue Methode dem Gedächtnis einprägen müsse. § 10. Wir dagegen werden im Gegenteil die Mängel der Justinianischen Methode und den Nutzen der neuen herausstellen. Zunächst einmal ist es die Justinianische Methode, bei der die Arbeit auf das Doppelte anwächst, solange sich in den Institutionen eine andere Methode findet als in den Digesten und im Kodex. Die Methode der Institutionen durch Personen, Sachen und Rechtsgeschäfte hindurch ist zunächst überflüssig, denn Rechtsgeschäfte leiten sich ebenso aus dem Personenrecht wie aus dem Sachenrecht ab. Auch werden Personen selbst, z. B. Sklaven und Söhne der Familie, als Sachen angesehen, weil ein Anspruchsrecht nicht weniger für einen Sklaven als für ein Pferd eingeräumt wird. Auch gegenüber den Söhnen der Familie gibt es ein Eigentumsrecht, allerdings unter staatlich bestimmten Einschränkungen. Ferner ist, um mich kurz zu fassen, die Justinianische Methode aus dem innersten Bereich des Tatsächlichen, nicht aber des Rechts geschöpft. Personen und Sachen sind nämlich Tatsachenbegriffe, während Rechtsgewalt, Verpflichtung usw. Rechtsbegriffe sind.⁴⁴. Und wenn man einmal die Methode der Einteilung nach Tatsachen hat einschlagen wollen, warum hat man sie dann nicht konsequent weitergeführt ? Warum hat man nicht Personen und Sachen nach der Physik und nach der Ethik aufgeteilt: die Personen z. B. in Taube, Stumme und Blinde, Zwitter und Normale, Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Reiche und Arme, Adelige und Staatsdiener, Bauern und Fahrende, Häretiker und Schismatiker usw.; die Sachen z. B. in teilbare und unteilbare, kostbare und billige, bewegliche, unbewegliche und sich selbst bewegende, Schätze, Münzen und Geräte, Vierfüßer, Pferde und Wildtiere usw. ? Warum, so frage ich, hat man nicht gleich die Kapitel im Rechtskorpus in dieser Weise eingeteilt und im einzelnen ausgeführt, was hiernach Rechtens wäre ? Gewiß deshalb, weil man voraussah, daß diese Art der Ordnung unendliche Wiederholungen zur Folge hätte und die Sache dann nicht mehr auf allgemeine Begriffe zurückgeführt werden könnte. Dies wäre

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Geodaeta non formae sed materiae ratione doctrinam suam partiretur, et ageret de dimensione agrorum, pascuorum, camporum arenosorum, argillosorum, saxosorum. Quis non hunc novum Euclidem rideret ? Ita igitur Jurisprudentiae divisio à concreto sumpta, omnis confusionis principium est, et ad eos potius pertinet, qui vel tractatus vel indices scribunt, hi possunt ex variis Titulis colligere Jura foeminarum, mutorum, surdorum, etc. Illud quoque negari non potest, Methodum legum hodierno aevo planè non esse accommodatam: Nullibi Jura Ecclesiastica, nullibi feudalia, nullibi materia concursus creditorum commodè inseritur. In Digestis certè et Codice perpetua ordinis causa est veteris Juris ratio, quae tantùm ad hodiernam, quantum sus ad Minervam. §. 11. Methodus verò nova incredibilia commoda afferet, si accurata erit; ita enim primum mirabile orietur compendium discendorum, dum generalibus regulis infinitae speciales simul discentur, et praemissis generibus gradatim descendetur ad species, dicenturque ea tantùm, quae nudâ generalium subsumptione non constant. Nam ut rectè animadvertit Feldenus in Praefatione Elementorum quid opus est specialiter inculcare, Minorem indigere Curatore, alio loco furiosum, alio absentem: Cùm generalis regula sit, ex ipsis Politicae principiis manifesta: Qui negotiis suis ipse praeesse non possit, eum indigere Curatore. Deinde Memoria ipsâ illâ natura-

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genauso absurd, wie wenn der Landvermesser seine Wissenschaft nicht nach dem Gesichtspunkt der Form, sondern nach dem der Materie einteilte und sie getrennt nach der Ausmessung von Äkkern, Weiden und Feldern, und hier vielleicht noch von sandigen, tonigen und steinigen abhandelte. Wer würde nicht lachen über einen solchen neuen Euklid ? Folglich ist eine entsprechende Einteilung der Jurisprudenz, die vom Konkreten her genommen ist, der Anfang aller Verwirrung und sollte besser denen überlassen bleiben, die Traktate und Register schreiben. Diese können sich dann aus den unterschiedlichsten Kapiteln ihre Rechte für die Frauen, die Stummen, die Tauben usw. zusammensuchen. Ebenfalls nicht gut zu leugnen ist die Tatsache, daß die Methode der Gesetze der heutigen Zeit nicht angepaßt ist. Nirgendwo werden die kirchlichen Rechte, nirgendwo die feudalen Rechte und nirgendwo die Rechtsansprüche der Gläubiger beim Konkurs in angemessener Weise eingefügt. In den Digesten und im Kodex ist das durchgängige Ordnungsprinzip gewiß die Einteilungsart des alten Rechts, die für eine moderne Methode genauso belehrend ist wie die Sau für Minerva. § 11. Eine neue Methode dagegen wird uns unglaubliche Vorteile bringen, wenn sie nur genau sein wird. Auf diese Weise nämlich wird erstens ein bewundernswerter Leitfaden für die Lernstoffe entstehen, mit dem man an den allgemeinen Regeln die unendlichen Sonderfälle auf einen Schlag lernt und dann von den vorausgeschickten Gattungsbegriffen schrittweise zu den Artbegriffen hinabsteigt. Und hier soll nur das aufgeführt werden, was nicht in einer bloßen Subsumtion unter die allgemeinen Regeln besteht. Denn von Felden bemerkt in der Vorrede zu seinen Elementen richtig: Wozu ist es nötig, sich besonders einzuprägen, daß hier der Minderjährige und da der Wahnsinnige und dort der Abwesende einen rechtlichen Stellvertreter braucht, wo doch schon aus den eigensten Prinzipien der Politik die allgemeine Regel einleuchtet, daß einen rechtlichen Stellvertreter braucht, wer seine Pflichten nicht bewußt selbst wahrnehmen kann ? Zweitens wird das Gedächtnis durch eben jene höchst natürliche Verbindung der aus

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lissimâ rerum ex se fluentium connexione summoperè juvabitur, si nempe ex terminis in generis definitione positis, seu ex ipsa generis differentia sumantur differentiae specierum sibi contradistinctae. Denique cùm accurata methodus non esse possit sine accuratis terminorum definitionibus (definitio enim generis velut clavis est differentiarum species constituentium), imbibetur eâdem operâ solida Juris cognitio, et via patebit per rationes universales casus in Jure indecisos determinandi. Ut ita tàm memoriam, quàm judicium appareat à Methodi perfectione pendere. §. 12. Antonii Matthaei emplastra, causae desperatae non medebuntur. Fatetur Tribonianeos Methodi lapsus, ergò fatebitur, optandam meliorem, breviter: Novum Juris Corpus. Quid igitur Methodos aversatur, si nihil aliud saltem Novi Corporis óêéáãñáößáò ? Quod de duplicato labore argutatur, nihil est, nam Methodum naturalem discere, non est labor; imò dum rerum accuratae definitiones percipiuntur, eâdem operâ Methodus perfecta aliud agendo hauritur. Erit verò illa velut Index Corporis Justinianei, decebitque ad marginem loca Legum correspondentia allegari. §. 13. Methodum Juris varii variè iniêre; omnes non persequar, non Corasium, aut Matth. Stephani, Dissert. de Arte Juris, non Hug. Donelli in Com. Methodum, non Chopium de Vera Philosophia Juris, non Hopperi Seduardum, non Martini Del-Rio Prin-

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sich selbst fließenden Inhalte am kräftigsten unterstützt werden, wenn nämlich aus eben jenen Begriffen, die zur Definition des Gattungsbegriffs verwendet wurden, bzw. aus der Gattungsdifferenz selbst, auch die Unterschiede der einander entgegengesetzten Artbegriffe hergenommen werden. Drittens wird man sich, da es keine genaue Methode ohne genaue Begriffsdefinitionen geben kann (die Definition der Gattung ist nämlich gleichsam der Schlüssel zu den artbildenden Unterschieden), mit derselben Leichtigkeit in eine grundlegende Erkenntnis des Rechts hineinarbeiten können.⁴⁵ Auch wird sich damit ein Weg auftun, um vermittels der allgemeinen Gründe die noch unentschiedenen Rechtsfälle zur Entscheidung zu bringen. Und somit hängt das Gedächnis wie auch die Urteilsbildung offenkundig von der Vervollkommnung der Methode ab. § 12. Die Pflaster des Antonius Matthaeus werden den hoffnungslosen Fall jedenfalls nicht heilen. Räumt er doch die Fehler der Tribonianischen Methode ein. Folglich wird er zugeben müssen, daß eine bessere Methode, kurz ein neues Rechtskorpus zu wünschen ist. Was weist er also die Methoden zurück, wenn er damit doch nichts Geringeres zurückweist als zumindest den Schattenriß eines neuen Rechtskorpus ? Sein Argument von der Verdopplung der Arbeit besagt gar nichts, denn es macht keine Mühe, eine natürliche Methode zu lernen. Im Gegenteil, indem man genaue Definitionen der Sachverhalte aufnimmt, verinnerlicht man im selben Arbeitsgang die vollkommene Methode, indem man anderes lernt. Diese vollkommene Methode aber wird geradezu das Inhaltsverzeichnis zum Justinianischen Rechtskorpus bilden, und es wird sinnvoll sein, dessen entsprechende Gesetzesstellen am Rand zu kennzeichnen. § 13. Jeder hat auf seine Weise eine Methodik des Rechtes angefangen; ich will nicht alle durchgehen, nicht de Coras ⁴⁶ bzw. Matth. Stephanis Erörterungen Über die wissenschaftliche Kunst des Rechts ,⁴⁷ nicht Hug. Donellis Methode in seinem Kommentar ,⁴⁸. nicht Chopius’ Über die wahre Philosophie des Rechts,⁴⁹ nicht den Seduardus von Hopper,⁵⁰ nicht Über die Prinzipien des Rechts von

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cipia, non illum Sulsbaci, curâ Junioris Helmontii, nuper Latinè Germanicèque recusum Octavii Pisani egregium Lycurgum, non quae Feldenus, aut Pufendorfferus, aut Rich. Zucchaeus laudabiliter tentavêre, non Grotii ordinem, Cl. Thomasii judicio si non optimum, certè nec pessimum; facilius enim carpere quàm emendare. Saltem de Joh. Althusio et Herm. Vultejo admonebimus, quorum ille in Dicaeologia, hic in Jurisprudentia Romana, Jus in Artem redigere non verbis solùm, sed facto tentavit. Verum uterque, quod in Methodo Tribonianea desiderabam, Factum Juri miscuit. Nam Althusii prima haec statim divisio est, Jurisprudentiam esse duplicem, aliam de Facto, aliam de Jure. Quasi verò Jurisprudentiae sit, de Facto agere, aut quasi detur Jurisprudentiae species, quae de Jure non agat. Vultejus verò inter alia in eo displicet, quòd obligationem referat ad Jus personarum, tanquam contradistinctum Juri rerum, cùm tamen, ut infrà ostendemus, in ipso Jure rerum intercedat personae possidentis obligatio ex Facto ejus tanquam quasi contractu, possessione nempe, orta, quâ tenetur ad restituendum. Caetera particularius non persequemur.

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[2.] §. 13 [a]. Sed quia de aliis judicium nobis sumsimus, eandem in nos potestatem publicatione nostrarum meditationum faciemus. Demus igitur operam, ut solidam methodum ex ipsis rerum de-

20 §. 13[a] ] korrigiert aus §. 14 nach A VI 2, 523

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Martin Del Rio, ⁵¹ auch nicht jenen hervorragenden Lykurg des Ottavio Pisani, der vor kurzem in Sulzbach unter der Leitung des jüngeren van Helmont lateinisch und deutsch herausgegeben wurde,⁵². nicht das, was von Felden,⁵³ Pufendorf ⁵⁴ oder Richard Zucchaeus ⁵⁵. löblich unternommen haben, und auch nicht die systematische Ordnung des Grotius,⁵⁶ die nach dem Urteil des hochberühmten Thomasius wenn schon nicht die beste, so doch gewiß nicht die schlechteste ist; ist es doch ohnehin leichter zu beckmessern, als zu verbessern. Wenigstens an Joh. Althusius und Herm. Vultejus müssen wir erinnern, von denen der erste in seiner Rechtslehre,⁵⁷ der zweite in seiner Römischen Jurisprudenz ⁵⁸ nicht nur mit Ankündigungen, sondern in der Ausführung das Recht in eine wissenschaftliche Kunst zu bringen versucht hat. In Wahrheit aber haben beide das Tatsächliche mit dem Rechtlichen vermischt, was ich oben an der Tribonianischen Methode bemängelt habe. Denn gleich die erste Begriffseinteilung bei Althusius besagt, die Jurisprudenz untergliedere sich in einen Teil, der die Tatsächlichkeit, und einen anderen Teil, der die Rechtmäßigkeit behandelt. Als ob es aber die Aufgabe der Jurisprudenz sei, Tatsachen zu behandeln ! Oder als ob es eine Abteilung der Jurisprudenz gäbe, die nicht vom Recht handelte ! Vultejus aber erzeugt unter anderem damit Mißbehagen, daß er die Verpflichtung in das Personenrecht aufnimmt, das dem Sachenrecht gleichsam gegenübersteht, obwohl doch, wie wir unten zeigen werden, gerade im Sachenrecht die Verpflichtung der besitzenden Person aufgrund der bloßen Sachlage ins Spiel kommt, als ob sie einen Vertrag geschlossen hätte, der sie zur Rückerstattung verpflichtet, weil sich nämlich wieder Besitz gebildet hat. Das Weitere werden wir nicht noch weiter ins einzelne verfolgen.

[2. Die Elemente und Quellen des reinen Rechts ] § 13[a]. Doch weil wir uns über die anderen ein Urteil angemaßt haben, werden wir durch Veröffentlichung unserer eigenen Überlegungen anderen dasselbe gegen uns erlauben.⁵⁹ Wir wollen

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finitionibus eruamus. Jurisprudentia est scientia actionum quatenus justae vel injustae dicuntur. Justum autem atque injustum est, quicquid publicè utile vel damnosum est. Publicè, id est, primùm Mundo, seu Rectori ejus Deo, deinde Generi Humano, denique Reipublicae: Hac subordinatione, ut in casu pugnantiae, voluntas, seu utilitas Dei, si ita loqui licet, praeferatur utilitati Generis Humani, et haec utilitati Reipublicae, et haec propriae. Hinc Jurisprudentia Divina, Humana, Civilis. De propria autem utilitate dicere, non Jurisprudentiae, sed Politicae est. §. 14 Moralitas autem, seu Justitia, vel Injustitia actionis oritur, ex qualitate personae agentis in ordine ad actionem, ex actionibus praecedentibus ortâ, quae dicitur: Qualitas moralis. Ut autem Qualitas realis in ordine ad actionem duplex est: Potentia agendi, et necessitas agendi; ita potentia moralis dicitur Jus, necessitas moralis dicitur Obligatio. §. 15. Subjectum qualitatis moralis est Persona et Res. Persona est substantia rationalis, eaque vel naturalis vel civilis. Naturalis DEUS , Angelus, homo. Sed DEUS est subjectum Juris summi in omnia, nullius verò Obligationis. Persona Civilis est Collegium, quod quia habet unam voluntatem certo signo dignoscibilem v. g. ex pluralitate votorum, sorte etc., ideò obligare et obligari potest. Res quoque subjectum juris est et obligationis, v. g. si officio aliquid legetur, jus erit apud omnes successores; si quis in officio exi-

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actionum ] korrigiert aus acitonum nach A VI 2, 523 §. 14 ] korrigiert aus §. 14[a] nach A VI 2, 523 agentis ] korrigiert aus agent is nach A VI 2, 523 dicitur ] korrigiert aus d citur nach A VI 2, 523 moralis ] korrigiert aus moiralis nach A VI 2, 523

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uns also Mühe geben, eine zuverlässige Methode gerade aus den Definitionen der Dinge zu ermitteln.⁶⁰ Jurisprudenz ist die Wissenschaft von den Handlungen, sofern sie gerecht oder ungerecht genannt werden.⁶¹ Gerecht bzw. ungerecht ist aber alles, was von öffentlichem Nutzen bzw. Schaden ist.⁶² Öffentlich heißt zunächst für die Welt oder ihren Lenker, Gott, dann für das Menschengeschlecht und schließlich für den Staat. Durch diese Unterordnung ergibt sich, daß im Streitfall der Wille oder, wenn man es so nennen darf, der Nutzen Gottes dem Nutzen des Menschengeschlechts vorgezogen wird, dieser dem Nutzen des Staates und dieser wiederum dem Eigennutz. Hieraus entspringen die göttliche, die menschliche und die bürgerliche Jurisprudenz.⁶³ Vom Eigennutz zu handeln ist jedoch nicht Aufgabe der Jurisprudenz, sondern der Politik.⁶⁴ § 14. Die Moralität aber, d. h. die Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit der Handlung, ergibt sich aus jener Qualität einer handelnden Person im Hinblick auf die Handlung, die sich wiederum aus den vorhergehenden Handlungen ergeben hat. Sie wird moralische Qualität genannt.⁶⁵ Wie es aber eine zweifache reale Qualität im Hinblick auf die Wirkung gibt, nämlich die Möglichkeit und die Notwendigkeit zu wirken, so wird entsprechend die moralische Möglichkeit Berechtigung genannt und die moralische Notwendigkeit Verpflichtung.⁶⁶ § 15. Träger der moralischen Qualität sind Person und Sache.⁶⁷. Person heißt eine vernunftbegabte Substanz, und sie ist entweder eine natürliche oder eine bürgerliche Person. Natürliche Personen sind Gott , Engel und Mensch. Gott ist jedoch der Träger des höchsten Rechts auf alles,⁶⁸ nicht aber Träger irgendeiner Verpflichtung. Eine bürgerliche Person ist etwa ein Kollegium, welches gerade deshalb verpflichten und verpflichtet werden kann, weil es einen einzigen Willen hat, der durch ein bestimmtes Zeichen erkennbar ist, z. B. durch Mehrheit der Stimmen, durch Losverfahren usw. Eine Sache ist ebenfalls Träger von Berechtigung und Verpflichtung. Wenn z. B. im Rahmen eines Dienstes etwas verfügt wird, so wird das Recht bei allen Nachfolgern liegen. Wenn

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stens, quâ talis est, alicui damnum det, ipsum officium tenebitur, transibitque in successores obligatio. Ita si equo aliquid legetur, v. g. phalerae, dubitandum non est, ad dominum equi, alienato equo, rem transire, idem de servo juris est, qui ipse non pro persona habendus, sed re. In omni verò jure reali res est subjectum obligationis. Porrò ad subjectum pertinet tota Successionum materia. Quia Successio est motus Juris vel obligationis de subjecto in subjectum. Tractandum et hîc de iis quae pluribus communia sunt. §. 16. Objectum Juris et Obligationis est corpus subjecti, res, persona tertii. Jus in corpus meum tanquam subjecti dicitur Libertas, Jus in rem dicitur Facultas, et habet species: Dominium directum in rei materiam, utile seu Jus utendi fruendi in formam, Jus servitutis in partes formae seu qualitates, Jus retinendi, usucapiendi Conditionem, et alia Jura realia. Jus in personam dicitur Potestas, et multis modis variat, interdum vitae et necis, interdum castigationis, interdum increpationis, etc. Obligatio est, ne alterius Libertas, Facultas, Potestasque impediatur. Quae impeditio dicitur Injuria. Et obligatio ne potestas alterius in me impediatur est positiva, qua teneor aliquid facere vel pati, et dicitur êáôE dîï÷xí obligatio, caeterae obligationes, ne alterius libertatem impediam, vel arripiam rem, sunt magis privativae. Objectum porro Juris mei est quicquid

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jemand, der in einem Dienstverhältnis steht, in dieser Funktion jemandem einen Schaden zufügt, so wird der Dienst selbst verbindlich gemacht, und die Verpflichtung geht auf die Nachfolger über. So ist nicht zu bezweifeln, daß, wenn einem Pferd etwas vermacht wird, z. B. Schmuckzaum, nach der Veräußerung des Pferdes die Sache auf den Herrn des Pferdes übergeht. Dasselbe ist beim Sklaven Rechtens, der ja nicht als Person, sondern als Sache anzusehen ist. Bei allem dinglichen Recht aber ist die Sache auch der Träger der Verpflichtung. Ferner gehört der ganze Rechtsstoff der Nachfolge zum Träger. Denn die Nachfolge ist die Bewegung einer Berechtigung oder Verpflichtung von einem Träger auf einen anderen. Abzuhandeln sind hier ebenfalls die Dinge, die mehreren Trägern gemeinschaftlich gehören. § 16. Gegenstand von Berechtigung und Verpflichtung sind der Körper eines Trägers, eine Sache und eine dritte Person. Das Recht auf meinen Körper, dessen Träger ich gleichsam bin, heißt Freiheit.⁶⁹ Das Recht auf eine Sache heißt Befugnis und hat folgende Arten: die direkte Herrschaft über die Materie einer Sache; die nützliche Herrschaft, d. h. das Recht des Nutzens und Nießbrauchs auf eine Form; das Recht der Dienstbarkeit auf Teile einer Form, d. h. auf Qualitäten der Sache; das Recht der Rückbehaltung und das der Ersitzung sowie andere dingliche Rechte. Das Recht gegenüber einer Person heißt Rechtsgewalt und wandelt sich auf vielfache Weise: Es ist zum einen das Recht über Leben und Tod, zum anderen das Recht zum Züchtigen, aber auch zum Schelten usw. Umgekehrt besteht die Verpflichtung, nicht die Freiheit, die Befugnis und die Rechtsgewalt eines anderen zu behindern. Diese Behinderung heißt Rechtsverletzung. Und die Verpflichtung, die Rechtsgewalt eines anderen über mich nicht zu verhindern, heißt positiv; die Verpflichtung, durch die ich gehalten bin, etwas zu tun oder zu dulden, wird auch Verpflichtung schlechthin genannt. Die übrigen Verpflichtungen, nicht die Freiheit eines anderen zu behindern oder mir nicht seine Sache unter den Nagel zu reißen, sind mehr privativ. Gegenstand meines Rechts ist ferner alles, woran mir gelegen ist, und zwar entweder die Sache selbst oder etwas

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mea interest, idque vel ipsummet; vel aequipollens seu aestimatio. Quò pertinent pretia rerum. §. 17. Causa Qualitatis Moralis est Natura et Actio. Natura est causa Libertatis et Facultatis et correspondentis in alio obligationis de non impediendo. Actio est causa potestatis in persona agente, ad aliquid faciendum, vel in seipsa, aut rebus suis patiendum estque vel possessio vel injuria vel conventio. Possessio tribuit Jus Reale primum in corpus meum quia hoc ante omnia possideo, hinc Libertas, deinde in res alias, quae sunt nullius, hinc Facultas. Unde mihi jus oritur rem meam ubi invenio vindicandi: Et alteri obligatio, hoc non impediendi. Injuria in statu merè naturali dat laeso jus libertatis, facultatis potestatisque omnimodae, seu Jus belli in laedentem societatis ruptorem. Sed in rebuspublicis, imò et aequitate duce ita restricta est haec licentia, ut laesus aestimatione debeat esse contentus, reservata Reipublicae poena si damnum consulto datum est. Injuria igitur fons est delictorum et quasi delictorum. Conventio verò promissiones acceptationesque omnes in se continet, quò pertinet doctrina de Verborum Interpretatione, Conditionibus, etc. Quasi contractus verò ad Jus reale pertinent. Multa verò, quae ex his naturae fontibus non videntur descendere, sed ex Lege, illa omnia eo ipso ex eorum uno, nempe ex conventione descendunt, quia populus in Legislatorem compromisit.

14 laesus ] ergänzt nach A VI 2, 535

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Gleichwertiges, d. h. das, was gleich taxiert wird, wozu die Preise der Sachen dienen. § 17. Ursache der moralischen Qualität sind Natur und Handlung.⁷⁰ Die Natur ist die Ursache von Freiheit und Befugnis sowie der entsprechenden Verpflichtung auf seiten des anderen, mich nicht zu behindern.⁷¹ Eine Handlung ist die Ursache einer Rechtsgewalt gegenüber einer handelnden Person, so daß sie etwas tun muß oder an sich selbst bzw. an ihren Sachen etwas zulassen muß. Die Handlung besteht entweder im Besitz oder in der Rechtsverletzung oder in der Übereinkunft. Der Besitz verleiht mir zunächst ein dingliches Recht auf meinen eigenen Körper, weil ich ihn vor allem anderen besitze, woraus sich die Freiheit ergibt. Er verleiht mir sodann ein Recht auf andere Sachen, die sonst keinem gehören, woraus sich die Befugnis ergibt; hieraus erwächst mir das Recht, überall dort, wo ich etwas finde, es als meine Sache zu beanspruchen, sowie einem anderen die Verpflichtung, mich nicht davon abzuhalten. Eine Rechtsverletzung verleiht im bloßen Naturzustand dem Betroffenen ein Recht im Sinne von schlechthinniger Freiheit, Befugnis und Rechtsgewalt, d. h. das Kriegsrecht gegen den Verletzer, der die Gemeinschaft zerreißt.⁷² Im Staat jedoch, ja überhaupt nach dem Billigkeitsprinzip, ist diese Erlaubnis so eingeschränkt, daß der Betroffene mit der Schadenseinschätzung zufrieden sein muß, während die Strafe dem Staat vorbehalten bleibt, falls der Schaden vorsätzlich zugefügt worden ist. Folglich ist die Verletzung von Recht die Quelle strafbarer Vergehen und Quasidelikte. Die Übereinkunft dagegen enthält alles, was versprochen bzw. in Empfang genommen wird; hierhin gehört die Lehre von der Auslegung der strittigen Worte, von den Bedingungen usw. Was den Charakter von Verträgen hat, gehört aber weitgehend zum dinglichen Recht. Allerdings leitet sich vieles, was nicht aus diesen natürlichen⁷³ Quellen, sondern aus dem Gesetz zu fließen scheint, eben doch gänzlich aus einer einzigen von diesen Quellen ab, nämlich aus der Übereinkunft; denn das Volk leistet das wechselseitige Versprechen, die Entscheidung einem Gesetzgeber zu übertragen.⁷⁴

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§. 18. Quare et omnes obligationes publicorum Judiciorum, sive ad poenam corporalem sive pecuniariam tendant, pertinent ad pactorum fontem; promisit enim quilibet subditus Reipublicae se decreta ejus vel universalia, ut Leges; vel singularia, ut sententias; rata habiturum. Decrevit autem Lex ut qui hoc faciat, illud persolvat. Ex ipso igitur Pacto promissae fidelitatis tenetur. Ita patet ad hunc locum reduci die Policey-Ordnungen, Ordinationes nempe Politicas, quibus vita, conversatio, sumtus vestium, conviviorum, omnes denique subditorum actiones formantur: Nec minus Criminalia, quae circa majora, pacem nempe publicam, securitatem civium honoremque DEI et magistratus occupantur. Ex eodem Pactorum fonte est Jus publicum, et ipse denique processus tam civilis quàm Criminalis. Cujus finis est executio, quae est realisatio qualitatum moralium, seu ut qui habet potestatem vel necessitatem moralem, habeat et naturalem. §. 19. Ita igitur universi Juris summa capita deduximus. Nam modi acquirendi Juris sunt: (1.) Natura, Libertatis nempe et Facultatis in res nullius agendi, §. 17. (2.) Successio, §. 15., quae non producit novum jus, sed vetus transfert. Succedunt autem ab intestato mero Jure soli descendentes, in stirpes, sed ita in ea tantùm bona, quae parentis erant, cùm nascerentur, quia anima eorum per traducem ex anima parentis orta est, caeterorum successio ab intestato pertinet ad fontem pactorum, quia ex lege descendit. Te-

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§ 18. Deshalb gehören auch alle Verpflichtungen aus öffentlichen Gerichtsentscheidungen, ob sie nun auf eine Körper- oder auf eine Geldstrafe hinauslaufen, zum Quell der Verträge. Denn wechselseitig verspricht jeder beliebige Untertan des Staates, daß er dessen Beschlüsse, seien es allgemeine, wie die Gesetze, oder einzelne, wie die Schiedssprüche, für rechtskräftig erachten wird. Das Gesetz aber hat entschieden, daß jemand, der dieses begeht, mit jenem büßt. Folglich ist er aufgrund der im Vertrag selbst versprochenen Treue zur Einhaltung verpflichtet. Hieraus erhellt, daß auf diesen Punkt die öffentlichen oder »Polizeiordnungen« zurückzuführen sind, durch welche die Lebensführung, der gesellschaftliche Umgang, die Sitte in Kleidung und Gaststätten sowie schließlich das ganze Verhalten der Untertanen eingeschränkt wird. Nicht weniger auf den Quell der Verträge zurückzuführen sind die Verordnungen betreffs der Vergehen, in denen noch Wichtigeres geregelt wird, nämlich der öffentliche Friede, die Sicherheit der Bürger sowie die Achtung Gottes und der Obrigkeit. Aus demselben Quell fließt das öffentliche Recht und am Ende selbst der Zivil- wie der Kriminalprozeß. Sein Zweck ist die Vollstreckung, mit der die moralischen Qualitäten verwirklicht werden; sie bedeutet, daß derjenige, der die moralische Möglichkeit bzw. Notwendigkeit hat, auch die entsprechende natürliche Qualität bekommt. § 19. Somit haben wir also die höchsten Quellen des gesamten Rechts abgeleitet. Denn die Arten, ein Recht zu erwerben, sind: (1.) Die Natur, nämlich das Recht auf Freiheit und die Befugnis, auf eine Sache zu wirken, die keinem gehört, § 17 (2.) Die Nachfolge, § 15, die kein neues Recht hervorbringt, sondern nur altes überträgt. Nun treten aber ohne Testament, allein aufgrund des reinen Rechts, die Nachkommen an die Stelle des Stammhalters, hier jedoch nur in bezug auf diejenigen Güter, die dem Vater zum Zeitpunkt der Geburt seiner Nachkommen gehörten; denn deren Seele ist durch Zeugung aus der Seele des Vaters hervorgegangen. Die ohne Testament stattfindende Rechtsnachfolge betreffs der übrigen Güter gehört zum Quell der Verträge, weil sie sich vom Gesetz herleitet. Die Testamente aufgrund des reinen

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stamenta verò mero Jure nullius essent momenti, nisi anima esset immortalis. Sed quia mortui reverà adhuc vivunt, ideò manent domini rerum, quos verò haeredes reliquerunt, concipiendi sunt ut procuratores in rem suam. (3.) Tertius acquirendi Juris modus est Possessio rei nullius, animo imposterum quoque possidendi. Ex quo Jus imposterum quoque possidendi tractandique oritur, quod est reale. (4.) Conventio, velut traditio incorporalis, per signa rei aequipollentia, seu verba, quò pertinet, quicquid ex Jure Civili seu Lege descendit, ut Criminalia et Processus. Potest tamen conventio reduci non solùm ad possessionem, sed et ad injuriam, quia fallere est damnum animo dare. (5.) Injuria, velut ruptio societatis humanae in statu merè naturali omne Jus mutuò tollens, imò alteri in alterum resque ejus Jus absolutum tribuens, quod tamen in Republica legibus est restrictum. §. 20. Causae autem Juris in uno sunt modi amittendi Juris in alio, seu acquirendae obligationis. Modi autem amittendae obligationis, sunt causae recuperandi Juris, seu Liberationis. Qualis est (1.) mors sine haeredibus, (2.) solutio, quò reducitur compensatio, et (3.) conventio, quò iterum reducitur Lex. Ita igitur arbitror, summa Juris capita ex meri Juris evidentissimis principiis à me satis digesta esse. Neque enim alia Juris obligationisque causa aut contrarium seu destructivum reperiri potest, quod in his non con-

1 mero ] korrigiert aus meo nach A VI 2, 523

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Rechtes aber wären von keiner Bedeutung, wenn die Seele nicht unsterblich wäre. Weil aber die Verstorbenen in Wirklichkeit bis heute fortleben,⁷⁵ bleiben sie somit die Herren über die Sachen; die Erben aber, die sie hinterlassen, müssen als deren Stellvertreter in Verwaltung des Erbes aufgefaßt werden. (3.) Die dritte Art des Rechtserwerbs ist der Besitz einer Sache, die keinem gehört, mit dem Willen, sie auch künftig zu besitzen. Hieraus entspringt das Recht, die Sache auch auf künftig zu besitzen und zu bearbeiten, was ein dingliches Recht ist. (4.) Die Übereinkunft als eine gleichsam unkörperliche Überlieferung, die durch Zeichen erfolgt, die der Sache gleichwertig sind, d. h. die durch Worte erfolgt. Hierzu gehört alles, was sich aus dem Zivilrecht, d. h. aus dem Gesetz ableitet, wie Kriminalfälle und Prozesse. »Übereinkunft« bezieht sich jedoch nicht ausschließlich auf Besitz, sondern möglicherweise auch auf eine Rechtsverletzung; denn betrügen heißt dem Geist eines anderen einen Schaden zuzufügen. (5.) Die Rechtsverletzung, die, indem sie gleichsam die menschliche Gemeinschaft im bloßen Naturzustand zerreißt, jegliches Recht gegenseitig aufhebt. Genaugenommen räumt sie jedoch dem einen gegenüber dem anderen und seiner Sache ein unbedingtes Recht ein, das aber im Staat durch Gesetze eingeschränkt ist. § 20. Die Ursachen aber für das Recht bei dem einen sind Arten des Berechtigungsverlustes bei dem anderen, d. h. Arten, eine Verpflichtung übernehmen zu müssen. Umgekehrt sind die Arten des Verpflichtungsverlustes Ursachen, eine Berechtigung wiederzugewinnen, d. h. Ursachen einer Befreiung. Von solcher Art ist (1.) der Tod ohne Erben, (2.) die Ablösung, durch die eine Entschädigung zurückgezogen wird, und (3.) die Übereinkunft, durch die wiederum von einem gesetzlichen Anspruch Abstand genommen wird. Somit glaube ich die höchsten Rechtsquellen aus den einleuchtendsten Prinzipien des reinen Rechts zufriedenstellend eingeteilt zu haben. Es kann nämlich keine weitere Ursache für Berechtigung und Verpflichtung (und auch nicht deren Gegenteil, d. h. etwas, das sie außer Kraft setzt) gefunden werden, die nicht schon in diesen Prinzipien enthalten wäre. Die Sache in ei-

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tineatur. Specialius rem deducere peculiari operae debetur. Haec autem, quae de Methodo disponendi Juris diximus, meritò hoc loco praemittenda erant, quia non solùm Jurisprudentia Didactica, sed et Polemica accurâta hac Methodo disponi debet. §. 21. Nec omittenda hoc loco, quae de Jurisprudentiae Polemicae inclusione in Pomoeria Didacticae magni viri consuluêre. Si extantiores controversiae publicâ autoritate decidantur, formeturque novum Juris corpus accuratè dispositum. Quam in rem Illustrissimi Baconi, tum in Sermonibus fidelibus, tum in Augmentis Scientiarum praeclarae meditationes extitêre. Mihi breviter videtur tria in novo Corpore requirenda. Ut scilicet conscriptum sit plenè, breviter, ordinatè. Ita aberit repetitio, obscuritas, contradictio. §. 22. Tempus est, ut ad nostra Juris Elementa redeamus, haec suprà §. 7. divisa sunt in Definitiones et Praecepta. Definitiones includi possunt libro, qui ob formam appellari potest: Partitiones Juris (quo nomine et Cl. vir, Dn. Joh. Otto Thabor suum aliquem laborem insignivit), in eo declarentur termini usitatiores, eorumque Definitiones et Divisiones explicentur Methodo, quam dixi. Omittantur verò curiositates Philologicae, Synonymiae. Aequivocationes verò, sed insignes, et quae confusionis principium esse possint, non quaelibet obviae colligantur, significatioque famosior eligatur. Intereà Cl. Rebhanii Hodegeta Juris poterit non inutiliter legi, qui

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nem spezielleren Grad abzuleiten bedarf einer besonderen Anstrengung. Diese Ausführungen aber, die wir über das Verfahren der Rechtsanordnung gemacht haben, waren hier aus gutem Grund vorauszuschicken, weil nicht nur die didaktische, sondern auch die polemische Jurisprudenz nach dieser genauen Methode aufgestellt werden muß. § 21. Auch ist an dieser Stelle nicht zu vernachlässigen, was bedeutende Männer bezüglich der Einschließung der polemischen Jurisprudenz in die Grenzen der didaktischen für Überlegungen angestellt haben. Wenn die hervorragenderen Streitpunkte durch eine öffentliche Autorität entschieden würden, so könnte damit zugleich auch ein sehr sorgfältig aufgestelltes neues Rechtskorpus geschaffen werden.⁷⁶ In dieser Angelegenheit stachen die vorzüglichen Gedanken des hochberühmten Bacon hervor, teils in seinen Glaubensgesprächen ,⁷⁷ teils im Wachstum der Wissenschaften.⁷⁸. Kurzgesagt scheinen mir für ein neues Korpus drei Punkte erforderlich, nämlich daß es vollständig, kurz und wohlgeordnet abgefaßt werde. So werden die umständliche Wiederholung, die Dunkelheit und die Widersprüchlichkeit verschwinden. § 22. Es wird Zeit, zu unseren Elementen des Rechts zurückzukehren. Diese sind oben in § 7 (6) in Definitionen und Vorschriften eingeteilt worden. Die Definitionen können in einem Buch zusammengefaßt werden, das wegen seines Aufbaus Einteilungen des Rechts genannt werden kann (mit diesem Namen hat auch der hochberühmte Joh. Otto Thabor eines seiner Werke betitelt⁷⁹). In diesem Buch der Definitionen werden die gebräuchlicheren Begriffe erklärt und ihre Definitionen und Einteilungen nach der obengenannten Methode entfaltet. Allerdings werden die philologischen Merkwürdigkeiten und die sinnverwandten Begriffe ausgelassen. Die mehrdeutigen Begriffe werden dagegen aufgenommen, jedoch nur die wichtigsten und diejenigen, die zum Anlaß von Verwirrung werden können, nicht aber alle beliebig auftauchenden; und der weiter verbreiteten Bedeutung wird der Vorzug gegeben. Bis dahin wird man nicht ohne Nutzen die Wegweiser des Rechts von dem berühmten Rebhan ⁸⁰ lesen können, der sich bei der Er-

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in vocabulorum explicatione inprimis operam posuit. Causae verò, contraria, effectus, objecta, subjecta, non pertinent ad definitiones seu terminorum explicationes, sed ad regulas seu praecepta. §. 23. Praeeptorum Jurisprudentiae videamus Materiam et Formam. Materiae ratione: Inserantur ea tantùm, quae in Legibus expressè extant, et certi minimeque controversi Juris sunt; item ea tantùm, quae adhuc in usu versantur, minimeque abrogata sunt, ab hodierno enim Jure Tironi incipiendum esse, infrà ostendemus. Omittantur item ea omnia, quae ex ipso Jure Naturae et sanae rationis principiis ita constant, ut vel rusticus perceptis terminis (quos proptereà praemisimus in Definitionibus) agniturus sit. Nam tota ferè Conventionum Doctrina ex jure Naturae fluit; sed haereditates, processus et criminalia positivis scatent. Omittantur denique, quae non tàm sunt Quaestiones Juridicae, quàm vel Historicae, v. g. cur Justinianus dicatur Alemannicus, Francicus; vel Philologicae, v. g. an testamentum rectè derivatum sit à testatione mentis; vel Philosophicae, v. g. rectene Justinianus definierit iter, actum, viam; an mutuum sit alienatio. Ponantur ea tantùm, quae decidunt, quid proposito aliquo facto sit juris. Omissis igitur his omnibus, nempe (1.) incertis, (2.) abrogatis, (3.) manifestis, (4.) alienis, mira erit hujus Elementorum Libelli brevitas facilitasque. §. 24. Forma Praeceptorum consistit tum in dispositione titulorum, tum subtitulorum. Titulorum dispositio primùm ea sit, quae

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klärung der Wörter besondere Mühe gegeben hat. Die Ursachen, Gegensätze, Wirkungen, Gegenstände und Träger des Rechts gehören dagegen nicht mehr zu den Definitionen oder Erklärungen der Begriffe, sondern bereits zu den Regeln oder Vorschriften.⁸¹ § 23. Von diesen Vorschriften der Jurisprudenz wollen wir den Stoff und die Form betrachten. Was den Stoff betrifft, so wird nur dasjenige einbezogen, was in den Gesetzen ausdrücklich hervorgehoben ist und dessen Rechtsstatus sicher oder sehr wenig umstritten ist; ebenso nur dasjenige, was bis jetzt im Gebrauch und so gut wie kaum aufgehoben worden ist. Daß nämlich für einen Neuling der Anfang beim heutigen Recht gemacht werden muß, wollen wir unten zeigen. Ebenso soll alles weggelassen werden, was aus dem Naturrecht selbst und aus den Prinzipien der gesunden Vernunft so gewiß einleuchtet, daß z. B. auch ein Bauer es verstehen wird, wenn er die Begriffe zur Kenntnis genommen hat. (Diese haben wir deshalb in den Definitionen vorweggeschickt). Denn fast die ganze Lehre von den Übereinkünften speist sich aus dem Naturrecht.⁸² Die Fragen der Erbschaften, Prozesse und Verbrechen dagegen wimmeln nur so von positiven Bestimmungen. Ausklammern wollen wir schließlich auch alles dasjenige, was weniger juristische Fragen sind als vielmehr historische (z. B. warum Justinian ein Alemanne oder Franke genannt wird), philologische (z. B. ob »Testament« etymologisch korrekt von einem »mentalen Testieren« abgeleitet ist) oder philosophische (z. B. ob Justinian das Begehungsrecht, das Durchlaßrecht und das Durchfahrtsrecht richtig voneinander abgegrenzt hat und ob ein Darlehen eine Veräußerung ist). Es soll bloß dasjenige aufgestellt werden, was entscheidend dafür ist, was in einem vorliegenden Falle Rechtens ist. Wenn also alle die genannten Stoffe ausgelassen werden, nämlich (1.) das Ungewisse, (2.) das Aufgehobene, (3.) das Offenkundige und (4.) das Sachfremde, so wird die Kürze und Leichtigkeit dieses zu den Elementen gehörenden Büchleins bewundernswert sein. § 24. Was ferner die Form der Vorschriften betrifft, so besteht sie in der Anordnung der Kapitel und Unterkapitel.⁸³ Die Anordnung der Kapitel soll erstens der Anordnung der Definitionen entspre-

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Definitionum, unde non erit incommodum, si praecepta Definitionibus aliis saltem typis interserantur. Deinde observetur inprimis, ut, quantum fieri potest, abstrahantur universalia. Sunt enim praecepta primùm generalissima, quae dicuntur Brocardica, et haec à variis materiis etiam toto genere diversis abstrahunt, v. g. Omnis modus amittendi juris est voluntarius, seu nemini ius suum invito auferri potest. Haec regula tàm est universalis, ut nullam penitus patiatur exceptionem. Cur igitur, inquies, vulgò excipiunt: Nisi poenae loco à superiore ? Sed ideò illi hoc excipiunt, quia moralium principia non penetrârunt. Nam quod à superiore aufertur, volenti aufertur. Quia in superioris actiones ratas habendas jam olim consensum est. Sed datur tamen superior, inquies, in quem consensum non est, v. g. Deus jure creationis. Is igitur Aegyptiis penitus invitis, jus suum abstulit. Sed sciendum, in comparatione ad Deum nullum dari jus, ideò nec juris ablationem. Mors propriè non est amissio juris, quia ipsa persona amittitur. Nec solutio (invito enim solvi potest) non magis, quàm ususfructus perit consolidatione. Nuditas juris perit, non jus; jus potius perficitur. Possem aliis infinitis exemplis ostendere, quoties Brocardica ejusmodi multis exceptionum spinis sine necessitate muniantur. Interdum verò formantur Brocardica quaedam, plurimas exceptiones

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chen; deshalb wird es nicht unangemessen sein, wenn die Vorschriften zwischen die Definitionen, abgehoben zumindest durch andere Schrifttypen, gesetzt werden. Zweitens ist vornehmlich zu beachten, daß hierbei soweit wie möglich allgemeingültige Vorschriften abstrahiert werden. Es gibt nämlich erstens die allgemeinsten Vorschriften, die man Brocardica ⁸⁴ nennt und die aus den unterschiedlichsten Rechtsstoffen gewonnen sind, auch denen, die der ganzen Art nach verschieden sind. Ein Beispiel für sie ist: Jede Art von Rechtsverlust geschieht freiwillig, d. h. niemandem kann sein Recht gegen seinen Willen genommen werden. Diese Regel ist so allgemeingültig, daß sie ganz und gar keine Ausnahme duldet. Warum, so mag man einwenden, macht man dann für gewöhnlich die Ausnahme außer als Strafe von seiten der Obrigkeit ? Doch dies hält man nur deshalb für eine Ausnahme, weil man die Prinzipien der Moral nicht durchdrungen hat. Denn was von seiten der Obrigkeit genommen wird, wird doch mit Einwilligung genommen, weil man sich schon damals darauf geeinigt hat, die Handlungen der Obrigkeit für rechtsverbindlich zu erachten.⁸⁵ Aber es gibt doch, so mag man erwidern, eine Obrigkeit, mit der man kein solches Einvernehmen hergestellt hat, z. B. Gott mit seinem Schöpfungsrecht; dieser hat den Ägyptern somit ganz und gar gegen ihren Willen ihr Recht genommen. Man muß jedoch wissen, daß es gegenüber Gott gar kein Recht gibt und daß hier folglich auch gar keines weggenommen werden kann. Der Tod ist strenggenommen nicht ein Verlust des Rechts, weil die Person selbst verlorengeht. So stellt ja auch eine Abbezahlung keinen Rechtsverlust dar, denn ihre Ableistung kann auch gegen den Willen gefordert werden. In keinem stärkerem Maße ein Rechtsverlust ist auch der Verlust von Nießbrauch durch die Eigentumssicherung dessen, der den Nießbrauch gewährt hat. Die Unangetastetheit dieses bestimmten Rechts geht verloren, nicht jedoch das Recht selbst; vielmehr wird nur Recht geltend gemacht. Ich könnte an zahllosen anderen Beispielen zeigen, wie häufig Brocardische Regeln durch viele Dornbüsche von Spitzfindigkeiten solcher Art ohne Not verdeckt werden. Manchmal aber werden Brocardische Regeln so formuliert, daß sie sehr

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necessariò habentia, sed talia ego inepta judico. Quoties enim regula in uno vitiatur, perdit officium suum. Officium enim regulae tranquillare animum, ut certus sit in omnibus speciebus subjecti praedicatum obtinere. Quòd si regulae habent exceptiones, frustraneae sunt, quia fidi illis non potest. Quod igitur vulgò jactatum est: Nullam regulam esse sine exceptione, mihi perinde esse videtur ac illud: Nunc ego mentior; vel illud Scepticorum: Nihil scitur, ne hoc quidem, quòd nihil scitur. Qualia nos collegimus in Specim. Quaest. Philos. ex Jure, quaest. 12. Nam haec regula seipsam simul probat et improbat. Quia enim nulla regula sine exceptione, et hoc ipsum axioma est regula, ideò ipsum quoque non erit sine exceptione. Ergò aliqua regula sine exceptione. Quia igitur nulla regula sine exceptione est; ideò falsum, nullam regulam sine exceptione esse. Sed hoc obiter, intereà pro certo habendum, ignaviae, ignorantiaeque in dicterio isto latibulum esse. Nam et in Grammaticis (unde ortum habet) olim Sanctius, posteà Scioppius regulas tales exhibuêre, quarum non datur exceptio: Sed quicquid vulgò pro Exceptionibus habitum est, aut Ellipsis est, aut Pleonasmus alicujus vocabuli. Idem vitium et in Philosophicis vulgò regulis regnat, unde et in Juridicas manavit. Nam, ut Cl. vir Joh. Adamus Scherzerus in Manualis philosophici praefatione monuit, dicta quaedam inter regulas reposita sunt, quae plures habent limitationes quàm exempla, v. g. Qualis causa, talis effectus. Quod ubi multis distinctionum saepibus defendere conati sunt, tandem tamen huc recurrunt, scilicet: in causis univocis. Quid autem est causa univoca ? Ea

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viele Ausnahmen nötig haben. Doch so etwas halte ich für töricht. Denn sooft eine Regel in einem Punkte verletzt wird, geht auch ihr Sinn verloren. Der Sinn einer Regel besteht nämlich darin, den Geist dahingehend zu beruhigen, daß er sicher sein kann, bei allen Arten des Satzsubjektes das Prädikat aufrechtzuerhalten.⁸⁶ Wenn also Regeln Ausnahmen enthalten, sind sie vergeblich, weil man sich nicht auf sie verlassen kann. Was also für gewöhnlich zur Schau getragen wird: Keine Regel ohne Ausnahme, kommt mir deshalb so vor wie jenes Jetzt lüge ich oder wie jener Satz der Skeptiker Man weiß nichts, nicht einmal, daß man nichts weiß. Solche Selbstwidersprüche haben wir zusammengestellt in der zwölften Untersuchung unserer Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind.⁸⁷ Diese Regel nämlich beweist und widerlegt sich zugleich. Denn weil keine Regel ohne Ausnahme sein soll und dieses Axiom selbst eine Regel ist, so wird es deshalb ebenfalls nicht ohne eine Ausnahme sein. Folglich gibt es eine Regel ohne Ausnahme. Gerade deshalb also, weil keine Regel ohne Ausnahme ist, ist es falsch, daß keine Regel ohne Ausnahme ist. Doch nebenbei bemerkt ist es inzwischen für gewiß zu erachten, daß in diesem Sprüchlein der Schlupfwinkel der Drückebergerei und Unwissenheit steckt. Auch in der Grammatik nämlich (aus der der Spruch kommt) haben einst Sanchez ⁸⁸ und später Schoppe ⁸⁹ solche Regeln aufgestellt, für die keine Ausnahme eingeräumt wird. Was jedoch gewöhnlich alles für eine Ausnahme gehalten wird, entpuppt sich entweder als ein elliptischer oder als ein pleonastischer Ausdruck eines Wortes. Derselbe Fehler herrscht für gewöhnlich auch bei den philosophischen Regeln, von wo aus er auch in die juristischen eingesickert ist. Denn wie der hochberühmte Joh. Adam Scherzer in der Vorrede zu seinem Philosophischen Handbuch angemahnt hat,⁹⁰. befinden sich unter den Regeln auch einige Sprüche, die mehr Einschränkungen als bestätigende Beispiele enthalten, z. B. Wie die Ursache, so die Wirkung. Sobald man dies mit vielen Zäunen von Unterscheidungen zu verteidigen sucht, kommt man doch zuletzt auf folgende Einschränkung zurück: aber nur bei gleichartigen Ursachen. Was aber ist eine gleichartige Ursache ? Diejenige natürlich,

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nempe ubi qualis causa, talis effectus est. Regula igitur sic concipienda erit: Ubi qualis causa, talis effectus; ibi qualis causa, talis effectus. Spectatum admissi risum teneatis amici ! Quare Regularum Philosophicarum accuratam explicationem non inutiliter molitur Cl. Thomasius, et, uti spero, propediem publico donabit. Nos quoque, si Deus vires dederit, Reformationem Brocardicorum quàm primum concipiemus, redigentes ad perfectam Universalitatem omnia, et quae hoc non patientur tanquam inepta rejicientes. Intereà illas limitationes non est opus regulae allinere, quae ex aliis regulis in eodem libro traditis aut tradendis, per combinationem sumuntur, v. g. Qui promisit, praestet; nisi praestiterit, nisi liberatio ei legata sit, nisi compensare possit, etc. Quid haec addere opus est ? Per se ex regulis posteà tradendis constant, et coacervantur hac ratione tantùm inutiles repetitiones et grandes libri. His malis hactenus occursum non est, ideò nescio, quem inprimis Regularum Juridicarum autorem commendem, laudantur tamen Barbosa et Diaz, ut eos praeteream, qui Regulas Juris grandibus in folio Lexicis complecti voluerunt. §. 25. Et haec de praeceptis generalissimis seu Brocardicis. Sequuntur intermedia ad certas materias restricta, nondum tamen specialissima, v. g. Cuicunque debetur reverentia, ille non est in ius vocandus, v. g. Parens, Patronus, Magistratus coercendi jus habens, etc. Idque demonstratur ex natura Vocationis in jus. Quae fit per vim, obtorto enim collo nolentes trahebantur. Cuicunque autem

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wo die Wirkung wie die Ursache ist. Die Regel wird also folgendermaßen aufgefaßt werden müssen: Wo die Regel gilt, daß die Wirkung wie die Ursache ist, dort gilt die Regel, daß die Wirkung wie die Ursache ist. »Wärt ihr zum Schauspiel geladen, o Freunde, könntet ihr euch des Lachens erwehren ?«⁹¹ Von daher ist es nicht unnütz, daß der hochberühmte Thomasius fruchtbar an einer exakten Erklärung der philosophischen Regeln arbeitet und sie, wie ich hoffe, demnächst der Öffentlichkeit schenken wird.⁹² Auch wir werden, wenn Gott uns die Kräfte geben wird, sobald wie möglich eine Neugestaltung der Brocardischen Regeln entwerfen, indem wir alles in den Zustand vollkommener Allgemeingültigkeit bringen und alles dasjenige als ungeeignet ausscheiden, was dies nicht erlaubt. Bis dahin wird es nicht nötig sein, der jeweiligen Regel jene Einschränkungen beizufügen, die sich aus anderen, im selben Buch mitgeteilten bzw. noch mitzuteilenden Regeln durch Verknüpfung ergeben, z. B.: Wer etwas verspricht, muß dies auch einhalten – es sei denn, daß er es nicht einhalten kann oder daß ihm rechtlich eine Befreiung zugesprochen worden ist oder daß er es anderweitig ausgleichen kann, usw. Wozu ist es nötig, derlei anzufügen ? Es besteht für sich ja nur aus den später mitzuteilenden Regeln, und nach jener Verfahrensweise werden bloß unnütze Wiederholungen und dicke Bände angehäuft. Gegen diese Übel ist man bislang nicht angegangen; deshalb weiß ich nicht, welchen Autor von juridischen Regeln ich vor allen empfehlen könnte. Und doch lobt man den Barbosa ⁹³ und den Diaz ,⁹⁴ ganz zu schweigen von denen, die die Rechtsregeln in gewaltigen Lexika im Folioformat umfassen wollten. § 25. Die bisherigen Erörterungen betrafen die ganz allgemeinen Vorschriften oder Brocardischen Regeln. Es folgen die mittleren Regeln, die auf bestimmte Rechtsstoffe eingeschränkt sind, aber noch nicht sehr speziell sind, z. B. Keiner, dem man Achtung schuldet, ist vor das Gericht zu zitieren, etwa der Vater, der Schutzherr oder der Beamte, der das Bestrafungsrecht hat, usw. Und zwar wird dies bewiesen aus der Natur der Ladung vors Gericht. Diese geschieht auch mit Gewalt, denn von jeher wurden die Widerspenstigen

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debetur reverentia ille non est violandus. Quod est principium ex mero jure naturae vel rusticis constans. Danda igitur opera est, ut ubicunque fieri potest, regulae generales concipiantur, ad compendium discendi. Imò tentetur an concipi possit regula aliqua habens gradum necessitatis, qui dicitur: êáèüëïõ ðñ§ôïí ab Aristotele, seu reciproca, ut subjectum aequale sit praedicato, nec possit subjectum generalius ad hoc praedicatum reperiri. Quò pertinent ea, quae in arte nostra combinatoria meditati sumus, v. g. Omnis et solus qui res alienas in potestate habet tenetur ad inventarium aut juratam specificationem. Et contra qui tenetur ad talem certam specificationem ille res alienas in potestate habet. Nam et haeres, haereditatem, quae solvendo non est, resignaturus ad ejusmodi specificationem tenetur, quia ex postfacto apparet aliena possedisse. […] Ita in plerisque materiis res ad talem propositionem reciprocam reduci posset. Qua de re multa admonuit Cl. Feldenus tum in notis ad Hugonem Grotium, tum in Elementis Jurisprudentiae. Et haec de Praeceptis intermediis. Specialissima verò ut plurimum Juris positivi sunt, et in Solennitatibus consistunt, suntque generalibus demtis admodum pauca. Saepe enim unâ regula, aut altera, totus aliquis titulus absolvetur. Specimen hujus rei DEO juvante daturus sum aliquando in Menochii et Mascardi libris de Praesumtionibus et Probationibus, qui quanticunque sunt, poterunt tamen in paucas vix plures quàm 100 naturalissimas regulas ita contrahi, ut liceat inde caetera omnia manifesta consequentiâ derivare. Labo-

7 generalius ] korrigiert aus generalibus nach A VI 2, 523

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am Kragen vor Gericht gezerrt. Wem immer man jedoch Achtung schuldig ist, dem darf man keine Gewalt antun. Dies ist ein Prinzip, das aus dem reinen Recht auch Bauern einleuchtet. Man muß sich also Mühe geben, daß so gut, wie es eben möglich ist, für ein Lehrbuch allgemeine Regeln aufgestellt werden. Ja, es ist sogar auszuprobieren, ob nicht eine Regel verfaßt werden kann, die denjenigen Grad an Notwendigkeit besitzt, der von Aristoteles das erste Allgemeine genannt wird, d. h. eine reziproke Regel, bei der das Subjekt dem Prädikat gleichwertig ist, so daß kein allgemeineres Subjekt zu diesem Prädikat gefunden werden kann.⁹⁵ Hierzu gehören die Regeln, über die wir in unserer Kombinatorischen Wissenschaft nachgedacht haben,⁹⁶ z. B.: Jeder und auch nur derjenige, der fremde Sachen in seiner Gewalt hat, ist gehalten, ein Verzeichnis bzw. eine eidesstattlich bekräftigte Auflistung von ihnen anzulegen. Und umgekehrt: Wer zu einer derart abgesicherten Auflistung gehalten ist, der hat fremde Sachen in seiner Gewalt. Denn auch der Erbe, der eine nicht zur Auszahlung fähige Erbschaft ausschlägt, ist dennoch zu einer derartigen Auflistung gehalten, weil dies im nachhinein bezeugt, daß er zwischenzeitlich fremdes Gut innehatte. […]⁹⁷ So könnte bei den meisten Rechtsstoffen die Angelegenheit auf einen solchen reziproken Satz zurückgeführt werden. Hierüber hat der hochberühmte von Felden viele Belehrungen gegeben, zum einen in seinen Anmerkungen zu Hugo Grotius, zum anderen in seinen Elementen der Jurisprudenz.⁹⁸ Soweit zu den mittleren Vorschriften. Die ganz speziellen aber gehören weitestgehend zum positiven Recht, bestehen in Förmlichkeiten und sind, sobald man die allgemeinen von ihnen abgezogen hat, recht wenige. Oft wird nämlich mit einer oder gegebenenfalls mit einer zweiten Regel ein ganzes Kapitel abgehandelt. Eine Kostprobe dieses Sachverhaltes werde ich einmal mit Gottes Hilfe anhand von Menochius’ Buch Von den Vorannahmen ⁹⁹ und Mascardis Buch Von den Beweisen¹⁰⁰ geben, die, wie viele es auch immer sein mögen, dennoch auf wenige, kaum mehr als hundert höchst natürliche Regeln derart konzentriert werden können, daß man von hier aus alles weitere mit offenkundiger Folgerichtigkeit ableiten kann. Wir

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rem illum nostrum: Compendium Menochii et Mascardi de Probationibus et Praesumtionibus, inscribemus. §. 26. A titulis eorumque dispositione veniamus ad Subtitulos. Subtituli autem hi sunt: Forma seu definitio, Subjectum, Causa, Effectus, Contrarium seu destructivum. Non ignoro, variè à variis haec assignari, sed si accuratius dispexeris, omnia ad haec reducuntur. In his digerendis inprimis diligens est Wesembecius, et illi quoque qui Classes Actionum scripsere: Oldendorpius et Haersolte. Sed de Subtitulis fusius dicere ad Doctrinam Topicam pertinet. Hi igitur subtituli in quolibet Titulo seu materia sunt observandi. §. 27. Et haec de Jurisprudentia Didactica, seu Elementis Juris, quae non JCtis solùm, sed et Theologis Medicisque tenenda sunt. Nam Theologiam, Jurisprudentiam, Medicinamque Didacticam decet Theologos, JCtos, Medicos, singulos cunctas scire; etsi interea necesse non sit unum in controversias et subtiliora alterius se intromittere, quae ad partem cujusque Polemicam pertinent. Et scio magnos Viros in senectute poenitentiam egisse spretae in juventâ Jurisprudentiae, quae quantum Theologo prodesse possit, demonstravimus supra §. 5. […]

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werden unserem Werk den Titel geben Leitfaden für die Beweise und Vorannahmen von Menochius und Mascardi. § 26. Von den Kapiteln und ihrer Anordnung wollen wir nun zu den Unterkapiteln übergehen. Diese Unterkapitel umfassen: die Form oder Definition, der Träger, die Ursache, die Wirkung und das Gegenteil oder Aufhebende. Hierbei verkenne ich natürlich nicht, daß dies von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich bezeichnet wird. Doch wenn man es genauer untersucht hat, führen alle auf die genannten Begriffe zurück. Bei der Anordnung dieser Dinge ist Wesenbeck ¹⁰¹ besonders sorgfältig, aber auch jene, die die Klassen der Rechtsgeschäfte beschrieben haben: Oldendorp¹⁰² und van Haersolte.¹⁰³ Von den Unterkapiteln ausführlicher zu sprechen, gehört jedoch zur Lehre von der Topik.¹⁰⁴ Folglich müssen diese Unterkapitel bei jedem Kapitel, d. h. bei jedem Stoffgebiet ins Auge gefaßt werden. § 27. Soviel zur didaktischen Jurisprudenz, d. h. zu den Elementen des Rechts. Sie müssen nicht allein von den Rechtsgelehrten, sondern auch von den Theologen und Medizinern beachtet werden. Denn es stünde jedem einzelnen Theologen, Rechtsgelehrten und Mediziner wohl an, sich jeweils im didaktischen Teil der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin auszukennen. Dagegen ist es nicht nötig, daß der eine sich in die Streitigkeiten und Feinheiten des anderen hineinbegibt, die zum polemischen Teil einer jeden Disziplin gehören. Und ich weiß, daß bedeutende Menschen im Alter Reue darüber empfanden, in der Jugend die Jurisprudenz verachtet zu haben, von der wir oben in § 5 gezeigt haben, wie sehr sie doch dem Theologen nützen kann. […]¹⁰⁵

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[3.] §. 69. Ita tandem Jurisprudentiae Exegeticae pelagus emensi sumus; sed videmur nobis ad fretum Gaditanum pervenisse, ubi ex mediterraneo mari in Oceanum transitus panditur. Jurisprudentia enim Polemica ita in infinitum diffusa est, ut exhauriri non possit, novi enim quotidie casus emergunt. Intereà danda Jurisconsulto opera est, ut cognitas saltem regiones lustret, id est, casus jam ventilatos colligat et decidat; ita cùm ad nova littora tempestate deferetur, id est, in novos casus incidet; ope magnetis, id est, Juris naturalis facilè se explicabit. §. 70. Dicemus autem tum de Principiis decidendi, tum de Collectione Decisionum. Principia decidendi sunt Ratio ex Jure Naturae; et Similitudo, ex Jure Civili certo. Nam si accuratè rem consideremus, omne Jus Civile magis facti est quàm Juris: Quia probandum est non ex natura rerum, sed ex historia seu facto. Probandum enim est, legem esse promulgatam, consuetudinem introductam; deinde probandum etiam est, qui legem tulit, ejus rei potestatem facto et pacto sibi acquisivisse. Unde patet, legem ex conventione populi valere. Cùmque certi Juris sit, in iis ubi pactum non intercessit, obtinere Jus merum; patet in iis casibus, de quibus lex se non declaravit, secundùm Jus Naturae esse judicandum. Quemadmodum in casu cessantium Statutorum judicatur secundùm Jus commune. Si observarent hoc Decisionarii, facilius se extricarent; verùm illi ad similes potius materias Jure Civili decisas respiciunt,

5 in ] ergänzt nach A VI 2, 525

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[ 3. Die zwei Augen des Richters : Naturrecht und Nomothetik ] § 69. So haben wir endlich das Meer der exegetischen Jurisprudenz durchmessen. Doch scheinen wir an die Meerenge von Gibraltar gelangt zu sein, wo sich der Durchgang vom Mittelmeer zum Ozean auftut. Die polemische Jurisprudenz nämlich ergießt sich derart ins Unendliche, daß sie sich nicht erschöpfen läßt. Denn täglich tauchen neue Fälle auf. Indessen muß sich der Rechtsgelehrte die Arbeit machen, zumindest die bekannten Regionen zu durchqueren, d. h. die bereits durchsegelten Fälle zu sichten und zu entscheiden. Wenn er vom Sturm an neue Gestade geworfen wird, d. h. auf neue Fälle stößt, so wird er mit Hilfe eines Kompasses, nämlich des Naturrechts, leicht hindurchfinden. § 70. Kommen wir aber nun zu den Entscheidungsprinzipien, später zur Sammlung der Entscheidungen. Entscheidungsprinzipien sind zum einen die Vernunft gemäß dem Naturrecht, zum anderen die Ähnlichkeit gemäß dem feststehenden bürgerlichen Recht. Wenn wir nämlich die Sache genau betrachten, ist alles bürgerliche Recht mehr eine Tatsachenfrage als eine Rechtsfrage; denn hier gilt es nicht aus der Natur der Dinge, sondern aus der Geschichte oder einem Faktum zu beweisen.¹⁰⁶ Denn man muß nachweisen, daß ein Gesetz öffentlich bekanntgemacht worden ist bzw. eine Gewohnheit sich eingespielt hat; sodann ist zu belegen, daß derjenige, der das Gesetz eingebracht hat, sich auch die Befugnis dazu durch Tat und Vertrag erworben hat. Hieraus erhellt, daß das Gesetz seine Geltung aus der Übereinkunft des Volkes bezieht.¹⁰⁷ Und weil es eine Sache des sicheren Rechts ist, in denjenigen Fällen, in denen kein Vertrag dazwischentritt, das reine Recht heranzuziehen, leuchtet ein, daß in denjenigen Fällen, über die sich das Gesetz nicht erklärt hat, nach dem Naturrecht geurteilt werden muß, so wie im Fall fehlender Statuten nach dem gemeinen Recht¹⁰⁸ geurteilt werden muß. Wenn die bloß von Fall zu Fall Entscheidenden dies beachteten, würden sie sich leichter aus den Schwierigkeiten befreien; aber sie blicken lieber auf ähnliche,

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et ex illis ad has argumentantur, quae res illis magnam perplexitatem parit; sunt enim plures uni similes, et unus ad hanc, alius ad aliam similitudinem confugit. Ideò tutius arbitror, referre se ad merum immutabileque Jus Naturae. Et perinde mihi videtur, ac si quis quae in Statutis passim de equorum evictione placuerunt, velit et ad asinos trahere. Ad mulos tamen trahi an possunt, dubium est. Et puto non posse: Mulus enim magis est asinus quàm equus, quia partus sequitur ventrem, mater autem est asina. Confugiendum tamen nonnunquam ad alias Leges Civiles similes, vel ex verbis, vel mente Legislatoris. Ex verbis, quando Legislator vel semel in universum, vel in certa materia declaravit se hoc velle. Semel in universum, v. g. in Jure Saxonico longâ consuetudine Dicasteriorum receptum est (qui mos valet pro lege) casus dubios decidendos potius ad similitudinem aliarum Legum Saxonicarum, quàm Juris communis. In certa materia, v. g. Jure Civili cautum est, ut quae de viris dicuntur, eadem de foeminis intelligantur, nisi singularis lex vel ratio impediat. Ex mente Legislatoris, quoties eadem ratio subest, v. g. Jus Saxonicum vetus dicit: Der Pfaff nehme Gerade. Quaeritur jam an Canonici sumant Geradam, qui propriè non possunt dici Pfaffen, quia eos Sacramentum Ordinis accipere necesse non est. Et respondendum est: Sumere illos quoque per

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nach bürgerlichem Recht entschiedene Materien und führen aus jenen Beweise für diese an. Dieser Umstand erzeugt bei ihnen eine große Verworrenheit, denn es sind mehrere Fälle einem einzelnen ähnlich, und der eine nimmt seine Zuflucht zu dieser, der andere zu jener Ähnlichkeit. Deshalb halte ich es für sicherer, sich auf das reine und unwandelbare Naturrecht zu beziehen. Auch wirkt jene Ähnlichkeitsklauberei auf mich genau so, wie wenn jemand bei den Statuten dasjenige, was er in bezug auf die gerichtliche Wiedererlangung gestohlener Pferde ohne Unterschied billigt, auch auf Esel übertragen wollte. Fraglich ist aber schon, ob man es auf Maulesel übertragen kann. Ich glaube nicht; denn ein Maulesel ist eher ein Esel als ein Pferd, weil sich die Bezeichnung des Jungtieres nach dem Mutterschoß richtet, das Muttertier aber eine Eselin ist. Manchmal muß man jedoch seine Zuflucht zu anderen bürgerlichen Gesetzen nehmen, die ähnlich sind, sei es dem Wortlaut nach oder im Sinne des Gesetzgebers. Dem Wortlaut nach ist zu vergleichen, wenn der Gesetzgeber entweder ein für allemal oder in einer bestimmten Angelegenheit erklärt hat, daß er dies wolle. Ein Beispiel für eine ein für allemal getroffene Erklärung liegt im sächsischen Recht dort vor, wo es durch lange Gewohnheit der Spruchkammern allgemein üblich wurde (und dieser Brauch als ein Gesetz galt), die zweifelhaften Fälle eher im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit anderen sächsischen Gesetzen zu entscheiden als im Hinblick auf die mit dem gemeinen Recht. Ein Beispiel für eine in einer bestimmten Angelegenheit getroffene Erklärung ist im bürgerlichen Recht dort gegeben, wo sichergestellt wird, daß dasjenige, was in bezug auf Männer gesagt wird, auch in bezug auf Frauen geurteilt wird, falls nicht ein einzelnes Gesetz oder ein einzelner Grund dagegenspricht. Im bloßen Sinne des Gesetzgebers ist immer dann zu vergleichen, wenn die besagte Regelung fehlt. So lautet z. B. ein altes sächsisches Gesetz: Der Pfaff nehme Gerade ! ¹⁰⁹ Fraglich ist bereits, ob die Kanoniker die Gerade an sich nehmen dürfen, die nicht im eigentlichen Sinne Pfaffen genannt werden können, weil sie nicht die Ordensweihe empfangen müssen. Und zwar ist zu antworten, daß auch jene Geistlichen die Gerade aufgrund des

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rationem legis. Quia Gerada in compensationem iis data est, qui non sunt capaces supellectilis Castrensis, deß Heergeräthes, quales sunt foeminae et Ecclesiasticae personae. Canonicis enim interdictum bellum esse, inde patet, quia effuso sanguine humano contrahitur irregularitas, quâ tollitur praebenda. Cùm igitur duo sint principia decidendi: Jus Naturae et Lex similis; et à materia una ad aliam valere argumentum, quoties siluit Legislator, non aliunde constet, quàm ex similitudine rationis, ratio autem Legis pendeat ex Politicae illa parte, quae dicitur Nomothetica; apparet Jurisconsulti in dicasterio sedentis duos oculos esse Scientiam Juris Naturalis, et Scientiam Nomotheticam. Quemadmodum casus jam tum decisi per historiam retrò actorum, et exegesin Legum cognoscuntur; de quibus suprà.

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[a)] §. 71. Juris Naturalis non minutissima quaeque, sed principia tantùm persequemur. Eaque primùm ex sententia aliorum, deinde et nostra. Alii qui circa Jus Naturae philosophati sunt, videntur esse hi potissimum: Plato, Aristoteles, Epicurus, Cicero. Et temporibus recentioribus: Hugo Grotius, Sforzia Pallavicinus, Th. Hobbes, Joh. à Felde, Rob. Scharrok. Plato passim Juris fundamentum statuit, ô’ êïéíy óõìöÝñïí, publicam utilitatem. In libris de Republica Thrasymachus disputat Justum esse: Potentiori utile. Aristoteles et

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Gesetzes an sich nehmen dürfen. Denn die Gerade ist denen zur Entschädigung zugebilligt worden, die über keinen militärischen Hausrat oder Heeresgerät verfügen können. Dies sind weibliche und geistliche Personen. Denn daß den Kanonikern der Krieg verboten ist, leuchtet ein, weil durch das Vergießen menschlichen Blutes eine Regelwidrigkeit herbeigeführt wird, durch die dasjenige aufgehoben würde, was den Geistlichen aufgetragen ist. Weil es also zwei Entscheidungsprinzipien gibt, nämlich das Naturrecht und das ähnliche Gesetz, und weil es – falls der Gesetzgeber sich hier ausgeschwiegen hat – von keiner anderen Seite aus gewiß ist, daß der Beweisgrund aus dem einen Rechtsstoff auch für den anderen ausschlaggebend ist, als aus der Ähnlichkeit der Regelung, weil aber diese Regelung von jenem Teil der Politik abhängt, den man die Nomothetik¹¹⁰ nennt, so ist es nur einleuchtend, daß die zwei Augen des in der Schiedskammer sitzenden Rechtsgelehrten die Wissenschaft vom natürlichen Recht und die Wissenschaft der Nomothetik sind. Genauso werden umgekehrt die schon zuvor entschiedenen Fälle durch die Geschichte der Gerichtsprozesse im nachhinein sowie durch die Auslegung der Gesetze erkannt, wie oben¹¹¹ dargelegt wurde.

[a) Die drei Stufen des Naturrechts] § 71. Vom Naturrecht durchforschen wir nicht sämtliche Kleinigkeiten, sondern bloß die Prinzipien; und diese zunächst nach der .Ansicht anderer, dann auch nach unsrer eigenen Ansicht. Von den anderen, die über das Naturrecht¹¹² philosophiert haben, scheinen folgende dies am vorzüglichsten geleistet zu haben: Platon, .Aristoteles, Epikur, Cicero, und aus der neueren Zeit: Hugo Grotius, Sforza Pallavicino, Thomas Hobbes, Johann von Felden und Robert Sharrock.¹¹³ Platon stellt durchweg als Prinzip des Rechts das hin, was der Allgemeinheit dienlich ist, d. h. den öffentlichen Nutzen.¹¹⁴ In den Büchern Vom Staat trägt Thrasymachos die These vor: Gerecht ist, was dem Stärkeren nützlich ist.¹¹⁵ Aristoteles und

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cum eo Stoici statuêre Juris Naturae esse fundamentum: Naturae convenienter vivere; et quicquid naturae rerum, id est, statui earum optimo et perfectissimo conveniat, id justum esse. Epicurus statuit Juris Naturae esse, quicquid mihi reverà utile est, quicquid nempe producit voluptatem animi et tranquillitatem mentis. Cicero in libro de Officiis et alibi eo inprimis utitur fundamento: Neminem sibi soli natum, partim patriam, partim parentes, partim amicos sibi vindicare. §. 72. Recentiores ita tradunt: Hugo Grotius, Juris Naturae esse, quicquid convenit cum natura Societatis ratione utentium, seu quicquid cum Societate compatibile est; sumit igitur quod ab Hobbio negatur, hominem esse naturâ socialem. Sforzia Pallavicinus in libro eleganti de Bono, post multas disceptationes ita statuit: Justum esse, quicquid naturae placet. Naturae autem nomine intelligit: Principium motus et quietis in mundo, quod necesse est sapiens esse, quia motus tàm pulcher ordinatusque est. Th. Hobbes in subtilissimis de Cive Elementis sic procedit: Statum hominum esse vel extra superiorem, vel sub superiore seu in civitate. Illic esse Jus merum omnium in omnia seu Jus belli, sed cùm status belli sit exitiosus, teneri quemlibet sanâ ratione duce, ut se disponat ad pacem, seu statum in una civitate, quantum in se est, constitutâ autem civitate simpliciter Juris esse quicquid civitati placuit, neque aliud ibi naturae jus obtinere. Joh. à Felde in Elementis Jurisprudentiae principia Aristotelis reduxit et expolivit. Rob. Scharrok in lib. de Officiis secundùm Jus Naturae ita arbitratur : Summum Bonum, cum Epicuro esse voluptatem animi. Peccata autem ideò

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mit ihm die Stoiker stellten als Fundament des Naturrechts auf: mit der Natur im Einklang leben; und alles, was der Natur der Dinge, d. h. ihrem besten und vollkommensten Zustand entspricht, das ist gerecht.¹¹⁶ Epikur machte als Prinzip des Naturrechts geltend: alles dasjenige, was für mich tatsächlich von Vorteil ist, nämlich was die Lust des Gemüts und die Ausgeglichenheit des Geistes erzeugt.¹¹⁷ Cicero macht in Von den Pflichten und anderen Büchern vorwiegend folgendes Prinzip geltend: Da niemand für sich allein geboren ist, gilt es sich teils für das Vaterland, teils für die Eltern und teils für die Freunde in den Dienst zu stellen.¹¹⁸ § 72. Die Neueren lehren folgendes. Hugo Grotius lehrt: All das entspricht dem Naturrecht, was mit der Natur derjenigen Gemeinschaft übereinstimmt, deren Bürger sich der Vernunft bedienen, d. h. alles, was mit der Gemeinschaft verträglich ist;¹¹⁹ er unterstellt also, was von Hobbes geleugnet wird, nämlich daß der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist.¹²⁰ Sforza Pallavicino stellt in seinem feinsinnigen Buch Über das Gute nach vielen Erörterungen strittiger Punkte die Sache folgendermaßen hin: Gerecht ist alles, was der Natur gefällt. Unter »Natur« aber versteht er das Prinzip der Bewegung und der Ruhe in der Welt, das weise sein müsse, weil die Bewegung so schön und geordnet ist.¹²¹ Th. Hobbes argumentiert in seinen höchst scharfsinnigen Elementen vom Bürger folgendermaßen: Der Mensch steht entweder außerhalb oder unter einer höheren Macht, d. h. lebt im Staat. Dort außerhalb herrscht das blanke Recht aller auf alles, d. h. das Kriegsrecht. Weil aber der Kriegszustand verheerend ist, ist jeder durch Leitung seiner gesunden Vernunft gehalten, sich, soweit dies in seiner Macht steht, zum Frieden zu bereiten, d. h. zum Zustand in einem Staat; ist dieser aber einmal errichtet, so ist schlechterdings alles dasjenige Recht, was dem Staate gefällt, und dort gilt kein anderes Recht der Natur mehr.¹²² Joh. von Felden hat in seinen Elementen der Jurisprudenz die Prinzipien des Aristoteles wiederaufgenommen und geglättet.¹²³ Rob. Sharrock hält in seinem Buch Von den Pflichten gemäß dem Naturrecht folgendes für wahr: Das höchste Gut ist, in Übereinstimmung mit Epikur, die Lust

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fugienda, quia sunt contra voluptatem animi, esse enim velut verbera incorporalia. Unde êñéôÞñéïí Injustitiae esse, si quid animo quodammodo repugnante fiat. Putat igitur Deum sic creasse animum nostrum, ut naturalis quaedam inter ipsum et ea quae peccata dicuntur, sit PíôéðÜèåéá. §. 73. Hos facilè inter se conciliabimus, explicatâ nostrâ sententia. Scilicet Juris Naturae tres sunt gradus: Jus strictum, aequitas, pietas. Quorum sequens antecedente perfectior, eumque confirmat, et in casu pugnantiae ei derogat. Jus strictum seu merum ex terminorum definitione descendit, et est si rectè expendas, nihil aliud quàm Jus belli et pacis. Nam inter personam et personam tamdiu est Jus pacis, quamdiu alter non incepit bellum, seu laesit. Inter personam autem et rem, quia res non est intelligens, perpetuum est Jus belli. Et licet leoni hominem discerpere, et monti hominem ruinâ opprimere: Contra homini frenare leonem, perfringere montem. Victoria autem personae super rem reique captivitas dicitur possessio. Possessio igitur dat personae Jus in rem, Jure belli, dummodò res sit nullius. Nam si res est alicujus, non magis illam laedere aut auferre licet, quàm alterius servos occidere, aut alterius perfugas recipere. Si igitur alterum alter vel in persona, vel rebus suis laesit, dat ei Jus quod habet in rem seu Jus belli. Est autem et inter laesionis species deceptio perniciosa, quâ damnum datur menti, ex quo descendit servandorum promissorum necessitas. Ex

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des Herzens. Verfehlungen aber sind deswegen zu meiden, weil sie der Lust des Herzens zuwider sind, denn sie sind wie unkörperliche Schläge. Von daher ist es ein Kennzeichen der Ungerechtigkeit, wenn etwas dem Herzen irgendwie widerstrebt. Er glaubt also, Gott habe unser Herz so geschaffen, daß eine gewisse natürliche Antipathie bestehe zwischen dem Herzen und dem, was man die Sünden nennt.¹²⁴ § 73. Diese Denker werden wir leicht miteinander vereinbaren, indem wir unsere eigene Ansicht erläutern. Es sind nämlich drei Stufen des Naturrechts zu unterscheiden: das strenge Recht, die Billigkeit und die Pietät.¹²⁵ Von diesen Stufen ist die folgende jeweils vollkommener als die vorhergehende und bekräftigt diese; im Streitfalle hebt sie die untere teilweise auf. Das strenge oder reine Recht leitet sich aus der Definition der Begriffe¹²⁶ ab und ist, wenn man es recht bedenkt, nichts anderes als das Kriegs- und Friedensrecht.¹²⁷ Denn zwischen einer Person und einer anderen herrscht so lange das Friedensrecht, wie die eine nicht einen Krieg angezettelt, d. h. die andere verletzt hat. Zwischen einer Person und einer Sache aber herrscht ständiges Kriegsrecht, weil eine Sache keine Einsicht besitzt. Und es erlaubt dem Löwen, einen Menschen zu zerfleischen, und dem Berg, einen Menschen unter einer Lawine zu zerquetschen. Umgekehrt erlaubt es dem Menschen, einen Löwen zu bändigen und einen Berg zu durchtunneln.¹²⁸ Der Sieg einer Person über eine Sache und die Gefangennahme dieser Sache wird aber Besitz genannt. Der Besitz verleiht also nach dem Kriegsrecht einer Person das Recht auf eine Sache, solange die Sache keinem gehört. Falls nämlich die Sache jemandem gehört, ist es ihm ebensowenig erlaubt, jene zu beschädigen oder zu rauben, wie es ihm erlaubt ist, die Knechte eines anderen zu töten oder die von einem anderen entlaufenen aufzunehmen. Wenn also der eine den anderen verletzt hat, sei es in seiner Person oder an seinen Sachen, gewährt er ihm das Recht, das er auf die Sache hat, d. h. das Kriegsrecht. Zu den Arten der Schädigung gehört aber auch der auf Verderben angelegte Betrug, der dem Geist des anderen einen Schaden zufügt. Hieraus leitet sich die Notwendigkeit ab, seine

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quo patet Juris Naturae meri unicum praeceptum esse: Neminem laedere, ne detur ei Jus belli. Huc pertinet Justitia Commutativa, et Jus, quod Grotius vocat Facultatem. §. 74. Aequitas seu aequalitas, id est, duorum pluriumve ratio vel proportio consistit in harmonia seu congruentia. Et coincidit cum Principiis Aristotelis, Grotii et Feldeni: Haec requirit, ut in eum qui me laesit, non bellum internecinum instituam, sed ad restitutionem; arbitros admitti, quod tibi nolis, alteri non faciendum; item ut puniatur non tàm imprudentia, quàm dolus et malitia; item ut infirmentur contractus subtiles, et circumventis subveniatur. De caetero Jus strictum observari ipsa aequitas jubet. Huc pertinent Hobbii dispositiones ad pacem. Sed aequitas dat solùm Jus laxè dictum, seu Grotii stylo aptitudinem uni; alteri verò obligationem plenam, v. g. Aequum est, ut qui dolosis subtilitatibus se à meo debito liberavit, mihi nihilominus teneatur, sed mihi non datur in eum actio persequendi; actio enim vel exceptio, vel quaecunque postulatio ex Jure mero descendit (nisi aliquid Lex addat), ille tamen est obligatus ut mihi det. Hinc illud praeceptum: Suum cuique tribuere. Sed Lex aut Superior dat aequitati exitum, et ex ea nonnunquam actionem vel exceptionem tribuit. §. 75. Tertium Juris principium est voluntas Superioris. Et huc quae Trasymachus apud Platonem suprà dicebat: Justum esse po-

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Versprechungen einzuhalten. Aus diesem Gedankengang erweist sich, daß die einzige Vorschrift des reinen Naturrechts lautet: niemanden zu verletzen, damit diesem nicht das Kriegsrecht eingeräumt wird. Hierher gehört auch die kommutative Gerechtigkeit und dasjenige Recht, das Grotius die Befugnis nennt. § 74. Die Billigkeit oder Ausgewogenheit, d. h. die Verhältnismäßigkeit oder Proportion zwischen zwei oder mehreren Rechtsansprüchen,¹²⁹ besteht in deren Harmonie oder Kongruenz. Und sie fällt zusammen mit den Prinzipien von Aristoteles, Grotius und von Felden: Sie gebietet, daß ich gegen den, der mich verletzt hat, keinen mörderischen Krieg führe, sondern ihn zum Schadenersatz veranlasse; daß Schiedsrichter zugelassen werden; daß das Prinzip eingehalten wird: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem anderen zu;¹³⁰ ebenso verlangt sie, daß nicht so sehr Unklugheit als vielmehr Arglist und Tücke bestraft wird; desgleichen, daß hinterlistige Verträge entkräftet werden und daß den Geschädigten Unterstützung zuteil wird. Im übrigen gebietet die Billigkeit selbst, das strenge Recht zu beachten.¹³¹ Hierhin gehören Hobbes’ Anordnungen zum Frieden. Die Billigkeit gewährt jedoch nur ein Recht im weiten Sinne des Wortes, d. h. in der Sprache von Grotius, sie gibt dem einen die Geeignetheit zum Rechtserwerb,¹³² dem anderen jedoch die volle Verpflichtung. Z. B. ist es billig, daß derjenige, der sich durch hinterlistige Vertragsraffinessen einer Schuld mir gegenüber entzogen hat, mir nichtsdestoweniger etwas schuldig ist. Es wird mir jedoch kein Verfolgungsanspruch gegen ihn eingeräumt, denn eine Klage oder ein Einspruch oder irgendeine Forderung leitet sich aus dem reinen Recht ab (solange kein Gesetz dem etwas hinzufügt). Gleichwohl ist jener verpflichtet, mir einen Rechtsanspruch zuzubilligen. Hieraus ergibt sich die Vorschrift: jedem das Seine zuzuerteilen. Allein das Gesetz oder ein Höherer verhilft der Billigkeit zum Durchbruch und räumt ihretwegen manchmal eine Klage oder einen Einspruch ein.¹³³ § 75. Das dritte Prinzip des Naturrechts ist der Wille eines Höheren. Und hierzu gehört, was Thrasymachos in Platons obengenannter Schrift sagte: Gerecht ist, was dem Mächtigeren nützlich

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tentiori utile. Superior autem est vel natura, Deus: Ejusque voluntas iterum est vel naturalis, hinc Pietas, vel Lex, hinc Jus divinum positivum; vel superior est pacto, ut homo, hinc Jus Civile. Pietas igitur tertius est gradus Juris Naturae, tribuitque caeteris perfectionem et effectum. Nam Deus, quia omniscius et sapiens est, Jus merum et aequitatem confirmat; quia omnipotens, exequitur. Hinc coincidit utilitas generis humani, imò decor et harmonia mundi, cum voluntate divina. Ex hoc principio jam ne bestiis quidem et creaturis abuti licet. Huc reducuntur meditationes Sforziae Pallavicini. Ex hoc fundamento, ne se ipso quidem abuti licet, quia nos ipsimet sumus Dei, cui omnipotentia tribuit Jus in omnia. Hinc illud praeceptum: Honestè vivere. Cùmque Jus strictum et aequitas careat vinculo Physico; Deus accedens efficit, ut quicquid publicè, id est, generi humano et mundo utile est, idem fiat etiam utile singulis; atque ita omne honestum sit utile, et omne turpe damnosum. Quia Deum justis praemia, injustis poenas destinâsse ex ejus sapientia constat: Et quae destinavit perfecturum omnipotentiae ratio evincit. »Existentia igitur Entis alicujus sapientissimi et potentissimi, seu Dei, est Juris Naturae fundamentum ultimum, quae à nobis Mathematica certitudine demonstrata, cùm prodibit in publicum, disjectura est penitus nebulas ab Atheis veritati offusas.«

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ist. Höher aber ist jemand zum einen von Natur aus, wie Gott; und dessen Wille ist wiederum teils natürlich, woraus die Pietät entspringt, teils ist er Gesetz, woraus sich das positive göttliche Recht ergibt;¹³⁴ zum anderen ist er höher durch Vertrag, wie ein Mensch, woraus sich das bürgerliche Recht ergibt.¹³⁵ Die Pietät ist also die dritte Stufe des Naturrechts und verleiht den anderen Stufen ihre Vollendung und Wirksamkeit. Gott nämlich bestätigt das reine Recht und die Billigkeit, weil er allwissend und weise ist, und setzt beide durch, weil er allmächtig ist. Daher fällt der Vorteil des Menschengeschlechts, ja die Schönheit und Harmonie der Welt, mit dem göttlichen Willen zusammen. Nach diesem Prinzip ist es bereits nicht einmal erlaubt, wilde Tiere und Geschöpfe zu mißbrauchen. Hierauf führen die Überlegungen von Sforza Pallavicino zurück. Aus diesem Grund ist es nicht einmal erlaubt, mit sich selbst Mißbrauch zu treiben, weil wir selbst eigentlich Gott gehören, dem seine Allmacht das Recht auf alles gewährt.¹³⁶ Hieraus ergibt sich die Vorschrift: ehrenhaft zu leben. Und weil zwischen dem strengen Recht und der Billigkeit das physische Band fehlt, stellt Gott es durch seinen Beistand her, so daß alles, was öffentlich, d. h. für das Menschengeschlecht und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es auch für die einzelnen nützlich ist, und daß somit alles Ehrenvolle nützlich und alles Schändliche schädlich ist. Denn daß Gott für die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen festgesetzt hat, erhellt aus seiner Weisheit. Und was er an Zukünftigem beschlossen hat, setzt der Plan seiner Allmacht durch. »Die Existenz des weisesten und mächtigsten Wesens, d. h. Gottes, ist folglich der letzte Grund des Naturrechts.¹³⁷ Wenn seine Existenz von uns mit mathematischer Gewißheit bewiesen worden ist und der Beweis an die Öffentlichkeit treten wird, dann wird dies die von den Atheisten über die Wahrheit verbreiteten Wolken gänzlich zerreißen.«

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[b)] §. 76. [75.] Alter Jurisconsulti in casibus decidendis oculus est Nomothesia, cujus principium utilitas Reipublicae, quae ita est ad Rempublicam, uti pietas ad mundum et Rempublicam universalem. De Nomothesia praeclarè disseruêre Hopperus in Seduardo, Conringius tum in praefatione Hopperi, tum in Civili Prudentia et Propolitico. Consistit autem salus populi, suprema Reipublicae Lex, in bono ipsorum civium tanquam materiae, et conservatione Regiminis tanquam formae. Nam et Lipsius duo ait inspicienda; naturam populi et naturam Regni, quod commendat Boeclerus in diss. de Politica Lipsiana. Bonum Regiminis consistit in jure publico, et tali caeterarum quoque Legum formatione, ut mutatio praecaveatur. Bonum civium consistit in dõäáéìïíßu et Põôáñêåßu, seu bonis animi et fortunae. Quanquam egestas homines non solùm ridiculos, ut ait Poëta, sed et improbos facit. Ad dõäáéìïíßáí, seu virtutem pertinent omnes Ordinationes Politicae, inprimis quibus educatio et conversatio, tanquam principia malorum et bonorum morum formantur; item praemia virtutibus, poenae vitiis. Ad PõôÜñêåéáí pertinent Leges de Commerciis, Manufacturis, Sumtuariae, etc. Ad utramque simul pertinent Leges, quae Jus privatum et Judicia formant, nam si cuilibet Jus suum tribuitur, evitantur peccata retinentium, et paupertas amittentium. Danda autem opera non solùm, ut cuilibet Jus suum tribuatur, sed et citò. Quò pertinent Ordinationes Processus. In his omnibus praeclarae

2 [75.] ] korrigiert aus [77.] nach A VI 2, 525

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[ b) Die höchsten Zwecke der Gesetzgebung ] § 76. Das zweite Auge des Rechtsgelehrten, der die Fälle zu entscheiden hat, ist die Nomothetik, deren Prinzip der Nutzen für den Staat ist. Dieser bedeutet für den einzelnen Staat, was die Pietät für die Welt und den Universalstaat bedeutet.¹³⁸ Die Nomothetik haben Hopper in seinem Seduardus und Conring, teils in seinem Vorwort zu Hopper,¹³⁹ teils in seiner Bürgerlichen Klugheit und seinem Propoliticus,¹⁴⁰ vorzüglich erörtert. Nun besteht aber das Wohl des Volkes, das das höchste Gesetz des Staates ist,¹⁴¹ im Wohl der Bürger selbst, das gleichsam die Materie des Staates ist, und in der Erhaltung der Regierung, die gleichsam die Form des Staates ist. Auch Lipsius hat nämlich gesagt, daß zwei Dinge zu beachten seien: die Natur des Volkes und die der Herrschaft.¹⁴² Dies hat Boecler in seiner Darlegung der Lipsiusschen Politik weiterempfohlen.¹⁴³ Das Wohl der Regierung besteht im öffentlichen Recht und in einer solchen Gestaltung auch der übrigen Gesetze, daß ihrer Veränderung vorgebeugt wird. Das Wohl der Bürger besteht im Glück und in der Selbständigkeit, d. h. in den Gütern des Geistes und der äußeren Situation.¹⁴⁴ Dagegen erzeugt Mangelwirtschaft nicht nur lächerliche, wie der Dichter sagt,¹⁴⁵ sondern auch üble Leute. Zum Glück oder zur Tüchtigkeit gehören die öffentlichen Verordnungen, insbesondere diejenigen, durch die die Erziehung und der Umgang, gleichsam die Prinzipien der schlechten und guten Sitten, geregelt werden, und ebenso die Belohnungen für die Tugenden bzw. die Strafen für die Laster. Zur Selbständigkeit gehören die Gesetze, die den Handel, die Werkstätten, die öffentlichen Aufwendungen usw. betreffen. Zu beiden zugleich gehören die Gesetze, die das Privatrecht und die Urteile gestalten.¹⁴⁶ Denn wenn jedem sein Recht zuerkannt wird, werden die Verfehlungen derer, die etwas zurückbehalten, und die Armut derer, die dafür büßen müssen, vermieden. Man muß sich aber nicht bloß darum bemühen, daß jedem sein Recht eingeräumt wird, sondern auch darum, daß dies schnell erfolgt. Hierauf beziehen sich die Gerichtsverordnungen. In allen diesen Fragen sind die Überlegungen des Otta-

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sunt meditationes Octavii Pisani in Lycurgo, qui docuit, quomodo formatâ conversatione et educatione in ipsa radice possint evelli scelera; et quomodo si omnia coram Magistratu autoritate publicâ gerantur consignenturque libris publicis, ut Venetiis in Banco, possint evitari Processus. Sed huc perfectionis non veniemus, det tamen Jurisconsultus operam, ut ad eam quantum potest, accedat. […]

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vio Pisani in seinem Lycurgus vortrefflich.¹⁴⁷ Er hat gezeigt, wie durch die Anordnung des Umgangs und der Erziehung Freveltaten an der Wurzel ausgemerzt werden könnten und wie Gerichtsverhandlungen vermieden werden könnten, wenn alle Streitfälle in Gegenwart der Obrigkeit und ihrer öffentlichen Autorität vorgetragen werden und in öffentlichen Büchern beurkundet werden, wie bei den Venezianern in ihrer Bank. Doch auch wenn wir bis zu diesem Grad an Vervollkommnung nicht gelangen, so soll sich doch der Rechtsgelehrte Mühe geben, sich ihr so weit anzunähern, wie es ihm möglich ist. […]¹⁴⁸

III. Entwürfe zu den ›Elementen des Naturrechts‹ (1669 –1671)

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III. Elemente des Naturrechts

[1.] H. Grot. proleg. introducit Carneadem asserentem justitiam aut nullam aut summam esse stultitiam, qvoniam sibi noceat alienis commodis consulens. Grotius negat stultum esse alienis commodis suo damno consulere. Ego non dubito qvin hoc stultum sit, adeò ut nisi hoc sit stultum nihil sit stultum. Qvid est enim obsecro stultitia nisi negligentia (nam et qvi ignorat, negligit; et qvi scit nec in agendo adhibet) propriae utilitatis. Rectius Cicero negat utilitatem ab honestate sejungi debere. H. Grot. prolegom. Iustum est qvod convenit naturae humanae, ei autem congruit societatis custodia. Qvia et peculiare ei instrumentum datum, sermo. H. Grot. prolegom. Iustum fore, qvod societatis conservandae interest, etiamsi nullus esset DEUS. Hoc assentiri non possum, generaliter esset tamen aliqvid justum nullo dato DEO. Nam morte sua redimere salutem patriae, stultum est si nullum est praemium sperandum ultra mortem. Est enim suo damno alienae utilitatis causam esse. Id si sciens facias stultum est, maximè si damnum magnum sit. Damnum autem inter maxima, si nulla est vita post hanc vitam, est mors. Maximum autem damnum alienae utilitatis causa subire stultum est. Nihil autem stultum justum est. Nec refert qvod qvi sapientes habentur, qvi laudati sunt publicè, qvi

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1. Gerechtigkeit mit und ohne Gott (1669 –1670 ?)¹ H. Grotius führt in seiner Vorrede ² den Karneades³ an, der behauptet, daß es Gerechtigkeit entweder nicht gebe oder daß sie die höchste Dummheit sei, weil sich ja selbst nur schade, wer sich um die Vorteile anderer sorgt.⁴ Grotius bestreitet, daß es dumm sei, sich um die Vorteile anderer bei eigenem Nachteil zu sorgen. Ich dagegen bezweifle nicht, daß dies dumm ist. Ja, wenn dies nicht dumm ist, so gibt es überhaupt nichts Dummes. Denn was um Himmels willen ist Dummheit, wenn nicht die Vernachlässigung des eigenen Vorteils ?⁵ (Denn wer seinen Vorteil nicht erkennt, vernachlässigt ihn ebenso wie derjenige, der zwar um ihn weiß, aber ihn nicht im Handeln ergreift.) Viel richtiger behauptet Cicero, daß man die Vorteilhaftigkeit von der Ehrenhaftigkeit nicht abzutrennen brauche.⁶ H. Grotius schreibt in der Vorrede: Gerecht ist, was mit der menschlichen Natur übereinstimmt. Diese aber erfüllt sich in der Bewahrung der Gemeinschaft. Deshalb ist ihr auch ein besonderes Mittel gegeben: die Sprache.⁷ H. Grotius in der Vorrede: Gerecht werde sein, was für die Bewahrung der Gemeinschaft von Belang ist, auch wenn kein Gott wäre.⁸ Dieser Behauptung kann ich nicht zustimmen. Gäbe es doch dann ganz allgemein etwas Gerechtes, ohne daß Gott wäre.⁹ Denn durch den eigenen Tod das Heil des Vaterlandes zu retten, ist dumm, wenn kein Lohn nach dem Tode zu erhoffen ist. Es bedeutet nämlich, auf eigenen Nachteil hin Ursache für fremden Vorteil zu sein. Wenn man dies wider besseres Wissen tut, ist es dumm, insbesondere wenn der eigene Schaden groß ist. Wenn es aber kein Weiterleben nach diesem Leben gibt, ist der Tod ein Schaden, den man wohl zu den größten zählen darf. Den größten Schaden aber um eines fremden Nutzens willen auf sich zu nehmen, ist dumm. Nichts Dummes aber ist gerecht. Es hilft auch nichts zu beteuern, daß gerade diejenigen, die für die Weisen gehalten werden, die öffentlich gerühmt und durch Standbilder ver-

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III. Elemente des Naturrechts

statuis donati, vitam suam patriae impenderunt, interesset enim Reipublicae, etiamsi nullus esset DEUS, homines sic credere, id est stultos esse publico bono. Qvemadmodum etsi nullus esset DEUS, interesset tamen Reipublicae eum esse credi. Qvod ergo Curtius, si vera est fama, in hiatum desiliit obstruendae pestilentis exhalationis causa, aut credidit proficisci se in locum anima suâ, qvi hanc corporis jacturam pensaret, et prudenter egit (etsi potuit evenire, ut falleretur, sed inevitabiliter, qvod est non imprudentem esse sed infelicem, tametsi sint qvi negent providentiam DEI pati posse ut qvisqvam prudens sit infelix), aut aliqvot dierum licentiam et saginationem, qvam ei nonnulli imputant, reliqvae vitae praetulit, qvod est stultum. Idem dicendum est, si futuram nominis immortalitatem falsa qvadam imaginariae aeternitatis opinione praeceptam, et exiguo tempore inebriatae menti in immensum exaggeratam dignam credidit qvae sic emeretur. Neqve enim gloria futura nisi praesens bonum est desituris. Et pone Achillem nec per somnium cogitasse de Homero aut Homeri simili laudatore, certum est, nihilo eum Homeri laudibus factum beatiorem, nisi aliqvis ei sensus superfuit ultra mortem. Et Vaninus homo sceleratissimus, sed ex hypothesi pessima rectè ratiocinatus observat laudes suas, si qvas meriturus sit, non magis ad se pertinere, qvàm

8 imprudentem ] korrigiert aus prudentem nach A VI 2, 527 14 exiguo ] korrigiert aus ex imaginario nach A VI 2, 527

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ehrt worden sind, ihr Leben dem Vaterland geopfert haben. Denn auch wenn es keinen Gott gäbe, wäre es für den Staat von Interesse, daß die Menschen dies doch glaubten, d. h. daß sie zugunsten des öffentlichen Wohles dumm wären. So wäre es, auch wenn es keinen Gott gäbe, dennoch für den Staat wichtig, daß an Gott geglaubt wird.¹⁰ Warum also stürzte sich Curtius, falls die Legende wahr ist, in den Erdspalt, um das Aufsteigen der verderblichen Dämpfe zu unterbinden ?¹¹ Entweder glaubte er, mit seiner Seele an einen Ort aufzubrechen, der diese Aufopferung seines Leibes wieder ausgleichen würde; und dann hat er klug gehandelt (und zwar auch dann, wenn es hätte geschehen können, daß er sich getäuscht hätte, aber auf unvermeidbare Weise – dies heißt nicht unklug sein, sondern sein Glück verfehlen; indessen gibt es einige, die leugnen, daß die Vorsehung Gottes es zulassen kann, daß irgend jemand, der klug ist, sein Glück verfehlt). Oder aber Curtius zog die Zügellosigkeit und Völlerei von ein paar Tagen, die ihm von nicht wenigen nachgesagt wird, dem Rest des Lebens vor, was dumm ist. Ebenso dumm muß man es nennen, wenn er die zukünftige Unsterblichkeit seines Namens aufgrund einer falschen Meinung vorgestellter Ewigkeit vorweggenommen, sie durch kurze Zeit für seinen trunkenen Geist ins Unermeßliche gesteigert und dann für wert erachtet hat, sie sich auf die obengenannte Weise zu verdienen. Denn für diejenigen, die einst tot sein werden, ist zukünftiger Ruhm kein Gut, wenn sie ihn nicht als gegenwärtig genießen können. Man nehme einmal an, daß Achill auch nicht im Traum an einen Homer oder an einen dem Homer gleichrangigen Sänger seines Ruhmes gedacht hätte. Mit Sicherheit wäre er durch die späteren Lobgesänge Homers kein Quentchen glücklicher gemacht worden, es sei denn, daß ihm nach seinem Tod irgendein Sinnesorgan übriggeblieben wäre, mit dem er die Lobgesänge hätte wahrnehmen können. Auch war Vanini zwar ein höchst verruchter Mensch, aber er hat aus der schlechtesten Hypothese doch korrekt geschlußfolgert und festgestellt, daß die Lobesworte über ihn, falls er denn solche verdient hätte, keine größere Bedeutung für ihn als Nea-

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qvendam alium Iul. Caesarem Vaninum Siculum, cùm ipse esset Neapolitanus. Qvanqvam rursus fateor esse stultum sed felicem qvi qvod bono deest possit imaginatione fortuita supplere (nam si consultò potest nihil est prudentius, nihil artificiosius). Felices errore suo. Qvare si fingatur nullus est DEUS nihil amplius justum erit, qvàm qvod svadet Thomas Hobbes in libro de Cive. Idem ab accuratissimo Conringio est egregiè observatum. Grot. prolegom. Si qvi verae justitiae sacerdotes, inqvit, naturalis et perpetuae jurisprudentiae partes tractandas susciperent, semotis iis qvae ex voluntate libera ortum habent, alius qvidem de Legibus, alius de Tributis, alius de judicum officio, alius de voluntatum conjectura, alius de factorum facienda fide, posset deinde ex omnibus partibus collectis corpus confici. Nos certè qvam Viam ineundam censeremus reipsa potius qvàm verbis ostendimus in hoc opere qvod partem jurisprudentiae nobilissimam continet. Notabilis est hic Grotii locus et laudabili modestia respuens qvae nunc ei Encomiastae immoderati tribuunt juris naturae et gentium Elementa tradidisse. Cum tamen pleraqve sint obiter delibata qvatenus bellorum materia esse possunt; perinde ac si qvi de Iudiciis scribunt, cum actiones obiter exponunt, Iurisprudentiam universam complexi dicantur. Grotium in prolegom. miror Pandectarum Aerodii, libri profecto insignis nullam fecisse mentionem. Malim non novisse,

12 fide ] darüber : (+ probatione +) 17 gentium ] korrigiert aus gentium (universi) nach A VI 2, 527 22 fecisse ] korrigiert aus facere nach A VI 2, 527

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politaner hätten als für irgendeinen Sizilianer mit dem gleichen Namen Julius Cäsar Vanini.¹² Indessen gestehe ich wiederum zu, daß zwar dumm, aber glücklich ist, wer dasjenige, was ihm an Gutem fehlt, durch ein zufälliges Phantasiegebilde vervollständigen kann (wenn das nämlich jemand absichtlich vermag, so gibt es nichts Klügeres und nichts Kunstvolleres). Solche Menschen sind glücklich aufgrund ihres Irrtums.¹³ Aufgrund dieser ganzen Überlegungen wird, wenn man sich einbildet »Es ist kein Gott«, nichts gerechter sein als dasjenige, was Thomas Hobbes in seinem Buch Vom Bürger anrät.¹⁴ Dasselbe ist vom höchst sorgfältig genauen Conring auf hervorragende Weise beobachtet worden.¹⁵ Grotius schreibt in der Vorrede: Wenn die Priester der wahren Gerechtigkeit es unternähmen, die Teile der natürlichen und unveränderlichen Rechtswissenschaft zu behandeln, wenn sie dasjenige entfernten, was der Willkür entsprungen ist, und wenn der eine über die Gesetze, der andere über die Steuern, der dritte über das Richteramt, der vierte über die Auslegung der Willenserklärungen und der fünfte über die Beweisführung ¹⁶ bei Tatsachen handelte, so könnte endlich aus der Sammlung aller Teilbereiche ein ganzes Korpus hergestellt werden. Den Weg, der hierbei nach unserer Einschätzung gewiß einzuschlagen ist, haben wir mehr durch die Sache selbst als durch Worte im vorliegenden Werk aufgezeigt, das den vornehmsten Teil der Rechtswissenschaft umfaßt.¹⁷ Bemerkenswert ist diese Stelle bei Grotius, und mit löblicher Bescheidenheit weist sie diejenigen als maßlose Lobredner zurück, die ihm schon jetzt bescheinigen, uns die Elemente des Natur- und Völkerrechts an die Hand gegeben zu haben. Denn es sind doch bei ihm sehr viele Dinge nur nebenbei berührt, die insofern bloß Materialien für das Kriegsrecht abgeben können.¹⁸ Jenes Lob wäre ebenso übertrieben, als ob man von Leuten, die über Gerichtsurteile schreiben und dabei nebenher Prozesse schildern, behaupten würde, daß sie die gesamte Rechtswissenschaft in ihrem ganzen Umfang begriffen hätten. Ich wundere mich, daß Grotius in seiner Vorrede die Pandekten von Ayrault,¹⁹ ein wahrhaftig ausgezeichnetes Buch, gar nicht erwähnt hat. Ich bin eher geneigt anzunehmen, daß er es nicht ge-

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qvàm conscium et usum, qvi potuisset enim tunc aliter, malignè praeteriisse. Florentinus ICtus in l. ut vim. D. de Iust. et Iur. cum qvandam inter nos cognationem natura constituerit conseqvens hominem homini insidiari nefas esse. Cognationis ambigua vox est, vel enim significat similitudinem, vel derivationem. Utraqve potest aliqvid ad vim hominis in hominem reprimendam. Illa, qvia similibus compatimur, ob imaginem mali nostri malis eorum cohaerentem; derivatio continet affectum qvendam teneriorem, identitatis qvo similitudo acuitur. Hobbes contra Grotium negat jus esse qvicqvid sapientioribus aut pluribus placuerit. Ita est, facit tamen juris praesumtionem. At qvis judicabitur sapientior. Hoc verò dignoscere non difficile. Qvanqvam fatear in juris qvaestionibus homini sapienti non magis respiciendas aliorum sententias, qvàm Geometram autoritas Archimedis movet qvia ipse per se omnia computare potest. Habet tamen hunc usum aliorum autoritas qvod nobis praelaboravit et materiam jam praeparavit et monstravit etiam ubi < tempore nostro cogitandum est >

11 sapientioribus ] korrigiert aus sapientibus nach A VI 2, 527 18 f. jam ] ergänzt; et ] ergänzt; monstravit etiam ] korrigiert aus demon-

strandam item; ergänzt nach A VI 2, 527

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kannt hat, als daß er wissentlich auch den Vorteil, der ihm dann nämlich anderweitig zugute gekommen wäre, in mißgünstiger Weise ungenutzt gelassen hätte. Der Rechtsgelehrte Florentinus²⁰ sagt an der Stelle Über Gerechtigkeit und Recht : ²¹ Daraus, daß die Natur eine Verwandtschaft unter uns geschaffen hat, folgt, daß es frevelhaft ist, wenn ein Mensch dem anderen nachstellt.²² »Verwandtschaft« ist ein doppeldeutiges Wort. Denn zum einen bezeichnet es die Ähnlichkeit, zum anderen die gemeinsame Abstammung. Beides trägt dazu bei, die Gewalt eines Menschen gegen den anderen zu hemmen: die Ähnlichkeit, weil wir mit Ähnlichem mitleiden, sofern sich an die Vorstellung vom Übel anderer die unseres eigenen Übels knüpft; die Abstammung aber erhält ein noch feineres Gefühl von Wesenseinheit aufrecht, durch das die Ähnlichkeit noch gesteigert wird. Im Widerspruch zu Grotius bestreitet Hobbes, daß (natürliches) Recht alles dasjenige sei, was diejenigen für gut befinden, die weiser sind oder die Mehrheit bilden.²³ Und hier sieht er richtig. Und doch setzt Hobbes die Vermutung der Rechtmäßigkeit²⁴. (in die Weisheit und Mehrheit). Wer aber ist derjenige, der als der Weisere zu beurteilen ist ? Dies auszumachen ist allerdings nicht schwer. Gleichwohl muß ich gestehen, daß bei Rechtsfragen ein weiser Mensch die Ansichten anderer nicht stärker zu berücksichtigen braucht, als die Autorität eines Archimedes einen Geometer beeindruckt; denn er selbst kann für sich alles ausrechnen. Doch hat die Autorität anderer immerhin den Nutzen, daß sie uns vorgearbeitet, den Rohstoff schon zubereitet und auch gezeigt hat, [wo etwas für unsere Zeit zu bedenken bleibt.]

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[2.] [ a) ] Iustum est lucrum meum cum non lucro alieno indemnitas non-damnum meum cum damno alieno necessitas mea cum jactura alienae Injustum est lucrum meum cum damno alieno non-damnum meum cum jactura necessitatis alienae nihil meum cum non lucro alieno. Lucrum voco hîc omnem boni absentis positivi acqvisitionem, aut mali praesentis positivi amotionem. Damnum voco omnem boni praesentis positivi remotionem, aut mali absentis positivi adventum. Indemnitatem damni evitationem. Necessitatem miseriae evitationem. Miseriam statum illum, in qvo aggregatum malorum praeponderat aggregato bonorum.

4 indemnitas ] ist Überschreibung zu non-damnum nach A VI 2, 527 8 non-damnum ] korrigiert aus non damnum nach A VI 2, 527

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2. Untersuchungen zum strengen Recht, zur Billigkeit und zur Pietät (1669 –1670 ?)²⁵ [a) Proportionen des Gerechten und Billigen] Gerecht ist:²⁶ .– mein Vorteil (Gewinn), auch wenn er mit einem Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn) für einen Fremden verbunden ist, .– meine Nicht-Benachteiligung (Nicht-Schädigung), auch wenn sie mit einem Nachteil (Schaden) für einen Fremden verbunden ist, .– das für mich Notabwendende, auch wenn es verbunden ist mit der Preisgabe dessen, was für einen Fremden notwendig ist. Ungerecht ist: .– mein Vorteil (Gewinn), sofern er die Benachteiligung (Schädigung) eines Fremden hervorruft, .– meine Nicht-Benachteiligung (Nicht-Schädigung), sofern durch sie einem Fremden das Notabwendende vorenthalten wird, .– was mir in keiner Weise zum Vorteil (Gewinn) gereicht, aber mit einem Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn) für einen anderen verbunden ist. Vorteil (Gewinn) nenne ich hier jeden Erwerb eines abwesenden gegebenen Gutes bzw. jede Abwendung eines gegenwärtigen gegebenen Übels. Nachteil (Schaden) nenne ich jede Verhinderung eines gegenwärtigen gegebenen Gutes bzw. jedes Eintreffen eines abwesenden gegebenen Übels. Nicht-Benachteiligung (Nicht-Schädigung) nenne ich die Vermeidung von Nachteil (Schaden), Notabwendung die Vermeidung von Unglück (Elend). Unglück (Elend) nenne ich jenen Zustand, in dem die Ansammlung von Übeln die Anhäufung der Güter überwiegt.

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Qvam praeponderationem saepe unius magni mali accessio dare potest. Ut ergo justitia sit animus nemini sine necessitate damnosus, sed addendum adhuc est aliqvid. Nimirum justus non tantùm non nocere alteri debet, sine necessitate sua, sed et juvare alterum, primum cum sine miseria sua miseriam alterius redimere potest, deinde cum sine cessatione lucri sui damnum alterius redimere potest, tertiò cum sine cessatione lucri sui alteri lucrum qvaerere potest. Nam ut lucri sui cessatione damnum alterius redimat, non puto imperari. Nisi inter veros amicos, qvorum omnia sunt communia usqve ad miseriam. Id est ut amicus amici causa id est sua, omnia faciat praeter miseriam suam. Qvia et alter rursus facit. Ut

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Lucrum ad alterum perventurum praeripere est damnum dare. Etsi injustum sit belli initium, justa tamen est continuatio si qvis faciat 15 qvantum potest et debet. Retorsio an aeqvalis bonum aufert. Qvi damnum dat tenetur ad restit., qvi sciens ad cautionem, qvi culpa ad attentionis cautionem sed qvomodo – Posita immortal. animae impossibile est ut alius possit pervenire ad miseriam meam. 20 Retorsio, dem. qvod ex inimicitia non seqvatur ius belli, seqvitur tamen ius renocendi cum bono suo. Ex prioribus regulis demonstratur qvod qvis teneatur se disponere ad amicitiam. 16 an ] korrigiert aus in, aeqvalis korrigiert aus aeqvales nach A VI 2, 527 18 qvomodo – ] korrigiert aus qvod – nach A VI 2, 527

2. Strenges Recht, Billigkeit, Pietät

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Dieses Übergewicht kann oft hervorgerufen werden durch das Eintreten eines einzigen großen Übels.* Somit ist also Gerechtigkeit die Willenshaltung, die niemanden ohne Not schädigt;²⁷ doch muß darüber hinaus noch etwas hinzugefügt werden. Selbstverständlich ist ein gerechter Mensch nicht bloß verpflichtet, einen anderen nicht ohne Not zu schädigen, sondern auch einem anderen zu helfen: erstens, wenn er das Unglück eines anderen aufheben kann, ohne selbst dadurch ins Unglück zu stürzen; zweitens, wenn er ohne Versäumnis des eigenen Vorteils den Nachteil des anderen beseitigen kann; und drittens, wenn er ohne Versäumnis seines Vorteils den Vorteil des anderen suchen kann. Daß man nämlich unter Verlust des eigenen Vorteils den Nachteil des anderen beseitige, kann meines Erachtens nicht geboten werden, es sei denn unter echten Freunden, die alles gemeinsam tragen bis hin zum Unglück.²⁸ Dies bedeutet, daß der Freund alles um des Freundes willen, das heißt aber letztlich für sich unternimmt, außer zum eigenen Unglück. Denn auch der andere tut

* [Notizen von Leibniz am unteren Rand der ersten Seite: ] Einen Vorteil, der dem anderen zukommen würde, ihm wegschnappen, heißt ihm einen Schaden zufügen. Auch wenn der Beginn eines Krieges ungerecht ist, so ist doch seine Fortsetzung gerecht, wenn jemand tut, soviel er kann und muß. Ob eine Wiedervergeltung ein gleichwertiges Gut mindert ? Wer einen Schaden verursacht, ist zur Wiedergutmachung verpflichtet. Wer ihn vorsätzlich verursacht, zu einer Sicherheitsleistung. Wer ihn nur fahrlässig verursacht, zur Wahrung künftiger Achtsamkeit. Aber auf welche Weise ? Vorausgesetzt, daß die Seele unsterblich ist, ist es unmöglich, daß ein anderer mein Unglück erreicht. Die Wiedervergeltung, abgesehen von dem Fall, daß sie aus Feindschaft entspringt, folgt nicht dem Kriegsrecht. Sie folgt jedoch dem Recht, wiederzuschädigen unter Wahrung des eigenen Wohls. Aus den vorhergehenden Regeln wird bewiesen, daß man dazu gehalten ist, sich zur Freundschaft bereitzumachen.

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III. Elemente des Naturrechts

adeò amicus etiam damno suo minore lucrum alteri majus procuraturus sit, qvia hoc faceret sibi. Et si qvis hoc egit altero consentiente, debet illi alter tantundem, aut damni, imò et lucri cessantis restitutionem. Culpae poena esse debet.

[b)] Qvi sciens nocet sine necessitate in eum est jus belli. Sunt autem hi gradus: qvi sciens sine bono alio suo nocet aut nocere conatur saluti meae, proximus gradus est si qvis sciens sine bono alio suo ostendat se qvaerere damnum meum, tertius gradus est si ostendat sine bono suo se qvaerere non lucrum meum. (Qvibus omnibus casibus sine bono suo qvaerit malum meum). Qvae jam jura horum bellorum ? Seqvuntur casus, qvibus aliqvis sciens propter bonum suum alteri damnum dat. Et qvidem vel propter lucrum cessans nocere saluti conatur, vel propter damnum emergens nocere saluti conatur, vel propter necessitatem suam nocere alienae conatur. Aut conatur tantùm simplex damnum dare lucri sui causa. Nam damni sui causa etsi minoris potest nisi sit amicitia. Seqvuntur casus qvibus aliqvis ex culpa alteri damnum dat, nam hîc lucri impedimentum non curatur, sed tantùm si vel saluti vel

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2. Strenges Recht, Billigkeit, Pietät

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dies seinerseits. Deshalb wird ein Freund sogar bei einem kleineren eigenen Nachteil für einen größeren Vorteil beim anderen sorgen, weil der andere dies auch für ihn tun würde. Und wenn dies jemand mit der Zustimmung des anderen getan hat, schuldet der andere ihm ebensoviel oder vielmehr eine Wiedergutmachung des Nachteils, ja sogar des verlorenen Vorteils. Es muß die Gegenleistung der Schuldigkeit entsprechen.

[b) Fragen der angemessenen Strafe und Entschädigung ] (1.)²⁹ Gegen den, der vorsätzlich schädigt ohne Not, gilt das Kriegsrecht. Es gibt aber bei Vorsätzlichkeit folgende Stufen: erstens, wenn jemand, ohne ein weiteres eigenes Gut vor Augen zu haben, meinem Wohlbefinden vorsätzlich schadet oder zu schaden bestrebt ist; die zweite Stufe liegt vor, wenn jemand ohne Hinblick auf ein weiteres eigenes Gut vorsätzlich zu erkennen gibt, daß er meinen Schaden sucht; die dritte Stufe ist gegeben, wenn er erkennen läßt, daß er, ohne ein eigenes Gut anzuzielen, nicht meinen Vorteil sucht. (In allen diesen Fällen sucht er, ohne ein eigenes Gut dadurch zu erlangen, mir ein Übel zuzufügen). Was mögen nun die entsprechenden Kriegsrechte sein ? Es folgen die Fälle, in denen jemand vorsätzlich um seines Wohles willen einem anderen Schaden zufügt. Und zwar ist er bestrebt, entweder wegen eines ausbleibenden Vorteils oder wegen eines auftretenden Nachteils oder aufgrund eigener Not dem Wohl des anderen zu schaden. Oder er sucht bloß einen schlichten Nachteil zu bewirken, um dadurch einen Gewinn zu erzielen. Denn auf seinen eigenen Nachteil hin zu handeln, mag es auch nur ein kleinerer sein, dies kann nur bei Freundschaft geschehen. (2.) Daran schließen sich die Fälle an, in denen jemand schuldhaft einem anderen Schaden zufügt; denn die Verhinderung eines Vorteils wird an dieser Stelle nicht berücksichtigt, sondern nur der Fall, daß jemand im Begriff ist, schlechthin einen Schaden für Le-

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bonis simpliciter damnum dare conetur, id est daturus sit nisi casus interveniat, seu faciat qvod in se est. Tenetur autem talis 1.) probare qvantum potest innocentiam suam, 2.) cavere de futura attentione. Imò si probare excusationem non possit, vel saltem non reddere verisimilem, tenetur cavere de futura bona voluntate, uti is qvi dolo damnum dedit. An ultra ad poenam, aliqvam tenetur qvemadmodum et is qui sciens damnum dedit, puto distingvendum. Nam aut cavere non potest bonis nostris, et tunc licet ei tantum mali dare, ut saltem memoria eius impediat eum à porro nocendo. Si verò saluti nostrae periculum ab eo immineat, licebit cavere uti optimè possumus, id est è medio tollere. Si verò cavere possit bonis nostris sine malo suo, tunc addendum est ei aliqvid mali aliorum causa, ne et ipsi noceant nobis, si videant noceri nobis impunè posse, nec aliud expectandum esse, nisi ut imposterum non noceas qvod jam tum, evenit si nunc qviescas. In aestimandis autem salutis periculis licet esse scrupulosissimum, in aestimandis aliis remissiorem esse decet. Et hoc est scil. verum ius belli. Porro major poena imponenda est nocenti sine bono suo, qvàm nocenti propter bonum suum. Tanta autem debet esse poena qvanta ad absterrendum et ipsum si aliter cavere neqveat, aut alios sufficere potest. Unde etsi qvis caveat cum aliqvo malo suo non tamen sufficiente addi potest aliqvid.

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ben oder Güter zu bewirken, d. h. daß er den Schaden verursachen wird, falls ihm nichts dazwischen kommt, d. h. daß er schädigt, soviel er nur kann. In diesem Fall ist er gehalten, 1. soweit wie möglich die eigene Schuldlosigkeit zu beweisen, 2. sich künftig in acht zu nehmen, indem er sich aufmerksamer verhält. Ja, falls er seine Entlastungsgründe nicht beweisen oder zumindest wahrscheinlich machen kann, ist er sogar gehalten, sich in acht zu nehmen, indem er guten Willen zeigt, so wie derjenige es muß, der aus Arglist Schaden bewirkt hat. Ob er darüber hinaus zu dem gleichen Strafmaß gehalten ist wie einer, der vorsätzlich Schaden verursacht hat, ist meiner Ansicht nach unterschiedlich zu bemessen. Denn entweder vermag er für unsere Güter keine Sicherheit zu leisten, und dann ist es erlaubt, ihm so viel an Unannehmlichkeit zuzufügen, daß zumindest dieser Denkzettel ihn hindert, weiterhin mit dem Schädigen fortzufahren. Wenn uns von ihm sogar eine Gefahr für Leib und Leben droht, wird es erlaubt sein, uns auf bestmögliche Weise vor ihm zu schützen, d. h. ihn aus der Gemeinschaft zu entfernen. Oder aber, falls er für die Sicherheit unserer Güter leisten kann, ohne daß er selbst dadurch ein Übel erleidet, so ist ihm eine Unannehmlichkeit zuzufügen zur Warnung anderer, damit auch diese uns nicht in dem Moment schaden, wo sie sehen, daß man uns ungestraft schädigen kann, und daß sie nichts anderes zu erwarten haben – es sei denn, man wollte es hinnehmen, daß der Betrüger ungeschoren davonkommt, was bereits in dem Augenblick geschieht, wo man untätig bleibt. Beim Einschätzen der Lebensgefährlichkeit darf man allerdings sehr ängstlich genau sein, beim Einschätzen anderer Gefahren sollte man gelassener sein. Und so stuft sich natürlich auch das eigentliche Kriegsrecht. Ferner ist die Strafe größer zu bemessen bei dem, der ohne Beabsichtigung eines eigenen Gutes schädigt, als bei dem, der um des eigenen Wohles willen schädigt. Es muß aber die Strafe genau so groß sein, wie zur Abschreckung nötig, gerade dann, wenn man sich vor jenem oder auch anderen nicht anders hüten kann. Daraus erhellt, daß jemandem, der sich zwar achtsam verhält, dem das Maß seines Übels aber noch nicht voll ist, noch weiteres widerfahren kann.

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Iustitia est prudentia in aliis juvandis aut laedendis. Qvanqvam si qvis prudentiam violâsse dicatur in aliis nimium amandis non dicitur injustus. Ut ergo justus sit, qvi prudenter aliorum malum qvaerit aut bonum non qvaerit. Ut ergo nomen justitiae ex usu vulgi non satis respondeat virtuti in medio positae inter duos affectus amorem et odium aliorum. DEUS justus est, etsi nullas harum regularum observet, qvia nihilominus prudens est, nisi fortè ei placeat homines se amare. Sed hoc ei qvodammodo placet qvodammodo non placet, habet enim aliud principium harmoniam universalem. Sed pergamus: Si qvis sit tam potens ut aliorum iras non habeat cur vereatur, nisi laude seu bona de se opinione delectetur, non habebit ex prudentia causam cur justus sit. Sed hâc qvilibet delectabitur, qvia omnis sapiens delectabitur pulchritudine seu harmonia. Sed ita tamen ut penset inter se istam ex harmonia voluptatem, et damnum suum. Doctrina de Iusto et doctrina de officiis eadem est, scilicet qvid persona à persona cum ratione desiderare possit, cum ratione, id est ut et desiderantis et rogati intersit nullo tamen respectu habito utilitatis rogati, nisi ut vel ostendatur ei non nocere bonum meum, vel ostendatur ei nocere malum meum. Non ut ostendatur ei prodesse bonum meum, vel ut ostendatur ei non prodesse malum meum. Vel potius solum ut ostendatur ei nocere malum meum, non alioqvin fortè per accidens sed per se. Id est, dum me aut alios, si ego non possim, ad poenam repetendam incitabit, aut

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Gerechtigkeit ist die Klugheit im Umgang mit dem Helfen bzw. Schädigen gegenüber anderen. Indessen wird jemand, von dem man sagt, daß er die Klugheit mißachtet habe, indem er andere allzusehr liebt, nicht ungerecht genannt.³⁰ Hiernach müßte folglich als gerecht gelten, wer auf kluge Weise für andere Übles sucht bzw. nicht Gutes sucht. Und somit entspräche der Begriff der Gerechtigkeit gemäß dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht genügend dieser Tugend, die in der Mitte zwischen den beiden Affekten der Liebe und des Hasses gegenüber anderen liegt. Gott ist gerecht, auch wenn er keine von diesen Regeln beachtet. Denn er ist nichtsdestoweniger klug, sofern er es nicht vielleicht für gut befindet, die Menschen zu lieben. Doch dies befindet er unter dem einen Aspekt für gut, unter dem anderen auch nicht. Denn er hat als weiteres Prinzip die Universalharmonie.³¹ Doch fahren wir weiter fort. Wenn jemand so mächtig ist, daß er keinen Grund hat, die Rachegefühle anderer zu fürchten, so wird er keinen aus Klugheit entspringenden Grund haben, warum er gerecht sein sollte, es sei denn, daß er sich über ihr Lob oder über seinen guten Ruf bei ihnen freut. Hieran aber wird sich ein jeder freuen, denn jeder weise Mensch wird an der Schönheit oder Harmonie Freude empfinden; dies jedoch so, daß er das Verhältnis abwägt zwischen jener aus der Harmonie entspringenden Lust und seinem Nachteil.³² Die Lehre vom Gerechten enthält dasselbe wie die von den Pflichten, nämlich was eine Person von einer anderen mit Grund erwarten kann. Mit Grund heißt, daß sowohl dem Bittenden als auch dem Befragten daran gelegen ist, ohne daß jedoch Rücksicht auf die Nützlichkeit für den Befragten genommen wird – es sei denn, daß ihm entweder gezeigt wird, daß mein Wohl ihm nicht schadet, oder aber gezeigt wird, daß mein Übel ihm schadet. Nicht daß ihm gezeigt werden müßte, daß mein Wohl ihm nützt oder daß mein Übel ihm nicht nützt. Vielmehr müßte ihm bloß gezeigt werden, daß mein Übel ihm schadet, und zwar nicht durch irgendwelche Zufallsverkettungen, sondern an sich, d. h. insofern er dann mich oder (falls ich dazu nicht in der Lage bin) andere dazu drängen wird, eine Strafe von ihm einzufordern bzw. bewir-

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me vel alios ad praemium referendum. Ut ergo tandem Iustitia sit prudentia, qva non nocemus aliis poenae, prosumus praemii causa. Nam aliae rationes nihil ad justitiam. DEUS autem ipse est praemium sibi. Generaliter: Iustitia est prudentia in efficiendo aliorum bono aut non efficiendo malo boni sui hac animi declaratione efficiendi, aut mali sui non efficiendi (id est praemii asseqvendi aut poenae vitandae) causa. Est autem poena malum passionis pro malo actionis. Praemium bonum passionis pro bono actionis. Seu voluptas propria ab aliis procurata pro prudenter tentata aliena. Poena Dolor proprius ab aliis procuratus pro imprudenter tentato alieno. Potest pro dolore et voluptate substitui bonum et malum. Redeamus in circulum. Seqvuntur casus qvibus aliqvis alteri nocet sine dolo pariter et culpa, et vel damnum dat, nam si lucrum intercipit, nihil ad rem pertinet cum nec sciens puniatur; vel miseriam affert. Priore casu inter damnum dandum, impedire licet etiam cum ipsius damno non cum miseria tamen, post damnum datum nullo modo tenetur, nisi ad reparationem sine damno suo. An verò ad hanc etiam cogi potest ? Ita puto posse, ne infelicitas utriusqve aut mihi aut illi noceat, sed an etiam tenebitur ad reparationem cum damno suo ?

20 utriusqve ] korrigiert aus utriqve nach A VI 2, 527

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ken wird, daß ich oder die anderen eine Belohnung zurückerstattet bekommen. Somit wäre also schließlich Gerechtigkeit diejenige Klugheit, nach der wir zur Vermeidung von Strafe andere nicht schädigen und um einer Belohnung willen anderen nützen. Denn andere Beweggründe zur Gerechtigkeit sind ohne Belang.³³ Gott aber ist sich selbst der Lohn. Allgemein läßt sich definieren: Gerechtigkeit ist die Klugheit, das Wohl anderer bzw. nicht ihr Übel zu bewirken, um gerade durch diese Willensbekundung das eigene Wohl bzw. nicht das eigene Übel zu erwirken (d. h. um einen Lohn zu erwerben oder eine Bestrafung zu vermeiden).³⁴ Nun ist aber Strafe das Üble, das man für ein Übel erleidet, das man begangen hat. Belohnung ist das Gut, das man für ein erwiesenes Gut empfängt. Oder sie ist die eigene Lust, die einem von anderen verschafft wird, weil man die Lust anderer klug zu erwirken gesucht hat. Bestrafung ist der eigene Schmerz, der einem von anderen zugefügt wird, weil man den Schmerz anderer unklug zu erwirken gesucht hat. Für »Schmerz« und »Lust« können die Worte »Gut« und »Übel« eingesetzt werden.³⁵ Doch kehren wir auf den ursprünglichen Argumentationskreis zurück ! (3 a.) Es folgen diejenigen Fälle, in denen jemand einen anderen ohne Hinterlist und zugleich ohne Schuld schädigt.³⁶ Und zwar richtet er entweder bloßen Schaden an (denn wenn er einen Vorteil vereitelt, macht dies hier keinen Unterschied, sofern der Betreffende ja nicht als ein vorsätzlich Handelnder bestraft wird) oder verursacht darüber hinaus sogar Unglück.³⁷ Im ersten Falle ist es erlaubt, ihn zu bremsen, während er den Schaden anrichtet, auch wenn er selbst hierdurch Schaden, nicht jedoch eigenes Unglück erleidet. Wenn der Schaden aber einmal geschehen ist, ist er lediglich gehalten, eine Entschädigung zu leisten, ohne daß ihm selbst ein Schaden zugefügt wird. Ob er aber zu einer solchen Entschädigung auch gezwungen werden kann ? Ich glaube, er kann dazu gezwungen werden, damit nicht, was ein Mißgeschick auf beiden Seiten ist, als ein Schaden entweder nur auf meine oder nur auf seine Seite geschlagen wird. Wird er aber zu einer Entschädigung

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An dividenda saltem res erit ut alter ferat damnum alter lucrum, an ad nihil tenetur. Si rem accuratè expendas, ad qverelas tollendas et obliquos intuitus, schehle augen, animumqve aversum, nam qvi nobis etiam sine sua culpa damnum dedit, cogimur inviti egisse, aeqvum erit, ut dividamus damnum, ita uterqve se alteri infelicitate nocuisse et sibi nocitum cogitans, redibunt in gratiam. Qvia aeqvè alter habet cur qveratur de re mea sibi objecta, qvàm ego de eo in rem meam incurrente, si culpa utrinqve absit. Qvae qvod absit docendum ab eo qvi damnum dat, nisi habeat praesumtionem juris. Et hoc est onus qvo gravatur in tali casu uterqve alteri. Maximè tamen is in cuius re est motus, seu qvi cujusve res est aggressor. Nam alioqvin non puto simpliciter ideò teneri me qvia aries tuus à meo aggressore occisus est, nisi ad dimidium arietis, ad qvod tenebor etsi meus se defendendo occiderit tuum, modò inqvam culpa abest. Idem de servis nostris judicandum puto. Ut qvod ille tibi damnum dedit culpa sua, sine mea, eius ego debeam tibi partem tantùm. Sed tamen à servo tibi castigationem qvanta mihi non damnosa est praeterea debeo, pro portione delicti, si modò non casu nocuit.

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auf seinen vollen eigenen Nachteil hin gehalten sein ? Oder wird die Sache zumindest aufzuteilen sein, so daß der Schädiger einen Verlust und der Geschädigte einen Gewinn davonträgt ? Oder aber ist er zu gar nichts gehalten ? Wenn man die Angelegenheit sorgfältig bedenkt, die Klagen, die zu beschwichtigen sind, die schrägen Blicke (schehle Augen) und die Feindseligkeit – denn auch bei dem, der uns ohne sein Verschulden einen Schaden zugefügt hat, schlußfolgern wir unwillkürlich, daß er es darauf angelegt habe –, so wird es billig sein, daß wir den Schaden teilen.³⁸ Auf diese Weise werden beide zur Wohlgefälligkeit zurückkehren, weil jeder von beiden sich dessen bewußt ist, daß er durch das Mißgeschick dem anderen geschadet hat und selbst geschädigt ist. Denn wenn auf beiden Seiten die Schuld fehlt, hat der andere ebenso einen Grund, über mein ihm zuwiderlaufendes Verhalten zu klagen, wie ich Grund habe, über ihn zu klagen, der mir in die Quere kommt. Daß aber ein solches Verschulden nicht vorliegt, ist nachzuweisen von dem, der den Schaden verursacht hat, falls er keine Vermutung der Rechtmäßigkeit hat.³⁹ Auch dieser Unschuldsbeweis ist eine Belastung, die in solchem Falle jeder von beiden dem anderen aufbürdet, am meisten jedoch der, dessen Sache die Veranlassung gegeben hat, d. h. der selbst bzw. dessen Sache den Schaden verursacht. Denn ich glaube nicht, daß ich zu etwas darüber hinaus schlechthin schon deshalb gehalten bin, weil etwa dein Widder durch den Angriff meines eigenen Widders getötet worden ist, höchstens zu einer Entschädigung vom halben Wert des Widders, wozu ich auch dann gehalten sein werde, wenn mein Widder den deinigen nur im Selbstverteidigungskampf getötet hat – freilich nur dann, wenn, wiegesagt, kein Verschulden vorliegt.⁴⁰ Das Gleiche gilt meiner Ansicht nach in bezug auf unsere Knechte. So schulde ich dir z. B. von dem Schaden, den mein Knecht dir durch sein Verschulden, aber ohne meine Schuld zugefügt hat, nur einen Teil. Wenn dir aber von meinem Knecht ein Schaden zugefügt wird, schulde ich dir außerdem seine Bestrafung, soweit sie mir nicht schadet, und zwar im angemessenen Verhältnis zum Vergehen, falls der Schaden nicht durch bloßen Zufall eingetreten ist.

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Hinc noxae deditio introducta, ut tute eum pro arbitrio castiges. Etsi ea res sola non sufficiat, ut qvod Romani Numantinis Hostilium Mancinum dedidêre, opus est et damni pro dimidia parte reparatione. In rem autem qvae damnum dedit dabitur ius retentionis. An et ius hypothecae, etsi non teneam ? Ita sanè, nisi ei juri expressè renuntiem. Nam etsi tibi reddam, fiducia tamen reparationis tibi reddere intelligor, et qvasi credo. Qvid verò de jure reali, id est re mea aut in qvam habeo ius hypothecae, an et qvomodo à tertio peti potest. An absolutè, ita ut ei non restituam damnum suum, fortè si rem sine culpa sua à fure emit, vel ignorante. Et non puto, nec video qvâ de causa, potius si culpa mea fuerit in amittendo, reddere ei omnia sua debeo, recepta re mea, dedi enim ei damnum culpa mea. Igitur habeo ius reale seu in ipsam rem praecisè, modò alteri non noceatur, potest enim fieri ut ego habeam in re pretium affectionis, qvod mihi auferendum non est, et alterum sufficit extra damnum esse, ut et ego sim. Si ipse sit in culpa solus feret damnum, aliud sc. si rem à fure sciens non animo retinendi, sed mihi servandi, aut etiam nullo emit, et rem alioqvi non eram servaturus, communicandum est damnum. In genere qvoties in

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Von daher hat man die Befreiung vom Schadenersatz durch Auslieferung der den Schaden verursachenden Sache eingeführt. Somit kann man den Knecht gefahrlos nach eigenem Ermessen strafen. Und falls dies allein nicht ausreicht, wie z. B. in dem Fall, als die Römer ihren Konsul Hostilius Mancinus den Numantinern auslieferten,⁴¹ so bleibt eine Wiedergutmachung in halber Höhe des Schadens nötig. Auf eine Sache aber, die einen Schaden verursacht hat, wird das Recht auf Einbehaltung eingeräumt werden. Ob mir aber weiterhin auch das Pfandrecht eingeräumt werden wird, selbst wenn ich die Sache nicht mehr innehabe ? So ist es in der Tat, falls ich nicht ausdrücklich auf dieses Recht verzichte. Denn auch wenn ich dir die Sache aushändige, erkenne ich doch, daß ich dir damit auch das Vertrauen auf Wiedergutmachung und somit gleichsam Glauben schenke. Was aber gilt in bezug auf das dingliche Recht, d. h. auf meine Sache bzw. die Sache, auf die ich das Pfandrecht habe ? ⁴² Kann sie vom Dritten gefordert werden, und wenn ja, wie ? Etwa ohne jede Bedingung, so daß ich ihm keine Entschädigung mehr erstatten muß, wenn er zufällig meine Sache ohne Verschulden bzw. ohne Wissen von einem Dieb gekauft hat ? Das glaube ich nicht, und ich wüßte auch nicht, warum. Vielmehr muß ich ihm nach der Wiedererlangung meiner Sache alles zurückerstatten, was ihm zusteht, wenn er den Verlust durch meine Schuld erlitten hat; denn ich habe ihm den Schaden ja durch meine Schuld zugefügt.⁴³ Das dingliche Recht, d. h. das Recht eben auf die Sache selbst, liegt folglich bei mir, nur daß dadurch der andere nicht geschädigt werden darf. Es kann nämlich sein, daß die Sache für mich einen Liebhaberwert hat, den man mir nicht rauben darf; und so genügt es, daß der andere in einer Weise schadlos gesetzt wird, die auch mich nicht schädigt. Wenn er hingegen selbst Schuld hat,⁴⁴. wird er den Schaden allein tragen. Anders liegt der Fall natürlich, wenn er die Sache wissentlich von dem Dieb gekauft hat, und zwar nicht in der Absicht, sie für sich zu behalten, sondern sie mir zu sichern, bzw. ohne eine bestimmte Absicht, und ich die Sache auf keinem anderen Wege erhalten konnte. Dann ist der Schaden auf-

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altero est animus sibi habendi, aut etiam rei perditio culpa facta, cum scire potuit istum esse furem. Nisi sit res qvae servando servari non potest, item res cuius nullum potest esse pretium affectionis, qvalia sunt liqvida purè homogenea, seu res fungibiles. Si perdidit rem meam culpa aliqvis, qvaeritur an teneatur etiam ad pretium affectionis verum tamen, seu ad pretium mihi particulare, non commune. Putem non teneri, qvia culpa est non providere damnum, non potuit autem providere nisi damnum commune, nec somniare de re pretium valde magnum, alioqvi magis cavisset. At qvi sciens nocet, tenetur de pretio aestimationis. Qvid de rei fructibus. Putem distingvendum, si illi fructus etiam apud me producendi erant in individuo mihi deberi individuum, si alii fortè erant probabiliter producendi, sed aeqvipollentes, concurrere me ad pretium. Si non erant producendi, fortè is qvi habuit rem meliorem reddidit, ad illos me planè non concurrere, sed in rei repetitione eorum pretium deducendum, id est efficiendum ut aeqvale sit damnum et lucrum. Si qvid ego specificem in re aliena ignorans, tunc et mihi ius erit in individuum, si qva in re melio-

3 esse ] ergänzt nach A VI 2, 527 4 fungibiles ] korrigiert aus frugibiles nach A VI 2, 527

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zuteilen. Im allgemeinen muß dies geschehen, sooft beim anderen die Absicht besteht, die Sache für sich zu behalten oder auch sooft schuldhaft eine Zerstörung der Sache erfolgt ist, wenn er wissen konnte, daß jener ein Dieb ist – sofern es nicht eine Sache ist, die nicht durch bloßes Aufbewahren erhalten werden kann, desgleichen, wenn die Sache keinen Liebhaberwert für jemanden hat, wie z. B. gänzlich homogen belassene Flüssigkeiten oder auch Gebrauchsgegenstände. Falls jemand meine Sache schuldhaft zerstört hat, erhebt sich die Frage, ob er gehalten ist, dennoch den wahren Liebhaberwert zu erstatten, d. h. den Wert, den die Sache speziell für mich und nicht für uns beide gemeinsam hat. Ich möchte glauben, daß er dazu nicht gehalten ist. Denn schuldhaft ist eine mangelnde Vorsicht im Hinblick auf Schaden. Hier aber konnte er Vorsicht nur im Hinblick auf einen gemeinsamen Schaden walten lassen und konnte auch nicht im Traum den enormen Wert erahnen, den die Sache für mich hat; denn sonst hätte er sich mehr in acht genommen. Wer meine Sache aber vorsätzlich zerstört, ist auch zu einer Entschädigung in Höhe meiner persönlichen Wertschätzung gehalten. Wie ist die Rechtslage bei den Erträgen einer Sache zu beurteilen ? Ich möchte glauben, daß man unterscheiden muß: Wenn die besagten Erträge auch bei mir erwirtschaftet werden mußten, so bin ich sie in ungeteilter Weise im ganzen Umfang schuldig.⁴⁵. Wenn aber glaubhaft gemacht werden kann, daß mit ihnen zufällig noch weitere, aber gleichwertige Erträge erbracht werden sollten, so habe ich mich mit dem Geschädigten auf einen Entschädigungswert zu einigen. Wenn sie aber nicht bei mir hergestellt werden mußten und zufällig derjenige, der den Auftrag hatte, eine höherwertige Sache zurückgegeben hat, so muß ich mich gar nicht auf den Wert der Erträge einigen, wohl aber bei der Rückerstattung der Sache den Mehrwert der Erträge abzweigen, d. h. sicherstellen, daß Verlust und Gewinn sich die Waage halten. Wenn ich nun eine mir ansonsten unbekannte Sache in besonderer Weise weiterverarbeite, so steht in diesem Falle auch mir das Recht auf das ungeteilte Ganze zu, wenn ich sie in einem Teil verbessert habe.

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rem fecerim. Et si in materia ipsa non sit pretium affectionis, ut si ego in tua charta scribam, utiqve cedet charta tua rei meae. Sin in utroqve ipsum pretium affectionis aestimetur, sed an is retinebit cui prius est ius affectionis, an cui maius. Puto ei qvi maius, sin par ei qvi prius. Neqve enim potest sic dici, ut ei qvi prius, si aeqvalia, ei qvi maius, si aeqvidiuturna. Ei cui magis est magis qvàm qvi prius vel contra, si neqve aeqvalia neqve aeqvidiuturna, qvia non possunt in se invicem duci. Adde qvod sola damni ratio habenda est. Si tamen aeqvale sit damnum, putem priorem praeferri. Qvia excessus sui est huic ius retentionis. Et caeteris paribus prior tempore potior jure. Hoc ipso qvia caeteris paribus omnia sunt restituenda in statum priorem. Haec de jure reali in Rep. Romana paulò aliter constituta sunt, ut scilicet dominus rem suam reciperet sine detractione, emtor infelix haberet regressum ad venditorem. Non omnino malè, si modò regressus haberi possit, qvanqvam mero jure debeat regressus communis esse utriqve, malè tamen si Emtori regressus inopia

5 sic ] ergänzt nach A VI 2, 527 14 detractione ] korrigiert aus detractatione nach A VI 2, 527

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Hierbei steht, wenn sich mit dem Stoff der Sache kein besonderer Liebhaberwert verbindet, z. B. wenn ich auf deinem Papier etwas verfasse, der Wert deines Papiers hinter dem Wert meiner Aufzeichnung zurück. Wenn allerdings von beiden Seiten gerade der Liebhaberwert geltend gemacht wird, soll dann etwa derjenige die Sache einbehalten, dem das Recht auf ihren Liebhaberwert früher zukam, oder derjenige, der einen größeren Anspruch auf den Liebhaberwert erheben darf ? Ich glaube, daß derjenige die Sache einbehalten darf, der den größeren Liebhaberwert auf seiner Seite hat, hingegen bei gleichem Liebhaberwert derjenige, der ihn zuerst erkannt hatte. Man kann es aber nicht so formulieren, daß zwar derjenige die Sache einbehalten darf, der bei gleichem Liebhaberwert ihn früher erkannte, daß aber auch umgekehrt derjenige die Sache einbehalten darf, der bei gleich früher Entdeckung den größeren Liebhaberwert auf seiner Seite hat. Demjenigen, der den größeren Liebhaberwert auf seiner Seite hat, steht die Beibehaltung der Sache eher zu als dem, der ihn früher entdeckt hat, und umgekehrt – wenn die Liebhaberwerte weder gleich groß noch gleich früh entdeckt sind. Denn beides kann nicht wechselseitig aufeinander zurückgeführt werden. Man muß hinzufügen, daß allein das Verhältnis des Schadens zu beurteilen ist. Wenn jedoch der Schaden gleich groß ist, so glaube ich, daß der Erstgeschädigte den Vorrang hat. Denn die Zweckverfremdung seiner Sache bedeutet für ihn ein Recht auf Einbehaltung. Und unter sonst gleichen Bedingungen ist der der Zeit nach Erste der dem Recht nach Stärkere. Denn auf dieser Grundlage muß unter sonst gleichen Bedingungen alles wiedererstattet werden bis zur Erreichung des Ausgangszustandes. Diese Angelegenheiten, die dingliches Recht betreffen, sind im römischen Staat ein wenig anders geregelt worden, und zwar so, daß der Eigentümer seine Sache ohne Wertminderung zurückerhält, der unglückliche Käufer aber einen Ersatzanspruch an den Verkäufer hat. Das ist nicht ganz übel eingerichtet, falls der Käufer einen Ersatzanspruch zu bekommen vermag, obwohl der Ersatzanspruch nach reinem Recht⁴⁶ auf beiden Seiten liegen muß.

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aut absentia eius à qvo habet elidatur. Respublica igitur qvae has leges condidit, debet Emtorem indemnem praestare. Ita enim aeqvum est. Si plures concurrant autores, si res per plurium manus eat, communicandum inter omnes damnum est, neqve enim video qvo jure qvi ultimus est prae caeteris infelix esse debeat. Cùm juris sit, ut homines qvàm minimum à fortuna pendeant. Illud adhuc qvaerendum est, an hoc ut qvi mihi damnum sine culpa dedit, reparet, sit meri juris, ita ut exigere etiam per vim possim. Et puto, qvia ille se solum casibus communibus fortunae exemtum postulat. Cùm enim fortuna sit qvasi hostis cum qvo nobis belligerandum est, iniqvum est unum solum extra aleae jactum esse velle. Qvemadmodum ingruente in civitatem bello iniqvum est esse qvi domi desides neqve pugnare ipsi, neqve aliqvid conferre velint.

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[c)] Hactenus qvando qvis sine culpa sua alteri damnum dat. Nunc qvando qvis sine culpa sua alterius saluti periculum intentat, tunc repelli potest etiam cum pernicie sua. Sed si semel me in eum statum dejecit in qvo miser sim, puta me qvis invitus vel culpa sua, vel

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Diese Regelung ist jedoch übel, wenn sich für den Käufer der Ersatzanspruch zerschlägt durch die Not oder Abwesenheit dessen, von dem er die Sache erworben hat. Ein Staat also, der diese Gesetze erlassen hat, muß dafür bürgen, daß der Käufer schadlos bleibt. Denn so ist es nur billig. Wenn mehrere Veräußerer in ihren Rechtsansprüchen konkurrieren, wenn die Sache durch die Hände mehrerer Personen geht, ist der Schaden auf alle aufzuteilen; denn ich sehe auch nicht, aus welchem Grund derjenige, der als letzter an die Reihe kommt, zugunsten der anderen leer ausgehen sollte. Es ist nämlich die Aufgabe des Rechts, sicherzustellen, daß die Menschen so wenig wie möglich von den Launen des Zufalls abhängig sind. Darüber hinaus ist zu fragen, ob es nach reinem Recht geschieht, daß derjenige, der mir ohne sein Verschulden einen Schaden zugefügt hat, für diesen eine Entschädigung leisten muß, und zwar so, daß ich diese auch auf dem Zwangswege eintreiben kann. Ich glaube, ja; denn andernfalls würde jener verlangen, daß er als einziger von den gemeinsamen Schicksalsschlägen ausgenommen bleibt. Sofern wir nämlich den Zufall wie einen Feind bekämpfen müssen, ist es unbillig, daß ein einziger allein sich außerhalb des Würfelwurfs befinden will. Ähnlich unbillig ist es, wenn bei einem Krieg, der einen Staat befällt, einige Leute träge zuhause bleiben und weder selbst kämpfen noch einen anderen Beitrag leisten wollen.

[c) Strenges Recht, Billigkeit und Pietät bei Unglück und bei Rettungskonflikten] (3 b.) Bisher haben wir die Fälle behandelt, in denen jemand ohne Verschulden einem anderen bloßen Schaden zufügt.⁴⁷ Wenn aber nun jemand ohne Verschulden das Leben eines anderen in Gefahr zu bringen droht, dann darf er zurückgestoßen werden, auch wenn er dabei ins Verderben stürzt. Wenn er mich jedoch einmal in einen solchen Zustand niedergeworfen hat, in dem ich elend bin, wenn mich z. B. jemand ohne Vorsatz, sei es nun fahrlässig

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etiam sine culpa veneno infecit, ut jam morturus sim, in eo casu, si ponatur nullus esse DEUS, nec vita post hanc vitam, licet mihi qvod libet, qvasi desperato, nee qvisqvam prudens aliud contra me potest, qvàm mihi exitum accelerare, si videat me in omnes ferri. Sed si ferar tantùm in eum qvi sine culpa nocuit, vel etiam culpa sed in miseriam usqve, credo etiam tunc alios prudentes ei succursuros. Si tamen ferar in eum non usqve ad miseriam, credo omnes prudentes mihi succursuros, ut exigam ab eo qvantum solatii sine sua miseria mihi dare potest. Caeterum is qvi ita felix miser est, ut nemo ei amplius nocere possit, qvidvis facere jure potest. Sed is casus non datur, praeterqvam in DEO summè felice, nam summè miser non datur. Ego verò hoc loco non curo qvid detur aut non detur, sed abstractè ratiocinor. Haec sunt qvae persona per vim ab alia exigere potest sans faire tort aux sages, sine metu offensarum viri prudentis, saltem displicentiae. Nam etiam si qvis daretur inoccidibilis gigas, cui nec venena nocerent, nec cutis tormento perforari posset, nemo tamen erit, qvi neget eum agere injustè, id est dysarmonicè, ita ut actiones eius erga alios prudenti placere non possint. Nisi haec si lucrum suum qvaerat cum aliorum damno, dummodo non cum miseria. Sed de hoc amplius cogitandum. An non qvaesiturus sit

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oder auch schuldlos, mit einem Gift infiziert hat, so daß ich bereits im Sterben liege, so ist mir in diesem Fall – gesetzt, daß kein Gott ist und auch kein Weiterleben nach diesem Leben – als einem gleichsam Verzweifelten erlaubt, was mir beliebt. Und auch nicht irgend ein kluger Mensch vermag mir gegenüber etwas anderes, als mir das Sterben zu beschleunigen, wenn er sieht, daß ich gegen alle Umherstehenden in Raserei gerate. Wenn ich mich jedoch nur gegen denjenigen, der mir ohne seine Schuld oder auch schuldhaft das Übel zugefügt hat, hinreißen lasse, aber so weit, daß ich ihn ins Unglück stürze, so glaube ich, daß andere kluge Menschen dann ihm zu Hilfe eilen werden. Falls ich aber meine Raserei gegen ihn nicht bis zu seinem Unglück auswachsen lasse, so glaube ich, daß alle Klugen mir dabei helfen werden, von ihm so viel an Entschädigung zu verlangen, wie er mir gewähren kann, ohne ins Unglück zu geraten. Hingegen kann derjenige, der noch im Unglück so glücklich ist, daß niemand ihm noch weiter schaden könnte, zu Recht machen, was er will. Doch dieser Fall tritt nicht ein, es sei denn, man wollte Gott als den zuhöchst Glücklichen miteinbeziehen; einen zutiefst Unglücklichen nämlich gibt es nicht. Allerdings kümmere ich mich an dieser Stelle nicht darum, was es geben mag oder auch nicht; vielmehr ziehe ich bloß Schlußfolgerungen, in denen ich vom Einzelfall absehe. Dies sind Ansprüche, die eine Person mit Zwangsmitteln gegen eine andere Person geltend machen kann, ohne bei den Weisen Mißbilligung hervorzurufen, ohne die Furcht, bei einem Klugen Anstoß oder zumindest Mißfallen zu erregen. Denn auch wenn es einen unvernichtbaren Riesen gäbe, dem man weder durch Gift schaden noch durch Folter die Haut durchbohren könnte, so wird doch niemand leugnen, daß jener obengenannte Urheber der Verletzung ungerecht, d. h. disproportional⁴⁸ handelte, so daß seine Handlungen gegenüber anderen von einem verständigen Menschen nur gebilligt werden können, wenn er seinen Vorteil sucht und dabei zwar andere schädigt, aber nicht ins Unglück treibt. Doch über diesen Punkt ist noch tiefer nachzudenken: Ob man nicht auch zu Recht einen Vorteil suchen wird, der mit dem Unglück anderer

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etiam cum aliorum miseria. Qvotusqvisqve est hominum qvi non bestiis sensum qvendam tribuat, et ratiocinationem qvandam, ferè ut infanti, qvi cogitare non loqvi potest, nec tamen verentur illi minimi lucri sui causa bestias miseras facere, idqve vix qvisqvam ab omni aevo injustitiae accusavit demtis paucis Pythagoreis, gulae nostrae causa bestias occidere, scilicet qvia non metuimus ne ideò magis in nos conspirent. Sed notandum est esse et aliam rationem. Qvod scilicet si extra metum simus (nam cura salutis praeponenda est curae laudis, non ponebat enim rumores ante salutem, unde Tyranni dum salvi sint parum illud curant, in odio esse: dicunt enim oderint dum metuant) qvaerimus omnes laudem. Idqve nemo sapiens non qvaerit, qvia harmoniam qvaerit. Harmoniae autem velut Echo qvoddam et reflexio et duplicatio est laus. Si DEUS non haberet in mundo Creaturas rationales, haberet eandem harmoniam, sed solùm demta Echo, eandem pulchritudinem solùm demta reflexione et refractione seu multiplicatura. Unde DEI sapientia exigebat Creaturas rationales, in qvibus se res multiplicarent. Ut una mens esset qvasi mundus qvidam in speculo, aut dioptra, vel qvolibet puncto radiorum visualium collectivo. Igitur qvae putamus aestimare bene maleve nostra posse, eis si prudentes sumus, satisfacimus. Is igitur potentissimus seu inviolabilis qvaeret fateor bonum summum qvantum haberi potest, sed tamen qvantum possibile est, imò qvia possibile est sine dolore alieno justo, id

16 multiplicatura ] korrigiert aus multiplicatione nach A VI 2, 527

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Wesen verbunden ist ? Wie klein ist das Häuflein derjenigen Menschen, das den wilden Tieren nicht irgendeine Art von sinnlicher Empfindung und Überlegung zuschreibt, beinahe wie dem Kind, das denken, aber noch nicht sprechen kann.⁴⁹ Und doch scheuen sich die Menschen, die den Tieren solche Fähigkeiten zuschreiben, nicht, sie um ihres kleinsten Vorteils willen in einen jämmerlichen Zustand zu bringen. Und von Ewigkeit her hat es – außer ein paar Pythagoreern⁵⁰ – kaum jemand als Ungerechtigkeit angeklagt, um unserer Gaumenfreude willen Tiere zu töten; wir Menschen mußten nämlich nie befürchten, daß die Tiere sich dann gegen uns verschwören. Man muß aber beachten, daß hier noch eine weitere Erwägung ins Spiel kommt. Wir suchen natürlich alle das Lob, wenn wir nicht in einem Zustand der Furcht sind (die Sorge um die heile Haut ist nämlich vordringlicher als die Sorge um das Lob, weil sie die gute Meinung niemals vor das Überleben setzt; daher sind die Tyrannen, solange sie wohlbeschützt sind, kaum darum besorgt, ob sie von den Leuten gehaßt werden; sie sagen sich nämlich: mögen sie mich doch hassen, wenn sie mich nur fürchten ⁵¹). Und zwar gibt es keinen Weisen, der nicht das Lob zu gewinnen sucht, denn er sucht die Harmonie. Lob aber ist gleichsam ein Widerhall, eine Widerspiegelung und Verdoppelung der Harmonie. Wenn Gott keine vernunftbegabten Geschöpfe in der Welt hätte, so besäße er dieselbe Harmonie, allerdings ohne Widerhall; er besäße dieselbe Schönheit, allerdings ohne Reflexion und Refraktion, d. h. ohne jede Vervielfältigung. Deshalb verlangte die Weisheit Gottes vernunftbegabte Geschöpfe, in denen sich die Dinge vervielfältigen sollten, so daß schon ein einziger Geist gleichsam die Welt in einem Spiegel oder in einer Doppellinse oder in einem beliebigen Brennpunkt sei, der die Sehstrahlen der sichtbaren Dinge sammelt.⁵² Folglich tun wir, wenn wir klug sind, denen Genüge, von denen wir glauben, daß sie unsere Handlungen als gut oder schlecht einschätzen können. Also sucht derjenige, der der Stärkste, d. h. unverletzbar ist, wie ich gestehen muß, sein höchstes Gut zu erlangen, soweit er nur kann. Er sucht es aber doch, soviel ihm möglich ist, ja gerade weil es ihm möglich ist, zu erlangen, ohne

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est qvem non ipsi sua conscientia et judicium aliorum in se refundat. Et sanè saepe indignamur servulos nostros malè de qvadam actione sentire, etsi sciamus non ausuros eos unqvam dicere. Haec ipsa ergo displicentia aliorum nobis dolet. Naturali qvadam inclinatione mentis amore aliorum et pulchritudine suae, delectantis. Fateor haec saepe aliis affectibus obnubilari, non ideò minus tamen imprudenter acta erunt. Verumne hoc ? arma tenenti Omnia dat qvi justa negat. Sanè verum est, non diutius dare omnia, qvàm qvamdiu negat justa, nam qvamprimum aut prostratus aut victus est, cessat ius in majora, qvàm qvae debentur, pugna suum finem cum jacet hostis habet. Sed et hoc ipsum dubites; an qvi justa negat omnia det. Finge te mihi centum debere, si aliter qvàm vi te cogere possum, prudenter à vi abstineo, non necessariò tamen nisi sit superior aliqvis qvi nos cogat. Imò fortè et aliorum intererit, vim non adhiberi, dum res aliter terminari potest, etsi nullus sit superior. Ergo tu qvidem nullo jure repugnabis, alii te jure defendent, sed non alio qvàm ut rem mihi aliter praestent, imò et cautionem, id est ut te in ordinem redigant, nolo enim ego me contemtum. Etsi caetera omnia obtineam, obtinenda est tamen et voluptas par dolori ex laesione. Nam

8 arma tenenti Omnia dat qvi justa negat ] kursiv nach A VI 2, 527 19 enim ] korrigiert aus nempe nach A VI 2, 527

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Mißbilligung von seiten eines anderen Gerechten zu erfahren, d. h. ohne eine Mißbilligung, die weder das eigene Gewissen noch die Beurteilung durch andere verdrängen kann. Und in der Tat kränkt es uns oft schon, daß unsere kleinen Knechte schlecht über irgendeine unserer Handlungen urteilen, auch wenn wir wissen, daß sie es niemals wagen würden, dies auszusprechen. Diese Mißbilligung von seiten anderer setzt uns also zu, und zwar aufgrund einer gewissen natürlichen Neigung des Geistes, sich über das Geliebtwerden durch andere und über die eigene Schönheit zu freuen. Ich räume ein, daß all dies häufig durch andere Affekte eingetrübt wird; und doch wird es darum nicht weniger unklug geschehen. Ist nicht folgendes Wort richtig ? Wer demjenigen, der die Waffen hält, seine Rechte verweigert, gesteht ihm damit alles zu.⁵³ Richtig ist natürlich, daß man nicht über den Zeitraum hinaus alles zugesteht, als man die Rechtsansprüche verweigert; denn sobald man niedergestreckt oder besiegt ist, endet auch jedes Recht auf etwas, das über dasjenige, was man schuldet, hinausgeht. Der Kampf findet sein Ende, wenn der Feind am Boden liegt. Doch gerade dies schon mag man bezweifeln: ob derjenige, der bestimmte Rechtsansprüche verweigert, damit auch wirklich alles zugesteht. Stell dir vor, daß du mir 100 Geldstücke schuldest ! Wenn ich dich anders als durch Gewalt dazu zwingen kann, nehme ich klugerweise von Gewalt Abstand, jedoch nicht notwendigerweise – es sei denn, daß ein Höherer da ist, der uns beide zwingt. Ja, es werden vielleicht sogar andere ein Interesse daran haben, daß keine Gewalt angewendet wird, solange die Sache auf andere Art beendet werden kann, auch wenn kein Höherer da ist. Folglich wirst du dich zwar ohne jegliches Recht widersetzen; andere mögen dich zu Recht verteidigen; aber mit keinem anderen Recht als demjenigen, mit dem sie umgekehrt für mich die Sache verbürgen würden, ja sogar auch meine Sicherheit; d. h. daß sie dich zur Räson brächten. Ich meinerseits dulde nämlich keine Geringschätzung gegen mich. Auch wenn ich mich in allen übrigen Sachen behaupte, steht mir doch auch eine Genugtuung zu, die gleich stark ist wie jener Schmerz, der aus der Verletzung hervorgegangen ist. Denn im allgemeinen

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in genere qvicunqve parati sunt mihi praestare qvae ab alio jure desidero, rectè impedire vim meam possunt. Deinde si vis adhibenda est, opus est rursus multis utiqve Temperamentis. Nam si pro rei alicuius obtentione aut retentione pugno, non est aliqvid agendum, unde miseria seqvatur. Per exemplum si duo rustici de certa re litigent, si capillos mutuò involent et evellant, si se plagis invicem dedolent, sed et si tum tu destruis rem meam, ego tuam, nulla violentia in corpus, hactenus moderatum est bellum. At cùm miseria alterius qvaeritur, internecinum. Unde qvi primus inter mutuas depalmationes cultrum aut gladium eduxit communi consensu reus habetur. Ac talis est pugna inter duos principes, ubi capillos tantùm mutuò involant, id est subditos inter se committunt, ipsi domi tantùm non amici. Sed et inter Respp. est simile qviddam, si qva in bello officia exhibeantur, nec pugnetur, nisi ubi occurrunt sibi armati. Unde rursus conseqvitur injustè agere, qvi primus cùm paribus potest armis vim propulsare, imparibus utitur; unde injustè utiqve egit qvi primus arma letalia induxit, cùm posset aliis pugnari, injustius, qvi primus missilia, qvae jam minus caveri possunt. Adhuc magis qvi occulta, et qvae difficilius caveri possunt, ut qvi primus sine denunciatione arma intulit, qvi primus incendiariis veneficisqve grassari in hostem sibi permisit. Item qvae nocentiora sunt, nec vincunt tantùm, sed et perdunt, ut sagittae ve-

1 jure ] ergänzt nach A VI 2, 527 7 tu ] korrigiert aus deniqve nach A VI 2, 527 17 letalia ] korrigiert aus telalia nach A VI 2, 527

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gilt: Alle, die bereit sind, mir für das zu bürgen, was ich von einem anderen zu Recht verlange, können auch mich zu Recht an meiner Gewaltausübung hindern. Wenn dann Gewalt anzuwenden ist, sind wiederum unter allen Umständen viele ausgleichende Vermittlungen nötig. Denn wenn ich für die Behauptung bzw. Zurückbehaltung einer Sache kämpfe, darf keine Handlung begangen werden, aus der Unglück folgte. Wenn z. B. zwei Bauern um eine bestimmte Sache kämpfen, wenn sie sich gegenseitig in die Haare fahren und sie ausreißen, wenn sie sich einander mit Schlägen verletzen, aber auch wenn du dann meinen Besitz zugrunde richtest und ich deinen, allerdings ohne jede Körperverletzung, dann ist der Krieg bis dahin noch gemäßigt. Wenn aber das Unglück des anderen angestrebt wird, wird der Krieg mörderisch.⁵⁴ Daher gilt derjenige, der inmitten wechselseitiger Ohrfeigen als erster das Messer oder Schwert gezückt hat, nach allgemeiner Übereinstimmung als der Angeklagte. Und solcherart Krieg gibt es auch zwischen zwei Fürsten. Solange sie sich bloß gegenseitig die Haare raufen, d. h. ihre Untergebenen aufeinander loslassen und selbst in ihrem Palast bleiben, sind sie einander nur nicht gerade freund. Aber auch zwischen Staaten geschieht ähnliches, wenn im Krieg gewisse Verbindlichkeiten erkennbar werden und nur dort gekämpft wird, wo sich Bewaffnete gegenübertreten. Hieraus ergibt sich erneut, daß ungerecht handelt, wer, obwohl er mit gleichen Waffen der Gewalt begegnen könnte, als erster sich ungleicher Waffen bedient. Von daher hat unter allen Umständen ungerecht gehandelt, wer als erster tödliche Waffen auf den Kampfplatz geführt hat, obwohl mit anderen Waffen hätte gekämpft werden können. Noch ungerechter hat gehandelt, wer als erster Geschosse geschleudert hat, vor denen man sich noch weniger schützen kann. In noch höherem Maße ungerecht hat gehandelt, wer verborgene und noch schwerer abzuwehrende Waffen ins Feld geführt hat, wie derjenige, der sie als erster ohne Ankündigung eingesetzt hat oder sich als erster erlaubt hat, mit feuerentfachenden und vergiftenden Mitteln gegen den Feind zu Werke zu gehen. Dasselbe gilt für Waffen, die noch schädlicher sind und den Gegner nicht bloß bezwin-

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nenatae. Haec omnia injustè incipiuntur, nisi cùm periculum est, ne aliter satius non constet. Unde in eum qvi hac in parte peccat, jus poenae aliis est, etsi ei causa belli sit justa dummodo et pars adversa puniri tentetur. Sed qvo jure se alii miscent damno non sibi illato; qvia ad exemplum res pertinet, et ad communem securitatem. Porro si qvis homo aut Concilium ita fortis sit, ut praestare omnibus securitatem possit, imò felicem reddere, is jure alios cogere potest, et ab omnibus juvari debet ad communem felicitatem. Aut potius qvicunqve tam fortes sunt ut extra controversiam futuri sint victores, rectè adigunt alios ad id qvod praestare vicissim possunt, id est faciendum qvicqvid in se est ad bonum universorum. Sed haec altius repetenda. Qvaero an ius mihi sit lucrum unius impedire, ut procuretur alterius. Puto licere, qvia et meae utilitatis causa licet, non omnino nullius tamen. Porro iusne mihi est damnum tuum procurare lucri alieni causa ? non est, qvia nec mei. Porro licetne tibi damnum dare, vitandi damni alieni causa. Item licetne mihi miseriâ tuâ alterius miseriam redimere. (Nam qvin miseriam alterius damno tuo redimere liceat non dubito). Haec jam paulo majoris momenti qvaestio est. Pone duos in periculo summersionis esse, nec ambos liberari posse, unum posse, estne in puro arbitrio meo

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gen, sondern auch vernichten, wie vergiftete Pfeile. Dies alles wird zu Unrecht angefangen, es sei denn in einer Lage, wo zu befürchten ist, daß sonst kein Ausweg mehr besteht. Daher steht gegenüber dem, der in dieser Hinsicht sündigt, den anderen das Recht der Bestrafung zu, auch wenn er einen gerechten Kriegsgrund gehabt haben mag und nur die ihm feindliche Partei bestrafen wollte.⁵⁵. Aber mit welchem Recht mischen sich andere in eine Schädigung ein, die nicht für sie selbst eingetreten ist ?⁵⁶ Weil die Angelegenheit für das beispielhafte Benehmen und für die öffentliche Sicherheit von Belang ist. Ferner kann ein Mensch (bzw. eine Versammlung), wenn er so mächtig ist, daß er allen Sicherheit verbürgen kann, ja sogar glückliche Sicherheit garantieren kann, zu Recht die anderen zwingen und muß von allen zum Zwecke der öffentlichen Wohlfahrt unterstützt werden.⁵⁷ Oder vielmehr nehmen alle diejenigen, die so mächtig sind, daß sie außer Zweifel auch in Zukunft die Sieger sein werden, zu Recht die anderen für dasjenige in die Pflicht, das sie wechselseitig garantieren können, d. h. dafür, alles in ihrer Macht Stehende zu bewirken für das Wohl aller. Doch dieses Thema ist anderenorts gründlicher wiederaufzugreifen. Untersuchen wir jetzt⁵⁸ erstens die Frage, ob ich das Recht habe, den Vorteil des einen zu verhindern, um den eines anderen zu besorgen. Ich glaube, daß dies erlaubt ist, weil es ja auch um meines Nutzens willen erlaubt ist; auf keinen Fall aber, wenn niemand einen Nutzen davon hat. Zweitens: Ist es mir gestattet, deinen Nachteil herbeizuführen um des Vorteils eines anderen willen ? Es steht mir nicht zu, weil es auch um meines Vorteils willen nicht gestattet ist. Drittens: Ist es mir erlaubt, dir einen Schaden zuzufügen, um den Schaden eines anderen zu vermeiden ? Viertens: Ist es mir erlaubt, mit Hilfe deines Unglücks das Unglück eines anderen abzuwenden ? (Denn daß das Unglück eines anderen abzuwenden erlaubt ist, indem ich dich bloß benachteilige, daran zweifle ich nicht). Die zwei letzten Fragen enthalten schon ein Problem von etwas größerer Bedeutung. Gesetzt den Fall, daß zwei Menschen zu ertrinken drohen und nicht beide gerettet werden können, sondern nur einer gerettet

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alteri favere, alterum deserere. Et habetne desertus si casu liberetur, cur de me qvaeratur. Sanè non habebit cur me amet, nec cur oderit tamen. Igitur credo hîc gratitudinis esse et aeqvitatis officium, stricto jure nihil exigi posse ab alterutro, nisi sint deserti ambo. Certè si qvis me sine causa deserat, cùm nullo periculo suo subvenire potest, habeo in eum actionem. Etsi cum damno suo, sine miseria tamen me liberare potuit. Similiter habeo in eum actionem qvi rem meam cùm posset non liberavit sine damno suo. At ut liberaret rem meam cum cessante lucro suo, nemo opinor tenebitur. Sed si duo liberandi concurrunt, si ponatur me tibi debere, certè et alteri debebo. An ergo rem sorti committere teneor ? An si spatium non datur, qvasi impetui primo. An hîc est casus pro amico. Ita arbitror. An verò jure praeterire propiorem, ire ad remotiorem sine causa licet. An deserere semel apprehensum alteriusqve precibus succurrere. Sunt hae profectò magni momenti qvaestiones, nec qvod sciam expeditae. Omnes optimè natantium exemplo declarari possunt. Valuitne casus pro amico, cùm Calchas sacrificium exposceret. Certè aliter videntur sensisse Graeci, qvi Agamemnonis filiam, cum aliorum procerum filiabus non exemêre,

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werden kann, liegt es dann in meiner puren Willkür, den einen zu unterstützen und den anderen preiszugeben ?⁵⁹ Und hat nicht der im Stich Gelassene, falls er zufällig gerettet werden sollte, einen Anklagegrund gegen mich ? Natürlich wird er keinen Grund haben mich zu lieben, aber auch keinen mich zu hassen. Folglich glaube ich, daß hier eine Pflicht der Gefälligkeit und der Billigkeit vorliegt, so daß nach strengem Recht keiner von beiden etwas einfordern kann – es sei denn, man habe beide ihrem Schicksal überlassen.⁶⁰ Gewiß habe ich, falls jemand mich ohne Grund im Stich läßt, obwohl er mir ohne eigene Gefährdung zu Hilfe kommen könnte, einen Klagegrund gegen ihn, auch dann, wenn er mich bei eigenem Schaden hätte retten können, jedoch ohne sich dadurch ins Unglück zu stürzen. In ähnlicher Weise habe ich einen Klagegrund gegen den, der meinen Besitz nicht gerettet hat, obwohl er es ohne eigenen Schaden hätte tun können. Daß er aber meinen Besitz unter Verlust seines eigenen Vorteils rette, dazu wird meines Erachtens niemand gehalten sein. Falls jedoch zwei Personen in ihren Rettungsansprüchen miteinander konkurrieren, so bin ich – gesetzt, daß ich dir die Rettung schuldig bin – sie gewiß auch dem anderen schuldig. Ob ich also dazu gehalten bin, die Entscheidung dem Los zu überlassen, oder, falls dazu die Zeit fehlt, gleichsam der ersten Gefühlsregung ? Oder ist der Fall hier zugunsten des Freundes zu entscheiden ? Ich glaube, ja. Ob es aber zu Recht erlaubt ist, ohne Grund denjenigen zu übergehen, der sich in größerer Nähe befindet, um auf denjenigen zuzusteuern, der weiter entfernt ist ? Ob es erlaubt ist, denjenigen, den man einmal gegriffen hat, wieder fallen zu lassen, um den Hilferufen des anderen nachzukommen ? Dies sind wahrhaftig Fragen von großem Gewicht, die meines Wissens auch noch nicht ausgelotet worden sind. Alle Fragen können aufs beste am Beispiel der Schiffbrüchigen deutlich gemacht werden. Ob der Fall zugunsten des Freundes ausschlagen dürfte, obwohl ein Kalchas dessen Opferung forderte ? Gewiß scheinen die Griechen hier anders empfunden zu haben, die bei der Tochter des Agamemnon ebensowenig wie bei den Töchtern der ande-

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et sors cecidit in Iphigeniam. An discrimen est inter inferre damnum et non eripere. Si parentem meum cum alio natantem, deprehendam cum submersionis periculo, aut fratrem, aut amicum, aut deniqve notum, rectene eum eripuero altero deserto. An vir bonus malo praeferendus est, sapiens rudi. Sed si factum non sit, estne injustè deserto ius vindicandi. Nonne notus indignabitur si desertus sit, erepto ignoto. Sunt profectò eius generis qvaestiones difficiliores qvàm prima fronte videntur. Certè aeqvum videtur eligi meliorem, item utiliorem in universum, v. g. qvi multos liberos sine eius ope propè perituros habeat, qvàm orbum et otiosum. Item cum qvo pereat Reip. multum, ut obsidem, item qvi vendi caro potest. Sed an hoc in computum venire debeat, dubium. Magis etiam proprium meum commodum pecuniarium an divitem eripere possim prae paupere qvasi plus praestiturum. Non est res parva, de vita et salute aut huius aut huius agitur. Qvid de parente, qvid de intimo amico, qvid de domino aut Rectore, qvid si Rector cum amico, imò qvid si princeps meus cum parente concurrant. Utri subveniendum. Qvid si parens cum amico. Qvae gratitudinis ratio habenda est. An nihil est in tanta re statuendum, sed res

10 orbum ] korrigiert aus viduum nach A VI 2, 527

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ren Vornehmsten eine Ausnahme machten. Und gerade auf Iphigenie fiel das Los.⁶¹ Ob hier der Unterschied zwischen »jemandem einen Schaden zufügen« und »jemandem nicht aus einem Schaden heraushelfen« ins Gewicht fällt ? Wenn ich bemerke, daß mein Vater, mein Bruder oder mein Freund oder überhaupt ein Bekannter von mir zusammen mit einer anderen Person im Wasser treibt und in Gefahr ist zu ertrinken, ist es dann nicht richtig, ihn herauszuziehen und den anderen dabei preiszugeben ? Ob der Gute dem Schlechten vorzuziehen ist, der Weise dem Ungebildeten ? Falls dieser Vorrang aber nicht eingeräumt wurde, steht dann demjenigen, der sich ungerecht im Stich gelassen fühlt, ein Rechtsanspruch zu ? Wird nicht mein Bekannter empört sein, falls er vernachlässigt, der Unbekannte aber aus dem Wasser gezogen worden ist ? Fragen dieser Art sind wahrhaftig schwieriger, als sie auf den ersten Blick scheinen. Gewiß scheint es billig, den Besseren vorzuziehen und ebenso den insgesamt Nützlicheren, z. B. denjenigen, der viele Kinder hat, die ohne seine Hilfe sofort umkommen würden, eher als einen Kinderlosen oder Müßiggänger; ebenso denjenigen, mit dessen Tod auch viel im Staat verderben würde, wie eine Geisel; desgleichen denjenigen, der zu hohem Preis verkauft werden kann. Ob dieses letzte Kriterium aber in Rechnung gezogen werden muß, ist zu bezweifeln. Noch zweifelhafter ist auch die Rücksicht auf meinen finanziellen Vorteil: Ob ich einen Reichen eher retten darf als einen Armen, weil jener gleichsam mehr zu bieten verspricht ? Es ist keine leichtzunehmende Angelegenheit, über Wohl und Wehe des einen oder des anderen zu entscheiden ! Was tun, wenn es um meinen Vater geht, um den vertrautesten Freund, um den Herrn oder Erzieher ? Und was tun, wenn sogar der Erzieher mit dem Freund oder das Oberhaupt meines Staates mit meinem Vater um die Rettung konkurriert ? Wem von beiden ist jeweils zu helfen ? Was also, wenn der Vater und der Freund in ihrem Rettungsanspruch konkurrieren ? Welche Rücksicht auf Gefälligkeit ist zu nehmen ? Die Frage ist, ob man nicht bei einer so schwerwiegenden Angelegenheit besser gar nichts festsetzen sollte, sondern vielmehr die Sache dem Zufall bzw. dem Geschick zu

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committenda sorti aut fato. An sorti et fato non extra rem, sed in re posito committere nos debemus. Puta accedendum auxilium ei, qvi nobis cùm primum juvare possumus et agimus qvod nostrum est adjutu facilior est. Alioqvi si duo sint nantes, et alter insiliat mihi primus, etsi fortè indignior, an crudeliter repellendus erit. Sed an ideò firmitas corporis improbum aut nihili hominem liberabit, infirmitas sapienti oberit. Esset hoc admittendum, si cum irrationalibus Elementis res est, non ubi cum hominibus ratione fruentibus. Finge non posse regem liberari nisi caede civis. Ut per latus eius transadigendum in hostem telum, à qvo periculum regi. Qvid si per corpora vulneratorum pons mihi faciendus ad liberandum Regem, patrem, amicum, benefactorem. Sed tandem concludendum est aliqvid. Eligendus utiqve est cujus exitium cum exitio multorum conjunctum est. Par ratio de miseria. Finge me remedium contra podagram habere, sed qvod mox absumendum sit nec reparari possit, cui debebo. Si egomet podagram habeam, utiqve me praetulero, etsi et alii jure mihi eripiant, prorsus ut in nave si ego solus habeam occultatum victum sufficientem, non est cur producam, possum enim fortè ad portum usqve me sustentare. Sed si alii resciscant, jure communicationem exigent potius qvàm

2 nos ] ergänzt nach A VI 2, 527 4 nantes ] korrigiert aus navantes nach A VI 2, 527

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überlassen hätte ! Sollen wir aber eine solche Zufallsentscheidung dann einem Zufall und Geschick überlassen, das der Situation äußerlich ist, oder nicht vielmehr den Zufallsfaktoren der Situation selbst, so daß z. B. demjenigen geholfen werden müßte, der von uns leichter zu unterstützen ist, wenn wir ihm als erstem helfen können und leisten, was in unserer Macht steht ? Darf ich nicht andererseits, wenn zwei im Wasser treiben und der eine zwar als erster auf mich zuschwimmt, aber zufällig der Unwürdigere ist, diesen grausam zurückstoßen ? Ob aber (wenn dies nicht erlaubt wäre) hierdurch ein schlechter oder nichtswürdiger Mensch wegen seiner körperlichen Ausdauer gerettet, umgekehrt jedoch ein Weiser aufgrund seiner Körperschwäche an der Rettung gehindert würde ? Ein solcher Ausgang wäre nur dann zuzulassen, wenn man es mit der Rettung blinder Elemente zu tun hätte und nicht mit Menschen, die sich des Vorrechts der Vernunft erfreuen.⁶² Man stelle sich die Situation vor, daß ein König nur durch die Tötung eines Bürgers gerettet werden kann, indem durch dessen Körper hindurch eine Kugel auf den Feind abgeschossen werden muß, von dem die Lebensgefahr für den König ausgeht. Was tun, wenn ich für die Rettung des Königs, des Vaters, des Freundes oder des Wohltäters eine Brücke mit den Körpern von Verwundeten auftürmen muß ? Es muß doch endlich einmal eine entscheidende Schlußfolgerung gezogen werden ! Als der Bevorzugte ist in jedem Fall derjenige auszuwählen, dessen Tod den Untergang vieler nach sich zöge. Das gleiche Verhältnis wie bei der Rettung vom Tod gilt auch bei der Vermeidung von Unglück. Man stelle sich vor, daß ich ein Heilmittel gegen die Gicht besitze, daß es aber schnell aufgebraucht werden muß und nicht erneuert werden kann. Wem werde ich es geben müssen ? Wenn ich selbst unter Gicht leide, werde ich mir jedenfalls selbst den Vorzug geben, auch wenn andere es mir dann zu Recht entreißen. Genauso habe ich auf einem Schiff, wo nur ich allein genügend versteckten Proviant besitze, keinen Grund, diesen vorzuzeigen; denn ich kann mich damit vielleicht bis zum Hafen über Wasser halten. Falls aber die anderen ihn entdecken, verlangen sie zu Recht eher die Aufteilung der Lebensmit-

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ut moriantur. Et ita his casibus in utroque necessitas facit bellum justum. Qvicqvid sit, non dubito eligere me posse cui prius subveniam, sed ex ratione. Igitur elige. Prae caeteris eum qvo salus sua continetur, deinde cui aliorum, qvantoplurium, maximè si publica. Patrem conjugem filium postponet principi cui salus publica innititur. Sed si haec omiserit, non erit cur desertus indignè ferat, cùm aeqvè sibi carus sit rusticus ac Philosophus, cumqve iniqvum sit à te petere ut tuam salutem postponas meae, erit simpliciter iniqvum à qvocunqve exigere ut meam salutem praeponat alienae. Qvid si ille debeat salutem mihi ut filius patri, ne tunc qvidem puto mihi actionem esse. Sed distingvendum est. Puto enim eum qvi custodiendae aeqvitati praeest, punire admissum in se, qvod punire in alios admissum potest. Unde parens nisi ius castigationis aliàs habeat, non rectè puniet filium, qvi ei extraneum praetulit, Rex puniet eundem. Qvod de miseria idem de damno dicendum est, licere mihi alieno damno tuum redimere, v. g. si servi, aut animalia Titii et Caji sint in periculo summersionis utrilubet succurrero, ut dixi. Nota tamen amico dari actionem contra amicum id est eum

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tel, als daß sie sterben. Und so bewirkt in diesen Fällen die Not auf allen Seiten einen gerechten Krieg.⁶³ Um welchen Rettungskonflikt es auch immer gehen mag, ich zweifle nicht daran, daß ich auswählen darf, wem ich zuerst zu Hilfe komme; es muß jedoch aufgrund einer vernünftigen Erwägung geschehen. Man wähle also: vor allen anderen den, von dem das eigene Heil abhängt; sodann denjenigen, dem das Heil anderer, und zwar der jeweils größten Menge, anvertraut ist, ganz besonders, wenn es das Gemeinwohl ist. Den Vater, die Gattin oder den Sohn wird man dem Fürsten nachordnen, auf dem das öffentliche Wohl beruht. Doch wenn man diese Rangfolge außer acht läßt, wird es keinen Grund dafür geben, daß der im Stich Gelassene sich entrüstet.⁶⁴ Weil der Bauer sich selbst gleichermaßen lieb und wert ist wie der Philosoph, und weil es unbillig ist, von dir zu erbitten, daß du dein Heil dem meinigen nachordnest, wird es schlechthin unbillig sein, von irgend jemandem zu verlangen, daß er mein Heil dem eines anderen vorziehe. Was, wenn jener (der mich retten soll) mir das Leben schuldet, wie es der Sohn seinem Vater schuldet ? Nicht einmal dann glaube ich, daß mir eine Klage zusteht. Man muß aber hier unterscheiden. Ich meine nämlich, daß derjenige, der für die Bewahrung von Recht und Billigkeit verantwortlich ist, ein Vergehen gegen ihn selbst bestrafen kann, weil er ja das Vergehen gegen andere bestrafen kann. Deshalb wird ein Vater, falls er nicht in anderer Hinsicht ein Recht auf Bestrafung hat, seinen Sohn nicht zu Recht bestrafen, wenn dieser einem Fremden den Vorzug vor ihm gegeben hat; ein König hingegen wird seinen Sohn zu Recht bestrafen. Was beim Schweregrad des Unglücks gesagt wurde, ist ebenso beim Schweregrad des Schadens festzusetzen,⁶⁵ nämlich daß es mir erlaubt ist, auf den Schaden anderer hin deinen Schaden zu verhindern. Wenn z. B. Sklaven oder Tiere von Titius und von Cajus⁶⁶. zu ertrinken drohen, steht es mir frei, welchem von beiden Eigentümern ich zu Hilfe komme, wie ich oben dargelegt habe. Man muß jedoch beachten, daß einem Freund eine Klage gegen seinen Freund eingeräumt wird – d. h. gegen den, der von mir insoweit

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qvi beneficia accepit, in qvantum ego vel de lucro meo cessi, vel dammi passus sum eius causa, si amicitiam non servet. Contractus enim qvod bene notandum est sunt velut parvae qvaedam amicitiae. Et societas omnium bonorum cum amicitia vera multum communitatis habet. Nam etiam vera amicitia dissoluta, recipiat unusqvisqve qvod intulit, neqve enim ideò communicata mutuò proprietas, nisi id expressè sit actum. Sed cum detur ultra actio ad id qvod interest non solutum, perinde erit effectu, ac si confusa essent bona. Si igitur is qvi mihi amicitiam debet me non eripuerit, habeo in eum utiqve actionem. Habet ergo et parens. Hactenus liceatne potius te eripere miseria vel damno vel alium. Nunc qvaestio est, liceatne potius tibi dare damnum qvàm alteri si alterutri dandum est. Pone salutis meae causa per vulneratorum corporum moliendam eqvo viam, puto idem qvod supra eligendi ius esse. Illud etiam puto, si miseriae meae vitandae causa alteri miseriam intentavi, nullam esse ei ubi elapsi uterqve sumus actionem. NB. Ecce limitationem juris belli utrinqve justi. Sed formandus est alius casus, liceatne salutis Titii eripiendae causa Cajum in miseriam dejicere. Pone Titium esse inter hostes, nec licere viam moliri ad eius salutem, nisi per corpus Caji, qvi tamen alioqvi extra periculum est. An tabula dejicere Cajum licet, ut Titius enatet,

19 inter ] korrigiert aus intra nach A VI 2, 527

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Wohltaten angenommen hat, wie ich um seinetwillen an versäumtem Vorteil oder an Schaden hingenommen habe –, wenn er die Freundschaft nicht aufrecht erhält. Verträge nämlich sind wohlgemerkt eine Art kleiner Freundschaften. Und die Gemeinschaft aller Guten hat viel Gemeinsamkeit mit wahrer Freundschaft. Denn auch wenn eine echte Freundschaft aufgelöst worden ist, erhält jeder das zurück, was er eingebracht hat; gerade deshalb wird ja das Eigentum nicht gemeinschaftlich aufgeteilt, es sei denn, dies wäre ausdrücklich beschlossen worden. Wenn aber darüber hinaus ein Klagerecht eingeräumt wird in bezug auf das, was unaufgelöst zwischen ihnen übrigbleibt, wird dies dieselbe Wirkung haben, als ob die Güter zusammengelegt worden wären. Wenn also derjenige, der mir Freundschaft schuldet, mich nicht aus der Gefahr errettet, so habe ich auf alle Fälle ein Klagerecht gegen ihn. Dieses besitzt folglich auch der Vater gegenüber seinem Sohn. Bisher haben wir die Fälle besprochen, in denen es um die Frage ging, ob es erlaubt sei, eher dich aus einem bereits eingetretenen Unglück bzw. Schaden zu retten als einen anderen. Jetzt kommen wir zu den Fällen, bei denen die Frage auftaucht, ob es erlaubt sei, eher dir als einem anderen einen Schaden allererst zuzufügen, falls es nötig ist, daß einer von beiden geschädigt werden muß. Gesetzt den Fall, daß ich mir um meines Heiles willen mit meinem Pferd einen Weg durch die Körper von Verwundeten bahnen muß, glaube ich dasselbe Recht auf die Auswahl zu besitzen wie oben beschrieben.⁶⁷ Auch meine ich, daß, wenn ich zur Vermeidung meines eigenen Unglücks einem anderen Menschen Unglück angedroht habe, dieser andere kein Klagerecht besitzt, sobald wir beide dem Unglück entronnen sind. Man achte wohlgemerkt auf die Begrenzung des Rechts für einen auf beiden Seiten gerechten Krieg ! Doch um die Ausgangsfrage zu beantworten, ist ein anderer Fall zu konstruieren: Ist es erlaubt, Cajus ins Unglück zu stürzen, um das Leben des Titius zu retten ? Gesetzt den Fall, daß Titius zwischen die Feinde gerät und es unmöglich ist, einen anderen Weg für seine Rettung zu bahnen als über den Leib des Cajus, der jedoch sonst außer Gefahr wäre: Ist es mir erlaubt, den Cajus mit

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praesertim si me lucro pecuniario Titius invitet, licetne in hunc usum si subveniri aliàs non possit è longinqvo trajicere Cajum. Non puto licere. Nulla pecuniae ratio habenda in qvaestione salutis. Hoc ipsum enim est non ex paribus unum alteri praeferre, sed imparem superiori. Impar autem est fortuna. Nisi inqvam plurium salus ab eo pendeat, nisi item sit is qvi vindicationem in me habet, nisi eum eripuero. Sed tamen et hoc dubium an vel parentis causa hoc liceat, est is casus qvo non licet jure assistere, ei qvi jure bellat, qvia uterqve jure bellat. Hoc est adhuc pene aliud. Ponamus hunc casum, Titius et Cajus in aqva de tabula pugnant, licetne eminus missili alterutri subvenire. Par est ratio an liceat eum qvi jam adhaeret primus fune, repellere. Pone insilire in navem et navem plures capere non posse, licetne miserum rursus ejicere, ut alter cuius causa navem adveximus intromittatur. Ita puto si debita fuit alteri advectio ita ut habeat ius belli aut magistratus poenam intentaturus sit, tunc enim cum duo habeant ius belli, rursus mihi eligendum est, à qvo sustineri malim, nam hoc casu habebit ius neuter. Sed si unus habeat ius belli, alter non habeat. Puto debere me eripere eum, qvi non ereptus habet ius belli. Sed quid si duo

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einem Brett zu Boden zu werfen, damit sich Titius hinauswinden kann, insbesondere wenn Titius mich durch einen finanziellen Vorteil dazu ermuntert ? Ist es mir zu diesem Zweck erlaubt, falls Titius auf andere Weise nicht geholfen werden kann, den Cajus aus der Ferne umzuwerfen ? Ich glaube nicht. In Fragen der Rettung ist keine Rücksicht auf Geld zu nehmen. Denn hier handelt es sich nicht darum, von zwei Ebenbürtigen einen dem anderen vorzuziehen, sondern denjenigen, der nicht gleich stark ist, einem Überlegeneren, wobei jener ja auch nur durch Mißgeschick schwächer ist. Auszunehmen ist der Fall, daß das Heil mehrerer Personen von ihm abhängt oder daß er zugleich jemand ist, der einen Rechtsanspruch gegen mich hat, falls ich ihn nicht retten werde. Aber auch dies ist bereits zweifelhaft, ob mir etwa um meines Vaters willen jenes Handeln erlaubt ist, das einen anderen ins Unglück stürzt. Dies ist ein Fall, in dem es mir nicht zu Recht erlaubt ist, demjenigen zu helfen, der zu Recht kämpft, denn jeder von beiden kämpft ja zu Recht. Dies ist zudem so gut wie eine neue Sachlage.⁶⁸ Setzen wir folgenden Fall: Titius und Cajus kämpfen im Wasser um eine Planke. Ist es erlaubt, einem von beiden durch einen Wurf aus der Ferne nachzuhelfen ? Von gleichem Verhältnis ist die Frage, ob es erlaubt ist, denjenigen zurückzustoßen, der bereits als erster am Tau hängt. Man stelle sich vor, daß sie sich auf das Boot werfen, das Boot aber nicht noch weitere Personen aufnehmen kann. Ist es erlaubt, einen Unglücklichen wieder über Bord zu werfen, um einen anderen hineinzulassen, den wir angesteuert hatten, um ihn zu retten ? Dies ist meines Erachtens erlaubt, wenn man auf einen von beiden zusegeln mußte, insofern dieser einen Kriegsgrund⁶⁹ besitzt oder ihm umgekehrt eine Strafe von seiten der Obrigkeit droht. Wenn nämlich beide einen Kriegsgrund haben, muß ich wiederum auswählen, von wem ich lieber will, daß er am leben bleibe. Denn in diesem Fall wird keiner von beiden ein strenges Recht auf die Rettung haben. Wenn jedoch der eine ein Recht auf Krieg besitzt und der andere nicht, so glaube ich, daß ich verpflichtet bin, denjenigen zu retten, der, falls er nicht gerettet würde, einen Kriegsgrund gegen mich hätte. Was aber, wenn beide

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habeant ius belli, puta amicus vel parens, et is qvi navi insiliit, ei utiqve assistendum est, qvi primus ius belli habuit. Id est, qvi me cogere jure per se aliumve potest ad assistendum sibi in necessitate. Debeone verò in necessitate assistere amico, qvi et me eripuit, ita sanè debeo. Imò et si nulla sit Respublica, in qva agam, tamen si caeteri homines idem dicturi sint, idem juris est. Imò discrimen est, nam id qvod aeqvum est, non est à prudente nisi in Republica aeqviparandum debito. Id est non nisi ubi hoc vicissim ab omnibus jure expectandum est. An ergo amicus qvi me eripuit ius habet exigendi me vindicari si non ereptus est. Habet si nec alium eripui, sed si alius sit puta ignotus, cui ego nil debeo, an illum rectè eripuero. Non rectè, puto esse enim hoc declarationem mali animi in amicum. Animi aversi signum est amico, negligi; non est ignoto. Iam animi aversi signum jus belli praebet. Eadem proportione de patre, de rege, sed illud adhuc restat, si duo invicem de salute pugnent, uterqve jure, ut de tabula, liceatne alterutrum transadigere eminus, alterius eripiendi causa. An si se eripiat, est ei ius belli in me, non licet nisi sit qvi jus belli in me habet, si in discrimine salutis, ubi sine meo servari potest, negligatur. Sed per accidens longè aliter evenire potest, si enim ego habeam cur metuam à transadigendo periculum salutis, aut amicis eius, etsi non jure, tamen ces-

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das Kriegsrecht besitzen, etwa der Freund oder Vater und derjenige, der auf das Boot springt ? Unter allen Umständen ist demjenigen zu helfen, der zuerst das Kriegsrecht besessen hat; dies ist derjenige, der mich von Rechts wegen durch sich oder einen anderen zwingen kann, ihn in der Not zu unterstützen. Schulde ich aber nicht gerade dem Freund, der auch mich schon einmal gerettet hat, Hilfe in der Not ? Diese Schuldigkeit habe ich ganz und gar. Ja, selbst wenn es keinen Staat gibt, dem ich angehöre, so gilt dennoch dasselbe Recht, sofern die übrigen Menschen in diesem Urteil übereinstimmen. Allerdings besteht noch ein Unterschied. Denn das, was recht und billig ist, kann von einem klugen Menschen nur im Staate in dem Maße erfüllt werden, wie es geboten ist, d. h. nur dort, wo dies wechselseitig von allen mit Recht zu erwarten ist. Ob also der Freund, der mich gerettet hat, das Recht hat, meine Bestrafung einzufordern, falls er nicht von mir gerettet worden ist ? Er besitzt es dann, wenn ich auch den anderen nicht gerettet habe. Wenn aber der andere z. B. ein Unbekannter ist, dem ich nichts schuldig bin, ob ich dann diesen statt des Freundes zu Recht retten werde ? Dies geschähe nicht zu Recht, denn ich glaube, daß dies eine Bekundung von Böswilligkeit gegenüber dem Freund wäre. Dem Freund gilt es als Zeichen einer abgeneigten Gesinnung, nachgeordnet zu werden; nicht so dem Unbekannten. Schon solch ein Zeichen von Abneigung liefert ein Recht auf Krieg. Ebenso verhält es sich beim Vater oder beim König. Doch unbeantwortet ist noch immer unser folgendes Problem. Wenn zwei Personen miteinander um ihr Leben kämpfen, und zwar beide zu Recht, wie z. B. um die Planke, ist es dann erlaubt, den einen aus der Ferne unter Wasser zu stoßen, um den anderen zu retten ? Ob jener, wenn er sich befreit, das Kriegsrecht gegen mich hat ? Dieses Kriegsrecht gegen mich steht nur demjenigen zu, der im lebensgefährlichen Augenblick, wo er ohne Gefahr für mich gerettet werden kann, vernachlässigt wird. Die Sache kann aber durch Zufall ganz anders verlaufen. Wenn ich nämlich einen Grund zu der Annahme habe, daß von demjenigen, den ich unter Wasser stoßen mußte, oder auch von seinen Freunden eine Gefahr

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sat amico debita obligatio. Qvid si duo ita pugnent, ut effecturi sint si sibi relinqvantur neutrum servari, puta servari unum tantùm posse, sed qvemlibet velle illum unum esse, tunc puto idem juris esse. Sed quid si non sit qvi praeferatur, utiqve sors tandem judex esse debet, non qvasi judicium DEI, sed ut ego purus sim animi, nec judex salutis inter duos sine ratione. Id est, ut judex sit, is cui nemo irasci potest, id est fortuna. Nam in alios omnes judices est ius poenae. Qvicqvid autem poenae ius facit injustum est. Iam ad plures; licetne damnum unius non cavere, ut damnum plurium caveatur. Ita sanè. Licetne miseriam unius non cavere, ut miseria plurium caveatur. Ita puto. Sed quid si is sit in dubio alteri uni praeferendus, an et pluribus praeferendus erit. Sanè si tres sint in periculo mortis nec possint nisi duo eripi, utiqve eripiam qvem alioqvin prae uno alio debeo jure, alium sorte; sed quid si ita res comparata sit, ut non possit eripi unus cui prae uno salus debetur, nisi plures pereant. Puto plures non amicos uni amico praeferendos. Sed quid duone alii meo parenti praeferendi erunt, an decem an 100. Magna certè qvaestio est, si ponatur parens meus in dolo esse, non est ei parcendum. Ut si qvam conjurationem pulverariam

16 nisi plures ] anschließendes cui getilgt nach A VI 2, 527

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für mein Leben zu befürchten ist, mag auch die Befürchtung zu Unrecht bestehen, so erlischt doch meine dem Freund geschuldete Verpflichtung. Was aber, wenn zwei Personen derart gegeneinander kämpfen, daß sie darauf hinwirken, daß keiner von beiden gerettet wird, falls sie sich selbst überlassen bleiben, z. B. wenn nur einer gerettet werden kann, aber jeder dieser eine sein will ? Ich meine, daß ich dann das gleiche Recht auf die obengenannte Auswahl habe. Was aber, wenn es niemanden gibt, der vorgezogen werden könnte ? Unter allen Umständen muß letztlich das Schicksal der Richter sein, nicht wie ein Gottesurteil, sondern so, daß ich reinen Herzens bleibe und nicht zu einem Richter ohne Kriterium über das Leben zweier Menschen werde. Das bedeutet, daß es einen Richter geben muß, dem niemand zürnen kann, und dieser ist der Zufall. Denn gegen alle anderen Richter gilt das Strafrecht. Alles aber, was ein Recht auf Strafe hervorruft, ist ungerecht. Nun zu denjenigen Fällen, in denen die Güter und Übel mehrerer Personen zu proportionieren sind.⁷⁰ Ob es erlaubt ist, den Schaden eines einzigen nicht zu verhüten, damit der Schaden mehrerer verhütet werde ? So ist es durchaus. Ob es erlaubt ist, das Unglück eines einzigen nicht zu verhüten, damit das Unglück mehrerer verhütet werde ? So glaube ich. Was aber, wenn gerade dieser im Zweifelsfalle einem einzigen anderen vorzuziehen ist: wird er dann nicht auch mehreren vorzuziehen sein ? Natürlich würde ich, wenn drei Personen in Lebensgefahr sind und nur zwei gerettet werden können, auf jeden Fall denjenigen retten, dem ich ohnehin mehr als einem einzigen anderen dem Recht nach verpflichtet bin, den anderen aber, wie es der Zufall erlaubt. Was aber, wenn die Situation so bestellt ist, daß der eine, dem ich die Lebensrettung mehr als einem anderen schuldig bin, nicht gerettet werden kann, ohne daß dabei mehrere zugrunde gehen ? Ich glaube, daß mehrere, auch wenn es keine Freunde sind, dem einen Freund vorzuziehen sind. Aber wie weiter ? Ob schon zwei andere meinem Vater vorzuziehen wären oder erst zehn oder gar hundert ? Eine gewaltige Frage ist es gewiß, wenn man annimmt, daß mein Vater einen Verrat begeht. Ist er dann noch zu schonen, etwa wenn er eine Verschwörung or-

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designarit animo. Interest qvo ego animo sim, an mortem parentis à me cessando procuratam esse major sit miseria, qvàm procuratam mille aliorum. An ita res distingvenda est, ut si tot hominum salus vertatur, qvot per se beati esse possunt, injustum sit. Iustum est quod qvis in concione generis humani, si totum sapiens supponatur, defendere posset. Aut justum est, qvod placeret DEO si esset, sive sit sive non sit. Qvid ergo nonne debeo damno meo mille aliorum damna redimere, ita sanè si citra miseriam, non duorum tamen, non trium. Ponendus est casus, sunto captivi mille, his eripiendae vestes et cum laceris commutandae. Ego qvi apud ducem victorem gratia polleo, possum hoc unius gemmae in illum dono redimere, rectè et prudenter facturus sum, imò non potero contrarium defendere in concione generis humani omnium sapientum, seu optima Republica universali; at si omisero, non est illis in me ius poenae, nisi privativae seu retorsionis, ut et ipsi non prosint. An haec retorsio determinata sit ad aeqvalitatem, de eo mox. Sed pergamus, cum aeqvum sit me damnum mille aliorum meo redimere, qvod scilicet nullius sit ad miseriam felicitatemqve momenti (nam hoc ipsum miseriam efficere potest, felicitate possessa dejici, adeò ut nemo cogatur de felicitate possessa in statum medium

15 ipsi ] korrigiert aus ipsis nach A VI 2, 527

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ganisiert hat, bei der explosive Waffen zum Einsatz kamen ? Hier macht es einen Unterschied, von welcher Sinnesart ich bin: ob es für mich das größere Unglück ist, wenn ich durch meine unterlassene Hilfeleistung den Tod des Vaters herbeiführe, oder wenn ich den Tod von tausend anderen bewirke. Ob diese Angelegenheit so zu entscheiden ist, daß es ungerecht ist, wenn das Leben genau sovieler Menschen ins Verderben gestürzt wird, wie sonst glücklich weiterleben könnten ? Gerecht ist, was jemand vor dem Forum der ganzen Menschheit verteidigen könnte, wenn man unterstellt, diese sei insgesamt weise. Oder: Gerecht ist, was, wenn es geschähe, Gottes Zustimmung fände, mag es nun tatsächlich geschehen oder nicht. Was also, bin ich nicht verpflichtet, durch meinen Nachteil die Nachteile von tausend anderen zu verhindern ? Selbstverständlich, wenn diese Nachteile in den Bereich des Unglücks fallen, jedoch nicht bei bloß zwei oder drei Personen. Folgender Fall ist anzunehmen. Es seien tausend Gefangene, denen die Kleider entrissen und durch zerlumpte eingetauscht werden sollen. Ich, der ich bei dem siegreichen Feldherrn große Gunst genieße, kann dies vermeiden, indem ich ihm einen Edelstein schenke. Wenn ich dies tue, werde ich gerecht und klug handeln, ja ich werde sogar das Gegenteil nicht verteidigen können vor dem Forum der Menschheit oder aller Weisen oder im besten allgemeinen Staat. Wenn ich dies jedoch unterlasse, haben die Gefangenen keinen strafrechtlichen Anspruch gegen mich außer einer bloß privativen Strafe, d. h. einer Vergeltung, so daß auch sie selbst mir dereinst keinen Nutzen gewähren. Ob eine solche Vergeltung auf eine bestimmte Grenze bis hin zur Gleichheit festgelegt werden kann, darüber demnächst mehr. Doch fahren wir weiter fort. Obwohl es billig ist, daß ich den Nachteil von tausend anderen durch meinen eigenen Nachteil verhindere, nämlich wenn es nicht für mein Wohl und Wehe entscheidend ist – denn wohlgemerkt kann gerade dies Verhalten, den einmal erworbenen Glückszustand zu verlassen, jemanden ins Elend stürzen, so daß aus diesem Grund niemand gezwungen werden sollte, aus seinem erworbenen Glück auf ein mittleres Niveau hinabzusteigen, um dem Unglück eines

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decedere miseriae alterius causa NB ), non tamen aeqvum est me miseria mea aliorum miseriam redimere, etsi debeam damno meo redimere aliorum felicitatem. Qvaeritur verò an aeqvum sit me miseriam parentis mille aliorum miseriae praeferre, an saltem duorum, an centum, ubi sorites locum habet. Pone parentem meum apud hostes esse et hostes eum occisuros cum summo cruciatu, nisi eis 100 alios ad cruciatum dedam. Qvid faciam obsecro. Imò ponamus alium casum, qvia aliud est dedere, aliud relinqvere. Ponamus inqvam hostem mihi optionem dare, parentem meum an 100 alios occidi cum cruciatu malim, et si non eligam intra crastinum (ne qvis dicat me debere supersedere optione), occisurum omnes. Credo me meminisse potius debere me fratrem esse sub uno parente DEO qvàm filium. Excipe si ponantur illi 100 hos cruciatus mereri. Qvid si poenam mereuntur, non cruciatus tamen aut mortem. Et redit casus in amicum prius omissus an si duo sint in periculo, in aeqvilibrio is sit potius deserendus, cuius culpa contigit miseria. Ita utiqve certum puto. Sed hic est casus paritatis, inter parentem meum et 100 alios non est casus paritatis. Sed quid de duobus, licetne et hos parenti praeferre an intra 10 subsistendum est. An numeri qvicqvam ad rem pertinent.

15 redit ] ergänzt nach A VI 2, 527

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anderen abzuhelfen –, so ist es doch nicht billig, daß ich durch mein eigenes Elend das Unglück anderer verhindere, auch wenn ich verpflichtet bin, durch meinen Nachteil das Glück anderer wiederherzustellen.⁷¹ Gefragt war aber danach, ob es billig ist, daß ich das Unglück meines Vaters dem Unglück von tausend anderen vorziehe oder bereits dem Unglück von zweien oder hunderten, wobei ein Kettenschluß stattfindet. Man setze den Fall, daß sich mein Vater in Feindeshand befindet und die Feinde ihn unter höchster Folterqual töten werden, falls ich ihnen nicht hundert andere zur grausamen Hinrichtung ausliefere. Was um Himmels willen soll ich tun ? Aber nehmen wir besser einen anderen Fall, weil ausliefern und überlassen zwei verschiedene Handlungen sind. Setzen wir, sage ich, daß der Feind mir die freie Wahl überläßt, ob ich lieber meinen Vater oder hundert andere unter Folterqualen hingerichtet wissen will, und daß alle sterben werden, wenn ich mich nicht bis zum nächsten Morgen entscheide (damit nicht jemand einwendet, daß ich verpflichtet sei, diese schreckliche Wahl zu unterlassen). Ich glaube mich dessen besinnen zu können, daß ich in stärkerem Maße ein Bruder sein muß im Hinblick auf Gott, den alleinigen Vater, als ein Sohn.⁷² Davon auszunehmen ist der Fall, daß jene hundert die Hinrichtung verdient haben. Was tun, wenn sie zwar Strafe verdienen, nicht jedoch Folter oder Tod ? Und schon taucht der zuvor übergangene Fall wieder auf, ob dann, wenn zwei in Gefahr sind, bei völligem Gleichgewicht der Kriterien eher derjenige preiszugeben sei, durch dessen Schuld das Unglück eingetreten ist. Dies halte ich auf alle Fälle für gewiß, doch liegt hier ein Fall von Gleichgewichtigkeit vor, während zwischen meinem Vater und den hundert anderen diese Gleichheitsbedingung nicht gegeben ist. Wie ist es nun bei zwei Personen ? Ist es erlaubt, auch diese dem Vater vorzuziehen, oder soll die kritische Grenze bei zehn Personen liegen ? Ob Zahlen überhaupt irgend etwas zur Sache beitragen ?

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[d)] Ulterius an teneor pati mihi brachium abscindi ut alii serventur. An teneor sustinere magnum aliqvem dolorem, seu miseriam exigui temporis, ad vitandam aliorum non dicam diuturnam, sed aeternam. Puto me ex aeqvitate teneri, cogi autem posse etiam ab iis qvorum interest generali jure, ut suam miseriam evitent, non tamen posse me alios particulares cogere. Imò nec ipsos, ubi elapsi, punire. Cum ergo sit hic magnus dolor seu brevis temporis miseria cruciatus parentis nosse, non puto me cogi posse. Secus est de aliis. Qvid ergo de amico inter 100 alios. Pone eidem amico me felicitatem aut miseriam vitatam debere, eum jure stricto eligere licet. Qvia non possum cogi ad magnum animi dolorem, seu miseriam brevis temporis. At ex aeqvitate non licet. Miseria tamen prorsus exigui temporis habetur pro nulla, ut, sich an den Elbogen stoßen. Porro qvod de miseria contra miseriam, idem de damno contra damnum juris est. Non est simpliciter justum, qvod bello peti potest, qvando et jure resisti potest. Cur verò exigere non possum, seu non cogere alium, ut prosit, non tantùm ne noceat. Qvia nec ipsi securitatem praestare possum. Si qvis alteri securitatem praestare potest de miseria vitanda et felicitate obtinenda, qvidvis ab eo jure exigere potest, etiam per vim. Si per vim extorserim ae[qvita]tem,

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autem ] ergänzt nach A VI 2, 527 nosse ] korrigiert aus nostri nach A VI 2, 527 tamen ] korrigiert aus tum nach A VI 2, 527 ae[qvita]tem ] korrigiert aus securitatem nach A VI 2, 527

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[d) Ergänzungen zum Staats- und Eigentumsrecht] Eine weitere Frage⁷³ ist, ob ich verpflichtet bin, mir einen Arm abtrennen zu lassen, damit andere gerettet werden. Ob ich verpflichtet bin, einen großen Schmerz oder ein großes Unglück für kurze Zeit zu ertragen, um das – wie ich betone – ewige, nicht bloß langfristige Unglück anderer zu vermeiden ? Ich glaube, daß ich aus Billigkeitsgründen dazu gehalten bin, daß ich aber auch von denen, die für das allgemeine Recht entscheidend sind, gezwungen werden kann, daß man ihr Elend vermeide, daß mich aber andere nicht als einzelne Personen dazu zwingen können, ja daß sie selbst mich auch nicht bestrafen können, sobald ich entkommen bin. Obwohl also das Wissen darum, daß mein Vater qualvoll hingerichtet wird, ein großer Schmerz oder ein Unglück für kurze Zeit ist, glaube ich nicht, daß ich zu seiner Rettung gezwungen werden kann. Anders ist es in bezug auf mehrere andere Personen. Wie also steht es mit einem Freund unter hundert anderen Personen ? Gesetzt, daß ich diesem Freund das Glück oder die Vermeidung von Unglück schuldig bin, so ist es mir nach strengem Recht erlaubt, ihn den anderen vorzuziehen, weil ich nicht zu einem großen seelischen Schmerz oder zu kurzzeitigem Unglück gezwungen werden kann. Aus Gründen der Billigkeit jedoch ist es mir nicht erlaubt. Ein Unglück für kurze Zeit, wie z. B. sich am Ellenbogen zu stoßen, ist jedoch wiederum für kein echtes Unglück zu halten. Ferner gilt im Recht dasselbe Verhältnis bei Unglück gegen Unglück wie bei Schaden gegen Schaden. Es ist nicht schlechthin gerecht, was man durch Krieg einfordern kann, wenn man sich auch zu Recht wehren darf. Warum aber kann ich nicht verlangen, d. h. einen anderen nicht zwingen, daß er mir hilft und nicht bloß nicht schadet ? Weil auch ich ihm selbst keine Sicherheit gewährleisten kann ! Falls jemand einem anderen die Sicherheit garantieren kann, sein Elend zu vermeiden und sein Glück geltend zu machen, so kann dieser von dem anderen alles Beliebige zu Recht zurückfordern, auch mit Gewalt.⁷⁴ Ob ich zu bestrafen bin, wenn ich ihm mit Gewalt etwas abpresse, was nicht mehr als bil-

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an puniendus sum. Investiganda sunt mox distinctius qvae aeqva sunt etsi exigi non possunt. Ut lucrum meum minus postponam tuo majori, et damnum minus tuo majori, et miseriam majorem tuae minori, et felicitatem minorem tuae majori, amicitia exigit. Sed non statim aeqvitas. Imò potius eo casu credo et contraho tantundemqve qvantum largior exspecto. Ut tibi utilitatem mihi non innoxiam vel etiam mihi utilem praestem, à te cogi non possum. Ut necessitatem, possum. Hoc est principium aeqvitatis. Damnum ferre cum recipiendi certitudine seu credere aeqvum est, qvia est utilitas innoxia. Qvin et miseriam aliqvam ferre cum certitudine alterius contra vitandae est utilitatis. Imò fortasse videor me cogi posse ad praestandam innoxiam imò utilem utilitatem, si mihi cavetur de innoxietate. Hinc ergo aeqvitas est, qvando caveri non potest, nisi delegatione in DEUM facta cui ut vindicta, ita praemium delegari potest. At si constat innoxiam esse utilitatem, etiam ideò non teneor ad eam praestandam, si alioqvin de animo alterius securus non sum. Certum est justum esse bellum non solùm necessitatis, sed et utilitatis causa, si qvis eam abstulerit aut auferre minetur, ergo et si qvis cum possit non juvet, nam et tunc non necessitatis sed utilitatis causa bellum est. Nec videtur opus cautione ad exigendam utili-

2 etsi ] korrigiert aus esti nach A VI 2, 527

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lig ist ? Im folgenden sind deutlicher solche Handlungen ausfindig zu machen, die billig sind, auch wenn sie nicht verlangt werden können.⁷⁵ Daß ich meinen eigenen kleineren Vorteil deinem größeren nachordne, meinen kleineren Nachteil deinem größeren, mein größeres Unglück deinem kleineren sowie mein kleineres Glück deinem größeren – dies verlangt die Freundschaft, nicht aber bereits die Billigkeit.⁷⁶ Vielmehr habe ich im Fall der Freundschaft Vertrauen, setze mich ein und erwarte genausoviel, wie ich in die Beziehung mit einbringe. Daß ich dir etwas Vorteilhaftes einräume, wobei dies für mich nicht unschädlich oder auch nur nicht nützlich wäre, dazu kann ich von dir nicht gezwungen werden; daß ich dir aber das Notwendige gewähre, sehr wohl. Dies ist das Prinzip der Billigkeit. Einen Nachteil hinnehmen mit der Gewißheit oder dem Vertrauen, ihn wiedererstattet zu bekommen, ist billig, weil es auf einen unschädlichen Nutzen hinausläuft.⁷⁷ Sogar auch ein bestimmtes Maß an Unglück zu ertragen mit der Gewißheit, daß umgekehrt der andere mein Unglück verhindert, ist von Vorteil.⁷⁸. Vielleicht scheine ich zu einem unschädlichen Nutzen, ja zu einem nützlichen Nutzen sogar gezwungen werden zu können, wenn mir nämlich garantiert wird, daß ich dadurch keinen Schaden erleide. Hier wird also eine Stufe von Billigkeit möglich, wo die Sicherheit nur durch eine Übertragung an Gott garantiert werden kann, dem ebenso der Lohn wie die Strafe zugeschrieben werden kann. Aber auch wenn feststeht, daß die Einräumung eines Nutzens mir keinen Schaden bringt, bin ich doch deshalb nicht verpflichtet, sie zu leisten, falls ich mir im übrigen der Gesinnung des anderen nicht sicher bin. Es steht fest, daß ein Krieg nicht allein aus Not, sondern auch um eines Nutzens willen gerecht ist, falls nämlich jemand diesen an sich gerissen hat oder ihn zu entreißen droht. Folglich scheint auch ein Krieg gegen jemanden gerecht zu sein, der bei der Verteidigung des gemeinsamen Nutzens nicht mithilft, obwohl er könnte. Denn auch dann erfolgt der Krieg nicht aus Not, sondern um eines Nutzens willen. Auch scheint keine Garantieerklä-

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tatem innoxiam, nisi dubitari possit innoxiam esse. At si lucrum meum cessare, aut damnum ferri tuae utilitatis causa debet, praestanda mihi securitas est, de aeqvali bonitate. Unde et dolor à me exigi potest, si constet majorem mihi dolorem depulsum aut felicitatem conciliatum iri. Huic fundamento nititur tum Civium obedientia tum pietas. Nam cùm ut dixi qvi securitatem mihi praestare potest, me cogere jure possit, hinc in civitate, qvousqve securus salutis esse possum, teneor ad omittenda alia praesidia salutis jussu civitatis. Et eius qvi mihi de felicitate spondere potest, jussu teneor omnia alia remittenda, jussu eius praesidia et instrumenta felicitatis. Igitur ei qvi me securum praestat felicitatis ad omnia simpliciter deferenda teneor. Qvalis est DEUS. Hinc patet jure resisti civitati, ubi miseriam mihi intentat, aut felicitatis qvam aliunde praestare non potest praesidia eripit. Neqve enim qvòd à miseria securum me praestat, felicitatem eripere potest. Hinc etsi civitas me jure morte puniat, ego tamen jure resistam, nisi scilicet sit aliqva ratio ultra mortem. De DEO admirabile est, qvod solus nulla cautione indiget, sed cavet nobis ipsa natura sua. Cùm enim sapiens velit, et omnipotens possit nos, si velimus, facere felices. Hinc omnia qvae illi placent agenda sunt. Placet autem ei, qvicqvid pertinet ad Harmoniam

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rung nötig zu sein, die dem Helfenden seine Schadloshaltung bei der Einräumung des Nutzens gewährleistet, es sei denn, daß es Gründe gibt, an der Unschädlichkeit zu zweifeln. Wenn ich aber um deines Nutzens willen meinen Vorteil versäumen oder einen Nachteil in Kauf nehmen muß, ist mir eine Sicherheit zu garantieren für die entsprechende Gleichwertigkeit. Daher kann auch Schmerz von mir verlangt werden, falls feststeht, daß für mich ein größerer Schmerz abgewendet oder Glück bereitet wird. Auf dieser Grundlage beruht sowohl der Gehorsam als auch das Pflichtgefühl der Bürger. Weil nämlich, wie ich oben sagte, derjenige, der mir meine Sicherheit garantieren kann, mich zu Recht zwingen kann, bin ich daher in einem Staat, soweit ich in ihm meines Lebens sicher sein kann, dazu verpflichtet, auf Geheiß des Staates von anderen Hilfsmitteln zum Schutz des Lebens abzusehen. Und auf Befehl dessen, der sich mir für mein Glück zu verbürgen fähig ist, bin ich verpflichtet, auf alle anderen Hilfsmittel zu verzichten, auf seinen Befehl ihm meine Schutz- und Hilfsmittel für das Glück zu überlassen. Folglich bin ich dem, der mir garantiert, des Glückes sicher zu sein, verpflichtet, schlechthin alles zu seiner Entscheidung anheimzustellen. Diese Sicherheit liegt bei Gott. Hieraus wird deutlich, daß ich mich zu Recht dem Staate widersetzen darf, sobald er mir Unglück zuzufügen droht oder mir die Mittel zur Sicherung meines Glücks, das er anderswoher nicht mehr garantieren kann, entzieht. Denn der Staat kann mir nicht, wenn er mir Sicherheit vor dem Unglück garantiert, zugleich das Glück rauben. Deshalb darf ich, auch wenn mich solch ein Staat zu Recht mit dem Tode bestraft, mich dennoch zu Recht widersetzen, es sei denn freilich, daß irgend ein Rechtsgrund über den Tod hinaus bestehen bleibt.⁷⁹ Bei Gott geschieht das Wunderbare, daß man allein bei ihm keiner Garantie bedarf, sondern daß er aufgrund seiner eigenen Natur für uns Vorsorge trägt. Denn indem er als Weiser es will, vermag er es als Allmächtiger auch, uns glücklich zu machen, wenn wir nur wollen. Daher ist alles zu tun, was er für gut befindet. Er befindet aber all dasjenige für gut, was der Harmonie der Dinge

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rerum, cum et harmonia particularis mentium ei placeat adeò ut distorta non possit reddi harmonica nisi per poenam. Aeqvitatis autem est, qvicqvid justum est si DEUS esset, idem posito DEUM esse est pietatis. Unde si mortem, si cruciatus, qvanti tolerari possunt (qvousqve enim hoc loco pertingant humanae vires fateor me nescire), imperet DEUS, aut ratio, id est, maius bonum in universum, jam pro certo habendum erit, justum esse. In Civitate praesumtio est pro rectore, id est per omnia ei parendum est, nisi appareat felicitatem nostram tangi aut miseriam imminere. Sed apud eos qvi DEUM agnoscunt una est mundi civitas, caeterae huic subditae, ut non liceat resistere Civitati, nisi certò constet maius inde bonum universi pendere, id est esse gratum DEO , qvod cùm rarissimè constet certum est, rarissimè resisti posse civitati. Quemadmodum delegato resistendum non est, nisi constet alia velle delegantem. Nam qvae Grotius et Arnisaeus scripsere de jure Civium contra potestatem semper irresistibili, ea nescio an defendi qveant. […] An possim occidere alium qvem scio morte aeterna damnatum iri, potius qvàm ut me occidi patiar. Puto posse me occidere, si qvis mihi sit metus, ne sim in eo statu, in qvo verendum sit ne sit periculosum comparere coram DEO. Nam circa miseriam et felicitatem minima suspicio sufficit, nec potest nimia cautio esse. Nam qvòd Grotius 1. 3. 3. putat pro nullo habendum damnum, qvod in-

16 contra ] anschließendes summam getilgt nach A VI 2, 527 19 morte aeterna ] korrigiert aus aeterna morte nach A VI 2, 527

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dient. Weil er auch die besondere Harmonie der Geister für gut befindet, so kann diese, wenn sie ins Disharmonische verdreht worden ist, auf keinem anderen Weg ins Harmonische zurückgeführt werden kann als durch Strafe. Alles was gerecht ist, stellt, wenn man von der Existenz Gottes ausginge, zugleich eine Pflicht der Billigkeit dar; und gerade diese ist unter Voraussetzung der Existenz Gottes zugleich eine Forderung der Pietät.⁸⁰ Wenn daher Gott bzw. die Vernunft, d. h. das im ganzen genommen größere Gut, soviel Tod und Folterqualen befiehlt, wie ertragen werden können, (wie weit hier freilich die menschlichen Kräfte reichen mögen, gestehe ich nicht zu wissen), so wird man es bereits für gewiß halten dürfen, daß dies gerecht sei. Im Staat geschieht diese Vorvermutung zugunsten des Oberhauptes. Das heißt, daß ihm in allem zu gehorchen ist, wenn nicht unser Glück beeinträchtigt zu werden oder Unglück zu drohen scheint. Für diejenigen aber, die Gott anerkennen, ist die Welt ein einziger Staat, dem alle anderen Staaten unterworfen sind.⁸¹ Somit ist es nur dann erlaubt, sich dem Staat zu widersetzen, wenn mit Gewißheit feststeht, daß davon ein insgesamt größeres Gut abhängt, d. h. daß Gott es für gut befindet. Weil dies höchst selten feststeht, ist es gewiß, daß man sich dem Staat höchst selten widersetzen darf. Ebensowenig darf man sich einem Staatsbeauftragten widersetzen, es sei denn, daß feststeht, daß sein Auftraggeber andere Interessen verfolgt. Ich weiß nämlich nicht, ob das, was Grotius und Arnisaeus über das unbeugbare Recht der Bürger gegen die Staatsgewalt geschrieben haben, verteidigt werden kann.⁸² […]⁸³ Ob ich eher einen anderen töten darf, von dem ich weiß, daß er zu ewigem Tod verdammt werden wird, als hinzunehmen, daß ich getötet werde ? Ich glaube, daß ich ihn töten darf, wenn ich einen Grund zur Befürchtung habe, daß ich mich in dem Zustand befinde, in dem ich Angst haben muß, daß es für mich gefährlich ist, vor das Angesicht Gottes zu treten. Denn wo es um das Wohl und Wehe geht, genügt der kleinste Argwohn, und man kann nicht vorsichtig genug sein. Grotius vertritt nämlich in I, 3, 3 die

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III. Elemente des Naturrechts

fertur ei qvi se culpa sua in id conjecit, respondendum est, verum esse, si esset de eius jure qvaestio. Sed qvaestio est de jure DEI cui civis eripitur. Alioqvi si certum sit, pone revelatione, me salvatum, illum damnatum iri, nihil dubitandum qvin ego debeam malle occidi, nisi constet me plus prodesse animabus posse superstitem. Imperium est familia civitatum. Seu civitas imperans, cui aliae parent. Etsi accuratè loqvendo non sit nisi una. Et ita esset imperium systema civitatum foederatarum. Est autem civitas multitudo formam habens praestantium sibi securitatem. Formam hanc et qvasi actum habere debet, neqve enim promissio sufficit, si nondum ita convenerint, ut hanc speciem habeant. Sed nec necesse est ita revera esse, nam qvamdiu hoc non constat publicè, nondum est soluta civitas, nam etsi paucis constet, ii pro se qvisqve erunt absoluti civitate, etsi, si hoc aliis non persvadeant, soleant pro hostibus haberi. Conventu ad eundem locum non est opus, nam nil vetat cur ordines, si qvis eorum sit independens, qvalis nullus est, vocem Rempublicam. Respublica est civitas qvae ultra securitatis formam habet formam ášôáñêåßáò seu praebendae felicitatis. Dominatus subsistit intra securitatem. Et hoc est herile et despoticum. Nam alioqvi Respublica, in qva forma non est securitatem saltem magnae parti praestantis, jam dissoluta est. Etiam Turca et – ( ?) plebi praestat qvod non – ( ?).

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Ansicht, daß ein Schaden nicht als Schaden gelten könne, wenn er dem zugefügt wird, der ihn aus eigener Schuld forciert hat.⁸⁴. Darauf muß man jedoch erwidern, daß dies richtig wäre, wenn es bloß eine Frage seines eigenen Rechtes wäre. Es ist jedoch eine Frage des Rechtes Gottes, dem ein Bürger entrissen wird. Andernfalls jedoch, wenn es mit Gewißheit feststeht, z. B. durch eine Offenbarung, daß ich in Zukunft gerettet werde, jener aber verdammt wird, so gibt es keinen Zweifel daran, daß ich verpflichtet bin, mich lieber töten zu lassen, sofern nicht feststeht, daß ich als Überlebender noch mehr Geistern nützen kann. Das Reich ist die Familie der Staaten, d. h. der herrschende Staat, dem die übrigen gehorchen, auch wenn es, um korrekt zu sprechen, letztlich nur einen einzigen gibt.⁸⁵ Und somit wäre das Reich das System föderierter Staaten. Nun ist aber ein Staat eine Vielheit als Formation solcher, die sich gegenseitig Sicherheit garantieren. Er muß eine solche Geformtheit und gleichsam rechtliche Geschäftsordnung haben; denn das bloße Versprechen reicht nicht aus, wenn sie noch nicht so übereingekommen sind, daß sie diese Sicherheitsordnung auch wirklich haben. Andererseits ist es auch nicht nötig, daß die Sicherheit tatsächlich so gegeben ist. Denn der Staat ist so lange noch nicht aufgelöst, wie dies noch nicht öffentlich feststeht. Auch wenn er nämlich nur aus wenigen besteht, werden losgelöst vom Staat alle nur noch für sich selbst dasein, obgleich sie, wenn sie andere nicht von ihrer Loslösung überzeugen, gewöhnlich für Feinde gehalten werden. Eine Zusammenkunft am selben Ort ist nicht nötig, denn nichts spricht dagegen, daß man die Stände, selbst wenn einer von ihnen unabhängig wäre, was man jedoch von keinem behaupten kann, einen Staat nennt. Ein Staat ist eine Bürgerschaft, die über die Form der Sicherheit hinaus die Form der Autarkie oder Glücksgewähr hat.⁸⁶ Zwangsherrschaft bringt es nicht weiter als bis zur bloßen Sicherheit, und dies ist herrisch und despotisch. Andererseits ist der Staat, der nicht die Form hat, zumindest die Sicherheit des Großteils zu gewährleisten, schon längst aufgelöst. Auch die Türkei und […] gewährt dem Volk, was nicht […].⁸⁷

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III. Elemente des Naturrechts

Civitates nihil dubitandum est alias aliis esse perfectiores, adde et regulariores. Cum enim Civitas sit Societas securitatis, id est multitudo hominum in securitatis sibi mutuò procuratae opinione viventium. Sit autem securitas miseriae improbabilitas, hinc patet ex natura sua his modis variari civitatem: multitudine hominum, hominibus, miseria, improbabilitate, opinione. Ac tamen singulis tum in se ductis. Extrinsecè multis utiqve modis, sed qvi ad rem pertineat uno, nimirum cumulo bonitatis, atqve accessione, si scilicet homines non tantùm in securitatis, sed et aliorum bonorum opinione vivant, qvorum maximus gradus est in optima Reipublicae forma, in qva vivunt in opinione praestantium sibi felicitatem. Formam hîc voco ipsam externam faciem. Aliud est autem Respublica optima, aliud formam habens optimae. Optima est in qva homines vivunt in felicitate. Nam qvi vivunt in felicitate, vivunt in felicitatis opinione. Qvia nemo nesciens est felix. Imò felix est qvi se felicem putat, qvamdiu putat. Imò et hoc extrinsecum est civitati, verene an fictè sint in securitatis statu. Qvia civitas non dissolvitur dissoluta securitate, nondum dissoluta eius opinione. Etsi hîc dubium sit an non locum habeat retrotractio, ut cùm intellecta res est, credatur jam tum dissoluta fuisse. Qvod ego tamen non puto. De retro-tractione alibi, qvae locum habet in conditionibus sine die etc. Etiam à tempore seu durabilitate est variatio, etsi non pos-

8 accessione ] korrigiert aus accessoriè nach A VI 2, 527

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Es besteht kein Zweifel daran, daß die einen Staaten besser und – wie man hinzufügen muß – geregelter sind als die anderen; und zwar deshalb, weil ein Staat eine Sicherheits-Gesellschaft ist, d. h. eine Vielheit von Menschen, die in der Erwartung leben, wechselseitig für ihre Sicherheit zu sorgen. Wenn aber Sicherheit die Unwahrscheinlichkeit von Unglück ist, so erhellt aus dem eigenen Wesen des Staates, daß er sich mit folgenden Faktoren verändert: mit der Anzahl an Menschen, den einzelnen Menschen selbst, der Not, ihrer Unwahrscheinlichkeit und der öffentlichen Meinung; und doch sind diese Einzelfaktoren näherbesehen voneinander abgeleitet. Von außen wird ein Staat durch besonders viele Faktoren verändert, durch einen einzigen aber, der zur Sache gehört, nämlich durch das jeweilige Maß und den Zuwachs an Qualität, wenn nämlich die Menschen in der Erwartung nicht nur von Sicherheit, sondern auch von weiteren Gütern leben. Deren höchste Stufe besteht in der besten Form des Staates, in welcher alle in der Erwartung leben, sich gegenseitig glückliche Umstände zu verbürgen. Form nenne ich hier gerade die äußere Beschaffenheit. Es ist aber der beste Staat etwas anderes als der Staat, der die Form des besten besitzt. Der beste ist derjenige, in dem die Bürger im Glück leben. Diejenigen nämlich, die im Glück leben, leben in der Überzeugung, glücklich zu sein; denn niemand ist glücklich, der nichts davon weiß. Mehr noch: Glücklich ist, wer sich für glücklich hält, solange er sich dafür hält. Ja, für den Staat ist es sogar äußerlich, ob die Bürger sich nun wahrhaft oder nur wahnhaft im Zustand der Sicherheit befinden. Denn der Staat löst sich, mag auch die Sicherheit bereits aufgelöst sein, noch nicht wirklich eher auf, bis das öffentliche Vertrauen in die Sicherheit aufgelöst ist, auch wenn sich hier die Frage stellt, ob nicht eine Vordatierung stattfindet, so daß zu dem Zeitpunkt, wo die Sache bewußt wird, die Vermutung auftaucht, er sei schon längst aufgelöst gewesen. Das glaube ich jedoch nicht. Diese Rückprojektion ist anderenorts zu behandeln; sie findet Platz unter dem Titel »Bedingungen ohne Termin« usw.⁸⁸. Auch vom Faktor der Zeit oder Dauerhaftigkeit ergibt sich für die Staaten eine Veränderung, auch wenn diese sich augenscheinlich

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sit iniri, ut videtur ad tempus, nec ad conditionem aut ex conditione. Interdum ipsa civitatis forma imperfectio est, qvod duplici modo contingere potest, vel cum virium vel cum voluntatis sufficientia ad praestandam securitatem non apparet. Ut proinde perfecta forma sit viribus, si non appareat, qvomodo ipso facto dissolvi possit civitas, vel voluntate, si non appareat, qvomodo mens, voluntas, deliberatio, et maximè conclusio possit deesse civitati. Ita ut civitas jure dissolvi possit. Qvod fit cùm non est signum voluntatis. Cùm enim nulla sit certitudo securitatis nisi sit voluntas qvaedam certa praestandi, ea autem in multitudine esse non possit, necesse est ad perfectionem civitatis esse qvandam voluntatem certam qvae pro voluntate civitatis habeatur. Sed hoc non, ut voluit doctissimus Hobbius, in omni civitate necessarium est. Ecce enim Poloniam intueamur, nulla in ea saepe consensus obtinendi ratio. In imperio ipso, et ubicunqve amicabilibus compositionibus qvas vocant locus est, par ratio est. Unde nec qvae de successionibus deqve aliis summae potestatis juribus disserit Hobbius universalia sunt. Qvemadmodum illud qvoqve qvod absolutum sit cum exercitium à populo summae potestatis commissum est, si populus sibi non reservavit ius reconveniendi, nisi in certum locum et tempus. Sed hoc non seqvitur, dummodo populus omnino ius reconveniendi servaverit. Imò etsi non servaverit sibi populus, reconvocetur tamen, non potest redissolvi, nisi et hoc placuerit ab initio, ut de Anglia

18 cum ] korrigiert aus in nach A VI 2, 528

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weder zum richtigen Zeitpunkt noch zu ihren bzw. zufolge ihrer angemessenen Bedingungen auswirken kann. Manchmal liegt gerade in der Form eines Staates eine Unvollkommenheit. Dies kann auf zweifache Weise geschehen, nämlich wenn zur Gewährleistung der Sicherheit zum einen nicht die Kraft, zum anderen nicht der Wille in hinreichendem Maße zur Verfügung steht. Somit ist der Staat von vollkommener Form einerseits aufgrund seiner Kraft, solange sich nicht zeigt, wie er sich ohne weiteres auflösen kann, und andererseits aufgrund seines Willens, solange nicht offenkundig wird, wie sehr es ihm an Geist, Willenskraft, Entscheidungsfähigkeit und vor allem an Konsequenz fehlt, so daß der Staat zu Recht aufgelöst werden könnte, was denn auch geschieht, sobald es keine Bekundung eines Willens mehr gibt. Weil es nämlich keine andere Gewißheit für die Sicherheit gibt außer dem entschiedenen Willen, diese zu verbürgen, dieser Wille aber bei einer Vielheit nichts Gegebenes sein kann, so ist es für die Vollkommenheit des Staates notwendig, daß ein gewisser entschiedener Wille gilt, welcher als Wille des Staates angesehen wird. Doch dies ist nicht, wie es der höchst gelehrte Hobbes gewollt hat, bei jedem Staat nötig. Denn wenn man bloß auf Polen hinschaut, so findet sich in diesem Staat kein Grund, häufig an der Übereinstimmung festzuhalten. Selbst im Reich herrschen die gleichen Verhältnisse, auch überall dort, wo für sogenannte freundschaftliche Verbindungen Platz ist. Daher sind auch die Ausführungen des Hobbes in bezug auf die Nachfolge und in bezug auf die anderen Rechte der höchsten Gewalt keine streng allgemeingültigen Bestimmungen. Ebensowenig allgemeingültig ist auch dies, daß es absolute Geltung habe, wenn bei der Übertragung der höchsten Macht durch das Volk dieses sich kein Recht auf Wiederversammlung vorbehalten hat, es sei denn für einen bestimmtem Ort und eine bestimmte Zeit. Doch dies folgt nicht zwingend, solange sich das Volk nur überhaupt sein Recht auf Wiederversammlung vorbehalten hat. Ja selbst wenn das Volk sich dies nicht vorbehalten haben sollte, könnte es sich doch wiederversammeln. Es kann nicht wieder aufgelöst werden, es sei denn, es hätte dies von Anfang an beschlossen, wie man es von

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ajunt. Caeterum si plebi fortuiti concursus permissi, ut in Polonia Rokos, etiam sic reservata ei potestas summa. Sed hae Respublicae fateor valde imperfectae sunt, id est in gradu securitatis inferiore. Unde cum per demonstrationem generalem jure qvis eum ad absolutam obedientiam cogere possit, cui de securitate cavere potest, rex vel senatus in ejusmodi Civitate si satis virium habuerint ad cogendum sine majore malo, cavendumqve, jure formam mutabunt. Sed ut hoc possint, rarissimè evenit ob tot reqvisita, unde et rarò contingit, ut formae priores jure mutentur. De utilitate innoxia cogitandum aliqvid denuò. Dixi supra teneri me ad innoxiam utilitatem, ut lumen de lumine. Ita sanè teneor, si mihi sit cautum in tantundem. Imò cogitandum est eo ipso esse noxiam utilitatem, qvòd ea alioqvi redimere aliqvid et exprimere licet, qvod aeqvali jure petatur. Unde si qvis lumen de meo lumine accendere parat, teneor sanè, si habeam cur credam et alterum tantundem utilitatis mihi praestiturum, qvantum ego ipsi. Ut proinde hoc loco pretium rei non in universum, sed affectionis, id est qvanti ei sit lumine non privari, aestimari debeat. Nec in infinitum teneor de praestanda alterius utilitate mihi innoxia, nisi et ipse mihi de ea caverit in infinitum, id est non qvantum ego possum, sed qvantum potest ipse. Tantum enim de voluntate cavendum est. Qvia benevolentia non nisi benevolentiae debetur. Sed qvousqve

17 affectionis, id ] korrigiert aus affectionis id nach A VI 2, 528 19 praestanda ] korrigiert aus praestando nach A VI 2, 528

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England behauptet. Wenn übrigens dem Volk aufs Geratewohl sich ergebende Zusammenkünfte erlaubt sind, wie in Polen beim Rokosz,⁸⁹ so ist ihm damit auch schon die höchste Gewalt eingeräumt. Doch ich gebe zu, daß diese Staaten sehr unvollkommen sind, d. h. einen geringeren Grad an Sicherheit besitzen. Wenn daher jemand durch einen allgemeinen Nachweis denjenigen mit Recht zum unbedingtem Gehorsam zwingen kann, für den er in bezug auf seine Sicherheit Sorge tragen kann, so werden König oder Senat in einem so beschaffenen Staat mit Recht die Form der Regierung verändern, wenn sie genügend Kräfte haben, um ohne größeres Übel zu zwingen und zu beschützen. Doch daß sie dazu in der Lage sind, gelingt sehr selten wegen so vieler Erfordernisse. Deshalb fügt es sich auch selten, daß ältere Regierungsformen rechtsgemäß verändert werden. Über den unschädlichen Nutzen ist erneut nachzudenken.⁹⁰ Ich habe oben gesagt, daß ich gehalten bin zu einem für mich unschädlichen Nutzen, z. B., wenn jemand sich Licht von meiner Lampe anzünden will. Dazu bin ich sicherlich verpflichtet, wenn der andere im gleichen Maß für mich sorgt. Andererseits ist zu bedenken, daß die Einräumung eines Nutzens als solche schädlich ist, weil durch sie andernfalls etwas erkauft und abgenötigt werden könnte, das man mit gleichem Recht von mir fordert. Wenn daher jemand sich anschickt, sein Licht an meiner Lampe anzuzünden, bin ich selbstverständlich hierzu gehalten, wenn ich einen Anhaltspunkt habe darauf zu vertrauen, daß auch der andere mir einen ebensogroßen Nutzen garantieren wird, wie ich ihm selbst gebe. Deswegen muß an dieser Stelle der Wert der Sache eingeschätzt werden, und zwar der Preis nicht im allgemeinen genommen, sondern der Preis entsprechend der Nachfrage, d. h. wieviel es dem anderen wert ist, nicht auf Licht verzichten zu müssen. Auch bin ich nicht unbegrenzt dazu gehalten, dem anderen einen für mich unschädlichen Nutzen zu leisten, es sei denn, daß auch er selbst mir gegenüber unbegrenzt dafür sorgt. Maßgeblich ist nicht, wieviel ich, sondern wieviel er selbst leisten kann. Zu gewährleisten ist nämlich bloß der gute Wille, da man Wohlwollen nur gegenüber anderem Wohlwol-

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non est in infinitum cautum, non pendet res à benevolentia sed indemnitate. Est autem et hoc damnum prodesse non pensaturo. Id est eum qvi hostis esse potest fortiorem reddere, nihil recipiendo. Si qvis habeat solus artem excitandae flammae, is utiqve neminem docere cogi posset, nisi à praestante ei felicitatem (unde nec alio casu magni artifices à Republica ad sua aperienda jure cogi possunt, nisi praestet eis felicitatem) vel si res pertineat ad publicam felicitatem aut salutem, conetur qvantum potest praestare, etsi hoc casu et illi jure cogant, et hic jure resistat. Locus Ulpiani de eo qvi eqvo alterius ignorantis subjecit eqvam suam, qvod domino eqvi tenetur actio, plurimum aeqvitatis habet, neqve enim lucrari debeo cum cessatione lucri alieni pro lucro meo debiti, neqve effici debet, ut aliqvis ob alium deceptum plus habeat, et alter minus. Injustum est ebriosum esse, qvia contra ebriosos datur actio damni infecti, qvasi facilè nocituros. Prorsus ut contra eum, qvi se faceret rabiosum, ëõêÜíèñùðïí. Nota est historia Mercatoris qvi aversatus anserem tostum à Iudaeo sibi donatum mercenario cuidam suo, homini pauperrimo concessit. Mercenarius intus farctum auro invenit et tacet. Iudaeus,

19 farctum ] korrigiert aus factum nach A VI 2, 528

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len schuldig ist. Soweit aber nicht unbegrenzt Sicherheit geleistet wird, hängt die Sache nicht vom Wohlwollen ab, sondern von der Unschädlichkeit. Einen Schaden bedeutet es aber auch, jemandem zu nützen, der keine Gegenleistung erbringen will. Es läuft darauf hinaus, daß man gerade den, der ein Feind sein kann, stärkt, indem man keine Gegenleistung nimmt. Wenn jemand als einziger die Kunst besitzt, Feuer zu entzünden, so kann er unter keinen Umständen dazu gezwungen werden, jemandem diese Kunst beizubringen, außer von demjenigen, der ihm sein Wohl gewährleistet. (Daher können, um einen anderen Fall zu nehmen, auch große Künstler nur dann zu Recht vom Staat gezwungen werden, ihre Fertigkeiten offenzulegen, falls dieser ihnen ihr Glück verbürgt.) Oder, wenn die Angelegenheit zum öffentlichen Wohl oder Heil beiträgt, wird der Staat versuchen, ihm so viel wie möglich zu bieten, auch wenn in diesem Falle sowohl jene zu Recht zwingen als auch dieser zu Recht sich widersetzt. Bei Ulpian findet sich die Stelle von jemandem, der dem Hengst eines anderen ohne dessen Wissen seine Stute untergeschoben hat.⁹¹ Daß der Prozeß zugunsten des Hengstbesitzers entschieden wird, hat den größten Grad der Billigkeit für sich; denn ich darf nicht von etwas profitieren, das mit der Verweigerung des Vorteils verbunden ist, den ich dem anderen für den Gewinn, den ich mir verschafft habe, zu gewähren schuldig bin. Es darf auch nicht dazu kommen, daß jemand durch den Betrug an einem anderen einen Gewinn einstreicht, während der andere einen Verlust erleidet. Ungerecht ist es, trunksüchtig zu sein.⁹² Denn gegen Trunksüchtige wird ein Klageanspruch für künftigen Schaden eingeräumt, weil sie ziemlich leicht dazu neigen, Schaden anzurichten; ebenso wie gegen denjenigen, der sich in den Zustand der Raserei hineinsteigert und zum Wolfsmenschen macht. Bekannt ist die Geschichte des Kaufmanns,⁹³ der eine gebratene Gans, die ihm von einem Juden geschenkt worden war, verschmähte und sie einem seiner Bediensteten, einem sehr armen Menschen, vermachte. Der Diener entdeckt, daß die Gans im Inneren mit Gold vollgestopft ist, und schweigt. Der Jude, der mit

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qvi hoc doni ingenio delectare mercatorem voluerat, miratus nihil renuntiari ne gratias qvidem, adit hominem, qvaerit qvomodo sapuerit anser. Ille dedignanti similis, dedisse se ait mercenario suo. Tum verò à Iudaeo de viscerum bonitate edoctus, totusqve extra se positus, currit, indignatur, vociferatur, reposcit aurum. Alter se donatione defendit. Qvaeritur qvid juris. Ego pro mercatore pronunciandum nihil dubito. Nam qvi anserem donat, non donat, qvae nihil ad anserem pertinent. Si fuisset intus aurificina, qvalis in Gallina Aesopi ova aurea ponentis, non haberet mercator qvod qvereretur. Nunc anserem donatum qvivis videt, cuius nec pars per se, nec ad finem, cuius causa donatus est, id est comedendum, pertinet aurum. Nam de alia farctura aliter res habet. Et verò si rem altius expendam, non puto omnino teneri qvenqvam ex dono ultra animum donandi, ne si culpa qvidem intercesserit. Neqve enim illud, imputet sibi ubiqve locum habet, nisi cum sine alieno lucro damnum est totum. Unde si qvis deceptus sit in contrahendo, certa qvadam ratione datur rescissio, nisi in iis ubi qvasi aleae jactus est et certatur qvasi emendo vendendoqve ut inter mercatores. Nam ubi qvasi aleae emtio est, ibi constat de vitro, incertitudine, infelicitas tamen unius in donendo, alterius in frustra gaudendo partienda est.

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in ] ergänzt nach A VI 2, 528 ponentis ] korrigiert aus ponens nach A VI 2, 528 res ] anschließendes se getilgt nach A VI 2, 528 imputet sibi ] korrigiert aus imputo, sibi nach A VI 2, 528 ibi constat de vitro, incertitudine, infelicitas tamen unius … partienda est. ] korrigiert aus infelicitas tamen, unius …parcenda est, ibi constat de vitio, incertitudine. nach A VI 2, 528

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diesem witzigen Geschenk den Kaufmann hatte erfreuen wollen, wundert sich, daß er keine Rückmeldung, ja nicht einmal Dank erhält, wendet sich an den Kaufmann und fragt, wie ihm die Gans geschmeckt habe. Der aber sagt trocken wie einer, der sich danebenbenimmt, er habe die Gans seinem Diener überlassen. Bald aber, vom Juden über die hohe Qualität der Eingeweide belehrt und ganz außer sich vor Ärger, läuft er davon, schmäht seinen Diener, fängt an zu schreien und verlangt das Gold zurück. Der Diener verteidigt seinen Anspruch, indem er sich darauf beruft, daß es sich um eine Schenkung gehandelt habe. Gefragt ist nach der Rechtslage. Ich selbst zweifle nicht im geringsten daran, daß zugunsten des Kaufmanns entschieden werden muß. Denn wer eine Gans verschenkt, schenkt nicht etwas, das mit der Gans gar nichts zu tun hat. Wenn zum Inneren der Gans eine Goldschmiede gehört hätte (so wie das Huhn bei Äsop, das goldene Eier legt⁹⁴), so hätte der Kaufmann freilich keinen Grund zur Klage. Nun sieht aber jeder, daß das Gold weder an sich ein Teil der geschenkten Gans ist noch zu dem Zweck gehört, um dessentwillen sie geschenkt wurde, nämlich zum Verzehr. Denn bei einer anderen Stopfung der Gans verhält sich die Sache anders. Aber auch wenn ich die Sache tiefer überdenke, glaube ich nicht, daß überhaupt jemand aufgrund eines Geschenks Verpflichtungen hat, die über die ursprüngliche Schenkungsabsicht hinausgehen, nicht einmal dann, wenn eine Schuld mitgespielt hat. Denn so etwas schreibt man sich auch nicht in jedem Falle zu, sondern nur dort, wo ein völliger Schaden eintritt, ohne daß ein Fremder einen Vorteil hat. Daraus ergibt sich, daß jemandem, der bei einem Vertragsabschluß betrogen worden ist, aufgrund einer klaren Beweislage eine Vertragstilgung eingeräumt wird, außer bei denen, bei denen gewissermaßen der Würfel rollt und gleichsam gestritten wird um Kauf und Verkauf, wie es zwischen Händlern üblich ist. Denn hier, wo der Kauf gleichsam dem blinden Zufall gilt, besteht er aufgrund der Ungewißheit aus Glas ; das Unglück jedoch, das der eine durch seinen Verzicht, der andere durch seine vergebliche Freude erfährt, muß aufgeteilt werden.

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Monarcha in regno successivo debet praestare populo securitatem de educatione filii. Neqve enim sufficit ipsum esse sapientem, nisi meliora speranda sunt. Et fuit hîc error Antonini philosophi qvi Commodo bestiae qvàm homini similiori Rempublicam reliqvit. Bonae fidei possessorem usufructuario aeqvant leges Romanae, qvanqvam pugnantes, ego idem sentio, sed cum hâc adjectione, qvousqve contra utilitatem domini non factus est locupletior. Sed hoc adde si nec in culpa sit. Si in culpa sit, non in dolo, laesio ei omnis ferenda est, qvae in communi rei pretio consistit, seu qvod praevidere poterat, dummodo non fiam eius damno locupletior. Nam hoc propriè non est locupletiorem fieri, lucrum recipere qvod alioqvi capturus eram. NB . sed tamen et hoc notandum est infortunium, seu damnum ultra aestimationem communem eo jure qvo de infortuniis diximus partiendum esse. Finge me ludere vitro aliqvo tuo vacuo ut apparet sed revera aëre multo intruso pleno, qvod ego praevidere non potui. Vitrum frangitur, vitrum à me pensandum est, non aëris collecti, nisi dimidium. Notandum tamen in re aliena minimam culpam mediam haberi. Pone ergo alium casum, me rem meam judicare, sed culpa atqve ita frangere, solvendum non nisi rei commune pretium erit, reliqvum ambo feremus. Miror Romanos

16 intruso ] korrigiert aus intenso nach A VI 2, 528 21 reliqvum ] korrigiert aus reliqvam nach A VI 2, 528

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Der Monarch in einem Reich mit erblicher Thronfolge muß seinem Volk Sicherheit in bezug auf die Erziehung seines Sohnes garantieren. Denn es genügt nicht, daß er selbst weise ist, wenn nicht auch vom Nachfolger Besseres zu erhoffen ist. Und es ist in diesem Punkt ein Fehler des Philosophen Antoninus gewesen, der den Staat einem Commodus hinterließ, obwohl dieser mehr Ähnlichkeit mit einer Bestie hatte als mit einem Menschen.⁹⁵ Die römischen Gesetze stellen, wenn auch in widersprüchlicher Weise, denjenigen, der etwas in gutem Glauben besitzt, einem Nutznießer gleich. Ich bin derselben Ansicht, aber mit dem Zusatz: nur insoweit, als der Begünstigte gegenüber dem Gewinn, den der Besitzer gehabt hätte, nicht reicher geworden ist. Aber auch dies ist noch hinzuzufügen: falls kein Verschulden vorliegt. Falls ein Verschulden, jedoch kein Betrug vorliegt, muß er die ganze Schädigung hinnehmen, die nach dem geltenden Wert der Sache zu bemessen ist, d. h. nach dem Wert, den er hätte vorhersehen können, freilich nur, solange ich mich nicht durch seinen Schaden bereichere. Denn dies, den Gewinn einzustreichen, den ich ohnehin erzielt hätte, heißt nicht im eigentlichen Sinne »reicher werden«. Wohlgemerkt ist aber auch ein solches Mißgeschick oder ein solcher Schaden in Betracht zu ziehen, der über die geltende Einschätzung gemäß dem Rechtsprinzip hinausgeht, wonach man in bezug auf Mißgeschicke sagt, daß der Schaden aufzuteilen sei. Man stelle sich vor, wie ich mit einem dir gehörenden Glas spiele, das dem Anschein nach leer, tatsächlich aber mit einem hineingegossenen Duftstoff gefüllt ist, was ich nicht vorhersehen konnte. Das Glas zerbricht. Das Glas muß ich ganz bezahlen, den Duftstoff, der darin gesammelt war, nur zur Hälfte. Zu bemerken ist jedoch, daß bei einer fremden Sache die kleinste Schuld meinerseits auf ein mittleres Maß zu veranschlagen ist. Man setze also den anderen Fall, daß ich das Glas für meinen Besitz halte, es aber schuldhaft und genauso wie oben zerbreche. Dann wird nur der geltende Wert zu erstatten sein; was darüber hinausgeht, werden wir beide tragen müssen. Es wundert mich, daß die Römer bei demjenigen, der etwas in gutem Glau-

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bonae fidei possessorem, in eum qvi dolo tantùm et qvi culpa qvoqve vacat non distinxisse. An lucrum malae fidei possessoris ex re mea captum, qvod tamen ego alioqvin capturus non eram, ad me pertinet. At nonne indignus est, qvi lucretur, ita sanè, sed alia ei poena non deest. Unde credo in beneconstituta Republica domino furem amplius aliqvid qvàm restitutionem debere, cùm multa alia damna concurrerint, contumelia, insecuritas, aliaqve id genus. Puto bonae fidei possessorem fructuum dominium acqvirere, non tamen ex iis lucrari. Qvia antea non erant in rerum natura, ac nec materia eorum cuius fuerit constat. Et novum accedens ex aëre aut subterraneis exhalationibus alimentum etsi accedat rei tuae, est tamen in mea primum potestate. Unde et meum. Unde seqvetur et alluvionem acqviri non domino fundi, sed possessori, si modò constet, qvid accesserit. Caeterum in fructibus contra est, qvòd materia ex fundo esse credenda est. Ita sanè. Constat tamen et alium accessisse. Ergo seqvetur communio. Subtilia haec. Ajunt, neminem sibi possessionis causam mutare posse. Ego concedo, si ab alio accepta est possessio. Sed si à nullo aliud jus esse putem. Imò verò universaliter verum est, nam etsi à nullo acqviret, manebit titulus pro suo. Hoc igitur volebam neminem mutare sibi possessionis subjectum posse, nisi in re nullius. Ut si prius posse-

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ben besitzt, nicht unterschieden haben zwischen dem, der lediglich frei von Betrug ist, und dem, der auch frei von Schuld ist. Ob der Gewinn, den jemand aus meiner Sache gezogen hat, die er in bösem Glauben⁹⁶ besitzt, mir zusteht, obwohl ich noch nicht begonnen habe, davon zu profitieren ? Aber ob er nicht überhaupt unbefugt ist, damit Profit zu machen ? So ist es auf jeden Fall ! Aber er entgeht auch sonst nicht seiner Strafe. Daher glaube ich, daß in einem gut eingerichteten Staat der Dieb dem Eigentümer der Sache mehr als nur die Wiedergutmachung schuldet, wenn noch viele andere Schäden auf ihn zusammenkommen, wie Schande, Unsicherheit und anderes von dieser Art. Ich glaube, daß derjenige, der etwas in gutem Glauben besitzt, das Eigentumsrecht an den Früchten erwirbt, wenn auch nicht das Recht, mit ihnen Gewinn zu machen. Denn die Früchte waren zuvor nicht dinglich vorhanden, und es steht auch nicht fest, wem ihre Substanz gehörte. Und eine neue Nahrung, die aus der Luft oder aus unterirdischen Ausdünstungen zuwächst, untersteht doch zunächst einmal mir, dem Besitzer, auch wenn sie zu der eigentlich dir gehörenden Sache hinzuwächst. Deshalb gehört die Frucht auch mir. Daraus folgt auch, daß nicht der Inhaber des Grundstücks, sondern sein Besitzer angespültes Land erwirbt, wenn nur feststeht, was da hinzugewachsen ist. Im übrigen ist es bei Früchten genau umgekehrt, weil sie als Substanz anzusehen sind, die von dem Grundstück herrührt. So ist es durchaus. Und doch steht fest, daß auch bei den Früchten etwas Neues hinzugekommen ist. Also wird sich eine gemeinschaftliche Aufteilung der Erträge ergeben. Hier ist sorgfältig zu differenzieren. Es heißt, daß niemand eigenmächtig an der Rechtsgrundlage des Eigentums rühren darf. Ich räume dies ein, wenn der Besitz von einem anderen übernommen wurde. Wenn aber nicht, möchte ich annehmen, daß auch anderes Recht zugrundeliegt. Ja, es gilt sogar ganz allgemein, denn auch wenn jemand es nicht von einem anderen erwerben wird, wird der Rechtstitel zu seinen Gunsten bestehenbleiben. Also würde ich lieber formulieren, daß niemand eigenmächtig eine Besitzgrundlage ändern darf, es sei denn bei einer Sache, die keinem gehört. Wie ist

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derim Titio consensu possessoris praecedentis Caji, possumne incipere possidere Cajo. Et si prius rem inventam possederam alteri, possumne possidere mihi. Non videor, acquisivi enim ei ni fallor possessionem. At nonne rursus adimere possum ? Possum, sed tunc ipsam possessionem mala fide possidebo, etsi sim rei bona fide possessor. Ex quo loco – Ut potior sit conditio occupantis, non puto sufficere ut res sit nullius, et ut sit capta, sed ut domita. Inanimata firmari potest et aptari ad usum; animata sive vinculis sive amore astringi, qvin et doceri; sed hinc surgunt difficultates. Pone me agrum incultum reperire, lustrare, circumire, testari animum retinendi, an ideò meus est, ut etsi animo mox redeundi abiero, nemo interim eum occupare et suum facere possit. Sanè qvi sciens animum redeundi meum interim subierit, is injuriarum mihi tenebitur, id est non tam ex damno dato, aut lucro intercepto, pone enim satis agrorum in vicinia esse, etiam meliorum; qvàm ex ostenso animo nocendi. Sed qvid si is ager sit optimus, non erit in altero animus malus. Quid ergo ? An plus est ad iuris effectum saepibus qvàm verbis firmâsse,

3 ei ] ergänzt nach A VI 2, 528 4 possum ? ] korrigiert aus possum. nach A VI 2, 528

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die Rechtsfrage zu entscheiden, wenn ich früher eine Sache, deren Vorbesitzer Caius gewesen ist, in Abstimmung mit Titius in Besitz genommen habe: kann ich da nicht anfangen, sie im Interesse des Caius zu besitzen ? Und wenn ich früher eine gefundene Sache für einen anderen in Besitz genommen habe: kann ich sie dann nicht in meinem eigenen Interesse besitzen ? Offenbar nicht. Ich habe nämlich, wenn ich mir nichts vormache, den Besitz in seinem Interesse erworben. Aber kann ich sie ihm nicht wieder wegnehmen ? Gewiß, aber dann werde ich den Besitz selbst in bösem Glauben innehaben, wenn ich auch in gutem Glauben Besitzer der Sache bin. Aus diesem Punkt […].⁹⁷ Damit die Rechtsbedingung dessen, der von einer Sache in Zueignungsabsicht Besitz ergreift, die stärkere ist, genügt es nicht, daß die Sache keinem gehört und daß sie ergriffen wurde; entscheidend ist vielmehr, daß die Sache in die Herrschaft genommen ist. So kann Unbelebtes gesichert und zum Gebrauch eingerichtet werden, Lebendiges teils durch Fesseln, teils durch liebevollen Umgang gebunden und sogar dressiert werden. Doch hieraus ergeben sich Schwierigkeiten. Gesetzt den Fall, daß ich ein unbebautes Ackerstück finde, es abschätze und umwandere, meinen Willen bekunde, es einzubehalten. Ob es dadurch bereits mir gehört, so daß, auch wenn ich mit der Absicht, bald zurückzukommen, fortgehe, niemand es in der Zwischenzeit in Besitz nehmen und sich aneignen darf ? Gewiß wird derjenige, der wissentlich meine Absicht, zurückzukehren, in der Zwischenzeit durchkreuzt, von mir eines Vergehens bezichtigt werden, und zwar nicht so sehr, weil er mir einen Schaden zugefügt hätte, sondern weil er mir einen Vorteil vereitelt hat. Gesetzt den Fall nämlich, daß es genügend andere, sogar bessere Äcker in der Nachbarschaft gäbe, wie sehr muß ich ihn dann der erwiesenen Absicht bezichtigen, mir zu schaden ! Was aber, wenn dieser Acker der beste ist ? Dann wird beim anderen keine böse Absicht zu unterstellen sein. Was folgt also daraus ? Trägt es etwa mehr zur Verwirklichung des Rechtes bei, wenn man sich mit Zäunen anstatt mit Worten absichert, wo doch auch

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cùm et saepes transcendi possint ? non eqvidem crediderim. Acqvisitum ergo dominium erit. Similiter, si è longinqvo prospiciamus simul duo comites feram, eiusne est qvi prius cepit, aut qvi prius vidit. Utiqve eius qvi cepit. Qvid verò si unus vidit, alter cepit, interest an et alter certo capturus fuerit, nisi comes praecurreret, tunc enim videntis est; sin ad habendum non suffecit vidisse, et non praeveniri, est communis. Cum uterqve operam adhibuerit rei in potestatem redigendae et qvi vidit et qvi cepit, nec possit iniri ratio qvantum ad habendum visio contulerit, qvantum captura. Et si res capientis est tantùm, seqvitur etiam, si duo piscentur, alter alteri pisces in retra agit, fore pisces ejus solùm qvi rete manu tenet. Qvid verò si et comes visurus sine controversia fuerit, nulla habenda est primae visionis ratio. Qvid si qvis visionem non testetur, habebitur pro nulla, nisi seqvatur captio. Ideò enim tacet ut solus habeat, ergo et periculum sustineat nihil habendi. Sed non tantùm de visione sermo est, sed et observatione, pone enim duos rem visuros fuisse, sed unum tantùm observaturum commoditatem. Caeterum ut ad agrum redeamus. Si ego testato redeundi animo diu absim, ut probabilis sit mutatio voluntatis, nec exqviri à me possit, pone ignorari ubi agam, rectene alius invadet. Puto rectè. Qvid si ego mox rediturus sim, sed interea alius invasurus sit, nisi Titius pos-

18 diu ] korrigiert aus dum nach A VI 2, 528

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Zäune überklettert werden können ? Ich glaube kaum. Die Antwort ist also, daß ich mir den Acker durch die obengenante Willensbekundung als Eigentum erworben habe. Ein vergleichbarer Fall liegt vor, wenn wir beide zugleich als Gefährten auf die Jagd gehen und von weitem ein Wild erspähen. Gehört es dann dem, der es früher gestellt hat, oder dem, der es früher gesichtet hat ? Auf alle Fälle dem, der es früher gestellt hat. Was aber, wenn der eine es entdeckt, der andere erlegt hat ? Hier kommt es darauf an, ob auch der eine es mit Sicherheit erlegt hätte, wenn nicht der Gefährte vorausgelaufen wäre; denn dann gehört es dem Entdecker. Wenn es hingegen für die Erbeutung weder ausreicht, es entdeckt zu haben, noch vorausgeeilt zu sein, gehört die Beute beiden gemeinsam. Wenn beide, sowohl der Erspäher als auch der Fänger, Mühe darauf verwendet haben, die Sache zu überwältigen, dürfte man keine Überlegung darauf verschwenden, wieviel das Entdecken und wieviel das Fangen zur Erbeutung beigetragen hat. Und wenn die Sache nur dem Fänger gehört, dann folgt auch, falls zwei Personen fischen gehen, wobei der eine dem anderen die Fische in die Netze treibt, daß die Fische nur dem gehören, der das Netz mit der Hand hält. Was aber, wenn auch der Gefährte zweifellos die Beute gesehen hätte ? So wäre es gleich, wer die erste Entdeckung gemacht hat. Was nun, wenn einer seine Entdeckung nicht mitteilt ? Dann wird sie folgenlos bleiben, wenn keine Erbeutung folgt. Schweigt er doch gerade zu dem Zweck, allein Beute zu machen, läuft also auch Gefahr, leer auszugehen. Es steht jedoch nicht bloße Entdeckung zur Diskussion, sondern auch die Achtsamkeit, für den Fall nämlich, daß beide die Beute entdeckt hätten, aber nur einer die Gelegenheit beim Schopfe packte. Aber nun zurück zum Ackerbeispiel. Wenn man mich nach der Bekundung meiner Absicht, zurückzukehren, wegen meiner Abwesenheit nicht fragen kann, ob von einer Änderung meines Willens auszugehen ist (etwa, wenn keiner weiß, wo ich mich aufhalte), wird dann nicht ein anderer zu Recht in das Grundstück eindringen ? Ich glaube, ja. Was jedoch, wenn ich vorhabe, bald zurückzukehren, aber inzwischen ein anderer eingedrungen wäre, wenn

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sessionem ineat. Titiine ager erit. Non utiqve. Qvid si aliqvod mihi ita negotium gerere voluit servareqve mihi impensis rem meam, et eae in irritum cecidere vel fato, vel qvod ego rem omisi. An illi ius repetendi. Est in genere qvaestio de negotiis gestis. An sufficiat animus probabilis re licet infeliciter gesta. Et puto nullam competere actionem etsi aeqvum sit solatium aliqvod damnum bona voluntate passo non denegari. Qvid verò si Titius agrum per vim obtineat, dejecto invasore, an eius est. Possum respondere relinqvere eum hoc mihi debuisse. Sed redit hîc in genere qvaestio an bello amissa, ab alio recepta dominis prioribus debeantur. An fortè ratio operae habenda est, ut si constet rem à priore domino recuperari non potuisse, sit capientis, si certum sit, domini prioris. Si dubium, utriusqve, prorsus ut in inventione. Sed hoc postremum durum est. Eo ipso enim, qvia dubium est, pro domino priore praesumptio est, et in inventione res nondum est alterutrius. Sed rursus periculi imminuti ratio habenda est. Qvid verò si periculum nullum imminutum, sed fortuna unus rem alteri amissam recuperavit, puta avem alterius suis retibus illapsam. Perinde esse puto, etsi ne retibus quidem ad hoc tensis, sed fortè strui lignorum illapsa sit. Sed

7 non ] ergänzt nach A VI 2, 528

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nicht Titius den Besitzanspruch verteidigt hätte ? Wird der Akker dann nicht Titius gehören ? Nicht unbedingt. Was nun, wenn er mir dadurch irgendeinen Dienst erweisen wollte, unter ständigem Einsatz eigener Mittel meinen Besitz wahren wollte und diese nun wegfielen, sei es durch Unglück oder dadurch, daß ich meinen Besitz im Stich ließ ? Hat er dann nicht ein Anrecht auf Rückerstattung ? Dies gehört allgemein zu den Fragen, die das Erweisen eines Dienstes betreffen. Ob es für eine Rückerstattung genügt, eine gute Absicht seinerseits zu unterstellen, selbst wenn er vielleicht dabei erfolglos geblieben war ? Und ich glaube, daß ihm keine Klage zusteht, auch wenn es nur billig ist, ihm, der aus gutem Willen den Schaden erleiden mußte, eine gewisse Abfindung nicht zu verweigern. Was aber, wenn Titius den Acker mit Gewalt behauptet und den Eindringling davonjagt, gehört er dann ihm ? Ich könnte antworten, daß er es mir schuldig sei, ihn mir zu überlassen. Aber hier taucht allgemein die Frage auf, ob das im Krieg Verlorengegangene, das ein anderer an sich genommen hat, den früheren Herren zurückzugeben ist. Ob vielleicht das Verhältnis der Anstrengungen zu berücksichtigen ist, so daß, falls feststeht, daß die Sache von ihrem früheren Herrn nicht wiedererworben werden kann, diese dann dem gehört, der sie an sich genommen hat, die Sache hingegen ihrem früheren Herrn gehört, wenn dieser sie vergüten kann ? Wenn dies zweifelhaft ist, gehört sie beiden, ganz wie bei einer Entdeckung. Aber dieses letzte Argument ist schief. Sobald es nämlich zweifelhaft ist, ist die Vermutung der Rechtmäßigkeit auf seiten des früheren Herrn, während eine Sache bei der Entdeckung noch nicht gleich beiden gehört. Andererseits aber ist eine Berechnung der Gefahrenabwendung anzustellen. Was, wenn überhaupt keine Gefahr abgewendet worden ist, sondern der eine durch Zufall die Sache, die dem andern verlorengegangen war, wiedergewinnt, z. B. den Vogel des anderen, der sich in seinen Netzen verfangen hat ? Ich glaube, daß es sich ebenso verhält, auch wenn der Vogel sich nicht einmal in Netzen verfangen hat, die zu diesem Zwecke aufgespannt waren, sondern sich bloß zufällig in einem Holzgestänge verfangen hat. Aber wenn

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si hoc dicemus, propè erit idem dicendum de amissis qvod de avibus, ut dimidium sit invenientis: Qvid si ita amissa sit res ut ego nunqvam sim recuperaturus per me, et alius invenit, nihilominus puto meam manere. Sed si alius suo labore sumtuqve eripiat, habere ius retentionis dum hoc ei solvatur. Qvid si sit incompensabilis, manebit eius, nisi res fuerit in eo statu, ut egomet nancisci potuerim. Sed qvid de fera capta à me et rursum amissa, an manet mea. Manet si mea facta est. Sed non videtur mea facta esse. Qvid nî, an qvia non est redacta in potestatem. Sed qvid si captam à me et alligatam alius mihi eripiat, utiqve in eum ad restituendum actio erit. Sed quid si in tertium transtulerit, an ab illo petam. Ergo mea erit. Erit, sed qvamdiu tenuerim ut captum ab hoste, qvi si rursus aufugerit erit rursus capientis. Res est difficilis. Ulpianus l. I. §. cum arietes, si qvad. paup. f. d. si bos aggressor perisset cessare actionem. Qvaeritur an omnino iure naturae ex pauperie quadrupedis detur actio si absit domini culpa. Cur enim perdam rem meam sine culpa mea. Puto igitur si qva sit domini culpa, teneri ad damnum etiam ultra rem, si nulla sit culpa, teneri

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wir das behaupten, wird nahezu dasselbe über verlorene Gegenstände zu sagen sein wie über die Vögel, nämlich daß die Hälfte davon dem Finder gehört. Was, wenn die Sache so verlorengegangen ist, daß ich sie niemals aus eigenen Kräften wiedergewinnen würde, und ein anderer findet sie ? Ich glaube, daß sie auch dann noch mein Eigentum bleibt; wenn aber der andere sie durch eigene Anstrengung und eigenen Aufwand errettet, glaube ich, daß er ein Recht darauf hat, sie solange einzubehalten, bis er dafür eine Belohnung erhält. Wie ist zu entscheiden, wenn die Sache von unersetzbarem Wert ist ? Dann wird sie ihm gehören, es sei denn, die Sache war so zugänglich, daß ich selbst sie wiedererlangen konnte. Was aber, wenn ich ein Wild einfange und wieder verliere: Gehört es dann mir ? Ja, es bleibt meines, wenn ich es mir angeeignet habe. Aber es ist nicht allgemein ersichtlich, daß es mein Eigentum geworden ist. Wie, wenn ich es mir nicht aneignen konnte, etwa weil ich es nicht ganz in meine Gewalt gebracht habe ? Was ferner, wenn ein anderer mir das Wild, das ich gefangen und gefesselt habe, entreißt ? Auf jeden Fall wird mir gegen ihn eine Klage auf Wiedererstattung eingeräumt. Was aber, wenn er das Wild inzwischen an einen Dritten weitergegeben hat ? Darf ich es dann von jenem zurückfordern ? Wird es also mir gehören ? Ja, aber auch nur, solange ich es festhalte, wie ein Feind seinen Gefangenen festhält, der, wenn er wieder entläuft, erneut demjenigen gehören wird, der ihn fängt. Die Sache ist schwierig. Ulpian an der Stelle Wenn ein Vierfüßer Schaden angerichtet haben soll ⁹⁸: Wenn das Rind als Angreifer zugrunde gegangen ist, müsse das Verfahren eingestellt werden. Es fragt sich, ob überhaupt gemäß dem Naturrecht ein Prozeß wegen der Schädigung durch einen Vierfüßer geführt werden kann, wenn dessen Eigentümer keine Schuld trifft. Warum nämlich soll ich an Vermögen einbüßen, wenn mich doch keine Schuld trifft ? Entsprechend glaube ich, falls der Eigentümer irgendeine Schuld trägt, daß er auch über die Sache hinaus zu einer Entschädigung verpflichtet ist; und falls er keine Schuld hat, daß er zu einer Entschädigung unterhalb der schadensverursachenden Sache verpflichtet ist, d. h.

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infra rem damnum dantem, id est ad nihil. Aliudne in servo. Certè hîc patet dari actionem in servum si damnum dederit. Ergo hîc potest privari dominus sine culpa sua. An ergo idem in qvalibet re qvod in servo. An datur indistinctè actio in rem qvae damnum dedit. An partiendum est mutuò damnum si unus passus à re alterius qvi sine culpa fuit. Aliqvando putavi neminem rem suam facere, nisi melioratione, vel saltem in eam impensis. Nunc aliter sentio, etsi nihil in eam impenderit, tamen ipsa inventionis vel observationis primitate sive haec felicitate, sive ingenio contigerit esse potiorem. An ergo ius Hispanis qvaesitum in Americam totam. Est in ea qva e et invenêre et domuêre. Nam haec regula est, ut qvi prius in eo statu est, ut re frui possit, qvantum impraesens capax est, dominus fiat. Unde cum Hispani Americam primi ingressi sunt, si certa fuisset victoria, nemo inventoribus, nisi jure hostis, jure intercessisset. Sed ubi dubia belli alea est, cuilibet accedere ius est. Ita tamen ut – ( ?) ea qvae domat solus Hispanis simul, velut inventoribus debeat. Hispani qvae et invenere et do[mu]ere – – ( ?) Falsum est ex pacto nudo dari actionem, etiam Gentium jure etiamsi aliter vulgò ferant. Alioqvi ex gentium jure etiam decep-

11 et ] ergänzt nach A VI 2, 528 16 accedere ] korrigiert aus invadere nach A VI 2, 528 16 f. – ( ?) ea qvae domat solus ] korrigiert aus – – ( ?) domat solis nach

A VI 2, 528 18 do[mu]ere ] ergänzt nach A VI 2, 528

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zu nichts.⁹⁹ Ist anders zu urteilen, wenn ein Knecht Schaden angerichtet hat ? Gewiß leuchtet hier ein, daß gegen einen Knecht eine Klage eingeräumt wird, wenn er einen Schaden verursacht hat. Folglich braucht hier seinem Herrn nichts vorenthalten zu werden, falls diesen keine Schuld trifft. Gilt folglich bei jeder beliebigen Sache dasselbe wie beim Knecht ? Soll ohne Unterschied eine Klage gegen eine Sache, die einen Schaden verursacht hat, eingeräumt werden ? Soll der Schaden untereinander aufgeteilt werden, wenn jemand Schaden erlitten hat durch die Sache eines anderen, ohne daß dieser daran schuld war ? Einst habe ich geglaubt, niemand mache eine Sache zu seinem Eigentum außer durch Steigerung ihres Wertes oder zumindest durch Einsatz von Mitteln hierfür. Heute denke ich anders. Selbst wenn er nichts für die Wertsteigerung einsetzt, wird er dennoch durch sein Erstlingsrecht der Entdeckung oder Aufmerksamkeit, sei es aufgrund seines Glücks, sei es aufgrund seiner Begabung, dahin gelangen, der Stärkere zu sein. Haben demzufolge die Spanier ein Recht auf ganz Amerika erworben ? Ihr Recht beschränkt sich nur auf das, was sie sowohl entdeckt als auch bezwungen haben. Denn es gilt die Regel, daß derjenige, der sich früher in dem Zustand befindet, eine Sache genießen zu können, Eigentümer über genau dasjenige Quantum wird, das er einstweilen bewältigen kann. Als die Spanier als erste Amerika betraten, wäre deshalb unter der Bedingung, daß ihr Sieg entschieden gewesen wäre, niemand den Entdeckern zu Recht entgegengetreten, außer den Stämmen, die zu Recht ihr Feind waren. Wo es aber zweifelhaft ist, auf welche Seite der Würfel des Kriegsglücks fällt, hat jede Seite das Recht, anzugreifen. So jedoch, daß sie […] dasjenige, was sie als einzelne unterwirft, zugleich den Spaniern, die den Entdeckern gleichstehen, schuldet. Was die Spanier sowohl entdeckten als auch unterwarfen […]¹⁰⁰ Es ist falsch, wegen eines bloßen Vertrags¹⁰¹ einen Prozeß einzuräumen, selbst nach dem Völkerrecht, auch wenn man es für gewöhnlich anders hält. Andererseits werde ich selbst dann, wenn ich hintergangen worden bin, gemäß dem Völkerrecht an den Vertrag

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tus tenebor. Teneor tamen ex pacto nudo, primò ubicunqve non possum causam reddere non servandi, tunc enim contumeliam facere videbor, et teneor actione injuriarum. Unde à promissis in genere abesse debet animus decipiendi aut datur actio, non tam ad praestandum qvàm ad contumeliae reparationem. Qvod rursus notandum. Sed et si promisero aliqvid et ego secutus fuero promissum tuum, teneris mihi ad id qvod interest, si culpa tua non servatura est. Sin abfuit ab utroqve culpa partiendum est infortunium. Si me decipias culpa tua in re, ubi damnum nullum intelligi potest, nec actio est. Qvia revera in re ubi nihil cuiusqvam interest, etiam summa negligentia est sine culpa. Sed si nec in his dolo decipias, interest an in re qvantulacunqve contumeliam meam qvaeras, aut tristitiam ac qvemcumqve dolorem. Nam perinde est. Etiam qvi me gaudio magno implet, ut tanto vexet magis, tenetur injuriarum. Rectè ergo et Connanus et ipse profundissimus Aristoteles dudum negârunt, nisi ex óõíáëëÜãìáôå id est commutatione actionem esse. Peccatum mortale est agere qvod tute judices plus in universum damnosum qvàm utile esse. An verò illi rei sunt, qvi non putant DEUM esse. Et puto esse non minus qvàm inexcusati sunt, qvi artificis opus vastant, qvem esse negant. Qvanqvam si res accuratius explicanda sit, dubitari qveat an detur atheus verus, id est qvi

7 f. servatura ] korrigiert aus servatum nach A VI 2, 528

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gebunden bleiben. Durch den bloßen Vertrag gebunden bin ich jedoch zunächst in allen Fällen, wo ich die Ursache, warum ich dem Vertrag nicht nachkomme, nicht angeben kann; dann nämlich scheine ich schändlich zu handeln und bin durch eine Klage auf Schadenersatz gebunden. Daher muß sich jemand, der eine Täuschungsabsicht hegt, grundsätzlich von Versprechungen fern halten, oder er provoziert eine Klage, weniger damit er das Versprochene gewährleistet, als daß er die Schande wiedergutmacht. Dies muß man wiederum festhalten. Aber auch dann, wenn ich etwas versprochen habe und mich dabei auf dein Versprechen verlassen habe, wirst du für mich an dasjenige, woran uns gelegen ist, gebunden sein, falls es durch dein Verschulden nicht eingehalten worden ist. Wenn keinen von beiden eine Schuld trifft, muß das Mißgeschick aufgeteilt werden. Wenn du mich schuldhaft in einer Sache hintergehst, wo allerdings kein Schaden auszumachen ist, erfolgt keine Klage. Denn tatsächlich bleibt in einer Sache, die die Interessen keiner Partei berührt, sogar höchste Nachlässigkeit schuldlos. Aber auch wenn du mich in diesen Dingen nicht hinterlistig betrügst, so ist es doch von Interesse, ob du mir, und sei es in einer noch so kleinen Sache, Schande oder Traurigkeit oder sonst einen Schmerz bereiten willst. Denn dies läuft auf dasselbe hinaus. Auch wer mich nur mit großer Freude erfüllt, um mich desto mehr quälen zu können, ist durch eine Klage auf Schadenersatz zur Verantwortung zu ziehen. Völlig zu Recht haben also de Connan¹⁰² und der zutiefst gründliche Aristoteles¹⁰³ selbst schon längst geleugnet, daß es eine Klage geben kann, die nicht auf einem Tausch, d. h. auf wechselseitiger Handlung beruht. Eine Todsünde begehen heißt etwas tun, von dem man mit Sicherheit urteilt, daß es im ganzen genommen mehr schädlich als nützlich ist. Ob aber auch schon diejenigen einer Todsünde schuldig sind, die nicht glauben, daß ein Gott ist ? Ich denke ja, und zwar nicht minder, als jene nicht zu entschuldigen sind, die das Werk eines Künstlers zerstören, dessen Existenz sie leugnen. Gleichwohl kann man, wenn die Sache genauer zu erläutern ist, daran zweifeln, ob es einen wirklichen Atheisten gibt, d. h. je-

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cogitet nullum esse DEUM. Cùm contra alibi ostensum sit, qvi cogitat aliqvid esse, cogitat DEUM esse, id est rationem rerum. Qvia nihil aliud est existere qvàm habere rationem. Campanella in moralibus cap. 2. virtutem primam qvae ipsum finem nobis praestituit vocat sanctitatem (ea mihi videtur esse in affectu, qvod sapientia in mente, vocant et Pietatem) seu regulam amoris DEI qvae haec est, ut summè ametur. Amoris nostri haec regula est, ut magis amemus DEUM, uti pars manus subit mortem pro toto, seu pro capite. Porro plus amabimus animam qvàm corpus et bona animi qvàm corporis, deinde plus corpus qvàm bona exteriora, qvibus etiam amicos praeferet tanqvam partes suae speciei, nedum parentes, uxores, natosqve, partes etiam sui. Non tamen bona amicorum, nisi lucrum suum parvum lucro decuplo aut supra qvintuplum (cur hoc praecisè) amicorum posthabeat. Patiar enim perdere unum si amicus lucratur qvinqve, tam in bonis corporis qvàm fortunae vel etiam animi (non puto hoc universaliter verum). In qvalibet fortuna potior est conditio prioris. Bona fortuna unius cedit infortunio alterius. Unde si ego amiserim aliqvid per infortunium, tu inveneris per fortunam, manebit meum. Si amiserim ego aliqvid per culpam, tu inveneris per fortunam, idem est, qvia in re mea ad neminem pertinente non est

13 decuplo ] korrigiert aus dempto nach A VI 2, 528 14 qvintuplum ] korrigiert aus qvintupla nach A VI 2, 528 16 puto ] korrigiert aus upto nach A VI 2, 528

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manden, der denkt, daß kein Gott ist. Denn an anderer Stelle ist im Gegenteil folgendes gezeigt worden: Wer denkt, daß etwas ist, denkt, daß Gott ist, d. h. der Grund der Dinge.¹⁰⁴ Existieren bedeutet nämlich nichts anderes als einen Grund haben. Campanella nennt im 2. Kapitel des Teils Von den Sitten¹⁰⁵ die erste Tugend, die uns das Endziel selbst vor Augen gestellt hat, »Heiligkeit« (sie scheint mir dasjenige im Gefühlsbereich zu sein, was die Weisheit im Bereich des Denkens ist; man nennt sie auch Pietät) oder auch die »Regel der Gottesliebe«. Sie besteht darin, ihn im höchsten Maße zu lieben. Zu unserer Liebe¹⁰⁶ gehört die Regel, daß wir Gott mehr lieben als uns, so wie sich die Hand als ein Teil des Körpers dem Tod aussetzt zugunsten des Ganzen oder des Hauptes. Ferner werden wir die Seele mehr als den Körper lieben, die Güter des Geistes mehr als die des Leibes und schließlich den Körper mehr als die äußeren Güter. Den äußeren Gütern wird man auch die Freunde vorziehen, die gleichsam Teile der eigenen Art sind, und erst recht die Eltern, Ehefrauen und Kinder, die ebenfalls Teile des eigenen Selbst sind. Man wird jedoch nicht die Güter der Freunde für wichtiger erachten, es sei denn, daß man einen kleinen eigenen Vorteil dem zehnmal oder mehr als fünfmal so großen (warum genau diese Zahl ?) Vorteil der Freunde nachordnet. Denn ich mag es hinnehmen, einen Vorteil preiszugeben, wenn der Freund fünfmal soviel gewinnt, bei Gütern des Leibes ebenso wie bei Gütern des Glücks oder auch der Seele. (Ich glaube nicht, daß diese Rangfolge in der allgemeinen Form richtig ist).¹⁰⁷ Bei einem Glücksgut ist die Rechtsbedingung dessen, der zuerst kommt, die stärkere.¹⁰⁸ Der günstige Zufall des einen hat weniger rechtliches Gewicht als der ungünstige Zufall des anderen. Wenn ich daher etwas durch ein Mißgeschick verloren habe und du es durch einen glücklichen Zufall gefunden hast, so wird es mein Eigentum bleiben.¹⁰⁹ Falls ich etwas durch meine Schuld verloren habe und du es durch Glück gefunden hast, bleibt es ebenfalls meines, weil es bei meinem Eigentum, an dem kein anderer teilhat, keine Schuldfrage

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culpa. Imò est culpa dum aliis dominium ignorantibus damnosa esse potest. Si ego amiserim aliqvid per infortunium qvod ad te pervenerit per ingenium. Cum utriusqve sit infortunium, meum in amittenda re, tuum in amittendo laboris fructu, an dicemus rem fieri communem. An me tibi id laboris pretium teneri. Si ego amiserim aliqvid per culpam, qvod ad te pervenerit per fortunam, cum nullum tibi damnum datum sit, meum erit. Tibi tamen amorem qvendam, id est recogitationem fructus ex te capti, qvanqvam non propriè gratitudinem debebo, et qvidem magis si mea sit culpa, qvàm si tantùm infortunium intercesserit, qvanqvam si cogitemus damnum, qvod est in eo qvòd spe dejectus est, dari aliqvid debet, si totum sit. Si ego amiserim aliqvid per infortunium qvod ad te pervenerit per ingenium, id est cum infortunio tuo (nam aliud si culpa tua est), id agendum est ut neutrius sit infortunium, qvoad eius fieri potest, id est unusqvisqve recuperet rem suam. Tu pretium laboris dolorisqve, ego rem. Sed ita ego solus infortunium patior, tibi enim totum solvo, tu nullum. Ergo dimidium tibi tui damni solvere debeo. Sed si ego amiserim aliqvid per culpam qvod ad te pervenerit per infortunium, totum infortunium tibi praestare debeo. Si utriusqve est culpa, communicabitur damnum pro rata graduum culpae. (+ An non ergo solùm feret major ? +). Si ego amiserim aliqvid per dolum, ut sic loqvar,

21 f. + ; + ] ergänzt nach A VI 2, 528

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gibt. Vielmehr stellt sich die Schuldfrage erst, wenn meine Sache anderen, die nicht wissen, daß es sich um mein Eigentum handelt, zum Schaden gereichen kann. Ebenso ist zu entscheiden, wenn ich etwas durch einen dummen Zufall verloren habe, was durch deine Fähigkeiten zu dir gelangt ist. Wenn aber das Unglück uns beide trifft, mich, indem ich einen Besitz verliere, und dich, indem hierdurch die Frucht deiner Arbeit verdirbt, sollen wir dann entscheiden, daß wir die Sache gemeinsam tragen müssen ? Oder ob ich verpflichtet bin, dir den Preis deiner Arbeit zu erstatten ? Wenn ich etwas schuldhaft verloren habe, das durch Zufall an dich gelangt ist, wird es mein Eigentum bleiben, wenn dir dadurch kein Schaden zugefügt worden ist. Dennoch werde ich dir eine gewisse Zuwendung schulden, d. h. ein Andenken an den durch dich geschöpften Gewinn, wenn auch nicht Dankbarkeit im eigentlichen Sinne; und zwar dies um so mehr, wenn ich schuld habe, als wenn mir lediglich ein unglücklicher Zufall passiert ist. Gleichwohl muß, wenn man den Schaden bedenkt, der darin besteht, daß der andere um seine Hoffnung gebracht worden ist, irgend eine Gegenleistung erbracht werden, wenn die Sache heilgeblieben ist. Falls ich eine Sache durch Zufall verloren habe und sie durch deine Fähigkeiten an dich gelangt ist, und zwar so, daß sich daraus für dich ein Mißgeschick ergibt (denn anders liegt der Fall, wenn du daran schuld bist), dann ist so zu verfahren, daß das Mißgeschick an keinem von uns beiden hängen bleibt, sofern dies möglich ist; das bedeutet, daß jeder einzelne seinen Anteil zurückgewinnt: du einen Preis für deine Mühe und Last, ich die Sache. Aber auf diese Weise bleibt die Unannehmlichkeit allein an mir hängen und nicht an dir, weil ich sie dir ja völlig erstatte. Folglich muß ich dir nur die Hälfte deiner Einbuße zurückerstatten. Falls ich jedoch schuldhaft etwas verloren habe, was an dich gelangt ist mit einer für dich ungünstigen Auswirkung, so muß ich dir den gesamten Schaden ersetzen. Wenn alle beide schuld haben, wird der Schaden nach dem Verhältnis der Schuldgrade aufgeteilt. (+ Ob folglich nicht allein der die Last tragen muß, der den größeren Grad an Schuld hat ? +) Wenn mir etwas verlorengegangen ist, sa-

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seu voluntatem, pone, ut vexem invenientes, teneor eis ad id qvod interest infortunii, non qvidem hîc in re ipsa, sed alioqvi. Sed hoc qvaeritur an retrò eundum, ita ut damnum non censeatur, qvod fortunae nostrae, sed qvod prudentiae aufertur. Ita sanè aeqvum est, praesertim qvoties alterius infortunium intercedit, sed est res altiore consideratione digna. Pone canem à me inventum pugnare cum cane à te emto, ambos caeteroqvin pretio aeqvales, et perire ambos, an mutuò qviescendum est, uti si ambo essent emti, an tanto minoris censetur canis meus, qvanto minoris mihi constitit. Qvid ergo de haereditatibus fiet, seu iis qvae nobis dono eorum qvi tamen labore et ingenio qvaesiere, qvaesita sunt. Credo id aliud esse, qvia illi volunt nos habere, et illis injuria fit. posse Fortuna infortunium

½ ¾ casus ¿

scire

velle

Prudentia ½

Probitas

culpa

malitia

¾ ¿

In infortunio tuo puniendo videtur aestimanda necessitas mea; in culpa tua, aestimatio rei, in dolo tuo, utilitas mea. Unde non licet tibi infortunato nocere, nisi cum necessitatis interest. Sed si

10 haereditatibus ] korrigiert aus herostratibus nach A VI 2, 528

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gen wir einmal durch die Hinterlist oder Boshaftigkeit anderer, so bin ich für den Fall, daß ich den »Findern« hart zusetze, verpflichtet, ihnen diese Unannehmlichkeiten, sofern sie von Belang sind, auszugleichen, in diesem Falle allerdings nicht mit der verlorenen Sache selbst, sondern auf anderem Wege. Aber hier stellt sich die Frage, ob man nicht noch weiter ausholen muß, so daß der Schaden nicht bemessen werden muß nach dem, was unserem Glück, sondern was unserer Klugheit weggenommen wird. So ist es ganz recht und billig, vor allem, sooft das Mißgeschick eines anderen dazwischentritt. Doch dies ist eine Angelegenheit, die einer tieferen Betrachtung wert ist. Gesetzt den Fall, daß ein von mir gefundener Hund mit einem von dir gekauften Hund kämpft, wobei sie an Wert beide gleich sind, und daß sie beide verenden. Müssen wir dann beiderseits Ruhe bewahren, so, wie wenn sie beide gekauft wären ? Oder muß mein Hund um so geringer eingeschätzt werden, je weniger er mich gekostet hat ? Was müßte dann also mit den Erbschaften geschehen, d. h. mit demjenigen Gut, das uns gewonnen wurde durch ein Geschenk von seiten derer, die es doch nur mit Mühe und Geschick gewannen ? Ich glaube, das ist ein anderer Fall, weil es der Wille der Erblasser ist, daß wir Erben das Gut innehaben, so daß ihnen (durch ein schuldhaftes Verlieren des Gutes) Unrecht geschieht. Können¹¹⁰

Wissen

½ ¾ Fall unglücklicher ¿

Klugheit

glücklicher

Schuld

Wollen

½ ¾ ¿

Rechtschaffenheit Bosheit

Wenn du mit deinem unglücklichen Fall (Mißgeschick) zur Rechenschaft gezogen werden sollst, scheint die Entschädigung eingeschätzt werden zu müssen nach dem, was meine Not abwendet. Wenn deine (fahrlässige) Schuld geahndet werden soll, muß eine Einschätzung des Sachwerts erfolgen. Wenn deine Arglist bestraft werden soll, muß mein verhinderter Nutzen eingeschätzt werden. Deshalb ist es nicht angebracht, dir, wenn dir ein Mißgeschick

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neutri necessitas tangatur infortunio, aestimandum est in proportione utriusqve ad necessitatem, ut proinde in paupere magis qvàm divite infortunium aestimetur. Eius aestimationis et Nathan Davidem admonet sub parabola, qvi unicam pauperis ovem occidit. Hinc et patet cum in dolo dato utilitas aestimetur, necessitatem aestimari multo magis.

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[e)] Iustitia est prudentia in aliorum bonis malisqve à nobis contemplatione bonorum malorumqve nostrorum à prudentibus potentibusqve aliis. Seu justitia est prudentia in adhibenda erga alios potentiâ nostra, contemplatione prudentiae in adhibenda erga nos potentiâ sua alienae. Iustitia est prudentia placendi sapienti et potenti. Iustitia est prudentia juvandi et nocendi praemii poenaeqve causa. Ars est exercitium instrumentorum operandi. Virtus et vitium est exercitium voluntatis. Illa exercitium potentiae, haec exercitium voluntatis. Scientia exercitium intellectus. Scientia est notitia certa. Notitia est cognitio perseverans seu cognitio memoria retenta. Opinio est notitia probabilis.

2 utriusqve ] korrigiert aus utriqve nach A VI 2, 528

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passiert ist, auch noch zu schaden, es sei denn, daß es für meine Notabwendung von Belang ist. Wenn jedoch dein Mißgeschick nicht das Lebensnotwendige von uns beiden betrifft, muß eine Einschätzung im Verhältnis zum Notwendigen auf beiden Seiten vorgenommen werden, so daß dann das Mißgeschick als schwerwiegender einzuschätzen ist, wenn von ihm ein Armer betroffen wird, als wenn dadurch ein Reicher geschädigt wird. An diese Art der Schadenseinschätzung gemahnt auch Nathan den David durch Einhüllung in die gleichnishafte Erzählung vom Reichen, der das einzige Schaf des armen Mannes getötet hat.¹¹¹ Daraus ergibt sich auch, daß, wenn bei Arglist des einen der verhinderte Nutzen des anderen eingeschätzt wird, die mögliche Not des Geschädigten noch viel stärker ins Gewicht fällt.¹¹²

[e) Definitionen zur Gerechtigkeit] Gerechtigkeit ¹¹³ ist die Klugheit, die wir im Umgang mit den Gütern und Übeln anderer walten lassen, indem wir unsere eigenen Güter und Übel mit den Augen anderer betrachten, die klug und mächtig sind. Anders gesagt: Gerechtigkeit ist die Klugheit bei der Anwendung unserer Macht gegenüber anderen unter Berücksichtigung der Klugheit anderer bei der Anwendung ihrer Macht gegenüber uns. Gerechtigkeit ist die Klugheit, dem Weisen und zugleich Mächtigen zu gefallen. Gerechtigkeit ist die Klugheit, um einer Belohnung und Bestrafung willen zu helfen und zu schaden. Kunst ist die eingeübte Handhabung im Betätigen von Werkzeugen. Tugend und Laster sind eine eingeübte Haltung des Willens. Kunst ist eine Ausübung des Könnens, Tugend und Laster sind eine Ausübung des Willens. Wissenschaft ist eine Ausübung des Verstandes. Wissenschaft ist sichere Kenntnis. Kenntnis ist dauerhafte Erkenntnis, d. h. Erkenntnis, die in der Erinnerung festgehalten ist. Vermutung ist die Kenntnis von Wahrscheinlichem.

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III. Elemente des Naturrechts

Sapientia est Scientia boni. Iudiciositas est virtus judicandi seu penetrandi, resolvendiqve in partes rem propositam. Sagacitas est virtus inveniendi id est res inter se conferendi, earum similitudines dissimilitudinesqve observandi, combinandi, componendi. Ita ut judicium nitatur relationibus connexionis, inventio relationibus similitudinis. Prudentia est judiciositas circa id qvod bonum malumve est. Virtus est promtitudo bene agendi. Vitium est promtitudo male agendi, vel potius inclinatio ad bonum, hoc ad malum. Virtus moralis est virtus volendi. Iustitia est virtus volendi qvod justum est, vel pro virtutis voce, qvia bene volendi esse ex justi adjecto apparet, erit justitia promtitudo volendi qvod justum est. Iustitiam à prudentia definire debeas. An non valde ambiguum est, si ponatur nullus esse DEUS. Iustum erit, qvicqvid impune sperari potest, si à prudentia definienda justitia est. Sin non est à prudentia definienda justitia, à qvo ergo, an à bono publico, tunc seqvetur justum non esse se qvàm mille alios salvum malle, ac proinde debebit et aliqvis etiam aeternae damnationi se offerre, ut

Ingeniosi in scribendo dicendoqve sunt etiam qvi solidi non sunt, et solidi qvi non ingeniosi. Per exemplum Feldenus scribit solidè non ingeniosè. Hobbius utrumqve. Ciceronis eloqventia plus soliditatis, Senecae, Taciti, Plinii, ingenii habet.

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Weisheit ist die Wissenschaft vom Guten. Urteilskraft ist die Fähigkeit¹¹⁴ zu urteilen, d. h. ein gegebenes Problem zu durchdringen und in seine Teile aufzulösen. Spürsinn ist die Fähigkeit zu finden, d. h. Dinge untereinander zu vergleichen, ihre Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zu erfassen, zu verknüpfen und zusammenzusetzen. Wie das Urteil auf Beziehungen der Verknüpfung beruht, so das Finden auf Beziehungen der Ähnlichkeit.* Klugheit ist die Urteilskraft in bezug auf das, was gut oder schlecht ist. Tugend ist die unmittelbare Bereitschaft, gut zu handeln. Laster heißt die unmittelbare Bereitschaft, schlecht zu handeln. Oder besser: Jene ist die Neigung zum Guten, dieses die Neigung zum Schlechten. Moralische Tugend ist die Fähigkeit zu wollen. Gerechtigkeit ist die Tugend zu wollen, was gerecht ist. Oder (anstelle von »Tugend«, weil ja klar ist, daß sich die Güte des Wollens schon aus dem Zusatz »gerecht« ergibt): Gerechtigkeit wird die unmittelbare Bereitschaft sein, zu wollen, was gerecht ist. Gerechtigkeit muß man von der Klugheit her bestimmen. Ob dies nicht sehr zwiespältig ist, wenn andere voraussetzen, daß kein Gott sei ? Gerecht wird nämlich alles das sein, was ungestraft erwartet werden kann, wenn Gerechtigkeit von der Klugheit her zu bestimmen ist.¹¹⁵ Wenn Gerechtigkeit aber nicht von der Klugheit her zu bestimmen ist, von wo dann ? Ob vom öffentlichen Wohl her ? Dann folgte daraus, daß es nicht gerecht ist, lieber sich in Rettung zu bringen als tausend andere.¹¹⁶ Und hiernach wird es auch geboten sein, daß jemand sich sogar der ewigen Verdammnis * [Randnotiz von Leibniz :] Findungsbegabt im Schreiben und Reden sind auch die, die nicht gründlich sind, und gründlich auch die, die nicht findungsbegabt sind. Von Felden z. B. schreibt gründlich, aber nicht findungsreich, Hobbes dagegen beherrscht beides. Die Beredsamkeit Ciceros besitzt mehr Gründlichkeit, die von Seneca, Tacitus und Plinius dagegen mehr Findungsgabe.

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III. Elemente des Naturrechts

aliorum salutem procuret, qvod tamen nemo jure fieri dixerit. An ergo justum est qvicqvid aut necessarium aut nemini damnosum est. Ita ut meum indemne bonum sit justum et tuum à me necessarium malum itidem justum. Iustum est, qvicqvid non est injustum. Injustum est, qvicqvid puniri publicè utile est. An potius justum est bonum publicum in singulos qvadam proportione geometrica repartitum. Seu justum est ut faciant singuli qvod factum vellent ab universis. Seu ut qvisqve alii praestet, qvod vellet ab alio factum sibi, et tantum qvisqve velit ab alio, qvantum eidem praestare paratus est. Iustum est id agere ne alteri necessitas mihi nocendi existat. Ergo damno meo eius necessitati subvenire debeo. Alioqvi cogetur ipse velle sibi subvenire. Item indemnitate mea ei prodesse debeo, ne animum malevolum nudem. Sed cur infortunia inter nos partienda sunt, demta miseria et felicitate ? Iustitia est constans conatus ad felicitatem communem salvâ suâ. Obligatio est qvicqvid praestandum est alienae felicitati ut inde redundet ad nostram. Iustum est. Aeqvitas est aeqvalitas rationis bonorum cum ratione meritorum. Meritum est hoc loco bonum publicum privato connexum. Ut adeò aeqvitas sit aeqvalitas bonorum inter plures, salva eorum productione in universum qvanta maxima haberi potest. Hinc patet non posse rem satis solidè ad proportiones revocari, non magis

3 tuum ] korrigiert aus tum nach A VI 2, 528 23 revocari ] korrigiert aus vocari nach A VI 2, 528

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preisgibt, um für das Heil anderer zu sorgen, wovon doch niemand behauptet hat, daß es zu Recht geboten ist. Ob also das Gerechte alles dasjenige ist, was entweder notwendig ist oder zumindest für niemanden nachteilig ? So ergäbe sich, daß mein Wohl, sofern es keinem schadet, gerecht wäre, und dein dir von mir notwendig zugefügtes Übel gleichermaßen gerecht. Gerecht ist alles, was nicht ungerecht ist. Ungerecht ist alles, was zu bestrafen von öffentlichem Nutzen ist. Ob gerecht eher das öffentliche Wohl ist, das nach Art eines geometrischen Verhältnisses auf die einzelnen aufgeteilt ist ? Das hieße: Gerecht ist, daß die einzelnen das tun, von dem sie wollen, daß alle es tun. Oder: daß jeder dem anderen das gewährt, von dem er will, daß auch der andere es für ihn tut, und daß jeder so viel von dem anderen verlangt, wie er diesem ebenfalls zu gewähren bereit ist. Gerecht ist es, dafür zu sorgen, daß der andere sich nicht genötigt fühlt, mir zu schaden. Folglich muß ich seiner Not abhelfen, auch wenn es mir zum Nachteil gereicht. Anderenfalls wird er dazu gedrängt werden, sich selbst helfen zu wollen. Ebenso muß ich ihm, sofern ich selbst keinen Nachteil dadurch habe, nützen, um ihn nicht eine übelwollende Gesinnung verspüren zu lassen. Doch warum sind die Folgen von Unglücksfällen unter uns aufzuteilen, wenn man die Extreme von Unglück und Glück einmal außer acht läßt ? Gerechtigkeit ist das beständige Streben nach dem allgemeinen Glück unter Wahrung des eigenen Glücks. Verpflichtung ist alles, was dem Glück des anderen gewährt werden muß, so daß es von dort zurückfließt zu unserem eigenen Glück. So ist es gerecht. Billigkeit ist die Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen den Gütern und den Verdiensten. Verdienst bedeutet hier einen mit dem Privatwohl verknüpften Einsatz für das öffentliche Wohl. Somit ist Billigkeit die größtmögliche Ausgeglichenheit der Güter unter mehreren Personen, die ohne Beeinträchtigung ihrer Erzeugung im allgemeinen stattfinden kann. Hieraus wird klar, daß die Angelegenheit nicht hinreichend gründlich auf Proportionen zurückgeführt werden kann, nicht besser als die Tugend auf das

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qvàm virtutem ad mediocritatem. Cum unica sit mensura finis et affectuum ut rationi non reluctantur hominum, ut ubi ipsis felicitas salva est, curent alios qvàm maximè esse felices.

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Einhalten des mittleren Maßes.¹¹⁷ Denn der Maßstab des Zwecks und der Affekte ist ein einziger, so daß diese sich nicht der menschlichen Vernunft widersetzen. Somit sorgen die Menschen, solange ihnen selbst ihr Lebensglück erhalten bleibt, auch dafür, daß die anderen so glücklich wie möglich leben.

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[3.] Aristoteles collocavit virtutes omnes in affectu qvodam moderando, solius justitiae medium in rebus tantùm qvaesivit. At si acutius introspexeris, comperies justitiam esse moderatricem amoris atqve odii hominis erga hominem. Neqve enim unum ita amare debemus, ut alteri noceamus; neqve unum ultra odisse, qvàm alteri opus est. Duae sunt autem Regulae Affectus huius moderandi, 1.) neminem laedere, 2.) cuiqve qvousqve alius non laeditur prodesse. In illo Iustitia fundatur, in hoc Amicitia seu Aeqvitas. Licet autem impedire laedentem, non me tantùm, sed et alium. Ad juvandum alios cogi non possum, regulariter. Licet eos qvi suspicionem praebent ad cautionem cogere. Iustum non satis accuratè definitur publicè utile, cum liceat multorum interitum meo praeferre. Iustum est qvicqvid aut necessarium aut nemini damnosum est. Iustum est proportionale inter amorem mei et proximi. Aeqvum est publicè utile qvousqve privatim tolerabile est. Injustum est publicè damnosum sine privata necessitate. Iustum est qvod non est injustum. Vulgarissima notio est: Iustum est de qvo alii cum ratione qveri non possunt. Imò male si qvís homo sit venenatus incavibiliter, alii de eo qveri, et ipsum

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3. Definitionen zur Gerechtigkeit und Billigkeit (1670–1671 ?)¹¹⁸ Aristoteles setzte alle Tugenden in das maßvolle Umgehen mit einem Gefühl, mit Ausnahme der Gerechtigkeit. Ihr mittleres Maß suchte er bloß in den sachlichen Verhältnissen.¹¹⁹ Wenn man aber einen genaueren Einblick in dieses Problem gewonnen hat, wird man gewahr, daß Gerechtigkeit die Lenkerin von Liebe und Abneigung eines Menschen gegenüber dem anderen ist.¹²⁰ Denn weder dürfen wir einen einzelnen Menschen so lieben, daß wir einem anderen dabei schaden, noch dürfen wir mehr Abneigung gegen einen anderen haben, als es für den anderen nötig ist. Nun gibt es aber zwei Regeln, um dieses Gefühl zu mäßigen: 1. niemanden zu verletzen, 2. jedem zu helfen, soweit nicht ein anderer dadurch verletzt wird. In jener Regel ist die Gerechtigkeit begründet, in dieser die Freundschaft oder Billigkeit. Erlaubt ist es aber, jemanden zu behindern, der nicht nur mich, sondern auch einen anderen schädigt. Anderen zu helfen kann ich in der Regel nicht gezwungen werden. Erlaubt ist es, diejenigen zu einer Sicherheitsleistung zu zwingen, die Verdacht erregen. Das Gerechte ist nicht genau genug definiert als das, was der Allgemeinheit nützlich ist. Denn es ist ja erlaubt, den Untergang von vielen meinem eigenen vorzuziehen.¹²¹ Gerecht ist alles, was entweder notwendig oder aber für niemanden schädlich ist. Gerecht ist das ausgewogene Verhältnis zwischen der Liebe zu mir selbst und der Liebe zum Nächsten. Billig ist, was von öffentlichem Nutzen ist, soweit es privat tragbar ist. Ungerecht ist, was von öffentlichem Nachteil ist, ohne daß es privat notwendig ist. Gerecht ist, was nicht ungerecht ist. Die gewöhnlichste Vorstellung ist die folgende: Gerecht ist das, worüber die anderen sich nicht mit gutem Grund beklagen können. Allerdings ist dies schlecht definiert. Falls ein Mensch eine ansteckende Vergiftung hat, ohne daß man sich vor

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jure si alium nullum remedium occidere possunt. Ita si qvis furiosus mihi gladio immineat, eum jure occidero. Iustum est in animo. Aeqvum in re. Qvanqvam rursus aliud sit justum agere, aliud aeqvum agere . Iustitia est voluntas agendi qvod aeqvum est, qvia aeqvum est, virtus amandi seu amicitiae. Iustum est qvod iniqvum non est. Iustus est, qvi aeqvatione non eget. Id est qvi vel non peccavit, vel peccata sarcivit. Iustificatio est personae aeqvatio. Aeqvitas est tantum concedere aliis, qvantum desideres cum ratione ab ipsis. Aeqvum est qvod in distributione bonorum inter personas rationi congruum est. Aeqvum est tantum qvemqve concedere alteri, qvantum ab altero posceret sibi. Res difficillimè generaliter definiri potest: Aeqvum est 1) procurare bonum alterius sibi non damnosum, 2) procurare necessarium alteri, tolerabile sibi vel impedire miseriam alterius vitata sua. Aeqvum est: procurare felicitatem alterius, salva sua, et impedire miseriam alterius vitata sua. Seu praeferre utilitatem alterius superfluitati suae, et praeferre necessitatem alterius utilitati suae. Finge plures in unâ navi esse. Unus tantum commeatus habet, qvantum consumere ante putredinem aut vappescentiam non pos-

6 (für »destilletur«) ] korrigiert aus etc. nach A VI 2, 528 13 cum ] korrigiert aus in nach A VI 2, 528

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ihm schützen kann, können die anderen ihn deswegen anklagen und ihn selbst zu Recht töten, falls es kein anderes Heilmittel gibt. Ebenso würde ich, falls ein Rasender mich mit dem Schwert bedroht, diesen zu Recht töten. Das Gerechte besteht in der Willenshaltung. Das Billige besteht in der Sache. Indessen ist es, wie noch zu bedenken ist, zweierlei, ob man (bloß) gerecht oder (darüber hinaus auch) billig handelt. Gerechtigkeit ist der Wille zu tun, was billig ist, weil es billig ist; sie ist die Tugend des Liebens oder der Freundschaft.¹²² Gerecht ist, was nicht unbillig ist. Ein Gerechter ist, wer keiner Ausgleichung bedarf, d. h. wer nicht gefehlt hat bzw. seine Verfehlungen wiedergutgemacht hat. Rechtfertigung ist die Ausgleichung der Person. Billigkeit besteht darin, den anderen so viel zuzugestehen, wie man von ihnen selbst mit gutem Grund verlangen würde. Billig ist, was bei der Verteilung der Güter unter die Personen mit der Vernunft übereinstimmt. Billig ist es, daß jeder dem anderen so viel zugesteht, wie er auch vom anderen für sich fordern würde. Die Sache kann nur sehr schwer auf allgemeine Weise definiert werden: Billig ist es, 1. für das Wohl des anderen zu sorgen, sofern dies für die eigene Person nicht nachteilig ist, 2. für das Notwendige beim Anderen zu sorgen, sofern dies für die eigene Person tragbar ist, bzw. das Unglück des anderen zu verhindern, sofern das eigene Unglück dabei vermieden wird. Billig ist: das Glück des anderen zu fördern, soweit dadurch nicht das eigene beeinträchtigt wird, und das Elend beim anderen zu verhindern, soweit dabei eigenes Elend vermieden wird. Oder: dem, was für einen anderen nützlich ist, den Vorrang zu geben vor dem, was für einen selbst überflüssig ist, sowie das, was für einen anderen notabwendend ist, für vorrangiger zu achten als das, was für einen selbst bloß nützlich ist.¹²³ Man stelle sich vor, daß mehrere Personen auf einem Schiff sind. Einer führt so viel an Lebensmitteln mit sich, wie er gar nicht ver-

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sit. Finge alios necessaria habere, sed his lautitiis carere. Tunc ajo eum consensu caeterorum cogi posse ut caeteros qvoqve superfluarum sibi voluptatum participes reddat. Consensu inqvam caeterorum, nam à singulis cogi non potest. NB. Finge aliis necessaria deesse, tunc ajo eum etiam sine consensu caeterorum à singulis cogi posse ad impertiendum de superfluo. Sed an à singulis ad totum superfluum, qvantum sibi necessarium est, an pro rata parte totius navis. Redit res ad eam qvaestionem an liceat aliis necessaria auferre qvia sibi necessaria sunt, an ius fasqve sit alium tabula deturbare, cuius ope enataturus est. Respondendum est seposita pietatis consideratione licere, ex nuda aeqvitate, praecisa DEI et futurae vitae consideratione. Consensus caeterorum qvaeritur an omnium reqviratur. Respondeo reqviritur potentiorum impraesentiarum saltem. Igitur et si uni caeteri permittant jure fiet. Idqve adeò ne eius rei causa bellum oriatur, seu status belluinus. Plures Respublicae seu saltem congregationes particulares sint velut plures naves in eadem classe, si qvis in sua navi talia instituere potest, non indiget consensu aliorum nisi metus sit eos re comperta bellum illaturos. At

2 f. superfluarum ] korrigiert aus superflurarum nach A VI 2, 528 17 belluinus ] korrigiert aus bellicus nach A VI 2, 528

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zehren kann, bevor sie zu faulen bzw. zu verdunsten beginnen. Man nehme an, daß die anderen zwar das Lebensnotwendige mitführen, jedoch dieser Leckerbissen ermangeln. Ich behaupte, daß man ihn dann im Einverständnis mit den übrigen zwingen kann, die anderen zu Teilhabern an den für ihn selbst überschüssigen Sachen zu machen – im Einverständnis mit den übrigen, so betone ich; denn von den einzelnen kann er wohlgemerkt nicht gezwungen werden.¹²⁴ Man stelle sich nun vor, daß den anderen auch das Nötigste fehlt. Ich behaupte, daß er dann auch ohne das Einverständnis der übrigen von einzelnen gezwungen werden kann, ihnen etwas von seinem Überfluß zukommen zu lassen.¹²⁵ Darf er aber zur Abgabe des ganzen Überschusses von einem einzelnen gezwungen werden, soviel für diesen nötig ist ? Oder muß der Überschuß nach proportionalem Anteil auf alle Insassen des Schiffs aufgeteilt werden ? Das Problem führt auf die folgende Frage zurück: Ist es erlaubt, anderen das Nötigste zu entreißen, weil es für einen selbst notwendig ist ? Geschieht es nach menschlichem und göttlichem Recht, einen anderen von der Planke hinabzustoßen, mit deren Hilfe er ans rettende Ufer schwimmen würde ? Darauf ist zu antworten, daß es erlaubt ist, wenn man alle Erwägung der Pietät beiseite gesetzt hat, nur aus der nackten Billigkeit, unabhängig von aller Erwägung Gottes und des künftigen Lebens.¹²⁶ Die Frage ist, ob das Einverständnis der übrigen eine Zustimmung aller erfordert. Ich antworte, daß zumindest die Einwilligung der Ranghöheren erfordert wird, die zugegen sind. Folglich geschähe es auch zu Recht, wenn alle anderen einem einzigen die Entscheidung überließen; und zwar deshalb, damit nicht um diese Sache ein Krieg entsteht, d. h. der Zustand wilder Tiere. Es seien mehrere Staaten oder zumindest besondere Gesellschaften wie mehrere Schiffe in derselben Flotte. Wenn jemand in seinem Schiff solche Entscheidungen verordnen kann, bedarf er nicht der Zustimmung der anderen, es sei denn, daß er befürchten muß, daß diese einen Krieg anzetteln werden, sobald sie von der Sache erfahren haben. Wenn aber jemand sich wegen der Leckerbissen

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si qvis lautitiarum causa reluctetur, jure in eum sumetur bellum. Sumetur velut in hominem malum et puniendum non rerum, sed animi causa, deteriora enim in majoribus facturus est, puniendus ergo. de consensu caeterorum. Videtur non necessarius, nisi aliqvando ex extrinsecis causis. Ius strictum aeqvitatis causa violare non licet, nisi certa spe victoriae, et obtentionis, v. g. uni mendico divitem avarum involare, et depraedari ius non est, nec rusticis divites destruere. At si centena millia rusticorum sapientum dari possent, non est dubium qvin rectè se à miseria publica liberarent, si certi essent non secuturam majorem qvae à licentia confusioneqve eorum hominum expectanda est. Aeqvum est id hominem praestare homini, qvod ei non det ius belli. Nam homo hominem odisse non debet, alioqvi signo odii dato, dat ei ius belli jure damni infecti. Odit autem qvi nullo damno suo impedit bonum meum. Nec homo homini in necessariis obstare debet, alioqvin ei dat ius belli. Eo ipso qvia cuilibet per qvantalibet ad necessaria ius est. Aeqvitas est prudentia in dispensandis bonis malisqve. Iustitia est prudentia in dispensandis malis, seu qvousqve nocere liceat. Amicabilitas est prudentia in dispensandis bonis, seu qvousqve prodesse debeamus.

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(für »destilletur«) ] korrigiert aus etc. nach A VI 2, 528

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dem Beschluß widersetzt, so wird zu Recht der Krieg gegen ihn begonnen. Er wird gegen diesen üblen und zu bestrafenden Menschen verhängt, weniger um der Sache als um seiner Gesinnung willen, denn in noch wichtigeren Angelegenheiten wird er auch noch Schlimmeres begehen; folglich muß er bestraft werden. Über die Einvernehmlichkeit mit den anderen ist noch weiter nachzudenken. Sie scheint nur notwendig, falls sie einmal aus äußerlichen Gründen geboten ist. Es ist nicht erlaubt, das strenge Recht um der Billigkeit willen zu verletzen, es sei denn mit der sicheren Erwartung auf Sieg und Behauptung. So hat z. B. ein bettelarmer Mensch nicht das Recht, über einen habgierigen Reichen herzufallen und ihn auszuplündern; auch haben Bauern nicht das Recht, die Reichen zu berauben. Wenn es aber hunderttausend weise Bauern geben könnte, so bestünde kein Zweifel, daß sie sich zu Recht aus einer allgemeinen Notlage befreiten, wenn sie nur sicher wären, daß nicht ein noch größeres Unglück daraus folgen würde, wie es von der Zügellosigkeit und Verwirrung dieser Leute zu erwarten ist.¹²⁷ Billig ist es, daß ein Mensch einem anderen dasjenige gewährt, was diesem bei Vorenthaltung das Kriegsrecht einräumte. Denn ein Mensch darf einen anderen nicht hassen; sonst räumt er diesem mit der Kundgabe seiner Abneigung auch zu Recht das Kriegsrecht eines künftigen Schadens ein. Es haßt mich aber derjenige, der mein Wohl verhindert, obwohl er dadurch keinen Nachteil erleidet. Auch darf ein Mensch sich nicht dem anderen bei den Erfordernissen seiner Not in den Weg stellen; sonst räumt er ihm das Kriegsrecht ein, und zwar gerade deshalb, weil jeder das Recht darauf hat, mit beliebig großen Mitteln das Lebensnotwendige zu erlangen. Billigkeit ist die Klugheit, in ausgewogenem Verhältnis Güter und Übel zu verteilen. Gerechtigkeit ist die Klugheit des ausgewogenen Zuteilens von Übeln, d. h. der Grenzen, in denen man schädigen darf. Freundschaftlichkeit ist die Klugheit des ausgewogenen Zuteilens von Gütern, d. h. der Grenzen, in denen wir zu helfen verpflichtet sind.

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III. Elemente des Naturrechts

Prudentia est ars vivendi, seu ars procurandae sibi felicitatis. Ars est compositum ex scientia et agilitate. (Sapientia est scientia felicitatis.) Scientia est notitia certa. Notitia est terminus indeclarabilis et immediato sensu constans. Certitudo est claritas veritatis. Claritas est notitia omnium partium cogniti. Veritas est existentia propositionis. Existentia est alicuius sensibilitas. Aliqvid est, qvicqvid cogitabile est. Agilitas est agendi cum velis promtitudo seu celeritas. Felicitas est status voluptatis sine dolore. Miseria est status doloris sine voluptate. Voluptas est qvod appetitur propter se. Dolor, qvod vitatur propter se. Bonum est qvod appetit qvi pernovit. Malum qvod fugit qvi pernovit. Appetitus est conatus sentiendi. Fuga est conatus non sentiendi. Conatus est initium motus. (Voluntas est conatus rei cogitantis.) Pernosse est clarè nosse, seu omnia ad rem pertinentia nosse. Delectamur re cuius sensus jucundus est. Amamus rem cuius felicitas nobis jucunda est. Odimus rem cuius miseria nobis jucunda est. Amicitia est status mutui amoris. Inimicitia est status mutui odii.

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Klugheit ist Lebenskunst, d. h. die Kunst, für sein Glück zu sorgen. Kunst setzt sich zusammen aus Wissenschaft und Wendigkeit. (Weisheit ist die Wissenschaft vom Glück.) Wissenschaft ist sichere Kenntnis. Kenntnis ist ein Begriff, der nicht weiter erklärt werden kann. Sie besteht in einer unmittelbaren Wahrnehmung. Gewißheit ist die Klarheit einer Wahrheit. Klarheit ist die Kenntnis aller Teile einer bekannten Sache. Wahrheit ist die Existenz dessen, was in einem Urteil behauptet wird. Existenz ist die Wahrnehmbarkeit von etwas. Etwas ist alles das, was denkbar ist. Wendigkeit ist, wenn man so will, die Bereitschaft oder Schnelligkeit des Handelns. Glücklichsein ist der Zustand von Lust ohne Schmerz. Unglücklichsein ist der Zustand von Schmerz ohne Lust. Lust ist dasjenige, was um seiner selbst willen begehrt wird. Schmerz ist dasjenige, was um seiner selbst willen vermieden wird. Gut ist dasjenige, was der begehrt, der es gründlich kennt. Schlecht ist dasjenige, was der vermeidet, der es gründlich kennt. Begehren ist das Antriebsmoment,¹²⁸ etwas zu empfinden. Vermeiden ist das Antriebsmoment, etwas nicht zu empfinden. Antriebsmoment ist das Anfangen von Bewegung. (Wille ist das Antriebsmoment eines denkenden Wesens.) Gründlich kennen heißt auf klare Weise kennen oder alles kennen, was zu einer Sache gehört. Wir erfreuen uns einer Sache, deren Empfindung angenehm ist. Wir lieben ein Wesen, dessen Glücklichsein uns angenehm ist. Wir hassen ein Wesen, dessen Unglücklichsein uns angenehm ist. Freundschaft ist der Zustand gegenseitiger Liebe. Feindseligkeit ist der Zustand gegenseitigen Hasses.

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III. Elemente des Naturrechts

Certamen est conatus alterius conatui contrarius. Pugna est vis vi contraria. Vis est conatus corporis contra corpus, lacerandi corpus (dimovendi corpus, v. g. disjicere muros, pulsare hominem). Dolus nonnunqvam in Criminalibus accipi solet pro omni conatu laedendi cogitantis injusto, alioqvin Dolus est conatus fallendi. Fallere est cognitionem alterius impedire (est enim dolus non solùm in simulando, sed et dissimulando). Impedire est facere ne qvid fiat. Hostilitas est certamen universale. Bellum est certamen per vim universale. Potest autem et Hostilitas et Bellum sine odio, et proinde sine Inimicitia esse. Uti cum in alios non ipsorum aversatione, sed nostrae utilitatis causa pugnamus. Ita in lepores nostrae utilitatis causa pugnamus. In insecta qvaedam innoxia ex odio tantùm atqve aversatione deformitatis. Cum hominibus improbis, perinde ut cum feris bestiis perpetua inimicitia est. Iuvare est boni alterius causam esse. Laedere est mali alterius causam esse. Nocere est bonum impedire. Prodesse est malum impedire. Lucrum est boni incrementum. Damnum est boni decrementum. (+ Haec paulo inaniora: Juvare est actum alterius faciliorem reddere. Notandum: dici me juvare, me laedere. Contra dici: mihi prodesse, mihi nocere. Cur ita ? Non est hîc nimis grammaticandum +).

25 – 28 + ; + ] ergänzt nach A VI 2, 528

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Streit ist das Antriebsmoment, das dem Antriebsmoment eines anderen zuwiderläuft. Kampf ist die Gewalt, die sich einer anderen Gewalt widersetzt. Gewalt ist das Antriebsmoment eines Körpers gegen einen anderen, diesen anderen Körper zu zerstören (bzw. einen Körper zu entfernen, z. B. Mauern zu zertrümmern bzw. einen Menschen zu vertreiben). Arglist ist ein Ausdruck, den man manchmal im Kriminalrecht zu verwenden pflegt für jedes ungerechte Antriebsmoment eines Menschen, der jemanden zu schädigen beabsichtigt; sonst heißt Arglist das Antriebsmoment zur Täuschung. Täuschen heißt die Erkenntnis bei einem anderen verhindern (denn Arglist besteht nicht bloß im Vorgaukeln, sondern auch im Verschleiern). Verhindern heißt bewirken, daß etwas nicht geschieht. Feindschaft ist ein umfassender Streit. Krieg ist ein umfassender Streit mit Gewalt. Es kann aber sowohl Feindschaft als auch Krieg ohne Haß und somit ohne Feindseligkeit geben. Dies ist der Fall, wenn wir gegen andere nicht aus Abneigung gegen sie selbst, sondern nur um unseres Vorteils willen kämpfen. So machen wir z. B. Jagd auf Hasen um unseres Vorteils willen, Jagd auf irgendwelche unschädliche Insekten dagegen bloß aus Abscheu und Ekel vor ihrer Häßlichkeit. Mit ruchlosen Menschen besteht ebenso wie mit wilden Tieren beständige Feindschaft. Helfen heißt Ursache für das Wohl eines anderen sein. Schädigen heißt Ursache für das Übel eines anderen sein. Benachteiligen heißt ein Wohl verhindern. Nützen heißt ein Übel verhindern. Gewinn ist die Vermehrung von Gutem. Schaden ist die Verminderung von Gutem. (+ Hier etwas weniger Bedeutendes: Unterstützen bedeutet das Handeln eines anderen leichter machen. Bemerkenswert ist, daß man sagt: mich unterstützen, mich schädigen; hingegen sagt man: mir helfen, mir schaden. Warum eigentlich ? Doch es ist hier nicht der Ort, allzusehr Grammatik zu treiben +).

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III. Elemente des Naturrechts

Utile est qvod alterius causa bonum est. Adversum est, qvod alterius causa malum est. Praesentia boni bona est; absentia mali bona est. Praesentia mali mala est; absentia boni mala est. Causa boni bona est; causa mali mala est. Qvod destruit bonum, malum est. Qvod destruit malum, bonum est. Adjumentum boni bonum est, mali malum est. Impedimentum boni malum est. Imp. mali bonum est. Obstaculum boni malum est; mali bonum est. Reqvisitum boni bonum est, Reqvisitum mali malum est (non ita grande tamen). Aliud de effectu, parte etc. Neqve enim si causa bona est, effectus est bonus. Neqve si totum, pars. Finis seu bonum propter se est qvod appetitur nulla ad alterius appetitum habita ratione. Medium est cuius appetitus causa efficiens est appetitus alterius. Bonum per se est, ex cujus definitione demonstrabilis est Bonitas. Bonum per accidens secus. Bonum absolutè est qvod appetit qvi omnia pernovit summa summarum subducta, s. qvod plus appetitur qvàm fugitur. Qvodammodo Bonum est, qvod appetit qvi qvaedam pernovit.

20 fugitur ] korrigiert aus fugatur nach A VI 2, 528

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Nützlich ist, was gut für etwas anderes ist. Widrig ist, was schlecht geeignet für etwas anderes ist. Die Gegenwart eines Gutes ist gut; die Abwesenheit eines Übels ist gut. Die Gegenwart eines Übels ist schlecht; die Abwesenheit eines Gutes ist schlecht. Die Ursache eines Gutes ist gut; die Ursache eines Übels ist schlecht. Was ein Gut zerstört, ist schlecht. Was ein Übel zerstört, ist gut. Ein Hilfsmittel zum Guten ist gut, eines zum Übel ist schlecht. Ein Verhinderungsmittel des Guten ist schlecht, das eines Übels ist gut. Ein Hindernis für ein Gut ist schlecht, eines für ein Übel ist gut. Ein Erfordernis zum Guten ist gut, ein Erfordernis zum Übel ist schlecht (wenn auch nicht in so großem Ausmaß). Anders liegen die Verhältnisse bei einer Wirkung, einem Teil usw. Denn weder ist, falls die Ursache gut ist, auch die Wirkung gut, noch ist, falls das Ganze gut ist, auch der Teil gut. Zweck oder ein für sich Gutes ist dasjenige, was begehrt wird, ohne daß ein Begehren nach einem anderen Gut erwogen wird. Mittel ist dasjenige, dessen Begehren die Wirkursache eines anderen Begehrens ist. Gut durch sich selbst ist dasjenige, aus dessen Definition seine Güte erweislich ist. Anders hingegen das zufälligerweise Gute. Schlechthin gut ist dasjenige, was begehrt, wer alles gründlich kennt, nachdem er die Summe aller Summen berechnet hat, d. h. dasjenige, was mehr begehrt als gemieden wird. In gewisser Hinsicht gut ist dasjenige, was begehrt, wer einiges gründlich kennt.

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III. Elemente des Naturrechts

[4.] [a)] Felicitatem generis humani in eo consistere ut qvousqve licet et possit qvae velit, et sciat qvae è re sit velle, manifestum est. Qvorum illud pene assecutum est, in hoc deficit nusqvam minus potens qvàm in se ipsum. Constat enim potentiam ejus hac tempestate in immensum auctam esse, ex duobus elementis orbis nostri alterum pene domitum, alterum ab alterius rapacitate recuperatum, id est maria mobilibus qvibusdam pontibus strata, terras immanibus hiatibus divisas nunc redunitas. Coelum ipsum nos fallere non posse, et cum sidera sua occulit à deformi lapillo suppleri : idem propius nobis admotum, et multiplicatos oculos ad interiora rerum admissos, centuplicatam mundi faciem, jam novos orbes, jam novas species, aeqvali admiratione illic magnitudinis, hîc parvitatis videri. Nec deesse alterius generis conspicilia, qvibus non loco tantùm, sed et tempore dissita pervideantur, eam historiae lucem illatam, ut possimus videri semper vixisse, paratum novum monumentorum genus, utcunqve papyraceum omni tamen aere perennius, qvo fieri possit, ut super omnes temporum barbarorum, tyrannorumqve injurias semper magna ingenia vivant, et certam

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4. Universale Gerechtigkeit als klug verteilte Liebe zu allen (1670 –1671 ?)¹²⁹ [ a) Die Fortschritte der Naturbeherrschung und die Stagnation der Ethik ] Es ist offensichtlich, daß das Glück des Menschengeschlechts darin besteht, soweit es angeht sowohl zu können, was es will, als auch zu wissen, was gemäß der Natur der Sache zu wollen sei. Jenes der beiden Ziele hat es beinahe erreicht, in diesem Punkte aber ist es schwach, insofern es nirgends weniger vermag als in bezug auf sich selbst. Es steht nämlich fest, daß seine Macht in diesem stürmischen Zeitalter ins Ungeheure angewachsen ist. Von zwei Elementen unserer Erdkugel ist eines so gut wie gezähmt, ein anderes aus der Raubgier des ersten zurückerobert worden; d. h. die Meere sind mit beweglichen Brücken bedeckt und Landstriche sind wiedervereint, die durch riesige Klüfte zerteilt waren.¹³⁰ Selbst der Himmel kann sich uns nicht mehr entziehen und vermag, wenn er seine Gestirne auch unserem Auge verbirgt, durch ein verformtes Gläschen wieder vervollständigt zu werden.¹³¹ Dasselbe ist im Bereich, der uns näherliegt, gelungen, und um ein vielfaches verschärfte Blicke sind ins Innere der Dinge vorgedrungen. Das Antlitz der Welt hat sich verhundertfacht, und bald erschließen sich neue Welten, bald neue Arten, gleichermaßen bewundernswert: dort wegen ihrer Größe, hier wegen ihrer Winzigkeit.¹³² Auch fehlt es uns nicht an Sehgläsern einer anderen Art, durch die hindurch wir nicht nur das im Raume, sondern auch das in der Zeit Erstreckte erblicken. Dieses Licht der Geschichte ist uns zuteil geworden, so daß wir uns einbilden können, wir hätten von jeher gelebt. Es ist eine neue Art von Denkmälern errichtet worden, die, obgleich aus Papier, doch dauerhafter ist als jedes Erz.¹³³ Dadurch ist es möglich geworden, daß über alle Ungerechtigkeiten barbarischer und tyrannischer Epochen hinaus immer die großen Geister lebendig bleiben und schon im voraus die gewisse Unsterblichkeit

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coeli immortalitatem imaginaria nominis aeternitate praecipiant. Igitur tempora literis, coelum conspiciliis, terram itineribus, mare navibus complexi sumus, caetera Elementa seqvuntur exemplum, et aër nunc primum pandit arcanos sinus ab omni aevo abditos, postqvam ignis jam tum inexplicabili DEI beneficio ad laudabilem qvandam caeterarum rerum sicubi in negandis opibus suis pertinaces essent, torturam conspiravit, deditqve nobis fulmina illa qvibus nulla vis par esse potest, nisi qvam humana rabies contrariam opponit. Nimirum postqvam victores orbis sumus, intra nos hostis superest, parentqve omnia praeterqvam homo homini, corpus animo, animus sibi. Id est ut familiarius deposito cothurno dicam, Medicinam corporum animorumqve ignoramus, illam tractamus ut procurator causam ob lucrum, hanc ut puer lectionem ob nihil, discit enim in spem obliviscendi. Qvare mirum non est, qvod hactenus nec jucundi, nec utilis, nec justi scientia constituta est. Iucundi scientia Medica est, Politica utilis, Ethica justi. Medicus explorare structuram nostram, situsqve partium ac motus, voluptatum causas ut servet faciatqve, dolorum contraria ut tollat impediatqve, debet. Qvam in rem ei Characteristicae, Opticae, Musicae, Odorariae, Culinariae, non minus qvàm Chemicae et Botanicae ministeriis utendum est. Et habemus incredibilem massam egregiorum experimentorum, sed rudem et indigestam, et usu nisi pene

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des Himmels genießen durch die vorgestellte Ewigkeit ihres Namens. Wir haben also die Zeiten mit Büchern, den Himmel mit Fernrohren, die Erde mit Verkehrsstraßen, das Meer mit Schiffen in Besitz genommen. Die übrigen Elemente folgen diesem Beispiel, und die Luftsphäre eröffnet uns zunächst ihre geheimen Bahnen, die sie von Ewigkeit her verborgen gehalten hatte.¹³⁴ Zuvor hat schon damals durch eine unerklärliche Wohltat Gottes das Feuer mitgeholfen bei einer lobenswerten Folterung der übrigen Dinge, wenn diese sich bei der Verweigerung ihrer Kräfte als hartnäkkig erwiesen.¹³⁵ Auch gab es uns jene Blitze, denen keine Macht gleichzukommen vermag außer derjenigen, die menschliche Raserei ihr entgegenstellt.¹³⁶ Wen wundert es da, daß, seitdem wir die Sieger über den Erdball sind, ein Feind übriggeblieben ist: in uns selbst. Und alle Dinge gehorchen uns, nur nicht der Mensch dem Menschen, nur nicht der Körper dem Geiste, nur nicht der Geist sich selbst. Das bedeutet, um nun vom Kothurn herabzusteigen und in vertrauterer Weise zu reden, daß wir die Medizin der Körper und der Geister nicht kennen.¹³⁷ Jene handhaben wir wie ein Geschäftsverwalter einen Auftrag aus Gewinnstreben, diese wie ein Schuljunge eine Lektion ohne Interesse; lernt er sie doch in der Hoffnung, sie wieder zu vergessen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß man bislang weder eine Wissenschaft vom Angenehmen noch eine vom Nützlichen noch eine vom Gerechten begründet hat. Die Wissenschaft vom Angenehmen heißt Medizin, die vom Nützlichen Politik, die vom Gerechten Ethik. Dem Mediziner obliegt es, unseren Gliederbau, die Anordnungen der Körperteile und -bewegungen sowie die Ursachen der Lustempfindungen zu erforschen, um sie zu erhalten und zu erzeugen, umgekehrt aber auch die Ursachen der Schmerzen zu erforschen, um sie zu beseitigen und zu verhindern. Für diese Aufgabe hat er die Dienste der Charakteristik, der Optik, der Musik, der Geruchs- und Geschmackskünste nicht weniger zu gebrauchen als die der Chemie und Botanik. Wir verfügen auch über eine unglaubliche Menge ausgezeichneter Experimente, aber sie ist roh und ungeordnet und ohne einen Nutzen,

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fortuito carentem. Qvorsum verò materia tanto studio comportata in promtu est, si in aliud seculum differenda est structura nostrae felicitatis. Cur non collatis viribus impetum facimus in hanc pertinaciam tegentis se naturae. Cur, inquam, nisi qvòd naturalis scientiae imperfectio in civilem refundit culpam, cum possint si omnes velint, et singuli velint ut vellent universi, nec tamen qvod volunt possuntqve singuli faciant universi, nisi rem rectè et ex verae Politicae arcanis aggrediantur illi qvorum in manu est magnam hominum partem in exemplum caeterorum felicem reddere et se in illis. Nam qvi rem ex vero aestimant, intelligunt scientiam justi utilisqve, id est publici privatiqve boni sibi invicem implicitas esse, nec posse qvenqvam facilè esse in medio miserorum felicem. Ignoravimus ergò hactenus, id est non hausimus, non bibimus veros aeqvi boniqve fontes, possunt enim ignorari qvae millies lecta, audita, imò cogitata sunt, si reflexio ut ita dicam, atqve animi adversio abfuit. Nam qvod nos scimus scire, eo volumus uti; qvod nos scire nescimus, id nec scimus. Duo sunt, qvae nos animadvertere faciunt, Eloqventia et demonstratio. Illa affectus commovet, atqve qvandam ut si dicam sangvinis ebullitionem excitat, haec claram qvandam comprehensionem menti ingenerat; illa igitur nisi demonstrationem vestiat evanida, et non nisi insanis motibus jactatae plebis ecstasis inanis est, haec paucos qvidem afficit nec nisi magnos, eos tamen, à qvibus solis emendationis spes est, hoc maximè seculo qvo omnia

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der mehr als zufällig ist. Wozu aber steht ein mit so großer Mühe zusammengetragenes Baumaterial zur Verfügung, wenn der Bau unseres Glückes für ein anderes Zeitalter aufgespart werden soll ? Warum unternehmen wir nicht mit vereinten Kräften einen Angriff gegen diese Widerspenstigkeit der sich versteckenden Natur ? Warum, frage ich, wenn nicht etwa die Unvollkommenheit der Naturwissenschaft auf eine öffentliche Schuld hinauslaufen soll ? Denn alle könnten, wenn alle wollten und wenn die einzelnen wollten, daß es alle wollen. Und doch würden alle dasjenige nicht zustande bringen, was die einzelnen wollen und können, wenn nicht diejenigen regelgerecht und nach den Geheimnissen der wahren Politik¹³⁸ an die Sache herangingen, in deren Händen es liegt, einen großen Teil der Menschen als Beispiel für die übrigen glücklich zu machen und damit sich in jenen. Denn diejenigen, die die Angelegenheit der Wahrheit gemäß beurteilen, erkennen, daß die Wissenschaft vom Gerechten und die vom Nützlichen, d. h. die vom öffentlichen und die vom privaten Wohl,¹³⁹ sich wechselseitig einschließen, und daß niemand mühelos glücklich sein kann mitten unter unglücklichen Menschen. Wir haben es also bislang ignoriert, d. h. wir haben nicht geschöpft und nicht getrunken aus den echten Quellen des Billigen und Guten. Es kann nämlich das, was tausendmal gelesen, gehört, ja sogar gedacht worden ist, unerkannt bleiben, wenn sozusagen die Reflexion und die Geistesgegenwart fehlte. Denn das, von dem wir wissen, daß wir es wissen, wollen wir auch nutzen; das aber, von dem wir nicht wissen, daß wir es wissen, wissen wir auch nicht wirklich.¹⁴⁰ Es gibt zwei Dinge, die uns zum Aufmerken bringen: Beredsamkeit und Beweis. Jene erregt die Gefühle und ruft sozusagen eine Aufwallung des Blutes hervor. Dieser dagegen eröffnet dem Geist ein klares Begreifen. Jene verflüchtigt sich folglich, wenn sie nicht den Beweis einkleidet, und ist dann nichts anderes als die leere Ekstase des von tollen Leidenschaften aufgewühlten Pöbels. Dieser berührt zwar nur wenige große Köpfe, doch sind es diese, von denen allein eine Verbesserung zu erhoffen ist, ganz besonders

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magna ingenia in solidum veritatis cibum qvadam bulimia feruntur. His si satisfecerimus, si propriarum eos cogitationum admonuerimus, si locaverimus in solido veritatem, poterimus fortasse eloqventiae jacturam solari. De tota utilitate aliàs non, ut spero, vulgaria habemus, nunc semina eius scientiae sparsisse suffecerit, qvae monstret, qvo usqve cedendum sit singulis bono universorum, si inde in se velint redundare auctam velut reflexione felicitatem. Hoc praestitisse est Iuris et Aeqvi Elementa tradidisse, qvod facere nunc bonis à coelo ominibus aggrediamur.

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(1.) Doctrina Iuris ex earum numero est, qvae non ab experimentis, sed definitionibus, nec à sensuum, sed rationis demonstrationibus pendent, et sunt, ut sic dicam, juris non facti. Cum enim consistat Iustitia in congruitate ac proportionalitate qvadam, potest intelligi justum aliqvid esse, etsi nec sit qvi justitiam exerceat, nec in qvem exerceatur, prorsus ut numerorum rationes verae sunt, etsi non sit nec qvi numeret nec qvod numeretur, et de domo, de machina, de Republica praedici potest, pulchram, efficacem, felicem fore, si futura sit, etsi nunqvam futura sit. Qvare mirum non est harum scientiarum decreta aeternae veritatis esse, omnia enim conditio-

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in diesem Zeitalter, in dem alle großen Geister von einem gewissen Heißhunger nach einer ordentlichen Speise der Wahrheit getrieben werden. Wenn wir ihnen Genüge leisten, wenn wir sie zu ihren eigensten Gedanken anfeuern und wenn wir die Wahrheit auf ein festes Fundament stellen, dann können wir vielleicht manchen Mangel an Beredsamkeit ausgleichen. Von der ganzen Nützlichkeit dieser Sache haben wir anderenorts, wie ich hoffe, nicht gerade Alltägliches festgehalten.¹⁴¹ Im Augenblick dürfte es genügen, die Keime dieser Wissenschaft gelegt zu haben, die zeigt, wie weit die einzelnen für das Wohl aller sich zu fügen haben, wenn sie hierdurch ein reiches Glück in sich finden wollen, das sich gleichsam durch Widerspiegelung vermehrt hat. Dies geleistet zu haben heißt die Elemente des Gerechten und Billigen gelehrt zu haben. Und dies wollen wir nunmehr unter guten Vorzeichen vom Himmel in Angriff nehmen.

[b) Gerechtigkeit als Proportionalität zwischen eigenem und fremdem Wohl] 1. Die Lehre vom Recht zählt zu denjenigen Lehren, die nicht von Erfahrungen, sondern von Definitionen, nicht von Beweisen der Sinne, sondern von Beweisen der Vernunft abhängen und die sozusagen die Frage nach der Rechtmäßigkeit, nicht die nach dem Sachverhalt betreffen. Weil nämlich Gerechtigkeit in einer bestimmten Kongruenz und Proportion besteht, kann erkannt werden, ob etwas gerecht ist, auch wenn es keinen gäbe, der die Gerechtigkeit ausübte, und keinen, gegen den sie ausgeübt würde – genau wie die Zahlenverhältnisse wahr bleiben, auch wenn niemand zählen würde und nichts zum Zählen vorhanden wäre. Auch über ein Gebäude, eine Maschine oder ein Staatswesen kann man urteilen, ob sie schön, wirksam bzw. glücklich sein würden, falls sie zukünftig einmal existierten, auch wenn sie tatsächlich niemals existieren werden. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Grundsätze dieser Wissenschaften von ewiger Wahrheit sind, denn sie sind

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nalia sunt, nec tradunt, qvid existat, sed qvid suppositam existentiam conseqvatur: Nec à sensu descendunt, sed clara distinctaqve imaginatione, qvam Plato Ideam vocabat, qvaeqve verbis expressa idem qvod definitio est, qvicqvid autem clarè intelligi potest, non verum qvidem semper, possibile est tamen, imò et tunc verum est qvoties de possibilitate sola qvaestio est. Qvoties autem de necessitate qvaestio est, de possibilitate qvaestio est, nam si qvid necessarium dicitur, possibilitas oppositi negatur. Qvare necessariae rerum connexiones et conseqventiae eo ipso demonstratae sunt, qvod ex clara distinctaqve imaginatione, id est cùm verbis exprimitur definitione, per continuatam definitionum sibi implicatarum seriem, id est demonstrationem, deducuntur. Cum igitur doctrina juris scientia sit, et scientiae causa sit demonstratio, demonstrationis principium definitio, conseqvens est vocabulorum, Iuris, Iusti, Iustitiae, definitiones, id est ideas qvasdam claras, ad qvas ipsi cum loqvimur exigere propositionum, id est usus vocabulorum, veritatem etiam nescientes solemus, debere ante omnia investigari. (2.) Investigationis haec methodus est, ut insigniora et maximè dissita ex usu loqvendi exempla conferentes, comminiscamur aliqvid qvod et his et caeteris congruat. Qvemadmodum enim inductione experimentorum struimus hypothesin, ita propositionum collatione definitionem utrobiqve ex potissimis praetentatis compendium facimus caeterorum intentatorum. Hâc methodo opus

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allesamt Bedingungssätze und lehren nicht das, was existiert, sondern das, was bei vorausgesetzter Existenz des Sachverhalts folgen würde.¹⁴² Sie entspringen nicht der Sinneswahrnehmung, sondern einer klaren und deutlichen Vorstellung, die Platon »Idee« genannt hat und die, wenn man sie mit Worten ausdrückt, dasselbe bedeutet wie eine Definition.¹⁴³ Zwar ist nicht alles, was klar und deutlich vorgestellt werden kann, immer auch wirklich existent; wohl aber ist es möglich, ja es ist auch wahr in jedem Falle, wo die Untersuchung sich lediglich auf seine Möglichkeit erstreckt. Sooft nämlich die Untersuchung die Notwendigkeit von etwas betrifft, ist es auch eine Untersuchung über dessen Möglichkeit; denn wenn etwas notwendig genannt wird, wird die Möglichkeit des Gegenteils geleugnet. Deshalb sind die notwendigen Verknüpfungen der Dinge und ihre Folgerungen gerade dadurch erwiesen, daß sie aus einer klaren und deutlichen Vorstellung, d. h., wenn man diese mit Worten ausdrückt, aus einer Definition abgeleitet werden, und zwar durch eine kontinuierliche Reihe einander enthaltender Definitionen, d. h. durch einen Beweis.¹⁴⁴ Weil also die Lehre vom Recht eine Wissenschaft ist, der Grund der Wissenschaft aber der Beweis und das Prinzip des Beweises wiederum die Definition, so folgt daraus, daß wir vor allen anderen Dingen die Definitionen, d. h. bestimmte klare Ideen der Worte »Recht«, »Gerechtes« und »Gerechtigkeit« ausfindig machen müssen, nach denen wir selbst, wenn wir sprechen, die Wahrheit von Sätzen zu beurteilen pflegen, auch wenn wir sie nicht kennen. Dies heißt die Verwendungsweise der Wörter herausfinden.¹⁴⁵ 2. Das Verfahren zur Auffindung besteht darin, daß wir die bedeutsameren und die am meisten verbreiteten Beispiele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zusammentragen, um so etwas zu ermitteln, das sowohl mit diesen als auch mit den übrigen Fällen übereinstimmt. Denn wie wir durch Induktion aus Erfahrungen eine Hypothese errichten, so stellen wir durch Sammlung von Aussagen eine Definition auf; und in beiden Fällen machen wir uns aus den besten Voruntersuchungen einen Wegweiser für die noch nicht untersuchten Fälle. Dieses Verfahren ist immer dann

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est, qvoties inconsultum est formare sibi pro arbitrio usum vocum. Nam qvoties nobis, qvoties nostris, qvoties de re incomperta vulgò loqvimur, est in potestate nostra vocem alligare certae cuidam ideae qvaecunqve memoriae excitandae apta est, ne definitionem semper, id est decem alias voces perpetuò repetere necesse sit. At cum in publicum, cum de re vulgò jactata, nec vocum penuriâ laborante scribimus, aut stultitiae est intelligi nolentis, aut malitia decepturi, aut superbia alios ad sua commenta sine ratione adigere sperantis, propria sibi vocabula aut peculiares eorum usus excogitare. Qva de re pluribus in praefatione ad Nizolium diximus. (3.) Principio autem versatur in juris qvaestione, qvoddam et nostrum bonum et alienum. Nam qvod nostrum attinet omnes uno ore confitentur, qvae qvis ex necessitate fecerit tuendae salutis suae causa, justè fecisse videri. Deinde nemo est qvi justitiam à prudentia disjungere audeat, cùm enim justitia sit omnium consensu virtus qvaedam, virtus autem omnis ea affectuum frenatio, ut nihil obsistere rationis rectae imperiis possint, Ratio autem recta agendorum cum prudentia idem sit, conseqvens est, nec justitiam sine prudentia esse posse. Porro nec prudentia à bono proprio disjungi potest, et inania sunt et ab ipsa dicentium praxi aliena qvaecunqve contra dicuntur. Nemo est qvi qvicqvam consultò faciat nisi sui boni causa, nam et qvos amamus eorum bonum qvaerimus, delectationis nostrae causa, qvam ex eorum felicitate capimus, amare

9 eorum ] korrigiert aus earum nach A VI 2, 528

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nötig, wenn es nicht ratsam ist, für sich selbst willkürlich die Verwendungsweise der Wörter festzusetzen. Denn sooft wir lediglich mit uns und denen, die mit uns vertraut sind, oder auch über eine ungewisse Sache gewöhnlich reden, steht es uns frei, ein Wort mit einer wohlbestimmten Idee zu verbinden, die eine Erinnerung wachzurufen fähig ist. Somit ist es nicht immer nötig, eine Definition, und das heißt ja zehn andere Worte, ständig zu wiederholen. Sobald wir aber für die Öffentlichkeit und über eine Angelegenheit, die in aller Munde ist, schreiben, wo wir ja keinen Mangel an Worten leiden, zeugt es entweder von der Albernheit dessen, der nicht verstanden werden will, oder von der Tücke dessen, der täuschen will, oder aber von der Frechheit dessen, der andere ohne Begründung zu seinen Lügen zu drängen hofft, wenn man sich eigene Worte oder eigenartige Wortverwendungsweisen ausdenkt. Darüber haben wir ausführlich in der Einleitung zum Nizolius gesprochen.¹⁴⁶ 3. Zunächst geht es nun bei der Untersuchung des Rechts um irgendein Gut, und zwar sowohl um unser eigenes als auch um das eines anderen. Was nämlich unser eigenes Wohl betrifft, so bekennen alle wie aus einem Munde, daß dasjenige, was jemand aus der Not heraus getan hat, um die eigene Unversehrtheit zu wahren, zu Recht geschehen zu sein scheint.¹⁴⁷ Ferner gibt es niemanden, der die Gerechtigkeit von der Klugheit abzutrennen wagte, weil Gerechtigkeit nämlich nach dem Einverständnis aller eine Tugend ist, jede Tugend aber eine solche Zügelung der Gefühle, daß diese in nichts den Vorschriften der rechten Einsicht widerstehen können. Die rechte Einsicht dessen, was zu tun sei, ist aber identisch mit der Klugheit. Daraus folgt, daß es keine Gerechtigkeit ohne Klugheit geben kann.¹⁴⁸ Ferner kann die Klugheit auch nicht vom eigenen Wohl abgetrennt werden, und was immer dagegen eingewandt worden ist, ist hohles Zeug und fern von der Praxis selbst derer, die es behaupten. Es gibt niemanden, der irgend etwas absichtlich aus einem anderen Grunde täte als um seines Wohles willen.¹⁴⁹ Denn auch das Wohl derer, die wir lieben, wünschen wir um unserer Freude willen, die wir aus ihrem Glück gewinnen. Lie-

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enim est alterius felicitate delectari, DEUM ipsum amamus super omnia, qvia voluptas est omni cogitabili voluptate major rei omnium pulcherrimae contemplatione frui. Ex his constat non posse qvenqvam in malum suum si rei summam ineas, obligari. Adde nec nisi in bonum suum obligari qvenqvam. Cum enim justitia sit qviddam qvod homini prudenti persvaderi potest, nihil autem persvaderi possit, nisi petitis rationibus ab utilitate auditoris, necesse est omne debitum utile esse. Habemus igitur propositiones duas: primò, omne necessarium justum est, secundò, omne debitum (injustum) utile (damnosum) est, ex communi consensu eorum qvi vocabulis istis utuntur derivatas. Superest videamus, qvousqve in justitia boni alieni ratio habeatur. (4.) Primum autem omnes homines clamant injuriam sibi imò naturae vim fieri si qvis qvaerat malum aliorum nullo commodo suo, si neget aliis innoxiam utilitatem, si perire malit, qvem nullo impendio servare potest, sed et, si commodum aliqvod suum nihil pertinens ad summam rerum miseriae aliorum aut felicitati praeponat, si crudeles oculos mortibus pascat, si homicidiis, si tormentis negotietur, si malit servum qvàm vitrum perire. Deinde nemo est qvi probet ex alieno damno lucrum captantem. Deniqve est et alia causa qverelarum, si idem infortunium duos afflixerit, et unus postulet solus indemnis esse, cum aeqvum sit in pari causa par jus esse. Horum omnium non factum tantùm sed et volunta-

19 vitrum ] korrigiert aus vitium nach A VI 2, 528

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ben nämlich heißt am Glück eines anderen seine Freude finden.¹⁵⁰. Gott selbst lieben wir über alles, weil die Lust, die Betrachtung dieses allerschönsten Wesens zu genießen, größer ist als jede andere denkbare Lust. Hieraus folgt, wenn man die Summe des Problems zieht, daß niemand zu seinem eigenen Unglück verpflichtet sein kann. Man muß sogar hinzufügen, daß keiner zu einem anderen Gut verpflichtet werden kann als zu seinem eigenen. Weil nämlich Gerechtigkeit etwas ist, wovon ein kluger Mensch überzeugt werden kann, weil man aber durch nichts überzeugt werden kann als durch die aufgesuchten Argumente von der Nützlichkeit für den Zuhörer, so ist notwendigermaßen alles Gebotene auch nützlich. Wir haben folglich zwei Grundsätze. Erstens ist alles, was notwendig ist, auch gerecht. Zweitens ist alles, was geboten ist, auch nützlich, bzw. alles, was ungerecht ist, auch schädlich. Beide sind abgeleitet aus dem allgemeinen Konsens derer, die diese Worte verwenden. Es bleibt übrig zu sehen, inwieweit bei der Gerechtigkeit Rücksicht auf das Wohl anderer zu nehmen ist. 4. Zunächst einmal beklagen sich alle Menschen, daß ihnen ein Unrecht geschehe, ja daß sogar der Natur Gewalt angetan werde, wenn jemand etwas, das für andere ein Übel ist, anstrebt, ohne daß es ihm zum eigenen Vorteil gereicht; wenn jemand anderen eine Gefälligkeit verweigert, die ihm selbst nicht schadet; wenn jemand es vorzieht, einen Menschen zugrunde gehen zu lassen, den er ohne Mühe retten könnte; aber auch schon dann, wenn jemand einen eigenen Vorteil, der nichts beiträgt zum öffentlichen Ganzen, für wichtiger hält als das Elend oder das Glück der anderen; ferner, wenn jemand seine grausamen Augen an Todesfällen weidet; wenn jemand Menschenmorde oder Folterqualen begeht; und wenn jemand lieber seinen Knecht zugrunde gehen als sein Glas zerbrechen läßt. Ferner gibt es niemanden, der es gutheißt, wenn jemand aus der Schädigung anderer einen Vorteil schöpft. Und schließlich ist es auch ein weiterer Grund für Klagen, wenn zwei Personen derselbe Unglücksfall trifft und eine für sich allein eine Entschädigung beansprucht. Denn es ist nur billig, daß im gleichen Falle gleiches Recht gilt. In allen diesen Fällen klagen die

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tem homines incusant. Hinc propositiones: primò, injustum est alteri nisi sui boni causa nocere velle; secundò, injustum est alteri exitii causam esse velle sine necessitate; tertiò, injustum est alteri damnum velle lucro suo; qvartò, injustum est commune damnum ferre nolle.

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[c)] (5.) Cum ergo in summa constet justum et sui et alieni boni rationem habiturum, tentemus paulatim definire. An forte justum definiendum est velle qvod est nemini damnosum, sed ita justum non erit damnum suum qvàm alienum vitatum malle. An ergo id demum justum est, qvod fit sui damni vitandi causa. Sed ita justum esset vitrum qvàm servum perire malle. An, qvod fit suae necessitatis causa. Sed ita non liceret lucrum suum alieno praeferre. An justum est publicè indemne, sed ita salus mea damno publico postponenda esset. An justum est, qvicqvid non est causa belli, sed ita injustum esset in casu concursus malle alium qvàm se perire. An justum est, qvicqvid qverelam prudentis non meretur, ita sanè, sed injustitia facit qverelam, non qverela injustitiam; par est ratio, si definias, justum est, qvicqvid impune est apud prudentes: Item si ju-

12 vitrum ] korrigiert aus vitium nach A VI 2, 528

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Menschen nicht bloß die Tat, sondern auch die Willenshaltung an. Hieraus ergeben sich folgende Grundsätze. Erstens ist es ungerecht, einem anderen schaden zu wollen, ohne daß es um des eigenen Wohles willen geschieht. Zweitens ist es ungerecht, ohne Not die Ursache für das Verderben eines anderen sein zu wollen. Drittens ist es ungerecht, einem anderen schaden zu wollen des eigenen Vorteils wegen. Viertens ist es ungerecht, einen gemeinsamen Schaden nicht gemeinsam tragen zu wollen.

[c) Die Unzulänglichkeit aller positiven Definitionen des Gerechten] 5. Weil es folglich, auf einen Nenner gebracht, feststeht, daß das Gerechte eine Beachtung sowohl des eigenen als auch des fremden Wohles enthalten wird, wollen wir versuchen, es Schritt für Schritt zu definieren.¹⁵¹ Sollte das Gerechte vielleicht zu definieren sein als dies: dasjenige zu wollen, was keinem zum Nachteil gereicht ? Aber dann wird es nicht gerecht sein es vorzuziehen, daß der eigene statt des fremden Nachteils vermieden wird. Ob also gerade dasjenige gerecht ist, was geschieht, um eigenen Schaden zu vermeiden ? Aber dann wäre es gerecht, lieber den Knecht zugrunde gehen als das Glas zerbrechen lassen zu wollen. Oder ob das gerecht ist, was aus der Abwendung eigener Not geschieht ? Aber dann wäre es nicht erlaubt, auch schon den eigenen Vorteil dem eines anderen vorzuziehen. Ob gerecht dasjenige ist, was für die Öffentlichkeit unschädlich ist ? Aber dann wäre mein eigenes Heil der Abwendung öffentlichen Schadens nachzuordnen. Ob all dasjenige gerecht ist, was keinen Kriegsgrund liefert ? Aber dann wäre es ungerecht, im Konfliktfall eher den anderen als sich selbst zugrunde gehen zu lassen. Oder ob dasjenige gerecht ist, was nicht den Einspruch eines klugen Menschen verdiente ? So ist es allerdings; doch es ist ja die Ungerechtigkeit, die den Einspruch hervorruft, und nicht etwa umgekehrt der Einspruch, der die Ungerechtigkeit bewirkt.¹⁵². Eine ähnlich zirkuläre Begründung liegt vor, wenn man definiert,

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stum definias, qvicqvid defendi qveat in Comitiis sapientium universi, qvicqvid sit Optimae Reipublicae consentaneum, qvicqvid placeat naturae, qvicqvid placeat sapienti et potenti, qvicqvid sit potentiori utile: item, ut tute facias, qvod ab aliis postulas, ut nihil postules, qvod non facturus esses, ut faciant singuli, qvod facere omnes singulis utile est. Nec illud justum est, qvicqvid non est contra bonum sociale, nam et Curtius, si ademta fuisset ei spes ultra mortem, poterat jure supersedere illo tam horribili saltu, qvanqvam patriae salutari. Nec justum est, qvicqvid congruit naturae rationali, nam qvid hoc vult sibi justum esse qvod ei sine deformitate coëxistere potest, id enim est vulgò congruere. Sed ita injusti erunt morbi; an potius justum esse qvicqvid congruit rectae rationi, sed ita omnis error, etiam non nisi erranti damnosus crimen erit. An justitia est virtus servans mediocritatem inter duos affectus hominis erga hominem, amorem et odium; hac meditatione mirificè plaudebam ipse mihi puer, cum peripateticae scholae recens, concoqvere non possem caeteras omnes virtutes affectuum, unam justitiam rerum moderatricem haberi. Sed haec blanda magis qvàm solida facilè exui, cum apparuit totam virtutis rationem in eo consistere, ut affectus nihil possint, nisi obedire atqve ita virtutem moralem, qvam vocant, non nisi unam esse, esse ut sic dicam dominum spirituum et sangvinis sui, posse incandescere, insurgere,

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gerecht sei all dasjenige, was bei einsichtigen Leuten ungeahndet bleibt. Ebenso ist es, wenn man als gerecht all dasjenige definiert: was vor dem Forum der Weisen der Welt gerechtfertigt werden kann; was mit dem besten Gemeinwesen vereinbar ist; was die Natur will; was dem Weisen und dem Mächtigen gefällt; was dem Stärkeren nützlich ist. Auf dasselbe laufen folgende Definitionen hinaus: daß man wohlbedacht tue, was man von anderen verlangt; daß man nichts fordere, was man nicht selber tun würde; daß alle einzelnen dasjenige tun sollten, was, wenn es alle täten, den einzelnen nützlich ist. Auch ist nicht all jenes gerecht, was nicht gegen das Gemeinwohl verstößt. Denn auch Curtius¹⁵³ hätte, wenn ihm die Hoffnung auf ein Leben jenseits des Todes geraubt worden wäre, jenen so schrecklichen Sprung zu Recht unterlassen können, obgleich dieser seinem Vaterland zur Rettung gereichte. Auch ist nicht alles das gerecht, was mit der vernünftigen Natur übereinstimmt;¹⁵⁴ denn was dies besagen will, ist, daß in sich gerecht sei, was ohne Entstellung mit ihr zusammenbestehen kann; das heißt für gewöhnlich übereinstimmen. Dann aber wären Krankheiten ungerecht. Oder ob gerecht eher all dasjenige ist, was mit der rechten Einsicht übereinstimmt ? Dann aber wäre jeder Irrtum, selbst wenn er bloß für den Irrenden schädlich ist, ein Vergehen.¹⁵⁵ Ob Gerechtigkeit die Tugend ist, das rechte Maß zwischen zwei Gefühlen des Menschen gegenüber einem anderen einzuhalten, nämlich zwischen Liebe und Abneigung ? Für diesen Gedanken habe ich mir selbst als Knabe außerordentlich stark Beifall geklatscht.¹⁵⁶ Denn als ich frisch von der peripatetischen Schule kam, konnte ich mir einfach nicht denken, daß alle übrigen Tugenden Lenker der Gefühle sein sollen, die Gerechtigkeit allein aber als Lenkerin der Dinge anzusehen sei.¹⁵⁷ Doch der ebengenannten alternativen Definition, die mehr verlockend als gründlich war, habe ich mich ohne Schwierigkeiten entledigt, als mir klar wurde, daß die ganze Summe der Tugend darin besteht, daß die Gefühle nichts vermögen als zu gehorchen, und daß es somit keine sogenannte moralische Tugend gibt außer einer einzigen, nämlich, um mich so auszudrücken, Herr zu sein über seine Lebensgeister und sein Blut:

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refrigescere, gaudere, dolere, cum velis et qvamdiu et qvàm vehementer velis. Qvanqvam hîc temperatura contrariorum plerumqve mixtione contingat. Adde qvod ut profusum esse ineptè, aut tenacem intempestivè nullius affectus abreptioni imputandum est, cum fiat falsa ratiocinatione hominis honorem aliqvem sibi ex luxuria aut prodigalitate aut lucrum majus spondentis; vel contra facultatibus suis fortunaeqve sine ratione diffidentis; ita possum injustus esse non odio eius cui noceo, sed amore mei aut tertii amori tui praevalente. Me autem et te vel te et tertium amare, non sunt affectus oppositi sibi (qvanqvam ex accidenti collidantur), cum consistere possint ambo in summo gradu. Sed et, si hanc amoris odiiqve latitudinem justitiae assignabimus, injustum erit, alium nimium amare, cum damno suo, qvod tamen non injustum est, sed ineptum, cui enim injuria fit, nisi facienti. Injuriam autem sibi facere, non est ex severè loqventium more. Nec erit fructus alius huius tam immoderati verborum usus, qvàm ut justi et boni vocabula confundantur, ac dum suppetentibus non uteremur, fingenda sint nova. Qvare nec justum erit, qvicqvid in aliis juvandis laedendisqve prudentiae adversum non est. Seqvetur enim ubi semel laedendi jus est injustum esse, qvi non qvàm artificiosissimè laedat. An verò justum est, qvod non est contra conscientiam. Sed qvid est hoc contra conscientiam esse, cum conscientia sit memoria proprii facti, an illud factum nostrum injustum est, cujus memoria

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sich glühend ereifern, sich erheben und wieder abkühlen zu können, sich freuen und leiden zu können, sooft, solange und so heftig man will. Indessen mag dieses Maßhalten bei Gegensätzen meistens durch Mischung gelingen. Hinzuzufügen ist, daß auf törichte Weise freigebig oder zur unrechten Zeit zurückhaltend zu sein keinem Ausbruch der Gefühle zuzuschreiben ist. Denn es geschieht durch die falsche Schlußfolgerung eines Menschen, der sich vom Überfluß bzw. von der Verschwendung irgendeine Ehre oder einen größeren Vorteil verspricht bzw. umgekehrt seinen Fähigkeiten und dem Glück grundlos mißtraut. Auf diese Weise kann ich ungerecht sein nicht durch Abneigung gegen den, dem ich schade, sondern dadurch, daß mir die Liebe zu mir selbst oder zu einem Dritten mehr gilt als die Liebe zu dir.¹⁵⁸ Mich und dich lieben oder dich und einen Dritten lieben sind aber keine einander entgegengesetzten Gefühle (obgleich sie je nach den Umständen kollidieren mögen), weil beide im höchsten Grade zusammen bestehen können. Doch kommt hinzu, daß, wenn wir diese Ausbreitung von Liebe und Abneigung der Gerechtigkeit zuweisen, es ungerecht sein wird, einen anderen allzusehr zum eigenen Nachteil zu lieben. Dies ist jedoch nicht ungerecht, sondern unklug. Denn wem geschieht hier Unrecht, wenn nicht dem Täter ? Ein Unrecht gegen sich selbst begehen wird aber nach dem Sprachgebrauch derer, die sich einer strengen Redeweise bedienen, nicht eingeräumt.¹⁵⁹ Und ein so regelloser Sprachgebrauch wird auch keine andere Wirkung haben als die, daß die Begriffe des Gerechten und des Guten vermengt werden; und wenn wir uns der vorhandenen Wörter nicht bedienen, sind neue auszudenken. Deshalb wird auch nicht all dasjenige schon gerecht sein, was bei der Hilfe und Schädigung anderer nicht der Klugheit zuwiderläuft. Denn daraus würde folgen, daß, wo es einmal ein Recht zu schädigen gibt, derjenige ungerecht ist, der nicht mit höchster Geschicklichkeit schädigt. Ob wohl dasjenige gerecht ist, was nicht gegen das Gewissen verstößt ? Aber was heißt denn dies »gegen das Gewissen verstossen«, wenn das Gewissen die Erinnerung an die eigene Tat ist ? Ob jene unsere Tat ungerecht ist, deren Erinnerung uns bedrückt,

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molesta est, id est cuius nos poenitet. Si ita, tunc omne damnum qvod ipsi nobis nostra culpa dedimus injustum erit, ergo nobis faciemus injuriam, contra priora. At, inqvies, sunt qvaedam notitiae innatae, inditusqve est nobis justi injustiqve testis qvidam omni exceptione major, qvi malos ipsa sceleris conscientia torqvet, ita formata natura nostra admirabili consilio conditoris, ut si nulla alia, certè haec sit peccatorum poena: dolor facientis. Sed hoc oraculum consulant, qvi volent, qvi volent invenient, intestinum istum tortorem esse metum, metum, inqvam, poenae à Iudice, qvi nec falli nec effugi potest, cuius opinionem etiam simplicissimis impressam aspectu huius Universi, nec profligatissimi utcunqve velint exuere possunt. Iustum ergo erit cuius poena metuenda non est, qvam definiendi rationem jam tum facessere jussimus. Ubi consistemus ergo post tot jactationes, an Iustitia erit habitus volendi bonum alienum propter suum. Proximum hoc est veritati, sed parum detortae. Est in Iustitia respectus aliqvis boni alieni, est et nostri, non is tamen ut alterum alteri finis sit, alias seqvetur jure miserum aliqvem in exitio relinqvi, unde eum pene nullo negotio eripere in nostra potestate est, cum certum est praemium auxilii abfore. Qvod tamen omnes etiam qvi nullam futurae vitae rationem habent ut sceleratum execrantur. Ut taceam respuere omnium

21 execrantur ] korrigiert aus exsecrantur nach A VI 2, 528

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d. h. die wir bereuen ? Wenn man es so definiert, dann wird jeder Schaden, den wir uns selbst durch unsere Schuld zugefügt haben, ungerecht sein. Also begingen wir an uns selbst Unrecht, was im Widerspruch zum vorher Gesagten steht.¹⁶⁰ Aber, so mag man einwenden, es gibt doch gewisse angeborene Kenntnisse, und es ist uns ein gewisser Zeuge für das Gerechte und das Ungerechte eingegeben, der stärker als jeder Einwand ist und die Bösen gerade durch das Schuldbewußtsein der Freveltat martert. Denn unsere Natur ist durch den bewundernswürdigen Ratschluß ihres Urhebers so verfaßt, daß, falls sich keine andere Strafe fände, es doch gewiß diese Strafe für unsere Vergehen gibt: den Schmerz des Täters. Aber dieses Orakel mögen die befragen, die es wollen. Die es wollen, werden entdecken, daß jener innere Folterknecht die Angst ist: eine Angst, so betone ich, vor der Strafe durch einen Richter, den man nicht täuschen und dem man nicht entfliehen kann. Der Vermutung von einem solchen Richter, die auch den einfachsten Gemütern beim Anblick dieses Universums eingeflößt wird, können sich auch die Ruchlosesten nicht entziehen, so sehr sie dies auch wünschen mögen. Gerecht würde folglich dasjenige sein, bei dem keine Strafe zu befürchten ist. Doch dies ist wieder jene Art, das Gerechte zu definieren, der wir bereits oben empfohlen haben, sich aus dem Staub zu machen.¹⁶¹ Wo also werden wir endlich festen Halt finden nach so vielen Schwankungen hin und her ? Ob Gerechtigkeit die zur Gewohnheit verfestigte innere Haltung sein mag, das Wohl eines anderen um des eigenen Wohles willen zu erstreben ? Dies kommt der Wahrheit, allerdings einer etwas verdrehten, am nächsten. Es gibt bei der Gerechtigkeit eine Rücksicht auf das fremde und auch auf das eigene Wohl, jedoch nicht derart, daß das eigene Wohl der Zweck des fremden Wohles ist. Sonst folgte daraus, daß wir einen Unglücklichen zu Recht in seinem Verderben allein ließen, aus dem wir ihn fast ohne Mühe zu erretten fähig wären, wenn es nur gewiß wäre, daß wir keine Belohnung für die Hilfeleistung erhielten. Doch dies verabscheuen alle als frevelhaft, selbst diejenigen, die keine Erwägung des zukünftigen Lebens dabei anstel-

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bonorum sensum hanc mercenariam justitiae rationem, et qvid de DEO dicemus, qvem instrumenti loco habere, nonne indignum est. Sed qvomodo haec superioribus conciliabuntur ubi diximus nihil fieri à nobis consultò nisi boni nostri causa, cum nunc negemus bonum alienum qvaerendum esse propter nostrum. Conciliabitur, ne dubita, ratione qvadam paucis observata, ex qva magna lux illucescere potest, verae tum Iurisprudentiae tum Theologiae. Nimirum pendet haec res ex natura amoris.

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[d)] Duplex est ratio bonum alienum cupiendi, altera propter nostrum, altera qvasi nostrum, illa aestimantis, haec amantis; illa domini affectus est in servum, haec patris in filium, illa indigentis erga instrumentum, haec amici erga amatum, illic propter aliud expetitur bonum alienum, hîc propter se. At, inqvies, qvomodo fieri potest ut bonum alienum sit idem cum nostro, et tamen propter se expetatur. Potest enim alias bonum alienum esse nostrum, sed ut medium non ut finis. Imò verò, inqvam ego, etiam ut finis, etiam ut per se expetitum, qvando jucundum est. Nam omne jucundum per se expetitur, et qvicqvid per se expetitur jucundum

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len. Ganz zu schweigen davon, daß die Gesinnung aller Guten ein solch lohndienerisches Interesse an der Gerechtigkeit verschmäht. Und was sollten wir auch von Gott sagen, den als Werkzeug zu betrachten doch wohl unwürdig ist ! Aber auf welche Weise lassen sich diese Überlegungen mit den oben erwähnten vereinbaren, wo wir gesagt haben, daß nichts absichtlich von uns getan werde, es sei denn um unseres Wohles willen ? Denn nun leugnen wir ja, daß das Wohl des anderen um des eigenen willen zu suchen sei. Beides wird sich ohne Zweifel vereinbaren lassen durch einen bestimmten Gedanken, der zwar nur von wenigen ins Auge gefaßt worden ist, aber ein großes Licht erstrahlen läßt sowohl für die wahre Jurisprudenz als auch für die wahre Theologie. Selbstverständlich ist dieses Problem abhängig von der Natur der Liebe.¹⁶²

[d) Liebe als Findung eigenen Glücks im Glück anderer ] Es gibt zwei Gründe, am Wohlergehen eines anderen Interesse zu nehmen, zum einen um unseres eigenen Wohles willen, zum anderen aber nur gleichsam um unseres eigenen Wohles willen. Jener ist der Beweggrund des Schätzenden, dieser der des Liebenden. Jener ist das Gefühl des Herrn gegenüber seinem Knecht, dieser das Gefühl des Vaters zu seinem Sohn; jener das Verhältnis eines Bedürftigen zu einem Werkzeug, dieser die Beziehung eines Freundes zu einem, dem er verbunden ist. Dort wird das fremde Wohl um eines anderen Gutes, hier um seiner selbst willen erstrebt. Aber, so wird man einwenden, wie kann das fremde Wohl mit dem unsrigen zusammenfallen und dennoch um seiner selbst willen gewünscht werden ? Denn sonst kann das fremde Wohl das unsrige werden, wenn jenes das Mittel zu diesem ist, nicht aber so, daß es der Zweck ist. Aber doch, entgegne ich, auch so, daß es der Zweck ist und daß es um seiner selbst willen erwünscht wird. Dann nämlich, wenn es erfreulich ist. Denn alles Erfreuliche wird um seiner selbst willen gewünscht, und was auch immer um seiner selbst willen gewünscht wird, ist erfreulich. Die übrigen Dinge

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est, caetera propter jucundum, ut faciant, ut servent, ut contraria tollant. Hoc sentiunt omnes, qvicqvid dicant; aut faciunt saltem, qvicqvid sentiant. Interroga Stoicos illos, illos aëreos, nubivolos, .ìåôåùñïëüãïõò, voluptatis simulatos hostes, rationis veros, circumspice, rimare actus eorum, motusve, senties nec digitum ciere posse, qvin mendacium impingant inani suae philosophiae. Honestas ipsa nil nisi jucunditas animi est. Si Ciceronem attentius auscultaveris pro honestate in voluptatem declamantem, audies de pulchritudine virtutis, de scelerum deformitate, de conscientia qvieta secum in sinu gaudentis animi, de existimationis illaesae bono, de nominis immortalitate, de gloriae triumpho magnificè perorare. Sed qvid in his omnibus per se (per se, inqvam, nam alioqvin est et alius gloriae fructus qvod potentiam auget, facit enim ut amemur, aut metuamur), expetendum est praeter voluptatem. Pulchra expetimus qvia jucunda sunt, pulchrum enim definio cuius contemplatio jucunda est. Duplicatur autem jucunditas reflexione, qvoties contemplamur pulchritudinem ipsi nostram, qvod fit conscientia tacita virtutis nostrae. Sed qvemadmodum duplex in visu refractio contingere potest, altera in lente oculi, altera in lente tubi, qvarum haec illam auget, ita duplex in cogitando reflexio est, cum enim omnis mens habeat speculi instar, alterum erit in mente nostra, alterum in aliena, et si plura sint specula, id est plures mentes bonorum nostrorum agnitrices, major lux erit, miscentibus specu-

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aber werden um des Erfreulichen willen gewünscht, damit sie es bewirken, erhalten oder das Entgegenwirkende beseitigen. Dies empfinden alle, was sie auch immer reden mögen, oder sie handeln zumindest danach, was sie auch immer empfinden mögen. Man befrage jene Stoiker, jene Luftschiffer und Wolkenflieger, die von überirdischen Dingen reden und vorgeblich Feinde der Lust, in Wahrheit aber Feinde der Vernunft sind ! Man betrachte und erforsche ihre Handlungen bzw. ihre Regungen, und man wird merken, daß sie auch nicht einen Finger rühren können, ohne zugleich ihrer hohlen Philosophie eine Lüge anzuheften. Die Ehre selbst ist nichts anderes als die Freudigkeit des Herzens. Wenn man Cicero wirklich aufmerksamer zugehört hat, wo er für die Ehre und gegen die Lust seine Reden schwingt, so vernimmt man, wie er sich prächtig ausläßt über die Schönheit der Tugend, über die Häßlichkeit des Verbrechens, über ein Gewissen, das im Busen einer sich freuenden Seele mit sich im Frieden ist, über das Gut eines unbescholtenen Rufes, über die Unsterblichkeit des Namens und über den Triumph des Ruhmes.¹⁶³ Aber was soll in all diesen Dingen um seiner selbst willen erstrebt werden außer Lust ?¹⁶⁴ (Um seiner selbst willen, betone ich, denn im übrigen ist es auch eine weitere Frucht des Ruhmes, daß er die Macht vermehrt; denn er bewirkt, daß wir geliebt oder gefürchtet werden.) Schöne Dinge begehren wir, weil sie erfreulich sind. Ich definiere das Schöne nämlich als dasjenige, dessen Betrachtung erfreut. Nun wird aber die Erfreulichkeit durch Spiegelung verdoppelt, sooft wir selbst unsere Schönheit betrachten, was geschieht, wenn das Gewissen unserer Tugend beruhigt ist. Doch genau so, wie beim Sehen eine doppelte Refraktion gelingen kann – die eine in der Augenlinse, die andere in der Linse des Sehrohrs, wobei diese jene vergrößert –, so gibt es auch beim Denken eine doppelte Reflexion. Weil nämlich jeder Geist sich wie ein Spiegel verhält, so wird es einen Spiegel in unserem Geiste und einen anderen Spiegel in einem anderen Geiste geben.¹⁶⁵ Und wenn mehrere Spiegel da sind, d. h. mehrere Geister, die unsere Vorzüge anerkennen, so wird das Licht um so größer sein, und indem die Spiegel nicht nur in einem Auge, sondern

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lis non tantùm in oculo lucem, sed et inter se, splendor collectus gloriam facit. Par est in mente ratio deformitatis, etsi aliàs tenebrae nulla speculorum reflexione augeantur. Ut redeamus ergo in viam, consensu generis humani omne jucundum per se expetitur et qvicqvid per se expetitur est jucundum. Ergo facilè intelligi potest, qvomodo bonum alienum non nostrum tantùm fieri possit, sed et per se expetatur, qvoties scilicet jucundum est nobis, bene aliis esse. Unde exstruitur vera definitio amoris; Amamus enim eum, cui bene esse delectatio nostra est. Qvare constat (ut obiter dicam) omne qvod amatur esse pulchrum, id est delectabile sentienti, non tamen omne pulchrum amari, neqve enim irrationalia verè amantur, qvia nec qvaeritur ut eis bene sit, nisi ab iis, qvi sibi in brutis qvoqve nescio qvid rationis qvod ipsi sensum vocant, populari errore fingunt. Cum ergo bonum alienum justitia exigat per se expeti, cum per se expeti bonum alienum, sit alios amari, seqvitur de natura justitiae esse amorem. Iustitia ergo erit habitus amandi alios (seu per se expetendi bonum alienum, bono alieno delectandi) qvousqve per prudentiam fieri potest (seu qvousqve majoris doloris causa non est). Nam et qvae ex nostris bonis voluptas capitur, fraenanda est prudentia, ne forte majoris aliqvando doloris causa sit, tanto magis qvae ex alienis. Qvanqvam non sit è re prudentiam hîc advocari, nam etiam

7 expetatur, qvoties ] korrigiert aus expetatur. Qvoties nach A VI 2, 528

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auch untereinander das Licht bündeln und verteilen, bewirkt der gesammelte Glanz Ruhm. Nach dem gleichen Muster verläuft im Geiste die Spiegelung der Schande, auch wenn sonst Finsternis nicht durch Spiegelreflexion dunkler werden kann. Um also wieder auf unseren Argumentationsgang zurückzukehren, so wird nach der einhelligen Meinung des Menschengeschlechts alles Erfreuliche um seiner selbst willen begehrt, und was auch immer um seiner selbst willen begehrt wird, ist erfreulich. Daher läßt sich leicht einsehen, inwiefern das Wohl des anderen nicht bloß zu unserem eigenen werden kann, sondern auch um seiner selbst willen erwünscht ist: sobald es uns nämlich Freude macht, daß es anderen gutgeht. Von hier aus läßt sich auch die wahre Definition der Liebe formulieren. Wir lieben nämlich den, dessen Wohlergehen uns Freude bereitet. Deshalb ist es (wie ich gelegentlich zeigen werde) gewiß, daß alles, was geliebt wird, schön ist, d. h. ergötzlich für ein empfindendes Wesen, obwohl nicht umgekehrt alles geliebt wird, was schön ist. Auch werden gewiß die vernunftlosen Lebewesen nicht im eigentlichen Sinne geliebt, weil es auch nicht verlangt wird, daß es ihnen wohlergehe, es sei denn von denen, die sich aufgrund eines populären Irrtums einbilden, daß auch in den vernunftlosen Geschöpfen irgend was weiß ich für ein Etwas von Vernunft sei, das sie selbst Sinnesvermögen nennen.¹⁶⁶ Weil also die Gerechtigkeit fordert, das Wohl eines anderen um seiner selbst willen zu erstreben, und weil das Wohl eines anderen um seiner selbst willen zu erstreben bedeutet, andere zu lieben, so folgt aus der Natur der Gerechtigkeit, daß sie Liebe ist. Gerechtigkeit wird folglich die zur Gewohnheit verfestigte innere Haltung sein, andere zu lieben (d. h. das Wohl anderer als solches zu erstreben oder am Wohl anderer sich zu freuen), solange es durch Klugheit geschehen kann (d. h. solange es nicht Ursache für größeren Schmerz ist). Denn auch die Lust, die wir aus unseren eigenen Gütern empfangen, muß durch Klugheit gelenkt werden, damit sie nicht möglicherweise einmal Ursache für größeren Schmerz ist; um so mehr diejenige Lust, die wir aus dem Wohl anderer empfangen. Indessen mag es nicht der Sache dienen, hier

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qvi stultè, tamen credit, bonum alienum versari, sine dolore suo, obligatus est tamen. Erit ergo Iustitia habitus capiendi voluptatem ex opinione boni alieni usqve ad opinionem majoris doloris nostri. Sed rursus postrema verba recidi possunt, nam etsi dolor noster intercurrat, nihil vetat tamen delectari boni alieni opinione, qvanqvam actus seqvatur voluptatem majorem, aut minorem dolorem. Est ergo, ut concludamus tandem aliqvando, vera perfectaqve Iustitiae definitio, habitus amandi alios, seu capiendi voluptatem ex opinione boni alieni qvoties qvaestio incidit. Aeqvum est amare alios omnes qvoties qvaestio incidit. Obligati sumus (debemus) ad id (id) qvod aeqvum est. Injustum est bono alieno non delectari qvoties qvaestio incidit. Iustum (Licitum) est, qvicqvid injustum non est. Iustum ergo est non tantùm qvod aeqvum est, ut delectari bono alieno, cum qvaestio incidit, sed et qvod non injustum est, uti facere qvidvis, qvoties qvaestio non incidit. Ius est potentia agendi qvod justum est.

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4. Universale Gerechtigkeit als Liebe zu allen

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die Klugheit herbeizurufen. Denn auch wer törichterweise glaubt, daß er das Wohl eines anderen ohne eigenen Schmerz gewinnen könne, ist dennoch verpflichtet. Es wird also Gerechtigkeit die Geisteshaltung sein, aus der Erwartung des Wohles anderer Lust zu empfangen bis zur Erwartung eines größeren eigenen Schmerzes. Doch können diese letzten Worte wiederum weggelassen werden, denn auch wenn für uns ein Schmerz dazwischentritt, hindert doch nichts daran, sich am erwarteten Wohl eines anderen zu freuen, mag auch das Handeln auf eine größere Lust bzw. einen kleineren Schmerz zielen. Es lautet also, um endlich einmal die Schlußfolgerung zu ziehen, die wahre und vollkommene Definition der Gerechtigkeit : die Geisteshaltung, andere zu lieben oder seine Lust aus dem erwarteten Wohl des anderen zu empfangen, sooft es in Frage kommt. Billig ist es, alle anderen zu lieben, sooft es in Frage kommt. Verpflichtet sind wir zu dem (wir müssen das tun), was billig ist. Ungerecht ist es, sich am Wohle anderer nicht zu erfreuen, sooft es in Frage kommt. Gerecht (erlaubt) ist alles, was nicht ungerecht ist. Gerecht ist folglich nicht bloß das, was billig ist, wie z. B. sich am Wohlergehen anderer zu erfreuen, sooft es in Frage kommt, sondern vielmehr auch das, was nicht ungerecht ist, wie z. B. zu tun, was man will, sooft anderes nicht in Frage kommt. Das Recht ist die Ermöglichung, dasjenige zu tun, was gerecht ist.

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III. Elemente des Naturrechts

[5.] [a)] Iustitia est habitus amandi omnes.

½ viri boni, qvas Grotius vocat Qvalitates Morales, nihil Ius est potentia ¾ Obligatio necessitas ¿ sunt aliud qvàm qvalitates viri boni. Iustum, Licitum Injustum, Illicitum Aeqvum, Debitum Indebitum omissibile

½ ½ possibile ½ est ° ° impossibile ° ¾ qvic - ¾ necessarium ¾ ° qvid ° ° omissibile ¿ ¿ ¿

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est fieri à viro bono. Unde sapienter ICti Romani Legibus indefinita revocanda ajunt ad viri boni 10 arbitrium.

Indifferens est simul justum et omissibile.

[ Qvod Qvod Cuius Cuius

½ ° ¾ ° ¿

½ ° est ¾ qvic° qvid ¿

potest ½ fieri seu ° qvod non potest non potest non ¾ verum potest non ° est

¿

½ ° ¾ ° ¿

Possibile impossibile necessarium contingens

qvodam nullo, seu non qvodam omni, non qvodam non qvodam non

½ ° ¾ casu. ° ¿

½ intelligitur ° non intelligitur ¾ clare distincteqve ] 20 non intelligitur oppositum ° intelligitur oppositum ¿

10 omissibile ] ergänzt nach A VI 2, 528 18 – 22 [Tabelle ] ] ergänzt nach A VI 2, 528

5. Zur Wissenschaft vom Gerechten

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5. Zur Wissenschaft vom Gerechten (2. Hälfte 1671 ?) ¹⁶⁷ [a) Die Axiome zur deontischen Logik der Liebe] Gerechtigkeit ist die zur Gewohnheit verfestigte Geisteshaltung, alle zu lieben.¹⁶⁸ Berechtigung ist die Möglichkeit Verpflichtung ist die Notwendigkeit

½ ¾ ¿

für einen guten Menschen.¹⁶⁹

Diese beiden, die Grotius die moralischen Qualitäten nennt, sind nichts anderes als die Qualitäten eines guten Menschen.¹⁷⁰

Gerecht, Erlaubt Ungerecht, Unerlaubt Billig, Geboten Ungeboten, unterlaßbar

½ ° ¾ ° ¿

ist alles, was einem guten Menschen zu tun

½ ° ¾ ° ¿

möglich ist. unmöglich ist. notwendig ist. vernachlässigbar ist.¹⁷¹

Daher waren die römischen Rechtsgelehrten so weise zu behaupten, daß das, was durch die Gesetze nicht hinreichend bestimmt ist, auf das freie Ermessen eines guten Menschen bezogen werden müsse.¹⁷²

Freigestellt ist, was zugleich gerecht und vernachlässigbar ist.

½ ° ° Unmöglich ° ° ° Notwendig ¾ ° ° ° Zufällig ° ° ¿

ist alles, was

½ ° ° ° ° ° ¾ ° ° ° ° ° ¿

Möglich

getan werden kann, d. h. richtig ist in irgendeinem Falle [was sich klar und deutlich einsehen läßt]. nicht getan werden kann, d. h. richtig ist in keinem, d. h. nicht irgendeinem Falle [was sich nicht klar und deutlich einsehen läßt]. nicht nicht getan werden kann, d. h. in jedem Falle richtig, d. h. in keinem Falle unrichtig ist [dessen Gegenteil sich nicht klar und deutlich einsehen läßt]. ungetan bleiben kann, d. h. in irgendeinem Falle nicht richtig ist [dessen Gegenteil sich klar und deutlich einsehen läßt].¹⁷³

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III. Elemente des Naturrechts

Omnes ergo Modalium complicationes et transpositiones et oppositiones, ab Aristotele aliisqve in Logicis demonstratae ad haec nostra Iuris Modalia non inutiliter transferri possunt.

[b)] Persona est qvisqvis amat se seu qvisqvis voluptate vel dolore afficitur. Brutis nec voluptas nec dolor nec sensus, non magis qvàm machinae aut speculo. Vir Bonus est, qvisqvis amat omnes. AMAMUS eum cuius felicitate delectamur. Appetitus unionis non est amor, lieben das man vor liebe freßen möchte. Uti vulgò dicimur cibos amare qvorum sensu delectamur. Ita enim etiam Lupus dicendus est agnum amare. Amor ergo venereus toto genere differt à vero. Felicitas est status personae optimus. (Cum autem detur bonorum progressus in infinitum conseqvens est statum optimum consistere in non impedito ad ulteriora semper bona progressu. Qvies in appetendo, seu status in qvo nihil optes, non felicitas est, sed torpor. Ne sentit qvidem bonum suum qvi non optat continuationem, sed nec delectatio est sine harmonia, nec harmonia sine varietate.) Status est aggregatum accidentium (uti forma est aggregatum affectionum). Accidens hoc loco est praedicatum contingens (uti Affectio est praedicatum necessarium). Praedicatum est attributum aliud qvàm nomen.

7 sensus, non magis ] korrigiert aus sensus magis nach A VI 2, 528

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Folglich können alle Verknüpfungen, Umstellungen und Gegensätze der Modalbegriffe, die von Aristoteles und anderen in der Logik bewiesen worden sind, nicht ohne Nutzen auf diese von uns aufgezeigten juridischen Modalbegriffe übertragen werden.¹⁷⁴ [b) Definitionen und Lehrsätze ] Person ist jeder, der sich liebt, d. h. jeder, der durch Lust oder Schmerz erregt wird. Tiere haben in keinem stärkeren Grade Lust, Schmerz oder Empfindung als eine Maschine oder ein Spiegel. Ein guter Mensch ist jeder, der alle liebt.¹⁷⁵ Wir lieben denjenigen, dessen Glücklichsein uns erfreut. Der Vereinigungsdrang, etwa zu lieben, was man vor lauter Liebe fressen möchte, ist nicht Liebe. Denn wie wir für gewöhnlich ja auch sagen, daß wir die Speisen lieben, deren Geschmack uns ergötzt, so müßten wir auch sagen, daß der Wolf das Lamm liebt. Folglich unterscheidet sich die sinnliche Liebe der ganzen Art nach von der eigentlichen.¹⁷⁶ Glück heißt der Bestzustand einer Person. (Weil es aber bei den Gütern ein Fortschreiten ins Unendliche gibt, so folgt daraus, daß der Bestzustand darin besteht, nicht gehindert zu werden am Fortschreiten zu immer weiteren Gütern.¹⁷⁷ Der Stillstand des Begehrens, d. h. ein Zustand, in dem man nichts mehr wünschte, wäre nicht Glück, sondern Erschlaffung. Zwar empfindet niemand sein Wohl, ohne zugleich seine Fortsetzung zu wünschen, doch gibt es keine Freude ohne Harmonie und wiederum keine Harmonie ohne Abwechslung.) Zustand heißt eine Anhäufung von Akzidenzien (wie Form eine Anhäufung von Grundbeschaffenheiten heißt). Akzidens heißt an dieser Stelle ein zufälliges Prädikat (wie Grundbeschaffenheit ein notwendiges Prädikat heißt). Prädikat ist eine andere Art von Attribut, als ein Name es ist.

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III. Elemente des Naturrechts

Nomen est attributum qvo res noscitur. Optimum est maximè bonum. Bonum est qvicqvid appetitur à pernoscente, qvale est non tantùm jucundum, sed et jucundi causa, reqvisitum, auxilium; aut mali contra. Pernoscere est, nosse qvid res agere aut pati possit scil. tum per se, tum aliis combinata. Haec vera notitia practica est, theorema enim est propter problema. Hinc seqvitur neminem esse ullius rei pernoscentem nisi idem sit sapiens seu pernoscens universalis. Qvod pernoscere id latinius dicetur: intelligere. Est enim intelligere intima legere sed intelligendi vox nunc laxius sumitur pro omni cognitione qvae cum ratione est. IURISPRUDENTIA est scientia justi, seu scientia libertatis et officiorum, seu scientia juris, proposito aliqvo casu seu facto. Scientiam voco, etsi practicam, qvia ex sola definitione Viri boni omnes eius propositiones demonstrari possunt, neqve ab inductione exemplisqve pendent, etsi harmonia variarum legum, consensuqve prudentum scripto non scriptoqve, ac populorum voce publica egregiè illustrentur, et apud homines demonstrationum incapaces etiam confirmentur. Iusti scientiam voco seu eius qvod viro bono possibile est, qvia eadem opera apparet et qvicqvid ei possibile non est facere, et qvicqvid ei possibile non est omittere. Scientiam officiorum voco, seu eius qvod viro bono impossibile

22 non est omittere ] korrigiert aus est non omittere nach A VI 2, 529

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Name ist das Attribut, durch das eine Sache gekennzeichnet ist. Das Beste heißt das im höchsten Grade Gute. Gut heißt all dasjenige, was von einem begehrt wird, der es gründlich kennt. Solcher Art ist nicht bloß das Angenehme, sondern auch dessen Ursache, Bedingung und Hilfsmittel bzw. umgekehrt das Hilfsmittel gegen ein Übel. Gründlich kennen heißt wissen, was ein Ding wirken bzw. aushalten kann, und zwar bald für sich genommen, bald in Verbindung mit anderen Dingen. (Dies ist die wahrhaft praktische Kenntnis, denn ein Lehrsatz dient ja der Lösung eines Problems.)¹⁷⁸ Hieraus folgt, daß niemand eine Sache gründlich kennt, wenn er nicht weise ist, d. h. den Gesamtzusammenhang der Dinge gründlich kennt. Für »gründlich kennen« ließe sich in besserem Ausdruck »einsehen« sagen. Denn »einsehen« meint ursprünglich »ins Innerste hineinsehen«. Doch wird das Wort »einsehen« jetzt nachlässiger für jede Erkenntnis verwendet, die rational gewonnen wird. Jurisprudenz ist die Wissenschaft vom Gerechten, d. h. die Wissenschaft von der Freiheit und den Pflichten oder auch die Wissenschaft vom Recht, bezogen auf einen vorliegenden Fall oder Sachverhalt. Eine Wissenschaft, wenn auch eine praktische, nenne ich sie, weil alle ihre Sätze allein aus der Definition des guten Menschen bewiesen werden können und nicht etwa von Induktion und Beispielen abhängen. Gleichwohl offenbaren sie sich durch die Harmonie der verschiedenen Gesetze, durch schriftliche und mündliche Übereinstimmung der Klugen sowie durch die öffentliche Stimme der Völker in hervorragender Weise und finden sogar bei denen Bestätigung, die Beweisführungen nicht nachvollziehen können. Eine Wissenschaft vom Gerechten, d. h. von dem, was einem guten Menschen möglich ist, nenne ich sie, weil in ihr im gleichen Atemzug sowohl all dasjenige deutlich wird, was ihm möglich ist nicht zu tun, als auch all dasjenige, was ihm möglich ist nicht zu unterlassen. Eine Wissenschaft von den Pflichten nenne ich sie, d. h. von demjenigen, was einem guten Menschen unmöglich bzw. not-

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III. Elemente des Naturrechts

et necessarium, id est omissu impossibile est, qvia caetera qvae non excipiuntur justa et indifferentia, seu possibilia et contingentia habentur. Sufficit necessaria impossibiliaqve, imò sufficit impossibilia enumerari, inde caetera tacendo intelligentur. Qvia omnia per naturam rerum factu omissuve possibilia habentur, donec contrarii suspicio cum ratione oboriatur. Libertas est potentiae moralis seu cadentis in virum bonum congruitas cum naturali. Officium est defectus potentiae moralis à naturali. Ergo libertas est modus à qvo actus denominatur possibilis aut contingens viro bono, seu justus et indifferens. Officium, à qvo denominatur impossibilis aut necessarius seu injustus debitusqve. Excessus potentiae moralis super naturalem nullus est, ut mox ostendetur.

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theoremata. Definitiones, qvas qvidem ipsa Juris definitio à nobis exegit, perpetua Analysi seqvuntur Theoremata, seu Terminorum combinationes. Sunt aut particularis subjecti, aut particularis praedicati, universalis subjecti, aut universalis praedicati et subjecti, id est convertibiles. Particularis subjecti propositiones removentur à scientiis, qvemadmodum et omnes eae qvae nihil docent nisi possibilitatem. Sunt enim infinitae non modò, sed et sine ingenio multiplicabiles

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wendig, d. h. zu unterlassen unmöglich ist, weil alles übrige, das hier nicht eigens aufgenommen wird, unter das Gerechte und Freigestellte fällt, d. h. unter das Mögliche und das Zufällige. Es genügt, das Notwendige und das Unmögliche, ja sogar das Unmögliche allein aufzuzählen. Daher wird sich der Rest stillschweigend von selbst einsehen lassen, weil alles durch die Natur der Dinge solange unter das zu tun oder zu unterlassen Mögliche fällt, bis ein begründeter Verdacht des Gegenteils aufscheint. Freiheit ist die Übereinstimmung der moralischen, d. h. der von einem guten Menschen verantwortbaren Möglichkeit mit der natürlichen Möglichkeit. Pflicht ist die Einschränkung der moralischen Möglichkeit gegenüber der natürlichen. Folglich ist Freiheit diejenige Seite, nach der eine Handlung für einen guten Menschen möglich oder zufällig genannt wird, d. h. gerecht oder freigestellt. Pflicht ist dagegen diejenige Seite, nach der die Handlung unmöglich oder notwendig genannt wird, d. h. ungerecht oder geboten. Daß die moralische Möglichkeit die natürliche überschreitet,¹⁷⁹. kommt nicht vor, wie wir bald zeigen werden.

lehrsätze Auf die Definitionen, welche unsere Definition des Rechts selbst zuwege gebracht hat, folgen durch eine beständige Zergliederung die Lehrsätze, d. h. die Verknüpfungen der Begriffe. Sie haben entweder einen besonderen Subjektsbegriff oder einen besonderen Prädikatsbegriff und zugleich allgemeinen Subjektsbegriff oder aber einen allgemeinen Prädikats- wie Subjektsbegriff, d. h. sind konvertibel. Sätze mit besonderem Subjektsbegriff klammert man aus den Wissenschaften aus, wie auch alle diejenigen, die nichts außer der bloßen Möglichkeit lehren. Denn sie sind nicht nur unendlich, sondern können auch von jedem Beliebigen ohne geistige

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III. Elemente des Naturrechts

à qvovis, nec docent qvicqvam, qvod faciunt universales, qvae in id prosunt, ut possimus imposterum in agendo de particularium inqvisitione securi esse. Universales propositiones sed non convertibiles enunciant genus de specie, docentqve utiqve, sed non satisfaciunt, donec incidamus in terminos aeqve latè patentes in êáèüëïõ ðñ§ôïí, in methodos et problemata construendi, et theoremata solvendi universales, in qvibus omne solumqve coincidunt. Propositiones negativae, licet sint semper convertibiles, prosunt ne frustra agamus, non ut fructuosè. Propositiones ergo universales convertibiles affirmativae qvibus disparata de se invicem universaliter dicuntur qvaeri semper potissimum debent, sed saepe tamen ad eas non nisi per negativas et non convertibiles ascendi potest, qvod et Euclidi et plerisqve Mathematicorum usu venit, etsi plerumqve perfectis magis magisqve scientiis soleant à successoribus methodi inveniri universalius breviusqve demonstrandi. Qvae cum ita sint videamus qvo potissimum ordine theoremata nostra disponi conveniat. Universa haec Elementa nostra eò pertinent ut sciamus qvid justum, injustum, debitum, omissibile, qvae qvia Logicis proportione respondent, Iuris Modalia appellare soleo. Primum ergo combinanda videntur ipsa inter se, ut cum dico: omne debitum est justum, hoc enim brevi compendio plurima theoremata lucrifacio, qvae de debito demonstrata transferenda essent ad justum. Deinde combinanda sunt cum componentibus. Componuntur autem Modalia Iuris ex Modalibus Logicis, et definitione viri boni.

14 soleant ] korrigiert aus soleat nach A VI 2, 529

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Anstrengung vervielfältigt werden und lehren gar nichts. Dies leisten vielmehr die allgemeingültigen, die uns dazu dienen, bei der künftig zu betreibenden Nachforschung über die Besonderheiten sichergehen zu können. Allgemeine, aber nicht-konvertible Sätze geben Aufschluß über den zum Artbegriff gehörenden Gattungsbegriff und belehren durchaus; doch sie reichen solange nicht hin, bis wir auf Begriffe stoßen, die gleich offen sind für das erste Allgemeine ,¹⁸⁰ für Verfahren, die sowohl beim Konstruieren von Problemen als auch beim Lösen von Lehrsätzen allgemeingültig bleiben, in denen das Allgemeine mit dem Einzelnen zusammenfällt. Verneinende Sätze, mögen sie auch jeweils konvertibel sein, verhelfen uns zwar noch nicht dazu, fruchtbar zu verfahren, bleiben aber nicht ergebnislos. Folglich müssen wir als erstes jeweils die allgemeinen, konvertiblen und bejahenden Sätze aufsuchen, in denen disparate Begriffe auf allgemeingültige Weise wechselseitig voneinander ausgesagt werden. Und doch kann man zu diesen oft nur über verneinende und nicht-konvertible Sätze aufsteigen. Dieses Verfahren kommt in den meisten Schriften Euklids und der Mathematiker zur Anwendung, auch wenn größtenteils durch die zunehmend vervollkommneten Wissenschaften bei den Nachfolgern Methoden zur Entdekkung kommen, die Beweise allgemeiner und kürzer zu fassen. Weil dies sich so verhält, wollen wir nun sehen, in welcher Ordnung in erster Linie unsere Lehrsätze angemessen aufzustellen sind. Alle diese von uns aufgeführten Elemente dienen dazu, daß wir wissen, was gerecht, ungerecht, geboten und unterlaßbar ist. Weil diese Begriffe durch Verhältnisgleichheit den logischen Modalbegriffen entsprechen, pflege ich sie die juridischen Modalbegriffe zu nennen. Zunächst (I.)¹⁸¹ scheint man also diese selbst miteinander verknüpfen zu müssen, etwa wenn ich sage »alles, was geboten ist, ist auch gerecht«. Mit diesem kurzen Leitfaden gewinnt man die meisten Lehrsätze, indem das in bezug auf das Gebotene Bewiesene dann auf das Gerechte zu übertragen ist. Sodann (II.) sind sie mit ihren Zusammensetzungen zu verknüpfen. Zusammengesetzt aber werden die juridischen Modalbegriffe erstens (II.1) aus den logischen

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Primum ergo combinentur cum Modalibus Logicis, tum simpliciter, id fit cum dico: impossibilium non datur obligatio; tum cum gradibus, modalium, nempe probabili et improbabili, ut cum dico: nihil probabile est injustum esse seu omnis actus in dubio justus habetur. Deinde cum viro bono, ejusqve componentibus, qvae sunt amor, et omnes; componentibusqve amoris, delectatione, et felicitate, componentibusqve eorum, ut cum dico: omne necessarium ad salutem justum est.

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Theoremata qvibus combinantur Iuris Modalia inter se. Nullum justum est injustum. Qvia nullum possibile est impossibile, eidem, nempe viro bono. Nunqvam enim qvidam, est nullus seu non qvidam. Nullum injustum est justum, conversione simplici th. 1. Nullum omissibile indebitum est debitum. Qvia nullum contingens est necessarium. Neqve enim qvidam non est non qvidam non seu omnis. Nullum debitum est omissibile indebitum, convers. simplici th. praeced. Nullum injustum est debitum. Qvia nullum impossibile est necessarium. Neqve enim non qvidam seu nullus potest esse non qvidam non seu omnis.

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Modalbegriffen und zweitens (II.2) aus der Definition des guten Menschen. Folglich muß man sie zuerst mit den logischen Modalbegriffen verknüpfen; zum einen (II.1a) auf einfache Weise, was geschieht, wenn ich sage »zu Unmöglichem gibt es keine Verpflichtung«, zum anderen (II.1b) mit den Graden der Modalbegriffe, nämlich dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen, etwa wenn ich sage »nichts Wahrscheinliches ist ungerecht, d. h. es ist zu unterstellen, daß jede Handlung im Zweifelsfalle gerecht ist«. Zweitens werden die juridischen Modalbegriffe mit dem »guten Menschen« und seinen Zusammensetzungen verknüpft, das sind »Liebe« und »alle« (II.2a); dann mit den Zusammensetzungen der Liebe, nämlich »Freude« und »Glück« (II.2b); sowie mit deren Zusammensetzungen. So gelange ich etwa zu dem Lehrsatz »alles, was zum Überleben notwendig ist, ist gerecht«.

(I.) Lehrsätze, in denen die juridischen Modalbegriffe miteinander verknüpft werden ¹⁸² Nichts Gerechtes ist ungerecht. Denn nichts Mögliches ist ein und derselben Person, nämlich einem guten Menschen, unmöglich. Einer ist nämlich nie zugleich keiner, d. h. nicht irgendeiner. Nichts Ungerechtes ist gerecht. Durch einfache Vertauschung der Begriffe des ersten Lehrsatzes. Nichts Unterlaßbares und Ungebotenes ist geboten. Denn nichts Zufälliges ist notwendig. »Irgend jemand nicht« bedeutet nämlich auch nicht »nicht irgend jemand nicht« oder »jeder«. Nichts Gebotenes ist unterlaßbar und ungeboten. Durch einfache Vertauschung der Begriffe des vorangehenden Lehrsatzes. Nichts Ungerechtes ist geboten. Denn nichts Unmögliches ist notwendig. »Nicht irgendeiner«, d. h. »keiner« kann nämlich auch nicht bedeuten »nicht irgendeiner nicht« oder »jeder«.

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Nullum debitum est injustum, convers. simpl. th. praeced. Omne indebitum justè omittitur et omne qvod justè omittitur est indebitum. Pro indebito enim substitue : possibile non fieri. Possibili non fieri respondet qvidam non. Iam et justè omisso, respondet possibile non (justo possibile, omisso non), vel qvidam non, coincidunt ergo. Omne injustum est debitum omitti. Et omne debitum omitti est injustum, seu injustum et debitum non fieri coincidunt. Qvia necessarium non fieri et impossibile, coincidunt. Nam etiam Nullus et omnis non coincidunt. Cur ita ? qvia nullus est non qvidam. Omnis est non qvidam non. Ergo omnis non, est non qvidam non non. Abjiciant se mutuò duo posteriora non, superest non qvidam. Omne injustum omitti est debitum, et Omne debitum est injustum omitti. Eodem argumentandi modo, qvia nullus non et omnis coincidunt. Cuius omissio omissibilis est, id justum est, et Qvicqvid justum est, eius omissio omissibilis est. Qvia non qvidam non, et omnis coincidunt. Cujus omissio omissibilis non est, id injustum est, et Qvod injustum est, eius omissio omissibilis non est. Qvia non qvidam non non, est omnis non. Omnis non coincidit nulli.

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Nichts Gebotenes ist ungerecht. Durch einfache Vertauschung der Begriffe des vorangehenden Lehrsatzes. Alles Ungebotene wird zu Recht unterlassen; und: Alles, was zu Recht unterlassen wird, ist ungeboten. Für »ungeboten« setze man nämlich ein »was möglich ist, nicht getan zu werden«. Dem »was möglich ist, nicht getan zu werden« entspricht »irgend jemand nicht«. Ferner entspricht auch dem »zu Recht Unterlassenen« »was möglicherweise nicht« (dem »Gerechten« entspricht das »Mögliche«, dem »Unterlassenen« das »nicht«) oder »irgend jemand nicht«. Folglich fallen beide zusammen. Alles Ungerechte ist zu unterlassen geboten. Und: Alles zu unterlassen Gebotene ist ungerecht, d. h. das »Ungerechte« und »was geboten ist, nicht zu tun«, fallen zusammen. Denn »das, was notwendig ist, nicht getan zu werden« und das »Unmögliche« fallen zusammen. Es fallen nämlich auch »keiner« und »jeder nicht« zusammen. Warum dies ? Weil »keiner« »nicht einer« bedeutet. »Jeder« heißt »nicht irgendeiner nicht«. Folglich bedeutet »jeder nicht« soviel wie »nicht irgendeiner nicht nicht«. Es heben sich diese beiden letzten »nicht« gegenseitig auf, und übrig bleibt »nicht irgendeiner«. Alles, dessen Unterlassung ungerecht ist, ist geboten. Und: Alles Gebotene ist zu unterlassen ungerecht. Nach demselben Argument, weil »keiner nicht« und »jeder« zusammenfallen. Das, dessen Unterlassung unterlaßbar ist, ist gerecht. Und: Alles, was gerecht ist, dessen Unterlassung ist unterlaßbar. Denn »nicht irgendeiner nicht« und »jeder« fallen zusammen. Das, dessen Unterlassung nicht unterlaßbar ist, ist ungerecht. Und: Das, was ungerecht ist, dessen Unterlassung ist nicht unterlaßbar. Denn »nicht irgendeiner nicht nicht« bedeutet »jeder nicht«. »Jeder nicht« fällt zusammen mit »keinem«.

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Omne debitum est justum. Qvia omne necessarium est possibile. Nam semper, si omnis est, etiam qvidam est. Si enim Omnis est, non qvidam non est seu qvidam non non est. Ergo qvidam est. Omne injustum est omissibile indebitum. Qvia omne injustum est debitum omitti, th. –, et omne debitum omitti justè omittitur (omne enim debitum justum est, th. praec.). Omne ergo injustum est omissibile viro bono, seu indebitum. Haec in specimen Logicae tum Simplicis, tum Modalis ad Iurisprudentiam applicatae, nam de caetero nullum est theorema Logicum in doctrina conversionum, oppositionum, imò et figurarum modorumqve, qvod non aliqvo theoremate Iuridico investiri qveat. Modò ut ostendi justo possibile, et qvidam, injusto impossibile, et nullus; debito, necessarium et omnis; omissibili contingens, et qvidam non, substituantur. Qvod in universum admonuisse suffecerit. Si qvis putat hoc se ponte asinorum carere posse, uti possunt certè ingenia, sciat etiam sua interesse fundamenta humanae ratiocinationis contra omnes scepticorum insultus communita ac demonstrata extare. Qvâ necessaria superfluitate etiam brevissimi alioqvin geometrae carere noluerunt, nam qvis non videt duas rectas non posse spatium comprehendere, non posse habere nisi punctum commune, et tamen haec etiam pueris obvia ab Euclide tam operosè demonstrantur, non ut cognosceremus haec, sed ut

5 omissibile ] ergänzt nach A VI 2, 529 18 ingenia ] korrigiert aus ingenio nach A VI 2, 529

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Alles Gebotene ist auch gerecht. Denn alles Notwendige ist möglich. Immer nämlich, wenn es »jeder« heißt, meint es auch »irgend jemand«. Denn wenn es »jeder« heißt, meint es auch »nicht irgendeiner nicht« oder »irgendeiner«. Folglich heißt es »irgendeiner«. Alles Ungerechte ist auch unterlaßbar und ungeboten. Denn alles Ungerechte ist zu unterlassen geboten, nach dem vorigen Lehrsatz; und alles, was zu unterlassen geboten ist, wird zu Recht unterlassen (alles Gebotene ist nämlich auch gerecht, nach dem vorigen Lehrsatz). Folglich ist für einen guten Menschen alles Ungerechte unterlaßbar oder ungeboten. So weit eine Musterprobe der Logik, teils der einfachen, teils der Modallogik, auf die Jurisprudenz angewandt. Von allem, was darüber hinausgeht, gibt es nämlich keinen logischen Lehrsatz in der Lehre von den Vertauschungen und Entgegensetzungen, ja auch nicht in der Lehre von den Schlußfiguren und Schlußmodi, der nicht durch irgendeinen juristischen Lehrsatz eingekleidet werden könnte. Wie ich gezeigt habe, braucht man lediglich für das Gerechte »möglich« und »irgend jemand« einzusetzen, für das Ungerechte »unmöglich« und »keiner«, für das Gebotene »notwendig« und »jeder«, sowie für das Unterlaßbare »zufällig« und »irgend jemand nicht«. Dies mag genügen, um einen Wink im allgemeinen zu geben. Wenn jemand meint, daß er für sich dieser Eselsbrücke nicht bedürfe, wie es sich die Genies ganz gewiß leisten können, so möge er wissen, von welcher Wichtigkeit es sogar für ihn selbst ist, daß sich die Grundfesten des menschlichen Schlußfolgerns als fest verschanzt und gesichert gegen alle Angriffe der Skeptizisten erweisen. Auf diese notwendige Überflüssigkeit wollen übrigens auch die Geometer, die doch besonders kurz und bündig schreiben, nicht verzichten. Denn wer sieht nicht, daß zwei Geraden keinen Raum umschließen können, daß sie nicht mehr als nur einen Punkt gemeinsam haben können ? Und doch sind diese Dinge, die selbst Kindern einleuchten, von Euklid mit so kunstreicher Anstrengung bewiesen worden, nicht damit wir sie kennenlernen,

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sciremus: nihil enim hîc novi est praeter ipsam firmitatem. Utilis etiam haec admonitio est ad philosophos, ne qvam propositionem nisi demonstratam, sub clarae et per se notae fallaci Schemate transmittant; cum videant, haec axiomata tam aperta, tam recepta ac perpetuo cogitandi loqvendiqve usu trita, posse tamen, ac proinde etiam debere demonstrari.

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Theoremata qvibus combinantur Iuris Modalia Modalibus Logicis seu justum cum possibili. Omne justum possibile est. Qvia justum est possibile viro bono, per def. Ergo alicui. Alicui possibile est simpliciter: possibile, qvia possibile est, qvod aliqvo casu posito est. Ergo omne justum possibile est. Ergo Qvicqvid est impossibile, id injustum est, conversione per contrapositionem theorematis praecedentis. Seu ad impossibilia jus nullum est. Hinc res impossibiles non sunt in commercio et nec promitti, nec alienari nec relinqvi possunt. Sed an et qvousqve aestimatio earum iniri possit, praestariqve debeat, alterius loci est. Notandum est posse qvidem colligi: omne justum possibile est, qvia justum definitur possibile viro bono. Sed non posse dici: omne injustum impossibile est, etsi injustum definiatur impossibile viro bono. Ratio discriminis est, qvod alicui possibile, est simpliciter: possibile. Possibile enim in

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sondern damit wir es wissend verstehen; denn hier gibt es nichts Neues außer der Beweiskraft selbst. Sogar für die Philosophen ist dieser Hinweis von Nutzen, damit sie nicht unter der trügerischen Form einer klaren und selbstverständlichen Aussage irgendeine Behauptung unbewiesen durchgehen lassen. Denn auf diese Weise sehen sie, daß so offenkundige, so abgegriffene und durch ständige Denk- und Sprechgewohnheit eingeschliffene Axiome dennoch bewiesen werden können und ebenso auch müssen.

(II.1a) Lehrsätze, in denen die juridischen Modalbegriffe mit den logischen, d. h. die Fälle des Gerechten mit denen des Möglichen verknüpft werden Alles Gerechte ist möglich. Denn »gerecht« heißt laut Definition »was einem guten Menschen möglich ist«, folglich »irgend jemandem«. »Irgend jemandem möglich« bedeutet »schlechthin möglich«; denn »möglich« heißt »was in irgend einem gegebenen Falle geschieht«. Also ist alles Gerechte auch möglich. Folglich gilt: Alles, was unmöglich ist, ist ungerecht, durch verneinende Vertauschung der Begriffe des vorhergehenden Lehrsatzes. D. h. auf Unmögliches gibt es kein Recht. Hieraus ergibt sich, daß unmögliche Dinge nicht im Handel sind und weder angeboten noch veräußert noch übereignet werden können. Ob und inwieweit aber ihre Wertschätzung vorgenommen werden kann und verbürgt werden muß, gehört an einen anderen Ort. Bemerkenswert ist, daß man zwar schlußfolgern kann »alles Gerechte ist möglich«, weil das Gerechte als das einem guten Menschen Mögliche definiert ist, daß man aber nicht sagen kann »alles Ungerechte ist unmöglich«, auch wenn das Ungerechte als dasjenige definiert ist, was einem guten Menschen unmöglich ist. Der Grund für diesen Unterschied ist folgender. Was »irgend jemandem möglich« ist, ist »schlechthin möglich«. Denn das »Mögliche« hat bei den Modalbegriffen

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modis habet se ut qvidam in signis. Sed non alicui impossibile est simpliciter impossibile. Impossibile enim in modis aeqvipollet signo universali: nullus. Omne debitum possibile est, qvia omne debitum justum, th. – c. praeced. omne justum possibile, th. – hîc. Omne impossibile indebitum seu omissibile est viro bono, convers. per contrap. th. praeced. Omne necessarium debitum est, qvia simpliciter necessarium est necessarium viro bono. Necessarium enim est, qvod omni casu existit, ergo et in praesenti. Non seqvitur: omne debitum necessarium est, eandem ob rationem qva ostendimus non omne injustum esse impossibile. Omne indebitum nec necessarium est, sed contingens seu omissibile, convers. per contrap. th. praec. Omne necessarium justum est, qvia omne necessarium est debitum, th. – hîc, omne debitum est justum, th. – cap. praeced. Qvicqvid injustum est, id nec necessarium est, sed contingens, convers. per contrap. th. praeced.

6 omne ] korrigiert aus Omne und eingerückt nach A VI 2, 529

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denselben Stellenwert wie »irgend jemand« bei den Beweisen. »Irgend jemandem unmöglich« ist aber noch nicht »schlechthin unmöglich«. Denn der Modalbegriff des »Unmöglichen« entspricht dem allgemeingültigen Quantor »keiner«. Alles Gebotene ist möglich. Denn alles Gebotene ist gerecht, nach dem Lehrsatz des vorangehenden Kapitels; und: alles Gerechte ist möglich, nach dem obengenannten Lehrsatz dieses Kapitels. Alles Unmögliche ist ungeboten,¹⁸³ d. h. unterlaßbar für einen guten Menschen, durch verneinende Vertauschung der Begriffe des vorangehenden Lehrsatzes. Alles Notwendige ist geboten. Denn »schlechthin notwendig« heißt »notwendig für einen guten Menschen«. Notwendig ist nämlich, was in jedem Falle geschieht, folglich auch im gegenwärtigen. Es folgt aber nicht etwa umgekehrt »alles Gebotene ist notwendig«, nach derselben Begründung, in der wir gezeigt haben, daß nicht alles Ungerechte auch unmöglich ist. Alles Ungebotene ist auch nicht notwendig, sondern bloß zufällig oder unterlaßbar, durch verneinende Vertauschung der Begriffe des vorangehenden Lehrsatzes. Alles Notwendige ist gerecht. Denn alles Notwendige ist geboten, nach dem Lehrsatz dieses Kapitels; und: alles Gebotene ist gerecht, nach dem Lehrsatz des vorangehenden Kapitels. Alles, was ungerecht ist, ist auch nicht notwendig, sondern zufällig, durch verneinende Vertauschung der Begriffe des vorangehenden Lehrsatzes.

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[ Theoremata qvibus combinentur justum cum existente ] Actus facilius est justus qvàm injustus. Item Actus praesumitur justus. Qvia facilius evenit aliqvid possibile qvàm impossibile esse. Nam ad possibile nihil reqviritur qvàm ut supponatur; ad impossibile verò ut dum supponatur, eius simul oppositum supponatur. Plura ergo reqviruntur ad impossibile qvàm possibile. Ergo facilius est actum esse justum qvàm injustum. Imò reqvisita seu supposita possibilis in impossibilis suppositis continentur, non contra. Praesumitur autem cuius supposita etiam oppositi supposita sunt, non contra. Praesumi igitur est qvodammodo praesupponi opposito suo, natura prius esse. Ergo Actus praesumitur justus. Actus est facilius indebitus qvàm debitus. Imò actus praesumitur indebitus. Qvia omne indebitum est justum. Omne debitum est injustum omitti, th. –, jam justum facilius est injusto, imò praesumitur. Ergo indebitum facilius debito: imò praesumitur. Actus facilius est indebitus qvàm debitus. Indebitum enim est qvod justè omittitur, debitum qvod injustè, vid. sup. th. – –. Iam justum est facilius injusto; th. – praeced. Hinc apparet praesumtionem esse pro libertate, pro licentia, pro indifferentia. Contra servitutem, obligationem, determinatio-

1 [Überschrift ] ] von Leibniz später gestrichen

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(II.1b) Lehrsätze, in denen das Gerechte mit dem Existierenden verknüpft wird Eine Handlung ist eher gerecht als ungerecht.¹⁸⁴ Das bedeutet: Eine Handlung wird im voraus als gerecht angenommen. Denn es geschieht eher, daß etwas möglich ist, als daß etwas unmöglich ist. Für Mögliches wird nämlich nichts anderes erfordert, als daß es zugrundegelegt wird; für Unmögliches aber, daß, während es zugrundegelegt wird, zugleich sein Gegenteil zugrunde gelegt wird. Also wird mehr für das Unmögliche als für das Mögliche erfordert. Folglich geschieht es eher, daß eine Handlung gerecht ist, als daß sie ungerecht ist. Ja, vielmehr sind die erforderlichen Bedingungen, d. h. die Grundlagen des Möglichen, in den Grundlagen des Unmöglichen enthalten, nicht jedoch umgekehrt. Im voraus angenommen aber wird das, dessen Grundlagen auch die Grundlagen des Entgegengesetzten sind, nicht aber umgekehrt. Im voraus angenommen werden heißt also, auf gewisse Weise seinem Gegenteil im voraus mit zugrundegelegt werden, der Natur nach das Frühere sein. Folglich wird die Handlung im voraus als gerecht angenommen. Eine Handlung ist eher ungeboten als geboten. Eine Handlung wird vielmehr im voraus als ungeboten angenommen. Denn alles Ungebotene ist gerecht. Alles Gebotene ist zu unterlassen ungerecht, nach unserem Lehrsatz. Nun ist aber eher Gerechtes als Ungerechtes, ja es wird im voraus als ein solches angenommen. Folglich ist eher Ungebotenes als Gebotenes, ja es wird im voraus als ein solches angenommen. Eine Handlung ist eher ungeboten als geboten. Ungeboten ist nämlich, was zu Recht unterlassen wird, geboten aber, was zu Unrecht unterlassen wird; siehe obigen Lehrsatz. Nun ist aber eher Gerechtes als Ungerechtes, nach obigem Lehrsatz. Hieraus erhellt, daß die Vorannahme zugunsten der Freiheit, der Erlaubnis und der Offenheit geschieht; gegen die Knechtschaft,

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nem. Praesumtio est pro minore, pro negante, pro possibilitate, pro duratione; contra maius, contra id qvod facti est, contra difficultatem, contra mutationem. Sed haec rectè capienda sunt ne cum probabilistis qvibusdam in abusum torqveantur. Neqve enim statim faciliora, probabiliora, praesumenda; etiam seqvenda sunt, id est in agendo pro certis habenda à prudente. Ecce enim potest aliqvid esse probabilissimum, et tamen si succedat parum fructuosum, si frustretur valde damnosum. Hoc certè nemo prudens suscipiet. Contra potest aliqvid esse si succedat valde fructuosum, si irritum sit parum damnosum; hîc certè nulla in audacia temeritas erit. Tum demum ergo probabilia seqvenda sunt, cum major est ratio probabilitatum qvàm effectuum reciprocè, seu si plus probabilior est actus A qvàm B qvàm melior est effectus B qvàm A. Seu si factus ex ductu probabilitatis in bonitatem major est ab A, qvàm B. Fac ab A probabilitatem esse ut 5, bonitatem ut 4. Factus erit 20. à B probabilitatem esse ut 6, bonitatem ut 3, factus erit 18. Erit ergo A seqvendum potius qvàm B, etsi minus probabile. Hinc minimum peccandi periculum maximo etiam commodo proposito vitabit vir bonus, imò et sapiens (nam ut suo loco demonstrabitur, omnis sapiens est vir bonus, qvanqvam non solus), neqve enim maius malum ei evenire

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probabilistis ] korrigiert aus probalistis nach A VI 2, 536 probabiliora, ] korrigiert aus probabiliora nach A VI 2, 529 suscipiet ] korrigiert aus suspiciet nach A VI 2, 529 in ] ergänzt nach A VI 2, 529

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die Verpflichtung und die Festgelegtheit. Die Vorannahme erfolgt zugunsten des kleineren Risikos und der bescheidenen Zurückhaltung, zugunsten des Machbaren und Bewährten; sie fällt aus gegen das Großspurige und Aufwendige, gegen Wagnis und Veränderung. Aber dies muß man richtig verstehen, damit es nicht im Sinne irgendwelcher Probabilisten mißbräuchlich verdreht wird. Denn das eher Eintretende, das Wahrscheinlichere und das im voraus Anzunehmende ist nicht immer sogleich auch dasjenige, das zu verfolgen, d. h. beim Handeln von einem klugen Menschen für gewiß zu halten ist. Denn, man sehe nur, etwas kann höchst wahrscheinlich sein und dennoch nicht sonderlich fruchtbar, wenn es glückt, aber sehr schädlich, wenn es fehlschlägt. Dies wird gewiß kein einsichtiger Mensch in Kauf nehmen. Umgekehrt kann etwas sehr fruchtbar sein, wenn es glückt, aber nicht sonderlich schädlich, wenn es fehlschlägt. In diesem Falle wird es gewiß keine Unbesonnenheit geben, die auf Waghalsigkeit hinausläuft. Folglich ist erst dann das Wahrscheinliche zu verfolgen, wenn das Verhältnis der Erfolgswahrscheinlichkeit der Handlungen größer ist als das umgekehrte Verhältnis ihrer Wirkungen, d. h. wenn die Handlung A viel eher glückt als die Handlung B, obwohl die Wirkung von B besser wäre als die von A; oder, anders gesagt, wenn das Produkt, das aus Wahrscheinlichkeit und Fruchtbarkeit gebildet wird, bei A größer ist als bei B. Gesetzt den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit von Handlung A gleich 5 ist und ihre Fruchtbarkeit gleich 4, so wird das Produkt 20 betragen. Wenn nun die Wahrscheinlichkeit von Handlung B gleich 6 ist und ihre Fruchtbarkeit gleich 3, wird das Produkt lediglich 18 betragen. Folglich wird eher die Handlung A zu verfolgen sein als die Handlung B, auch wenn sie weniger wahrscheinlich ist. Daher wird ein guter Mensch schon die geringste Gefahr der Verfehlung vermeiden, auch wenn ihm der größte Gewinn in Aussicht stünde. Um wie viel mehr wird sie ein Weiser meiden (denn, wie an entsprechender Stelle bewiesen werden wird, ist jeder weise Mensch ein guter Mensch, obwohl nicht nur er allein).

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potest, qvàm ut vir bonus esse desinat. Restat discrimina Facilis, probabilis, praesumendi explicemus. Facilius est qvod est per se intelligibilius, seu qvod pauciora reqvirit. Probabile est, qvod est absolutè intelligibilius seu, qvod idem est, possibilius. Unde ad probabilitatem reqviritur non tantùm facilitas existendi, sed et facilitas coexistendi caeteris impraesentiarum. Ideò generatim definiri nihil potuit de probabilitate, constat enim probabilitas ex collectione omnium circumstantiarum: non potest ergo indefinitè asseri actum probabilius videri justum qvàm injustum. Facilius autem et praesumendum differunt ut Minus et pars. Facilius enim est in qvo minora vel pauciora qvàm in opposito reqviruntur, praesumendum cuius reqvisita reqvisitorum oppositi pars sunt. Omne ergo praesumendum est facilius, non contra. Qvia etiam omnis pars est minor toto, non omne minus est pars majoris. Sed de his exqvisitius alio loco. Omne justum intelligitur aliqvo casu in amante omnes (scilicet si solum supponatur, aut saltem sine circumstantiis obstantibus. Circumstantiae enim sunt accidentia actus, pot-

11 f. reqviruntur, praesumendum ] ergänzt nach A VI 2, 529

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Es kann ihm nämlich kein größeres Übel zustoßen, als daß er aufhört, ein guter Mensch zu sein. Es bleibt noch übrig, die Unterscheidungskriterien zu erläutern zwischen dem, was eher eintritt, dem, was wahrscheinlich ist, und dem, was im voraus anzunehmen ist. Was eher eintritt, ist das, was in stärkerem Maße selbstverständlich ist, d. h. was weniger Bedingungen erfordert. Wahrscheinlich ist dasjenige, was überhaupt in stärkerem Maße verständlich ist oder, was dasselbe ist, in stärkerem Maße möglich ist. Daher wird für die Wahrscheinlichkeit einer Sache nicht nur erfordert, daß sie eher existiert, sondern auch, daß sie eher mit den übrigen Gegebenheiten koexistiert. Deswegen konnte die Erfolgswahrscheinlichkeit jener Handlung nicht näher bestimmt werden, denn die Wahrscheinlichkeit besteht in der Zusammenrechnung aller Umstände: Folglich kann nicht ohne nähere Bestimmung ausgemacht werden, ob die Handlung wahrscheinlicher nach einer gerechten als einer ungerechten aussieht. Das aber, was eher eintritt, und das, was im voraus anzunehmen ist, unterscheiden sich wie das Kleinere und der Teil. Das, was eher eintritt, ist nämlich dasjenige, in dem kleinere oder weniger Dinge erfordert werden als in seinem Gegenteil; das im voraus Anzunehmende ist dasjenige, dessen Bedingungen nur einen Teil der Bedingungen seines Gegenteils ausmachen. Alles im voraus Anzunehmende ist folglich etwas, das eher eintritt, nicht aber umgekehrt. Denn auch jeder Teil ist kleiner als das Ganze, nicht jedes Kleinere aber Teil eines Größeren. Doch diese Probleme seien anderenorts sorgfältiger behandelt.

[(II.2a) Lehrsätze, in denen die juridischen Modalbegriffe mit dem »guten Menschen« verknüpft werden]¹⁸⁵ Alles Gerechte läßt sich in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen,¹⁸⁶ (wenn es nämlich isoliert zugrundegelegt wird oder zumindest ohne hinderliche Begleitumstände. Denn die Umstände sind die Akzidenzien einer Handlung; deshalb

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est ergo actus supponi sine illis, etsi non in universum sine ullis). Omne enim justum possibilis est actus viro bono. Vir bonus et qvi amat omnes coincidunt. Possibile est qvod aliqvo casu est. Ergo justum et aliqvis actus amantis omnes coincidunt. Actus voce etiam omissionem comprehendo. Qvicqvid non intelligitur in amante omnes aliqvo casu, nec justum est, convers. per contrap. th. praeced. Qvicqvid aliqvo casu in amante omnes intelligitur id justum est, coincidunt enim, per dem. th. –. Qvicqvid justum non est, nec aliqvo casu intelligitur in amante omnes, seu Nullum injustum aliqvo casu intelligitur in amante omnes. Qvae de justo, eadem de debito demonstrari possunt, qvia omne debitum justum est, th. –. Exempli causa: Nullum debitum non aliqvo casu intelligitur in amante omnes. Sed hoc amplius. Omne debitum omni casu intelligitur in amante omnes. Omni casu, id est qvalemcumqve eum supponas, non ideò statim omni tempore. Probatio theorematis haec est. Qvia debitum et necessarium viro bono, necessarium et qvod omni casu intelligitur, definita scilicet et definitiones, coincidunt. Qvicqvid non intelligitur omni casu in amante omnes, nec debitum est, seu qvicqvid aliqvo casu non intelligitur in amante om-

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kann eine Handlung zugrundegelegt werden ohne jene Umstände, wenn sie auch im ganzen nicht ohne irgendwelche Umstände sein kann). Alles Gerechte nämlich ist eine mögliche Handlung für den guten Menschen. Der »gute Mensch« bedeutet dasselbe wie »wer alle liebt«. »Möglich« heißt »was in irgendeinem Falle geschieht«. Folglich fallen »das Gerechte« und »irgendeine Handlung dessen, der alle liebt« zusammen. Im Begriff »Handlung« ist auch »Unterlassung« mit einzubegreifen. Alles, was sich nicht in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen läßt, ist auch nicht gerecht; durch verneinende Vertauschung der Begriffe des vorhergehenden Lehrsatzes. Alles, was sich in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen läßt, das ist gerecht; denn beides fällt zusammen, gemäß dem Beweis des Lehrsatzes. Alles, was nicht gerecht ist, das läßt sich auch nicht in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen. D. h.: Nichts Ungerechtes läßt sich in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen. Dieselben Verhältnisse wie beim »Gerechten« können auch beim »Gebotenen« bewiesen werden, denn alles Gebotene ist gerecht, gemäß den früheren Lehrsätzen – z. B.: Nichts Gebotenes läßt sich nicht in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen. Doch geben wir noch weitere Beispiele. Alles Gebotene läßt sich in jedem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen. »In jedem Falle« bedeutet »wie auch immer geartet man diesen Fall zugrundelegt«; deswegen bedeutet es nicht sogleich »zu jedem Zeitpunkt«. Der Beweis dieses Theorems besteht darin, daß jeweils die definierten und die definierenden Begriffe, nämlich »das Gebotene« und »das für einen guten Menschen Notwendige«, aber auch »das Notwendige« und »das, was sich in jedem Falle einsehen läßt« zusammenfallen. Alles, was sich nicht in jedem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen läßt, ist auch nicht geboten. D. h.: Alles, was sich nicht

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nes, id omissibile seu indebitum est, convers. per contrap. th. praeced. Qvicqvid omni casu intelligitur in amante omnes, est debitum; convers. simpl. th. –, qvia debitum et necessarium viro bono, necessarium et quod omni casu intelligitur, definita et definitiones scilicet coincidunt. Iam in coincidentibus locus est conversioni simplici. Qvicqvid non est debitum nec intelligitur omni casu in amante omnes seu Qvicqvid omissibile est, id aliqvo casu non intelligitur in amante omnes. Hinc apparet, justo legem positam non esse; si sola caritas adsit, nullum scelus committi posse, aut si qvid committatur desinere scelus esse: qvin imò qvi Caritatem habeat esse impeccabilem, ultra omnes gloriationes sapientis Stoicorum. Adde caritate seu contritione expiari hominem, peccata deleri: caritate simul et poenitentiam et satisfactionem contineri, caritatem ergo purgatorium parare sibi. Caritati fidem inesse, caritate imitari nos DEUM , caritate uniri DEO, caritate beari. De qvibus suo loco. Intelligi dicitur, qvod in re locum habet, qvod in rem cadit, qvod possibile est, qvod ex hypothesi verum est. Usitata etiam IC tis Romanis acceptione profundissima utiqve et ex natura rerum sumta. Possibile enim dicimus qvicqvid clarè distincteqve intel-

3 Qvicqvid omni ] korrigiert aus Qvicqvid est omni nach A VI 2, 529 3 casu intelligitur ] korrigiert aus casu, intelligitur nach A VI 2, 529 12 caritas ] korrigiert aus acritas nach A VI 2, 529

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in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen läßt, das ist unterlaßbar und somit ungeboten, gemäß der verneinenden Vertauschung der Begriffe des vorhergehenden Lehrsatzes. Alles, was sich in jedem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen läßt, ist geboten, gemäß der einfachen Vertauschung der Begriffe des Lehrsatzes, insofern jeweils die definierten und die definierenden Begriffe, nämlich »das Gebotene« und »das für den guten Menschen Notwendige«, aber auch »das Notwendige« und »das, was sich in jedem Falle einsehen läßt« zusammenfallen. Nun findet aber bei deckungsgleichen Begriffen eine einfache Vertauschung der Termini statt. Alles, was nicht geboten ist, läßt sich auch nicht in jedem Falle an »dem, der alle liebt« einsehen. D. h.: Alles, was unterlaßbar ist, das läßt sich in irgendeinem Falle an »dem, der alle liebt« nicht einsehen. Hieraus erhellt, daß es für das Gerechte kein vorgegebenes Gesetz gibt; daß, wenn allein die Liebe zugegen ist, kein Verbrechen begangen werden kann; bzw. daß es, wenn es begangen worden ist, aufhört, ein Verbrechen zu sein; ja sogar dies, daß noch weit über alle Verklärungen des Weisen durch die Stoiker hinaus sündenfrei ist, wem die Liebe innewohnt. Es bleibt hinzuzufügen, daß durch Liebe, d. h. vollkommene Reue, der Mensch sich entsühnt und seine Sünden getilgt werden; daß in der Liebe sowohl die Bestrafung als auch die Wiedergutmachung enthalten ist; daß folglich die Liebe den Sünder durchs Fegefeuer schickt; daß der Liebe der Glaube innewohnt; daß wir in der Liebe Gott nachfolgen, durch Liebe uns mit Gott vereinigen und durch Liebe beglückt werden. Davon an geeigneter Stelle mehr.¹⁸⁷ Man sagt, daß »eingesehen« wird, was bei einer Sache stattfindet, was zu einer Sache gehört, was möglich ist und was gemäß einer Hypothese als wahr gilt. Diese Bestimmungen waren bei den römischen Rechtsgelehrten aufgrund eines gewiß außerordentlich tiefen Verständnisses gebräuchlich und aus der Natur der Dinge geschöpft. Möglich nennen wir nämlich all dasjenige, was auf

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ligitur, nullum est aliud generi humano êñéôÞñéïí possibilitatis (de qvo alibi) praeter existentiam ipsam.

Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) ab amante. Qvod non fit (fit) ab amante, injustè (indebitè) fit (non fit). Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) ob voluptatem. Qvod non fit (fit) ob voluptatem, injustè (indebitè) fit (non fit).

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klare und deutliche Weise eingesehen wird.¹⁸⁸ Für uns Menschen gibt es kein anderes Kriterium zur Erkenntnis der Möglichkeit außer der Existenz selbst (darüber anderenorts).

[(II.2b) Lehrsätze, in denen die juridischen Modalbegriffe mit den Zusammensetzungen des »guten Menschen« verknüpft werden]¹⁸⁹ Was zu Recht getan wird, das wird auch vom Liebenden getan.¹⁹⁰ (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch vom Liebenden unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch vom Liebenden getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch vom Liebenden unterlassen.) Was vom Liebenden unterlassen wird, wird zu Unrecht getan. (Was vom Liebenden getan wird, wird zu Unrecht unterlassen.) Was vom Liebenden unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was vom Liebenden getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.) Was zu Recht getan wird, das wird auch für die Lust getan. (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch für die Lust unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch für die Lust getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch für die Lust unterlassen.) Was für die Lust unterlassen wird, das wird zu Unrecht getan. (Was für die Lust getan wird, das wird zu Unrecht unterlassen.) Was für die Lust unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was für die Lust getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.)

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Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) ob harmoniam. Qvod non fit (fit) ob harmoniam, injustè (indebitè) fit (non fit). Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) ob bonum facientis. Qvod non fit (fit) ob bonum facientis, injustè (indebitè) fit (non fit).

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Was zu Recht getan wird, das wird auch für die Harmonie getan. (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch für die Harmonie unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch für die Harmonie getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch für die Harmonie unterlassen.) Was für die Harmonie unterlassen wird, das wird zu Unrecht getan. (Was für die Harmonie getan wird, das wird zu Unrecht unterlassen.) Was für die Harmonie unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was für die Harmonie getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.) Was zu Recht getan wird, das wird auch für das Wohl des Handelnden getan. (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch für das Wohl des Handelnden unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch für das Wohl des Handelnden getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch für das Wohl des Handelnden unterlassen.) Was für das Wohl des Handelnden unterlassen wird, das wird zu Unrecht getan. (Was für das Wohl des Handelnden getan wird, das wird zu Unrecht unterlassen.) Was für das Wohl des Handelnden unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was für das Wohl des Handelnden getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.)

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Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) à volente. Qvod non fit (fit) à volente, injustè (indebitè) fit (non fit). Qvod justè (debitè) fit (non fit), id fit (non fit) à sciente. Qvod non fit (fit) à sciente, injustè (indebitè) fit (non fit). Omne justum amanti cuidam (cuidam scilicet, posset enim evenire ut circumstantia aliqva amoris justitiae contraria sit) possibile est. Omne injustum amanti cuidam impossibile est. Qvicqvid nulli amanti possibile est, injustum est. Qvicqvid omni amanti necessarium est, debitum est.

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Was zu Recht getan wird, das wird auch willentlich getan. (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch willentlich unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch willentlich getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch willentlich unterlassen.) Was willentlich unterlassen wird, das wird zu Unrecht getan. (Was willentlich getan wird, das wird zu Unrecht unterlassen.) Was willentlich unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was willentlich getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.) Was zu Recht getan wird, das wird auch wissentlich getan. (Was zu Recht unterlassen wird, das wird auch wissentlich unterlassen.) Was gebotenermaßen getan wird, das wird auch wissentlich getan. (Was gebotenermaßen unterlassen wird, das wird auch wissentlich unterlassen.) Was wissentlich unterlassen wird, das wird zu Unrecht getan. (Was wissentlich getan wird, das wird zu Unrecht unterlassen.) Was wissentlich unterlassen wird, das wird nicht gebotenermaßen getan. (Was wissentlich getan wird, das wird nicht gebotenermaßen unterlassen.) Alles Gerechte ist irgendeinem Liebenden möglich (irgendeinem natürlich, denn es könnte geschehen, daß irgendwelche Umstände der Liebe der Gerechtigkeit zuwiderlaufen). Alles Ungerechte ist irgendeinem Liebenden unmöglich. Alles, was keinem Liebenden möglich ist, ist ungerecht. Alles, was für jeden Liebenden notwendig ist, ist geboten.

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Omne debitum amanti cuidam necessarium est. Qvicqvid non cuidam (nulli) amanti necessarium est, indebitum est. Qvicqvid voluptatem qvaerenti impossibile (necessarium) est, injustum ac proinde et omissibile (debitum ac proinde et licitum) est. Qvicqvid harmoniam qvaerenti etc. Qvicqvid bonum proprium qvaerenti etc. Qvicqvid voluntatem habenti etc. Qvicqvid cogitatione praedito etc. Qvicqvid felicitatem alicuius delectabilem sentienti etc. Qvicqvid felicitatem alicuius harmonicam sentienti etc. Qvicqvid felicitatem alicuius pro bono proprio habenti seu volenti etc. Qvicqvid felicitatem alicuius cogitanti etc. Qvicqvid statum alicuius optimum etc. Qvicqvid maximè bonum appetendum à pernoscente etc. Est ergo Amans, || qvi identitatem diversitate pensantem || cum conatu cogitat || (cui coeptum est || mutatione sui mutare || aliqvid || ut cogitet cum conatu || si nôrit qvid res agere aut pati possit) in multitudine || non qvorundam non || (singulorum nempe etc.) || qvae possunt || et non possunt || cogitari in eodem; || eâqve tali, ut pars ejus aliis totis sit aeqvalis; || qvatenus ei qvi clarè sentit, ||

22 qvae possunt || et ] korrigiert aus qvae possunt et nach A VI 2, 529

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Alles Gebotene ist für irgendeinen Liebenden notwendig. Alles, was für nicht irgendeinen (für keinen) Liebenden notwendig ist, ist nicht geboten. Alles, was für jemanden, der nach Lust strebt, unmöglich ist, ist ungerecht und demnach auch unterlaßbar. (Was für ihn notwendig ist, ist geboten und demnach auch erlaubt.) Alles, was für jemanden, der nach Harmonie strebt, unmöglich ist, [ist ungerecht und demnach auch unterlaßbar usw.] Alles, was für jemanden, der nach seinem eigenen Wohl strebt, … Alles, was für jemanden, der einen Willen hat, … Alles, was für jemanden, der zum Denken befähigt ist, … Alles, was für jemanden, der irgend jemandes Glück als erfreulich empfindet, … Alles, was für jemanden, der irgend jemandes Glück als harmonisch empfindet, … Alles, was für jemanden, der irgend jemandes Glück für sein eigenes Wohl hält oder es bejaht, … Alles, was für jemanden, der auf irgend jemandes Glück bedacht ist, … Alles, was für jemanden, der auf irgend jemandes Bestzustand bedacht ist, … Alles, was für jemandem, der gründlich das im höchsten Grade anzustrebende Gut kennt, … Es ist folglich ein Liebender¹⁹¹//, wer auf die durch Verschiedenheit sich ausgleichende Einheit // strebend bedacht ist // (von dem begonnen worden ist //, durch eine Selbstveränderung verändernd zu wirken // auf ein Etwas //, so daß er es strebend bedenkt, wenn er weiß, was die Sache bewirken und aushalten kann) in bezug auf die Vielheit aller Akzidenzien //, ohne daß irgendwelche ausgenommen sind // (d. h. der einzelnen, nämlich »dieses«, »jenes« usw.) // die entweder sehr wohl // oder auch nicht // ein und derselben Sache zugedacht werden; // wobei diese Vielheit so beschaffen ist, daß schon ein Teil von ihr allen anderen zusammen gleichwertig ist; // sofern von ihm, der auf klare Weise in sein Bewußtsein

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qvid res mutare mutata, et qvousqve mutari mutando || possit || cogitabitur cum conatu || seu harmonia. || Qvis in hac descriptione obsecro agnoscat amantem ? Ecce igitur usum vocabulorum ad nervosam compendiositatem, ad memoriam, imò qvodammodò lucem, saltem attentionem. Qvi has descriptiones ex abrupto daret, ei similis esset qvi mille scripturus compleret totidem punctis chartam; et ita mihi legendum porrigeret, qvo nihil qvidem per se clarius, id est natura seu DEO, qvi uno obtutu complecti potest infinita, nihil tamen primo obtuto molestius, imò confusius intuenti, qvales nos sumus. Ut igitur sine nominibus numeralibus ita sine caeteris qvoqve, aut certè aliis eorum loco signis, ordinis luce reminiscentiaeqve compendio cogitationes nostrae carerent. Caeterum hinc patet qvod possint esse genera seu praedicata viri boni latiora viro bono. Nimirum ultra 30 simplices, et qvot sunt complicationes, seu combinationes, conternationes, etc. de 30. Qvi idem est numerus cum termino progressionis geometricae duplae, cuius exponens est 30, ut ex nostra Combinatoria patet. Qvi numerus est incredibilis et par Archimedaeo. Et tamen si porro hi termini omnes ad exemplum septem corollariorum justo, injusto, debito, indebito applicentur, seu multiplicentur per 7, aestimari potest qvàm immanis multitudo prodeat propositionum cui percensendae propemodum aeternitas necessaria est. Et tamen

23 percensendae ] korrigiert aus percepsendae nach A VI 2, 529

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aufnimmt, // was die veränderte Sache noch verändern und inwieweit sie durch Verändern verändert werden // kann //, dies mit Streben bedenken wird, // d. h. mit Harmonie.¹⁹² Wer erkennt um Himmels willen in dieser Aufgliederung den Liebenden wieder ? Man sehe nur also den Nutzen der Bezeichnungen für die kraftvolle Abgekürztheit, für das Gedächtnis, ja gewissermaßen sogar für die Geisteshelle, zumindest aber für die Aufmerksamkeit ! Wer diese Aufgliederungen ohne Erläuterung von sich geben würde, ähnelte demjenigen, der die Zahl 1000 aufschreiben wollte und ein Blatt Papier mit ebensovielen Punkten anfüllen würde; und reichte er es mir auf diese Weise zu lesen, so gäbe es zwar nichts an sich Klareres, d. h. der Natur nach oder für Gott, der das Unendliche auf einen Blick zu erfassen vermag; und doch gäbe es auch nichts auf den ersten Blick Schwierigeres, ja sogar Verworreneres für jemanden, der so anschaut wie wir. Wie also unseren Gedanken ohne Zahlwörter das Licht der Ordnung und die vorteilhafte Abkürzung der Erinnerung fehlte, so auch ohne die übrigen Namen oder jedenfalls ohne andere Zeichen, die stellvertretend für jene stehen. Im übrigen erhellt hieraus, daß es Gattungsbegriffe und Prädikate des »guten Menschen« geben kann, die einen weiteren Begriffsumfang haben als der »gute Mensch« selbst: nämlich über 30 einfache und noch soviele Verknüpfungen, d. h. Zweierverbindungen, Dreierverbindungen usw., wie bei 30 möglich sind. Diese Zahl ist identisch mit dem Terminus einer zweifachen geometrischen Progression, deren Exponent 30 ist, wie aus unserer Kombinatorik hervorgeht.¹⁹³ Diese Zahl ist unglaublich hoch und liegt in der Größenordnung der Archimedischen.¹⁹⁴ Und dennoch kann man, wenn ferner alle diese Begriffe, zum Beispiel die Begriffe der sieben Folgesätze, auf das Gerechte, Ungerechte, Gebotene und Ungebotene angewandt, d. h. wenn diese mit 7 multipliziert werden, in etwa abschätzen, welch ungeheure Vielzahl von Sätzen hieraus hervorgeht, für deren Durchmusterung im einzelnen beinahe eine Ewigkeit nötig wäre. Und doch möchte ich wiederum zu behaup-

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III. Elemente des Naturrechts

ausim rursus dicere ex iis nullam assignari posse, qvam non orator peritus sententiis, exemplis, similitudinibus, argumentis, rationibus, usibus, in magnam eloqvii molem facilè evestiret. Videtis qvantum sciendi compendium contineatur in definitionibus artisqve Combinatoriae praedicamentis qvae molimur. Hinc est qvod varietate casuum, multitudine rerum, copia verborum, infinitate qvaestionum ad sciendi desperationem libri turgent. Hoc est qvod nos nugis cruciat, qvod nobis tempus experimentis potius qvàm rationi dandum eripit, qvod tot chartas implevit, tot ingenia ad insaniam redegit, qvod Scholasticis, qvod Legistis, qvod Casistis infinita volumina suppeditavit, qvod nos, ut eleganter Baconus dicebat, pro apibus araneos facit, non admiranda DEI et harmoniam rerum annotantes, sed ex nobis ipsis texentes telam, semper in se reductam, ut varietate infinitam, ita sterilem usu. Si qvis impensa in hoc tota vita omnia exempla Arithmetica possibilia qvae in numeris ab 1 ad 1000 vel fingi possent, elaborare eaqve libro uno qvanqvam grandissimo complecti posset, praestitisset aliqvid sanè utile generi humano, qvemadmodum qvi Tabulas sinuum, qvi Radices, qvi Tabulam pythagoricam majorem, qvi Logarithmos supputavit, at qvanto ille universalius, jucundius, compendiosius, utilius, perfectius, qvi machinam omnia sponte praestantem, ac virtute continentem dabit, modò levissimo artificio disponatur. Qvemadmodum ergo nos hoc Panarithmicon DEI munere invenimus, ita pro Machina Panepistemonica has Artis combinatoriae

8 cruciat ] korrigiert aus conciat nach A VI 2, 529

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ten wagen, daß von diesen Sätzen keiner abgeleitet werden kann, den nicht ein Redner, der erfahren ist in Weisheiten, Beispielen, Analogien, Argumenten, Gründen und Redensarten, leicht aufbauschen könnte zu einem großen Redestoff. Man sehe nur, welch große Abkürzung des Wissens in jenen Definitionen und Kategorien der Kombinatorischen Wissenschaft enthalten ist, die wir aufzustellen suchen. Von hier aus wird deutlich, daß die Bücher nur so strotzen vor Verschiedenheit an Fällen, vor Vielheit an Gegenständen, vor Überfülle an Worten und vor Unendlichkeit an Fragen, bis hin zur Verzweiflung am Wissen. Dies ist es, was uns mit Albernheiten quält, was uns jene Zeit raubt, die besser der Erfahrung als der Theorie einzuräumen wäre, was so viele Papiere angefüllt und so viele Geister in den Wahnsinn getrieben hat, was den Scholastikern, den Legisten,¹⁹⁵ den Kasuisten¹⁹⁶ unendlich viele Schriften an die Hand gegeben hat und was, wie Bacon es trefflich formulierte, aus uns Spinnen statt Bienen gemacht hat¹⁹⁷ – uns, die wir nicht die Wunderwerke Gottes und die Harmonie der Dinge wahrnehmen, sondern aus uns selbst heraus ein Netz spinnen, das immer nur in sich zurückläuft, wie unendlich an Verschiedenheit, so unfruchtbar an Nutzen. Wenn jemand unter Einsatz seines ganzen irdischen Lebens alle möglichen arithmetischen Verfahren, die zum Beispiel mit den Zahlen von 1 bis 1000 ausgedacht werden können, ausarbeiten und dies in einem einzigen und doch höchst bedeutenden Buch darstellen könnte, so hätte er etwas wahrlich Nützliches für die Menschheit geleistet; so wie derjenige, der die Tafeln der Kurven, die Wurzeln, eine noch größere pythagoreische Tafel¹⁹⁸ und die Logarithmen ausgerechnet hat. Um wieviel mehr Allgemeines, Angenehmes, Abkürzendes, Nützliches und Vollkommenes aber hätte derjenige vollbracht, der eine Maschine erfände, die das alles von selbst leistete und mit Kraft bereithielte, vorausgesetzt, daß sie durch einen sehr einfachen Kunstgriff hergestellt werden könnte. Wie wir also mit Gottes Beistand dieses ZahlenUniversum ermitteln, so bereiten wir diese Tafeln der Kombinatorischen Wissenschaft für eine universalwissenschaftliche Maschine vor. Wie diese Tafeln beweglich und verstellbar gemacht werden

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III. Elemente des Naturrechts

Tabulas paramus, qvae qvomodo mobiles variabilesqve si rotulis applicentur fieri possint, alibi diximus.

15.

½ ¾ ¿ ½ ° ° ¾ ° ° ¿ ½ ¾ ¿

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

½ ° ¾ ° ¿

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Omne justum possibile est amanti omnes. Qvicqvid impossibile est amanti omnes injustum est. Qvicqvid impossibile est amanti omnes omissibile est. Omne possibile amanti omnes est justum. Omne injustum impossibile est amanti omnes. Qvicqvid fit ab amante omnes est justum. Qvicqvid enim fit possibile est. Qvicqvid non est justum nec fit ab amante omnes. Omne debitum necessarium est amanti omnes. Omne contingens amanti omnes omissibile est. Omne necessarium amanti omnes debitum est. Omne necessarium amanti omnes justum est. Omne omissibile contingens est amanti omnes. Omne injustum contingens est amanti omnes. Qvicqvid debitum est fit ab amante omnes. Nam omne necessarium fit. Qvicqvid non fit ab amante omnes indebitum seu omissibile est.

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Corollaria: 1. Omne justum possibile est amanti. Possibile hîc voco amanti qvod cum amore stare potest. 2. Qvicqvid amanti impossibile est injustum est. 3. Qvicqvid amanti impossibile est omissibile est. 4. Qvicqvid amanti necessarium est debitum est. 5. Qvicqvid amanti necessarium est licitum est. 6. Omne indebitum amanti contingens est. 7. Omne injustum amanti contingens est.

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können, wenn sie auf Rädchen angebracht werden, haben wir anderenorts gesagt.¹⁹⁹

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

½ ° ¾ ° ¿ ½ ° ° ¾ ° ° ¿ ½ ° ¾ ° ¿ ½ ° ° ¾ ° ° ¿

1. 2. 3.

Alles Gerechte ist möglich für den, der alle liebt. Alles, was für den, der alle liebt, unmöglich ist, ist ungerecht. Alles, was für den, der alle liebt, unmöglich ist, ist unterlaßbar. Alles, was für den, der alle liebt, möglich ist, ist gerecht. Alles Ungerechte ist unmöglich für den, der alle liebt. Alles, was von dem, der alle liebt, getan wird, ist gerecht. Denn alles, was getan wird, ist möglich. Alles, was nicht gerecht ist, wird auch nicht getan von dem, der alle liebt. Alles Gebotene ist notwendig für den, der alle liebt. Alles, was für den zufällig ist, der alle liebt, ist unterlaßbar. Alles, was für den notwendig ist, der alle liebt, ist geboten. Alles, was für den notwendig ist, der alle liebt, ist gerecht. Alles Unterlaßbare ist zufällig für den, der alle liebt. Alles Ungerechte ist zufällig für den, der alle liebt. Alles, was geboten ist, wird getan von dem, der alle liebt. Denn alles Notwendige wird getan. Alles, was nicht getan wird von dem, der alle liebt, ist ungeboten oder unterlaßbar. Folgesätze ²⁰⁰

1. Alles Gerechte ist für den Liebenden möglich. »Für den Liebenden möglich« nenne ich hier das, was mit seiner Liebe zusammenbestehen kann. 2. Alles, was für den Liebenden unmöglich ist, ist ungerecht. 3. Alles, was für den Liebenden unmöglich ist, ist unterlaßbar. 4. Alles, was für den Liebenden notwendig ist, ist geboten. 5. Alles, was für den Liebenden notwendig ist, ist erlaubt. 6. Alles Ungebotene ist für den Liebenden zufällig. 7. Alles Ungerechte ist für den Liebenden zufällig.

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III. Elemente des Naturrechts

Eadem omnia evenient orienturqve 15 theoremata nova: a) Si amanti omnes substituatur 1. qvi delectatur felicitate omnium 2. qvi harmonicam sentit felicitatem omnium 3. qvi in felicitate omnium sentit identitatem diversitate pensatam 4. ½ 5. ¾¿ sentienti substitue: conantem agere qvasi ita esset 6. delectato substitue: cui (felicitas omnium) est bonum per se 7. bono substitue: qvod expetitur à pernoscente 8. expetenti: sentire conantem 9. pro sentire: cogitare cum conatu 10. 11. pro conante: agere incipientem 12. pro agere: mutatum mutare 13. pro mutatione: finem simul et initium oppositorum 14.– 20. pernoscenti: scientem qvid res agere aut pati possit

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Hactenus de iis qvae delectationi substituuntur, seqvuntur qvae felicitati. 1. 2. 3. 4. 5.

Felicitati substitue statum optimum statui totum accidentium toti multitudinem omnium accidentibus, attributa contingentia

6 pensatam ] korrigiert aus compensatam nach A VI 2, 529 17 substituuntur ] korrigiert aus substituantur nach A VI 2, 529

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Alle diese Sätze ²⁰¹ liegen schon vor; nun entspringen 15 neue Lehrsätze: a) Wenn für »wer alle liebt« eingesetzt wird²⁰²: 1. wer sich am Glück aller freut 2. wer das Glück aller als harmonisch empfindet 3. wer beim Glück aller eine durch Verschiedenheit sich ausgleichende Einheit empfindet. 4. ½ für »wer empfindet« setze man ein »wer zu wirken beginnt ¾ (4.) mit der Vorstellung, als ob es so wäre (5.)« 5. ¿ 6. für »wer sich freut« setze man ein »wem (das Glück aller) als Gut an sich gilt« 7. für »Gut« setze man ein »was gewünscht wird von dem, der es gründlich kennt« 8. für »wünschen« »zu empfinden streben« 9. für »empfinden« »Bewußtsein²⁰³ mit einem Antriebsmoment haben« 10. 11. für »ein Antriebsmoment habend« »zu wirken (10.) beginnend (11.)« 12. für »wirken« »durch Selbstveränderung verändern« 13. für »Veränderung« »Ende des einen und zugleich Beginn des anderen von zwei Entgegengesetzten« 14.– 20. für »gründlich kennend« »wissend, was eine Sache bewirken und aushalten kann«

Das Bisherige handelt von dem, was für »sich freuen« eingesetzt wird; das Folgende handelt von dem, was für »Glücklichsein« eingesetzt wird 1. 2. 3. 4. 5.

Für »Glücklichsein« setze man ein »der beste Zustand« für »Zustand« »das Ganze der Akzidenzien« für »das Ganze« »die Vielheit aller« für »Akzidenzien« »zufällige Eigenschaften«²⁰⁴

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III. Elemente des Naturrechts

6. 7. attributis, qvae possunt praedicari 8. 9. 9. 10. contingentibus, qvae possunt non praedicari 11. – 16. Praedicari est cogitari in eodem 17. – 31. Omnibus: non qvaedam non 32. – 45. Omnibus: enumerationem singulorum de qva suo loco. 46. + 44. Optimo: maximum bonum 44. Maximo: majus aliis omnibus 44. Majori: cuius pars alteri toti aeqvalis est 88. Omnibus: non qvaedam non 88. Omnibus: enumerationem singulorum de qva suo loco. 44 7 f. 308. Bono: qvod expetitur à pernoscente – Expetito: qvod sentire conamur – pro sentire: cogitare cum conatu Qvod conamur cogitare cum conatu jam cogitamus cum conatu. Qvia qvod conamur cogitare cogitamus. – pro cogitare cum conatu, cogitare harmoniam (Bonum ergo est, cum harmonia cogitatur à pernoscente, etsi non in ipso saltem in effectibus eius, seu qvae agere aut pati potest, ut in utilibus. Unde haec boni definitio universalis est). 308 3 f. 924. Pernoscenti: qvi novit qvid res altere et pati possit 924. Novit: qvi clarè sentit

18 ipso ] korrigiert aus ipsa nach A VI 2, 529

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6. 7. für »Eigenschaften« »was zugeschrieben werden kann« 8. 9. 9. 10. für »zufällige« »was man nicht zuschreiben kann« 11. – 16. »zuschreiben« heißt »bei einer und derselben Sache denken« 17. – 31. für »alle« »ohne irgendeine Ausnahme« 32. – 45. »alle« kann durch eine Aufzählung der einzelnen Personen ersetzt werden; hierüber mehr an geeigneter Stelle. 46. + 44. für »den besten« »den im höchstem Grade (44.) guten (46.)« 44. für »im höchstem Grade« »größer als alle anderen« 44. für »größer« »dessen Teil gleich groß wie alles andere ist« 88. für »alle« »ohne irgendeine Ausnahme« 88. »alle« kann durch eine Aufzählung der einzelnen Personen ersetzt werden; hierüber mehr an geeigneter Stelle. 44 × 7 = 308. Für »gut« »was von dem, der es gründlich kennt, gewünscht wird« – für »gewünscht« »was wir zu empfinden streben« – für »empfinden« »Bewußtsein mit einem Antriebsmoment haben« Wessen wir uns mit einem Antriebsmoment bewußt zu werden streben, dessen sind wir uns bereits mit einem Antriebsmoment bewußt. Denn was wir zu bedenken streben, das bedenken wir schon. – für »mit einem Antriebsmoment bewußt sein« »der Harmonie bewußt sein« (Ein Gut ist also gegeben, wenn der, der es gründlich kennt, sich der Harmonie bewußt wird, auch wenn es nicht in sich selbst, so doch zumindest in seinen Wirkungen gut ist, d. h. in dem, was es bewirken und aushalten kann, wie etwa in seinen nützlichen Auswirkungen. Deshalb ist diese Definition des Guten allgemeingültig.) 308 × 3 = 924. Für »wer es gründlich kennt« »derjenige, der weiß, was die Sache bewirken und aushalten kann« 924. für »der weiß« »derjenige, der auf klare Weise empfindet«

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III. Elemente des Naturrechts

1848. Agere et pati: mutare mutatum et mutari mutando Summa f. 4952 20 f. 99040 15 f. 1485600. Qvae est summa Theorematum eorumqve omnium reciprocorum seu subjecti praedicatiqve aeqvè latè patentis, ex sola viri boni definitione exstruendorum. Sesqvimillio propemodum propositionum paucis hîc verbis ope artis combinatoriae expressarum. Qvarum nulla est, audacter dico, qvae non sententiis, exemplis, similitudinibus, rationibus, usibus in aliqvam eloqvii molem evestiri possit. Et tamen exposuimus tantùm terminum Amantis, non Omnium, cum vir bonus sit qvi amat omnes. Omnes enumeratione singulorum exponendi sunt saepius de qvo suo loco, unde infinita rursus seges propositionum aliqvoties repetenda. Propositiones convertibiles sunt omnes aut definiti de definitione vel contra, aut definitionum ejusdem definiti de se invicem. Dantur enim, qvod ignorantibus intima rerum fortasse paradoxum videbitur, multa millia definitionum ejusdem definiti aeqvè vera, non aeqvè clara. Sed qvo clariora, hoc minus compendiosa. Seqvuntur Corollaria seu propositiones ex convertibilibus solâ detruncatione factae, qvibus praedicantur partes definitionum de definitis definitionibusqve. Qvorum numerum infinite propè infinitum, recensere impossibile. Omnis vir bonus est amans. Est voluptatis animi avidus, est harmonicus, est amator varietatis, congruitatis. Est in perpetuo co-

16 definitionum ] korrigiert aus definitionibus nach A VI 2, 529

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1848. für »bewirken und aushalten« »als verändertes verändern und verändert werden beim Verändern« Die Summe ergibt 4 952 × 20 = 99 040.²⁰⁵ 99 040 × 15 = 1 485 600. Dies ist die Summe der Lehrsätze und aller ihrer wechselseitigen Verknüpfungen, d. h. der Verknüpfungen von Subjekt und Prädikat bei gleich weitem Begriffsumfang, die allein aus der Definition des »guten Menschen« ableitbar sind: fast anderthalb Millionen Sätze, die aus diesen wenigen Begriffen mit Hilfe der Kombinatorischen Wissenschaft ausformuliert werden. Wie ich nochmals zu behaupten wage, ist unter diesen Sätzen keiner, der nicht durch Weisheiten, Beispiele, Analogien, Argumente, Gründe und Redensarten zu einem großen Redestoff aufgebauscht werden könnte. Und doch haben wir lediglich den Begriff des »Liebenden«, nicht auch den Begriff »alle« aufgelistet; ist doch der »gute Mensch« derjenige, der »alle liebt«. Dieses »alle« ist durch die Aufzählung der einzelnen Personen noch öfter aufzulisten, worüber an geeigneter Stelle zu handeln ist. Hieraus ergibt sich wiederum ein unendliches Saatfeld von Sätzen, das sich x-beliebig oft vermehren läßt. Konvertibel sind diese Sätze alle, entweder vom Definierten über die Definition bzw. umgekehrt, oder jeweils von den Definitionen über die Definitionen ein und desselben Definierten. Es gibt nämlich (was denen, die das Innere der Dinge verkennen, vielleicht paradox scheinen mag) viele tausend Definitionen von einem und demselben Definierten, die gleich wahr, nicht jedoch in gleichem Maße klar sind. Je klarer aber, desto weniger kurz und bündig. Es schließen sich Folgesätze an, d. h. durch bloße Abtrennung aus den konvertiblen Sätzen erzeugte Aussagen, in denen Teile der Definitionen in bezug auf das Definierte und seine Definitionen ausgesagt werden. Die Anzahl dieser Folgesätze, die unendlich nahe beim Unendlichen liegt, läßt sich unmöglich auflisten. Jeder gute Mensch ist ein Liebender. Er ist begierig nach der Lust des Geistes, ist harmonisch, ist ein Liebhaber von Vielfalt und

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natu mutandi aliqvid seu novandi in melius scilicet, seu emendandi. Qvae omnia in viro bono vera sunt, qvia in omni amante, si habuissemus ergo Elementa demonstrationum de amore, sola ad virum bonum applicatione opus fuisset. Omnis amans bonum amati per se qvaerit. Omnis amor summus est, non omnis amor par est, differunt enim magnitudine etsi non gradu. Omnis amans conatur prodesse amato. Delectatur enim felicitate eius. Ergo bonis. Qvo delectamur id cogitamus cum conatu sentiendi. Qvod sentire conamur, id si non sit efficere conamur. Semper aliqvod bonum abest. Ergo qvi amat semper aliqvod amati bonum efficere, id est prodesse conatur amato. Omnis amans prodest amato, nisi aut neqveat, aut alio amore obstante impediatur. Nam qvisqvis conatur facit, si possit, nisi alio contrario conatu impediatur. Qvi amat conatur ad felicitatem amati, qvousqve potest, ergo vel ipsam, vel saltem partem eius bonum aliqvod efficit, si potest, nisi conatus ad alterius felicitatem obstet. Conatus enim ad bonum non obstat conatui ad felicitatem, qvia minor. Si plures amores concurrant, conatus efficax est ad harmoniam qvanta maxima in praesenti statu produci potest.

[ Randbemerkung zu Zeile 17: ] Nihil ergo obstat amoris efficaciae nisi vel impotentia vel contrarius amor.

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Übereinstimmung. Er ist im ständigen Antrieb, etwas zu verändern oder zu erneuern, und zwar zum Besseren hin, d. h. zu vervollkommnen. All dieses trifft beim guten Menschen zu, weil es bei jedem Liebenden zutrifft. Wenn wir also die Elemente der Beweise über die Liebe ²⁰⁶ hätten, wäre nur noch deren Anwendung auf den »guten Menschen« nötig. Jeder Liebende strebt das Wohl der geliebten Person als solches an. Jeder Liebesantrieb ist der höchste, aber nicht gleich stark wie jeder andere Liebesantrieb. Sie unterscheiden sich nämlich der Größe nach, wenn auch nicht dem Grad nach.²⁰⁷ Jeder Liebende strebt danach, der geliebten Person zu nützen. Denn er freut sich an ihrem Glück, mithin an ihren Gütern. Wodurch wir erfreut werden, dessen sind wir bewußt mit dem Antriebsmoment, es auch zu empfinden. Was wir zu empfinden anstreben, das streben wir hervorzubringen, falls es nicht schon vorliegt. Immer fehlt ja irgendein Gut. Folglich hat jeder, der liebt, das Antriebsmoment, für die geliebte Person etwas Gutes zu bewirken, d. h. der geliebten Person zu nützen. Jeder Liebende nützt der geliebten Person, es sei denn, daß er es entweder nicht vermag oder aber daß er durch den entgegenwirkenden Liebesantrieb zu einer anderen Person gehindert wird. Denn jeder, der ein Antriebsmoment hat, handelt, falls er nicht durch ein anderes, gegenstrebiges Antriebsmoment gehindert wird. [Nichts also steht der Wirksamkeit eines Liebesantriebs entgegen, es sei denn entweder Ohnmacht oder ein gegenstrebiger Liebesantrieb.] Wer liebt, erstrebt das Glück der geliebten Person, so gut er kann. Folglich erzeugt er entweder dies selbst oder zumindest einen Teil desselben, d. h. ein Gut, falls er es vermag; es sei denn, daß ihm der Antrieb nach dem Glück einer anderen Person im Wege steht. Denn der Antrieb nach einem Gut steht dem Antrieb nach dem Glück nicht entgegen, weil jenes schwächer ist. Wenn mehrere Liebesantriebe zusammenlaufen, erfolgt der wirk-

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Si duo amores occurrant, vincit major. Sed productum est differentia efficaciarum. Qvia si duo conatus occurrant, vincit fortior. Si sint pares, extingvitur efficacia utriusqve. Major amor est cum major ex felicitate delectatio est. Cum enim felicitas par sit, delectatio tamen impar est. Ergo. Major amor est, cum major in felicitate harmonia est. Nam et delectatio major est cum major harmonia est. Major harmonia est cum diversitas major est, et reducitur tamen ad identitatem. (Nam non in identitate, sed varietate gradus esse possunt). Si plures amores collineent, efficacia utriusqve componitur in unam. Si plures amores pares concurrant obliqvè, productum est medium efficaciae utriusqve obliqvè, id est ut eligi tertium possit. Sed haec distinctius explicanda sunt ex doctrina de concursu voluntatum et compositionibus harmoniarum. Si plures amores impares concurrant obliqvè, productum est efficacia, cuius distantia ab efficacia minoris ad distantiam ab efficacia majoris eam habet rationem, qvam major efficacia ad minorem, ac proinde reciprocè.

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sam werdende Liebesantrieb im Hinblick auf die größtmögliche Harmonie, die im gegenwärtigen Zustand hervorgebracht werden kann. Wenn zwei Liebesantriebe aufeinanderprallen, siegt der größere. Doch die resultierende Kraft ergibt sich aus der Verschiedenheit der wirksamen Kräfte. Denn wenn zwei Antriebsmomente aufeinanderprallen, siegt der stärkere. Wenn zwei Liebesantriebe gleich groß sind, werden die Wirkungen beider ausgelöscht. Ein Liebesantrieb ist um so größer, je größer die aus der Beglükkung empfangene Freude ist. Denn auch wenn das Glück gleich groß sein mag, ist dennoch die Freude daran ungleich groß. Folglich gilt: Ein Liebesantrieb ist um so größer, je größer die mit dem Glück gegebene Harmonie ist. Denn auch die Freude ist um so größer, je größer die Harmonie ist. Die Harmonie ist um so größer, je größer eine Verschiedenheit ist, die gleichwohl auf eine Einheit zurückgeführt ist. (Denn nicht in der Identität, sondern in der Vielfalt sind Gradunterschiede möglich.) Wenn mehrere Liebesantriebe in dieselbe Richtung laufen, fügen sich die wirkenden Kräfte beider zu einer gemeinsamen Kraft zusammen. Wenn mehrere gleich große Liebesantriebe schräg zusammenlaufen, ist die resultierende Kraft das Mittlere zwischen beiden schräg zusammenlaufenden Wirkungen; das bedeutet, daß ein Drittes ausgewählt werden kann. Aber dies muß noch deutlicher aus der Lehre vom Zusammenlaufen der Willensantriebe und der Zusammensetzung ihrer Harmonien erklärt werden. Wenn mehrere ungleich große Liebesantriebe schräg zusammenlaufen, so ist die resultierende Kraft selbst eine wirkende Kraft, deren Entfernung von der kleineren Wirkkraft zur Entfernung

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Eâ ferè ratione qva refractio et reflexio explicatur. Etsi enim ostensum sit in theoria motus ex abstractis motus legibus, aliud fore, effecit tamen DEUS addito aethere seu spiritu universali, ut omnia in corporibus, ut in mentibus evenirent. Distantia efficaciae ab efficacia, est instar anguli et proinde ratio distantiae à distantia, est instar rationis anguli ad angulum, et sinus ad sinum . Idem ergo est in viro bono, qvia cum vir bonus amet omnes, innumerabiles semper concursus amorum oriri necesse est, qvorum eventibus explicandis omnis haec doctrina impendenda est.

3 universali ] korrigiert aus universalis nach A VI 2, 529 7 (für »destilletur«) ] ergänzt nach A VI 2, 529

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von der größeren Wirkkraft dasselbe Verhältnis hat wie die größere Wirkkraft zur kleineren. Und ebenso umgekehrt. Dies geschieht nach ungefähr demselben Prinzip, aus dem Refraktion und Reflexion erklärt werden. Denn auch wenn in unserer Bewegungstheorie gemäß den abstrakten Bewegungsgesetzen gezeigt worden ist, daß es sich anders verhält,²⁰⁸ so hat es doch Gott durch Hinzufügung des Äthers, d. h. des allumfassenden Spiritus, so eingerichtet, daß im Körper der Geschöpfe alles genauso wie in ihrem Geist abläuft. Der Abstand einer wirkenden Kraft zu einer anderen wirkenden Kraft entspricht genau ihrem Abstandswinkel; und ebenso ist das Verhältnis von Abstand zu Abstand gleich dem Verhältnis von Winkel zu Winkel und von Bogenmaß zu Bogenmaß; hierüber muß noch näher nachgedacht werden. Dasselbe also geschieht bei einem guten Menschen. Weil nämlich ein guter Mensch alle liebt, entspringen notwendig immer zahllose Zusammenstöße von Liebesantrieben. Um deren Abläufe zu erklären, ist diese ganze Lehre zum Einsatz zu bringen.

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III. Elemente des Naturrechts

[6.] IUSTITIA est habitus (seu status confirmatus) viri boni,

confirmatus inqvam, non ut mutari non possit, sed ut non facile possit.

½ ° est ¾ qvicqvid ° ¿

½ ° ¾ ° ¿

Iustum, Licitum Injustum, Illicitum Aeqvum, Debitum Indifferens

possibile impossibile necessarium contingens

½ ° ¾ est fieri à Viro Bono. ° ¿

Sapienter ICti Romani Legibus indefinibilia remittunt toties ad Arbitrium boni Viri, qvemadmodum Aristoteles in Ethicis omnia regulis non comprehendenda ad arbitrium prudentis, ©ò Pí

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¿ öñüíéìïò ¿ñßóåéå. IUS est potentia

Obligatio est necessitas

½ ¾ viri boni. ¿

Huc pertinet sapiens IC ti veteris sententia, qvae facta laedunt pietatem, existimationem, verecundiam nostram, et generaliter qvae contra bonos mores sunt, ea nec facere nos posse credendum est. Potentia occidendi innocentem locum habet in robusto, non in robusto et simul bono, manibus ei velut superiore qvadam vi ligatis. Er kans nicht übers Herz bringen, uti significanter Germani loqvuntur. Injustum est qvod absurdum est,

3 mutari ] korrigiert aus putari nach A VI 2, 529

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6. Axiome und Definitionen

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6. Axiome und Definitionen zum guten Menschen (2. Hälfte 1671 ?)²⁰⁹ Gerechtigkeit ist die innere Haltung (d. h. die gefestigte Verfassung) eines guten Menschen. Mit »gefestigt« will ich hier nicht sagen, daß sich der Zustand nicht ändern könnte, sondern nur, daß er nicht leicht verändert werden kann.

½ ° ist alles, ¾ was ° ¿

½ ° ¾ ° ¿

Gerecht, Erlaubt Ungerecht, Unerlaubt Billig, Geboten Freigestellt

möglicherweise unmöglicherweise notwendigerweise zufälligerweise

½ ° ¾ ° ¿

getan wird von einem guten Menschen.²¹⁰

Weise waren die römischen Rechtsgelehrten, als sie dasjenige, was durch die Gesetze nicht näher bestimmbar ist, jeweils dem freien Ermessen eines guten Menschen überließen; ebenso wie Aristoteles in seiner Ethik alles, was in Regeln nicht miterfaßbar ist, dem freien Ermessen eines einsichtigen Menschen anheimstellte, »wie es der Kluge bestimmen würde«.²¹¹ Berechtigung ist die Möglichkeit Verpflichtung ist die Notwendigkeit

½ ¾ für einen guten Menschen. ¿

In diesen Zusammenhang gehört das weise Urteil eines alten Rechtsgelehrten, daß wir Handlungen, die unsere Pietät, unsere Wertschätzung und unser Schamgefühl verletzen, sowie überhaupt Handlungen, die gegen die guten Sitten verstoßen, nicht glauben begehen zu können.²¹² Die Fähigkeit, einen Unschuldigen zu töten, findet sich beim bloß Kräftigen, nicht aber bei dem, der kräftig und zugleich von gutem Charakter ist. Ihm sind die Hände wie durch eine höhere Macht gebunden. »Er kann es nicht übers Herz bringen«, wie die Deutschen bezeichnenderweise sagen. Ungerecht ist, was ungereimt ist und einen

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III. Elemente des Naturrechts

qvod contradictionem implicat fieri à viro bono. Qvòd ergo Grotius Ius et Obligationem vocat qvalitates morales, id sic capiendum, esse attributa viri boni in respectu ad agendum patiendumve. Qvalitas enim est attributum in respectu ad agendum et patiendum.

½ ° est ¾ ° qvicqvid ¿

½ ° ¾ ° ¿

Possibile Impossibile Necessarium Contingens

potest non potest non potest non potest non

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½ ° ¾ fieri ° ¿

Omnes ergo Modalium complicationes, transpositiones, oppositiones ab Aristotele et Interpretibus demonstratae, ad haec nostra Iuris Modalia non inutiliter transferri possunt.

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VIR BONUS (a) est, qvisqvis amat (b) omnes (c).

(a) Uti persona est, qvisqvis amat se, seu voluptate ducitur et dolore. Brutis nec voluptas nec dolor de qvo suo loco. (b) Caritatis et Iustitiae inseparabilis tractatio. Non Moses aliam, non Christus, non Apostoli, non veteres Christiani, Iustitiae regulam dedere, nisi in dilectione. Nihil Platonici, nihil Theologi Mystici, nihil omnium gentium partiumqve homines Pii celebrant magis, inclamant, urgent, qvàm Amorem. Ego qvoqve post tentatas innumerabiles Iustitiae notiones in hac tandem conqvievi, hanc primam reperi, et universalem, et reciprocantem.

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6. Axiome und Definitionen

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Widerspruch zu dem einschließt, was von einem guten Menschen getan wird. Daß Grotius also Berechtigung und Verpflichtung »moralische Qualitäten« nennt, ist so aufzufassen, daß sie die Eigenschaften eines guten Menschen sind im Hinblick auf das, was zu tun oder zu ertragen ist. Qualität nämlich heißt die Eigenschaft eines Dinges im Hinblick auf sein Wirken und Aushalten.

½ ° ist ¾ ° alles, ¿

½ ° ¾ ° ¿

Möglich Unmöglich Notwendig Zufällig

was getan werden kann was nicht getan werden kann was unmöglich nicht getan werden kann was möglicherweise nicht getan werden kann.

Folglich können alle Verknüpfungen, Umstellungen und Gegensätze der Modalbegriffe, die von Aristoteles und seinen Auslegern bewiesen worden sind, nicht ohne Nutzen auf diese von uns aufgezeigten juridischen Modalbegriffe übertragen werden. Der gute Mensch (a) ist jeder, der alle (c) liebt (b). (a) Somit ist eine Person jeder, der sich liebt, d. h. durch Lust und Schmerz bewegt wird. Tiere kennen weder Lust noch Schmerz. Doch hierüber an anderer Stelle. (b) Nächstenliebe und Gerechtigkeit können nicht getrennt voneinander behandelt werden. Weder Moses noch Christus, weder die Apostel noch die frühen Christen haben einen anderen Maßstab der Gerechtigkeit überliefert als den, der in der Nächstenliebe ist. Nichts rühmen die Platoniker, nichts die mystischen Theologen, nichts die gütigen Menschen aller Völker und Gegenden mehr, nichts rufen sie mehr an und nichts bestürmen sie mehr als die Liebe. Auch ich bin, nachdem ich zahllose Begriffe von Gerechtigkeit geprüft hatte, schließlich in diesem zur Ruhe gekommen.²¹³ Ihn habe ich als den vorzüglichsten ermittelt, weil er sowohl allgemeingültig als auch wechselseitig ist.

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III. Elemente des Naturrechts

(c) Omnes, scilicet personas, nam si qvem sublato DEO solum in orbe habitantem omnia evertere, deformare, vastare ponamus, non injustus erit sed stultus. Omnes verò amaremus omnes, si modò intueremur, si oculos attolleremus ad Harmoniam Universalem. Nunc amore nostri occaecati, et vel ambitione aut avaritia furentes, vel luxu torpentes, alios sine animi adversione videmus, agimus in mundo, in maximo coetu, velut soli instar vermis in homine vivo nati, qvi structurae admirabilis, rationisqve totam machinam animantis ignarus incuriosusve, et tantùm sibi natus, nobilissima membra sine delectu consumit. Qvotusqvisqve est, qvem pernoscere curemus, qvem non ad primum conspectum aut oderimus aut contemnamus, miserabili temeritate praejudiciorum. Qvos ediscimus, ideò tantùm exploramus, ut liceat contemnere aut odisse, id est ut rideamus aut deprimamus vel ad summum, ut utamur, etiam cum ipsorum consumtione, qvalis in jumenta nostra benevolentia est; non ut amemus. Ita alter alteri occlusus, caecorum instar capitibus concurrimus, cum latè omnibus pateat via, modò invicem aperiremur. Possemus amore mutuo eoqve sincero non securi tantùm, sed et beati esse, et verè frui commoditate vitae; nunc cruciamur cruciamusqve invicem et mutua culpa stultam malitiam alternis incusamus. Caeterum etsi justi seu boni sit amare omnes, sunt tamen gradus amori. In scelerato simul et inepto humanitas tamen amatur, in simplice probitas, in nebulone ingenium :

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6. Axiome und Definitionen

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(c) Mit »alle« sind natürlich Personen gemeint. Denn wenn wir uns – Gott einmal ganz beiseite gelassen – jemanden vorstellten, der allein auf der Erde wohnte und alles zerstörte, verunstaltete und verwüstete, so wäre dieser nicht ungerecht, sondern dumm. Wir alle aber würden alle lieben, wenn wir nur hinschauten und die Augen erhöben zu der Universalharmonie. Gegenwärtig sehen wir, verblendet durch Eigenliebe und teils rasend vor Ehrsucht oder Habsucht, teils erschlafft vom Luxus, die anderen ohne Zuwendung des Herzens an. Wir leben in der Welt, in der größtmöglichen Versammlung, wie ein einsamer, in einem lebendigen Menschen geborener Parasit, der nichts ahnt bzw. nichts wissen will von der wunderbaren Anordnung und der Vernunft, die die ganze Maschine beseelt, der bloß für sich geboren²¹⁴ ist und die edelsten Glieder wahllos konsumiert. Wie wenige gibt es, die wir näher kennenzulernen uns bemühen, die wir nicht schon auf den ersten Blick unausstehlich finden oder geringschätzen aufgrund der jämmerlichen Unbedachtsamkeit unserer Vorurteile ! Wir ergründen und erforschen sie bloß, um uns eine Erlaubnis zum Verachten oder Hassen zu geben, d. h. um sie zu verlachen, herabzuwürdigen oder äußerstenfalls bis zu ihrer Vernichtung auszunutzen. Wie gegenüber dem Lastvieh ist unser Wohlwollen; nicht, daß wir liebten ! So rennen wir, der eine verschlossen gegen den anderen, wie Blinde mit den Köpfen gegeneinander. Auch wenn weithin allen ein Weg offenstünde, würden wir ihn nur auf Gegenseitigkeit hin freigeben. Wir könnten durch gegenseitige und dadurch aufrichtige Liebe nicht nur furchtlos, sondern auch glücklich sein und gehörig die Annehmlichkeit des Lebens genießen. Gegenwärtig aber treiben wir bloß ein gegenseitiges Quälen und Gequältwerden und bezichtigen uns mit gegenseitiger Schuldzuweisung abwechselnd der verstockten Bosheit. Auch wenn es übrigens Aufgabe eines gerechten oder guten Menschen ist, alle zu lieben, so gibt es für die Liebe doch Stufen. Beim Verbrecher und ebenso beim Idioten wird doch die Menschlichkeit geliebt, beim Einfältigen die Redlichkeit, beim Windbeutel das Talent,

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III. Elemente des Naturrechts

in omnium pessimo saltem materia boni. Est enim connexus amori summus conatus qvaerendi bonum amati, cuius ergo bonum qvaeri potest, is amari potest. Qvisqvis potest debet. Sufficit ergo ad amorem etiam pessimi capacitas boni. Sed in casu concursus cedere deterior debet. Qvia emendationes multiplicationis potius qvàm additionis naturam habent, plus ergo boni addit emendatio meliori qvàm deteriori, etiam caeteris paribus. Qvia si duo numeri per eundem multiplicentur, factus à majore plus addit multiplicato qvàm factus à minore. bis duo sunt 4. bis 3 sunt 6. Multiplicatio ergo per binarium ad 2 addit 2, ad 3 addit 3. Qvanto qvis plus habet, tanto plus multiplicatione lucratur. Emendationes autem multiplicationis naturam habere alibi ostendetur. AMAMUS eum cuius felicitate delectamur. Appetitus unionis non est amor. Lieben das man vor Liebe freßen möchte. Uti vulgò dicimur cibos amare, qvorum sensu delectamur. Ita enim etiam lupus dicendus est agnum amare. Amor ergo venereus toto genere differt à vero. Caeterum ex hac definitione multa praeclara Theoremata maximi in Theologia et re morali momenti, demonstrari possunt. Is qvi, seu Persona est cuius aliqva voluntas est. Seu cuius datur cogitatio, affectus, voluptas, dolor. In Brutis non est voluptas et dolor, non sensus, nedum ratio. Nam qvemadmodum vita id est motus spontaneus varius, non est in plantis brutisqve nisi simulatè ; putamus enim sponte moveri, qvia motores non vide-

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und auch beim Schlechtesten von allen zumindest die Anlage zum Guten. Denn mit der Liebe ist der stärkste Antrieb verbunden, nach dem Wohl der geliebten Person zu trachten. Wessen Wohl also angestrebt werden kann, der kann geliebt werden. Wer auch immer geliebt werden kann, der muß es auch. Folglich reicht für die Liebe auch zu dem Schlechtesten dessen Fähigkeit zum Guten hin. Im Konfliktfall aber ist der Schlechtere nachzuordnen. Weil Verbesserungen eher die Struktur der Multiplikation als die der Addition haben, fügt eine Verbesserung dem Besseren folglich mehr an Gutem hinzu als dem Schlechteren, auch unter sonst gleichen Bedingungen. Denn wenn man zwei verschiedene Zahlen mit der gleichen Zahl multipliziert, ergibt sich bei Vervielfältigung der größeren mehr als bei der kleineren. 2 × 2 = 4, doch 2 × 3 = 6. Die binäre Multiplikation fügt also einer 2 nur eine 2 hinzu, einer 3 aber eine 3. Je mehr jemand hat, um so mehr gewinnt er durch Multiplikation. Daß aber Verbesserungen die Struktur der Multiplikation haben, wird an anderer Stelle gezeigt werden.²¹⁵ Wir Lieben den, dessen Glücklichsein uns erfreut. Der Vereinigungsdrang, etwa zu lieben, was man vor lauter Liebe fressen möchte, ist nicht Liebe. Denn wie wir für gewöhnlich ja auch sagen, daß wir die Speisen lieben, deren Geschmack uns ergötzt, so müßten wir auch sagen, daß der Wolf das Lamm liebt. Folglich unterscheidet sich die sinnliche Liebe der ganzen Art nach von der eigentlichen. Übrigens können aus dieser Definition viele ausgezeichnete Lehrsätze bewiesen werden, die in Theologie und Moral von größter Bedeutung sind. Jemand oder eine Person ist das Wesen, das einen Willen hat, d. h. dasjenige, dem Denken, Gefühl, Lust und Schmerz verliehen ist. Bei Tieren gibt es weder Lust und Schmerz noch sinnliche Wahrnehmung, geschweige denn Vernunft. Denn wie es kein Leben, d. h. keine verschiedenartige selbsttätige Bewegung bei Pflanzen und Tieren gibt (außer dem täuschenden Anschein nach, denn wir meinen, daß sie sich selbsttätig bewegen, weil wir ihre Motoren nicht erkennen), – so gibt es bei ihnen auch

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III. Elemente des Naturrechts

mus. Ita sensus qvoqve id est actio in passionem suam. Externa sensus sunt in bruto. Repraesentatio scilicet et actio regularis. Omne enim sentiens tum repraesentat objectum instar speculi, tum regulariter agit ordinateqve ad finem, instar horologii. Si qvis speculum nunc primum videret sine doctore, credo cognitionem in eo qvandam sibi imaginaretur (qvemadmodum Indi literas Hispanorum internuncias, sapientes et arcani participes arbitrabantur). Si Horologium, voluntatem. Si est in brutis voluptas et dolor, certissimè demonstrabo esse et rationem. Sed qvalis primum infantium est, experientia non excitatam, suo tempore se exerturam. Nam etsi omnes homines muti surdiqve essent, gestibus tamen invento communicatoqve notarum qvarundem usu, loqverentur. Deniqve innoxias bestias qvàm miserè torqvemus; si qvis in illis sensus, inexcusabili crudelitate. Dantur verò et personae civiles ut collegia, qvia habent voluntatem, eam nimirum qvam membra componentia seu personae naturales pro persona omnium in casu dissensus haberi voluêre. Sive ea numero sive qvod difficillimum rationum pondere, sive sorte aliisve modis determinetur. Unde Personae imperfectae sunt ea Corpora, in qvibus ipsa constitutionis vi res exitum aliqvando habere non potest, ac proinde jure dissolvi corpus. Qvalia sunt

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keine sinnliche Wahrnehmung, d. h. kein Wirken auf das eigene Erleiden. Äußere Verhältnisse machen beim Tier die sinnliche Wahrnehmung aus, nämlich Repräsentation und geregeltes Wirken. Jedes Wesen, das wahrnimmt, repräsentiert nämlich teils wie ein Spiegel ein Objekt, teils läuft es auf geregelte und auf ein Ziel hin geordnete Weise ab wie ein Uhrwerk. Wenn nun jemand erstmals einen Spiegel sähe, ohne hierüber aufgeklärt zu sein, so würde er sich vermutlich einbilden, daß eine Erkenntnis in diesem stattfinde (so wie die Indios glaubten, daß die als Botschaften hin- und hergesendeten Schriftzeichen der Spanier verständig seien und Einsicht in geheime Dinge hätten). Wenn er erstmals eine Uhr sähe, würde er ihr einen Willen zuschreiben. Falls es bei Tieren doch Lust und Schmerz gibt, so werde ich auf die unzweifelhafteste Art beweisen, daß sie auch Vernunft besitzen, jedoch von solcher Art, wie zunächst bei Kleinkindern: noch nicht durch Erfahrung aufgeweckt und erst zu gegebener Zeit sich entfaltend. Auch wenn nämlich alle Menschen taubstumm wären, würden sie doch durch Gebärden sprechen, sobald der Gebrauch gewisser Kennzeichen entdeckt und mitgeteilt worden wäre. Wie jammervoll würden wir außerdem unschuldige wilde Tiere quälen, mit welcher unentschuldbaren Grausamkeit, falls in ihnen irgendeine Empfindung wäre ! ²¹⁶ Es gibt freilich auch zivilrechtliche Personen wie etwa Vereine; denn auch sie haben einen Willen, und zwar einen solchen, wie ihn zusammengesetzte Glieder oder natürliche Personen im Falle ihrer Uneinigkeit für eine einzige Gesamtperson gehalten wissen wollen. Dieser Wille mag durch die Mehrheit der Stimmen oder, was sehr schwierig ist, durch Gewichtung der Verhältnisse oder aber durch das Los bzw. andere Verfahren näher bestimmt werden. Daher sind diejenigen Körperschaften, in denen eine Angelegenheit selbst durch die Kraft der Verfassung einmal keine abschließende Entscheidung mehr finden kann und deshalb die Körperschaft zu Recht aufgelöst werden kann, höchst unvollkommene Personen. Solcher Art sind alle Körper-

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III. Elemente des Naturrechts

in qvibus unanimia, qvae vocant, exiguntur, aut amicabiles illae compositiones pro sacra ancora habentur. Voluntas est conatus cogitantis. Conatus est initium actionis. Cogitatio est actio in seipsum. Qvicqvid agit in seipsum eius aliqva memoria est (meminimus enim cum nos sensisse sentimus); ac proinde perceptio harmoniae aut anarmoniae seu voluptatis et doloris, comparato sensu vetere et novo, opinio qvoqve seu inde collecta expectatio sensus futuri atqve hinc demum conatus agendi seu voluntas. Actio eius est cujus mutatio est causa mutationis. Mutatio est initium unius et finis alterius. Etiam in DEO mutatio est, qvia Actio, sed qvalis qvantitas in angulo, aliisqve nonextensis. De qvo suo loco. Causa est inferens natura prius illato. Dantur inferentia illatis posteriora. Nam effectus saepe infert causam. Qvando dico: si A est etiam B est, A est Inferens, B Illatum. Natura prius est licet non tempore, qvicqvid ante alterum clarè cogitari potest, non alterum ante ipsum. Qvemadmodum Tempore prius est qvicqvid ante alterum sentiri potest, non alterum ante ipsum. Naturâ prius est essentiâ,

11 mutatio ] anschließendes est ergänzt nach A VI 2, 529 22 naturâ ] korrigiert aus natura nach A VI 2, 529

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schaften, in denen sogenannte Einmütigkeiten verlangt werden bzw. in denen an solchen freundschaftlichen Einstimmigkeiten wie an einem heiligen Anker festgehalten wird. Wille heißt das Antriebsmoment eines bewußten Wesens. Antriebsmoment ist das Anfangen einer Wirkung. Denken ist ein Wirken auf sich selbst. Alles, was auf sich selbst wirkt, hat eine Art Erinnerung (wir erinnern uns nämlich, insofern wir empfinden, daß wir empfunden haben) und ebenso eine Wahrnehmung von Harmonie oder Disharmonie, d. h. von Lust oder Schmerz. Durch den Vergleich einer alten mit einer neuen Empfindung hat ein bewußtes Wesen auch eine Vermutung, d. h. von hier aus eine erschlossene Vorerwartung künftigen Empfindens; und von daher schließlich hat es ein Antriebsmoment zum Handeln, d. h. einen Willen. Wirkung hat dasjenige, dessen Veränderung die Ursache einer weiteren Veränderung ist. Veränderung ist der Anfang von etwas und das Ende von etwas anderem. Auch in Gott gibt es Veränderung, weil es in ihm ein Wirken gibt; doch ist sie von der Größe wie beim Winkel oder bei anderen nichtausgedehnten Dingen.²¹⁷ Doch darüber an geeigneter Stelle. Ursache ist dasjenige Hervorbringende, das seiner Natur nach früher ist als das Hervorgebrachte. Es gibt Hervorbringendes, das später ist als das Hervorgebrachte. Denn der Erfolg bringt oftmals die Ursache hervor. Sage ich: wenn A ist, ist auch B, so ist A das Hervorbringende, B das Hervorgebrachte. Das der Natur nach Frühere (wenn auch nicht das der Zeit nach Frühere) ist alles, was als vor einem anderem vorhergehend klar gedacht werden kann; nicht aber kann umgekehrt dieses andere als jenem selbst vorhergehend gedacht werden. Dementsprechend ist das der Zeit nach Frühere alles das, was vor einem anderen empfunden werden kann, wohingegen das andere nicht vor diesem empfunden werden kann. Das der Natur

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tempore existentiâ. Cogitatione essentiam, sensu existentiam metimur. Ita efficiens est tempore prius effecto, sed actio non est nisi natura prior passione. Felicitas est status personae optimus. Cum autem detur bonorum progressus in infinitum, conseqvens est Statum optimum consistere in non impedito ad ulteriora semper bona progressu. Qvies in appetendo seu status in qvo nihil optes non qvies est, sed torpor: ne sentit qvidem bonum suum qvi non saltem optat continuationem. Caeterum felicitatem consistere in exqvisitissimo bonorum suorum sensu seu optima opinione de seipso, ostendemus suo loco. Status est aggregatum accidentium. Uti forma est aggregatum affectionum. Accidens hoc loco est attributum contingens. Uti affectio attributum necessarium. Attributum est praedicatum aliud qvàm nomen, ita nomen hominis est homo, praedicatum rationalis. Nomen est praedicatum rei primum, subjectum est aliis praedicatis. Ipsius verò subjectum est vel definitio rei, vel pronomen hoc, accedente reali demonstratione. In eum autem finem adhibitum est, ut imposterum etiam sine definitionis prolixae aut difficilis demonstrationis molestia res nosceretur. Est ergo à noscendo. Optimum est maximè bonum. BONUM est qvicqvid appetetur à pernoscente. Bonum scilicet appetenti. Et hoc discrimen est boni veri et ap-

[ Randbemerkung zu Zeile 4: ] Voluptas sine dolore, hinc dantur gradus in felicitate.

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nach Frühere heißt das dem Wesen nach Frühere, das der Zeit nach Frühere heißt das der Existenz nach Frühere.²¹⁸ Durch das Denken ermessen wir das Wesen, durch die Empfindung die Existenz. Somit ist das Bewirkende der Zeit nach früher als das Bewirkte; aber das Wirken ist lediglich der Natur nach immer früher als das Leiden. Glück heißt der Bestzustand einer Person. [Es bedeutet Lust ohne Schmerz. Hieraus ergeben sich für das Glücklichsein Stufen.] Weil es aber bei den Gütern ein Fortschreiten ins Unendliche gibt, so folgt daraus, daß der Bestzustand darin besteht, nicht gehindert zu werden am Fortschreiten zu immer weiteren Gütern. Der Stillstand des Begehrens, d. h. ein Zustand, in dem man nichts mehr wünschte, wäre nicht Ruhe, sondern Erschlaffung. Allerdings empfindet niemand sein Wohl, ohne zugleich seine Fortsetzung zu wünschen. Daß im übrigen das Glück im feinsten Bewußtsein der eigenen Güter, d. h. in der besten Meinung von sich selbst besteht, werden wir an geeigneter Stelle zeigen. Zustand heißt eine Anhäufung von Akzidenzien, wie Form eine Anhäufung von Grundbeschaffenheiten heißt. Akzidens heißt an dieser Stelle ein zufälliges Attribut, wie eine Grundbeschaffenheit ein notwendiges Attribut heißt. Attribut ist eine andere Art von Prädikat, als ein Name es ist. So ist der Name für den Menschen »Mensch«, sein Prädikat »vernünftig«. Name ist das erste Prädikat einer Sache. Er ist das Subjekt der anderen Prädikate. Das Subjekt des Namens selbst aber ist teils die Definition der Sache, teils das Demonstrativpronomen »dieses«, verbunden mit einem wirklichen Zeigen auf die Sache. Der Name aber dient zu dem Zweck, daß für alles Weitere die Sache auch ohne die Beschwerlichkeit einer weitläufigen Definition oder eines schwierigen Beweises erkannt werden kann. »Nomen« kommt folglich von »noscere«. Das Beste ist das im höchsten Grade Gute. Gut ist alles, was einer, der es gründlich kennt, begehren wird. Gut ist es selbstverständlich für den, der es begehrt. Dabei findet

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parentis. Ignoti nulla cupido, rectè cogniti nulla improbanda cupido; omnis malitia ab errore. Appetere est frui velle. Voluntas quid ? vid. supra. Frui est sentire bonum praesens. Sentire seu statuere est cogitare cum voluntate, seu practicè cogitare. Cum cogitationem seqvitur voluntas seu conatus. In qvo consistet discrimen ab imaginatione simplici seu fictione. Si fingam me in mediis ignibus esse, nullus inde motus seqvetur, secus si sentiam, statuam, persvasus sim, opiner etsi falsò, conabor enim exire. Etsi fingendi licentiâ fieri possit, ut nobis deniqve ipsi credamus, fictionis obliti, qvod tum mendacibus accidere solet; tum phantasticis, qvi aurei seculi et chimaericae cuiusdam felicitatis suae imaginatione primum scientes prudentesqve delectati, reges se et heröes amadisiacos, et orbis domitores somniandi svavitate fingentes, deniqve turbata ratione etiam se esse credunt. Qvae vera causa est plerorumqve deliriorum. Pernoscere est nosse qvid res agere aut pati possit. Scilicet tum per se, tum cum aliis combinata. Haec vera notitia practica est. Theorema enim est propter problema, Scientia propter operationem. Hinc seqvitur neminem posse unius rei

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sich folgendes Unterscheidungsmerkmal zwischen wahrem und scheinbarem Guten: Nach Unbekanntem gibt es kein Verlangen, nach richtig Erkanntem kein mißzubilligendes Verlangen. Alle Bosheit entstammt dem Irrtum. Begehren heißt genießen wollen. Was »Wille« bedeutet, wurde weiter oben definiert. ²¹⁹ Genießen heißt ein gegenwärtiges Gut empfinden. Empfinden oder feststellen heißt Bewußtsein verbunden mit Willen haben, d. h. ein auf das Handeln bezogenes Bewußtsein; denn dem Bewußtsein folgt der Wille oder das Antriebsmoment nach. Hierin besteht sein Unterschied zur bloßen Einbildung oder Fiktion. Wenn ich mir bloß einbilde, mich mitten in einem Feuer zu befinden, so folgt hieraus noch keine Bewegung. Anders verhält es sich, wenn ich empfinde, feststelle und überzeugt bin, im Feuer zu sein. Selbst wenn ich dies nur fälschlich vermute, werde ich nämlich versuchen, dem Feuer zu entkommen. Indessen kann es durch eine Schrankenlosigkeit im Phantasieren geschehen, daß wir uns schließlich selbst Glauben schenken, weil wir vergessen haben, daß es sich um eine Fiktion handelt. Dies kommt gewöhnlich bei Lügnern, besonders aber bei Phantasten vor, die sich zunächst noch kundig und klug an der Vision eines Goldenen Zeitalters und irgendeines chimärischen Glückszustandes ergötzen, sich dann in der Süße ihres Träumens Könige ausmalen, in Liebe schwelgende Helden und Bezwinger des Erdkreises, bis sie schließlich in ihrem verworrenen Sinn auch noch glauben, sie seien es selbst. Dies ist die wahre Ursache der meisten Verrücktheiten. Gründlich kennen heißt wissen, was ein Ding wirken bzw. aushalten kann; und zwar bald für sich genommen, bald in Verbindung mit anderen Dingen. (Dies ist die wahrhaft praktische Kenntnis. Denn ein Lehrsatz dient ja der Lösung eines Problems; Wissenschaft wird getrieben um des Handelns willen.) Hieraus folgt, daß niemand auch nur von einer einzigen Sache gründliche Kenntnis

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esse pernoscentem, nisi idem sit sapientissimus, seu pernoscens universalis. Qvod pernoscere, id latinius dicetur intelligere id est intima legere. Sed intelligendi vox nunc laxius sumitur pro omni notitia. Nosse est verè statuere vel sentire. Notitia est sententia vera. Delectatio seu VOLUPTAS est perceptio harmoniae. Iucundum est objectum percipientis voluptatem. Gaudium est voluptas sola mente percepta. Pulchrum est cuius harmonia clarè distincteqve intelligitur, qvalis sola est harmonia qvae in figuris numeris et motibus percipitur. Ciborum dulcedo id est motus harmonicus non mente à nobis clarè distincteqve intelligitur, sed lingva exqvisitè percipitur. Dulce igitur pulchrum, etsi sit, non vocamus; DEUM, cogitationem, orationem pulchram dicimus. Populariter pulchrum est, quod visu jucundum est. Harmonia est diversitas identitate compensata. Seu Harmonicum est uniformiter difforme. Varietas delectat sed in unitatem reducta, concinna, conciliata. Conformitas delectat, sed nova, mira, inexpectata, ac proinde aut ominosa, aut artificiosa; in longè dissitis maximè grata, ubi connexionem nemo suspicaretur. Unde propositiones identicae ineptae, qvia obviae et nimis conformes: etiam in versibus rythmicis qvos vulgò leoninos vocant eadem praecisè terminatio non placet. Satis est ex-

10 harmonia ] ergänzt nach A VI 2, 529

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haben kann, wenn er nicht außerordentlich weise ist, d. h. den Gesamtzusammenhang der Dinge gründlich kennt. Für »gründlich kennen« ließe sich in besserem Ausdruck »einsehen« sagen, d. h. »ins Innerste hineinsehen«. Doch wird das Wort »einsehen« jetzt nachlässiger für jegliche Kenntnis verwendet. Kennen heißt wahrheitsgemäß feststellen oder tatsächlich empfinden. Kenntnis heißt zutreffendes Urteil. Freude oder Lust ist die Wahrnehmung von Harmonie. Angenehm heißt das Objekt dessen, der Lust wahrnimmt. Freude ist die Lust, die allein durch den Geist wahrgenommen wird. Schön ist dasjenige, dessen Harmonie klar und deutlich erkannt wird. Von dieser Art ist allein diejenige Harmonie, die in Figuren, Zahlen und Bewegungen wahrgenommen wird. Der angenehme Geschmack von Speisen, der eine harmonische Bewegung darstellt, wird von uns nicht durch den Geist klar und deutlich erkannt, sondern mit der Zunge fein wahrgenommen. Folglich nennen wir das Süße, auch wenn dies naheliegt, nicht schön. Gott hingegen, einen Gedanken oder eine Rede nennen wir schön. Im populären Sinne heißt schön, was angenehm zu schauen ist. Harmonie ist die Verschiedenheit, die durch Einheit ausgeglichen ist. Das heißt, das Harmonische ist das, was auf einförmige Weise verschiedengestaltig ist. Verschiedenartigkeit gefällt, aber nur, wenn sie auf eine Einheit zurückgeführt, kunstvoll zusammenstimmend oder vereinigt ist. Auch Gleichförmigkeit gefällt, aber nur, wenn sie neu, erstaunlich oder unerwartet und somit entweder bedeutsam oder kunstvoll ist; über lange Strecken ist sie höchst willkommen, wo niemand eine formale Verknüpfung erwartet hätte. Deshalb sind identische Sätze auch geschmacklos, weil sie auf der Hand liegen und allzu gleichförmig sind. Auch bei den rhythmischen Versen, die man gewöhnlich Leoniner ²²⁰ nennt, mißfällt die immer genau gleichbleibende Versgliederung. Es reicht völlig, wenn die Versenden wiederkehren,

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III. Elemente des Naturrechts

trema terminationis redire, initio variato. Picturas umbris, cantus dissonantiis ad extremum ad harmoniam reductis distingvi constat. Magni momenti haec propositio est, ex qva omnis voluptatis dolorisqve, omnium deniqve affectuum ratio ducitur. Immò qvod plus est haec sola via est occurrendi cavillationibus Atheorum, qveis dubiam traxit sententia mentem. Curarent superi terras, an nullus inesset Rector et incerto fluerent mortalia casu. Harmonia Mundi pro DEO, confusione rerum humanarum pro fortuna perorante. Sed qvi haec altius scrutantur, iis confusio sexies mille annorum (etsi ne haec qvidem careat harmonia suâ) aeternitati comparata unius pulsus dissoni instar habere videtur, qvi aliâ dissonantia compensante in consonantiam summae redactus auget admirationem infinita complexi gubernatoris. Percipere est sentire rem praesentem. Unde frui est bonum percipere seu praesens sentire; vide supra.

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während der Anfang variiert. Daß Gemälde durch Schattierungen, Gesänge durch Dissonanzen geschmückt werden, insofern diese zuletzt auf eine Harmonie zurückgeführt werden, ist gewiß. Dieser Gedanke ist von großem Gewicht, denn aus ihm folgt das geregelte Verhältnis jeder Lust und jedes Schmerzes und überhaupt aller Gefühle. Ja, was noch wichtiger ist, dies ist der einzige Weg, die Sticheleien der Atheisten abzuwehren, »deren zweifelnder Geist von der Frage beunruhigt wird, ob denn Götter für die Erde Sorge tragen, oder ob ihr denn gar kein Lenker innewohnt und die sterblichen Dinge in ungewissem Zufall dahinfließen«.²²¹ Hierbei spräche die Harmonie der Welt für einen Gott, die Verwirrung der menschlichen Angelegenheiten dagegen für blinden Zufall. Denen aber, die dies tiefer erforschen, scheint die Wirrnis von sechstausend Jahren²²². (die gleichwohl einer eigenen Harmonie keineswegs entbehrt) im Vergleich mit der Ewigkeit sich ähnlich wie ein einziger mißtönender Takt zu verhalten, der im Ausgleich durch eine andere Dissonanz zum Einklang des Ganzen zurückgeführt wird und somit die Bewunderung für den das Unendliche in sich begreifenden Lenker vermehrt. Wahrnehmen heißt eine gegenwärtige Sache empfinden. Deshalb bedeutet »genießen« ein Gut wahrnehmen, d. h. es als gegenwärtig empfinden, entsprechend der obigen Definition.

IV. Vier Briefe zum Verhältnis von positivem und natürlichem Recht (1670 –1672)

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IV. Vier Briefe

1. Leibniz an Hermann Conring 13./23. Januar 1670 Amplissime ac Nobilissime Dne, Fautor Magne. […] Nimirum de cogitatis nostris ad Iurisprudentiam pertinentibus, aliqvid fortasse, si modò digna sunt talia, doctorum virorum sermonibus volvi, inaudiisti. Cujus verò potius judicium expectari debeat, qvàm ejus Viri, qvi magna contentione animi de ordinando Germaniae nostrae jure cogitationem suscepit, multa invenit, plura correxit, certè vasta ac latè fusa mente cuncta pervasit, de qvibus testimonium perhibent qvi vulgò prostant libri Tui. Nimirum, si Te rectè asseqvor, alia est qvaestio qvid nunc de jure sit respondendum; alia qvomodo condendae Leges. Illud est prudentiae dicasticae, hoc nomotheticae. Porro ipsa prudentia dicastica duas rursum partes habet, scientiam et peritiam, scientiam juris naturalis, peritiam juris positivi; Ius enim positivum est facti potius qvàm juris. Conseqventias autem eius nosse, tam est juris naturalis, qvàm nosse conseqventias contractus alicuius; etsi circumstantiae personarum ac temporum, ex qvibus de mente legis constare debet, tam sint peritiae simplicis, seu historiae, qvàm circumstantiae contractus. Porro ut jus naturae habet respondens sibi jus positivum; ita scientia nomothetica habet respondentem sibi Notitiam Reipublicae qvalis revera reperitur, qvae itidem est nudae peritiae tantùm. Ut ita hoc schema prodeat:

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1. Leibniz an Hermann Conring, 13./23. Januar 1670¹ Erlauchtester und vornehmster Herr, großer Förderer ! […]² Ihr habt zweifellos von dem, was ich in bezug auf die Rechtsklugheit durchdacht habe, wohl etwas vernommen, wenn solches nur wert ist, in den Gesprächen der Gelehrten hin- und hergewälzt zu werden. Von wem aber muß man eher ein Urteil erwarten als von dem Manne, der mit großer Geistesanspannung die Denkarbeit auf sich genommen hat, unser deutsches Recht zu ordnen, der hier vieles gefunden und mehreres berichtigt hat, der gewiß das Verwüstete und weit Verstreute mit seinem Verstand durchdrungen hat, wovon diejenigen Zeugnis geben, die sich mit Zitaten aus Eurem Buch öffentlich feilbieten. Zweifellos sind es, wenn ich Euch richtig folge, zwei verschiedene Fragen, wie jetzt Recht gesprochen wird, und auf welche Weise man die Gesetze aufstellen muß. Jene gehört zur Klugheit der Rechtsfindung, diese zur Klugheit der Gesetzgebung. Nun hat die Klugheit der Rechtsfindung wiederum zwei Teile, Wissenschaft und Erfahrung: Wissenschaft des Naturrechts und Erfahrung des positiven Rechts. Positives Recht ist nämlich eher eine Sache des Tatbestands als der Rechtmäßigkeit. Die Folgerungen davon zu kennen ist allerdings im gleichen Sinne eine Sache des Naturrechts wie die Folgerungen aus einem Vertrag zu kennen, auch wenn die persönlichen und zeitlichen Umstände, auf denen man im Sinne des Gesetzes bestehen muß, ebenso Sache der einfachen Erfahrung bzw. der Geschichte sind, wie die Umstände Sache des Vertrages sind. Wie ferner dem Naturrecht das positive Recht korrespondiert, so korrespondiert der gesetzgebenden Wissenschaft die Kenntnis des Staatswesens, so wie man es tatsächlich vorfindet; denn sie entspringt gleichfalls nur der nackten Erfahrung. Somit ergibt sich folgendes Schema:

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IV. Vier Briefe Scientia

Ethica

Politica

seu Iuris Naturae

seu Legis ponendae

Prudentia ex Peritia

Iuris civilis tam privatae, huc Iurisprudentia privata

seu

Legis positae qvàm publicae, huc Notitia Rerumpublicarum, vulgò Ius publicum.

Nempe omnis prudentia agendi et ars operandi ex scientia et peritia componitur. Scientia autem juris naturae, de qva Grotius, Hobbes, Feldenus, Pufendorfius, Ethica est, de justo, eoqve ut Grotius vocat strictè dicto; scientia Nomothetica de condendis Legibus, Politica est, de Utili, sed in commune, seu de aeqvo, vel ut Grotius vocat jure laxè dicto (ad qvod in me est obligatio, sed in altero non est actio seu ius exigendi). Aeqvum nimirum est, qvin et tenemur omnes in conscientia, ut Respublica qvàm optimo sit loco, sed si qvi non conspirent, non possunt semper cogi. Verbi gratia si aeqvum esset (id est publicè utile) tolli omnia telonia, non ideò principes absoluti possent ad hoc jure cogi. Video autem Tibi in editis hactenus scriptis magis propositam fuisse scientiam prudenter condendi le-

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1. an Conring Wissenschaft:

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Ethische,

Politische,

d. h. Wissenschaft des Naturrechts

d. h. Wissenschaft der Gesetzgebung

Klugheit aufgrund von:

Erfahrung : des bürgerlichen Rechts,

d. h. des aufgestellten Gesetzes

einerseits des privaten Bereichs

andererseits des öffentlichen Bereichs

Hierhin gehört die Private Rechtsklugheit

Hierhin gehört die Kenntnis des Staatswesens, das sog. Öffentliche Recht.

Denn alle Klugheit des Handelns und alles Können in der Ausführung setzt sich aus Wissenschaft und Erfahrung zusammen. Die Wissenschaft vom Naturrecht allerdings, von der Grotius, Hobbes, von Felden und Pufendorf gehandelt haben, heißt Ethik. Sie handelt vom Gerechten, und zwar, wie Grotius sagt, im strengen Sinne des Wortes. Die gesetzgebende Wissenschaft, die von der Aufstellung der Gesetze handelt, heißt Politik; und sie betrifft das Nützliche, aber im Sinne des Gemeinwohls, d. h. sie betrifft dasjenige, was billig ist, oder, wie Grotius sagt, das Recht im weiteren Sinne (dasjenige, wozu zwar meinerseits eine Verpflichtung besteht, wozu aber bei einem anderen kein Recht auf einen Prozeß bzw. kein Recht auf Erzwingung besteht). Billig ist es zweifellos, auch ohne daß wir alle vom Gewissen dazu gehalten sind, daß der Staat sich im bestmöglichen Zustand befindet. Sofern die Leute sich hierin aber nicht einig sind, können sie nicht gezwungen werden. Wenn es z. B. billig wäre (d. h. von öffentlichem Nutzen), daß alle Zölle aufgehoben würden, könnten doch die absoluten Fürsten nicht schon deshalb zu Recht hierzu gezwungen werden. Ich sehe aber, daß Ihr Euch in Euren bisher veröffentlichten Schriften eher die Wissenschaft der klugen Gesetzesaufstellung

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IV. Vier Briefe

ges, qvàm respondendi de Iure sive naturae sive civili. Et fateor majoris operae, ac fructus qvoqve esse scientiam nomotheticam de optima Republica, gradibusqve ad eam accedendi, qvàm scientiam respondendi de jure qvod est inter eos qvos tenent nullae leges, vel omnino, vel in casu proposito, ubi lex civilis tacet. Fortasse tamen et Iuris Naturalis scientia meretur ad certitudinem evehi qvanta scientiam debet, qvando ab erroribus in illa percrebrescentibus multum in res humanas damni, plurimum in theologiam confusionis fluxit. Et fortasse nec constitui scientia nomothetica seu politica perfectè potest, nisi fundamentis Ethicae seu Iuris naturae praedemonstratis. Qvaecunqve autem hactenus in jure naturae praestita sunt, longè absunt à scientiae absolutione, maximè qvod certum fundamentum ac velut norma justi non sit constituta. Vulgò fieri jubent qvod honestum est, sed si honestatem à gloria id est opinione metiuntur longè absunt à vero. Aristoteles et Stoici convenientiam cum natura, id est metron, symmetriam, mediocritatem, fundamentum justi locabant, qvibus etiam fundamentis insistit Feldenus, nec abludit Pufendorfius, nisi qvod Hobbiana contemperat, magno tamen judicio qvo sanè ille sano ac sobrio pollet, ab ingenio qvoqve atqve eloqventia, qvae dotes omnes rarò in unum confluunt, instructissimus. Hobbius mensuram justi facit conatum pacis conservandae aut asseqvendae. Pleriqve verè, ut so-

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vorgenommen habt als die Wissenschaft der Rechtsfindung, sei es im Naturrecht oder im Zivilrecht. Und ich gebe zu, daß es von größerem Arbeitsaufwand, aber auch von größerem Nutzen ist, die gesetzgebende Wissenschaft im Hinblick auf den bestmöglichen Staat und im Hinblick auf die Schritte, sich ihm anzunähern, zu betreiben, als die Wissenschaft der Rechtsfindung zu betreiben im Hinblick auf dasjenige Recht, das zwischen denen gilt, die hier durch keine Gesetze festgelegt sind, sei es überhaupt, sei es in einem vorgegebenen Falle, in dem das bürgerliche Gesetz schweigt. Dennoch verdient es vielleicht auch die Wissenschaft des Naturrechts, soweit wie möglich auf den Gewißheitsgrad gehoben zu werden, der einer Wissenschaft gebührt, sobald von den Irrtümern, die in ihr überhandnehmen, viel Schaden für die menschlichen Angelegenheiten und besonders viel Verwirrung für die Theologie entsteht. Auch kann vielleicht die gesetzgebende oder politische Wissenschaft auf keine andere Weise vervollkommnet werden als dadurch, daß die Grundlagen der Ethik oder des Naturrechts vorab bewiesen werden. Was hingegen bis jetzt alles im Naturrecht vorliegt, ist weit davon entfernt, eine durchgeführte Wissenschaft zu sein, vor allem deshalb, weil eine sichere Grundlage und gleichsam eine Richtschnur für das Gerechte bislang nicht aufgestellt worden ist. Für gewöhnlich bestimmt man, das solle geschehen, was ehrenhaft ist; aber wenn man die Ehrenhaftigkeit am Ruhm, d. h. an der Meinung anderer mißt, bleibt man vom Wahren weit entfernt. Aristoteles und die Stoiker setzten die Übereinstimmung mit der Natur, d. h. Maß, Symmetrie und Mitte, als Grundlage des Gerechten an.³ Auf diesen Grundlagen beharrt auch von Felden. Hiervon weicht auch Pufendorf nicht ab, wenn er nicht gerade Gedanken von Hobbes hineinmischt, der jedoch von ausgeprägtem Urteilsvermögen ist, das er gewiß gesund und nüchtern anwendet, bestens unterwiesen durch Genie und auch Beredsamkeit, welche Gaben alle zusammen nur selten in eins zusammenkommen.⁴ Hobbes setzt als den Maßstab des Gerechten den Antrieb an, Frieden zu bewahren bzw. zu erlangen. Die meisten halten es allerdings so,

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let in divortiis opinionum, sed non êáèïëéê§ò seu ìåèïäéê§ò. Ego suppono cum Carneade (et Hobbius consentit) Iustitiam sine utilitate propria (sive praesente sive futura) summam esse stultitiam, longè enim absunt ab humana natura Stoicorum et Sadducaeorum de virtute propter se colenda superbae jactationes. Ergo omne Iustum debet esse privatim Utile. Sed cum Iustitiae forma consistat in publica utilitate; seqvitur qvod non possit accuratè demonstrari haec propositio: homo prudens debet semper agere qvod justum est, nisi demonstretur esse qvendam perpetuum vindicem publicae utilitatis (nam aliorum oculi metusqve non ultra ligabunt prudentem, qvàm qvousqve juvare aut nocere possunt), id est Deum ; cumqve sensu manifestum sit eum non esse semper vindicem in hac vita, superesse aliam, id est esse aliqvem Deum, et humanam animam esse immortalem. Horum duorum fundamentorum omnis efficaciae justi et aeqvi, accuratâ demonstratione opus est ius naturae tradituro, qvam nescio an in ullo libro habeamus, ac si qva ullibi est, opto videre. Qvare meopte marte omni animi contentione huc incumbens, videor mihi voto potitus. Interea tamen et illud fateor sufficere scientiae morali posse, si Existentiam Dei et immortalitatem animae probabiles, vel saltem possibiles esse demonstretur, qvod itidem, ut efficerem, operam omnem dedi. Regulae autem Iustitiae fundamentales, seu Utilitatis publicae sunt duae: (1) ut ne cuiqvam auferatur res (sine vitio) possessa (id est qvam non ante et ipse alteri

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wie es in den Auseinandersetzungen der Meinungen zu geschehen pflegt, aber eben nicht allgemeingültig oder methodisch. Ich unterstelle mit Karneades (und Hobbes stimmt damit überein), daß Gerechtigkeit ohne eigenen Vorteil (sei er gegenwärtig oder zukünftig) die größte Dummheit ist.⁵ Denn die hochmütigen Prahlereien der Stoiker und Sadduzäer von einer Tugend, die um ihrer selbst willen zu pflegen sei, sind von der menschlichen Natur weit entfernt. Folglich muß alles Gerechte ein im Privatbereich Nützliches sein. Wenn aber die Form der Gerechtigkeit im öffentlichen Nutzen besteht, so folgt daraus, daß die Behauptung, ein kluger Mensch müsse immer tun, was gerecht ist, nicht genau bewiesen werden kann, wenn nicht bewiesen wird, daß es einen immerwährenden Vergelter des öffentlichen Nutzens gebe, d. h. Gott (denn die Augen der anderen und die Furcht vor ihnen werden den Klugen nicht über das hinaus binden, was ihm nützen oder schaden kann). Und da es offenkundig ist, daß Gott sich nicht immer in diesem Leben als Vergelter betätigt, ist zu beweisen, daß es ein anderes Leben über dieses hinaus gibt, das heißt, daß es einen Gott gibt und daß die menschliche Seele unsterblich ist. Für alle Wirksamkeit dieser beiden Grundlagen dessen, was billig ist, benötigt derjenige, der das Naturrecht lehren will, einen genauen Beweis, den wir, wie ich vermute, in keinem Lehrbuch finden; und wenn es irgendwo einen gibt, dann möchte ich ihn gerne sehen. Auf dieses Ziel bin ich deshalb in meinem inneren Kämpfen mit aller Anspannung meines Geistes versessen, und ich glaube, das, was ich versprochen habe, gut bewältigt zu haben. Indessen gebe ich doch zu, daß es für die Wissenschaft von der Moral auch genügen kann, wenn bewiesen werden könnte, daß die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele wahrscheinlich oder zumindest möglich sind, worauf ich gleichfalls, um den Beweis auszuführen, alle Mühe verwandt habe. Zwei grundlegende Regeln gibt es nun für die Gerechtigkeit bzw. für den öffentlichen Nutzen: (1) daß keinem eine Sache weggenommen werde, die er (ohne hierbei eine Verfehlung begangen zu haben) besitzt (d. h. die er nicht vorher einem anderen weggenom-

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abstulerit) et (2) ut cuiqve tribuatur qvantum ipsi opus est ad publicam utilitatem juvandam. Illuc pertinet praeceptum juris de nemine laedendo, seu damno vitando, Huc praeceptum juris de suo cuiqve tribuendo seu lucro Iustè captando. Illa regula juris stricti fundamentum est, haec aeqvitatis. Illa etiam naturali jure actionem, haec tantùm exceptionem parit, illa est justitiae commutativae, haec distributivae. Illic proportio arithmetica, hîc geometrica. Illa homines discriminat in statu naturali (id est extra civitatem) positos, haec conjungit in civitatem. Illa jus naturae strictè dictum, haec scientiam nomotheticam multis conseqventiis generat, illa est magis justitiae particularis, haec universalis. Sed qvid tandem mihi propositum sit qvaeris. Nimirum, Vir Amplme, demonstrare propositiones juris naturalis stricti per omne possessionum, conventionum, successionum etc. genus, et qvidem adhibendo perpetuos Soritas, qvae ratio mihi ex multis visa est aptissima rei in clarâ luce ponendae, qvando nihil aliud est demonstrare, qvàm certitudinem alicuius rei claram, ac velut ocularem reddere. Huic curae cùm dudum incumberem, deprehendi regulas juris naturalis stricti cum regulis juris Digestorum mirificè conspirare, atqve in ea re dijudicanda veterum ICtorum incredibilem solertiam fuisse, cùm postea Imperatores pro arbitrio, praetextu aeqvitatis, Iustinianeis innovationibus familiari, pleraqve turbaverint; et hodierni complures juris naturalis conditores (vel qvòd legibus Romanis nullam aut

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men hat); und (2) daß jedem das zuerteilt werde, was er braucht, um den öffentlichen Nutzen zu befördern. Auf jene Regel bezieht sich die Rechtsvorschrift, daß niemand zu schädigen bzw. daß Schaden zu vermeiden sei, auf diese Regel die Rechtsvorschrift, daß jedem das, was ihm zukommt, zu erteilen sei bzw. daß vorteilhafte Gelegenheiten mit Recht ergriffen werden dürfen. Die erste Regel ist Grundlage des Rechts im strengen Sinne, die zweite Grundlage der Billigkeit. Jene führt auch gemäß dem Naturrecht zum Prozeß, diese nur zur Ausnahme. Jene gehört zur Tauschgerechtigkeit, diese zur Zuteilungsgerechtigkeit. Bei jener gilt ein arithmetisches Verhältnis, bei dieser ein geometrisches.⁶ Jene unterscheidet die Menschen im Naturzustand (d. h. außerhalb des Gemeinwesens), diese verbindet sie zum Gemeinwesen. Jene bringt das Naturrecht im strengen Sinne hervor, diese die Wissenschaft der Gesetzgebung mit vielen Folgerungen. Jene gehört mehr zum partikularen Gerechtigkeit, diese mehr zur universalen. Aber Ihr fragt, was ich mir schließlich vorgenommen habe. Zweifellos folgendes, erlauchtester Herr: Sätze des Naturrechts im strengen Sinne durch die gesamte Gattung der Besitzverhältnisse, Übereinkünfte, Nachfolgebeziehungen usw. hindurch zu beweisen, und zwar durch Anwendung beständiger Kettenschlüsse. Diese Begründungsart halte ich unter so vielen für die geeignetste, um die Sache in ein helles Licht zu setzen. Heißt doch beweisen nichts anderes, als einer Sache die helle Gewißheit, gleichsam die Lupe, verschaffen. Während mir schon längst diese Sorge oblag, entdeckte ich, daß die Regeln des Naturrechts im strengen Sinne mit den Rechtsregeln der Digesten auf wundersame Weise harmonieren und daß beim Beurteilen dieser Sache die alten Rechtsgelehrten eine unglaubliche Sorgfalt walten ließen. Dagegen haben später die Kaiser für ihre Willkür, unter dem Vorwand der Billigkeit, mit den Justinianischen Erneuerungen das meiste zugunsten des eigenen Hauses in Verwirrung gebracht. Auch die meisten der heutigen Begründer des Naturrechts (sei es, daß sie sich um die römischen Gesetze gar nicht oder nur wie Verwaltungsbeamte bemüht haben, sei es, daß sie die Proportionen der Billigkeit von

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perfunctoriam operam dederint, vel qvòd aeqvitatis congruentias à juris stricti necessitate non satis distingvant) saepius à Romanis Legibus discesserint, qvàm erat necesse. Qvotusqvisqve est qvi sibi persvadeat juris naturae esse, ut pacta nuda non pariant actionem, ut aeqvitas naturalis pariat exceptionem tantùm, ut discrimen statuatur inter actiones bonae fidei et stricti juris, ut non pactis sed traditionibus rerum dominia transferantur ? qvae omnia ICtorum Romanorum acumini probata, Grotio tamen, Viro utiqve magno, displicuerunt, rationibus parùm demonstratoriis ducto. Cùm igitur his contemplationibus ego non sine successu aliqvo indulgerem; deprehendi grandes saepe materias ac latè fusas contrahi in regulas paucas, sed ita universales posse, ut has qvi teneat, sive animo sive oculis objectas, decidere oblatos casus sine exceptione omnes qveat. Hujus coepti utilitate illectus cogitavi an non possibile esset omnes juris nunc per Germaniam in usu versantis regulas decidendis casibus omnibus suffecturas duabus circiter tribusve tabulis grandibus, mapparum instar in pariete suspendendis, ita exhibere, ut oblatus casus non solvi tantùm è vestigio, sed et, velut in albo praetoris aut dodecadelto ostendi manifesta ratio decidendi posset. Hoc jam consilium, ne intra animum tantùm stetisse putes, semiperfectum dicere audeo. Ius enim privatum, id est omnia privatorum jura obligationesqve earumqve constitutiones ac solutiones cum successu mihi in Tabulam ita redegisse vi-

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der Notwendigkeit des Rechts im strengen Sinne nicht genügend unterschieden haben) sind häufiger von den römischen Gesetzen abgewichen als nötig. Wie gering ist die Zahl derer, die sich selbst davon überzeugt haben, daß es zum Naturrecht gehört, daß bloße Verträge⁷ keinen Prozeß veranlassen, daß die natürliche Billigkeit nur einen Anspruch begründet, dem in Form einer Ausnahme entsprochen werden kann, daß ein Unterschied festgesetzt wird zwischen den Handlungen in gutem Glauben und denen des Rechts im strengen Sinne, daß nicht durch Verträge, sondern durch Überlieferungen die Besitzansprüche auf Sachen übertragen werden ! Obwohl der Scharfsinn der römischen Rechtsgelehrten dies alles für gut befunden hat, mißfiel es doch in jeder Hinsicht dem durchaus bedeutenden Grotius, der sich durch Gründe von allzu geringer Beweiskraft verleiten ließ. Indem ich also diesen Überlegungen nicht ohne einen gewissen Erfolg nachgab, entdeckte ich, daß oft großartige Materien, die weit verstreut sind, in wenige Regeln zusammengezogen zugleich so allgemeingültig sein können, daß derjenige, der sie vor seinem geistigen oder sinnlichen Auge ausgebreitet hat, die dargebotenen Fälle sämtlich ohne Ausnahme kurz zu entscheiden vermag. Vom Nutzen dieses Unterfangens angespornt dachte ich darüber nach, ob es nicht möglich wäre, alle Regeln des Rechts, das zur Zeit in Deutschland im Gebrauch ist, sofern sie allen Fallentscheidungen genügen sollten, in vielleicht zwei oder drei großformatigen Tabellen in Gestalt von Karten, die man an die Wand hängen kann, so sichtbar zu machen, daß nicht nur ein dargebotener Rechtsfall aus dem Stegreif gelöst werden kann, sondern daß auch genauso wie an der weißen Tafel des Prätors oder am Zwölftafelgesetz eine handgreifliche Begründung der Entscheidung aufgezeigt werden kann.⁸ Schon von diesem Plan wage ich zu behaupten, daß er halb fertig ist, damit Ihr nicht glaubt, er habe nur in meiner Vorstellung bestanden. Das Privatrecht nämlich, d. h. sämtliche Rechte und Pflichten der Privatpersonen einschließlich der Arten, wie sie sich bilden und auflösen, glaube ich mit solchem Erfolg auf eine Tabelle gebracht zu haben, daß diese mich, wann immer ich Rat

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deor, ut qvaestione oblata, rarò me consulentem dubium dimiserit. Polio tamen eam magis magisqve. Nunc jus publicum addere cogito, profanum pariter ac sacrum (qvatenus huic aliter qvàm in conscientiam executio est). Iuri autem publico et processum judicialem annumero, officiis enim magistratuum erga justitiam implorantes, constat. De caetero in jure publico fateor miras me tenebras sentire, praesertim cùm ferè tantùm jure non scripto constet; et innumera sint magni momenti, usu tantùm, qvo nihil incertius et varium magis, definienda. Utinam tuo consilio regi contingat. In libris tuis multum, fateor, luminis, sed sese subitò proripientis, ac velut subterfugientis aspectum lectoris profani. Sed de his ad Te aliqvando distinctius, nunc qvod coepi exeqvar. Tabula fundamentorum Iuris confecta universas Iuris Romani Leges, ad suam singulas regulam, unde decidendi ratio pendet, reducere cogitat mecum Amplmus Lasserus Consiliarius Moguntinus, Cancellarii qvondam filius, vir diligentissimus ac juris apprimè gnarus. Nullam Legem, nullum Paragraphum omitti, suo omnes loco collocari, Index velut proba qvaedam assecuratoria, ostendet. Ita habebitur Digestio aliqva non terminorum juris Romani (qvales sunt digestiones seu methodi qvae fiunt per divisiones et subdivisiones, Ramaeo more, qvales Vulteji, Althusii etc.) sed propositionum; nec verbalis sed rationalis. Inter qvas tantum interest, qvantum inter methodum Rami et Euclidis, qvarum illa tantùm disponit, haec simul demonstrat. Ex hâc digestione rationali Legum omnium ex

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suchte, bei einer auftauchenden Rechtsfrage selten im Stich gelassen hat. Ich glätte diese jedoch immer mehr. Nun denke ich daran, das öffentliche Recht hinzuzufügen, das weltliche ebenso wie das heilige (soweit dessen Ausführung keine Angelegenheit des Gewissens ist). Zum öffentlichen Recht zähle ich allerdings auch den Rechtsprozeß, denn er besteht aus den Pflichten der hohen Beamten gegenüber denen, die Gerechtigkeit erflehen. Ich gebe zu, daß ich beim Rest im Felde des öffentlichen Rechts eine merkwürdige Dunkelheit verspüre, vor allem, weil es fast nur in ungeschriebenem Recht besteht; und Unzähliges ist von großem Gewicht, aber nur durch Gewohnheit, das Unsicherste und Wechselhafteste im Leben, zu definieren. Könnte ich hier doch einmal durch Euren Ratschlag auf den richtigen Weg gebracht werden ! In Euren Büchern ist offengestanden viel Licht, das aber zu plötzlich hervorbricht und somit gleichsam dem trägen Auge des profanen Lesers entflieht. Doch darüber schreibe ich Euch ein andermal Genaueres. Jetzt führe ich erst einmal zu Ende, was ich begonnen habe. Sobald die Tabelle mit den Rechtsgrundsätzen fertig ist, gedenkt der hochberühmte Lasser,⁹ Mainzer Consiliar, Sohn des Kanzlers, ein höchst sorgfältiger und erstrangiger Rechtsgelehrter, mit mir zusammen sämtliche Gesetze des römischen Rechts jeweils einzeln unter die zugehörige Regel zu bringen, von der die Entscheidungsbegründung abhängt. Zur Absicherung wird ein Register zeigen, daß kein Gesetz, kein Paragraph ausgelassen wird und alle an der zugehörigen Stelle eingeordnet sind. Auf diese Weise wird das Ergebnis nicht so sehr eine Auflistung von Begriffen des römischen Rechts sein (wie die Aufzählungen oder Methoden, die durch Begriffseinteilungen und -unterteilungen nach Ramistischem Verfahren¹⁰ gebildet werden, z. B. bei Vultejus, Althusius usw.¹¹) als vielmehr eine Auflistung von Sätzen; nicht eine Auflistung von Worten, sondern eine von vernunftbegründeten Gedanken. Dazwischen klafft ein Abstand wie zwischen der Methode des Ramus und der des Euklid. Jene stellt nur Behauptungen auf, diese aber beweist zugleich. Aufgrund dieser vernünftgemäßen Einteilung aller Gesetze, die jeweils von anderen Gesetzen abhängen (wie es ja

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aliis legibus pendentium (qvales sunt Digestorum pleraeqve, non tam juris novi constitutoriae, qvam veteris interpretatoriae atqve applicatoriae) rationes apparebunt. Ratio autem legis est instar mille commentariorum, qvia hinc omnis eius interpretatio pendet. Nam omnis interpretatio constat ampliatione (ut vocant) ad casus similes, et limitatione in ordine ad dissimiles. Iam ampliatio fit ob eandem, limitatio ob cessantem rationem. Ita habes Vir Amplme rationem consilii nostri, qvod utinam regas Tuo ! Saltem voluntatem nostram, boni publici cupidam, si qvid auguror, auxilio dignam putabis. […]

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die meisten Gesetze der Digesten tun, die nicht so sehr für neues Recht konstitutiv sind als vielmehr altes Recht interpretieren und anwenden), werden die Begründungen unmittelbar einsichtig sein. Die Begründung eines Gesetzes ersetzt tausend Kommentare, weil von ihr seine ganze Auslegung abhängt. Denn alle Auslegung besteht in einer Erweiterung (wie man sich ausdrückt) auf die gleichartigen Fälle und in einer Eingrenzung im Hinblick auf die ungleichartigen. Nun erfolgt aber die Erweiterung durch eine Anwendung derselben Begründung in einem ähnlichen Falle, die Eingrenzung durch das Wegfallen dieser Begründung. So kennt Ihr nun, hochberühmter Mann, den Grundriß meines Plans, den Ihr, wie ich wünsche, durch Euren eigenen auf den richtigen Weg bringen möget ! Wenn ich es richtig vorhersehe, werdet Ihr zumindest meine Absicht, die auf eine geneigte Öffentlichkeit begierig ist, Eurer Hilfe für würdig erachten. […]¹²

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2. Leibniz an Hermann Conring 9./19. April 1670 Nobilissime, Amplissime, atqve Experientissime Dne, Fautor Magne. Acceptis literis Tuis non mediocriter gavisus sum, tum qvòd intelligerem tanti Viri sententiam, tum qvòd ille non prorsus improbaret meam. Qvi possem igitur non triumphare judicio Tuo, qvi causam nostram à tot annis tanto cum applausu publico egisti, praeparastiqve animos melioribus paulatim accipiendis, neqve enim ubiqve deliratur. Illud igitur prorsus assentior: Prudentiam dicasticam, seu artem judicandi in genere, paucissimis regulis absolvi, esse enim nihil aliud qvàm Logicam ad moralia applicatam. Porro ut Ars experimenta faciendi alia est à Physica, ita ars qvaestiones juris definiendi alia à Iurisprudentia; tantùm enim haec distant inter se qvantùm Logica serviens (ita enim appellare malo, qvàm cum Scholasticis Logicam utentem) à Scientia utente. Nihil enim aliud est haec generalis Prudentia dicastica, qvàm vera dialectica juris; prorsus ut Logicam Theologicam non pauci, Logicam Medicam Methodistae, Logicam Mathematicam Algebraici, Vieta, Ougthredus, Cartesius, dedêre. Praeter artem igitur interpretandi, probandi, ratiocinandi, conjectandi, separatim ipsas ratiocinationes, ipsa juris theoremata, ipsas Iurisprudentiae conclusiones qvaeri atqve haberi debere, egregiè animadvertisti, easqve non singulares, non in personis, non in temporibus, sed in ipsa causa positas, id est ut pro Titio

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2. Leibniz an Hermann Conring, 9./19. April 1670¹³ Vornehmster, erlauchtester und gelehrtester Herr, großer Förderer ! Über den Empfang Eurer Zeilen¹⁴ habe ich mich über die Maßen gefreut, zum einen, weil ich die Meinung eines so bedeutenden Mannes einsehen durfte, zum anderen, weil dieser meine Meinung nicht sofort verworfen hat. Wie sollte ich also nicht jubeln über Euer Urteil, der Ihr unsere Sache seit so vielen Jahren mit so großem Beifall an die Öffentlichkeit gebracht habt und die Gemüter allmählich durch immer bessere Inhalte vorbereitet habt. Denn nicht überall ist man verrückt. Folgendes also findet besonders meine Zustimmung: Die Klugheit der Rechtsfindung, d. h. die Kunst zu urteilen im allgemeinen, habe ich auf die allerwenigsten Regeln gebracht. Sie ist nämlich nichts anderes als die auf Moralprobleme angewendete Logik. Wie ferner die Kunst, Experimente aufzustellen, sich von der Physik unterscheidet, so auch die Kunst, Rechtsfragen zu definieren, von der Rechsgelehrsamkeit. Beide sind nämlich so weit voneinander entfernt wie die dienende Logik (so möchte ich sie nämlich lieber nennen als die »anwendende Logik«, wie die Scholastiker es tun) von der Gebrauchswissenschaft. Denn die besagte allgemeine Klugheit der Rechtsfindung ist nichts anderes als die wahre Rechtsdialektik; wie ja auch nicht wenige Leute eine theologische Logik, die Methodenlehrer eine medizinische Logik, die Algebraiker wie Viète, Oughtred und Descartes eine mathematische Logik geschrieben haben.¹⁵ Daß man also außer den Künsten des Auslegens, des Beweisens, des Schlußfolgerns und des richtigen Mutmaßens noch einmal gesondert die Schlußformen selbst, die Rechtslehrsätze selbst, die Schlußfolgerungen der Rechtsklugheit selbst aufsuchen und innehaben muß, habt Ihr vorzüglich erkannt. Und diese nicht etwa, wie sie einzeln, bei bestimmten Personen oder zu bestimmten Zeiten, sondern so, wie sie in der Sache selbst angelegt sind, d. h. so, wie für »Titius«

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substitui Maevius vel Cajus, vel qvilibet alius; pro Româ, Carthago, Hispalis, vel qvaelibet urbs alia, possit, nisi scilicet vel personae vel loco singulare aliqvod jus esse probetur, qvod cùm facti sit, nostrâ nunc qvidem nihil refert, nisi cùm oblato casu, de illa persona illove loco sermo est. Porro qvantum differat Legislatoria prudentia à judiciaria, prudentissimè à Te ubiqve animadvertitur; neqve enim ita pronunciandum est judici, ut Leges essent scribendae, sed ut sunt scriptae. Sed qvid si lex de proposito casu sileat, id est, ut neqve ea expressè contineatur, neqve inde conseqventia erui possit. Tum qvidem, opinor, non diffiteberis, ita esse judici pronunciandum, qvasi extra Rempublicam, lectus arbiter inter duos, nullâ communione juris civilis colligatos sententiam ferre deberet. Cùm igitur in Republica Germanica ita sit comparatum, ut cessante jure municipali, standum sit Iuri Imperii nostri Universali scripto vel non scripto recenti; cessanteqve Iure Imperii nostri universali recenti (qvo id omne comprehendo, qvod à tempore constitutae hujus qvam nunc retinemus Reipublicae, sive id ab Ottonibus, sive à Carolo M. repetendum sit, ei placuit, ad qvem spectavit summa potestas) standum sit juri Romano, à Iustiniano promulgato, testante ipso jure nostro hodierno scripto ac non scripto, id est Recessibus Imperii et usu judiciorum; ac deniqve cessante Iure Romano standum sit juri naturali (sed ei tantùm qvod Grotius facultatem, vel strictè dictum

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auch »Maevius« oder »Cajus« oder irgendeine andere Person eingesetzt werden kann,¹⁶ und für »Rom« auch »Karthago«, »Sevilla« oder irgendeine andere Stadt, es sei denn, man wollte beweisen, daß für eine Person oder eine Stadt ein Sonderrecht gilt, was, wenn es der Fall ist, jedenfalls für uns jetzt belanglos ist, solange nicht bei einem vorliegenden Fall von jener Person oder jenem Ort die Rede ist. Ferner bemerkt Ihr in allen Punkten sehr klug, wie sehr sich die gesetzgebende von der rechtsprechenden Klugheit unterscheidet. Der Richter darf nämlich die Entscheidung nicht so verkünden, als seien die Gesetze erst noch zu schreiben, sondern muß sie dementsprechend verkünden, wie die Gesetze geschrieben sind. Was aber, wenn das Gesetz über einen vorliegenden Fall nichts sagt, d. h. wenn es sich weder ausdrücklich damit befaßt noch eine Folgerung aus ihm zu ziehen erlaubt ? Dann allerdings, meine ich, werdet Ihr nicht bestreiten, daß der Richter seine Entscheidung ebenso, gleichsam außerhalb der Staatsverfassung, verkünden muß, wie ein gewählter Schiedsmann zwischen zweien, die durch keine Gemeinschaft bürgerlichen Rechts verbunden sind, seinen Schiedsspruch fällen muß. Deshalb sind also im deutschen Staatswesen Anstalten dazu getroffen worden, daß beim Unzulänglichwerden des Gemeinderechts das jüngere geschriebene und ungeschriebene allgemeine Recht unseres Reiches in Kraft zu treten hat; daß beim Unzulänglichwerden des jüngeren Rechts unseres Reiches (worunter ich alles das fasse, was von den Anfängen der Verfassung dieses Staates an, den wir bis heute haben, sei es, daß man dabei auf die Ottonen, sei es, daß man auf Karl den Großen zurückgehen muß, von demjenigen gebilligt wird, dem die höchste Macht zukommt) allerdings das römische Recht in Kraft zu treten hat, wie es von Justinian proklamiert worden ist und durch unser heutiges geschriebenes und ungeschriebenes Recht selbst, d. h. nach dem Zurückweichen der Reichsbefugnisse und der üblichen Praxis der Gerichte, bezeugt wird; und daß schließlich beim Unzulänglichwerden des römischen Rechts das Naturrecht in Kraft zu treten hat (aber zunächst nur derjenige Teil, den Grotius die »Befugnis«

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vocat, id est qvod non tantùm unius conscientiam astringit, sed et alteri potestatem facit exigendi, sive vi sive legis actione), haec inqvam, gradatio, cùm sit verissima, ac, nî fallor, Tibi ipsi approbata, credo non improbabis consilium nostrum synthetico ordine à Iuris Naturalis culmine per gradus descendendi. Illud enim verissimum est: Ius naturae exactè tradi posse, nulla facta mentione Romani, non contra: Et jus Romanum exactè tradi posse nulla facta mentione hodierni, non contra: Tradi inqvam, non tamen cognosci, prorsus ut universalia ex singularibus eruuntur ordine analytico, etsi sine iis sint tradenda synthetico. Accedit qvod Ius Romanum ferè non minus ac naturale, per Europam pene universam commune habetur in privatorum controversiis. Ne Angliâ qvidem, qvod judicia maritima attinet, excepta, ut mihi ab ipsis Anglis narrari memini. Sed qvicqvid sit de Magna Britannia, Dania, Svecia, Polonia; illud tamen extra controversiam est, per Germaniam, Galliam, Italiam, Hispaniam juri Romano inhaereri, qvousqve mutatio non probatur. An hoc sit utile in illis sive Regnis sive Rebuspublicis, non disputo; aliam prorsus hanc qvaestionem esse non ignoras; manet enim nihilominus, qvamdiu à Legislatoribus aliter non praecipitur, jus Romanum, locali silente, obtinere. Nisi Tu qvidem, Vir Amplissime, dissentis. Qvae cùm ita sint, et appareat jus Germaniae, qvod usu fori servandum est, plenè constitui

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oder das Recht im strengen Sinne nennt, d. h. das, was nicht nur das Gewissen des einen bindet, sondern auch dem anderen eine Ausübungsmacht gewährt, sei es durch Gewalt, sei es durch einen Prozeß im Sinne des Gesetzes). Weil nun diese Abstufung, sage ich, höchst stimmig und, wenn ich mich nicht irre, von Euch selbst befürwortet worden ist, werdet Ihr, glaube ich, meinen Vorschlag nicht verwerfen, nach einer synthetischen Ordnung vom Gipfel des Naturrechts aus durch diese Abstufungen hinabzusteigen. Folgendes ist nämlich höchst wahr: Daß das Naturrecht genau gelehrt werden kann, ohne daß das römische Recht erwähnt werden muß, nicht aber umgekehrt. Daß auch das römische Recht genau gelehrt werden kann, ohne daß das heutige erwähnt werden muß, und ebenfalls nicht umgekehrt. Gelehrt werden, sage ich, aber noch nicht erkannt werden, und hier wiederum so, daß auf dem Wege der analytischen Ordnung das Allgemeine aus dem Einzelnen entwickelt wird, wenn dies auch auf synthetischem Wege ohne das Einzelne gelehrt werden kann. Es kommt noch hinzu, daß für fast ganz Europa in privaten Streitfällen das römische Recht nicht viel weniger gemeinsame Geltung besitzt als das Naturrecht. Nicht einmal England ist, was das Seerecht angeht, davon ausgenommen, wie ich aus persönlichen Berichten von Engländern weiß. Was aber auch immer für Großbritannien, Dänemark, Schweden und Polen gelten mag, so ist es doch über alle Kontroversen erhaben, daß man in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien dem römischen Recht folgt, solange keine Änderung Einlaß findet. Ob das nun für die genannten Königreiche bzw. Republiken nützlich ist, diskutiere ich hier nicht. Daß das außerdem eine ganz andere Frage ist, dürfte Euch nicht entgehen. So bleibt es denn nichtsdestoweniger gültig, solange von den Gesetzgebern nichts anderes vorgeschrieben wird, daß das römische Recht die Oberhand hat, sobald das regionale Recht schweigt. Nicht einmal Ihr, erlauchtester Herr, seid ja anderer Meinung ! Weil sich die Sache so verhält und weil offensichtlich ist, daß das deutsche Recht, das in der Gerichtspraxis gewahrt werden muß, nicht vollständig in

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non posse, nisi naturali ac Romano praeformatis, sitqve praeterea amplioris usus hoc ius qvod commune vocant, qvàm qvod Germaniae proprium est; meritò à jure naturali ac Romano digerendis initium nobis sumendum duximus. Deprehendimus autem in vastissima Legum Romanarum sylva grandem Iuris Naturalis materiem contineri, qvantam, sat scio, in nullo alio opere ab orbe condito, qvod qvidem extet; ac proinde credidimus eadem ferè opera Elementa Iuris naturalis ac Digesta Romani (etsi illa etiam separatim daturi simus) condi posse. In Digestis autem Romani Iuris, seu eius qvod extat Corporis Reconcinnatione, ita versabimur, si Deus coeptis aspiraverit, ut primum qvicqvid toto eius complexu continetur, paucis qvantum licet, propositionibus primis, irresolubilibus, atqve uno verbo, legum omnium Elementis comprehendamus, sic ut qvi has teneat definiendis omnibus qvaestionibus propositis (ex naturali ac Romano jure) sufficiat, habereqve omnia ad sententiam ferendam necessaria unius velut Mappae aspectu possit; deinde ut Leges Corporis nostri universas, suae qvamlibet Regulae, unde pendet eius ratio, cum omnibus propagationibus, ramis, filiabus, id est aliis Legibus ex ea lege fluentibus, perpetua qvadam Catena demonstratoria, subjiciamus, fortasse hoc modo non legum tantùm digestionem, sed et rationem, addo et interpretationem, velut aliud agendo, sed et ex naturali jure supplementa daturi. His demum absolutis de locali jure cogitandi locus erit.

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eine systematische Ordnung gebracht werden kann, wenn nicht zuvor das Naturrecht und das römische Recht in Form gebracht sind, und weil außerdem das sogenannte gemeine Recht¹⁷ im Gebrauch weiter verbreitet ist als dasjenige, das Deutschland eigen ist, glaube ich mit Fug und Recht von einer Einteilung des Naturrechts und des römischen Rechts meinen Anfang nehmen zu müssen. Nun mache ich aber die Entdeckung, daß im üppig verwucherten Wald der römischen Gesetze eine großartige Materie für das Naturrecht enthalten ist, und zwar – davon bin ich überzeugt – so bedeutend, wie sie sich seit Gründung des Erdkreises in keinem anderen Werk findet, das es nur geben mag. Und eben deshalb habe ich geglaubt, daß im gleichen Arbeitsgang die Elemente des Naturrechts und die Digesten des römischen Rechts verfaßt werden können, wenn ich auch jene gesondert darbieten will. Bei den Digesten des römischen Rechts oder genaugenommen bei Bearbeitung dessen, was für die Ausbesserung des Rechtskorpus noch übrig ist, werde ich, wenn Gott meinem Beginnen Kraft verleiht, so verfahren, daß ich erstens alles das, was in seinem Gesamtumfang enthalten ist, in möglichst wenige erste Sätze fasse, die unauflöslich und, mit einem Wort, Elemente aller Gesetze sind, und zwar so, daß jedem, der sich an diese hält, die Definition aller vorgesetzten Probleme (im Bereich des römischen und des Naturrechts) gelingt und jeder alles das, was zur Urteilsfindung nötig ist, mit einem Blick auf gleichsam eine einzige Landkarte sehen kann; zweitens werde ich so verfahren, daß ich jedes einzelne Gesetz unseres Rechtskorpus seiner jeweiligen Regel, von der seine Begründung mit allen Sprossen, Verzweigungen und Ablegern abhängt, d. h. mit den anderen Gesetzen, die aus diesem hervorgehen, durch eine fortlaufende Beweiskette zuordnen und damit wohl nicht nur eine Einteilung der Gesetze, sondern auch die Begründung, ja ich füge hinzu, gleichsam nebenher auch die Auslegung, aber auch die Ergänzung aus dem Naturrecht liefern werde. Nach Abschluß dieser Aufgaben wird Platz für einige Gedanken zum regionalen Recht sein.

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Si qvid in hâc designatione Tibi displicet, id ut liberrimè admoneas, vehementer etiam atqve etiam rogo. Si Amplmi Eichelii qvoqve discere sententiam possem, nihil mediocre inde accederet conatibus nostris. Ei me magnopere commendari peto. Illud nunc à Te illoqve cognoscere opto, qvid potissimum in Romano jure praeter naturale introductum notaveritis, tum qvid de Grotio aliisqve circa jus naturae ratiocinatoribus sentiatis, tum qvae vobis in summa digerendi methodus placeat. Scriberem ad Amplum Virum, si mihi commoda compellandi occasio suppeteret, nunc ad Te scripsisse, in tanta vestra animorum conjunctione, perinde esse puto. Idem de Amplissimis Viris Ludolpho Hugone, ac Sam. Rachelio, à Te rectissimis judiciis penitus imbutis sentio. Horum omnium favorem, ac candidas sententias, qvibus nullum in me nunc qvidem conferre beneficium majus possunt, à Te, Fautor Magne, data occasione expecto. […]

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Inständig bitte ich Euch immer wieder darum, so freimütig wie möglich Einspruch zu erheben, wenn Euch an dieser Skizze etwas mißfällt ! Wenn ich außerdem etwas über das Urteil des hochberühmten Eichel¹⁸ erfahren könnte, wäre dies eine wichtige Anregung für meine Versuche. Ihm möchte ich ganz besonders empfohlen werden. Was ich nun von Euch und von jenem zu erfahren wünsche, ist erstens, was Ihr im Bereich des römischen Rechts als die wichtigste Einführung notiert habt, wenn man einmal von naturrechtlich orientierten Einführungen absieht; zweitens, was Ihr von Grotius und den anderen haltet, die sich über das Naturrecht Gedanken machen; und drittens, welche Einteilungsmethode im ganzen Ihr für gut haltet. Ich würde ja an den hochberühmten Mann persönlich schreiben, wenn ich einen günstigen Anlaß hätte, mich an ihn zu wenden. Ich glaube jedoch, daß es bei Eurer engen Geistesverbindung auf dasselbe hinausläuft, wenn ich mein Schreiben an Euch richte. Was die hochberühmten Herren Ludolf Hugo¹⁹ und Samuel Rachel²⁰ betrifft, die von Euch mit höchst zutreffenden Urteilen geradezu überhäuft worden sind, so teile ich Eure Wertschätzung. In der Förderung und ungetrübten Fürsprache aller dieser Köpfe erblicke ich die größtmögliche Wohltat, die man mir erweisen kann. Daß Ihr hierauf bei Gelegenheit hinwirken möget, erhoffe ich von Euch, großer Förderer ! […]²¹

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3. Leibniz an Jean Chapelain ( ? ) 1. Hälfte 1670 ( ? ) Vir Amplissime […] Ex quo Iurisprudentiae animum appuli, ita tamen ut sine aliarum scientiarum viatico accedendum non putarem, a solidiore philosophia recens, quae praeter experimenta aut demonstrationes, id est sensus rationisque stabilimenta admittit nihil, eadem quantum materia caperet, in hâc iusti iniustique scientiâ inquirere coepi: tanto impatientius, quanto mihi magis operae pretium videbatur animi quam corporis motibus regulam dare posse. Cumque videremus, duo enim nunc in hanc rem consensimus, quod in Naturae cognitione experimenta sunt, id in hoc negotio esse leges, utrobique enim sensus, facti, historiae res agitur, et quod illic sunt abstractae, a solis definitionibus pendentes, ac sine sensus adminiculo certae, de magnitudine seu numero partium, figura, et motu demonstrationes, Arithmeticae, Geometricae et Phoronomicae; id hoc loco esse invictas, atque omni Exceptione maiores, nisi quas ipsae sibi invicem complicatae faciunt, regulas ac ratiocinationes Iuris aequitatisque (quanquam haec duo longè latèque differunt) naturalis: dandam nobis operam censuimus, ut utriusque tractationis coniunctione existere aliquod artis óýóôçìá posset, soluendis quaestionibus, quibuscunque dictis indictisue suffecturum. Sed

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3. Leibniz an Jean Chapelain ( ? ), 1. Hälfte 1670 ( ? )²² Erlauchtester Herr ! […] Von jenem Punkt aus, von dem ich meinen Geist zur Rechtsgelehrsamkeit hinübersegeln ließ – so immerhin, daß ich nicht glaubte, ohne das Zehrgeld der anderen Wissenschaften dort anlanden zu dürfen, eben als einer, der frisch von der handfesteren Philosophie herkam, die außer Experimenten und Beweisen, d. h. den Grundfesten von Sinnen und Verstand, nichts zuläßt – von eben dem Punkt aus begann ich nun auch in dieser Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten danach zu forschen, was ihr Wissensstoff nur hergibt, und dies um so ungeduldiger, als es mir mehr der Mühe wert zu sein schien, den Bewegungen des Geistes die Regel zu formulieren als denen des Körpers. Nun erkannte ich aber, und in dieser Sache stimmen wir ja beide überein, daß dasjenige, was in der Naturwissenschaft die Experimente sind, in diesem Aufgabenbereich die Gesetze sind. Bei beidem nämlich handelt es sich um eine Frage der Sinneswahrnehmung, des Tatsächlichen und der Geschichte. Und was in der Naturwissenschaft die abstrakten Beweise sind, die allein von Definitionen abhängen, welche zugleich ohne Beistand der Sinne gewiß sind: die arithmetischen, geometrischen und phoronomischen Beweise betreffs der Größe bzw. der Anzahl der Bestandteile, der Gestalt und der Bewegung, das entspricht hier den Regeln und Schlußfolgerungen des natürlichen Rechts und der Billigkeit (wenngleich diese beiden sich sehr voneinander unterscheiden), die unwiderlegbar sind und zugleich einen größeren Umfang haben als alle Ausnahmen, sofern sie diese nicht durch gegenseitige Verwicklung erzeugen. Weil ich dies erkannte, entschloß ich mich, meine Mühe darauf zu verwenden, durch eine Verbindung beider Behandlungsweisen ein kunstgerechtes System zu ermöglichen, das alle ausgesprochenen und unausgesprochenen Probleme hinreichend lösen kann.

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cum infinitum esset (non minus ferè quam in pactis privatorum) ad locorum omnium consuetudines, ac Iura singularia (velut conventiones publicas) se dimittere, quibus singulae ferè villae variant, incipiendum nobis ab illo Iure censuimus, quod vulgo etiam commune vocatur, quodque tradi sine localibus illis potest, non contra localia sine ipso. Tale autem Europae penè totius consensu Romanum habetur, recepto passim usu iudiciorum, ut silentibus locorum moribus, in casu proposito, Romanis legibus stetur, non ulla parendi necessitate, sed evidentissima commoditate suadente. Cum enim tanto melius sint constituta iudicia, quanto minus arbitrio iudicis relictum est, id est quanto magis lex ipsa affectibus vacua pro iudice est: nullus autem extet liber legum in orbe terrarum, qui plures dubitationes definierit, in quo plus ubertatis, cum subtilissimae profunditatis incredibili velocitate coniunctum sit, quam in Romani Iuris Corpore, Digestis praesertim, cernimus et mirum non est potissimas Gentes Europaeas tamdiu eo se iure regi passas esse. Neque enim nudius tertius invaluit haec eius authoritas, aut ab Irnerio referenda est Iuris Romani existimatio, cum Codex Theodosianus, quanquam interpolatus a Gothis, inde usque a Barbarorum irruptionibus in sacris pariter ac ciuilibus negotijs apud omnes iudices prudentes (Westphalica illa, ac nescio quae alia repentina ab ipsis rusticis exercita, vnde Germanis Gohgerichte dicuntur, ipsâ barbarie obliterata iudicia semper excipio)

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Weil es aber ins Unendliche ginge (fast nicht weniger als bei den Verträgen von Privatpersonen), sich auf die Gewohnheiten aller Regionen und ihre einzelnen Rechte (wie auf öffentliche Konventionen) einzulassen, in denen fast schon die einzelnen Dörfer voneinander abweichen, so habe ich mich entschieden, von demjenigen Recht auszugehen, das üblicherweise auch das »gemeine« genannt wird und ohne jene Regionalismen überliefert und gelehrt werden kann, wohingegen jene Regionalrechte nicht ohne dieses überliefert und gelehrt werden können. Als ein solches Gemeinrecht gilt nach beinahe gesamteuropäischer Übereinstimmung das römische Recht, wie es überall bei den Gerichten wieder in Gebrauch gekommen ist, so daß man in einem gegebenen Fall, bei dem die regionalen Gebräuche schweigen, auf den römischen Gesetzen besteht, und zwar nicht deshalb, weil sie zu Gehorsam nötigten, sondern weil sie durch ihre höchst offenkundige Eignung überzeugen. Weil nämlich die verfaßten Urteile um so besser sind, je weniger dem Ermessen des Richters überlassen bleibt, d. h. je mehr das von allem Affekt freie Gesetz selbst anstelle eines Richters herrscht – tatsächlich gibt es ja kein Gesetzbuch auf der ganzen Erde, das mehr Zweifelsfälle definiert und eine größere Fülle an fruchtbaren Lösungen bietet, verbunden mit dem unglaublich raschen Zugriff in die allerfeinsten Tiefen hinein, als es im Korpus des römischen Rechts, besonders in den Digesten zu finden ist –, so begreife ich und halte es auch für kein Wunder, daß die mächtigsten europäischen Völker sich so lange von diesem Recht haben leiten lassen. Auch ist seine Autorität nicht erst vor drei Tagen aufgekommen, und auch die Wertschätzung des römischen Rechts durch Irnerius²³ braucht hier nicht wiederholt zu werden. Denn der Theodosianische Kodex²⁴ hat, wenn auch von den Goten interpoliert, seit den Einbrüchen der Barbaren in die kirchlichen wie zivilen Verwaltungen bei allen klugen Richtern in höchsten Ehren gestanden (hiervon ausnehmen will ich stets jene westfälischen, durch die Barbarei selbst aus dem Gedächtnis getilgten Gerichte und irgendwelche anderen, die von den Bauern aus dem Stegreif ausübt und deshalb im Deutschen Gohgerichte genannt wurden).

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in summo fuerit honore, eique et decreta sacrorum Conciliorum, et Capitula Regum Imperatorumque, et ipsae feudorum consuetudines sese accommodauerint, donec integris Iustiniani voluminibus repertis, maiori luce a populis avidè arreptâ, Theodosianus Codex obfuscaretur, ac propè interiret, quae omnia locis scriptorum medij aeui adductis firmare doctis superfluum, pro coeteris nimis operosum. Cum igitur haec Iuris Romani commoditas, casus etiam orituros, propemodum incredibili copia praeveniens, usum surgentibus persuasisset, mox intervenit causa, quae prope nos sperato fructu fraudaret. Cum enim leges istae adeo copiosae, ideo receptae essent, ut vel difficillima de jure inquisitione levaretur, vel inconsultâ temeritate, aut malitiosis gratificationibus prohiberetur Iudex, factum est e contrario, earum obscuritate et confusione, ut neque in tantâ rerum sylvâ in promtu esset, quaerenti etiam quae extaret decisio, neque reperta, prae reconditarum vocum ac rituum veterum tenebris satis intelligeretur. Ita propemodum deterius actum cum Iudicibus est, quam si nulla vnquam lex scripta extitisset, pari vtrobique Iuris incertitudine, hoc solo maiore reorum commodo, et quod hinc sequitur auctiore ciuium deprauatâ tamen libertate, quod excogitatis processus anfractibus ipsi Iuri Romano incognitis, tueri se diutius liceret Iuris scripti specie, at si nulla lex extaret, soli iudicantis libidini submittenda confestim voluntas esset. Sed hic libertatis civium

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Auch haben sich dem römischen Recht immer die Beschlüsse der kirchlichen Konzile, die Kapitularien der Könige und Kaiser und auch die Gepflogenheiten der Lehensrechte angepaßt, bis nach der Wiedererschließung der vollständigen Bände des Justinianischen Kodex, als sich die Völker begierig ein größeres Maß an Aufklärung angeeignet hatten, der Theodosianische Kodex in Vergessenheit geriet und beinahe unterging. Diese ganze Geschichte mit Stellen aus den Schriftstellern des Mittelalters zu belegen, wäre für die Gelehrten überflüssig, für die Laien allzu mühselig. Wenngleich also die Eignung des römischen Rechts, das auch künftige Fälle in unglaublicher Fülle vorwegnimmt, mich von seinem Nutzen überzeugt hatte, als ich mich gerade an die Arbeit machte, kam mir doch bald eine Sache dazwischen, die mich beinahe um den erhofften Lohn betrogen hätte. Obwohl nämlich jene Gesetze so reichhaltig, wie sie waren, in Gebrauch kamen, um noch bei der schwierigsten Rechtsuntersuchung zu helfen, aber auch um bei einer aus schlechter Beratung stammenden Unbedachtsamkeit oder bei Bestechlichkeit dem Richter Schranken aufzuerlegen, geschah es umgekehrt durch ihre Dunkelheit und Verwirrung, daß im verwucherten Dickicht der Rechtsangelegenheiten dem Suchenden auch die entsprechende Entscheidung, die er fällen sollte, nicht zur Verfügung stand und, wenn sie denn gefunden wurde, aufgrund der Finsternis, in die die Äußerungen und Anwendungen der Antike verhüllt waren, nicht hinreichend verstanden wurde. So wurde die Prozeßführung bei den Richtern fast noch schlimmer, als wenn es nie ein geschriebenes Recht gegeben hätte, mit einer für beide Parteien gleichen Rechtsunsicherheit, sogar mit größerer Bequemlichkeit für den Angeklagten. Und weil hieraus eine vergrößerte, allerdings auch verzerrte Freiheit der Bürger folgt, weil man sich beim Ausdenken von krummen Prozessen, die selbst dem römischen Recht noch unbekannt waren, die Freiheit nahm, sich unter dem Anschein des geschriebenen Rechts länger bedeckt zu halten, als wenn es gar kein Gesetz gegeben hätte, so konnte die Entscheidungsmacht nur noch direkt der Willkür des Richters ausgeliefert werden. Aber dieser Grad an Frei-

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gradus, ut frustrari iura liceat, non minus, quam impunitas scelerum exosus legum conditoribus esse debet, reperiendumque inter tyrannidem et licentiam medium est, ut neque nullis, aut iusto paucioribus legibus existentibus, Turcico ritu promptissimis quidem, at sordidissimis atque improbissimis Iudicum Barbarorum sententijs stetur ; neque prae legum obscuritate ac confusione, innumeris tergiversationibus, etiam veri Iuris executio eludatur. Hoc autem ut consequamur, duo in Republicâ bene constitutâ satis manifestum est necessaria esse, nimirum ut et legum et iudiciorum habitus, huic fini sit aptatus. Quod fiet, si vtrobique ordo, claritas, promptitudo obtineatur, obtinebitur autem non nisi Rectores Rerumpublicarum hanc curam ad animum suum revocarint. Ac sane agnoscit orbis, maximum Regem vestrum, sapientissimosque eius administros, magnam iam tum partem huius emendationis foeliciter assecutos, postquam nuper Ludovici Vestri Adeodati Codice ordo Iudiciorum eam formam accepit, cui parem nescio an facile liceat nunc tota Europa reperire, atque illud effectum est, ut primo hoc in saltu (neque enim simul omnia agi possunt) magna sit pars prostrata ac pulsa pessimae depravationis. Superest igitur, ut in ipsas leges nunc emendandas aliquid solito efficacius tentetur, adimaturque potestas improbis hominibus, innumerabili densorum sophismatum agmine, velut puluereâ nube obiectâ, perspicacissimis etiam Iudicibus vsum oculorum adimendi. Cum autem sine summa rerum perturbatione nouae de

6 f. innumeris ] korrigiert aus innume ris nach A II 1, 2. Aufl., Corrigenda

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heit bei den Bürgern, der es gestattet, das Recht zu lähmen, muß den Gesetzgebern nicht weniger verhaßt sein als die Straflosigkeit von Verbrechen, und man muß die Mitte zwischen Tyrannei und Zügellosigkeit auffinden, zum einen, damit man nicht ganz ohne Gesetze dasteht bzw. damit man nicht für das, was Rechtens ist, eine allzu geringe Anzahl von Gesetzen zur Verfügung hat, die dann zwar nach türkischem Muster schnellstens zur Anwendung kommen, aber im Sinne der ganz niederträchtigen und unhaltbaren Meinungen barbarischer Richter angewandt werden, und zum anderen, damit nicht vor lauter Dunkelheit und Verwirrung der Gesetze durch zahllose Prozeßverschleppungen auch noch die Ausführung des wirklichen Rechts vereitelt wird. Damit wir jene Mitte erreichen, sind aber in einem gutverfaßten Staat offenkundig zwei Dinge notwendig, nämlich daß der Zustand sowohl der Gesetze als auch der Gerichte zu diesem Zweck passen muß. Das wird geschehen, wenn bei beiden Ordnung, Klarheit und schnelle Anwendung beachtet werden. Beachtet aber wird es nur werden, wenn die Lenker der Staaten diese Sorge in ihrem Geist erneut wachrufen. Und ganz gewiß erkennt alle Welt an, daß Euer größter König und seine höchstweisen Minister einen Großteil dieser Reform schon glücklich zustande gebracht haben, nachdem vor kurzem durch den Kodex Eures gottgegebenen Ludwig²⁵ die Gerichtsordnung eine solche Gestalt angenommen hat, daß ich heute wohl in ganz Europa nicht leicht eine gleichwertige finden könnte. Und die Wirkung hiervon war, daß mit diesem ersten Schritt (es kann ja nicht alles mit einem Schlage bewältigt werden) schon ein großes Stück der übelsten Verderbnis niedergestreckt worden ist. Somit bleibt noch übrig, daß nunmehr zur Bereinigung der Gesetze selbst etwas von Grund auf Wirksameres in Gang gebracht wird und den Menschen, die nicht rechtschaffen sind, dort die Macht entrissen wird, wo ein derartiges Gewimmel von Sophistereien, dichtgedrängt, als habe man eine Staubwolke vor sich, sogar den einsichtigsten Richtern die Sicht nimmt. Nun können einerseits nicht einfach irgendwelche absolut neuen Gesetze fern von

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integro, absque ullâ ad Ius Romanum relatione condi leges commodè non possint, nisi velimus omnem scriptorum, commentatorum, tractatorum, et quod est gravius, Arestorum, Praeiudiciorum, Obseruationum antea editarum, ubique se ad Romana Iura referentium, vsum e Republicâ velut vno ictu tollere, et certum sit, si nouae leges sapienter condantur, non usque adeo a Romanis discrepaturas, ut novatione quâdam atque vniversali commutatione opus sit, ac praeterea ordinato iure Romano succurri omnibus Europae Rebuspublicis, vinculumque gentium non leue conseruari possit, ut de vsu scholarum, studiorumque ratione alioquin prorsus immutandâ, de Iuris Canonici Romani firmantis catholica latitudine nihil dicam: manifestum est, ut ad prima redeamus, a legibus Romanis Reconcinnandis, ac cum naturali Iure foederandis ordiendum esse, cum frustra futurum sit, leges Gentis cuiusque habere ordinatissimas, Romanis confusionem retinentibus, quamdiu illis silentibus, ad Romanas recurrere in foro permissum permittendumque est. Nec refert, quod multa continentur Iure Romano Rerumpublicarum statui adversa, nam et illa passim a populis sponte naturae mutata sunt, summâ nihilominus saluâ, et ut omnino omnia eluminentur, necesse est primum, quid sit tandem Iuris Romani, ita plenè perfectèque, sed tamen et breviter constet, ut vno velut ictu oculi percurri fundamenta eius omnia, atque inter se cum Republicâ nostrâ comparari possint. Legum autem Roma-

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aller Beziehung auf das römische Recht aufgestellt werden, ohne daß dadurch das Ganze in Verwirrung gebracht würde, es sei denn, man wollte zugleich auch alle Anwendung der Autoren, Kommentatoren, Erläuterer und, was noch wichtiger ist, der früher erlassenen Dekrete, Vorentscheidungen und Regelungen, die von allen Seiten auf das römische Recht Bezug nehmen, gleichsam mit einem Schlag aus dem Staat verbannen. Andererseits steht fest, daß, wenn zusätzliche Gesetze mit Bedacht aufgestellt würden, diese den römischen nicht derart widersprächen, daß eine Erneuerung und eine umfassende Umänderung notwendig würde; und außerdem steht fest, daß durch eine Neuordnung des römischen Rechts allen Staaten Europas geholfen würde und somit ein nicht eben geringes Band zwischen den Völkern bewahrt werden könnte; hierbei will ich ganz schweigen von der Verfahrensart in den Schulen und von dem ohnehin durchaus veränderungsbedürftigen Studienplan sowie von der allgemeinen Weitläufigkeit des tragenden kanonischen römischen Rechts. Aus beiden Prämissen ergibt sich, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, daß man von einer Neuordnung der römischen Gesetze und ihrem Bündnis mit dem Naturrecht den Anfang nehmen muß. Keinen Erfolg hingegen wird es haben, wenn zwar die Gesetze eines jeden Volkes höchst geordnet vorliegen, die römischen Gesetze jedoch ihren verworrenen Zustand beibehalten. Denn immer wenn jene regionalen Gesetze schweigen, darf man und muß man vor Gericht auf die römischen Gesetze zurückgreifen. Dabei tut es nichts zur Sache, daß vieles im römischen Recht enthalten ist, was dem Zustand der Staaten zuwiderläuft, denn auch solche Inhalte sind überall von den Völkern aus natürlichem Antrieb verändert worden, wobei nichtsdestoweniger das Ganze erhalten blieb. Um auch alles dieses Zeitbedingte gänzlich auszublenden, ist es zuerst einmal notwendig, daß dasjenige, was am Ende zum römischen Recht gehört, so vollständig und vollkommen, aber doch zugleich in kurzer Form feststeht, daß gleichsam mit einem Blick all seine Grundlagen durchlaufen und untereinander mit unserem Staatswesen verglichen werden können. Nach-

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narum verba singula hoc tempore expositionem aliam magnopere non desiderant, post immortales Cuiacij, aliorumque maximè Vestratium, et hos ipsi Corpori êáôN ðüäá accommodantis Dionysij Gothofredi labores, quam mens, ordo, connexio, lux mutua, regulaeque vniversales, decisionum omnium matres, quibus tanta singularium casuum copia, in pauca ac rationi omnium reddendae suffectura Elementa reducatur; hoc demum est, quod paucissimi suspicati sunt, tentavêre vix vlli, nemo effecit, sed quo tamen diutius careri non potest, si quidem praesens lux eruditissimi saeculi etiam in Iurisprudentiam diffundi debet. Nimirum Vir Amplissime, nos illud profitemur, quidquid in Toto Romani Iuris Corpore constitutum est, redigi posse in exigua quaedam Elementa, ac paucas propositiones, aliquot velut Geographicis Chartis, vno obtutu lustrabilibus, tabulas Chronologicas Petavianas non multum excedentibus, clarissimas, popularissimas, omnibus terminis technicis quos vocant carentes, rustico linguae, qua scribuntur perito intelligendas, quas qui vel memoria teneat, vel oculis obiectas habeat, ipsâ velut oculari applicatione (prorsus ut olim ab actore aut Reo commonstranda in albo Praetoris actio, aut exceptio erat, quâ volebat uti) soluere ex Iure Romano casum quemlibet propositum, exiguo ad meditandum spatio sumpto possit. Illis propositionibus leges Romanae quantae quantae sunt, vir-

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dem bereits die unsterblichen Arbeiten von Cujas²⁶ und von anderen, vor allem aus Eurem Lande stammenden Rechtsgelehrten sowie die Arbeiten des Dionysius Gothofredus²⁷ vorliegen, die seiner Ausgabe des Corpus Juris Civilis selbst unmittelbar auf dem Fuße folgten, sind es zur Zeit nicht so sehr die einzelnen Begriffe der römischen Gesetze, die eine andere Darstellung verlangen, als vielmehr ihr Geist, ihre Ordnung, ihre Verknüpfung, ihre wechselseitige Erhellung und ihre allgemeingültigen Regeln, welche die Mütter aller Entscheidungen sind, durch welche eine so gewaltige Fülle von Einzelfällen auf wenige Elemente zurückgeführt wird und welche zugleich zur Rechtfertigung aller Entscheidungen ausreichen. Dies ist es am Ende, was nur ganz wenigen in den Sinn gekommen ist, was kaum einer versucht und niemand vollbracht hat, was man aber nicht länger entbehren kann, wenn doch das gegenwärtige Licht dieses hochgebildeten Zeitalters auch auf die Jurisprudenz verbreitet werden soll. Allerdings, hochberühmter Herr, behaupte ich eben dies, daß alles, was auch immer im gesamten Korpus des römischen Rechts aufgestellt ist, auf ganz wenige Elemente und das heißt auf wenige Sätze zurückgeführt werden kann, und zwar nach dem Muster geographischer Karten, die auf einen einzigen Blick einleuchten und nicht viel größer sind als die chronologischen Tafeln von Petau.²⁸ Ich behaupte, daß solche Elemente besonders klar und volkstümlich sein werden, ohne sogenannte termini technici auskommen werden und durch die Schlichtheit der Sprache, in der sie geschrieben sind, dem Kundigen einsichtig sein werden. Wer sie im Gedächtnis behält oder unmittelbar vor Augen liegen hat, der kann eben durch diese gleichsam an das Auge angepaßte Form jeden beliebigen gegebenen Fall aus dem römischen Recht in der kurzen Zeit, die er zum Betrachten braucht, lösen, genauso, wie einst der Ankläger oder der Angeklagte den betreffenden Punkt der Klage bzw. des Einspruchs, auf den er sich beziehen wollte, auf der weißen Tafel des Prätors²⁹ zu demonstrieren hatte. Wie viele und abermals viele römische Gesetze werden in solchen Sätzen potentiell enthalten sein, so daß, falls sie einmal alle

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tute continebuntur, ita ut si omnes perditae essent, posset mens earum, ex solis illis propositionibus superstitibus restitui, nec assignari vel paragraphus qui non, ijs cognitis, ipse sponte consequatur. Operosissima res, adde et multae et profundae meditationis, sed certissimi tamen eventus, si insistatur, nam ubique ita comparatum est, ut prima Principia ac velut Alphabeta sciendi non sint vasta, non speciosa, non difficilia, quorum tamen combinatione infinitae propemodum varietates oriantur, quas quidem Analythica Methodo ad minima vsque dissoluere, in ipsa centra ac summa tot vndique permeantium linearum capita inquirere, mox invento iam initio, ac velut filo Ariadnae detecto relegere vestigia componendo, atque nihil vacillanti gradu, naturales rerum propagationes, ad omnes vsque factorum species legibus singulatim comprehensas persequi, magnae nemo diffitebitur operae esse, tanto tamen et initio asperioris, et in regressu mollioris, quanto taediosius aequales licet propemodum labores agricola sustinet, cum messem exspectat, quam cum converrit. His igitur Elementis Iuris Romani binis prope tabulis comprehendendis, si demonstrata separatim Elementa Iuris Naturalis addiderimus, fuerimusque ex illa combinatione ratiocinati, omnes facile leges inde deducemus. Quin etiam hoc amplius, ea ratione Ius finitum erit, habebunturque omnium casuum solutiones, quos vel fingere licebit. Quoniam id a nobis ubique observatur, ut quemadmodum cessante Iure locali, stamus communi Romano, ita ces-

8 Analythica ] sic !

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verloren gingen, ihr Geist allein aus jenen Sätzen, sofern sie erhalten wären, wiederhergestellt werden könnte und z. B. kein Paragraph wieder aufgenommen werden müßte, der sich nicht aus der Kenntnis dieser wiederhergestellten von selbst ergäbe. Es handelt sich um ein höchst arbeitsintensives Vorhaben mit, wie man hinzufügen muß, vielen tiefgreifenden Betrachtungen, aber doch mit höchst sicherem Ergebnis, wenn man es nur beharrlich verfolgt. Denn die Sache muß überall so angelegt werden, daß die ersten Prinzipien, aus deren Kombination jedoch fast unendliche Vielfalten hervorgehen, gleichsam als die Alphabete des Wissens weder aufgebläht noch blendend noch schwierig sind.³⁰ Niemand wird bestreiten, daß es höchst mühselig ist, diese Vielfalten nach der analytischen Methode in ihre elementaren Prinzipien aufzulösen, sie auf ihre Zentren selbst und auf so viele höchste Anfangspunkte ihrer aus allen Richtungen hindurchgehenden Linien zu untersuchen, und, wenn bereits einmal der erste Ansatz gefunden ist, sie gleichsam durch das Finden eines Ariadnefadens wieder dahin zurückzuwickeln, indem man die Spuren zusammenfügt und, ohne im Fortschreiten zu wanken, die natürlichen Fortsetzungslinien der Verhältnisse bis auf alle Arten von Tatbeständen, die im einzelnen durch Gesetze erfaßt sind, zu verfolgen. Ist doch die Anstrengung bei einem so weitgreifenden Sichhineinarbeiten viel schwerer, beim Sichherausarbeiten jedoch viel leichter, so wie ja auch der Bauer fast gleichschwere Mühen weniger gern auf sich nimmt, wenn die Ernte noch bevorsteht, als wenn er sie einfährt. Aus diesen Elementen des römischen Rechts, die in zwei Tabellen zusammenzufassen sind, wird man leicht alle Gesetze ableiten, wenn man die bewiesenen Elemente des Naturrechts abgesondert hinzugefügt und nach dem obengenannten kombinatorischen Verfahren Folgerungen abgeleitet hat. Darüber hinaus wird durch dieses rationale Verfahren das Recht klar begrenzt sein, und in ihm werden die Lösungen aller Fälle enthalten sein, die man sich nur ausdenken kann. Weil ich aber überall den Grundsatz beachte, daß beim Unzulänglichwerden des regionalen Rechts das gemeinsame römische Recht in Kraft tritt und beim Unzulänglichwerden des

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sante Romano stetur Naturali. Naturali autem Iure nulla Quaestio indecisa relinqui potest, necesse est enim aliquid Iustum esse, licet nulla lex, consuetudo nulla, nullus commentarius in Orbe terrarum extaret. At vero obijciet aliquis, esto verum omnia naturali Iure definiri posse, an ideo ea statim definitio in promptu quaerentibus erit ? Omnino inquam, quemadmodum enim post extantia Euclidis Elementa, nulla est excogitabilis figura, quae non praescripta methodo (si quem non taedeat diuturnis subiectionibus operam impendere, uti in dimensione Circuli fecit Archimedes, et qui multo longius progressus est, Ludolphus a Colonia) solui ita possit, ut error sit insensibilis, quod in praxi sufficit, ita spondere ausim Elementa eius, quod naturâ iustum est, ita in clarâ luce poni posse, ut facti Quaestione constitutâ, aut sepositâ, in potestate cuiusque sit, qui attentionem tantum atque inquirendi patientiam affert, non errare; sed et in facti Quaestione constituenda eae regulae suppetunt, quas qui sequitur, etiam facti siue certitudinem siue praesumptionem siue probabilitatem (huiusque gradum) certam id est evidenter veram reddere, vel quod idem, demonstrare potest. Illud enim pro certo haberi debet, non minus clarè probabilium probabilitatem, quam certorum certitudinem demonstrari posse, probabilium inquam, sed verè, nam quibus datur oppositum probabilibus, eorum probabilitas, siue nulla, siue quod eodem recidit exceptione elisa est, uti quorum praesumptio contrariâ probatione evacuatur, eorum praesumptio, si non nulla,

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römischen Rechts das Naturrecht in Kraft tritt, kann es im Naturrecht keine Rechtsfrage geben, die unentschieden bliebe. Es ist nämlich notwendig, daß es etwas Gerechtes gibt, auch wenn überhaupt kein Gesetz, keine Gewohnheit und kein Kommentar auf Erden vorhanden wäre. Nun könnte es allerdings jemanden geben, der gegen meine Behauptung, es müsse wahr sein, daß alles mit dem Naturrecht definiert werden kann, folgendes einwendete: Muß dann nicht den Fragenden eine derartige Definition sofort zur Verfügung stehen ? So verhält es sich ganz und gar, antworte ich. Wie nämlich seit Euklids Elementen keine Figur ausdenkbar ist, die nicht nach einer vorgeschriebenen Methode so berechnet werden könnte, daß die Abweichung nicht mehr wahrzunehmen ist (wenn jemand so fleißig ist, sich der Mühe täglicher Berechnungen zu unterziehen, wie beim Ausmessen des Kreisumfangs Archimedes und der in dieser Berechnung noch viel weiter fortgeschrittene Ludolf van Ceulen³¹), was in der Praxis auch ausreicht, so ähnlich möchte ich zu versprechen wagen, daß die Elemente dessen, was von Natur aus gerecht ist, in ein so helles Licht gestellt werden können, daß bei einer aufgestellten oder abgesonderten Tatsachenfrage jeder, der für die Untersuchung Aufmerksamkeit und Geduld mitbringt, fähig ist, nicht irrezugehen. Aber auch für das Aufstellen einer Tatsachenfrage stehen diese Regeln zur Verfügung, und wer ihnen folgt, kann von der entsprechenden Tatsache auch die Sicherheit, die Vorvermutung oder die Wahrscheinlichkeit (und ihren Grad) als bestimmt, d. h. als auf einsehbare Weise wahr darlegen oder, was dasselbe ist, beweisen. Dies nämlich muß man für gewiß erachten, daß nicht weniger der Wahrscheinlichkeitsgrad des Wahrscheinlichen als der Sicherheitsgrad des Sicheren klar bewiesen werden kann; des Wahrscheinlichen, sage ich, aber dies muß man korrekt verstehen, denn die Wahrscheinlichkeit desjenigen Wahrscheinlichen, zu dem das Gegenteil eingeräumt wird, scheidet hier aus, sei es, weil es keine Ausnahme gibt, sei es, weil es auf dasselbe wie eine fehlende Ausnahme hinausläuft; so wie auch die Vorvermutung dessen, dessen Vorvermutung durch einen Gegenbeweis entkräftet ist, wenn schon nicht gleich null,

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saltem nulli aequivalens, id est elisa est. Eiusmodi Naturalis Iuris Elementa satis constat nullibi extare hactenus. Nam incomparabilis Grotius, cui eruditionis summae laudem nemo sanus ademerit, haud pauca, sane verissimè dixit, sed vix quicquam disputationi contrariae exemit, id est demonstrauit. Demonstrare autem est, propositionem certam reddere, certum est, cuius veritas clara, ac velut ocularis est. Veritas autem clara ac velut ocularis reddi non potest perfectior, quam si nulla assumatur vox, nisi satis distinctè explicata, nulla propositio nisi probata; probatio autem non fiat, nisi quâdam catenâ perpetuâ propositionum velut quibusdam annulis implexarum; catena autem generatim sumpta, est eiusmodi rerum series, in qua initium sequentis, includitur fini antecedentis, cuius in propositionibus specimen, vel hac ipsa periodo dedimus. Vt taceam plurima esse in Grotio maximi momenti, quae neque sustineri possunt, et Principijs Iurisprudentiae penitus perturbandis apta nata sunt. Ineptè autem a nonnullis obijcitur, demonstrationes Mathematicas in Iure dari non posse. Quis enim prudens figurarum hic delineationes promiserit, quis sapiens certitudinem denegarit. Nam si nulla a naturâ prodita est certa Iusti regula, necesse est, Iustitiae vocem ne definiri quidem posse, sed esse nudum nomen, quale est Blitiri. Vbicunque enim possibilis est definitio (seu clara vocis explicatio) ibi possibilis est certitudo seu demonstratio. Vocem autem hanc nihil significare, consensui

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so doch zumindest einer Null gleichwertig ist, d. h. hier ebenfalls ausscheidet. Es steht fest, daß Elemente des Naturrechts von dieser Art bislang nirgendwo existieren. Denn der unvergleichliche Grotius, dem kein gesunder Geist das Lob höchster Gelehrsamkeit verwehren wird, hat hierzu nicht weniges und dieses fürwahr auf sehr richtige Weise gesagt, aber er hat kaum irgendetwas vor einer widersprechenden Argumentation geschützt, d. h. so gut wie nichts bewiesen. Heißt beweisen doch eine Behauptung sicher machen, und heißt sicher doch dasjenige, dessen Wahrheit klar und gleichsam augenfällig ist. Wahrheit aber, die klar und gleichsam augenfällig ist, kann nicht vollkommener aufgezeigt werden als dadurch, daß nur hinreichend deutlich erklärte Begriffe und nur bewiesene Sätze zu Hilfe genommen werden. Ein Beweis aber erfolgt nur durch eine fortlaufende Kette von Sätzen, wie bei ineinandergreifenden Ringen. Eine Kette aber ist, ganz allgemein genommen, eine solche Reihung von Elementen, bei der der Anfang des Folgenden eingeschlossen ist im Ende des Vorhergehenden, wovon ich soeben eine Musterprobe in Sätzen, und zwar in eben dieser Satzperiode, gegeben habe. Ich will ganz davon schweigen, daß es bei Grotius sehr vieles von größter Bedeutung gibt, was nicht aufrecht erhalten werden kann und was dazu angetan ist, die Prinzipien der Rechtsgelehrsamkeit völlig zu verwirren. Nun haben aber einige auf törichte Weise eingewandt, daß es mathematische Beweise im Recht nicht geben könne. Denn welcher kluge Kopf könnte hier einerseits die Skizzen der Figuren in Aussicht stellen, und welches weise Haupt könnte andererseits leugnen, daß hier Gewißheit vorliegt ? Wenn es nämlich keine sichere Richtschnur des Gerechten gäbe, die uns von Natur aus an die Hand gegeben wäre, so folgte daraus notwendig, daß der Begriff »Gerechtigkeit« nicht einmal definiert werden könnte, sondern ein bloßer Name wäre wie das Wörtchen »Blitiri«. Denn wo immer eine Definition (d. h. die deutliche Erklärung eines Wortes) möglich ist, da ist auch Gewißheit oder Beweis möglich. Daß aber das Wort »Gerechtigkeit« nichts bezeichnen sollte, liefe der Übereinstimmung

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omnium mortalium, aut hâc aut aliâ, quam aequipollenter agnoscunt, utentium, repugnat. Ingeniosissimus Hobbes tanto mentis acumine, tanto demonstrandi, id est sua omnia clarè distinctèque explicandi artificio, potuisset nos omni hoc onere leuare, nisi Principium assumpsisset Iusto angustius, conseruationem scilicet pacis, ex quâ non omnia, sed quaedam tantum luris naturalis Theoremata demonstrari possunt, cum ipsum demonstrandum sit ex alio longè vniversaliore. Par est ratio de Grotij hypothesi, qui conseruationem societatis humanae principium Iusti aequique constituit, quod rursus est Iusto angustius. Vt taceam nec Grotium ex eo ea constantiâ, qua ex suo Hobbium ratiocinari, Hobbium autem ad specialiora conventionum, successionum, possessionum, dominiorum, damnorum non descendisse, quod ei faciendum est, qui Iuris naturalis Elementa ad vsum fori accommodare velit, ut leges civiles silentes supplere possit. Nihil dicam de hypothesi Cardinalis Sfortiae Pallavicini, in Dialogis de Bono, quoniam ex eâ Elementa non deduxit, nihil de Thomae Albij Staterâ, Puffendorffij ac Veldeni Elementis, Scharrockij Officijs, Guilielmi Grotij Principijs, Klenckij Institutionibus, quorum similiumque librorum ne authores quidem rem absolutam profitentur. Porro Elementis Iuris Romani exigua, quam dixi, atque vni obtutui subiecta tabula comprehensis, Elementis autem Iuris naturalis separatim, exiguo libello demonstratis consequens erit, am-

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aller Sterblichen zuwider, die sich dieses oder eines anderen Wortes bedienen, das sie als gleichbedeutend anerkennen. Der äußerst findungsbegabte Hobbes hätte uns mit seinem so überaus scharfen Verstand, mit seiner so ausgefeilten Beweistechnik, d. h. mit seiner Fähigkeit, alles klar und genau zu beweisen, um diese ganze Last erleichtern können, wenn er nicht ein Prinzip angenommen hätte, das einen viel engeren Begriffsumfang hat als das Gerechte, nämlich die Wahrung des Friedens. Hieraus können aber nicht alle, sondern nur einige Lehrsätze des Naturrechts bewiesen werden; außerdem muß jenes Prinzip selbst aus einem anderen, weit allgemeineren bewiesen werden. Das gleiche Begriffsverhältnis liegt bei der Hypothese von Grotius vor, der die Wahrung der menschlichen Gemeinschaft zum Prinzip des Gerechten und Billigen gemacht hat, was ja ebenfalls einen engeren Begriffsumfang hat als das Gerechte. Ganz zu schweigen davon, daß Grotius auch nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit wie Hobbes aus seinem Prinzip seine Schlüsse gezogen hat, daß Hobbes selbst aber nicht zu den spezielleren Rechtsfragen bezüglich der Übereinkünfte, Rechtsnachfolgen, Besitzregelungen, Eigentumsverhältnisse und Entschädigungsregeln hinabgestiegen ist, was aber doch derjenige leisten muß, der die Elemente des natürlichen Rechts an die Rechtspraxis anpassen will, um die Lücken der bürgerlichen Gesetze, wo sie schweigen, füllen zu können. Ich will auch nichts weiter sagen über die Hypothese des Kardinals Sforza Pallavicino in seinen Dialogen Über das Gute ,³² da er ja aus dieser Hypothese keine Elemente abgeleitet hat, auch nichts über die Waage des Thomas White,³³ über Pufendorfs und von Feldens Elemente ,³⁴ über die Pflichten von Sharrock,³⁵ über die Prinzipien des Wilhelm Grotius³⁶ und über die Institutionen von Klenck,³⁷ zumal nicht einmal die Autoren dieser und ähnlicher Bücher selbst behaupten, die Sache vollendet zu haben. Wenn einerseits die Elemente des römischen Rechts in einer wiegesagt kleinen und mit einem Blick überschaubaren Tabelle zusammengefaßt sind, andererseits aber die Elemente des natürlichen Rechts gesondert in einem kleinen Büchlein bewiesen sind,

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borum matrimonio foecundissimam tot Theorematum sobolem procreandam, quot facti species separatim Legibus Romani Iuris comprehenduntur, suamque cuilibet legem, qua continetur adjiciendam. Cumque alia lex ex Elementis mediatius, immediatiusue profluat, alia sit filiae, alia neptis instar futura, evidens est ea ratione, pulchrâ quadam continuatarum legum, pariter ac Theorematum se generantium serie, Corpus Iuris Romani Reconcinnatum absolui posse. Quae Methodus ab ea, cui hactenus IurisCti Methodistae institêre, tantum differt, quantum Methodus Euclidea a Rameâ, Ramus enim continuis subdivisionibus ac subdistinctionibus, terminum termino, vocabulum vocabulo connectit, Euclides continuis demonstrationibus propositionem propositioni, unde fit, ut quemadmodum ait Hobbes, illa methodus sit verbifica, haec scientifica. Pari ratione Methodistae nostri, Bodinus, Petrus Gregorius, et ipse diligentissimus licet accuratissimusque Vigelius, ut de Connani ac Donelli laboribus, quia non absolutis nihil dicam, subdistinxêre tantum ac subdivisêre semper, nunquam regulas paucas, vniversales, exceptione carentes, omnibus casibus soluendis suffecturas exhibuêre, nunquam ex ijs continuata quadam serie ratiocinationis, legum omnium velut ex hypothesibus phaenomenorum rationem reddidêre. Tria igitur potissimum molimur. Elementa bina, vna Iuris Romani aliquot chartis oculariter inclusa, quae qui teneat, sola ex ijs

3 f. adjiciendam ] korrigiert aus adijciendam nach A II 1, 2. Aufl., Corri-

genda 23 oculariter ] korrigiert aus ocu(ariter nach A II 1, 2. Aufl., Corrigenda

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dann wird dies zur Folge haben, daß aus der Ehe beider eine höchst fruchtbare Nachkommenschaft genau so vieler Lehrsätze hervorwachsen muß, wie Arten tatsächlicher Fälle gesondert in den Gesetzen des römischen Rechts enthalten sind, und jedem tatsächlichen Fall das betreffende Gesetz zuzuordnen ist, zu dem es gehört. Und wenn das eine Gesetz aus den Elementen auf eine vermitteltere oder unmittelbarere Weise hervorgeht, das andere wie eine Tochter und wieder ein anderes wie eine Enkelin folgen wird, so leuchtet ein, daß aufgrund dieser schönen Ordnung der immer weiter abgeleiteten Gesetze und zugleich auch aufgrund der Reihe der sich erzeugenden Lehrsätze das neugeordnete Korpus des römischen Rechts vollendet werden kann. Diese Methode unterscheidet sich von derjenigen, auf der die Methodiker unter den Rechtsgelehrten bisher bestanden haben, in gleichem Maße, wie sich die Methode Euklids von der des Ramus unterscheidet. Ramus verbindet nämlich in fortlaufenden Unterteilungen und Binnenunterteilungen Begriff mit Begriff, ja bloß Wort mit Wort; Euklid dagegen verbindet in fortlaufenden Beweisen Satz mit Satz. Und so kommt es, daß, wie Hobbes sich ausdrückt, jene Methode bloß wortschaftlich, diese aber wissenschaftlich ist. In der gleichen Ordnung wie Ramus haben auch unsere Methodiker Bodin,³⁸ Pierre Grégoire³⁹ und jener höchst sorgfältige und natürlich sehr genaue Vigelius⁴⁰ – ich übergehe hier die Arbeiten von de Connan⁴¹ und von Donneau,⁴² da sie nicht vollendet sind – immer nur Begriffe eingeteilt und nochmals unterteilt, niemals aber die wenigen allgemeinen und ausnahmslosen Regeln vorgebracht, die zur Lösung aller Fälle hinreichen; und niemals haben sie diesen Regeln gemäß durch eine fortgesetzte Reihe von Schlußfolgerungen eine Ordnung aller Gesetze geliefert, in der Art, wie die Phänomene den Hypothesen gemäß geordnet darzulegen sind. Folgende drei Projekte also beschäftigen mich vor allem. Zunächst geht es mir um die beiden Elemente, nämlich erstens um die Elemente des römischen Rechts, die auf eine augenfällige Weise von ein paar tabellarischen Karten umschlossen sind, so daß der, der sie vor sich hält, ihnen gemäß durch bloße Ableitung alle Fälle

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consequentia soluere omnes casus queat. Altera Elementa Iuris naturalis brevi libello demonstrata, quorum ope colligere ex Elementis Romani consequentias liceat. Tertium Corpus ipsum Iuris Romani Reconcinnatum, id est leges omnes, ipsis verbis naturalissimo ordine sibi subiectas, atque ex Elementis illis continuâ progressione demonstratas, quibus subijcietur omnium non Legum tantum, sed et Paragraphorum Iuris Romani Index, ut appareat ne paragraphum quidem esse, qui non sit digestus, qui non sit ex hypothesibus positiui, et Axiomatibus naturalis Iuris demonstratus. Redditâ igitur omnium legum vel a ratione naturali, vel ab alia lege pendentium ratione (praeter eas scilicet, quae puri sunt arbitrij, quarum rationes coniecturales, vel etiam certas ex historiâ aut suspicione reddere, cum Imperatoris alicuius scilicet animus saepe vel libidine quâdam innovandi, vel stimulis foeminarum, vel avaritia ministrorum, vel status privati ratione huc illuc agitatus, et pleraque etiam plebiscita, ac senatus Consulta, per tumultus affectusque lata sint, id est iam vltra Iurisprudentiae ususque forensis horizontem, quis enim ignorat ex malis moribus bonas, vel mediocres natas leges, nobis autem de Iuris rationibus sermo est, nec de affectibus condentium quaeritur, cum de lege servandâ deliberatur), nihil poterit ad Iurisprudentiam Romanam Rationalem, nihil ad nova Iuris Digesta, vix quicquam etiam ad interpretationem desiderari. Ratio enim anima legis est, habeturque instar mille commentariorum, cum et cessante ratione cesset lex, et eadem ra-

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lösen kann, und zweitens um die Elemente des natürlichen Rechts, die in einem kurzen Büchlein bewiesen sind, so daß man mit ihrer Hilfe aus den Elementen des römischen Rechts die Folgerungen ziehen kann. Drittens geht es mir um das neugeordnete Korpus des römischen Rechts selbst, das heißt alle Gesetze, die gemäß ihrem eigenen Wortlaut der natürlichsten Ordnung unterworfen und jenen Elementen gemäß in stetig fortschreitender Reihe bewiesen sind. Ihnen anschließen wird sich ein Gesamtverzeichnis nicht nur aller Gesetze, sondern auch aller Paragraphen des römischen Rechts, so daß offenkundig wird, daß es keinen Paragraphen mehr gibt, der nicht eingeteilt wurde, der nicht aus den Hypothesen des positiven Rechts und aus den Axiomen des natürlichen Rechts bewiesen wurde. So wird also Rechenschaft abgelegt sein von allen Gesetzen, die teils von der natürlichen Ordnung, teils von einem anderen Gesetz abhängen. (Ausgenommen sind natürlich diejenigen Gesetze, die der reinen Willkür entstammen, deren Gründe nur gemutmaßt oder auch nur aus der Geschichte oder einem Verdacht heraus sichergemacht werden können, wo doch das Gemüt eines Kaisers oft von einer Neuerungssucht, von weiblichen Reizen, von der Habgier der Minister oder von der Rücksicht auf den persönlichen Wohlstand hin und hergetrieben wurde und wo doch auch die meisten Plebiszite und Senatsbeschlüsse durch Tumulte und Affekte herbeigeführt wurden. Dies übersteigt bereits den Horizont der Jurisprudenz und der Gerichtspraxis, denn wer würde verkennen, daß aus schlechten Sitten gute oder mittelmäßige Gesetze hervorgegangen sind. Ich rede hier aber nur von Gründen des Rechts, und nach den Gemütswallungen der Gesetzesgründer darf man nicht fragen, wo man Entscheidungen treffen muß, um für das Gesetz Sorge zu tragen.) Hat man die obengenannte Rechenschaft abgelegt, so wird nichts für eine vernunftbegründete Römische Jurisprudenz, nichts für neue Digesten des Rechts und auch kaum etwas für die Auslegung erforderlich sein. Die vernünftige Begründung ist nämlich die Seele des Gesetzes, und sie ersetzt tausend Kommentare, weil mit dem Wegfall der Begründung auch das Ge-

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tione existente ad similia porrigatur. Extendendi autem et restringendi officio quis non videt omnem interpretationem contineri. Neque difficile fuerit, his in clarâ luce positis proferre paulatim pomoeria Iuris certi, et agitatas inter interpretes controversias illustriores certâ demonstratione dirimere, atque etiam ad Iura localia potiora dirigenda pedem proferre, de quibus tamen omnibus, nihil ante illa absoluta, quae per rei naturam praemittenda sunt, promitti potest. […]

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setz wegfällt, beim Vorliegen dieser Begründung aber das Gesetz auf ähnliche Fälle erweitert werden kann. Wer würde aber nicht erkennen, daß im Geschäft des Erweiterns und Einschränkens alle Auslegung enthalten ist ? Wenn die drei Projekte in hellem Licht ausgeführt worden sind, wird es auch nicht schwierig sein, allmählich die Grenzen des sicheren Rechts hervorzuheben und die berühmteren Kontroversen, die zwischen den Auslegern geführt worden sind, mit einem gesicherten Beweis zu schlichten sowie einen Schritt nach vorne zu wagen, um die einflußreicheren unter den regionalen Rechten zu regeln. Für diese kann ich allerdings nichts versprechen, solange jene Leistungen nicht erbracht sind, die ihnen gemäß der Natur der Sache vorauszuschicken sind. […]⁴³

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4. Leibniz an Louis Ferrand, 31. Januar 1672 Ad Dn. Ferrandum 31. Ian. 1672. In re Iuridica qvatuor efficere propositum est potissimum Deo volente: (1) Elementa Iuris naturalis, (2) Elementa Iuris civilis communis hodierni, (3) Nucleum Legum Romanarum, (4) Corpus Iuris Romani Reconcinnatum. 1) Elementa Iuris Naturalis ut mole exigua, ita pondere magna erunt, continebunt enim ex solis justi definitionibus deductas demonstrationes. Virum justum seu bonum definio, qvi amat omnes. Amare alterius felicitate delectari. Felicitatem statum purae delectationis. Delectationem sensum harmoniae. Ex his definitionibus omnia duco. Et in casu concursus Eius Bonum praeferendum esse ostendo unde harmonia in summa major. Hinc deduco omnes juris regulas, de dolo, et culpa, et casu, et damni lucriqve proportionibus, et praemiis poenisqve, viamqve ostendo, facto semel habito, tam facilè solvendi omnes casus, qvàm aliqvis problema Geometricum per analysin dissolverit. His ita positis restabit in facto tantùm indagando, seu ordinando judiciario processu executioneqve acceleranda difficultas. Qvare de Ordinatione Processus Iudiciarii habeo nova qvaedam et qvae facilè in praxin deduci possint, caeterum in Legibus statutisqve hactenus neglecta sunt, qvae relictis mali radicibus symptomatibus medelam afferre voluêre. Opus est in viscera artis cavillatoriae grassari et confundendi, aliena immiscendi, ad rem pertinentia dissimulandi potestatem illis adimere.

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4. Leibniz an Louis Ferrand, 31. Januar 1672⁴⁴ An Herrn Ferrand, 31. Januar 1672. Auf dem Gebiet des Rechts habe ich es mir zum stärksten Vorsatz gemacht, die folgenden vier Aufgaben, so Gott will, zu erfüllen: (1) die Elemente des Naturrechts, (2) die Elemente des heutigen gemeinen bürgerlichen Rechts, (3) den Kern der römischen Gesetze und (4.) das neugeordnete Korpus des römischen Rechts. 1) Die Elemente des Naturrechts werden so groß an Bedeutung wie klein im Umfang sein, denn sie enthalten die Beweise, die aus den bloßen Definitionen dessen, was gerecht ist, abgeleitet sind. Ich definiere den »gerechten« oder »guten Menschen« als den, »der alle liebt«, »lieben« als »sich am Glück des anderen erfreuen«, »Glück« als »Zustand uneingeschränkter Freude«, und »Freude« als »Empfindung von Harmonie«. Aus diesen Definitionen leite ich alles her. Und im Falle eines Konflikts zeige ich auf, daß das Wohl dessen vorgezogen werden muß, von dem insgesamt die größere Harmonie ausgeht.⁴⁵ Hiervon leite ich alle Rechtsregeln ab, die sich auf Arglist, fahrlässige Schuld und Mißgeschick sowie auf die Proportionen von Schaden und Nutzen, Belohnungen und Bestrafungen beziehen, und ich zeige einen Weg auf, wie man nach einem einmal beurteilten tatsächlichen Fall alle weiteren Fälle so leicht lösen kann, wie man ein geometrisches Problem durch Analysis auflöst. Wenn dies aufgestellt ist, wird ein Problem nur noch beim Aufsuchen des auf die Tat Folgenden, d. h. beim wohlgeordneten Regeln des Gerichtsprozesses und beim Beschleunigen des Vollzugs offenbleiben. Deshalb habe ich für die wohlgeordnete Regulierung des Gerichtsprozesses noch etwas Neues bereitliegen, was sich auch leicht in die Praxis umsetzen läßt; daß man es übrigens bis jetzt bei den Gesetzen und Statuten vernachlässigt hat, bedeutet, daß man die Wurzeln des Übels außer acht ließ, um die Symptome zu kurieren. Es tut not, gegen die Lieblinge der sophistischen Kunst zu Werke zu gehen und ihnen die Macht aus der

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Non est difficile recepta immutare, modò accedat nutus aliqvis alicuius Principis magni. 2) Ex Elementis Iuris Civilis communis hodierni ausim promittere adolescentem paucarum septimanarum spatio ita instrui posse per lusum jocumqve, ut possit ex iis definire omnes casus oblatos opera non magna, et ipsas agitatissimas inter Doctores controversias ex solidis fundamentis decidere. 3) Nucleus Legum Romanarum velut carne sceleton Tabularum nudum vestit. Ut cessantibus statutis recurrendum ad jus commune, ita eo qvoqve silente redeundum ad jus communissimum, id est naturale. 4) Corpus Iuris Reconcinnatum omnes omnino leges digeret, et ad regulas Elementorum Iuris Naturalis et Civilis, ex qvibus pendent referet. Ita patebunt eadem opera rationes legum, qvae instar mille commentariorum sunt, et ubi opus brevis paraphrasis adhibeatur, etsi fateor nonnunqvam ignorantia rerum Veterum fieri, ut omnia explicare non possimus, sed sine exiguo damno. Dissoluti sunt jam tum innumeri nodi, ab aliis intacti, dissolvunturqve qvotidie plures. Qvaeres qvid ex omnibus praestitum sit ? Respondeo: Elementa Iuris Naturalis, Tabulam Elementorum Iuris Civilis, Nucleum Legum, ita affecta esse, ut brevissimo tempore, certè anni minimum, si huic uni rei vacare liceret, absolvi possent. Sed corpus reconcinnatum vastius est, in qvo adminiculis adjuvantium directio-

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Hand zu schlagen, den Kasus zu verwirren, Sachfremdes hineinzumischen und zur Sache Gehöriges zu verheimlichen. Schwer ist es nicht, die Gewohnheiten zu verändern. Es muß nur die Zustimmung eines großen Fürsten hinzukommen. 2) Was die Elemente des heutigen gemeinen bürgerlichen Rechts betrifft, so wage ich zu versprechen, daß man mit ihnen einen jungen Mann im Zeitraum von wenigen Wochen durch Spiel und Scherz so unterrichten kann, daß er mit eben diesen Elementen alle ihm vorgelegten Fälle ohne große Mühe beurteilen und selbst die hitzigsten Kontroversen zwischen den Gelehrten nach festen Grundlagen entscheiden kann. 3) Der Kern der römischen Gesetze wird wie Fleisch das nackte Skelett der Tabellen umgeben. Wie man beim Aussetzen der Statuten auf das gemeine Recht zurückgehen muß, so muß man, wo auch dieses schweigt, auf das allgemeinste Recht zurückgreifen, d. h. auf das Naturrecht. 4) Das neugeordnete Korpus des Rechts wird gänzlich alle Gesetze ordnen und sie auf diejenigen Regeln der Elemente des natürlichen und des bürgerlichen Rechts beziehen, von denen sie abhängen. Auf diese Weise werden im selben Arbeitsgang die Begründungen der Gesetze zugänglich gemacht, die tausend Kommentare ersetzen, wobei man sich doch bloß der Mühe einer kurzen Paraphrase unterzieht. Gleichwohl muß ich zugeben, daß es mir aus Unkenntnis der antiken Verhältnisse gelegentlich passiert, daß ich nicht alles erklären kann; doch dies bleibt ohne den geringsten Schaden. Aufgelöst wurden schon damals unzählige Knoten, die von anderen nicht einmal berührt worden sind. Noch mehr aber werden heute aufgelöst. Ihr fragt, was von all den genannten Projekten bislang realisiert sei ? Ich antworte, daß die Elemente des Naturrechts, die Tabelle der Elemente des bürgerlichen Rechts und der Kern der Gesetze so weit gediehen sind, daß sie binnen kürzester Zeit fertiggestellt werden können – ganz sicher, wenn es mir vergönnt wäre, für diese einzige Aufgabe mindestens ein Jahr lang freigestellt zu sein. Das neugeordnete Korpus aber ist viel umfassender, so daß es

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IV. Vier Briefe

nemqve seqventium, et tempore opus est. Erit tamen caeteris perfectis laboris potius, qvàm ingenii, ac proinde aliorum accedente opera poterit facilè expediri. Ex his Elementa Iuris Naturalis Tabulasqve Elementorum Iuris Communis mihi vindico, in Nucleo Legum et Corpore Reconcinnando Clmo Lassero ICto Moguntino adjutor sum.

5

4. an Ferrand

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noch die Unterstützung durch hilfreiche und der eingeschlagenen Richtung folgende Kräfte, aber auch noch Zeit braucht. Es wird jedoch, wenn das übrige zustande gekommen ist, eher eine Sache des Fleißes als der Begabung sein, und demnach wird es, sobald nur die Arbeit anderer hinzukommt, auch leicht ausgeführt werden. Von den genannten Projekten erhebe ich den Anspruch auf die Elemente des Naturrechts und auf die Tabellen der Elemente des gemeinen Rechts; beim Kern der Gesetze und beim neuzuordnenden Korpus assistiere ich dem hochberühmten Mainzer Rechtsgelehrten Lasser.

A NM E RKU NG E N D ES HE RAUS GE BE R S

text i (s. 5 – 23)

¹ Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine umfangreiche Anmerkung, die Leibniz eingetragen hat in sein durchschossenes Handexemplar von Jakob Thomasius : Philosophia practica continuis tabellis in usum privatum comprehensa, Leipzig 1661. Das Exemplar mit den gut erhaltenen Adnoten befindet sich in der Niedersächsischen Landesbibliothek, Hannover, unter der Signatur »Leibn. Marg. 32«. Leibniz’ zahlreiche Anmerkungen (alle sind abgedruckt in A VI 1, 42 – 67) belegen, daß er das Tabellenwerk seines Leipziger Lehrers über einen längeren Zeitraum gründlich studiert hat. Der lateinische Originaltext einschließlich der geometrischen Figur, der im folgenden »Das Leib-Seele-Pentagon und die moralische Sphäre des Verstandes« genannt wird, ist als Adnote 55 abgedruckt in A VI 1, 53 – 60. Weil sie viel voraussetzt und manches nur andeutet, verlangt diese Anmerkung besonders viele interpretatorische Erklärungen. Zu ihrer Gesamtdeutung im Kontext vgl. Hubertus Busche : Das Leib-Seele-Pentagon und die Kombinatorik attraktiver Vorstellungen – Ein folgenreiches Konzept der Leibnizschen Frühphilosophie, in : Zeitschrift f. philos. Forschung 46 (1992), 489 – 507 ; ders. : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 57 – 91. In Abweichung von der Akademie-Ausgabe wurde Leibniz’ Zeichnung nicht ins letzte Drittel des erklärenden Textes eingefügt, sondern separat dem Text vorangestellt. Auch wurde die Wiedergabe des Leibnizschen Schemas (linke Seite) zur Steigerung der Deutlichkeit ergänzt durch eine erläuternde Variante (rechte Seite), in der die wichtigsten Punkte durch Beschriftungen augenfällig dargestellt sind. Nach der handschriftlichen Beurteilung durch die Herausgeber der Akademie-Ausgabe gehört die Anmerkung zu denjenigen, die »im Laufe des Jahres 1663 in Leipzig und Jena geschrieben« worden sein dürften (A VI 2, 542, 36 – 543, 2). Daß sie vermutlich schon im Sommer 1663 niedergeschrieben wurde, als Leibniz in Jena bei Erhard Weigel studierte, wird dadurch gestützt, daß sich Leibniz im Text auf Weigel

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Anmerkungen des Herausgebers

bezieht und der Pythagoreer Weigel solche geometrischen Schemata und insbesondere auch die Figur des Pentagons liebte, das traditionell als Muster einer vollkommenen Verteidigungsanlage galt. Leibniz bemerkt im Text, daß das äußere Pentagon nach der Forderung der »Schanztechniker (fortificatorii)« die gröbste Struktur haben müsse. Als Leibniz im Sommer 1663 bei Weigel studierte, las Weigel aber gerade »über Mechanik, Astronomie, Gnomonik und Fortifikation« (Kabitz : Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 178 f.). Leibniz verdeutlicht sich somit die aristotelisierende Auffassung seines Leipziger Lehrers Thomasius vom »Prozeß der moralischen Handlungen« durch die einfallsreichen Erklärungen seines Jenaer Lehrers Weigel. Auch Konrad Moll : Der junge Leibniz. Bd. I: Die wissenschaftstheoretische Problemstellung seines ersten Systementwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia Generalis, Stuttgart – Bad Cannstatt 1978, 65, sieht die Leibnizsche »Privatnotiz« als durch Weigel »offenbar angeregt« und vermutet, daß Leibniz die Adnote »schon in Jena oder kurz danach« verfaßt habe. Vgl. auch Kabitz : Die Philosophie des jungen Leibniz, 11 f., Anm. 2; sowie Hubertus Busche: Weigel und Leibniz über die Natur des Geistes, in: Philosophia Mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel, hg. v. Stefan Kratochwil, Weimar 2003, 27 – 50. Erhard Weigel gehört in der Philosophiegeschichte zum Typus des großen Anregers, der weniger über seine Bücher als über seine Schüler wirkt. Bei Weigel waren dies vor allem Pufendorf und Leibniz. Entsprechend hat Weigel auch seine Gedanken und Einfälle viel später veröffentlicht als vor seinen Schülern dargelegt. So ist es auch vermutlich mit der ganzen Figur des Pentagons, nachweislich aber mit dessen innerstem Kreis, der »sphaera moralis«. Leibniz beruft sich im Text mit dem Namen »sphaera Weigeliana« auf dieses geometrische Konstrukt zur Quantifizierung der moralischen Geisteshaltung. Veröffentlicht wurde es zunächst nicht von Weigel selbst, sondern von seinem Schüler Samuel Pufendorf (1632 –1694), dem man schon 1663 in Jena nachsagte, daß er seine erste Darlegung zum Naturrecht »fast gänzlich von der handschriftlichen Euklidischen Ethik unseres Weigel abgekupfert« habe (so Leibniz im Brief an Thomasius vom 2./12. September 1663, A II 1, 3, 29 – 31). Pufendorf veröffentlichte die Weigelsche »sphaera moralis« zunächst in seinen »Elementen des Naturrechts« (Den Haag 1660) und kommentierte sie dann sogar in der

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zweiten Auflage durch einen Anhang (Elementorum Jurisprudentiae universalis libri II. Denuo Ad Exemplar Hagae-Comitense impressi, Appendice de Sphaera Morali aucti, Indicibusque locupletati, Jena 1669). Weigels »moralische Kugel« wird hier zwar im Anhang (515 – 519) ausgedeutet, doch ihre eigentliche Erklärung und auch die Abbildung finden sich in Definition XVIII (310 – 334), wo Pufendorf das Schema seines Lehrers zur Einschätzung der »quantitas actionum moralium« übernimmt. Zu Weigels »geometrischer« Konzeption von Ethik und Rechtslehre vgl. Röd : Geometrischer Geist und Naturrecht, 76 – 99 ; zur »sphaera moralis« vgl. dort die Kurzbeschreibung (79 u. 88). Leibniz selbst dürfte das Konstrukt direkt in Weigels Vorlesungen oder Seminaren kennengelernt haben. Auch in späteren Jahren hat er die moralische Kugel mehrfach erwähnt. In einem Projekt zur Ars Inveniendi schreibt er vom »très habile professeur à Jena nommé Mons. Weigelius« und seinen »belles pensees pour perfectionner la logique, et pour donner des demonstrations en philosophie«. Anerkennend fügt er hinzu : »Il a aussi donné une Sphere morale fort ingenieuse, qui est une maniere d’allegorie d’expliquer toute la morale, par le rapport à la doctrine de la sphere des Astronomes« (A IV 4, Teil A, 968, 7 –13). In den Nouveaux Essais, IV 3, § 20, lobt er einerseits : Weigel »inventa ingenieusement des figures, qui representoient des choses morales«. Andererseits schränkt er ein, diese Allegoresen glichen den Tafeln des Kebes, die eher das Gedächtnis stützten, als der Urteilskraft demonstrative Erkenntnis zu gewähren (A VI 6, 385, 17 – 26) ; ähnlich in späteren Zusätzen zur Nova methodus (A VI 1, 276, 34 – 37). Welche historischen Vorlagen und Vorbilder Weigel und vielleicht auch Leibniz selbst hatten, läßt sich kaum ermitteln. Einer der altehrwürdigsten Versuche, den menschlichen Leib mit einer Verteidigungsanlage, die fünf äußeren Sinne mit fünf Stadttoren und den Verstand mit dem im innersten Palast residierenden Fürsten zu vergleichen, findet sich bei Gregor von Nyssa : De hominis opificio, IX –XI (Migne : Patrologia Graeca, Bd. 44, 149 –156). Natürlich stützt sich Gregor bereits auf Aristoteles, der von der »gut regierten« Stadt unseres Leibes und vom »Herrschaftssitz« in unserer leiblichen »Akropolis« sprach (De motu animalium 10, 703 a 30 – b 2 ; De partibus animalium III 7, 670 a 26). Ähnlich illustriert später Nikolaus von Kues : Compendium, VIII , seinen »Kosmographen«. Auch nach dem von Leibniz schon in Leipzig gelesenen Pierre Gas-

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Anmerkungen des Herausgebers

sendi : Syntagma philosophicum, ist die »phantasia« der Königspalast, »quasi regia Rationalis Animae, Intellectusve«, aus dem die Untertanen der dienstbaren spiritus entsandt werden (Opera omnia, 6 Bände, hg. v. Habert de Montmor et al., Lyon 1658, Nachdruck Stuttgart – Bad Cannstatt 1964, II 444 f.). Verwiesen sei aber auch auf die mystische Tradition der Seelenburg, wie sie eindrucksvoll zum Ausdruck kommt bei Teresa de Avila : El castillo interior, Salamanca 1588. ² Leibniz bezieht sich auf die Tafel XXIIX bei Thomasius, in der die einzelnen Schritte beim »Prozeß der moralischen Handlungen« übersichtlich aufgelistet sind. Thomasius unterscheidet hier 17 Schritte von der sinnlichen Affektion durch das äußere Objekt über die moralische Willensbestimmung bis hin zur Ausübung einer vorsätzlichen Handlung. ³ Gemeint sind die drei Folgesätze bei Thomasius (abgedruckt in A VI 1, 58 f.), die Leibniz im vorletzten Absatz unseres Textes kurz beweist. ⁴ Um die bei Thomasius beschriebenen Etappen des moralischen Prozesses von der sinnlichen Affektion bis zur überlegten Handlung mechanistisch erklären zu können, übersetzt Leibniz fast die ganze aristotelische Psychologie in die Terminologie der zeitgenössischen Physiologie und veranschaulicht diese durch das Schema des Pentagons. Die aristotelische Seelenlehre bot sich mit ihrer Grundunterscheidung zwischen den fünf peripheren Sensorien und dem Zentralorgan des inneren Sinnes oder Gemeinsinnes geradezu an für eine solche mechanistische Vereinnahmung. ⁵ Leibniz symbolisiert also den menschlichen Leib durch ein Pentagon, um die fünf äußeren Sinne als Tore zur Außenwelt zu veranschaulichen. Das Fünfeck läßt zwei Darstellungsarten zu. In der ersten werden zur Symbolisierung der fünf speziellen Sensorien die fünf äußeren Ecken genommen. Weil dann aber deren dynamische Beziehung zu den anschließenden inneren Funktionen nicht gut darstellbar ist, verwirft Leibniz diese Art der Veranschaulichung. Statt dessen symbolisiert er die fünf speziellen Sensorien durch die Berührungspunkte zwischen dem äußeren Fünfeck und dem größeren eingeschriebenen Kreis. Der allgemeine Tastsinn, dessen Organ die gesamte Außenhaut des Körpers ist, wird dann durch die ganze äußere Grenzlinie des Pentagons versinnbildlicht.

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⁶ Die Lebensgeister (spiritus) sind in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturphilosophie feinste luftartige Materien, die durch den Körper strömen und das Werkzeug der Seele bilden. Man unterschied erstens den belebenden »spiritus vitalis«, der vom Herzen aus durch die Arterien verteilt wird, zweitens den für die natürlichen Funktionen aufkommenden »spiritus naturalis«, der von der Leber mit Blut vermischt und in die Venen geschickt wird, und drittens den »spiritus animalis«, der durch das Gehirn fließt und über die Nerven zurückströmt (vgl. die Artikel »Geist, V. u. VI « von H. K. Kohlenberger und H. M. Nobis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter et al., Basel / Darmstadt 1971 ff., Bd. III 173 –181). Eine gute Übersicht über die physiologischen Konzepte der spiritus vitales, naturales und animales gibt Karl Eduard Rothschuh : Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg, München 1968, insb. 39 – 75 u. 100 –122. Zur Entwicklung von der antiken Pneumalehre über die »Thermodynamik der Spiritus« und die »Hydraulik des Nervensaftes« bis zur modelltheoretischen Verwandtschaft zwischen Spiritusströmung und Nervenaktionsstrom vgl. ders. : Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in : Ciba-Geigy-Zeitschrift 8 (1958), 2950 – 2980. ⁷ Leibniz’ Symbolisierung des Körperlichen durch gerade Linien und des Spirituellen durch den Kreis entspricht ganz dem »Symbolismus der göttlichen und menschlichen Dinge bei den Quantitäten (Symbolismus rerum divinarum humanarumque in quantitatibus)«, den Johannes Kepler im 1. Kapitel des IV . Buches seiner Weltharmonik zugrunde legt (Harmonice Mundi, in : Gesammelte Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, unter der Leitung v. Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1937 ff., VI 224). Diese Parallele ist ein mögliches Indiz dafür, daß entweder Leibniz selbst oder Erhard Weigel sich auf die Sphären-Spekulation Keplers beruft. ⁸ Die fünf Schnittpunkte zwischen äußerem Fünfeck und äußerem Kreis symbolisieren also einerseits die fünf speziellen äußeren Sinne (Sehen, Hören usw.), die Leibniz zuvor aufgezählt hatte, andererseits aber auch die fünf speziellen äußeren Sensorien, die gereizt oder affiziert werden müssen, damit es zum psychischen Erleben der entsprechenden sinnlichen Empfindungsqualitäten kommt (z. B. die

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Anmerkungen des Herausgebers

Netzhaut der Augen für das Empfinden von Farben oder die Ohren für das Hören von Geräuschen). ⁹ Leibniz, der hier seine frühe und zustimmende Kenntnis der atomistischen Physiologie zu erkennen gibt, stützt sich hier wahrscheinlich, wie so oft, auf die ausführlichen philosophiehistorischen Referate bei Gassendi : Syntagma philosophicum, partis secundae seu Physicae sectionis tertiae membrum posterius, liber IV , De generatione animalium, caput III , De formatione foetus. Hier werden auch die Lehrmeinungen Demokrits und seiner Nachfolger zusammengestellt (Opera omnia, II 274 f.). ¹⁰ Nach Aristoteles ist der praktische Verstand (íï™ò ðñáêôéêüò) natürlich kein real vom theoretischen Verstand getrenntes Vermögen, sondern bloß der Verstand, sofern er sich auf Zwecke bezieht und das Begehren reguliert (De anima III 10, 433 a 13 –16). In Tabelle XXIX bei Thomasius (A VI 1, 59, 18 – 30), die Leibniz ebenfalls mit Anmerkungen versehen hat (ebd. 60, Anm. 56), sind Klugheit (öñüíçóéò) und Kunst (ôÝ÷íç) als spezifische Tugenden des »intellectus practicus« aufgelistet. ¹¹ Wie das äußere Fünfeck die äußeren Sensorien symbolisiert, so veranschaulicht das innere Fünfeck das innere Sensorium im Gehirn, das Leibniz überproportional groß darstellt, um später noch Platz für die Beschriftung der innersten Verstandes-Koordinaten zu haben. Unter »Affekt« versteht Leibniz hier nicht eine einzelne Gemütserregung wie z. B. den Zorn, sondern den ganzen zerebralen Bereich, mit dessen Reizung es zu einzelnen Affekten kommt. Diesen Bezirk stellt sich Leibniz mit einigen zeitgenössischen Physiologen als eine Art Kammer vor, die mit den flüssig-gasartigen Lebensgeistern (spiritus animales) angefüllt ist. Weil sie die materielle Hülle und gleichsam das leibliche Werkzeug des durch den innersten Kreis dargestellten Verstandes bilden, nennt Leibniz sie auch dessen innere »Glieder«, im Unterschied zu den äußeren Gliedern wie Armen und Beinen. ¹² Durch den berühmten Anatomen Werner Rolfinck (1599 –1673) war die Universität Jena damals zu einer Art Hochburg der Anatomie geworden. Rolfinck, der seit 1629 Professor für Anatomie, Chirurgie und Botanik, ab 1641 auch für Chemie war, hatte in Jena ein chemisches Laboratorium und ein anatomisches Theater eingerichtet, in dem er auch Leichen sezierte. Daß sein Kollege Weigel »an Sektionen

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teilnahm«, hält Wilhelm Hestermeyer: Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969, 278, Anm. 85, für wahrscheinlich. ¹³ »Intelligible Erscheinungen (species intelligibiles)« heißen in der scholastischen Terminologie die Vorstellungsgebilde, auf die der Verstand angewiesen ist, sobald er beim Denken die bloß »sinnlichen Erscheinungen (species sensibiles)« der empirischen Anschauung überschreitet. Sie sind »einsehbar« oder »intelligibel«, weil der Verstand bereits abstrakte Aspekte in ihnen begreift, die von den sinnlich konkreten Anschauungen losgelöst sind. Den intelligiblen Erscheinungen entsprechen bei Aristoteles die Vorstellungsgebilde (phantasmata) der Einbildungskraft (phantasia), ohne die der Verstand nichts denken kann. (Vgl. De anima III 7, 431 a 16 f. ; III 8, 432 a 8 f. ; De memoria et reminiscentia 1, 449 b 35 ff.). Durch seine Anspielung auf die scholastische Lesart der aristotelischen Erkenntnislehre gibt Leibniz zu verstehen, daß die Peripherie des inneren Kreises identisch ist mit dem Vorstellungshorizont der Phantasie, in welchem sich der denkende Mittelpunkt für sein Begreifen allgemeine Schemata vor das geistige Auge hält. ¹⁴ An dieser Stelle endet die Symbolik und beginnt die wahre Wirklichkeit der Hieroglyphe vom Pentagon. Der innerste Kreis oder .– dreidimensional – die innerste Kugel ist nun nicht mehr ein bloßes geometrisches Sinnbild wie das innere Fünfeck, sondern nach Leibniz die tatsächliche Struktur des menschlichen Geistes oder Gemütes selbst. In seinem Schema hat Leibniz diese winzige punktuelle Natur des Geistes oder Verstandes überproportional groß gezeichnet, um in ihr gewisse gedankliche Koordinaten eintragen zu können. Im folgenden nennt er sie »sphaera intellectus«. Damit verwandelt er die bei Aristoteles nur angedeutete Hintergrundannahme vom Verstand als dem innersten Zentrum im Herzen, aber auch die neuplatonische Spekulation von der Sphärennatur der Seele, in ein mechanisches Konzept vom selbstreflexiven Punkt des intellectus ipse. Den Bezug auf Aristoteles stellt er her, indem er die Verstandessphäre »unvermischt« mit dem übrigen Körper nennt und dafür jenes griechische Adjektiv PìéãÞò verwendet, das Aristoteles zur Kennzeichnung

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Anmerkungen des Herausgebers

der abgetrennten Natur des Verstandes gebraucht (vgl. De anima III 4, 429 a 18 u. 24 f. ; III 6, 430 a 17 f.). Der Leibnizschen Beschreibung, daß der Verstand »nicht festgebunden« an den übrigen Körper sei, entspricht bei Aristoteles die Formel, daß der Verstand (nous) »abgetrennt (÷ùñéóôüò)« vom übrigen Körper sei (De anima III 4, 429 b 5 ; III 6, 430 a 17 u. 22). Die Frage, ob der Verstand, d. h. der »Teil, mit dem die Seele denkt« (De anima III 4, 429 a 10 f.), nur »dem Begriff nach« oder auch »dem Ort nach« bzw. »der Größe nach« vom groben Körper abgetrennt sei (De anima II 2, 413 b 14 f. ; III 4, 429 a 10 –12), entscheidet Aristoteles schließlich so, daß der nous nicht nur begrifflich, sondern auch realiter vom Körper »abgetrennt« sei (De anima III 4, 429 b 5). Diese Realverschiedenheit vom groben Körper ermöglicht es dem Verstand auch, sich nach dem Tod vom verweslichen Körper ganz »abzutrennen« wie das Ewige vom Vergänglichen (De anima II 2, 413 b 26 f.). Die Punktualität des Geistes muß v. a. aus vier Gründen postuliert werden. Erstens garantiert nur die Punktualität die Unteilbarkeit und Einheit des Bewußtseins im Wahrnehmen, Vorstellen und Denken. Wie schon Aristoteles argumentiert hatte, muß das Organ, das die Einheit des Bewußtseins verbürgt, als unteilbares Zentrum »Eines« sein, zugleich aber im Akt des Übergreifens auf die wahrgenommene oder gedachte Vielheit mit seinen Schnittlinien eine »Zweiheit« aufspannen (vgl. De anima III 2, 427 a 9 –16 ; III 6, 430 b 6 – 21 ; III 7, 431 a 20 – 29). Dieses Argument der Identität von Identität und Differenz führt auch Leibniz für die Punktualität des Geistes an. »Dieweil auch mens selbsten eigentlich in puncto tantùm spatij bestehet, hingegen ein Corpus einen platz einnimbt, welches ich, nur populariter davon zu reden, daher klärlich beweise, die weil das Gemüth sein muß in Loco concursus aller bewegungen die von den objectis sensuum unß imprimirt werden. Dann wann ich schliesen will, daß ein mir vorgegeben Corpus gold sey, so nehme ich zusammen seinen glantz, klang undt gewicht, undt schliese darauß daß es gold sey, muß also das gemüth ahn einem orth sein, da alle diese Linien visûs, auditûs, tactûs zusammen fallen, undt also in einem punct. Geben wir dem Gemüth einen grösern platz alß einen punct, so istß schon ein Cörper, undt hat partes extra partes, ist daher sich nicht selbst intimè praesens undt kann also auch nicht auff alle seine stücke undt Actiones reflectiren,

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darinn doch die Essentz gleichsamb deß Gemüthß bestehet.« (An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671, A II 1, 108, 11– 20) Als zweites Argument für die Punktualität des Geistes nennt Leibniz die Notwendigkeit, eine Form von selbsttätiger Reflexion zu denken, die zwar mechanisch erklärbar, nicht jedoch mechanisch determiniert ist. An dieser Selbstreflexion hängt nicht weniger als die Entscheidungs-, Willens- und Handlungsfreiheit. Wenn die geistige Spontaneität aber als das Zentrum einer Sphäre gedacht wird, so behält dieser Mittelpunkt »eine unbezwingbare Freiheit«. Denn der von innen her operierende Mittelpunkt e wird »durch nichts auf einen von zwei gegenüberliegenden Punkten festgelegt außer durch sich selbst« (Pentagon, s. o. 9). Im Zeitalter des Mechanizismus, das keine metaphysischen Akte ohne materielle Grundlagen mehr einräumt, scheint diese Konzeption des Geistes als eines durch sich selbst auf sich selbst wirkenden Punktes die einzige Möglichkeit, den unverbrüchlichen Kausalnexus der Natur anzuerkennen und ihn zugleich in diesem einzigen »Punkt« zu durchbrechen, der gleichsam das Scharnier zwischen Freiheit und Notwendigkeit bildet : »Denn wir handeln nicht vermittels der einfachen Maschine [unseres Leibes], sondern aus jenen Reflexionen heraus, d. h. indem wir auf uns selbst handeln (Agimus enim non per simplicem machinam, sed ex illis reflexionibus, sive actionibus in nos ipsos)« (De sede animae, Paris 1676, A VI 3, 480, 16 f.). Leibniz will also noch spekulativ zusammenbringen, was Kant später unvermittelt in das Ding an sich (bzw. Ich an sich) und in die Erscheinung abtrennt. Das dritte Argument teilt Leibniz mit Descartes, der die anima rationalis auch deshalb in der Epiphyse lokalisierte, weil die Zirbeldrüse das einzige bekannte Gehirnorgan war, das unpaarig ist, so daß die Abbildungsradien der zwei Augen sich in diesem Fokus projektionsgeometrisch gebündelt abbilden können. Nach Descartes ist die Epiphyse der »principal siege de l’ame«. »Et on peut aysement concevoir que ces images ou autres impressions se reünissent en cette glande, par l’entremise des esprits qui remplissent les cavitez du cerveau« (Descartes : Les passions de l’âme, Art. 34 u. 32, in : Œuvres, hg. v. C. Adam u. P. Tannery, Paris 1964 –1976, XI 354 u. 353). Weil die Epiphyse wie ein Ballon vorgestellt wurde, der zwischen den Hirnhöhlen aufgehängt ist, schien sie ferner bei den rezeptiven Vorgängen extrem leicht durch

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Anmerkungen des Herausgebers

die aufprallenden Spiritus bewegt werden zu können, bei den willkürlichen Tätigkeiten dagegen in den Kreislauf der Lebensgeister eingreifen zu können (vgl. Descartes : ebd., Art. 34, AT XI 354 f. ; Art. 41– 44, ebd. 359 – 362 ; ferner die Abbildungen Nr. 23 – 39 im Traité de l’homme, AT XI , Appendix nach 734. Ein solches freibewegliches Steuerungszentrum schwebt auch Leibniz mit seiner »sphaera intellectus« vor. Die sphärische Figur des Punktes ist »absolut drehbar und beweglich (volubilissimum mobilissimumqve)« (Pentagon, s. o. 7). Ein physischer Punkt ist »nicht festgebunden (non alligatus)« an den Leib, sondern verhält sich zum Körper »lediglich berührend und in sich geschlossen (tantùm tangens et inclusus)« (ebd., s. o. 9). Das vierte Argument schließlich, weshalb Leibniz den »wahren Ort unseres Geistes (locum verum mentis nostrae)« in einem »Punkt oder Zentrum« ansiedelt (an Antoine Arnauld, Anfang November 1671, A II 1, 173, 14), ist schließlich die Unzerstörbarkeit des Punktes und somit die Unsterblichkeit des in ihm lokalisierten Geistes. »Gesetzt nun das gemüth bestehe in einem punct, so ist eß unzertheilig undt unzerstörlich« (An Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671, A II 1, 108, 20 f.). »Ein Punkt ist unteilbar, folglich kann er nicht zerstört werden. Der Leib kann also gänzlich verbrannt und in alle Winkel der Erde zerstreut werden. Der Geist hingegen wird in seinem Punkte unbeschadet und unberührt überdauern. Denn wer könnte einen Punkt verbrennen ?« (Beilage zum Brief an den Herzog, ebd. 113, 22 – 24) »Mentem consistere in puncto seu centro, ac proinde esse indivisibilem incorruptibilem immortalem« (an Herzog Johann Friedrich, 2. Hälfte Oktober [ ?] 1671, A II 1, 162, 35 –163, 1). Die These von der Unzerstörbarkeit eines Punktes in allen Weltbränden scheint zunächst anfechtbar, weil auch die winzigste Kugel durch spitze Körper zerteilt werden kann. Leibniz nimmt jedoch schon früh an, daß die Materie, aus der die geistige Sphäre – wie später auch die Monade – besteht, ein ätherisches Fluidum ist. Deshalb kann ihre äußere Hülle zwar jederzeit zerteilt werden, doch nimmt sie stets eine neue, kleinere Tropfen- oder Kugelgestalt an, in welche ihr lebendiger Mittelpunkt übergeht. Sie ist also kein physisches, sondern ein metaphysisches Atom (vgl. an des Bosses, 11. März 1706, GP II 306). Der frühe wie späte Leibniz identifiziert diese unzerstörbare monadische Natur mit einem subtilen »Kern der Substanz (flos substantiae)«. »Nemblich ich bin fast der meinung, daß

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ein ieder leib, so wohl der Menschen alß Thiere, Kräutter undt mineralien einen Kern seiner substantz habe, der von dem Capite mortuo, [das] so wie eß die Chymici nennen ex terra damnata et phlegmate bestehet, unterschieden [ist]. Dieser kern ist so subtil, daß er auch in der asche der verbrandten dinge ubrig bleibt, undt gleichsamb in ein unsichtbarliches Centrum sich zusammen ziehen kann« (an Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671, A II 1, 108, 34 –109, 1 ; vgl. 109, 3 – 23 ; 116, 18 – 27). Der Tod ist folglich eine bloße Kontraktion des organismischen Spiritus in seinen lebendigen Punkt zurück (involutio diminuitiva), die Zeugung nur eine Ausfaltung (evolutio augmentativa) dieses präformierten »centrum seminale«, das Leibniz mit dem »corpus spirituale« des Auferstehungsleibes gleichsetzt (ebd. 116, 17 f.). Willensfreiheit und Unsterblichkeit sind also die höchsten Interessen, deren Möglichkeit Leibniz als mit dem Mechanizismus vereinbar erweisen will durch seine »subtilissima contemplatio[…] de natura puncti seu indivisibilium, ex qua pleraque miracula in rebus naturalibus oriuntur« (an Heinrich Oldenburg, 28. September 1670, A II 1, 64, 9 –11). ¹⁵ Leibniz erläutert diese Dynamik zwischen dem geistigen Mittelpunkt e und den intellektuellen Intentionspunkten auf der Peripherie der Verstandessphäre erst später. Vorgreifend sei hier nur die Parallele in Keplers 5. Kapitel des IV . Buches seiner Weltharmonik zitiert. »Man kann die Seele als potentiellen Kreis oder als einen mit Richtungen ausgestatteten Punkt, also als qualitativen Punkt bezeichnen. Dabei muß man aber offenbar doch den Unterschied beachten, daß die einen Seelenvermögen eher dem Kreis, die anderen eher dem Punkt gleichen. Denn wie man einen Kreis nicht ohne Mittelpunkt denken kann und umgekehrt der Punkt ringsum eine Umgebung besitzt, die zur Beschreibung eines Kreises dienlich ist, so gibt es in der Seele keine Aktivität ohne Beeindruckung der Phantasie und umgekehrt, jede innere Wahrnehmung oder Überlegung zielt ab auf eine äußere Bewegung, jedes innere Seelenvermögen ist gerichtet auf mehr äußere Vermögen. Was ist das erste und oberste Seelenvermögen, der Geist, anderes als ein Mittelpunkt, das Vermögen Schlüsse zu vollziehen anderes als ein Kreis ? Denn wie der Mittelpunkt innen und der Kreis außen ist, so ruht der Geist in sich selber, während der Schlüsse ziehende Verstand ein äußeres Gewebe wirkt. Und wie der Mittelpunkt Basis, Quelle

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Anmerkungen des Herausgebers

und Ursprung für den Kreis ist, so der Geist für die Schlüsse des Verstandes. Hinwieder sind alle diese Seelenvermögen, sowohl der Intellekt als auch die diskursive Überlegung und das sinnliche Vermögen ein Mittelpunkt, die Bewegungsvermögen der Seele dagegen ein Kreis. Denn wie der Kreis außen sich um den Mittelpunkt herumlegt, so ist die Aktivität nach außen gerichtet, während die Erkenntnis und die Überlegung im Innern vollzogen wird. Wie der Kreis sich zum Punkt verhält, so verhält sich gewissermaßen das äußere Handeln zum inneren Schauen, die lebendige Bewegung zur Empfindung. Denn da der Punkt allseits dem Umfang entgegengesetzt ist, ist er von Natur aus geeignet, die Passivität darzustellen. Und die sensitive, d. h. hier die die Strahlungen wahrnehmende Seele, was tut sie beim Empfinden und Wahrnehmen anderes als leiden ? Wird sie doch durch die Objekte in Erregung versetzt.« (Kepler : Weltharmonik, übers. v. Max Caspar, München 1939, Nachdruck 1973, 237 ; lateinisch Harmonice Mundi, in: Gesammelte Werke, hg. v. Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1937 ff., VI 246). ¹⁶ Mit dem Übergang zum dreidimensionalen Konzept, das durch einen festen Globus dargestellt werden könnte, deutet Leibniz erstmals seine Orientierung an Erhard Weigels »sphaera moralis« an. ¹⁷ Nach dieser vorläufigen Erläuterung zum Sinn und Aufbau des Pentagons geht Leibniz dazu über, die gedanklichen OrientierungsKoordinaten des Verstandes innerhalb seiner Sphäre durch Buchstaben und astrographische Vergleiche darzustellen. Auf die Erklärungen zur physiologischen Dimension des Schemas folgen also nun gesonderte Ausführungen zu seiner psychisch-intellektualen Dimension, bevor schließlich in der zweiten Hälfte die physiologische Dynamik wieder aufgegriffen wird. Die Punkte a, b, c und d symbolisieren im folgenden bestimmte Vorstellungen, die sich der geistige Mittelpunkt e innerhalb seines Vorstellungshorizontes entwirft. Die Gegensätzlichkeit der gedanklich intellektuellen Fixpunkte (des Guten und Schlechten, des Nützlichen und Schädlichen) wird durch ihren Abstand von 180 Grad dargestellt. ¹⁸ Wie Weigel in seiner »sphaera moralis«, so bringt jetzt auch Leibniz die Hieroglyphe des Pentagons in eine Analogie zur zeitgenössischen Astrographie. Die innere Sphäre des Verstandes wird mit der Erdkugel verglichen, so daß auch die Koordinaten der Himmels-

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kunde auf den Verstand übertragen werden. Die ganze Analogie wirkt zunächst etwas skurril, wird sich aber später als zweckmäßig erweisen, weil durch die Attraktions- und Repulsionskräfte des Erdmagnetismus das rein gedankliche Angezogenwerden und Abgestoßenwerden des Verstandes von bestimmten Vorstellungen symbolisiert werden kann. Daß Leibniz die senkrechte Polarachse der Erde a b als »Äquatorialachse« bezeichnet, obwohl der Erdäquator doch waagerecht verläuft, erklärt sich aus einer Entlehnung aus der Himmelsekliptik und braucht hier nicht weiter zu befremden. ¹⁹ Während Leibniz bei seinen Erklärungen zwischen kleinen und großen Buchstaben schwankt, verwendet die Übersetzung durchgängig die kleinen Buchstaben, die auch der Leibnizschen Zeichnung zugrunde liegen. ²⁰ Leibniz symbolisiert mit dem natürlichen Erdmagnetismus der Polarachse a b also die erste intellektuelle Koordinate, nämlich die angeborene, »natürliche« Ausrichtung oder Neigung des Geistes, die mit dem Gewissen zusammenfällt. In der Scholastik wurde sie gelegentlich als »inclinatio naturalis« bezeichnet und auf das ins Herz eingeschriebene Gesetz bei Paulus (Röm. 2, 15) bezogen (vgl. Leibniz’ Referat einer ähnlichen Konzeption bei Robert Sharrock in der Neuen Methode, § 72). Weil sie die einzige fest vorgegebene Orientierungskoordinate für den Verstand ist, hat Leibniz sie als durchgezogene Linie gezeichnet. Wie die folgenden Sätze zeigen, enthält diese gedankliche Koordinate zum einen die anziehende Vorstellung vom höchsten Gut oder Gott, der zugleich das Gebotene ist. Wenn der Verstand e sich auf die Vorstellung a vom höchsten Gut richtet, folgt er also nach der Analogie seinem angeborenen Nordpol. Zum anderen enthält die eingeschriebene Orientierungskoordinate in der Gegenrichtung die intuitiv abstoßende Vorstellung b vom größten Übel, das zugleich das Verbotene darstellt. Richtet sich der Verstand e also auf b, folgt er seinem natürlichen Südpol. Somit führt die Analogie der Erdpole zu einer sehr schönen moralischen Höhen- und Tiefenmetaphorik : Die Ausrichtung des Geistes auf den höchsten Punkt a markiert die gedankliche Erhebung zu Gott, seine Ausrichtung auf den tiefsten Punkt b dagegen die Erniedrigung zum Bösen. ²¹ Während die erste, mit der Polar- oder Äquatorialachse verglichene Orientierungskoordinate a b, die man die moralische nennen

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Anmerkungen des Herausgebers

könnte, eine inhaltlich vorgegebene Konstante ist, ist die zweite, mit der Eklipsenachse verglichene Orientierungskoordinate c d, die man die utilitarische nennen könnte, eine Variable, die jeder Mensch je nach Charakter, Lebensalter und anderen Umständen mit den unterschiedlichsten inhaltlichen Vorstellungen füllt. Deshalb hat Leibniz sie nicht als durchgezogene, sondern als gepunktete Linie dargestellt. Indem Leibniz beide Koordinaten prinzipiell trennt, verhindert er, daß Gott oder das höchste Gut als Endzweck jemals den Stellenwert eines bloß Nützlichen einnehmen können. ²² Hatte Leibniz bisher nur zwei allgemeine, im Verstand eines jedes Menschen aufzuweisende Orientierungskoordinaten eingeführt, so schwenkt er jetzt ein auf die Symbolisierung eines ganz besonderen Beispiels für eine bestimmte geistige Einstellung. Er stellt exemplarisch den Fall einer Willensrichtung dar, die auf etwas Nützliches abzielt, das dem sittlich Guten fast völlig zuwiderläuft. Während es nach der von Leibniz eingeräumten Ekliptik die natürliche Neigung des Geistes wäre, daß seine Vorstellung vom Nützlichen c ganz in der Nähe des Arktispols a, d. h. der angeborenen Ausrichtung auf das höchste Gut läge, zeigt das Beispiel gerade umgekehrt eine gleichsam verdrehte oder gar verrückte Einstellung, bei der die Vorstellung des Nützlichen ausgerechnet in der Nähe des größten Übels liegt. Die Verkehrung der ›natürlichen‹ Ausrichtung des Erdmagnetismus nach unten symbolisiert also das Angezogenwerden des Verstandes von einer Vorstellung, von der er eigentlich abgestoßen werden müßte, wenn seine Urteilskraft ungetrübt wäre. ²³ Augustinus : De civitate Dei, XIX , 1, handelt von der Vielzahl der antiken Lehrmeinungen zum höchsten Gut. Dabei zitiert er aus dem Buch des Marcus Terentius Varro (116 – 27 v. Chr.) über die Philosophie. Nach einer Art Kombinatorik einfacher und zusammengesetzter Güter berechnet Varro hier nicht weniger als 288 verschiedene Schulen. Leibniz hat diese Kombinationen möglicher höchster Güter 1666 aufgegriffen in seiner Dissertatio de arte combinatoria (A VI 1, 205 f.). ²⁴ Diesem Fall kommt der im Schema eingezeichnete sehr nahe. Mit den unterschiedlichen Stellungen und Winkelgraden zwischen moralischen und utilitarischen Koordinaten, die Leibniz hier und in den folgenden Sätzen beschreibt, lassen sich also nach dem Vorbild Weigels unterschiedliche Geisteszustände symbolisieren.

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²⁵ Wie Leibniz auch im folgenden Absatz betont, aber erst im zweiten Teil des Textes näher erläutert, richtet sich sein ganzes Interesse am Modell der »sphaera moralis« innerhalb des Pentagons weniger darauf, die gefestigte und dauerhafte innere Einstellung oder moralische Geisteshaltung (habitus) eines Menschen darzustellen. Vielmehr will er allgemein die gedanklichen Entscheidungsprozesse im beseelten Punkt sowie die psychophysische Dynamik geometrisch darstellbar machen. Dazu gehört auch der Abstand, den ein in der Anschauung gegebenes Objekt, dessen Wert in der Vorstellung (symbolisiert durch k) eingeschätzt wird, von den gedanklichen Koordinaten hat. Je kleiner nämlich der Winkel zwischen der Objektvorstellung k und der Vorstellung vom Nützlichen c ist, als desto wertvoller wird der bestimmte Gegenstand vom Verstand eingeschätzt. ²⁶ Leibniz zeigt hier seine Skepsis gegenüber Weigels Symbolisierung moralischer Haltungen, die eine exakte Quantifizierbarkeit der moralischen Einstellung unterstellt. ²⁷ Leibniz erhebt den bloß rhetorischen Selbsteinwand, daß die intellektuellen Akte sich nicht beziehen lassen auf die Dynamik wirkender Kräfte, wie sie in der Analogisierung von Denksphäre und Erdkugel durch den Erdmagnetismus dargestellt sind. Nun ist aber die durchgängige exakte Korrespondenz und Parallelisierbarkeit zwischen psychischen Akten einerseits und mikrophysischen Wirkungen und Kräften andererseits gerade der Witz dieses ganzen Leibnizschen Konzepts vom beseelten Punkt, der später »Monade« heißt. Deshalb erläutert auch der folgende zweite Teil, inwiefern der gedanklichen und volitiven Aktivität sehr wohl physikalische Kräfte korrespondieren. ²⁸ Daß in Weigels Schema der Himmels-Arktispol b das kontextinvariant fixierte »göttliche Gesetz (lex divina)« markiert und die Winkelgrade der Ekliptik die sündhaften Abweichungen von dieser absoluten Norm des Gerechten symbolisieren, zeigt nach Leibniz die Äußerlichkeit und den Gesetzespositivismus der Weigelschen Ethik. Sein eigenes Schema dagegen verbleibt innerhalb der moralischen Subjektivität eines bestimmten Individuums. Obwohl nämlich sein entsprechender Punkt a abstrakt die allgemeingültige Vorstellung vom höchsten Gut und damit vom höchsten Gebotenen bedeutet, fällt die konkrete Bestimmung dieser Vorstellung stets in die normfindende Innerlichkeit des Subjekts. Grade der Sünde ergeben sich damit aus den

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Anmerkungen des Herausgebers

Stufen einer vorsätzlichen Untreue gegenüber dem, was der Verstand als ethisch geboten ermittelt, nicht aber unmittelbar aus dem Quantum bei der Abweichung von einer äußerlich vorgegebenen Norm. ²⁹ Natürlich stellt auch Weigels »sphaera moralis« die inneren Aktivitäten des Geistes und nicht die äußeren des Leibes dar. Der Zweck seiner Geometrisierung liegt jedoch darin, die (Un-)Richtigkeit der äußeren Handlung aufgrund ihrer (Nicht-)Übereinstimmung mit den inneren Koordinaten zu bemessen. Leibniz dagegen ist mit seiner »sphaera intellectus« bloß daran interessiert, die Erzeugung und Verknüpfung der Vorstellungen sowie die immanente Folgerichtigkeit des Verstandes bei der Beurteilung eines Gegenstandes k im Hinblick auf seinen höchsten Zweck a geometrisch darstellen. ³⁰ Leibniz faßt hier noch einmal sein grundlegendes Interesse bei der Konzeption des ganzen Pentagons und seiner intellektuellen Sphäre zusammen. Es geht ihm um eine vereinfachende Darstellung der sensualen und intellektualen Aktivitäten und ihren korrespondierenden Bewegungen im Leibe. Dazu gehört auch die Statik als diejenige Teildisziplin der Mechanik, die das Gleichgewicht der am ruhenden Körper angreifenden Kräfte betrifft. Bezogen auf den menschlichen Leib ist dies vor allem die Balance zwischen den von außen auf die Intellektualsphäre wirkenden Kräften der introversen Spiritusströmung und den von innen freigesetzten Kräften, die vom Verstand über eine extroverse Spiritusströmung auf die Peripherie des Leibes übertragen werden. Leibniz beginnt nun im folgenden Absatz, diese Bewegung zu erläutern. ³¹ Indem Leibniz die Membranen der äußeren Sinne (später bezieht er auch die Membranen des inneren Sensoriums mit ein) mit Glas vergleicht, kann er die vom äußeren Gegenstand ausgehende Lichtstrahlung, die im Schema durch die Linie f g h i dargestellt ist, zum Modell für die gesamte Dynamik der leibesinternen Transmitterstoffe (spiritus) generalisieren. Schon Hobbes war einer der ersten, der die Grundbegriffe der jungen und aufsteigenden Disziplin namens Optik, nämlich »Rückprall (reflexio)« und »abgelenkter Durchstoß (refractio)«, zu Grundbegriffen der Mechanik verallgemeinert hatte (vgl. De corpore, 24, 25). Ob und wie intensiv Leibniz um 1663 schon Hobbes selbst gelesen hat oder nur durch Weigel mit Hobbes bekannt gemacht worden ist, ist in der Leibnizforschung umstritten. Daß er ge-

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rade durch Weigel »auf Hobbes vorbereitet worden« sei, hat schon Kabitz : Die Philosophie des jungen Leibniz, 11, vermutet. Obwohl »ganze Werke« Weigels sich »wie eine Wiederholung« des Hobbesschen Denkrechnens lesen, erwähnt Weigel »den Namen Hobbes nicht« (Hestermeyer : Paedagogia mathematica, 134). Was immer aber gegen Leibniz’ frühe Lektüre von Hobbes sprechen könnte, muß sich mit dem Brief an Thomasius vom 2./12. September 1663 vereinbaren lassen. Leibniz greift hier zwar den Hobbeschen Positivismus im Naturrecht scharf an, schreibt aber von seiner eigenen »Begierde nachzuforschen (sciscitandi cupiditas)«, ob Hobbes Gegenspieler oder Schüler gefunden habe. Das ausdrückliche Lob der Hobbesschen »subtilitas« dürfte zumindest eine oberflächliche Lektüre des Engländers voraussetzen (A II 1, 22 – 29). Nach Einschätzung der Herausgeber von A VI 2 hat Leibniz die Anmerkung zu Thomasius, die in unmittelbarer Nähe des Pentagon-Schemas auf Hobbes’ De corpore verweist, schon 1663 eingetragen (A VI 1, 60, 34 ; vgl. A VI 2, 542 f.). ³² Mit seinem Hinweis auf die Verteidigungstechniker offenbart Leibniz einen weiteren Grund für den Vergleich des Leibes mit einem Pentagon. Das Fünfeck kann nicht nur die getrennten Eingänge der fünf außenweltbezogenen Sinne symbolisieren, sondern auch illustrieren, daß der zielgerichtete Verstand e, d. h. der Verstand als »residierender« Wille (»in E residet voluntas«), gleichsam von einer doppelten Festung geschützt wird, vom äußeren Bollwerk aus Fleisch und Knochen und vom inneren Bollwerk des Gehirns. Zwar wird mit dieser Metapher vom doppelten Pentagon, das lange Zeit als Vorbild einer vollkommenen Verteidigungsanlage galt und deshalb seit 1941 den architektonischen Grundriß des U.S.-Verteidigungsministeriums prägt, die Abwehrfestigkeit des menschlichen Leibes gegen äußere Kräfte etwas verklärt. Doch immerhin knüpft sie an die alte Symbolik vom herrschaftlichen nous in seiner fünftorigen Stadt an (s. o. Anm. 1) und macht das Pentagon zu einer wahrlich ›logozentrischen‹ Hieroglyphe. Auch im Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum (1664) zeigt Leibniz Sinn fürs Emblematische und greift einen anonymen Traktat über weltliche und geistliche Macht auf. Hiernach gibt es auch im menschlichen Leib zwei höchste Gewalten : Das Herz als das »der Natur bzw. der Zeit nach frühere« Prinzipalglied gleiche dem Fürsten, weil es die lebensnotwendigen Vitalfunktionen und damit »das

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Anmerkungen des Herausgebers

zeitliche Glück« trägt. Der Kopf dagegen als das »der Würde nach« frühere ähnele dem Pontifex, weil in seinem Gefäß das edlere Leben seinen Sitz hat, nämlich das innere »Sinnesvermögen, die Vorstellungskraft und der Verstand«, wodurch das »bessere und höchste Glück des Menschengeschlechts« gefördert werde. Und so befinde sich das Herz »am geschütztesten Ort«, der Kopf aber am »höchsten Ort« des Leibes (A VI 1, 82, 20 – 83, 8). ³³ Zu einer wirklichen sinnlichen Wahrnehmung kommt es also nur, wenn der Strahlungsimpuls, der sich vom Objekt auf das äußere Sensorium überträgt, eine Reflexion und Refraktion im Sinnesorgan und das heißt eben eine spürbare Reizung bewirkt, wie z. B. auf der Netzhaut der Augen (symbolisiert durch die Linie f g h i). Daß Leibniz ausgerechnet die Wahrnehmung fremden Geldes zum Beispiel für ein wahrgenommenes Gut oder Übel macht, ist eine scherzhafte Anspielung auf seinen Lehrer Thomasius. Dieser erläutert den ganzen »Prozeß der moralischen Handlungen« durch das »angenehme bzw. nützliche, aber unanständige Objekt (objectum jucundum aut utilis, sed turpe)« der »pecunia aliena«, das einen heftigen Streit zwischen dem sinnlichen Begehren nach dem fremden Geld und seiner Zurückweisung durch die Vernunft entfacht (Philosophia practica, Tafel XXIIX , abgedruckt in A VI 1, 53, 10 – 55, 3). ³⁴ Leibniz präzisiert sich nun selbst. Gerade das Schema des Pentagons macht deutlich, daß ein Lebewesen ständig den unterschiedlichsten feinen Wirkradien ausgesetzt ist, die von den Objekten seiner Umwelt ausgehen. Diese Impulse werden von dem Schutzmantel des äußeren Pentagons, der Haut und den Membranen der Sensorien, niemals alle völlig reflektiert. Ständig wirken Lichtstrahlen auf die Augen oder Schallwellen auf die Ohren. Deshalb erkennt hier schon der frühe Leibniz das Phänomen der selektiv fokussierten Aufmerksamkeit, und das ist zweifellos ein wichtiger Schritt zu seiner späteren Lehre von den »petites perceptions«, d. h. jenen Wahrnehmungen, die zu schwach sind, um die Bewußtseinsschwelle zu überschreiten. Sie affizieren zwar das äußere Sensorium, gelangen aber nicht zum Apperzeptionspunkt des inneren Sinnes. Auch das wird vom Pentagon schön illustriert. ³⁵ Leibniz zeigt hier seine außerordentlich frühe Auseinandersetzung mit der Literatur zur Optik. Nach den Herausgebern von A VI 2

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hat sich seine angekündigte »Erklärung der Refraktion […] bisher nicht gefunden« (543, 37). Descartes’ Refraktionstheorie kannte Leibniz damals aus Isaac Vossius : De lucis naturae et proprietate, Amsterdam 1662, Kap. 4 (A VI 2, 543, 34 f. ; vgl. ebd. 434, 9). Daß Leibniz auch im Urteil von Thomasius als ein Kenner der Optik galt, könnte ein Motiv dafür gewesen sein, daß dieser ihn später bat, eine Mutmaßung über das Paradox des Anaxagoras vom schwarzen Schnee vorzulegen (vgl. A II 1, 4 f.). ³⁶ Der von Leibniz hier beschriebene Wirkradius vom Objekt, der keine spezifische Empfindungsqualität in einem der fünf äußeren Sensorien hervorriefe, sondern z. B. nur ein Druckgefühl auf der Haut erzeugte, ließe sich im Schema durch eine direkte Verlängerung der Wirklinie f g nach innen symbolisieren. ³⁷ Diesen Fall, die Erzeugung einer spezifischen Sinnesempfindung, will Leibniz mit der vom Objekt ausgehenden und zunächst zwar abgelenkten, dann aber von h nach i gelangenden Linie darstellen. Seine Zeichnung enthält hier aber einen kleinen Schönheitsfehler. Eigentlich müßte dieser Radius, der z. B. einen Lichtstrahl auf die Netzhaut der Augen symbolisiert, exakt durch die Öffnung des Sensoriums gehen, die durch den Berührungspunkt zwischen äußerem Fünfeck und äußerem Kreis dargestellt ist. Leibniz hatte jedoch vermutlich erst nach dem Zeichnen seines Schemas gemerkt, daß die Gerade c d zur Symbolisierung der inneren Verstandeskoordinate dann sehr unglücklich auf einer Linie mit diesem Einfallsradius gelegen hätte. Deshalb hat er wahrscheinlich die kleine Ungenauigkeit in Kauf genommen. ³⁸ Der »Affekt« meint hier, wiegesagt, nicht eine bestimmte Gemütsregung, sondern den Bereich des inneren Sensoriums, dessen physische Reizung solchen Affekten korrespondiert. ³⁹ Die »Atmosphäre« zwischen Sinnes- und Verstandessphäre bildet den Zwischenraum zwischen den äußeren, peripheren Sensorien und dem inneren, zentralen Sinnesorgan. Leibniz versucht mit dem folgenden atomistischen Konzept, die alternative Reaktion auf die Wahrnehmung eines Objekts zu erklären, nämlich erstens das affektive Beherrschtwerden vom Reiz des übermächtigen Gegenstandes und zweitens die beherrschte, überlegte Reaktion des Verstandes. Bei der ersten Reaktion, bei der der vom äußeren Objekt ausgehende und in der körperinneren Spiritusströmung sich fortsetzende Wirkradius den

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Anmerkungen des Herausgebers

inneren Atomen seine starke Bewegung aufprägt, unterscheidet Leibniz wiederum zwei Unterarten. Entweder verhaken und verkanten sich die Korpuskeln der eindringenden Bewegung mit den »Atomen der Atmosphäre«, so daß zwar diese aufgewühlt wird, aber keine gerichtete Bewegung in ihr zustande kommt. Dieser Eindruck der Pressung, der keinen ausgleichenden und befreienden »Aktionsradius« erzeugt, wird dann als unangenehm empfunden. Oder aber die Korpuskeln des eindringenden Radius fügen sich nahtlos in die gegebene Konfiguration der Atome ein, was als angenehm empfunden wird, und erzeugen einen weiteren Wirkradius. Dieser pflanzt sich dann peripher auf die gegenüberliegende Seite fort (nicht jedoch durch die Verstandessphäre hindurch), die nach Leibnizens späteren Erläuterungen die exekutiven Funktionen des Leibes enthält. Es kommt dann also zu einer unwillkürlichen Reaktion des Körpers, d. h. zu einem »Gefühlsausbruch«, auf den der Verstand keinen Einfluß nehmen kann (nächster Satz). Die zweite mögliche Reaktion auf das wahrgenommene Objekt liegt hingegen dann vor, wenn dessen Impuls nicht sonderlich stark und deshalb auch nicht prägend ist, sondern nur die der Wahrnehmung korrespondierende Wirklinie an die innere Sphäre weiterleitet (zweitnächster Satz). Das Konzept des Siebzehnjährigen scheint an dieser Stelle etwas primitiv und wenig überzeugend, weil es die genuin seelische Bedingtheit oder zumindest Mitbedingtheit der affektiven Erregung nicht zu erklären vermag. Können doch zwei verschiedene Individuen auf die nahezu identische intensive Wahrnehmung eines Gegenstandes allein deshalb unterschiedlich reagieren, weil sie bisher unterschiedliche Erfahrungen mit ihm gemacht haben und somit auch unterschiedliche assoziative Bewertungen mit ihm verbinden. Der Versuch, kongruente oder inkongruente Atomverbindungen zur Erklärung physiologischer Prozesse heranzuziehen, geht auf Demokrit selbst zurück. ⁴⁰ Thomasius : Philosophia practica, Tafel XXIIX , Zeile 21 u. 47 ff., kennzeichnet die »Gefühlsausbrüche (affectûs praecipitantiae)« als unwillkürliche Bewegungen, die nicht »in unserer Macht (in nostra potestate)« liegen (A VI 1, 58, 4). ⁴¹ Leibniz geht davon aus, daß allen mentalen Akten wie Begriffen, Urteilen oder Schlüssen minimale mikrophysikalische Wirkradien in dem beseelten Punkt korrespondieren, der in überproportionaler

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Größe als »sphaera intellectus« dargestellt hat. (Diese Bewegungsanfänge nennt er etwas später mit Kepler und Hobbes »conatus«.) Auf diese Weise erklärt er sich mit dem aktiven Mittelpunkt e den »tätigen Verstand (íï™ò ðïéçôéêüò)« der aristotelischen Tradition, mit der Peripherie den »leidenden Verstand (íï™ò ðáèçôéêüò)« (vgl. De anima III 5, 430 a 10 – 25). Mit den von e ausgehenden Radien schließlich, die an die Peripherie der inneren Sphäre geworfen und reflektiert werden, erklärt er sich die physischen Entsprechungen des Hin- und Her-Überlegens oder Durchdenkens im diskursiven Verstand (äéÜíïéá). Trotz dieser prinzpiell mechanistischen Auslegung des Denkens glaubt er natürlich nicht, daß bestimmten Ideen auch ganz bestimmte Punkte in der Verstandessphäre fest zugeordnet sind. Deshalb ist seine Festlegung eines gewissen Denkradius mit den beiden entgegengesetzten Vorstellungen des Nützlichen c und des Schädlichen d selbstverständlich symbolisch. Daß die von der Anschauung i herkommende und dem Verstand bedeutsam werdende Vorstellung k »entweder über d oder über c eintritt«, ist deshalb keine physiologisch zu verstehende Ortsverschiedenheit, sondern symbolisiert nur die gedankliche »Nähe«, also gleichsam den intellektualen Abstandswinkel der Objektvorstellung k von den Vorstellungen des Nützlichen und Schädlichen. In Leibniz’ eigener Zeichnung ist der Fall symbolisiert, daß die Objektvorstellung sehr nahe bei einer gerade gebildeten Idee vom Nützlichen liegt, so daß es auch für die Urteilskraft des dargestellten Subjekts gleichsam ›naheliegt‹, dieses Objekt tatsächlich anzustreben. Leibniz hätte aber ebensogut den im Erklärungstext beschriebenen Fall symbolisieren können, daß die Objektvorstellung k, die in Gedanken mit der Vorstellung a vom höchsten Gut verglichen wird, sehr nahe beim Schädlichen d liegt und infolgedessen vom Verstand »zurückgedrängt« wird. ⁴² Leibniz geht hier nicht näher auf den prinzipiell ebenfalls darstellbaren Fall eines Bewertungskonflikts im Reflektieren ein, bei dem es gewissermaßen zum Kampf zwischen einem sehr weit übergeordneten Gut, womöglich sogar dem höchsten Gut, und einem untergeordneten Gut kommt. Thomasius hatte diese »pugna Sensus […] et Rationis« am Beispiel fremden Geldes verdeutlicht, das unter dem Gesichtspunkt der vordergründigen Nützlichkeit gewiß anzustreben wäre, dessen Diebstahl aber unter dem moralischen Gesichtspunkt zurückzuweisen ist (Philosophia practica, Tafel XXIIX , A VI 1, 55, 2).

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Anmerkungen des Herausgebers

⁴³ Der Wille ist nichts anderes als der intentional auf Objekte sowie auf bestimmte Zweckvorstellungen gerichtete Verstand, der zugleich die Kraft zur Entscheidung zwischen mehreren Vorstellungen hat. Deshalb hatte Leibniz schon in seiner Adnote 15 zu Thomasius, die den Willen (voluntas) als das moralische Prinzip einer spontanen Handlung bestimmt, die Bemerkung gemacht : Der Wille »ist nicht vom Verstand unterschieden (non differt ab intellectu)« (A VI 1, 45, 17 f. u. 34). Entsprechend faßt er auch im zweitletzten Satz des vorliegenden Textes den Willen als die sich selbst »bestimmende Vernunft (ratio determinans)«. ⁴⁴ Leibniz deutet diese Verschiebung des bisherigen höchsten Gutes bei schwachen Charakteren recht modern als eine ›Verdrängung‹ einer Vorstellung durch eine andere. Hier verdrängt jedoch nicht das Gewissen die zensierte Lust, sondern umgekehrt das Lustprinzip eine zu schwache moralische Gegenvorstellung. ⁴⁵ Im Unterschied zum bloßen Übermächtigtwerden durch einen sinnlich bedingten, unwillkürlichen Affekt, der sich außerhalb der Wirksphäre des Verstandes Bahn bricht (s. o. Anm. 39), kommt bei diesem Fall zwar der Intellekt ins Spiel, erweist sich aber als zu schwach, um den mit seiner Vorstellung vom höheren Gut verbundenen Wirkradius gegenüber dem neu einwirkenden Objektradius festzuhalten, so daß er dem bloß Angenehmen nachgibt. Anders als bei den vorherigen Reaktionsweisen werden durch den Einfallsradius von i nach k auch gewisse Atomverbände innerhalb der Verstandessphäre (atomi intellectuales) in Bewegung gesetzt, welche die vom Verstand ausgerichtete Ordnung der Vorstellungen beeinträchtigen. ⁴⁶ Die Ausstrahlung (von spiritus animales) aus der Verstandessphäre erzeugt einen Wirkradius von e aus, der verhindert, daß die sich aufdrängende Vorstellung unmittelbar handlungsproduktiv wird. ⁴⁷ Der erste Folgesatz bei Thomasius lautet : »Warum stehen die Ausbrüche des Affekts, d. h. der ersten Regung, nicht in unserer Macht ? Gewiß deshalb, weil sie der Tätigkeit des Verstandes und des Willens vorhergehen. Und dies ist der Grund dafür, daß ein Gefühlsausbruch in geringerem Maße eine Verfehlung darstellt als die moralische Schwäche (infirmitas), weil dieser die Tätigkeiten des Verstandes und des Willens vorhergehen.« (Philosophia practica, Tafel XXIIX , A VI 1, 58, 4 – 6)

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⁴⁸ Wie in Anm. 39 erläutert, pflanzt sich der über das äußere Sensorium i kommende, nun gewaltsam, aber kongruent in das innere Pentagon (das innere Sensorium des Affektes) eindringende und deshalb als angenehm empfundene Radius des Objekts nicht auf die Verstandessphäre fort. Weil er die Korpuskeln des Affektbereichs diffus aufwühlt, wird sein Impuls vielmehr unmittelbar, d. h. ohne daß der Verstand vermitteln kann, über die Peripherie des inneren Sensoriums auf die Ausführungsorgane l m übertragen, so daß es zu einer unwillkürlichen leiblichen Reaktion kommt. Die Punktierung symbolisiert also das physische Wirksamwerden des Verstandes in freien Handlungen, die Kringel oder Nullen hingegen stehen für eine bloß gedankliche Antizipation. ⁴⁹ Der zweite Folgesatz bei Thomasius lautet : »Wie kann mit dem Bruch der Enthaltsamkeit ein aktuelles Nichtwissen von dem, was jemand tut, verbunden sein, wenn dies doch für seine Moralität von Belang ist ? Beim Gefühlsausbruch nämlich ist die Sache klar, weil dieser der Verstandestätigkeit, wiegesagt, zuvorkommt. Bei der Willensschwäche aber ist davon auszugehen, daß der Verstand eines Menschen, der durch die Heftigkeit des Gefühls verwirrt ist, niedergeworfen wird. So verbleibt er bei der Betrachtung des Gegenstandes, solange dieser den Sinnen angenehm (bzw. unangenehm) ist, und zwischenzeitlich wird die Betrachtung unterbrochen, sobald der Gegenstand von der Vernunft als verwerflich (bzw. ehrenhaft) beurteilt wird. Allerdings kommt es auch vor, daß die Willkür eine solche Fortsetzung bzw. dem Verstand eine Unterbrechung der Betrachtung befiehlt. Ferner pflegt, nach dem Bruch der Enthaltsamkeit, wenn die Lust allmählich erlahmt oder sogar gänzlich zum Erliegen kommt, der Verstand zu seiner alten Einsicht von rechter Vernunft zurückzukehren. Hieraus erklärt sich die Reue über die Tat.« (Philosophia practica, Tafel XXIIX , A VI 1, 59, 1– 8) ⁵⁰ Leibniz beschrieb diese Willensschwäche am Beispiel dessen, der nicht charakterfest genug ist, um seine Vorstellung vom höchsten Gut auch bei verlockend angenehmen, aber mit ihm unvereinbaren Gegenständen aufrecht zu erhalten. Die Ausgangsfrage von Thomasius wird also dahingehend beantwortet, daß der aus Willensschwäche erfolgende Bruch der Enthaltsamkeit von moralisch verwerflichen Genüssen zwar tatsächlich mit einer momentanen Trübung der »deut-

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Anmerkungen des Herausgebers

lichen Einsicht« bis hin gleichsam zum moralischen ›Black Out‹ verbunden sein kann, daß diese dianoetische Ausfallserscheinung aber nichtsdestoweniger durch einen Mangel an ethischer Tugend, insbesondere an Besonnenheit (temperantia), verschuldet ist, während der Gefühlsausbruch gleichsam unschuldig ist. ⁵¹ Der dritte Folgesatz bei Thomasius lautet : »Aus welchem Grund ist bei den menschlichen Tätigkeiten der Wille das erste Bewegende ? Er ist nämlich das erste Bewegende zum einen wegen seiner Erstrangigkeit hinsichtlich der ethischen Ordnung, nämlich bei der Skizzierung der Moralität, zum anderen wegen seiner Erstrangigkeit hinsichtlich der Würde, wegen seines Vorrangs bei der Bewegung : Er bewegt nämlich durch Befehlen, nicht aber durch bloße Erkenntnisvermittlung bzw. durch bloße Vorstellung.« (Philosophia practica, Tafel XXIIX , A VI 1, 59, 9 –11 ; vgl. Thomasius’ begriffliche Unterscheidung zu Beginn der Tabelle, ebd. 53, 12 –15.) ⁵² Die physische Wirklinie, die zu den vom freien Willen verursachten Handlungen führt, setzt sich zusammen aus dem »Ausführungsradius des zustimmenden Verstandes« e l, der in der Intellektualsphäre verbleibt, und aus der »Bewegung des bestimmenden Verstandes« l m, die bereits im Körper durch Vermittlung der spiritus animales erfolgt. Daß Leibniz beide Teilradien durch Kringel oder Nullen markiert hat, die das rein gedankliche Antizipieren der Wirklinie symbolisieren, macht auch graphisch augenfällig, daß sie gegenüber den bloß natürlichen, mechanisch determinierten Wirkradien der spiritus (die lediglich punktiert sind) der freien Selbstreflexion des Willens e entspringen, der das nicht-natürliche, vielmehr einzige »moralische Bewegungsprinzip« darstellt.

text ii (s. 27 – 87)

¹ Der genaue Titel der anonym erschienenen Schrift lautet : Nova Methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae. Ex artis Didacticae Principiis in parte Generali prae-praemissis, Experientaeque Luce : Autore G. G. L. L. (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren, gemäß den Grundsätzen der Didaktik, die im allgemeinen Teil vorangestellt sind, und im Lichte der Erfahrung : Vom Autor G. G. L. L.), Frank-

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furt a. M. 1667. Das Kryptonym steht für : Godofredus Guilielmus Leibnitzius Lipsiensis (aus Leipzig). Der Text der vorliegenden Auswahl folgt dem Abdruck in der Akademie-Ausgabe (A VI 1, 259 – 364). Auf die dort ergänzten Lesarten (A VI 2, 554 – 556) wurde jedoch verzichtet. Einen Überblick über die Entstehung und Zwecksetzung der Reformschrift gibt der biographische Teil der Einleitung, s. o. XXXV f. Die vorliegende Ausgabe enthält die wichtigsten Paragraphen des zweiten Teils der Schrift, der nach dem ersten, allgemein didaktischen Teil die speziell juristischen Inhalte behandelt. Auch die »Widmung« und das systematisch unergiebige »Vorwort an den Leser« (A VI 1, 263 – 266, 3) wurden weggelassen. Weil Leibniz den juristischen Teil streng nach seiner neuen, der Theologie entnommenen Einteilung der Jurisprudenz gegliedert hat (s. o. 27 f., §§ 2 – 4), kann eine schematische Übersicht über den Aufbau dieses Teils verdeutlichen, warum die vorliegende Ausgabe welche Teile ausgewählt hat : 0. Einleitung mit dem Aufbau der Jurisprudenz und den historischen Versuchen, sie in den Rang einer Wissenschaft zu erheben (§§ 1–13) ; 1. Grundzüge der »didaktischen« oder »positiven« Jurisprudenz, die die »Elemente des Rechts« enthält (§§ 13[a]– 27) ; 2. Grundzüge der »historischen« Jurisprudenz, die den Ursprung, die Verfasser, die Veränderungen und Aufhebungen der Gesetze enthält (§§ 28 – 40) ; 3. Grundzüge der »exegetischen« oder »hermeneutischen« Jurisprudenz, die die authentischen Rechtsquellen auslegt (§§ 41– 68) ; 4. Grundzüge der »polemischen« oder »kontroversen« Jurisprudenz, die den »Gipfel« aller Rechtsdisziplinen bildet, indem sie die unentschiedenen Fälle festlegt (§§ 69 – 90). An diese Systematik schließen sich an : a. Der Bildungsplan, der den Weg des »vollkommenen Rechtsgelehrten« von der multilingualen Erziehung über die philosophische Propädeutik bis hin zum Jurastudium selbst umfaßt, das detailliert beschrieben wird gemäß den Stadien »curriculum elementare«, »exegeticum« und »polemicum« (§§ 91– 99) ; b. Ein zusammenfassender »Katalog« der von Leibniz behandelten »Desiderate«, deren Ausarbeitung dazu beitragen soll, die Jurisprudenz zu vervollkommnen (§ 100). In die vorliegende Textausgabe wurden nur die Abschnitte aufge-

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Anmerkungen des Herausgebers

nommen, die den Teilen 0, 1 und 4 gelten. Denn zum einen sind, wie Leibniz selbst schreibt, bloß die didaktische und die polemische Rechtswissenschaft »im eigentlichen Sinne Bestandteile der Jurisprudenz«, während die historische und exegetische bloß »theoretische« Zusatzdisziplinen sind, die der Rechtspraktiker nicht braucht (§ 3). Zum anderen kommt Leibniz im historischen und exegetischen Teil nicht über eine beeindruckend gelehrsame Durchmusterung von Schriften und Autoritäten hinaus. Vom polemischen Teil wurden wiederum auch die §§ 78 – 90 weggelassen, da sie zunächst bloß das Projekt einer »Sammlung von Entscheidungen« oder »Kontroversen« betreffen, dann auch die Repertorien und Pandekten. Die übrig bleibenden Paragraphen, die in die vorliegende Studienausgabe aufgenommen wurden, sind dagegen reichhaltig genug, um das Leibnizsche Verständnis von Recht, Rechtswissenschaft und Naturrecht zu zeigen. Hierbei sind für das Verständnis von Leibniz’ Naturrechtslehre nicht nur seine Ausführungen über dessen drei Stufen (§§ 71– 75) wichtig, sondern auch seine ganze Darstellung der didaktischen Rechtslehre (Elemente des Rechts, §§ 13 a – 27), da sie die Grundbegriffe und Quellen der untersten Stufe des Naturrechts, des »reinen« oder »strengen Rechts«, systematisch entwickelt. ² In seinem 55 v. Chr. entstandenen, drei Bücher umfassenden Dialog Über den Redner (De oratore) handelt Cicero nicht nur vom Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik, sondern auch vom vollkommenen Redner. Ähnlich will Leibniz den vollkommenen Juristen skizzieren. ³ In seiner Politeia entwirft Platon den idealen Staat, der auf dem Wissen der Philosophen beruhen soll. In den Nomoi dagegen, die eine größere Geschichts- und Praxisnähe zeigen, beschreibt Platon nur die »zweitbeste Fahrt«, d. h. den auf Ordnung und Gesetz beruhenden Staat (Leges 875 c– d ; Politicus 300 c ; 297 e). Ähnlich will Leibniz, wenn auch in einer einzigen Schrift, sowohl das Ideal als auch die unter dem idealen Maßstab bleibenden Realisierungsschritte zum perfekten Rechtsgelehrten entwerfen. ⁴ Auf wen genau Leibniz sich mit dieser Vierereinteilung bezieht, ist schwer zu sagen. Unter den Dogmatiken der altprotestantischen Orthodoxie kommt ihr das Lehrbuch sehr nahe, das damals zu den meistgebrauchten überhaupt zählte, nämlich Johann Friedrich König :

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Theologia positiva acroamatica synoptice tractata, Rostock 1664. Dort wird der eigentliche und genaue Teil der Theologie dem »modus tractandi« nach eingeteilt in »theologia exegetica, quae in explicatione textuum sacrorum occupata est«, in »theologia didactica, stricte sic dicta, quae locos theologicos ordine et systematice proponit«, in »theologia polemica, quae controversias theologicas tractat«, dann aber in »theologia homiletica«, »casualis« (die die Zweifelsfälle des Gewissens auflöst) und »regiminis ecclesiastici« (3). ⁵ Die »natürliche Theologie« bezeichnet denjenigen Teil der Gotteslehre, der im Unterschied zur »positiven« oder »historischen« Erkenntnisart allein durch Vernunft, d. h. »rational« erkannt werden kann. Daß Leibniz hier gerade den katalanischen Philosophen, Theologen und Arzt Raimundus Sabundus († 1436) als vorbildlichen Vertreter der natürlichen oder rationalen Theologie hinstellt, obwohl sich der Anspruch auf natürliche Theologie bis auf die frühkirchliche Apologetik zurückführen läßt, dürfte sich folgendermaßen erklären. Erstens enthält schon, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte, der nicht authentische Titel des Raimundschen Hauptwerkes den von Leibniz angesprochenen Terminus : Theologia naturalis seu Liber creaturarum. (In der frühesten Ausgabe, Lyon 1484, hieß das Werk noch Liber creaturarum sive De homine. Zweitens kommt der rationalistische Zug Raimunds, der sogar die christlichen Glaubensgeheimnisse wie Trinität und Inkarnation für beweisbar hält, der philosophischen Theologie Leibnizens sehr entgegen. Raimund war nicht nur ein Schüler des von Leibniz wegen seiner Kombinatorik geschätzten Raimundus Lullus, sondern wirkte auch auf die von Leibniz geschätzten Denker Nikolaus von Kues und Johann Amos Comenius, der das Werk unter dem Titel »Oculus fidei« (1661) bearbeitete. Auch Montaigne übersetzte und verteidigte es später. ⁶ Theophilus Raynaudus : Theologiae naturalis ex lumine naturae investigatio, in : Opera omnia, 19 Bände, Lyon 1665 ff., Bd. 5. Der Jesuit Raynaud oder Raynaldus († 1663) schrieb auch unter dem Pseudonym Petrus a Valle Clausa. ⁷ Grundzüge des Naturrechts nach Grotius geben unten die Anmerkungen 65, 119, 127. ⁸ Grundzüge des Naturrechts bei Hobbes geben unten die Anmerkungen 68, 120, 122, 127.

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Anmerkungen des Herausgebers

⁹ Leibniz’ Argument besagt, daß Hippokrates und Galenus als berühmteste Vertreter der antiken Medizin, aber auch Aristoteles als einer der bedeutensten Vertreter der antiken Philosophie, in einzelnen Punkten sehr wohl durch den historischen Erkenntnisfortschritt widerlegt worden sind, während man beim »positiven« Teil von Theologie und Jurisprudenz, d. h. bei der göttlichen Offenbarung und bei den jeweils den historischen Umständen zweckmäßig angepaßten Rechtsgesetzen, nicht von Irrtum oder Widerlegung sprechen kann. Deshalb ist die Analogie zwischen Theologie und Rechtsgelehrsamkeit nicht auch auf diese Wissenschaften übertragbar. ¹⁰ In der Mathematik, deren exponierter antiker Vertreter auf dem Gebiet der Geometrie Euklid ist, hat die Einteilung der Wissenschaft in einen rationalen und in einen positiven Teil erst recht nichts zu suchen. Denn hier gibt es überhaupt keinen positiven Teil, der auf historischem Zeugnis und damit auf »Autorität« beruht. Wie Leibniz in den Elementen des Naturrechts 1 sagt, kann »die Autorität des Archimedes einen Geometer« nicht »beeindrucken«, da »er selbst für sich alles ausrechnen« kann (s. o. 97). ¹¹ Leibniz’ Anspielung auf Juvenal : Saturae, VI 223, wonach »der Wille anstelle der Vernunft geschieht (sit pro ratione voluntas)«, bezieht sich wohlgemerkt lediglich auf den positiven oder historischen Teil von Theologie und Jurisprudenz. Und selbst hier geht es nicht um Willkürentscheidungen, wie in der Geschichte bei Juvenal, sondern einerseits um den für menschliche Vernunft nicht einsehbaren göttlichen Willen und andererseits um den Willen des Gesetzgebers, der auf einen bestimmten, historisch veranlaßten Bedarf nach Regulierung von Handlungsspielräumen reagiert. Deshalb ist die Stelle keineswegs Ausdruck eines Leibnizschen Voluntarismus im Naturrecht. ¹² Leibniz hatte die folgende Parallele zwischen Theologie und Jurisprudenz schon im § 47 seiner Dissertation über die Kombinatorische Wissenschaft gezogen (A VI 1, 190, 31 – 191, 5). Dort war der Wortlaut fast identisch. ¹³ Die nicht näher begründete Behauptung von Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 146, daß diese berühmt gewordene Analogie Leibnizens »ein für den Staat wie für die Kirche höchst gefährlicher Vergleich« sei, mag nicht ganz falsch sein. Gleichwohl handelt

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es sich um eine sehr angemessene Zusammenfassung eines historisch vorherrschenden, gleichsam rechtlichen Selbstverständnisses der Kirche. Denn Leibniz’ folgende Beispiele sind kaum zu bestreiten. ¹⁴ Leibniz’ Bemerkung zeigt, daß er sich in den Debatten zum Abendmahlsstreit sehr gut auskennt. Schon in seiner frühen Vorlesung zum Hebräerbrief hatte Luther die für den Opfertod Christi zentrale Paulus-Stelle Hebr. 9, 17 (»Denn wo ein Testament vorliegt, muß der Tod des Erblassers nachgewiesen werden.«) kommentiert und auf die Wichtigkeit des Begriffs »Testament« hingewiesen (Weimarer Ausgabe [WA ], hg. v. J. K. F. Knaake et al., Weimar 1883 ff., Bd. 57 III , 211, 16 – 20). Im späteren Sermon von dem neuen Testament macht Luther den Begriff des Testaments zu einem der Kernbegriffe bei der Auslegung des Abendmahls : »Und ist alßo das klein wörtlein ›Testament‹ ein kurtzer begriff aller wunder und gnaden gottis durch Christum erfüllet« (WA Bd. 6, 357, 25 – 27). Zwingli dagegen unterscheidet sich von der Abendmahlslehre der Lutheraner, deren Credo in Melanchthons »Augsburger Bekenntnis« von 1530 zusammengefaßt ist, dadurch, daß er nicht nur Realpräsenz und Wandlung ablehnt, sondern für die Eucharistie auch nur noch ein »Symbol des Testaments« annimmt (De vera et falsa religione Commentarius, in : Corpus Reformatorum, Bd. 90, 800, 9). ¹⁵ Fausto Sozzini oder Socinus (1539 –1604) war der Wortführer einer antitrinitarischen Bewegung, der die in Polen seit Mitte des 16. Jahrhunderts bestehenden trinitätsfeindlichen Tendenzen ab 1579 zusammenfaßte und in einer Sonderkirche (»Ecclesia minor« und »polnische Brüder«) vereinigte, von der sich wiederum religiöse Strömungen nach 1600 auch in Westeuropa ausbreiteten. Seine Anhänger hießen bei den Gegnern »Sozinianer«. Der in Siena geborene Sozzini stammte aus einer angesehenen Juristenfamilie und wurde durch seinen Onkel, Lelio Sozzini, schon früh mit den Ideen der Reformation bekannt. In seinem Hauptwerk De Jesu Christo Servatore leugnet Sozzini die Göttlichkeit Christi und behauptet, daß Jesus bloß durch seine Lehre und moralische Vorbildlichkeit zum Erlöser wurde. Leibniz hat sich 1669 in seiner Defensio Trinitatis kritisch mit der Argumentation des Sozinianers Andreas Wiszowaty (Wissowatius) (1608 –1678) auseinandergesetzt, der mit Boineburg im gegnerischen Briefwechsel stand (A VI 1, 518 – 530).

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Anmerkungen des Herausgebers

¹⁶ Hugo Grotius : Defensio fidei catholicae de satisfactione Christi adversus Faustum Socinum Senensem, Leiden 1617. Grotius war zum einen ein glänzender Jurist, der 1599 in Den Haag als Advokat zugelassen wurde, dem die Ostindische Kompanie im Streit um die Freiheit des holländischen Seehandels die Wahrnehmung ihrer Interessen übertrug und der 1613 geschäftführender Syndikus der Stadt Rotterdam wurde. Zum anderen war er auch engagierter Theologe, der sich der Aufgabe widmete, die christlichen Kirchen wieder zu versöhnen. Sein theologisches Hauptwerk ist der Bewys van den waren godsdienst, Leiden 1622, lateinisch De Veritate religionis Christianae, Leiden 1627. ¹⁷ Matthias Zimmermann : Disputatio de acceptilatione Sociniana, imprimis injuria in meritum et satisfactionem Jesu Christi, o. O., o. J. ¹⁸ Adrian und Peter van Walenburch : De praescriptionibus catholicis, Antwerpen 1666, in : Tractatus de controversiis generales contracti, Köln 1667, Trakt. 7. Beide Brüder, die aus Rotterdam stammten und zunächst in Düsseldorf am Hofe der Herzöge von Pfalz-Neuburg lebten, waren katholische Unions- und Kontroverstheologen. Der jüngere Bruder Peter († 1675) wurde 1658 Weihbischof in Mainz und trat unter Erzbischof Johann Philipp von Schönborn später mit Leibniz in Verbindung, um die Reunion der Kirchen zu betreiben. Leibniz hat sich etwas später im Brief an Simon Löffler, 25. September (5. Oktober) 1669, kritisch über das Werk der Brüder Walenburch geäußert (A I 1, 76, 6 – 20). ¹⁹ Johann Hülsemann : Tractatus de praescriptione, in : Breviarium theologiae, Wittenberg 1640. Hülsemann (1602 –1661), ab 1629 Prof. der Theologie in Wittenberg und ab 1646 in Leipzig, zählt zu den einflußreichsten Vertretern der lutherischen Orthodoxie und den erbittertsten Gegnern der Calvinisten und der zwischen den Konfessionen vermittelnden Ireniker wie Georg Calixt. ²⁰ Die Jurisprudentia theologica gehört zu den nicht herausgegebenen Schriften von Johann Georg Dorsche (1597 –1659). Der lutherisch orthodoxe Dorsche (auch Dorsch), ebenfalls ein entschiedener Gegner von Calixt, war ab 1627 Prof. der Theologie an der Hohen Schule in Straßburg und ab 1653 in Rostock. ²¹ Die um 300 v. Chr. entstandenen Elementa (Óôïé÷åsá) des Euklid von Alexandrien sind die berühmteste antike Darstellung der Elementarmathematik. Sie zeichnen sich aus durch ihr geometrisches

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Verständnis der Mathematik und durch ihren methodisch sehr strengen Aufbau : In »Definitionen (”ñïé)« werden die Grundbegriffe wie Punkt, Linie und Fläche geklärt ; in »Postulaten (ákôÞìáôá)« werden Konstruktions- oder Existenzforderungen für Figuren formuliert ; und in »Grundsätzen (êïéíár hííïéáé)« (seit dem berühmten EuklidKommentar des Proklos auch »Axiome« genannt), werden allgemeine Gleichungsaussagen von nicht speziell geometrischer Natur zusammengefaßt. Darin, daß so alle »Lehrsätze (èåùñÞìáôá)« systematisch begründet und auf die selbstevidenten Axiome zurückgeführt werden, besteht Euklids kategorisch axiomatische Methode. Sie wurde in der Neuzeit zum Ideal eines wissenschaftlichen Philosophierens »more geometrico« oder »more mathematico«. Descartes wollte diese Methode auf alle anderen Wissenschaftszweige ausweiten, und ähnlich suchte Leibnizens Jenaer Lehrer, Erhard Weigel, den »mos geometricus« zur Grundlage der empirischen Wissenschaft und der Philosophie zu machen. Auch Leibniz ist schon sehr früh beeindruckt von diesem Methodenideal, wie der erste Satz seiner Notiz zum Leib-Seele-Pentagon zeigt (s. o. 5). Auch seinem Plan zu einem Elementarbuch des Naturrechts wird er den Titel »Elemente des Naturrechts« geben. Und ebenfalls Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata, Amsterdam 1677, wird sich äußerlich an die Euklidische Methode anlehnen. Vgl. Hans Werner Arndt : Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 1971 ; speziell zur Anwendung auf das Naturrecht bei Hobbes, Grotius, Weigel, Pufendorf, Leibniz und Wolff vgl. Wolfgang Röd : Geometrischer Geist und Naturrecht. ²² Thomas Hobbes : Elementorum Philosophiae sectio tertia, De Cive, Paris 1642 ; Elementorum Philosophiae sectio prima, De Corpore, London 1655. ²³ Johann von Felden : Elementa Juris Universi et in specie publici Justinianaei, Frankfurt, Leipzig 1664. Der Aristoteliker von Felden (vom Felde) († 1668) war zugleich einer der ersten Kommentatoren von Grotius (Annotata in Hugonem Grotium, De Jure Belli ac Pacis, Amsterdam 1652, ²1653). Leibniz kannte von Feldens Elemente des Naturrechts schon in seiner Leipziger Studienzeit (vgl. A VI 1, 67, 13). Als Mathematiker begann von Felden auch damit, die mathematische Beweisführung auf die Philosophie zu übertragen (Tractatus de enun-

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Anmerkungen des Herausgebers

ciationibus et syllogismis cum absolutis tum imprimis modalibus […] ad veram mentem Aristotelis, Helmstedt 1642). Leibniz wurde durch von Felden so beeindruckt, daß er das 1. Kapitel von dessen Elementa um 1678 nicht nur exzerpierte (A VI 4, Teil C, 2906 – 2911), sondern sogar übersetzte (Grua II 600 – 603 = Guhrauer: Leibnitz’ Deutsche Schriften, I 414 – 419). Eine Skizze der Naturrechtslehre von Feldens gibt Schneider : Justitia universalis, 125 –134. ²⁴ Samuel Pufendorf : Elementorum Jurisprudentiae Universalis Libri II, Den Haag 1660 (Jena ²1669). Mit Pufendorf (1632 –1694), dem heute eine so große Bedeutung als Theoretiker des Staats sowie des Natur- und des Völkerrechts beigemessen wird, setzt sich der frühe Leibniz nirgendwo näher auseinander. ²⁵ Bei den folgenden zwei Angaben handelt es sich um Abschnitte aus dem (seit der Neuzeit so genannten) Corpus Juris Civilis, d. h. jener Kodifizierung des römischen Rechts, die im Auftrag des oströmischen Kaisers Justinian I. (Regierungszeit 527 – 565 n. Chr.) von führenden Juristen erarbeitet wurde und sich später durch ihre Glossierung zur überragenden Quelle für die Rezeption des römischen Rechts entwikkelte. Die erste kritische Gesamtausgabe besorgte Dionysius Gothofredus : Corpus juris civilis in 4 partes distinctum, Genf 1583 u. ö. Die Sammlung des bürgerlichen Rechts umfaßt vier Teile : 1. vier Bücher »Institutionen«, die ein auf den klassischen Provinzialjuristen Gajus zurückgehendes amtliches Anfängerlehrbuch darstellen ; 2. fünfzig Bücher »Digesten« (griech.–lat. »Pandekten«), in denen Auszüge aus vierzig Juristen vorwiegend der klassischen Zeit römischer Rechtsgelehrsamkeit (1.– 3. Jh. n. Chr.) gesammelt sind ; 3. zwölf Bücher mit dem »Codex Justinianeus«, einer Sammlung von Gesetzen der Kaiser Hadrian bis Justinian ; 4. die »Novellen«, eine größtenteils in griechischer Sprache vorliegende Sammlung späterer Gesetze. Leibniz bezieht sich mit der ersten Angabe auf den Digesten-Titel De verborum significatione (Dig. 50, 16). ²⁶ Hier bezieht sich Leibniz auf De regulis juris antiqui (Dig. 50, 17). ²⁷ Im folgenden macht Leibniz Vorschläge für eine neue Aufteilung und Methode des elementaren oder didaktischen Teils des Rechts. ²⁸ Der humanistische Philosoph Petrus Ramus oder Pierre de la Ramée (1515 –1572) wirkte im 16. und 17. Jahrhundert durch die auf

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ihn zurückgehende Bewegung einer allgemeinen Wissenschaftsreform, den »Ramismus« (bzw. »Semiramismus«), nachhaltig auf die calvinistische Schulphilosophie. (Zu Leibniz’ Anspielung auf Ramus’ Ermordung in der Bartholomäusnacht s. u., Anm. 59.) Während Leibniz Ramus’ tabellarische Darstellungsform, die übrigens auch Jakob Thomasius in seiner »Philosophia practica« anwandte (s. o. Anm. 1 zum Pentagon), aufgrund ihrer Übersichtlichkeit sehr lobt, kritisiert er zwei Sätze später das Verfahren der dichotomischen Begriffseinteilung oder »Dihairesis« bei Ramus und den Ramisten. Vgl. auch Nelly Bruyère : Leibniz, lecteur de Ramus, in : Leibniz et la Renaissance, hg. v. A. Heinekamp, Studia Leibnitiana, Suppl. 23 (1983), 157 –173. ²⁹ Theodor Zwinger (Hg.) : Theatrum humanae vitae, 29 Teile in 5 Bänden, Basel 1586/87 u. 1604. Der in Basel wirkende Zwinger (1658 – 1724), der zunächst Prof. für Rhetorik, dann für Physik und zuletzt für Medizin war, vertrat einen entschiedenen Cartesianismus. ³⁰ Johann Thomas Freigius : Partitiones juris utriusque, Basel 1581. Freigius (1543 –1583), der Schüler von Ramus war und den Ramismus propagierte (Petri Rami professio regia, Basel 1576), wurde 1576 Rektor der Universität Altdorf bei Nürnberg, die später auch Leibniz besuchte. ³¹ Francis Bacon: The Advancement of Learning, II (The Works, hg. v. J. Spedding et al., 14 Bände, London 1858–1874, Nachdruck Stuttgart – Bad Cannstatt 1963, III 407). ³² Gellius : Noctes Atticae, I 22, 7. Gellius berichtet hier von Ciceros Arbeit am Buch De jure civili in artem redigendo. Zum systematischen, auf Gaius’ Institutionen bezogenen Kontext des Plans vgl. Hans Joachim Mette : Ius civile in artem redactum, Göttingen 1954, insb. 52 f., 63 f. ³³ Daß die Anordnung im überlieferten Korpus des römischen Rechts in »Verwirrung« geraten und die Schriften der an sich höchst systematischen klassischen Rechtsgelehrten »verstümmelt und zerstükkelt« worden seien, so daß das Ganze rational neu zu ordnen sei, erläutert Leibniz im Brief an Chapelain, s. o. 353 – 361. Siehe auch oben die Erklärung in der Einleitung, s. o. LXV f. ³⁴ Leibniz will also die Überschriften der auf Kaiser Justinian I. zurückgehenden Gesetze zum Leitfaden bei seiner Rekonstruktion der ursprünglich systematischen Anordnung des römischen Rechts machen.

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Anmerkungen des Herausgebers

³⁵ Tribonianus war unter Justinian I. hoher Beamter (»Magister officiorum« und »Quaestor sacri palatii«), arbeitete den Codex Justinianeus aus und verfaßte zwischen 528 und 534, gemeinsam mit Dorotheus und Theophilus, die Institutiones sowie den Codex repetitae praelationis. ³⁶ Weil diese Dreiteilung auf Gajus zurückgeht, wurde sie mitsamt ihren Untergliederungen auch das »Gajus-System« genannt. Ihm entsprechen das Personen-, Sachen- und Prozeßrecht. Die »Rechtsgeschäfte« (so die engere Bedeutung von »actiones«) schließen auch die Klagen mit ein. Für einen Überblick vgl. Detlef Liebs : Römisches Recht. Ein Studienbuch, Vierte, wiederum verbesserte Aufl., Göttingen 1993, 67 f. ³⁷ Leibniz definiert hier eine wichtige terminologische Unterscheidung des Zivilrechts. Das »Recht an einer Sache (jus in re)« impliziert das vollständige Eigentumsrecht an der Sache, das von keiner anderen Person auf der Welt abhängig ist. Das »Recht auf eine Sache (jus ad rem)« dagegen bedeutet einen bloß unvollständigen oder anfänglichen Anspruch auf eine besondere Sache, weil der Anspruch nur gegenüber einer bestimmten anderen Person besteht, die sich durch einen Vertrag oder eine Verbindlichkeit verpflichtet hat. ³⁸ Tribonian war also in seiner Methode inkonsequent. Zu Leibniz’ eigener Einteilung der Rechtsobjekte s. u., § 16. ³⁹ Leibniz hat hier einen Blick ausschließlich für die kleinen epigonalen Schreiber des Mittelalters. Sofern diese Theologen waren, verfaßten sie nach Leibniz’ abwertendem Urteil nochmals Kommentare zu den großen Autoritäten (wie Thomas von Aquin) oder zu den ohnehin nicht originellen »Sentenzensammlungen«, d. h. den Kompilationen aus biblischen Quellen und Lehrmeinungen von Kirchenvätern bzw. führenden Scholastikern ; eine der berühmtesten Zusammenstellungen gab Petrus Lombardus : Libri quattuor sententiarum, entstanden zwischen 1155 und 1158. Sofern sie Philosophen waren, kommentierten sie nach Leibniz entweder einzelne Autoritäten (wie Aristoteles) oder glossierten sogar die »kleinen Summen«, die – im Unterschied zu den großen »Summae«, die einen Überblick über das Ganze des Wissens zu geben beanspruchten – nur Spezialgebiete abhandelten, wie etwa den Traktat von Petrus Hispanus : Summulae logicales, entstanden ca. zwischen 1230 und 1235. Eine ähnliche Beschränkung auf die Wie-

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dergabe und Wiederkäuung von Autoritäten sieht Leibniz auch bei den Rechtsgelehrten des Mittelalters. Zu seiner ungünstigen Bewertung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie vgl. den Brief an Thomasius vom 20./30. April 1669 (A II 1, 21, 18 – 28). ⁴⁰ Aegidius Mommer (Mummerius) : Epistola ad Callimachum Hessum Helii Eobani filium de ratione legendi discendique jura, in : G. J. Vossii, Lipsii, Vulteji, Mommeri, Acontii, Crocii, Heurnii, et Walaei de studiorum ratione opuscula, Utrecht 1651 u. 1658. ⁴¹ Der von Leibniz verwendete Begriff »locus communis«, der dem griechischen êïéí’ò ôüðïò (koinos topos) entspricht, bezeichnet in der antiken Dialektik ein situativ angemessenes Argumentationsschema, das eine kunstgerechte Untersuchung über Aussagen erlaubt, die durch erste Gründe weder bewiesen noch widerlegt werden können. Die Disziplin, die sich mit diesen konsensfähigen »Gemeinplätzen« oder »Topoi« beschäftigt, ist die von Aristoteles begründete »Topik«. Leibniz skizziert seine eigene Auffassung vom Zusammenhang der Topik mit der Mnemonik und Analytik, von der Topik als »Findungskunst (ars inventiva)« sowie vom Topos als »transzendenter Relation« im ersten Teil der Nova Methodus, §§ 22 – 25 (A VI 1, 277, 5 – 280, 2). ⁴² Justus Meier : Collegium Argentoratense totius jurisprudentiae absolutum systema exhibens (mit Anmerkungen v. J. O. Tabor), 3 Bände, Straßburg 1657 (¹1616). Meier (1566 –1622), Prof. für Zivilrecht in Straßburg, Schüler von Gothofred, breitet in diesem Werk ein umfassendes System des Zivilrechts aus. ⁴³ Antonius Matthaeus : Collegia juris sex, Groningen 1638, Franeker ²1647. Es handelt sich um eine von den Söhnen posthum herausgegebene Sammlung von 144 Disputationen, die Matthaeus größtenteils schon publiziert hatte. Leibniz hat in seinem Handexemplar der 2. Auflage einige Randbemerkungen vorgenommen (teilweise abgedruckt in A VI 2, 20 f.). ⁴⁴ Leibniz legt mit Grund großen Wert auf die Unterscheidung zwischen einer Tatsachenfrage (quaestio facti) und einer Rechtsfrage (quaestio juris), v. a. in den Elementen des Naurrechts 4, s. o. 221 f.). Eine Tatsachenfrage kann rein empirisch deskriptiv beantwortet werden, z. B. : »In wessen Besitz ist die Sache y ?«. Eine Rechtsfrage dagegen hat es mit normativen Kriterien zu tun und kann nur durch eine Deduktion oder Prüfung der Legalität (bzw. Legitimität) beantwor-

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tet werden, z. B. : »Ist die von Person x in Besitz genommene Sache y auch ihr Eigentum ?« Entsprechend sind auch Tatsachenbegriffe von Rechtsbegriffen zu unterscheiden. ⁴⁵ Man sieht, wie Leibniz die Euklidische Methode, die bei den Definitionen der Grundbegriffe beginnt, für das Recht fruchtbar machen will, indem er bei den höchsten Oberbegriffen ansetzt und diese dann nach und nach auf die weniger allgemeinen Unterbegriffe hin spezifiziert. ⁴⁶ Jean de Coras : De juris arte libellus, Lyon 1566, Köln 1582. ⁴⁷ Matthias Stephani : Commentarius in Novellas Constitutiones Justiniani Imperatoris. […] Accessit Tractatio de arte juris ejusque principiis, Greifswald 1630. ⁴⁸ Hugues Donneau (Donellus) : Commentariorum Juris civilis libri XXVIII , in quibus Jus civile universum explicatur, 3 Bände, Frankfurt 1595. ⁴⁹ Franz Julius Chopius : Philosophia juris vera ad duo haec de potestate ac obligatione, ut summa ac prima, quae definire intendit omnis jurisprudentia, capita universum hujus systema referens, Leipzig 1650. ⁵⁰ Joachim Hopper : Seduardus, sive De vera jurisprudentia libri XII , hg. v. H. Conring, Braunschweig 1656 (¹1590). Es handelt sich um Dialoge, die der Rechtsgelehrte Hopper (1523 –1576) nach dem Namen seines ältesten Sohnes betitelte. ⁵¹ Martin Antonius Del Rio : De principiis juris libri duo, Lyon 1589. ⁵² Ottavio Pisani : Le Leggi per le quali si fa vera et presta giustizia senza spese, Antwerpen 1618. Die lateinische Übersetzung, die ebenso wie die deutsche von Franciscus Mercurius van Helmont stammt, trägt den Titel : Lycurgus Italicus. Leges per et juxta quas fit et administratur vera, promta et expedita Iustitia sine expensis et molestiis litigantium […] Italice collectae per Octavium Pisani, Sulzbach 1666. Zu diesem Werk hat Leibniz zwischen 1668 und 1670 Auszüge mit kritischen Bemerkungen gemacht, die in A VI 2, 113 –121 abgedruckt sind. ⁵³ Zu von Felden s. o. Anm. 23. ⁵⁴ Zu Pufendorf s. o. Anm. 24. ⁵⁵ Richard Zouchaeus (Zucchaeus) : Juris et judicii fecialis, sive juris inter gentes, et quaestionum de eodem, explicatio, Oxford 1650. ⁵⁶ Für die Grundzüge des Naturrechts von Grotius s. u. Anm. 119.

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⁵⁷ Johannes Althusius : Dicaeologicae libri tres, totum et universum jus, quo utimur, methodicè complectentes […], Herborn 1617 u. 1618. Das Handexemplar dieses Werkes, in das Leibniz teilweise umfangreiche Bemerkungen eingetragen hat, ist verschollen (A VI 2, 21 f.). Der calvinistische Politik- und Rechtstheoretiker Althusius (1557 –1638) folgte der dichotomischen Einteilung der Ramisten und verstand das positive Recht (jus civile, jus proprium) weitgehend als spezifizierende Anpassung des Naturrechts (jus commune, lex naturae) an die jeweilige Gesellschaft. ⁵⁸ Hermann Vultejus : Jurisprudentiae Romanae a Justiniano compositae libri II, Marburg 1590 u. ö. Vultejus (Vulte) (1565 – 1634), ab 1581 Prof. der Rechtswissenschaft in Marburg, zählt zu den großen Systematikern des Rechts. ⁵⁹ Schon mit den vorangehenden Paragraphen hat Leibniz bewiesen, daß es ihm keineswegs an reformerischem Selbstbewußtsein gebricht. In der »Vorrede an den Leser« bringt er seinen kühnen Erneuerungsanspruch noch deutlicher zum Vorschein, indem er sich in eine Reihe mit großen neuzeitlichen Reformern stellt : »Doch es gibt noch heutzutage einige, die inmitten einer so großen Aufklärung der Welt im Finstern tappen und trotz der entdeckten Früchte lieber Eicheln fressen wollen. Ihr Haß droht allen, die Reformen in Gang setzen. Und schon damals konnte den Lorenzo Valla, weil er Logik und Ethik erneuert hatte, die Protektion des Königs kaum vor den Verrissen der Haarspalter schützen, wie er selbst in seiner Verteidigungsschrift an den Oberhirten berichtet. Petrus Ramus, den bestallten königlichen Professor, der den Aristoteles lieber kritisch behandeln als ihm blind folgen wollte, züchtigte der Haß aller pädagogischen Zuchtmeister in ganz Frankreich und Deutschland, bis er anläßlich jener Pariser Hochzeit [d. h. der Bartholomäusnacht] den Manen des Aristoteles geopfert wurde. Wer kennt nicht die Geschicke des Galilei, des Th. Campanella ? Dem einen drohten die Neider mit dem Exil, den anderen zwangen sie zu langer Kerkerhaft. Nikodemus Frischlin litt Verfolgung seitens seiner Kollegen, bis daß er starb ; und dennoch streitet man sich nur über grammatische Probleme. Nichtsdestoweniger zog sich Kaspar Schoppe mit dem neuen Regelwerk seiner Grammatischen Philosophie, das von ihm bewundernswert zu einem Kompendium des Lernens zusammengefaßt wurde, den Haß aller Erzieher in ganz Italien

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zu. Ganz zu schweigen von Rene Descartes als Erneuerer der Philosophie und von William Harvey als Erneuerer der Medizin, die beide weder dem Neid der Standesgenossen noch den Haßausbrüchen des Volkes ausweichen konnten, bis die Wahrheit ans Licht kam und oft noch im Herzen der Intriganten selbst ihren Triumph fand. Wir fügen diesen großen Namen nichts hinzu, wenn wir nur die Grundgedanken, nicht auch die Funde der bedeutenden Männer vortragen, unter denen keiner ist, der nicht eine bessere Lehrmethode ersehnt hätte als diejenige, die so mancher bei den genialen Autoren ihrer Bücher erfahren mußte« (A VI 1, 264, 29 – 265, 13) ⁶⁰ In den folgenden Paragraphen umreißt Leibniz die höchsten Prinzipien des »strengen« oder »reinen Rechts«, das die unterste Naturrechtsstufe gegenüber Billigkeit und Pietät ausmacht. Es ergibt sich systematisch aus einer exakten »Definition der Begriffe«, wie Leibniz in § 73 erläutert. ⁶¹ Während in der Moral die innere Gesinnung einer Person das Subjekt ist, dem die Prädikate »gut« oder »böse« zugesprochen werden, ist beim Recht die äußere Handlung das unmittelbare Subjekt, dem die Prädikate »gerecht« oder »ungerecht« zugeschrieben werden. Dem widerspricht nicht, daß im Recht z. B. für die Ermittlung des Tatbestandes und für das Strafmaß auch auf die Motivation rekurriert werden muß. Auch wird Leibniz in § 14 gerade die Gerechtigkeit der Handlung als »moralitas« bezeichnen. ⁶² Diese Behauptung ist natürlich nur deshalb vertretbar, weil Leibniz Gott und seine ausgleichende Gerechtigkeit in das Recht mit einbezieht. Die Erläuterung gibt er am Ende von § 75. ⁶³ Die hier genannten drei Stufen antizipieren in etwa schon die drei Stufen des Naturrechts, die Leibniz in den §§ 73 – 75 skizzieren wird, allerdings in einer auf die Sphäre des Menschen beschränkten Zuspitzung. Während nämlich nach § 13[a] die unterste Stufe, die »bürgerliche Jurisprudenz«, auf den »Staat« eingeschränkt ist, läßt Leibniz in § 73 an der untersten Naturrechtsstufe, dem »strengen Recht«, auch die Tiere der Analogie nach teilhaben. Die Rangordnung der drei Stufen von unten nach oben, die nur »im Streitfalle« umgedreht werden darf, erläutert die Einleitung (s. o. LXVIII f.). ⁶⁴ In dieser letzten Zuordnung scheint Leibniz seine Auffassung später etwas präzisiert zu haben. Wie er nämlich im Brief an Conring

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(s. u. 325) behaupten wird, betrifft gerade die recht verstandene und an der Naturrechtsstufe der Billigkeit orientierte Politik den Nutzen »im Sinne des Gemeinwohls, während das strenge Recht eigentlich nur das Privatwohl betrifft. Weitere Belege für die spätere Auffassung finden sich in der Einleitung (s. o. LXXVII f.). ⁶⁵ Der im folgenden erläuterte Gedanke der »moralischen Qualität« geht zurück auf Hugo Grotius : De jure belli ac pacis, I 1, IV u. IX f. Grotius unterscheidet jedoch, näher betrachtet, drei moralische Qualitäten, die den drei Modalitäten des Nicht-Kontingenten entsprechen : 1. das strenge Recht als moralische »Wirklichkeit (actus)«, 2. die der Billigkeit entsprechene »Geeignetheit« als moralische »Möglichkeit (potentia)«, und 3. die »Verpflichtung« als moralische »Notwendigkeit (necessitas)«. Leibniz dagegen läßt Grotius’ erste moralische Qualität weg und ordnet dem Recht überhaupt die »Möglichkeit« zu. Grotius’ Gedanke der moralischen Qualitäten, der sich auf Francisco Suarez : Tractatus de legibus ac Deo legislatore, Coimbra 1612, (I 2, 5 u. I 14, 1 u. 4), zurückverfolgen läßt, wurde von Erhard Weigel und Samuel Pufendorf übernommen und zu einer Lehre von den »moralischen Wesenheiten (entia moralia)« ausgeweitet, von denen die »moralischen Qualitäten (qualitates morales)« nur eine Gruppe bilden. Vgl. Wolfgang Röd : Erhard Weigels Lehre von den entia moralia, in : Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), 58 – 84 ; ders. : Erhard Weigels Metaphysik der Gesellschaft und des Staates, in : Studia Leibnitiana 3 (1971), 5 – 28. ⁶⁶ Der Begriff »jus« wurde hier allgemein mit »Berechtigung« übersetzt, da es hier um den Aspekt der Erlaubnis geht, der sich auch auf allen drei Stufen des Naturrechts findet. »Potentia« wurde mit »Möglichkeit« und nicht mit »Macht« übersetzt, da das Recht als Erlaubnis zu bestimmten Handlungen nicht auf jeder Stufe stets mit der tatsächlichen, von der staatlichen Befugnis zu zwingen getragenen Macht verbunden ist, diese Erlaubnis auch zu realisieren. ⁶⁷ Die folgenden Paragraphen über Träger, Gegenstände und Ursachen von Berechtigung und Verpflichtung haben den Charakter einer extrem gedrängten Skizze der obersten Einteilungsgründe des Rechts. Wie der letzte Satz von § 15 zeigt, handelt es sich eher um einen Plan für die neue Einteilung des Rechts. Leibniz will hier lediglich eine Musterprobe seiner neuen Methode geben, mit der er die Schwächen

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Anmerkungen des Herausgebers

der bisherigen Ordnungsprinzipien beheben zu können glaubt. Wenig später hat er das Thema in den Vorarbeiten zu den Elementa juris civilis differenzierter behandelt (A VI 2, 36 – 49). ⁶⁸ Die Formel zeigt, daß Leibniz entscheidende Gedanken aus dem Naturrecht von Hobbes entlehnt, zugleich aber selbständig umbildet. Bei Hobbes haben die Menschen im Naturzustand ein »Recht auf alles (jus in omnia)«, das sie jedoch im Staat abtreten, damit der Krieg eines jeden gegen jeden ersetzt wird durch den Frieden eines durch die höchste Macht garantierten Koexistenzmechanismus. Daß Leibniz das Gott zugeschriebene »höchste Recht auf alles« nicht an dessen Allmacht allein bindet, sondern zugleich an seine Allwissenheit, zeigt der fünfte Satz von § 75. ⁶⁹ Leibniz’ Einteilungen können hier nicht alle kommentiert bzw. plausibilisiert werden. Erklärungsbedürftig scheint allerdings diese scheinbare Einschränkung der Freiheit auf das Verfügendürfen über den eigenen Körper. Wird die Freiheit doch in anderen zeitgenössischen Klassifikationen der Rechte explizit auch auf die ungehinderte Verfügung über die eigene Seele sowie über die eigenen Sachen ausgedehnt. (Vgl. z. B. Althusius : Dicaeologica, Buch I, Kap. 10, n. 1–10.) Was aber für Leibniz’ engen juristischen Freiheitsbegriff spricht, ist die Tatsache, daß ich selbst bei einem Recht auf seelische Unversehrtheit strenggenommen nicht über meine Seele verfügen kann, und daß ein Recht auf Sachen außerhalb meines Körpers nach der Leibnizschen Einteilung der Rechtsgegenstände bereits unter den Titel des »Besitzes« fällt. ⁷⁰ Mit diesem Paragraphen beginnt Leibniz seine äußerst kurze und schematische Deduktion der »höchsten Quellen des Rechts«, die er seiner Bilanz in § 20 nach »aus den einleuchtendsten Prinzipien des reinen Rechts zufriedenstellend eingeteilt zu haben« glaubt. ⁷¹ Daß Leibniz die Natur nicht auch als Ursache einer rechtlichen »Gewalt (potestas)«, d. h. eines Rechtes über andere Personen bestimmt, stellt eine wichtige Einschränkung im Geist der frühen Aufklärung dar. Hiernach gibt es keine Knechtschaft von Natur aus. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer Unterwerfungshandlung (vgl. A VI 1, 303, 21– 23). ⁷² Im Unterschied zu Hobbes nimmt Leibniz mit der aristotelischen Tradition gewisse natürliche Gemeinschaften an, die auch im Naturzustand, d. h. außerhalb des Staates bzw. vor jedem Staat, gege-

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ben sind. Wie Leibniz in Punkt (5.) von § 19 erläutert, wird durch eine Gewalttat im Naturzustand nur scheinbar »jegliches Recht wechselseitig aufgehoben«. In Wahrheit räumt z. B. gerade ein Gewalttäter, der Leib und Leben eines anderen ohne Not verletzt, diesem das Recht ein, sein unbedingtes und von Natur gegebenes Recht auf Freiheit zu verteidigen und ihn zu bestrafen. Dieses Recht auf Bestrafung, das im Naturzustand eine Art von Selbstjustiz ist, im bürgerlichen Zustand allerdings dem Monopol des Staates übertragen wird, zählt Leibniz in einer besonderen Aneignung der Gedanken von Grotius zum »Kriegsrecht« (s. o. § 73). ⁷³ In der von Leibniz verwendeten lateinischen Formel der »fontes naturae« hat der Begriff der »Natur« selbstverständlich nicht die enge terminologische Bedeutung, wie zu Anfang des Paragraphen festgelegt. In der Rede von »Quellen der Natur« bildet »Natur« vielmehr keinen Gegensatz zu »Handlung (actio)«, sondern hat die weite Bedeutung eines Inbegriffs sachlicher und damit rational einsehbarer Faktoren. ⁷⁴ Die Stelle zeigt, daß Leibniz bei der Frage nach dem Legitimitätsgrund des Staates, wenn auch nicht bei der Staatsauffassung selbst, dem von ihm bewunderten Vorbild Hobbes folgt. Vgl. De Cive, Kap. 5. ⁷⁵ Zur Erläuterung dieser rechtsmetaphysischen Voraussetzung vgl. die Anmerkungen zu Text I, insbesondere Anm. 14, viertes Argument. ⁷⁶ Gemeint ist wohl folgendes : Würden die der Bedeutung nach »hervorragenderen Streitpunkte« im Recht, die nach den §§ 2 – 3 zum »polemischen« (die »unentschiedenen Fälle« festlegenden) Teil gehören, von offizieller Seite entschieden, so könnten diese zu einem Bestandteil des »didaktischen« oder positiv lehrbaren Bereichs des Rechts werden (der zum »sicheren Recht« gehört). Zugleich könnten sie zur Neuordnung des Corpus Juris Civilis beitragen, die Leibniz schon hier vorschwebt und die er dann in Mainz auch in Angriff nehmen wird. ⁷⁷ Francis Bacon : Sermones fideles, ethici, politici, oeconomici : sive interiora rerum. Accedit Faber fortunae, Leiden 1641. ⁷⁸ Ders. : De dignitate et augmentis scientiarum libri IX , London 1623 u. ö. ⁷⁹ Johann Otto Tabor: Jurisprudentiae Partitiones elementariae, Straßburg 1641.

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Anmerkungen des Herausgebers

⁸⁰ Johann Rebhan : Hodegeta juris viam scientiae legitimae rectam cartis brevibus edocens, Straßburg 1656. Rebhan (1604 –1689), seit 1637 Prof. für römisches Recht und Lehnsrecht in Straßburg, legt hier eine sehr didaktisch gehaltene Dogmatik vor, die den Institutionen folgt. ⁸¹ Die Regeln oder Vorschriften des Rechts, die den zweiten Teil der skizzierten Elemente des Rechts darstellen und von Leibniz im folgenden erörtert werden, entsprechen innerhalb des an Euklid orientierten »mos geometricus« ungefähr den Postulaten bzw. den Axiomen. ⁸² Wie der letzte Satz von § 17 erläutert hatte, ist der Legitimitätsgrund so gut wie aller Übereinkünfte, wie Verträge, letztlich auf den Gesellschaftsvertrag zurückführen, damit aber auf das vom Staat unabhängige Naturrecht. ⁸³ Wie schon in den vorangehenden Paragraphen verwendet Leibniz auch hier und im folgenden den Begriff »titulus« nicht im Sinne des juristischen Fachbegriffs (d. h. des Rechtstitels oder gesetzlichen Grundes für einen Rechtserwerb), sondern unterminologisch für einen Abschnitt oder ein Kapitel mit eigener Überschrift. ⁸⁴ »Brocardica juris« heißen allgemeine Rechtsregeln aus der Glossatorenzeit. Eine wichtige Sammlung erschien unter gleichnamigem Titel 1508 in Paris. Die Herkunft des Wortes ist umstritten ; am wahrscheinlichsten ist die Ableitung von »protarchica«, d. h. »erste Prinzipien«. ⁸⁵ Leibniz setzt hier wiederum den ursprünglichen Gesellschaftsvertrag voraus, den er hier sogar, zumindest rhetorisch, in einem historischen Sinne versteht (s. o. Anm. 72) : Zum Inhalt der staatsgründenden Übereinkunft gehört die Loyalität gegenüber dem Staat und seinen Amtsträgern. ⁸⁶ Eine allgemeine Regel hat die Form : »Für alle x (Subjekt) gilt y (Prädikat).« Ihre Allgemeingültigkeit wäre verloren, wenn für irgendein Subjekt das gegenteilige Prädikat gelten würde. ⁸⁷ Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum, XII 5 (A VI 89, 14 – 90, 4). ⁸⁸ Francisco Sánchez de las Brozas : Verae brevesque Grammatices Latinae Institutiones, Lyon 1562 ; ders : Grammatica Graeca, Antwerpen 1581. ⁸⁹ Caspar Schoppe : Grammatica philosophica, Amsterdam 1659. Schoppe oder Scioppius (1576 –1649), der 1598 katholisch wurde, stellte sich mit kirchenpolitischen Schriften in den Dienst der Kurie.

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⁹⁰ Johann Adam Scherzer : Vademecum sive manuale philosophicum, Leipzig 1658. Scherzer (1628 –1683) war als Prof. für Philosophie (und ab 1658 für Hebräisch) in Leipzig einer der wichtigsten Lehrer von Leibniz, der ihn auch »Praeceptor meus« nennt (De principio individui, A VI 1, 15, 1). Ab 1667 wechselte Scherzer, der viele Streitschriften gegen Katholiken, Calvinisten und Sozinianer schrieb, an die Theologische Fakultät. ⁹¹ Horaz : De arte poetica, v. 5. ⁹² Ein Werk oder auch nur ein Kapitel bei Thomasius, das den Regeln in der Philosophie gewidmet wäre, ist nicht bekannt. Vermutlich erhoffte Leibniz die Behandlung des Themas von Thomasius’ Arbeit an den Erotemata logica pro incipientibus. Accessit pro adultis processus disputandi, Leipzig 1670. Über Thomasius als Lehrer von Leibniz informiert die Einleitung (s. o. XXV ). ⁹³ Augustinus Barbosa : Principia et loci communes, sive regulae non tam decisionum quam argumentorum, Utrecht 1651 ; sowie : Thesaurus locorum communium jurisprudentiae ex Axiomatibus Augustini Barbosae, et Analectis Joh. Ottonis Tabor concinnatus, Straßburg 1652 u. ö. ⁹⁴ Johann Bernardus Diaz : Regulae utriusque juris cum applicatione et limitatione, Lyon 1564, Venedig 1663. ⁹⁵ Zum »ersten Allgemeinen (ðñ§ôïí êáèüëïõ)« nach Aristoteles vgl. Analytica posteriora, I 4 – 5, 73 b 25 – 74 b 4, und II 17, 99 a 33 – 35. ⁹⁶ Gemeint sind wohl die Bedingungen der Konvertibilität, Dissertatio de Arte Combinatoria, Problem II , Kap. 29 – 32 (A VI 1, 186, 3 – 187, 19). ⁹⁷ Es folgt eine Anwendung auf das Problem der Folterung, die für die drei Allgemeinheitsgrade von Vorschriften unerheblich ist und deshalb hier ausgelassen wird. Sie ist zudem vom späteren Leibniz als die undifferenzierte Ansicht eines jungen Mannes eingestuft worden (vgl. A VI 1, 311, 34 – 312, 24). ⁹⁸ Johann von Felden : Annotata in Hugonem Grotium, De Jure Belli ac Pacis, Amsterdam 1652, ²1653 ; Elementa Juris Universi et in specie publici Justiniaei, Frankfurt, Leipzig 1664. Siehe auch oben, Anm. 23. ⁹⁹ Jacobus Menochius : De praesumptionibus, conjecturis, signis et indiciis, 2 Teile, Venedig 1587 –1590 u. ö. ¹⁰⁰ Giuseppe Mascardi : Conclusiones probationum omnium, 3 Bände, Venedig 1584 –1588 ; 4 Bände, Frankfurt 1661.

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Anmerkungen des Herausgebers

¹⁰¹ Matthaeus Wesenbeck : Paratitla in Pandectarum libros, Basel 1565, erweit. Ausg. Basel 1568. ¹⁰² Johann Oldendorp : Actionum forensium progymnasmata in VII classes distincta, accessit tabula actionum quotidianarum secundum ordinem alphabeticum, Köln 1543 u. ö. ¹⁰³ Arnold van Haersolte : De actionibus, Antwerpen 1583. ¹⁰⁴ Zum Begriff »Topik« s. o. Anm. 41. ¹⁰⁵ Zwischen den Paragraphen 27 und 69 liegen Leibniz’ Ausführungen zum historischen und zum exegetischen Teil der Jurisprudenz, die in unserer Ausgabe weggelassen sind. ¹⁰⁶ Diese Behauptung, die Leibniz auch im Brief an Conring (s. o. 323) vertritt, propagiert nicht etwa ein rechtspositivistisches Verständnis von der normativen Kraft des Faktischen. Wie die Kritik an der Justinianischen Methode in § 10 zeigt, will Leibniz vielmehr die »quaestio juris« streng von der »quaestio facti« geschieden wissen (s. o. Anm. 44). Daß das positive »mehr eine Tatsachenfrage« sei, besagt lediglich, daß man solange, wie man vom geltenden Recht her argumentiert, keinen Rekurs auf letzte Kriterien seiner Legitimität braucht ; denn das positive Recht stellt selbst schon eine Art System von normativen Tatsachen dar. ¹⁰⁷ Leibniz setzt hier erneut mit Hobbes den Gesellschaftsvertrag als Legitimierungsmodell für den Staat voraus. ¹⁰⁸ Als »gemeines Recht (jus commune)« wird das nach der Rezeption in der Neuzeit fortgebildete und den deutschen Verhältnissen angepaßte römische und kanonische Recht genannt. ¹⁰⁹ Die »Gerade« ist ein Begriff aus dem mittelalterlichen deutschen Erbschaftsrecht. Sie bezeichnet den Familienhausrat, der auf dem Wege einer Sondererbfolge an die nächste weibliche Verwandte fällt, meint also soviel wie weibliches Gerät und Kleidung als Erbe. Das Wort geht auf die in der Lex Thuringarum (um 800) zu findende »rhedo« zurück. ¹¹⁰ Nomothetik heißt die Wissenschaft von der Gesetzgebung (s. u. Anm. 139 f.). ¹¹¹ Leibniz bezieht sich hier ganz allgemein auf die von uns ausgelassenen Paragraphen zur historischen und zur exegetischen Jurisprudenz. ¹¹² Wie das Folgende zeigt, legt Leibniz hier – im Blick auf seine

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drei Stufen des Naturrechts – einen weiten Begriff des Naturrechts zugrunde, der sowohl das strenge Recht als auch den Inbegriff der Tugend umfaßt. Im übrigen beschränkt er sich auf das »Prinzip« oder »Fundament« des jeweiligen Theoretikers. ¹¹³ Es ist bezeichnend für Leibniz’ humanistisch eingeschränkte Kenntnis und Wertung der mittelalterlichen Philosophie (s. o. Anm. 39), daß er keinen mittelalterlichen Naturrechtsdenker erwähnt. Auch das Fehlen des in § 6 erwähnten Pufendorf ist auffällig. ¹¹⁴ Leibniz trifft hier nicht gerade ins Zentrum von Platons Naturrechtsidee. Denn dieser macht die Idee der Gerechtigkeit in der Politeia ganz an der von Natur aus vorgesehenen Übereinstimmung zwischen den drei Seelenteilen, drei Ständen und drei Tugenden fest. Die umfassende Tugend der Gerechtigkeit besteht hiernach in der »Geschäftstreue (ïkêåéïðñáãßá)« eines jeden Standes, der zufolge jedes Mitglied die standesgemäßen Aufgaben verrichtet und die »Einmischung« meidet (Respublica 434 b–c). Leibniz dagegen rekurriert nicht auf Platons Idee des Gerechten, sondern vielmehr auf Platons Ansicht vom Sinn der Gesetzgebung überhaupt. In der Tat muß die wahre Staatskunst nach Platon durch Gesetze Sorge für »das Gemeinwohl (ô’ êïéíüí)« und nicht für das »Privatwohl (ô’ näéïí)« tragen (Leges 875 a–b). ¹¹⁵ So korrekt Leibniz’ Behauptung ist, der Sophist Thrasymachos trage diese These im I. Buch der Politeia vor (Respublica 338 c), so merkwürdig ist doch die durch Leibniz’ Vereinnahmung unter Platons Lehrmeinung hervorgerufene Suggestion, Thrasymachos spiegele in irgendeiner Weise Platons eigene Ansicht wider. Gilt doch umgekehrt in den folgenden Teilen der Schrift Platons ganze Anstrengung der Widerlegung des Sophisten, dessen brutale These auch die skrupellosesten Eigennutz-Erwägungen der jeweils Herrschenden zur Gerechtigkeit verklärt. Was jedoch auf den ersten Blick wie eine abwegige Verwechslung von Thrasymachos’ und Platons Lehrmeinung wirkt, findet zu Beginn von § 75 seine Erklärung : Leibniz gibt hier Thrasymachos’ perfider Formel einen völlig anderen Sinn, indem er den »Mächtigen« mit dem allmächtigen Gott gleichsetzt. Es handelt sich also gleichsam um eine geschickte rhetorische Provokation ad majorem Dei gloriam. ¹¹⁶ Für die Position der Stoiker, insbesondere Chrysipp, ist die Formel »der Natur gemäß leben (¿ìïëïãïõìÝíùò [ô† öýóåé] æyí, con-

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Anmerkungen des Herausgebers

venienter naturae vivere)« explizit belegt (Stoicorum Veterum Fragmenta, hg. v. H. von Arnim, 4 Bände, Leipzig 1902 – 1924, Nachdruck Stuttgart 1964, Bd. III , Nr. 5 ; Nr. 12 –17), und zwar als Zielformel für Glück und Tugend. Daß Leibniz aber auch Aristoteles diese Auffassung zuschreibt, überrascht zunächst, denn im V . Buch der Nikomachischen Ethik, in dem Aristoteles das »natürliche Gerechte (öõóéê’í äßêáéïí)« innerhalb des »politischen Gerechten (ðïëéôéê’í äßêáéïí)« behandelt (Eth. Nic. 1134 b 18), werden die Prinzipien der regulativen und distributiven Gerechtigkeit dargelegt (zur Erläuterung s. Abb. 2 in der Einleitung, s. o. LXXI ), ohne daß der Gedanke eines mit der eigenen Wesensnatur übereinstimmenden Lebens irgendeine Rolle spielte. Und doch trifft Leibniz hier voll ins Schwarze, wenn er die immanente Teleologie der aristotelischen Ethik sinngemäß als Übereinstimmung mit dem »besten und vollkommenen Zustand« zusammenfaßt. Denn tatsächlich ist der »vortreffliche Mensch (óðïõäásïò)«, der nach Aristoteles letzte »Richtschnur und Maß« für das moralisch Richtige ist (1113 a 33 f.), zugleich derjenige, dem es gelingt, die von Natur aus in ihm angelegte »Möglichkeit (äýíáìéò)« bis zu einem sehr hohen Grad zur »Wirklichkeit (díÝñãåéá)« zu entfalten. Diese »Bestform«, die von der Leistung her eine »Höchstform (Pêñüôçò)« ist (1107 a 9 u. 23), heißt »Tugend (PñåôÞ)«. Da der Mensch aber von Natur aus ein »auf die Polis bezogenes Lebewesen (æ²ïí ðïëéôéêüí)« (1097 b 12) und zugleich ein »sprachgebundene Vernunft innehabendes Lebewesen (æ²ïí ëüãïí h÷ïí)« ist (Politica 1253 a 9 f.), besteht die Vervollkommnung seiner Wesensnatur in der Ausbildung der charakterlichen und intellektuellen Bestzustände (Tugenden), die ihn zugleich für die Polis tauglich machen. Auch diese Rekonstruktion zeigt, daß Leibniz bei seinem Referat der Autoritäten in den §§ 71– 72 das von Natur aus Gerechte von vornherein im weitesten Sinne der universalen Gerechtigkeit, d. h. des Inbegriffs aller Tugenden, versteht. ¹¹⁷ »Wenn wir […] sagen, die Lust sei das Ziel, so meinen wir damit nicht die Lüste der Ausschweifenden oder die Lüste, die im Genießen bestehen, wie einige es auffassen, die unsere Lehre nicht kennen und anerkennen oder böswillig deuten ; vielmehr meinen wir damit : weder in bezug auf den Leib Schmerzen noch in bezug auf die Seele Unruhe verspüren«. […] Es ist aber »unmöglich, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, edel und gerecht zu leben, [und ebensowenig

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umgekehrt, einsichtsvoll, edel und gerecht zu leben], ohne lustvoll zu leben« (Epikur : Brief an Menoikeus, 131 f.). Entsprechend ist »das Gerechte der Natur ein Ausdruck des Nutzens, sich gegenseitig nicht zu schaden bzw. sich nicht schädigen zu lassen« (Kyriai doxai XXX 1). – Leibniz hat schon früh angemerkt, daß viele »berühmte Philosophen« wie Epikur, Lorenzo Valla, Gassendi oder Hobbes das höchste Gut oder das »Glück (beatitudo) in die Lust des Geistes (voluptas animi) gesetzt haben« (Adnote 61 zu Thomasius : Philosophia practica, A VI 1, 62, 25 – 28). Auch hat er diesem ›Geistes-Hedonismus‹ vehement zugestimmt : »Zu Recht haben Epikur einst und Lorenzo Valla […] sowie […] Pierre Gassendi das höchste der Güter in die Lust gesetzt. Denn wenn wir unseren Geist von den hohlen Phrasen der Schulphilosophen abgebracht haben und auf das alltägliche Leben blicken, wird klar, daß wir überall durch Lust angetrieben und durch Schmerz abgeschreckt werden« (Specimen demonstrationum politicarum pro elegendo rege polonorum, A IV 1, 34, 33 – 35) ; ähnlich in den Elementen des Naturrechts 4, s. o. 237 f.. ¹¹⁸ Cicero : De officiis, I 22 ; De finibus II 45 ; beidemal unter Hinweis auf Entlehnung von Platon : Neunter Brief, 358 a. ¹¹⁹ In seiner epochemachenden Naturrechtslehre, die Gedanken von Aristoteles, den Stoikern und der Spätscholastik verbindet, geht Grotius davon aus, daß dem Menschen von Natur aus neben dem Selbsterhaltungstrieb auch ein »Streben zur Gemeinschaft« angeboren ist, »d. h. nicht nach einer irgendwie beschaffenen Vereinigung, sondern nach einer ruhigen und gemäß der Art seines Verstandes geordneten Vereinigung mit denjenigen Wesen, die von seiner Art sind (appetitus societatis, id est communitatis, non qualiscunque, sed tranquillae, et pro sui intellectus modo ordinatae, cum his qui sui sunt generis)« (De jure belli ac pacis, Prolegomena 6). Insofern ist »die mit dem menschlichen Verstand übereinstimmende Fürsorge für die Gemeinschaft die Quelle desjenigen [natürlichen] Rechts, das man im eigentlichen Sinne so nennt (societatis custodia, humano intellectui conveniens, fons est eius juris, quod proprie tali nomine appellatur)« (Proleg. 8). Unter Voraussetzung einer solchen sozialen Natur des Menschen kann Grotius definieren : »Das Naturrecht ist das Gebot der rechten Vernunft, das für eine jegliche Handlung anzeigt, ob ihr aufgrund ihrer Übereinstimmung bzw. Disharmonie mit der vernünf-

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tig geregelten Natur selbst eine moralische Schändlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt und ob eine solche Handlung folglich von Gott, dem Urheber der Natur, entweder verboten oder vorgeschrieben ist (Ius naturale est dictatum rectae rationis indicans, actui alicui, ex eius convenientia aut disconvenientia cum ipsa natura rationali, inesse moralem turpitudinem aut necessitatem moralem, ac consequenter ab auctore naturae Deo talem actum aut vetari aut praecipi)« (I 1, X 1). Und entsprechend ist im Sinne des Naturrechts umgekehrt »dasjenige als ungerecht zu verstehen, was der vernünftigen und sozialen Natur notwendig widerstreitet (iniustum autem id demum intelligi quod necessariam cum natura rationali ac sociali habet repugnantiam)« (I 2, I 3). ¹²⁰ Zu Hobbes’ Kritik an der aristotelischen Tradition, die von einer Teleologie natürlicher Antriebe zur Sozialität ausgeht, d. h. den Menschen als ›animal sociale naturâ‹ versteht, vgl. Hobbes : De Cive, Kap. 1, 2. ¹²¹ Pietro Sforza Pallavicino : Philosophia moralis seu de bono libri IV , Köln 1646. Der Jesuit Pallavicino (1607 –1667), der ab 1639 Philosophie und ab 1643 Theologie am Römischen Kolleg lehrte und 1659 zum Kardinal ernannt wurde, war berühmt wegen seiner Istoria del concilo di Trento, 2 Bände, Rom 1656 f., auf die auch Leibniz in einem Zusatz zur Nova Methodus anspielt (A VI 1, 322, 30 f.). ¹²² Leibniz gibt eine sehr knappe Zusammenfassung der Grundgedanken aus den Kapiteln 1, 5, 6 und 12 von Hobbes : De Cive. Der in Leibniz’ Referat versteckte Kritikpunkt, Hobbes’ inhaltliche Konzeption des Gesellschaftsvertrags und des Staates führe zu einer Liquidierung alles überpositiven oder natürlichen Rechts, ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man einmal von dem »natürlichen Recht der Menschen, sich selbst zu schützen«, absieht, das dem Bürger auch im Staat bleibt und das »durch keinen Vertrag ausgelöscht werden kann (vgl. Leviathan, Kap. 21, Opera philosophica latina, hg. v. G. Molesworth, 5 Bände, London 1839 – 1845, Nachdruck Aalen 1966, Bd. III 168). ¹²³ S. o. Anm. 23. ¹²⁴ Robert Sharrock : ÕÐÏÈÅÓÉÓ ÇÈÉÊÇ De Officiis secundum naturae jus seu De moribus ad rationis normam conformandis doctrina, Oxford 1660. Sharrock oder Scharrockius (1630 –1684) war, nach dem

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Studium beider Rechte, Prediger in Horewood, später in Winchester. In der Tat »waren bei Sharrock die aristotelisch-ciceronianischen Ansatzpunkte so stark mit epikuräischen Gedanken durchsetzt, daß selbst [Christian] Thomasius verwundert sich die Frage stellte, mit welchem Recht Sharrock dann Hobbes überhaupt noch angreifen könne« (Schneider : Justitia universalis, 176). Sharrock geht zwar vom aristotelischen Tugendbegriff aus, den er von Dunkelheiten klären will (Praefatio, Anfang), doch will er, unter Berufung auf Cicero : De finibus I 29, das Streben nach Lust und Vermeiden von Schmerz als Antriebsgesetz auch des Menschen aufzeigen und mit der christlichen Religion vereinbar erweisen. Nicht nur heiße es in den Psalmen, daß in der »vita coelestis post mortem« die Lust der Intensität nach »plenitudo« und der Extensität nach »in aeternum« sei (I 12, S. 30 f.). Und nicht nur liege der letzte »Zweck (finis)« allen Rechts und aller Gerechtigkeit auf Erden darin, daß jeder die »Ruhe des Gemüts und ihren Genuß (tranquillitas animi eiusque delectatio)« erwerben könne (II 12, S. 65). Vielmehr habe der Schöpfer auch speziell im Hinblick auf die Moral die »Paarung von Tugend und Lust (Virtutis et Voluptatis óõæõãßá)« glücklich eingerichtet (I 3, S. 4 f.). Entsprechend gibt es eine natürliche Unlust, gegen jene »Gebote des natürlichen Gewissens (naturalis conscientiae dictamina)« (II 5, S. 46) zu handeln, die Sharrock mit den nach Paulus (Röm. 2, 15) »dem Herzen eingeschriebenen Gesetzen (cordi inscriptae leges)« identifiziert (II 1, S. 40). – Eine Stelle, an der Sharrock explizit von seelischen Schlägen spricht, läßt sich allerdings nicht finden. ¹²⁵ Eine ausführliche systematische Interpretation dieser Leibnizschen Synthese der drei Naturrechtsstufen, ihrer Symmetrie mit den aristotelischen Arten der Gerechtigkeit und den drei Ulpianschen Rechtsvorschriften, gibt die Einleitung (s. o. LXVIII – CI ). ¹²⁶ Gemeint sind die in den §§ 14 – 20 gegebenen Definitionen der Grundbegriffe, die zu den Elementen des Rechts gehören. ¹²⁷ Leibniz verbindet hier die Vorstellung von Hobbes, bei dem der Naturzustand ein ständiger »Krieg eines jeden gegen jeden (bellum uniuscuiusque contra unumquemque)« ist (Leviathan, Kap. 13), mit dem Grundgedanken von Grotius, nach dem auch im Krieg gewisse Grundsätze eines natürlichen »Rechts im Kriege (jus in bello)« gelten. Leibniz versteht das Kriegsrecht gleichsam als das Strafrecht im Na-

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turzustand, in dem noch kein Staat diese Aufgabe übernommen hat (s. o. Anm. 72). ¹²⁸ Diese Parallele zwischen Mensch und Tier gehört zu Leibniz’ metaphysischem ›Juriszentrismus‹, der in der Einleitung (s. o. LVII ) erläutert wurde. Strenggenommen haben Tiere natürlich kein eigentliches Recht. Sie haben es »nur der Analogie nach (non nisi Píáëïãßá)«, wie Leibniz schon in der Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind, sagt (A VI 1, 84, 14). ¹²⁹ Leibniz übernimmt diese Formel von dem oben zitierten Vultejus : Jurisprudentia Romana, der die Billigkeit hiermit »genial definiert« habe (A VI 1, 249, 25 f.). ¹³⁰ Leibniz formuliert hier die »Goldene Regel«, ein historisch wie systematisch bedeutsames Prinzip in Recht und Moral, das auf der Wechselseitigkeit von Ansprüchen beruht. Einen hervorragenden historischen Überblick mit weiterführender Literatur geben HeinzHorst Schrey, Hans-Ulrich Hoche : Regel, goldene, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter et al., Basel / Darmstadt 1971 ff., Bd. VIII 450 – 464. ¹³¹ In den Entwürfen für eine zweite Auflage der Neuen Methode hat Leibniz später den einschränkenden Zusatz gemacht : »falls nichts im Wege steht (si nil obstet)« (A VI 1, 344, 26). ¹³² Grotius : De jure belli ac pacis, I 1, IV ; II 17, II –III . ¹³³ Eine Forderung der Billigkeit kann gleichsam nicht von unten eingeklagt, sondern nur von oben eingeräumt werden. Der »Höhere« ist ein von staatlicher Seite Befugter. ¹³⁴ Diesen gesetzlichen Teil des göttlichen Willens, der sich in den Offenbarungsquellen ausgesprochen hat, läßt Leibniz hier beiseite, da er per definitionem nicht zum Naturrecht gehört, auch wenn er zum großen Teil mit diesem übereinstimmt, insbesondere im Dekalog und in der Bergpredigt. ¹³⁵ Auch diese Dimension des »Höheren«, der Wille des irdischen Souveräns oder Gesetzgebers, der das positive menschliche Recht setzt, gehört per definitionem nicht zur dritten Stufe des Naturrechts. Es bleibt also nur die im folgenden erörterte »Pietät« übrig, die mit dem »von Natur aus« bestehenden Willen Gottes zusammenfällt. Die These von Welzel, daß Leibniz hier einen »Voluntarismus« vertrete, wird in der Einleitung (s. o. XCI f., Anm. 202) widerlegt.

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¹³⁶ Zur Erläuterung s. o. Anm. 68. ¹³⁷ In den Bemerkungen für eine zweite Auflage der Schrift hat Leibniz ergänzt, Gott sei des Naturrechts »letzter Grund und zugleich höchster Gipfel (simul fundamentum ultimum et fastigium supremum), in dem die höchsten Gründe der Theoretischen und Praktischen Philosophie vereinigt werden« (A VI 1, 345, 25 f.). ¹³⁸ Eine Erläuterung zum Gedanken des Universalstaates gibt die Einleitung (s. o. LVI f.). ¹³⁹ Die ersten vier Bücher von Hoppers Seduardus (s. o. Anm. 50) enthält die Nomothesia sive de juris et legum condendarum scientia. Conring lobt in seinem Vorwort gerade diese Nomothesie als eine echte »philosophia civilis«, auch wenn sie sich zuviel an Platon und zuwenig an Aristoteles anlehne, der doch die Verschiedenheiten der Staaten und Völker viel besser berücksichtigt habe. ¹⁴⁰ Hermann Conring : De Civili Prudentia liber unus, quo prudentiae politicae, cum universalis philosophicae, tum singularis pragmaticae omnis propaedia acroamatice traditur, Helmstedt 1662 ; Propolitica, sive brevis introductio in civilem philosophiam. Adjecta sunt ejusdem ut et J. Hopperi nonnulla de varia et vera jurisprudentia, Helmstedt 1663 (¹1660). Leibniz hat Conrings Werke schon 1664 gekannt (A VI 1, 73, 18 ; 101 f.) und sehr geschätzt. (Conrings Lebensdaten und geistige Position sind skizziert in Anm. 1 zum ersten Brief an Conring) Zur »Nomothetik« – oder »Nomothesia«, wie Leibniz die Wissenschaft von der Gesetzgebung hier mit Hopper nennt – hat Conring eine eigene, 78 Seiten umfassende Erörterung geschrieben, die Leibniz vielleicht nicht kannte : Dissertatio politica de Nomothetica, seu recta legum ferendarum ratione, Helmstedt 1663. ¹⁴¹ Cicero : De legibus III 3, 3. ¹⁴² Justus Lipsius : Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, qui ad principem maxime spectant, Leiden 1589 ; deutsch : Von Unterweisung zum weltlichen Regiment oder von bürgerlicher Lehr sechs Bücher, übers. v. Melchior Haganaeus, Neustadt a. d. Hardt, Frankfurt a. M. 1618. Von der berühmten und durch zahlreiche Kommentatoren weit verbreiteten Politiklehre des niederländischen Humanisten Lipsius (1547 – 1606) spielt Leibniz hier auf zwei Lehrstücke an : erstens auf Lipsius’ Lehre vom »genius populi«, derzufolge die »politische Klugheit (civilis prudentia)« der Regierenden im Interesse an der Machterhaltung

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Anmerkungen des Herausgebers

darauf bedacht sein muß, die Meinungen und Lebenswirklichkeiten der sozialen Gruppen des Volkes genauestens zu kennen ; zweitens auf Lipsius’ Lehre von der Macht (potentia) und den Mitteln, sie auszuüben und zu erhalten. ¹⁴³ Johann Heinrich Boecler : Dissertatio de Politicis Justi Lipsii. Accessit Oratio de Historia C. Cornelii Taciti, Straßburg 1642. Der Straßburger Historiker Boecler (1611–1672) verknüpfte den Neustoizismus von Lipsius stärker mit Aristoteles und dem Naturrecht im Sinne von Grotius. Gegenüber der Lipsiusschen Klugheitslehre, die für die Staatsräson auch die Verletzung moralischer Normen begrenzt billigte, betonte Boecler die Bindung der Politik an die Maßstäbe des Naturund Völkerrechts. ¹⁴⁴ Schon durch die griechischen Begriffe »eudaimonia« (was soviel bedeutet wie »glückliche Verfassung«) und »autarkeia« (was für die Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit insbesondere einer Polis steht), bringt Leibniz zum Ausdruck, daß er sich hier ganz an die Prinzipien der aristotelischen Politiklehre hält. Gut aristotelisch ist auch zwei Sätze später die Gleichsetzung des Glückes mit der Tugend (virtus), die hier besser mit »Tüchtigkeit« übersetzt ist. – Leibniz zeigt sich in diesem Abschnitt stark an der Politiklehre Conrings (s. o. Anm. 140) orientiert, die mit ihrem Aristotelismus die höchsten Staatszwecke ebenfalls am Gemeinwohl oder Glück der Gemeinschaft (societas bene et beate vivendi causa) und an der Erhaltung der Regierung festmacht. In der zweiten Auflage seiner Erörterung der verwickelten Rechtsfälle (1669) legt Leibniz Conring folgende These in den Mund, mit der er fast wörtlich das hier in § 76 Vorgetragene zusammenfaßt : »Es ist nämlich das erstrangige Ziel der Klugheit der Gesetzgebung die Tüchtigkeit der Bürger, das zweite die Selbständigkeit, weil Mangelwirtschaft hochgerechnet schlecht ist (Est enim prudentiae Nomotheticae primarius finis Civium virtus ; alter PõôÜñêåéá, quia egestas ut plurimum improba est)« (A VI 1, 401, 8 f.). ¹⁴⁵ Juvenal : Saturae, III 152 f. ¹⁴⁶ Diese kurze Skizze der Aufgaben der Politik atmet zwar den monarchistischen Geist des Absolutismus, zeigt aber kein autoritäres Staatsverständnis. Das belegt schon Leibniz’ Interpretation der ciceronischen Formel »salus populi«. Sie bedeutet für ihn an erster Stelle »das Wohl der Bürger selbst«, vor der »Erhaltung der Regierung«. Auch

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sprachlich hebt das »bonum ipsorum civium« auf das konkrete Leben der Individuen ab und nicht auf irgendein abstraktes ›Wohl des Staates‹ oder gar ein ›Wohl der Regierung‹. Auch die Orientierung an der Tugend ist nicht so befremdlich, wie es uns in unserer Zivilisation »after virtue« in den Ohren klingt. Daß nämlich das Glück der Bürger mit ihrer Tugend zusammenhänge, ist erst recht nicht abwegig, wenn man – wie Leibniz dies später ausdrücklich tut – unter »virtus« allgemein jene Stärken und wertvollen Eigenschaften versteht, deren Erwerb für ein glückendes Leben durchaus relevant ist. Tugend in diesem weiten Sinne ist »eine Fertigkeit mit Verstand zu handeln« (Von dem höchsten Gute, in : Guhrauer [Hg.] : Leibnitz’s Deutsche Schriften, II 39). Ein Staat, der solche psychischen Bedingungen innerer Stabilität gar nicht mehr ins Auge faßte, hätte sich von der Leitidee »Wohl des Volkes« verabschiedet. – Daß Leibniz dem Staat die Aufgabe zuspricht, »Belohnungen für die Tugenden bzw. Bestrafungen für Laster« zu verteilen, läßt sich von der Güterverteilungs-Billigkeit her verstehen. Denn »Billigkeit ist die Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen den Gütern und den Verdiensten« (Elemente des Naturrechts 2, s. o. 197). Solche Meriten sind nicht nur moralische Tugenden wie Besonnenheit oder Tapferkeit. Der Kerngedanke ist vielmehr, daß bei der Güterzuteilung Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft prämiert werden und nicht Stümperei und Faulheit. Doch auch die engere moralische Bedeutung von »virtus« ist gemeint, wenn es um »politische Verordnungen« im Erziehungswesen und im »Umgang (conversatio)« geht. ¹⁴⁷ Zu Pisani s. o. Anm. 52. ¹⁴⁸ Nachdem Leibniz in den §§ 70 bis 76 die »Prinzipien der Entscheidung« bei den zweifelhaften oder kontrovers beurteilten Rechtsfällen in der polemischen Jurisprudenz erörtert hat, macht er im folgenden Vorschläge zu Form und Inhalt einer neuen »Sammlung der Entscheidungen oder Kontroversen« (A VI 1, 346, 1 f.). Diese Paragraphen sind für die Rechtsgeschichte sehr interessant, für die Systematik des Naturrechts jedoch unergiebig. Deshalb ist es sachlich berechtigt, daß unsere Studienausgabe mit § 76 endet.

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Anmerkungen des Herausgebers

text iii (s. 91 – 319)

¹ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 431– 432. Die Überschrift wurde ergänzt. Die Datierung auf 1669 bis 1670 begründen die Herausgeber damit, daß es sich hier um »Einwände« handelt, »die sich Leibniz bei einer erneuten Lektüre« von Grotius’ Vorrede »notiert hat« und daß sich »diese kritischen Gedankengänge z. T. in Leibniz’ erstem Schreiben an Conring vom 13./23. Jan. 1670 wiederfinden« (A VI 2, 563, 13 –15). Zu Leibniz’ Grotius-Kritik gegenüber Conring s. o. 333. ² Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 5. Leibniz zitiert hier, wie in den folgenden Passagen auch, nicht ganz wörtlich. ³ Karneades von Kyrene (214/213 –129/128 v. Chr.) war von ca. 164 bis 137 v. Chr. Leiter der platonischen Akademie und gab der Schule eine stark skeptische Prägung. Seine Lehren wurden von den Schülern tradiert, da er selbst nichts schrieb. Nach Cicero : De finibus 5, 16 , u. Academica 1, 129 f., soll Karneades eine systematische Einteilung möglicher Handlungs- und Lebensziele (Carneadea divisio) gegeben haben. Da er die Dialektik virtuos beherrschte und als Erörterung »nach beiden Seiten (in utramque partem)« verstand, soll er bei einer Philosophengesandtschaft 155 v. Chr in Rom am ersten Tag für, am zweiten aber gegen die Gerechtigkeit argumentiert haben (Cicero : De oratore 2, 155 ; Academica 1, 137). Seine auf Thrasymachos und Glaukon (in Platons Respublica) zurückgehende These von der Gerechtigkeit als Dummheit findet sich im Referat des Laktanz zu Cicero : De re publica, III [früher 15 (24)] jetzt : 12 (21). ⁴ Eine Parallele, die Hobbes mit Karneades zusammenrückt, findet sich in Leibniz’ erstem Brief an Conring (s. o. 329). ⁵ Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 5 f., behauptet, die These des Karneades, wonach »von Natur aus jedes Lebewesen ausschließlich zu seinen Vorteilen getrieben wird«, könne »so allgemein genommen nicht zugegeben werden«. Leibniz macht diese These von der unübersteigbaren Selbstliebe umgekehrt, mit Karneades und Hobbes, zur Prämisse seiner Anthropologie und Motivationslehre (s. o. Elemente des Naturrechts 4, 225 f.). ⁶ Cicero : De officiis III 11 ; hier unter Berufung auf Sokrates und die Stoiker.

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⁷ Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 7 – 9. Zur Erläuterung s. u. Anm. 119 zur Neuen Methode. ⁸ Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 11. Grotius steht hier in einer innerchristlichen Tradition der hypothetischen Eliminierung Gottes aus dem Naturrecht. Sie läßt sich bis zu Gregor von Rimini zurückverfolgen. Vgl. Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 94 f. ; 126 f. ⁹ Leibniz’ Festhalten an der Unabtrennbarkeit der Gerechtigkeit von Gott, an der Verbindung des Naturrechts mit der Theologie, besagt nicht etwa, daß das Wesen des Gerechten in seiner Gültigkeit oder auch nur die Erkenntnis des Gerechten abhinge von Gott. Dies wäre ein theonomer Ansatz, der dem rationalistischen und zugleich platonistischen Zug in seinem Naturrechtsdenken völlig zuwiderliefe. Wie Leibniz in den Elementen des Naturrechts 4 (s. o. 221) erläutert, kann vielmehr durchaus »erkannt werden, ob etwas gerecht ist, auch wenn es keinen gäbe, der die Gerechtigkeit ausübte«, d. h. folglich, auch wenn es keinen Gott gäbe. Wie Leibniz’ anschließende Argumente zeigen, gilt sein Festhalten an Gott als höchstem Prinzip des Naturrechts vielmehr allein dem motivationalen Gesichtspunkt. Ohne den Glauben an ein künftiges Leben, in dem Gott die Verdienste belohnt und die Verfehlungen bestraft, gäbe es kaum noch eine Rücksichtnahme auf andere Menschen in den Fällen, in denen der Eigennutz keine rechtlichen oder sozialen Sanktionen zu befürchten hat. Die ganze dritte Stufe des Naturrechts, die Pietät, fiele bei den meisten Menschen als Motivationsebene weg. Was Leibniz retten will, ist also gerade das Klugheits- oder Eigennutzmoment innerhalb der Religion selbst. Gerade weil seine Anthropologie so ›egoistisch‹ oder ›hobbistisch‹ ist, sieht er in einer Ausklammerung Gottes und seiner ausgleichenden Gerechtigkeit eine ernsthafte Gefahr für alle moralische bzw. gerechte Motivation bei Menschen, die nicht fähig sind, ihr eigenes Glück in der tätigen Liebe zu anderen zu finden. So erklären sich auch die anschließenden funktionalistischen Betrachtungen über den Nutzen der Religion für die Moral des Volkes. ¹⁰ Dieses Argument liegt denkwürdig nahe an Voltaires Bonmot : »Wenn es keinen Gott gäbe, müßte man ihn erfinden (Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer)« (Épitres, CIV , À l’auteur du livre des trois imposteurs, in: Œuvres complètes de Voltaire, hg. v. L. Moland,

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Anmerkungen des Herausgebers

Paris 1877 – 1885, Bd. 10, 403). Ohne die Prämissen von Leibniz’ eigener Religiosität wirkten solche Gedanken wie eine zynische, kalt berechnende Instrumentalisierung der Religion für die Staatsräson. Doch weit davon entfernt, in Gott und der Unsterblichkeit bloß nützliche Fiktionen zu sehen, hält Leibniz vielmehr umgekehrt die Nichtexistenz Gottes für eine Fiktion. Deshalb schreibt er gegen Ende des Absatzes : »wenn man sich einbildete ›Es ist kein Gott‹ (si fingatur nullus est DEUS )«. ¹¹ In Livius’ römischer Historie (Ab urbe condita, VII 6), die Leibniz in einer bebilderten Ausgabe schon vom achten Lebensjahr an las, findet sich eine Volksätiologie zum »Lacus Curtius«. Hiernach soll sich einst mitten auf dem Forum Romanum eine Kluft von ungeheurer Tiefe aufgetan haben. Eine Weissagung lautete, daß sich der bedrohliche Abgrund erst wieder schließen werde, wenn die größte Stärke Roms geopfert worden sei. Daraufhin habe der kriegserfahrene Jüngling Marcus Curtius die Schar der Zweifelnden gefragt, ob Rom denn ein größeres Gut habe als Waffen und Heldenmut, und habe sich dann bei voller Rüstung mit seinem Pferd in den Abgrund gestürzt, um sein Vaterland zu retten. ¹² Lucilio Vanini : De admirandis naturae reginae deaeque mortalium arcanis libri IV , Paris 1616. Vanini (1585 –1619), der unter dem Pseudonym »Julius Cäsar« schrieb, war bekennender Materialist und Atheist, nachdem er zunächst dem Karmeliterorden beigetreten war, nach seiner Flucht nach England 1612 zur anglikanischen Kirche übergetreten und 1614 nach seiner Rückkehr auf das Festland wieder römisch-katholisch geworden war. Weil er einen libertinistischen Lebenswandel hatte und einiger Sexualdelikte bezichtigt wurde, ließ ihn das Stadtparlament von Toulouse auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Nach eigenem Bericht hat Leibniz schon in früher Jugend die Dialoge Vaninis gelesen. Was er hier die »schlechteste Hypothese« nennt, ist Vaninis Leugnung Gottes und der Unsterblichkeit. ¹³ Lukan : Pharsalia (Bellum civile), I, v. 459. ¹⁴ Was Leibniz meint, hat er in seinem Bekenntnis zur Natur gegen die Atheisten erläutert. Hiernach gehört der »höchst scharfsinnige Hobbes« zu denen, die die Religion für die Staatsräson instrumentalisiert und sie zu einer staatlich verordneten Jenseitsideologie degradiert haben. Hobbes’ Argument besage, daß der Glaube an Gott und die

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Unsterblichkeit »nur aufgrund staatlicher Vorschriften oder historischer Überlieferung nötig sei«, weil man beides »mit der natürlichen Vernunft« nicht erkennen könne (A VI 1, 489, 16 –18). Vgl. De Cive, Kap. 15, 17. ¹⁵ Zu Hermann Conring s. o. Anm. 140 zur Neuen Methode. ¹⁶ Die Übersetzung folgt hier Leibniz’ Überschreibung des von Grotius verwendeten »fide« durch »probatione«. ¹⁷ Leibniz zitiert (abgesehen von der am Ende des Zitats erfolgten Auslassung des »longe« vor »nobilissimam«) wörtlich aus Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 31 f. ¹⁸ Leibniz scheint die zitierte Stelle in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens fühlt er seinen eigenen Plan für die Neuordnung des Corpus juris im Zuge der Mainzer Rechtsreform bestätigt. Zweitens findet er bei Grotius selbst Zeichen eines bescheidenen Selbstverständnisses, wonach sich dieser nur als Bahnbrecher eines »Weges«, nicht aber als Vollender eines ausgereiften Systems des Natur- und Völkerrechts sieht. Das aber entspricht ganz dem Leibnizschen Urteil, dem zufolge Grotius keineswegs jener Vater bzw. Vollender dieser Disziplin ist, als der er im 17. Jahrhundert oft gepriesen wurde. Leibniz’ anschließender Vergleich im nächsten Satz ist für Grotius wenig schmeichelhaft. ¹⁹ Pierre Ayrault (Aerodius) : Rerum ab omni antiquitate judicatarum pandectae, Paris 1588. ²⁰ Florentinus war römischer Jurist der Kaiserzeit (vermutlich des 2. Jahrhunderts n. Chr.). Seine 12 Bücher umfassende Einführungsschrift Institutiones wurde später bei Justinians Rechtsreform berücksichtigt. ²¹ Dig. 1, 1 (De justitia et jure), 3, l. ut vim. ²² Wahrscheinlich entnimmt Leibniz die Stelle sinngemäß aus Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena 14. ²³ Hobbes : De Cive, Kap. 2, 1 : Wer das Recht am »consensus omnium vel sapientissimarum vel eruditissimarum gentium« festmachen wolle, müsse angeben, wer über die Weisheit und Bildung der Völker entscheiden solle ; wer dagegen den »consensus totius generis humani« zum Maßstab des Rechts machen wolle, müsse einräumen, daß dann nur Kinder und Idioten gegen es verstoßen könnten. ²⁴ Unter »praesum(p)tio juris« versteht man im römischen Recht den Kunstgriff einer mutmaßlichen Annahme, die in Ermanglung von

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Anmerkungen des Herausgebers

Beweisen oder Evidenzen gemacht wird und so lange hypothetische Gültigkeit besitzt, wie kein Gegenbeweis vorliegt. Leibniz meint an dieser Stelle eine Vermutung, die im Zweifelsfalle die Rechtmäßigkeit auf einer bestimmten Seite annimmt. ²⁵ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 433 – 454. Die Überschrift wurde ergänzt. Es handelt sich um vier Stücke, die sachlich zusammengehören. Ihre Datierung auf die Zeit »zwischen Herbst 1669 und Sommer 1670« wird in der Akademie-Ausgabe näher begründet (A VI 2, 536, 17 – 39). Einen Überblick über die Inhalte gibt die Einleitung, s. o. CIV f. Die Einteilung der Übersetzung nach Absätzen hält sich weitgehend an den lateinischen Text. Wo Leibniz jedoch ganz offensichtlich einen neuen Gedankengang einschlägt bzw. umgekehrt den alten zu Ende führt, wurde ein neuer Absatz gemacht bzw. übergangen. ²⁶ Leibniz beginnt seine Untersuchungen mit einer Tabelle, die den Maßstab zur Beurteilung aller folgenden Rechtsfragen liefert, sofern sie das strenge Recht betreffen. Im Hinblick auf die in der Neuen Methode propagierte Euklidische Methode enthält die Tabelle gewissermaßen die Axiome für mögliche, durch zusätzliche Begründungsschritte beweisbare Theoreme oder Lehrsätze zum strengen Recht. Sie umfaßt jedoch nur einige exemplarische Fälle für die allgemeinen Proportionen der gerechten Gleichheit. Sie setzt fest, bis zu welchen Grenzen die Benachteiligungen (Schädigungen) anderer von Natur aus verhältnismäßig, d. h. im Sinne des strengen Rechts gerecht oder erlaubt sind, und von wo an sie beginnen, unverhältnismäßig und somit naturrechtlich ungerecht oder verboten zu sein. Man darf annehmen, daß Leibniz diese Tabelle abstraktiv gewonnen hat nach jener Methode, die er im 1. bis 4. Abschnitt der Elemente des Naturrechts 4 (s. o. 223 – 229) darlegt. Während es hier zu Beginn des 5. Abschnittes ganz allgemein heißt, »daß das Gerechte eine Beachtung sowohl des eigenen als auch des fremden Wohles enthalten wird«, bestimmt die Tabelle mit den Proportionen dieses Verhältnis jetzt näher, und zwar durch die Unterscheidung von vier Dringlichkeitsstufen oder Schweregraden. Wie das folgende Pfeilschema verdeutlicht, erweisen sich die von Leibniz berücksichtigten Fälle des Gerechten und des Ungerechten als stufenversetzte Proportionen zwischen meinen Gütern (links) und solchen Übeln anderer, die eine Negation des jeweiligen Gutes auf

Text III · Elemente des Naturrechts

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derselben Dringlichkeitsstufe bilden (rechts). Leibniz unterscheidet vier Schweregrade, die sich natürlich noch feiner staffeln ließen : GERECHTE PROPORTIONEN MEINE GÜTER :

ÜBEL ANDERER :

1. Überflüssiges

›Mangel‹ an Überflüssigem

2. Vorteil (Gewinn)

Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn)

3. Nicht-Benachteiligung (Nicht-Schädigung)

Nachteil (Schaden)

4. Notabwendung (Notwehr)

Unglück (Elend, Not)

Die durch Pfeile dargestellten waagrechten Verbindungen zeigen Benachteiligungen (Schädigungen) anderer (die logisch einer Negation entsprechen) auf derselben Dringlichkeitsstufe. Daß es wichtig ist, solche Dringlichkeitsstufen zu staffeln, ergibt sich aus dem Gedanken, daß das Gerechte in einer verhältnismäßigen Proportion zwischen dem Streben nach meinem eigenen Wohl und nach dem Wohle anderer besteht. »Gerecht ist das ausgewogene Verhältnis (proportionale) zwischen der Liebe zu mir selbst und der Liebe zum Nächsten« (Elemente des Naturrechts 3, s. o. 201). Was aber das Wohl (oder die Güter) eines Menschen betrifft, so gibt es ein Mehr oder Weniger an Dringlichkeit oder existentieller Bedeutsamkeit. Der mögliche ›Mangel‹ an etwas Überflüssigem (z. B. an Lebensmitteln, die ich gar nicht alle verzehren kann, bevor sie ungenießbar werden) ist strenggenommen eigentlich gar kein handfestes Übel. Ein Mangel bzw. eine Verhinderung an Vorteil (z. B. an einem finanziellen Gewinn) bedeutet schon ein größeres Übel. Noch größer ist das Übel natürlich, wenn ich einen Nachteil oder Schaden erleide (z. B. den Verlust meines Wohnhauses infolge einer Brandkatastrophe). Das existentiell größte Übel ist schließlich – wenn man vom Tod absieht – Unglück oder Verelendung (z. B. durch wirtschaftliche Not oder Krankheit). Leibniz erläu-

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Anmerkungen des Herausgebers

tert an dieser Stelle zwar nicht, weshalb gerade die waagrechten Verbindungen »gerecht« sein sollen, alle Benachteiligungen stärkeren Grades jedoch, dargestellt durch die schräg nach unten abfallenden Pfeile, »ungerecht«. Doch dürfte der Grund dafür, daß die Bevorzugung der ersten Person Singular mit dem kleinstmöglichen Abstand zum anderen legitim ist, in der natürlichen Selbstliebe liegen. Das Pfeilschema visualisiert gleichsam das Sprichwort, daß sich unter dem Aspekt des strengen Naturrechts ›jeder selbst der Nächste‹ ist. Als Selbsterhaltungsdrang tritt der amor sui besonders deutlich beim Not(wehr)recht der 4. Dringlichkeitsstufe auf. Diese Extremstufe deutet auch an, daß Leibniz die Grad-Einteilungen der Tabelle nicht als vollständig verstanden hat, denn gerade für den äußersten Schweregrad der Not böten sich durchaus noch weitere Untergliederungen an, z. B. der drohende Verlust aller äußeren Güter (a), der körperlichen Unversehrtheit (b) oder gar des Lebens (c). Was Leibniz ebenfalls nicht ausdrücklich betont, ist der wichtige Sachverhalt, daß die Fälle des Gerechten und Ungerechten seiner Tabelle nur sechs exemplarische Kombinationen nennen. Nach den Regeln der von Leibniz früh durchdrungenen Kombinatorik ergeben sich nämlich bei 4 Stufen insgesamt 16 mögliche Fälle. Wie das Pfeilschema verdeutlicht, lassen sich bei den gerechten Fällen gleichsam durch Anhebungen der waagrechten Pfeile von links nach rechts oben solche Fälle symbolisieren, die das justum noch weniger verletzen : Wenn z. B. im Extremfall 4 meine Notabwendung gerecht ist, obwohl damit die Notabwendung eines anderen verhindert wird, so wird sie erst recht legitim sein, wenn mit ihr eine bloße Benachteiligung eines anderen oder gar eine bloße Vereitelung seines Vorteils verbunden ist. Umgekehrt lassen sich weitere ungerechte Fälle veranschaulichen, wenn die nach rechts abfallenden Pfeile noch steiler abgesenkt werden : Wenn z. B. im Falle 1 das für mich Überflüssige ungerecht ist, sofern mit ihm eine Verhinderung fremder Vorteile verbunden ist, so wird es erst recht illegitim sein, wenn mit ihm der Schaden oder gar das Unglück anderer verbunden ist. Das Schema zeigt, wie differenziert sich dieser Ansatz weiterentwickeln läßt. Indem Leibniz im Haupttext den Begriff »ungerecht« auch ersetzt durch den Ausdruck »disharmonisch« oder »disproportional« (s. o. 121), zeigt er, daß es ihm in seiner axiomatischen Ausgangstabelle darum geht, die harmonischen Proportionen

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des Gerechten, d. h. dessen, was von Natur aus als die Verhältnismäßigkeit zwischen eigenem und fremdem Wohl gelten darf, abzugrenzen gegen die Disproportionen des Ungerechten, d. h. Übersteigerungen der Selbstliebe zu Lasten der Selbstliebe anderer. In der Einleitung zu seiner spanischen Übersetzung hat Vera (Leibniz : Los elementos del Derecho natural, XXIV ) ein ähnliches Pfeilschema entworfen, ohne jedoch die zugrunde liegenden Gedanken zu erläutern. Nicht stark genug betonen muß man schließlich, daß Leibniz die ganze Tabelle nicht etwa nach eigenem Gutdünken oder gar nach seinen privaten moralischen Intuitionen konstruiert hat, sondern daß er sich auf eine verborgene stringente Logik der Schadensgewichtung bezieht, die sich mit ihren feinen Verzweigungen durch das gesamte Privatrecht des römischen Rechts ziehen. Die Behauptung im ersten Brief an Conring, »daß die Regeln des Naturrechts im strengen Sinne mit den Rechtsregeln der Digsten auf wundersame Weise harmonieren« (s. o. 331), beziehen sich wohl auch und gerade auf diese Proportionen. Zur Erläuterung weiterer Zusammenhänge vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 310 – 316. ²⁷ Leibniz, der in diesem Text immer neue Ansätze für eine Definition der Gerechtigkeit unternimmt, zieht in diesen vorläufigen Begriffsbestimmungen ein immer reicheres, immer neue Fälle und damit neue Aspekte integrierendes Fazit aus seinen Untersuchungen. Bei diesen definitorischen Zwischenbilanzen sucht er die Gerechtigkeit meistens aus der Klugheit und somit Wahrung des eigenen Vorteils zu verstehen. Wie die folgenden Sätze zeigen, geht es Leibniz hierbei um eine Definition der Geisteshaltung von Gerechtigkeit auf dem Anspruchsniveau der justitia particularis überhaupt, die auch die Normen der Billigkeit mit einschließt. ²⁸ Hatte Leibniz zunächst gewisse Fälle für die Proportionen des Gerechten festgelegt, welche die höchste Rechtsvorschrift des strengen Naturrechts (»neminem laedere«) genauer spezifizieren, so liefert er jetzt auch exemplarische Fälle von Hilfsgeboten hinterher, durch welche die höchste Rechtsvorschrift der Billigkeit (»suum cuique tribuere«) näher definiert wird. Diese »Proportionen der Billigkeit (aeqvitatis congruentiae)« sind scharf zu unterscheiden von der »Notwendigkeit des Rechts im strengen Sinne (juris stricti necessitas)« (Brief an Conring, s. o. 331 f.). Man könnte die mit ihnen formulierten Hilfsver-

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Anmerkungen des Herausgebers

pflichtungen der Billigkeit als ›officia humanitatis‹ bezeichnen. Um die Gebote zur Abhilfe der Übel anderer ebenfalls durch ein Pfeilschema zu verdeutlichen, läßt sich die Dringlichkeitsstufung so darstellen, daß den Ausgangspunkt nun umgekehrt die gegebenen Übel anderer bilden. Die Tabelle mit den Proportionen der Billigkeit zeigt an, welche Übel ich aus Billigkeitsgründen hinnehmen muß. Zwischen den Übeln beider Seiten zeigen nun gerade die waagrechten Pfeile (die im folgenden nicht eigens dargestellt sind) solche Proportionen an, die prinzipiell nicht geboten sein können. Sie markieren also den Mindestgrad aller ›supererogatorischen‹ Handlungen. Erst recht nicht geboten sein können mögliche Kombinationen, die sich durch von links nach rechts unten abfallende Pfeile symbolisieren ließen. Denn auf dem abstrakten Rechtsstandpunkt, der nicht Liebe zwischen befreundeten Individuen voraussetzen darf, sondern antagonistische Interessen zwischen fremden Personen unterstellen muß, können keine utopischen Hilfsansprüche fixiert werden, die den einzelnen überfordern. Alle ab einem Grad aufwärts gerichteten Pfeile dagegen symbolisieren Benachteiligungen, die für mich geboten sind, falls ich helfen kann. Weil Leibniz bei den genannten drei Geboten billiger Hilfe die Zumutbarkeitsgrenzen nur negativ formuliert hat, seien hier alle gebotenen Kombinationen dargestellt : BILLIGE PROPORTIONEN GEGEBENE ÜBEL ANDERER :

MEINE GEBOTENEN ÜBEL :

1. ›Mangel‹ an Überflüssigem

›Mangel‹ an Überflüssigem

2. Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn)

Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn)

3. Nachteil (Schaden)

Nachteil (Schaden)

4. Unglück (Elend, Not)

Unglück (Elend, Not)

Die hochgesteckten Hilfsgebote werfen einiges Licht auf die Naturrechtsstufe der Billigkeit. Sie erschöpft sich für Leibniz nicht in dem

Text III · Elemente des Naturrechts

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juridischen Korrekturmoment zur Gewährung der Einzelfallgerechtigkeit, das angesichts der unumgänglichen Abstraktheit aller Gesetzesnormen unzumutbare Härten durch individualisierend ermeßbare Regulativ- und Generalklauseln mildern soll. Diese Funktion war in der aristotelischen Tradition bezeichnet worden als ›directio legis, ubi deficit propter universale‹ (vgl. Aristoteles : Ethica Nicomachea 1137 b 13 f.). Weit hierüber hinaus dehnt Leibniz vielmehr die Billigkeit zu einem eigenen Normengebiet aus. Wie die Einleitung erläutert (s. o. LXXXIV f.), umfaßt die Billigkeit verschiedene Binnenbereiche, wie z. B. die Güterzuteilungs-Billigkeit, die Entschädigungs-Billigkeit oder die Billigkeit beim Verhältnis zwischen Schuldmaß und Strafmaß. Für den hier angesprochenen Billigkeitsbereich sozialer Hilfsgebote ist zu beachten, daß deren Grad an Realisierbarkeit noch stärker pragmatisch eingeschränkt ist als die zuvor aufgelisteten Schädigungsverbote. Ihr Maß an Erfüllbarkeit oder gar staatlicher Erzwingbarkeit ist sogar, abgesehen von den zwei untersten Stufen gegebener Übel, aus drei Gründen noch geringer. Erstens widerspräche eine Lesart, der zufolge allen anderen im gleichen Maße geholfen werden müsse, dem anderen Billigkeitsgrundsatz von einer den persönlichen Verdiensten angemessenen Güterverteilung. Zweitens dürfen die konkretisierten Hilfspflichten nicht die Schädigungsverbote verletzen ; daher die Einschränkung : »jedem zu helfen, soweit nicht ein anderer dadurch verletzt wird« (Elemente des Naturrechts 3, s. o. 201). Drittens setzt eine Hilfe, die über die Beseitigung von Elend hinausgeht, persönliche Wechselseitigkeitsbeziehungen voraus. Billigkeit besteht allgemein darin, »den anderen so viel zuzugestehen, wie man von ihnen selbst mit gutem Grund verlangen würde« (ebd. 203). Weil hilfreiche Zuwendung aber nicht im gleichen Maße verlangt werden kann wie der Verzicht auf Schädigung, findet wechselseitige Hilfe auf hohem Niveau eigentlich in der »Freundschaft« ihre Bedingung (ebd. 201). Wie Leibniz in der vorliegenden Untersuchung schreibt, sind viele Handlungen »billig, auch wenn sie nicht verlangt werden können (aeqva sunt etsi exigi non possunt)« (s. o. 153). Später stellt er fest, daß Hilfspflichten sogar in der Regel nicht erzwingbar sind (Elemente des Naturrechts 3, s. o. 201). Rechtlich positivierbar scheinen nur die zwei untersten Dringlichkeitsstufen im obigen Pfeilschema : Andere in Unglücksfällen und Notsituationen ihrem Elend zu überlassen, obwohl man sie mit zumutbar geringem Nachteil

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Anmerkungen des Herausgebers

retten könnte, kann unter den Tatbestand unterlassener Hilfeleistung fallen und als Unterlassungsdelikt geahndet werden. ²⁹ Im folgenden Teil der Untersuchung versucht Leibniz, aus den axiomatisch zugrundegelegten Proportionen des Gerechten und Billigen einige strenge Rechte und einige Normen der Billigkeit abzuleiten, und zwar nach der kombinatorischen Methode, deren Leistungsfähigkeit ihn schon früh faszinierte. Zum kombinatorischen Verfahren vgl. Gerhard Otte : Leibniz und die juristische Methode, in : Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 5 (1983), 1– 21. Der rote Faden, der sich durch den ganzen ersten Teil der Untersuchungen zieht, ist die Frage, wie weit das Naturrecht für bestimmte Übel den Ausgleich durch gleichgewichtige Gegen-Übel erlaubt oder sogar gebietet. Leibniz beginnt im folgenden mit einer Staffelung innerhalb des Kriegsrechts, d. h. des im Naturzustand gültigen Rechts auf die Bestrafung einer Normverletzung des strengen Rechts. Im bürgerlichen Zustand wird dieses Kriegsrecht an den Staat delegiert (s. o. Anm. 72 zur Neuen Methode). Bei der Stufung der verhältnismäßigen Bestrafung von Handlungen sind drei Ebenen zu unterscheiden, die auch im positiven Recht gelten. Leibniz leitet auch sie gegen Ende der Untersuchung aus einer Tabelle ab, die jene drei Grundfähigkeiten des Menschen auflistet, in denen der frühe Leibniz übrigens die Basis der trinitätstheologischen Appropriationenlehre erblickt (vgl. die Adnoten zu Bisterfeld, A VI 1, 156, 8 u. 33) : Hiernach läßt sich beim menschlichen »Können«, das sein Analogon in der Allmacht Gott Vaters hat, ein glückliches oder ungeschicktes Handeln unterscheiden ; beim menschliches »Wissen«, das das Ebenbild der Weisheit des Sohnes ist, ein kluges oder fahrlässiges Handeln ; beim menschlichen »Wollen« schließlich, in dem sich die Liebe des vom Vater und vom Sohn gemeinsam ausgehauchten Geistes spiegelt, ein Handeln aus Rechtschaffenheit oder aus Bosheit (s. o. 191). Diesem Schema gemäß, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, überprüft Leibniz an der vorliegenden Stelle das Strafmaß auf drei Stufen mit abnehmender Schuld. Der Übersichtlichkeit wegen wurden diese drei Abschnitte durch eingeklammerte arabische Ziffern gegliedert. Erstens (1.) geht es um die »vorsätzliche«, d. h. willensbedingte Schuld, bei der wiederum zwei Unterfälle zu unterscheiden sind. Wie die erste Tabelle für die Proportionen des (Un)gerechten zeigt, macht

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sich einer größeren Ungerechtigkeit schuldig, wer andere vorsätzlich schädigt, ohne selbst in Not zu sein, als wer zwar ebenfalls schädigt, jedoch um seines eigenen Wohles willen. Für den ersten Fall einer Schädigung, die gleichsam aus purer Bosheit oder Schadensabsicht geschieht, staffelt Leibniz nochmals drei Binnenstufen, auf denen der böswillig Schädigende dem Geschädigten immer deutlichere Zeichen seiner üblen Absicht gibt. Leibniz verzichtet jedoch darauf, die »Kriegsrechte« oder legitimen Bestrafungen dieser Stufe zu ermitteln. Zweitens (2.) folgen die Fragen zur Staffelung des Strafmaßes bei bloßer Fahrlässigkeit, d. h. in Fällen, daß jemand »schuldhaft einem anderen Schaden zufügt«, ohne diesen jedoch beabsichtigt zu haben. Hier muß die Strafe milder ausfallen als bei übler Absicht. Nach einigen Zwischenbilanzen kehrt Leibniz schließlich wieder auf das Thema zurück und beendet diesen Teil der Untersuchung drittens (3.) mit den Fällen, in denen jemand »ohne Hinterlist und zugleich ohne Schuld«, d. h. aus einem bloßen Mißgeschick heraus (ohne Vorsatz und Fahrlässigkeit) andere schädigt. Hier hat keine Strafe im eigentlichen Sinne mehr zu erfolgen, somit auch das Kriegsrecht keinen Platz mehr. Vielmehr hat bloß eine Entschädigung für den erlittenen Verlust stattzufinden. Hier fragt Leibniz wiederum differenzierter nach, worin die strengen Rechte des Geschädigten bestehen. Klaus Luig : Leibniz’ »Elementa juris naturalis« und ihre Lehre vom Schadensersatz, in : Vorträge des VII . Internationalen Leibniz-Kongresses (Nihil sine ratione), hg. v. H. Poser, Berlin 2001, 2. Teil, 752 – 756, hat darauf hingewiesen, daß der »Gegenstand« dieser ganzen kombinatorischen Fallreihe (1.) bis (3.) »die Lehre vom Schadensersatz im weitesten Sinne« ist (752). Von großer Wichtigkeit für den Stellenwert der ganzen Untersuchung ist auch Luigs Beobachtung, daß Leibniz sich hier »bemüht, die mit der Verursachung und Wiedergutmachung von Schaden verbundenen Probleme der Regelung des Verhältnisses von Verursacher und Geschädigtem neu ohne Bindung an die zu seiner Zeit im Bereich des positiven Rechts gültigen Kriterien von Mein und Dein sowie von Verursachung, Schuld und Zufall von Grund auf neu zu überdenken« (752). ³⁰ Mit diesem zweiten Anlauf, die Gerechtigkeit im Sinne der justitia particularis zu definieren, zieht Leibniz erneut eine Zwischenbilanz, indem er jetzt dem früheren Definiens des Schädigungsverbots

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Anmerkungen des Herausgebers

auch das Hilfsgebot hinzufügt. Doch auch dieser Versuch wird sofort als unzulänglich erkannt. Reduzierte man Gerechtigkeit nämlich auf eine solche Klugheit beim Schädigen und Helfen, so müßte auch die unkluge Vernachlässigung des eigenen Vorteils ungerecht sein. Dies widerspricht jedoch der aristotelischen und allgemein üblichen Vorstellung, nach der Gerechtigkeit eine Tugend »in bezug auf den anderen« ist (Aristoteles : Ethica Nicomachea 1129 b 31 – 1130 a 13). In den Elementen des Naturrechts 4 (s. o. 233) sagt Leibniz ausdrücklich, daß man kein »Unrecht gegen sich selbst begehen« kann. Eine weitere Schwäche dieser Definition zeigt der nächste Satz : Sie liefe auf eine Art Virtuosität im Schädigen hinaus. ³¹ Es besteht kein Zweifel daran, daß nach Leibnizens Auffassung Gott nicht alle Menschen im gleichen Maße liebt. Denn nach dem Prinzip der Maximalharmonie »will Gott dasjenige, was er als das Beste und auch als das am meisten Harmonische erkennt, und dies wählt er gleichsam aus der unendlichen Anzahl aller möglichen Dinge aus« (an Wedderkopf, Mai [ ?] 1671, A II 1, 117, 19 f.). Nun besteht aber Harmonie gerade in der Einheit von Verschiedenem, ja sie ist vielmehr »die Verschiedenheit, die durch Einheit ausgeglichen ist (harmonia est diversitas identitate compensata)« (Elemente des Naturrechts 6, s. o. 317). Mehr noch : »Es gibt keine Harmonie, die nicht aus Gegensätzen lebt (nulla nisi ex contrariis harmonia est)« (an Wedderkopf, Mai [ ?] 1671, A II 1, 118, 7). Zur harmonischen Verteilung der Gegensätze gehört aber theologisch auch die Prädestination, d. h. die unterschiedliche Vorherbestimmung der Menschen durch Gott, der die einen erwählt, die anderen verwirft. ³² Leibniz erläutert diesen Gedanken weiter unten im Text (s. o. 123). ³³ Mit dieser dritten Zwischendefinition der partikularen Gerechtigkeit integriert Leibniz nun auch die Motive gerechten Handelns. Auch hier reduziert er sie, im Interesse an der Bewahrung der Klugheit, rein auf Antriebe der Selbstliebe. ³⁴ Diese vierte Zwischendefinition ist nochmals raffinierter, sofern sie als Definiens auch die kluge Willensbezeugung gegenüber anderen einbezieht. Sie zeigt aber auch, daß Leibniz spätestens hier auf Abwege gerät. Was er hier experimentell für partikulare Gerechtigkeit ausgibt, ist von gerissener Verstellung kaum noch zu unterscheiden.

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³⁵ Eine der bei Leibniz öfter zu findenden Umkehrungen gegen die logisch korrekte Reihenfolge. In der Rhetorik heißen sie »Chiasmen«, weil sie die Figur eines griechischen »Chi (÷)« beschreiben. ³⁶ Gemeint ist : »ohne Vorsatz und ohne Fahrlässigkeit« (Luig : Leibniz’ »Elementa juris naturalis« und ihre Lehre vom Schadensersatz, 754). ³⁷ Leibniz macht hier die Unterscheidung jener zwei Dringlichkeitsstufen oder Schweregrade geltend, die im Pfeilschema zur Tabelle der (un)gerechten Proportionen die 3. und 4. Stufe bilden (s. o. Anm. 26). Der Übersichtlichkeit halber kennzeichnet unsere Zählung (3 a.) die bloßen Schadensfälle, die spätere (3 b.) diejenigen Fälle, in denen die Zufügung von Übeln bis zum Bewirken von Unglück geht. ³⁸ Luig : Leibniz’ »Elementa juris naturalis« und ihre Lehre vom Schadensersatz, 754, weist darauf hin, daß diese Schadensteilung »keineswegs eine neue, eigenständige Idee von Leibniz« ist. Sie findet sich z. B. im Alten Testament (Ex. 21, 35), aber auch bei Grotius : Inleiding tot de Hollandsche rechts-geleertheyd, Rotterdam 1631, III 38, XVIII . ³⁹ Zur »praesumtio juris« s. o. Anm. 24. ⁴⁰ Leibniz setzt hier den Fall, daß sich ein Widder ohne das Verschulden seines Eigentümers vom Weidegrundstück losreißt und in das Grundstück einer anderen Person eindringt, wo er dessen Widder im Zweikampf tödlich verletzt. ⁴¹ Nach Cicero : De oratore, I 181, wurde Mancinius, 137 v. Chr. Konsul in Rom, aufgrund eines Senatsbeschlusses vom Oberpriester an die Numantiner ausgeliefert. Denn er war zuvor mit seinem Heer vor Numantia in einen Engpaß geraten und hatte geglaubt, sich nur durch einen Vertrag mit günstigen Bedingungen für die Numantiner retten zu können. Dieser Vertrag wurde in Rom als Verrat empfunden. Weil die Numantiner Mancinius aber nicht aufnahmen, wurde ihm nach seiner Rückkehr nach Rom das Bürgerrecht aberkannt. ⁴² Betrafen die bisherigen Entschädigungsfragen ( 3 a.) einen Typus von Schaden, der einer Person x durch eine Person y entstanden ist, so betreffen die folgenden Fälle die quaestio juris für diejenigen Fälle, in denen zwei Personen x und y ein Schaden entsteht, und zwar durch eine dritte Person z, die in Leibniz’ Beispiel ein Dieb ist. ⁴³ Leibniz nimmt hier vermutlich an, daß der Eigentümer, d. h. in diesem Falle die 1. Person Singular, am Diebstahl seiner Sache mitschuldig war, indem er die Sache nicht hinreichend verwahrt hat.

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⁴⁴ Gemeint ist, daß er neue Besitzer das Gut mit Wissen darum gekauft hat, daß es gestohlen wurde. ⁴⁵ Der Text ist hier nicht sehr deutlich. Leibniz geht wohl zunächst von dem Fall aus, daß ein Produzent (1. Person Singular) einem Kunden vertraglich die Bearbeitung einer Sache zugesichert hat, dies aber durch eigenes Verschulden nicht leisten kann. ⁴⁶ Wie schon in der Neuen Methode, so ist das »jus merum« auch hier gleichbedeutend mit dem strengen Recht, das sich aus der Natur der Sache und nicht aus historischen Gesetzen ergibt. ⁴⁷ Entsprechend den zwei schwerwiegendsten Stufen 3 und 4 in den Tabellen der gerechten und billigen Proportionen (s. o. Anm. 26 u. 28) und gemäß der Ankündigung zu Beginn des Abschnittes (3 a.) schwenkt Leibniz mit dem Abschnitt ( 3 b.) auf die kombinatorische Kette jener Fälle ein, in denen es nicht mehr um bloßen »Schaden (damnum)«, d. h. relativ äußerliche Beeinträchtigungen von Eigentum, Vermögen oder versprochenen Leistungen geht, sondern um drohendes oder tatsächliches »Unglück (miseria)«, d. h. schwererwiegende Beeinträchtigungen von Gesundheit, Unversehrtheit oder Lebensglück. Damit bekommen auch die Fallbeispiele ein existentiell dramatisches Gewicht. Leibniz beginnt diese neue Reihe mit quaestiones juris, die das Naturrecht bei Notwehr und die strengen Rechte auf Entschädigung bei Körperverletzung usw. betreffen. ⁴⁸ Der Ausdruck »dysarmonicè« steht hier für die Verletzung der in der Ausgangstabelle festgesetzten harmonischen Proportionen (s. o. Anm. 26). ⁴⁹ Im Bannkreis des radikalen Cartesianismus hat Leibniz ungefähr zwischen Herbst 1668 und 1678, allerdings nur in Briefen und niemals öffentlich, die These vertreten, daß Tiere strenggenommen keine Empfindungsfähigkeit haben können. Zur Erläuterung der Motive und Argumente in diesem unrühmlichen Kapitel des frühen Leibniz vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 249 – 260. Leibniz vertritt die These auch in den Elementen des Naturrechts 5 u. 6 (s. o. 247, 303 u. 307 f.). ⁵⁰ Weil Pythagoras und seine Anhänger an die Seelenwanderung glaubten, war die Verletzung und erst recht die Tötung von Tieren für sie tabu. Nach einer Anekdote bei Xenophanes soll Pythagoras selbst einmal des Weges gekommen sein, »als ein Hündchen mißhan-

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delt wurde ; er hatte Mitleid und sagte : ›Höre auf zu schlagen ! Denn es ist die Seele eines Freundes, die ich erkannte, als ich ihre Stimme hörte‹« (in : Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch u. deutsch, hg. v. H. Diels, Berlin 1903; 6. Aufl. hg. v. W. Kranz, 3 Bände, Berlin 1951/ 52, Bd. I, Nr. 21, Fr. B 7). ⁵¹ Nach Sueton : De vita XII caesarum, VII 30, war diese Formel, die sich schon bei Cicero und Seneca findet, der Wahlspruch des römischen Kaisers Gaius Julius Caesar Germanicus, genannt Caligula (12 – 41 n. Chr.), der für seine Gewalttätigkeit berüchtigt war. ⁵² Eine naturphilosophische Erläuterung dieser bemerkenswerten Stelle gibt Leibniz in seinen Erklärungen zum Leib-Seele-Pentagon. Zur Vorstellung vom ›Brennspiegel‹ des Geistes siehe auch die Zusammenfassung in der Einleitung (s. o. XLVIII – LIV ). ⁵³ Lukan : Pharsalia (Bellum civile), I 348 f. ⁵⁴ Die Stelle zeigt, wie Leibniz auch die durch Grotius neu aufgerollten Rechtsfragen zum Krieg im engeren Sinne nun in seine Auffassung integriert, daß das Recht auf Vergeltung im Naturzustand oder nach dem Naturrecht mit dem wohlverstandenen Kriegsrecht zusammenfällt (vgl. Neue Methode, § 73). Im folgenden begründet Leibniz einige seiner zum strengen Naturrecht gehörigen Positionen, die zunächst dasjenige betreffen, was Grotius das »Recht im Kriege (jus in bello)« genannt hatte, später aber auch dasjenige betreffen, was Grotius das »Recht auf Krieg (Jus in bellum)« genannt hatte. ⁵⁵ Die zu Anfang des Absatzes (mit Hilfe des Lukan-Verses) aufgeworfene Frage hat also folgende Antwort gefunden : Eine Verweigerung begrenzter Rechtsansprüche durch eine Person x verleiht der dadurch geschädigten Person y auch nur ein begrenztes Recht auf Bestrafung oder andersgesagt ein Recht ausschließlich auf einen begrenzten oder gemäßigten »Krieg«. ⁵⁶ Ganz parallel zu den früheren Untersuchungen auf dem Schweregrad des Schadens geht Leibniz jetzt auch für die Dringlichkeitsstufe des Unglücks vom Rechtsverhältnis zwischen zwei Personen zum Rechtsverhältnis zwischen mehreren Personen über. Gefragt wird im folgenden nicht mehr : Was darf ich, wenn eine andere Person mich an Leib und Leben beeinträchtigt ? Gefragt wird vielmehr : Was darf ich, wenn ich beobachte, wie eine Person die Unversehrtheit bzw. das Lebensglück einer anderen zu beeinträchtigen droht ? Juristisch ent-

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Anmerkungen des Herausgebers

spricht der Übergang dem Unterschied zwischen den Rechtsfragen zur Notwehr und den Rechtsfragen zur Nothilfe. ⁵⁷ Nicht nur dieser Gedankengang, sondern sogar die Formel »homo aut concilium« zeigt, wie stark Leibniz auf die Staatsphilosophie von Hobbes rekurriert ; vgl. z. B. die Überschrift von Kapitel 6 in De Cive. ⁵⁸ Von den vier Rechtsfragen, die Leibniz in diesem Abschnitt stellt, beantwortet er die zwei ersten sofort. Sie ergeben sich nämlich direkt aus der Tabelle mit den harmonischen Proportionen des Gerechten (s. o. Anm. 26). Leibniz überträgt aber hierfür die in der Tabelle dargestellen Proportionen, die die Güter bzw. Übel zwischen zwei Personen betreffen, auch auf das Verhältnis zwischen drei und mehreren Personen. Die erste Frage ist positiv zu beantworten unter der Prämisse, daß ich mein Privileg der 1. Person gleichsam auf andere Personen übertragen darf, die z. B. als Freunde mein ›alter ego‹ sind : Wenn es laut Tabelle auf dem Schweregrad 2 naturrechtlich erlaubt ist, meinen Vorteil (Nutzen) unter Verhinderung deines Vorteils zu suchen, dann darf ich unter der Delegationsprämisse auch umgekehrt für dich Partei ergreifen und deinen Vorteil suchen, wenn dadurch der Vorteil eines Dritten verhindert wird. Entsprechend muß die zweite Rechtsfrage negativ entschieden werden : Weil es mir nicht erlaubt (weil nicht mehr verhältnismäßig) ist, für meinen Vorteil (Nutzen) deinen Nachteil (Schaden) aktiv herbeizuführen, ist es mir auch nicht gestattet, im Interesse an deinem Vorteil eine Schädigung Dritter zu bewirken. Was die noch offene dritte und vierte Frage betrifft, so widmet Leibniz ihnen wegen ihrer großen existentiellen Bedeutsamkeit größere Aufmerksamkeit. Ihrer Beantwortung gelten die ganzen folgenden Untersuchungen, die sich über zahlreiche Abschnitte erstrecken. Die dritte und vierte Frage sind, wenn auch auf verschiedenen Dringlichkeitsstufen der Ausgangstabelle, der Intention nach sowohl proportionenlogisch als auch personenlogisch äquivalent. Allerdings formuliert Leibniz die dritte Frage einseitig dahin, ob das aktive Zufügen eines Schadens erlaubt sei, während in der vierten Frage ganz offen bleibt, ob das in Kauf genommene Unglück der 2. Person Singular in einer unterlassenen Errettung aus Not oder in einer aktiven Herbeiführung von Unglück besteht. Leibniz bemerkt aber später, daß gerade dieser Unterschied zwischen dem Nicht-Helfen aus einem bereits eingetre-

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tenen Schaden bzw. Unglück, d. h. dem Unterlassen, und dem Zufügen von Schaden bzw. Unglück, d. h. dem Begehen, von erheblichem Gewicht ist. ⁵⁹ Entgegen der Reihenfolge der letztgenannten zwei Fragen geht Leibniz zunächst an die Beantwortung der vierten quaestio. Bei den folgenden Beispielsfällen aus der Seenot geht er davon aus, daß ich auf offener See, womöglich nach dem Untergang eines Schiffes, allein auf einem Rettungsboot bin, andere Personen aber noch im Wasser treiben. Wegen der begrenzten Kapazität meines Bootes kann ich aber beim besten Willen nur eine Person aufnehmen. Angesichts der dramatischen Fälle, die sich aus dieser Situation ergeben können, fragt Leibniz, was ich hier nach strengem Recht, nach Kriterien der Billigkeit und aus Gründen der religiös gebundenen Pietät tun bzw. unterlassen muß, bzw. was ich darf. ⁶⁰ Nach der ersten Stufe des Naturrechts, dem strengen Recht, bin ich im vorliegenden Seenotsfall verpflichtet, so viele Menschen zu retten, wie es mir möglich bzw. zumutbar ist. Nach der Ausgangstabelle der Proportionen des Gerechten ist z. B. »ungerecht«, »was mir in keiner Weise zum Vorteil (Gewinn) gereicht, aber mit einem Nicht-Vorteil (Nicht-Gewinn) für einen anderen verbunden ist«. Folglich verstieße es erst recht gegen die harmonischen Proportionen von Fremdund Eigenwohl, etwas zu tun, was mir keinen Vorteil bringt, aber sogar mit dem Verderben eines anderen verbunden ist. Nach strengem Recht muß ich also retten. Wenn ich aber nur eine von mehreren Personen retten kann und das strenge Recht hier keinen Verbindlichkeitsgrund liefert, ob ich einer bestimmten Person die Rettung in stärkerem Maße schuldig bin als einer anderen, so treten nach der Subsidiaritätshierarchie der drei Naturrechtsstufen die Kriterien der zweiten Stufe, der Billigkeit, in Kraft. Gemäß der Billigkeit aber, die der Maßstab für die distributive Gerechtigkeit im Sinne von Aristoteles ist, haben die Menschen eine unterschiedliche Würde, die ihrem Verdienst entspricht. Deshalb können Erwägungen der Billigkeit möglicherweise aus dem Dilemma helfen, daß ich nicht weiß, welchem von den Schiffbrüchigen ich den Vorzug zur Rettung geben soll. ⁶¹ Als die zum Trojanischen Krieg aufbrechende griechische Flotte im Hafen von Aulis eine lähmende Windstille erfuhr, soll der berühmte Seher Kalchas geweissagt haben, daß erst die Opferung der

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Anmerkungen des Herausgebers

Iphigenie, der Tochter des Oberbefehlshabers Agamemnon, den Zorn der Artemis besänftigen und damit den Wind für die Weiterfahrt gewähren könne ; vgl. Euripides : Iphigenie in Aulis, v. 80 – 93. Leibniz sieht im Entschluß Agamemnons, seine eigene Tochter zu opfern, den Ausdruck eines Rechtsempfindens, das bei der möglichen Rettung von Personen keinen Unterschied zwischen Freund (bzw. Tochter) und weniger Vertrauten macht. ⁶² Leibniz hat sich bis hierher noch keineswegs einer Antwort auf die vierte Frage genähert. Vielmehr hat er zunächst nur noch weitere Fragen nach möglichen Entscheidungskriterien aufgeworfen, die eine Antwort immer problematischer erscheinen lassen. Nicht einmal die Legitimität dieser widersprüchlichen Kriterien wird an dieser Stelle entschieden. Im folgenden wählt Leibniz neue Beispiele, um die obengenannte Zwischenfrage zu entscheiden, ob es naturrechtlich erlaubt sein soll, für die mögliche Rettung des Würdigeren den Unwürdigeren nicht nur zu vernachlässigen, sondern sogar an der Rettung zu hindern. Wie Leibniz erkennt, liegt für den juristischen Tatbestand ein erheblicher Unterschied zwischen »jemandem einen Schaden zufügen« und »jemandem nicht aus einem Schaden heraushelfen«. ⁶³ In den letztgenannten Fällen, die die Vermeidung von Elend betreffen, haben alle Beteiligten dasselbe Recht beim Kampf um das gesundheits- bzw. lebensrettende Mittel, nämlich das Notrecht. ›Not kennt kein Gebot (necessitas non habet legem)‹ – das ist die einhellige Überzeugung im römischen und germanischen Recht sowie im abendländischen Kirchenrecht. Wie Leibniz in den Elementen des Naturrechts 4 (s. o. 225) schreibt, bekennen alle aus einem Munde, »daß dasjenige, was jemand aus der Not heraus getan hat, um die eigene Unversehrtheit zu wahren, zu Recht geschehen zu sein scheint«. ⁶⁴ Es muß betont werden, daß Leibniz diesen Vorschlag für die Rangfolge der zu Rettenden allein unter Gesichtspunkten der Billigkeit macht. Denn die Billigkeit verlangt die Beurteilung nach Kriterien der Würde bzw. des Gemeinwohls. Aus Gründen der Pietät ließe sich dagegen durchaus eine andere Rangfolge denken. Leibniz greift den Fall der Schiffbrüchigen später (s. o. 141) wieder auf, dort jedoch mit der veränderten Fragestellung, ob ich für die Rettung der einen Person auch das Unglück der anderen Person aktiv herbeiführen darf.

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⁶⁵ Leibniz beantwortet mit dem folgenden Satz die dritte der vier oben gestellten Fragen, allerdings ohne weitere Argumentation, sondern allein aufgrund der Symmetrie mit der vierten Frage. ⁶⁶ »Titius« und »Cajus« sind in römischen Rechtstexten fiktive Namen für stellvertretende Personen bei Rechtsfällen. ⁶⁷ Nach dem Notrecht, das Leibniz zum strengen Recht zählt, darf ich um meines Überlebens willen andere in dem Maße verletzen, wie dies unbedingt notwendig ist. So wie ich aber beim SeenotRettungskonflikt gehalten war, die zu rettende Person nach Kriterien der Billigkeit (nach ihrer Würde oder nach ihrer Bedeutsamkeit für das Gemeinwohl) auszuwählen, so bin ich auch in diesem grausamen Kriegsfall, in dem es jetzt um meine eigene Rettung geht, verpflichtet, in umgekehrter Rangfolge denjenigen auszuwählen, dessen Verletzung oder gar Verderben am ehesten gebilligt werden kann, z. B. denjenigen, der so schwer verwundet ist, daß sein Tod ohnehin bald bevorsteht. ⁶⁸ Leibniz beschränkt hiermit die Delegationsprämisse, nach der ich durchaus Partei für den Vorteil anderer Personen ergreifen darf (s. o. Anm. 58), auf die leichtesten Schweregrade. Wenn es dagegen um den Kampf geht, in dem andere Personen gegeneinander um ihre bedrohten Güter oder gar um ihr Überleben konkurrieren, darf ich in diesen gerechten Krieg der Not keineswegs dadurch eingreifen, daß ich einen von beiden aktiv ins Unglück stürze. ⁶⁹ In Leibniz’ durch Hobbes und Grotius erweitertem Verständnis vom Kriegsrecht hat z. B. derjenige einen Kriegsgrund oder ein Kriegsrecht gegen mich, dem ich aufgrund seiner zuvor erwiesenen Wohltaten oder Gefälligkeiten etwas schuldig bin. Versagte ich ihm ohne Grund meine Hilfe zugunsten anderer, so hätte er einen Anspruch auf Bestrafung gegen mich. Leibniz beschreibt dieses Recht auch im nächsten Absatz. ⁷⁰ Seiner kombinatorischen Methode gemäß steigert Leibniz nun nochmals den Komplexitätsgrad bei den Rechtsfragen, indem er die gerechte oder harmonische Proportion zwischen den Gütern und Übeln bzw. zwischen dem Wohl und Wehe nicht nur bei zwei oder drei Personen untersucht, sondern auf beliebig viele Menschen erweitert. Indem jetzt zehn, hundert, ja tausend dramatis personae die Schaubühne der juristischen Kasuistik betreten, steigert sich auch die Tragik der Rettungskonflikte zu grausamer Härte. Erneut staffelt

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Anmerkungen des Herausgebers

Leibniz die Fragen nach den unterschiedlichen Schweregraden 3 und 4, dem bloßen Schaden und dem noch darüber hinausgehenden Unglück oder Elend. Dabei führt die Entgrenzung der Proportionen infolge der Quantität der Personen schließlich zu so großen Problemen, daß Leibniz am Ende auf eine echte Beantwortung der quaestio juris verzichtet. ⁷¹ Leibniz begründet diese Ansicht nicht näher, kann sich jedoch auf seine zu Anfang der Untersuchung festgelegten Proportionen des Billigen stützen. Für die hier behandelten Fälle, in denen die Güter und Übel vieler Personen zu gewichten sind, müßte natürlich wegen der verschobenen Quantitäten die in oben Anm. 28 aufgestellte Tabelle leicht abgewandelt werden. ⁷² Hier bringt Leibniz noch über alle Kriterien der Billigkeit hinaus Erwägungen einer religiös gebundenen Pietät zur Geltung, die allen Gefühlen der verwandtschaftlichen Pietät zuwiderläuft. ⁷³ Mit den folgenden Fragen differenziert Leibniz nochmals den Schweregrad des Unglücks durch verschiedene Fälle. ⁷⁴ Auch dieses Argument, das die Legitimität staatlicher Herrschaft begründet, entlehnt Leibniz wiederum von Hobbes. Er erläutert es zwei Absätze später durch die Einheit von Sicherheitsgarantie und Gehorsamspflicht. ⁷⁵ Ab hier verlagert Leibniz den Schwerpunkt seiner Untersuchungen von Fragen des strengen Rechts stärker auf Fragen der Billigkeit. Die nachfolgenden Absätze bilden dabei immer weniger eine konsequente Argumentationskette, wie bisher, als vielmehr Ergänzungen und Vertiefungen zu bisher nur unzureichend erörterten Zusammenhängen. ⁷⁶ Zur Erläuterung siehe oben (Anm. 28) die Tabelle mit den Proportionen des Billigen und Unbilligen. ⁷⁷ Beim »unschädlichen Nutzen (innoxia utilitas)« handelt es sich um ein im Privatrecht wie im Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts vieldiskutiertes und weitgehend anerkanntes Rechtsprinzip. Das Verdienst, dieses von der Forschung bisher fast unbeachtete Prinzip historisch zu erläutern durch seine Begründung bei Grotius, de Cocceji, Pufendorf, Leibniz, Thomasius, Heineccius und Wolff, gebührt Klaus Luig : Die ›innoxia utilitas‹ oder das ›Recht des unschädlichen Nutzens‹ als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus, in : Men-

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schen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres […], hg. v. H. Neuhaus u. B. Stollberg-Rilinger, Berlin 2002, 251– 266. Luig verweist auch (253) auf eine frühe Wesenserklärung der Maxime, die sie ganz im Sinne von Leibniz explizit als Regel der Billigkeit und nicht des strengen Rechts aufstellt. Es handelt sich um die »Vierte Regel der Billigkeit« von Johann Oldendorp (ca. 1488 –1567) in seinem Traktat Wat byllick unn recht yss (Rostock 1529) : »Wann immer man jemand so helfen und fördern mag, daß solche Förderung andern nicht schädlich sei, das geschieht billig. Wie wenn dein Nachbar in seinem angrenzenden Eigentum etwas gestatten oder geschehen lassen möchte, das ihm ohne Schaden und deinem Gut zum Frommen und Vorteil wäre. Wiewohl du einen mit scharfem Recht dazu nicht drängen könntest, vermag doch die Billigkeit, daß er dich daran nicht hindert. Und wiederum : was einem andern zum Nachteil gereichen kann, das soll von niemand begehrt werden.« ⁷⁸ Leibniz entdeckt hier, daß die Zumutbarkeitsgrenzen bei den billigen Proportionen sich in dem Maße gleichsam erhöhen, wie die Gewißheit der Gegenseitigkeit infolge des Vertrauens wächst. ⁷⁹ Wie Leibniz am Ende des folgenden Absatzes bekennt, grenzt er sich mit seiner sehr eingeschränkten Anerkennung eines Widerstandsrechts gegen Grotius und Arnisaeus (s. u. Anm. 82) ab. ⁸⁰ Leibniz bekräftigt hier die Subsidiaritätshierarchie und zugleich Integrationshierarchie der drei Stufen des Naturrechts, die er in den §§ 73 bis 75 der Neuen Methode skizziert hatte. Wenn man von der Existenz Gottes ausgeht, gebietet nicht nur die Billigkeit, das strenge Recht zu beachten, sondern auch die Pietät, das strenge Recht und die Billigkeit zu beachten, und hierbei erhalten dieselben Forderungen zusätzliche Gründe der Pietät. ⁸¹ Im Rahmen seines theologisch fundierten ›Juriszentrismus‹ hat Leibniz diesen stoischen Gedanken der »respublica universalis« schon früh vertreten. Zur Erläuterung siehe oben die Einleitung (LVI f.). ⁸² Grotius : De jure belli ac pacis, I 4, I –II , bestreitet nur das »unbeschränkte Widerstandsrecht«. Henning Arnisaeus oder Arentsche (ca. 1575 –1636), seit 1612 Prof. der Ethik in Frankfurt a. d. Oder, seit 1613 Prof. der Medizin in Helmstedt, war Erneuerer der Metaphysik und politischer Aristoteliker. Einschlägig für das Widerstandsrecht sind

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Anmerkungen des Herausgebers

seine Schriften De jure majestatis libri tres […], Frankfurt a. d. O. 1610, sowie De autoritate principum in populum semper inviolabili seu quod nulla ex causa subditis fas sit contra legitimum principem arma movere […], Frankfurt a. d. O. 1612. Vgl. auch Doctrina politica in genuinam methodum, quae est Aristotelis, reducta, Frankfurt a. d. O. 1606, Kap. 11. ⁸³ Der folgende Absatz ist ein vertrackter Exkurs in Spezialprobleme des Eigentumsrechts, die mit den vorherigen wie mit den weiterführenden Untersuchungen in keinem wichtigen Zusammenhang stehen. Deshalb wurde der Absatz (A VI 1, 445, 10 – 32) hier weggelassen. Er beginnt mit der Frage : »Ob es erlaubt ist, die eigene Sache, die von einem anderen in Besitz genommen worden ist, heimlich wieder an sich zu nehmen ?« ⁸⁴ Grotius : De jure belli ac pacis, I 3, III 3. Grotius entgegnet hier ebenfalls dem Einwand, daß ich eher mein eigenes Leben lassen müsse, als einen Angreifer in die ewige Verdammnis stürzen zu lassen. ⁸⁵ Gemäß der im vorletzten Absatz genannten theologischen Prämisse. Die zwei folgenden Absätze stellen einen Exkurs zur Staatsphilosophie dar, hängen aber systematisch mit den zuvor behandelten Fragen der Sicherheitsgarantie durch die absolute höchste Macht Gottes und die relativ höchste Macht des irdischen Souveräns zusammen. ⁸⁶ Zur Erläuterung s. o. § 76 der Neuen Methode. ⁸⁷ An dieser Stelle läßt sich das Manuskript nicht deutlicher entziffern. ⁸⁸ Leibniz hat die »Retrotraktion« öfter gestreift, ausführlich aber behandelt in der zweiten Fassung von De casibus perplexis in jure (in : Specimina juris, A VI 1, 419, 421, 426 – 428). ⁸⁹ Der Rokosz (von ungarisch »Rákos«) war eine alljährliche Versammlung der polnischen Adligen in einem »Pferdeparlament (sejm konny)«. Er bildete den Keim für spätere Konföderationen der Adligen und für ihre Aufstände gegen den König. Leibniz kannte sich in der Geschichte und Verfassung Polens recht gut aus. Das beweist seine erste anonyme, im Winter 1668/69 geschriebene Flugschrift zur polnischen Königswahl (Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo Rege Polonorum, A IV 1, 3 – 98). ⁹⁰ Mit diesem Absatz vertieft Leibniz seine Überlegungen zum weiter oben erwähnten Rechtsprinzip der »innoxia utilitas« ; zur Erläuterung s. o. Anm. 77.

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⁹¹ Dig. 6, 1, l. 5, § 2. ⁹² Vgl. Hobbes : De Cive, Kap. 3, 25. ⁹³ Mit der folgenden Geschichte macht Leibniz den Übergang zu längeren Untersuchungen zum Eigentumsrecht. ⁹⁴ Aesopische Fabeln, zusammengestellt (griechisch) und ins Deutsche übertragen von August Hausrath, München 1940 (21944), 68 (Nr. 57). ⁹⁵ Titus Aelius Hadrianus Antoninus, genannt Antoninus Pius (86 – 161) hatte den römischen Kaiserthron nicht seinem jüngeren Sohn Commodus hinterlassen, sondern dem älteren Adoptiv- und Schwiegersohn Marcus Aurelius Antoninus, genannt Mark Aurel (121–180). Dieser erhob jedoch seinen Adoptivbruder Lucius Aelius Aurelius Commodus (161–193) gegen den ausdrücklichen letzten Willen des Vaters zum Mitregenten. So wurde Commodus nach dem Tod Mark Aurels im Jahre 180 Kaiser. Obwohl sein Vater sich stark um seine Ausbildung gesorgt und ihn der Erziehung der besten Lehrer anvertraut hatte, erwies sich Commodus als skrupelloser Tyrann, der zunehmend an seine eigene Göttlichkeit glaubte und sich lieber Gladiatorenkämpfen und Ausschweifungen hingab, als die Amtsgeschäfte wahrzunehmen. Man ermordete den mißratenen Erben in der Nacht zum 1. Januar 193. ⁹⁶ Im Gegensatz zu dem, der »in gutem Glauben (bona fide)« handelt, agiert, wer »in bösem Glauben (mala fide)« handelt, wider besseres Wissen und arglistig. ⁹⁷ An dieser Stelle bricht das erste Teilstück der Untersuchung ab. ⁹⁸ Dig. 9, 1, l. 1, § 11 (cum arietes). ⁹⁹ Vgl. Leibniz’ ausführlichere Begründung der Rechtsentscheidung an früherer Stelle (s. o. 109 f.). ¹⁰⁰ Hier bricht das zweite Teilstück der Untersuchungen ab. ¹⁰¹ Das »pactum nudum« ist im römischen Recht eine Abmachung ohne Klageanspruch. ¹⁰² François de Connan (Connanus) : Commentariorum juris civilis libri X, 2 Bände, Basel 1557. Schon Grotius : De jure belli ac pacis, II 11, 1 ff., hat sich mit de Connans These auseinandergesetzt. ¹⁰³ Aristoteles : Ethica Nicomachea, 1131 a 1– 9 ; 1132 b 32 f. ¹⁰⁴ Leibniz hat diesen Gottesbeweis dargelegt in Teil I seines Bekenntnisses zur Natur gegen die Atheisten. Er faßt ihn am Schluß so

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Anmerkungen des Herausgebers

zusammen : »Da wir aber bewiesen haben, daß die Körper von sich aus keine bestimmte Gestalt und Quantität, erst recht aber keine Bewegung haben können, wenn man nicht ein unkörperliches Wesen unterstellt, so leuchtet leicht ein, daß jenes unkörperliche Wesen ein einziges für alle ist wegen der Harmonie aller Dinge untereinander, insbesondere weil die Körper ihre Bewegung nicht einzeln von ihrem unkörperlichen Wesen her haben, sondern gegenseitig voneinander. Warum aber jenes unkörperliche Wesen eher diese als jene Größe, Gestalt und Bewegung auswählt, kann nicht begründet werden, wenn es nicht einsichtig und wegen der Schönheit der Dinge weise und wegen ihres Gehorsams auf seinen Wink mächtig ist. Ein solches unkörperliches Wesen wird folglich ein Geist sein, der die ganze Welt lenkt, d. h. Gott« (A VI 1, 492, 21– 27). ¹⁰⁵ Um mehr Klarheit für die höchste Naturrechtsstufe, die Pietät, zu gewinnen, setzt sich Leibniz im folgenden mit dem Theologen und Philosophen Tommaso Campanella (1568 –1639) auseinander, dessen Werke er wohl gut gekannt haben muß, wie die vielen Erwähnungen im Frühwerk belegen. Im vorliegenden Kontext ist es der auf Augustinus zurückgehende Gedanke einer Ordnung der Liebe (ordo amoris), dessen konkretes Verständnis bei Campanella Leibniz kritisch prüft. Hierfür zitiert er teils wörtlich, teils sinngemäß aus Tommaso Campanella : Realis philosophiae epilogisticae partes IV , h. e. de rerum natura, hominum moribus, politica (cui civitas soli juncta est), oeconomica, cum annotationibus physiologicis, hg. v. T. Adamus, Frankfurt 1623, und zwar zunächst aus dem Kapitel II: »De sanctitate et vitio opposito«, I 1 (241 f.). ¹⁰⁶ Campanella unterscheidet die »sanctitas«, die den »amor Dei« reguliert, von der »probitas«, die den »amor sui« reguliert. Ist jene Tugend der »Maßstab für das Gefühl gegenüber dem Endziel« oder Gott, so ist diese der Maßstab für »das Gefühl gegenüber unseresgleichen« (Campanella, II , II 1, 245 f.). ¹⁰⁷ Leibniz beendet sein Exzerpt aus Campanella mit der Bezweiflung der Allgemeingültigkeit der von diesem aufgestellten Rangfolge der Güter. Leibniz kann sie aufgrund seiner differenzierten Proportionen zwischen eigenem und fremdem Wohl natürlich nicht anerkennen. ¹⁰⁸ Siehe oben die Ausführungen im letzten Absatz des zweiten Teilstücks (183).

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¹⁰⁹ Auch dieser Gedanke entspricht der Unterscheidung der Schweregrade bei den harmonischen Proportionen des Gerechten. Es ist prinzipiell schlimmer, einen Schaden zu erleiden (durch den Verlust eines gegebenen Gutes) als einen möglichen Vorteil (durch den Erwerb eines neuen Gutes) nicht zu realisieren. ¹¹⁰ Das Analogieschema aus 3 x 3 Elementen gibt eine Ableitung der in der untersten Zeile genannten, für das Verhältnis zwischen Schuldmaß und Strafmaß wichtigen juristischen Unterscheidung zwischen schuldlosem Mißgeschick, Fahrlässigkeit und Vorsätzlichkeit. Leibniz führt diese drei Grade zurück auf ein schlechtes Umgehen mit den drei Grundfähigkeiten des Menschen, die in der obersten Zeile genannt sind. Die mittlere Zeile gibt gleichsam die zur Tugend gesteigerte Habitualisierung einer Grundfähigkeit an : Ein glücklicher Fall ist zumindest oft das Ergebnis von großem Können ; Klugheit die gute Verfassung beim (praktischen) Wissen, Rechtschaffenheit die gute Verfassung des Wollens. Dagegen verdankt sich ein unglücklicher Fall im Sinne eines Mißgeschicks häufig mangelndem Können, fahrlässige Schuld mangelnder Aufmerksamkeit auf das, was man eigentlich hätte wissen müssen, und Bosheit im Sinne von vorsätzlicher Schuld einer üblen Wendung des Willens. Der Zusammenhang des Schemas mit der Trinität einerseits und mit der gegen Anfang der Untersuchung gemachten Staffelung der Strafe bzw. Entschädigungsleistung wird oben in Anm. 29 erläutert. Auch im folgenden Absatz staffelt Leibniz die Art der Schadenseinschätzung nach den drei Graden der Schuld. ¹¹¹ Vgl. 2. Sam. 12, 1– 7. ¹¹² Hier endet das dritte Teilstück der Untersuchungen. ¹¹³ Das hier beginnende vierte Teilstück der Untersuchungen ist Leibniz’ erster erhaltener Versuch, jene Grundbegriffe (und teilweise auch ihre Teilbegriffe) zu definieren, die für die geplante Wissenschaft vom Naturrecht maßgeblich sind. Solche Listen von Definitionen, wie Leibniz sie wenig später in den Elementen des Naturrechts 3, 5 und 6 immer mehr verfeinert, sind für die Geometrische oder Euklidische Methode im Naturrecht, die klare Definitionen verlangt, unverzichtbar. ¹¹⁴ Ganz allgemein ist es ein schwieriges Unterfangen, Leibniz’ lateinische Definitionenliste ins Deutsche zu übertragen, weil zwei

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Anmerkungen des Herausgebers

Sprachen nie dieselben Ausdrucksmöglichkeiten und Bedeutungsgrenzen haben. An dieser Stelle zeigt sich, daß »virtus« nicht durchgängig mit »Tugend« übersetzt werden kann, da Leibniz »virtus« in diesem moralischen Sinne wenige Zeilen zuvor definiert hatte als eine »Ausübung des Willens«, Urteilskraft jedoch keine Perfektion des Willens ist. Einige Zeilen später, bei der Klärung der »virtus moralis«, wird Leibniz nachträglich zeigen, daß er bei seiner vorhergehenden Definition der »virtus« überhaupt ebenfalls nur die moralische oder Charaktertugend vor Augen gehabt hatte, nicht aber die intellektuelle oder Verstandestugend der aristotelischen Tradition. ¹¹⁵ Die von Leibniz befürwortete Reduktion der Gerechtigkeit auf Formen von Klugheit droht ohne die Prämisse der Existenz Gottes und seiner ausgleichenden Gerechtigkeit auf skrupellosen Egoismus hinauszulaufen. Diese böse Konsequenz hatte Leibniz in den Elementen des Naturrechts 1 sorgfältig erwogen. ¹¹⁶ Leibniz spielt hier und im folgenden erstmals jene Unzulänglichkeiten und Aporien in möglichen Definitionen der Gerechtigkeit durch, die er später, in den Elementen des Naturrechts 4 (s. o. 229 – 237), systematisch darlegt. ¹¹⁷ Leibniz trifft hier die wichtige Feststellung, daß im Unterschied zu demjenigen, was von Natur aus gerecht ist, dasjenige, was billig ist, nicht hinreichend durch die allgemeinen Proportionen bestimmt werden kann. (Ähnlich die Bemerkung im nächsten Text, s. o. 203.) Denn der Maßstab der Billigkeit ist einerseits die Distributivgerechtigkeit, nach der jeder die Güter zuerteilt bekommt, die er verdient hat, andererseits aber das Gemeinwohl, zu dem Leibniz nach § 76 der Neuen Methode auch die wirtschaftliche Prosperität oder zumindest Autarkie zählt, weil Armut »üble Leute« hervorbringe. Deshalb darf die insgesamt dem Gemeinwohl zugute kommende Produktion von Gütern nicht behindert werden durch eine kontraproduktive Umsetzung von Billigkeitskriterien in positives Recht. ¹¹⁸ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 455 – 458. Die Überschrift wurde ergänzt. Die Datierung wird in der AkademieAusgabe aus inhaltlichen Gründen angesetzt (A VI 2, 564, 10 –13). ¹¹⁹ Nach der Ethik des Aristoteles beruhen alle ethischen Tugenden auf einer »Mitte (ìåóüôçò) in bezug auf uns«, d. h. auf einer habitualisierten mittleren Gefühlslage, die für eine Wahlentscheidung

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durch Vernunft, wie sie der kluge Mensch treffen würde, am wenigsten Widerstand bietet (Ethica Nicomachea, 1106 b 36 – 1107 a 6). So setzt z. B. die Tapferkeit eine Freiheit sowohl von einem Übermaß an Angst noch von einem Mangel an Realfurcht, die für tatsächliche Gefahren sensibilisiert, voraus. Die ethische Tugend der Gerechtigkeit aber läßt sich nicht hinreichend als eine solche »Mitte in bezug auf uns« verstehen. Denn sie ist direkt auf Proportionen der Gleichheit, d. h. auf sachliche Verhältnisse bezogen, sei es als justitia commutativa auf die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung, sei es als justitia correctiva auf die Gleichwertigkeit von Schuldmaß und Strafmaß, sei es als justitia distributiva auf die angemessene Proportion zwischen Verdienst und zugeteiltem Gut (siehe Abb. 2 in der Einleitung, LXXI ). ¹²⁰ Diese Auffassung der Gerechtigkeit, mit der Leibniz Aristoteles besser verstehen will, als dieser sich selbst verstand, kann sich nirgendwo auf Aristoteles selbst stützen. Später, in den Elementen des Naturrechts 4, läßt er sie als unzulänglich fallen (s. o. 231). ¹²¹ Nämlich nach dem Notrecht, das Leibniz durch den dritten gerechten Fall seiner Proportionentabelle in Elemente des Naturrechts 2 (s. o. 99) formuliert. ¹²² Bei der Formel »virtus amandi seu amicitiae« handelt es sich um einen späteren Zusatz (A VI 2, 568, 38 f.). ¹²³ Alle diese Definitionsversuche zeigen, wie Leibniz versucht, die spezifischen Proportionen der Billigkeit auf eine abstrakte Formel zu bringen, auch wenn er selbst zuvor bemerkt hat, daß dies »nur sehr schwer« möglich ist. ¹²⁴ Die Begründung liegt darin, daß es sich bei der Notgemeinschaft in einem Schiff um eine staatsanaloge Gesellschaft handelt, in der das Sicherheitsinteresse aller nur durch einen vertragsähnlichen Konsens geregelt werden kann. ¹²⁵ Daß beim Schweregrad der Not, bei dem es um Unglück bzw. drohenden Tod geht, auch der einzelne dem anderen das Überflüssige rauben darf, z. B. durch Mundraub, ergibt sich aus dem Notrecht. ¹²⁶ Anders als bei den Seenotsfällen in den Elementen des Naturrechts 2, bei denen es sich um Rettungsdilemmata bei unzureichender Aufnahmekapazität sowie um die mögliche Erlaubnis von Bevorzugungen drehte, geht es hier allein um die Rettung der eigenen Person,

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Anmerkungen des Herausgebers

die nach dem Notrecht, das zum strengen Recht gehört, aber sogar nach den Proportionen der Billigkeit erlaubt ist. ¹²⁷ Eine Erläuterung des ganzen Absatzes gibt die Einleitung (s. o. XCVIII f.). Wie schon bei den Rettungskonflikten mit 10, 100 oder 1000 Personen in den Elementen des Naturrechts 2 geht Leibniz auch hier davon aus, daß sich allein durch die Quantität der Personen andere Proportionen zwischen Eigen- und Fremdwohl ergeben als bei nur zwei Personen. ¹²⁸ »Conatus« ist ein schwer zu übersetzender Schlüsselbegriff in Leibniz’ früher Naturphilosophie. Leibniz übernimmt ihn von Kepler und Hobbes, um damit das gegen unendlich kleine Moment der Bewegung zu bezeichnen, das sich strenggenommen nicht in einer Zeitstrecke entfaltet, sondern nur in einem Zeitpunkt besteht. In Leibniz’ früher ›Psychophysik‹ bildet der »conatus« den Übergang des seelischen Mittelpunktes einer Monade in die Winkelradien. (Zur Erläuterung s. o. Anm. 41 zum Pentagon.) Weil es an der hier gegegeben Stelle nicht um die äußere Bewegung, sondern um die korrespondierende psychische Regung geht, scheint »Antriebsmoment« die am wenigsten schlechte Übersetzung. ¹²⁹ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 459 – 465. Die Überschrift wurde ergänzt. Das Konzept ist »nicht mehr […] als Vorarbeit, sondern als die erste Fassung des Anfangs der Elementa juris naturalis selbst zu betrachten« (A VI 2, 564, 14 –16). ¹³⁰ Leibniz beginnt seine Einleitung mit einer beeindruckenden, im erhabenen Stil verfaßten Charakteristik des neuen Zeitalters der Entdeckungen und Erfindungen. Hierfür entlehnt er einige Topoi von Francis Bacon : Novum Organum, I Aph. 84 f. u. 129 (Works I 190 f. u. 221– 223). Die erste Anspielung gilt der Eindeichung der Küsten, der damit gelungenen Wiedergewinnung von »geraubtem« Land sowie der Erschließung von Meer und Land für den Verkehr durch Hebebrükken und Dämme. ¹³¹ Mit dem geschliffenen Gläschen (ursprünglich meint »lapillus« ein Steinchen, dann auch den Lesestein »Beryll«) spielt Leibniz auf die Erfindung des Teleskops an, mit dem seit den bahnbrechenden Entdekkungen Galileis die Himmelserscheinungen für den Menschen nähergerückt waren. Nachdem 1608 von niederländischen Brillenmachern das dioptrische Refraktor-Teleskop konstruiert worden war, konnte

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Galilei schon im August 1609 mit einigen venezianischen Ratsherren den Turm von San Marco besteigen, um ihnen mit seinem selbstkonstruierten »perspicillum« von 32facher Vergrößerung einen faszinierenden Eindruck von der technischen Bezwingung ferngelegener Objekte zu geben. Was der Himmel unserem natürlichen »Auge verbirgt«, konnte also seitdem durch künstliche Linsen »vervollständigt« werden : z. B. die Mondgebirge, Saturnringe, Sonnenflecke oder Jupitermonde, die Galilei in seinem Sidereus Nuncius (1610) beschrieben hatte. ¹³² Die komplementäre technische Revolution zum Fernrohr stellt die Erfindung des Mikroskops dar. »Verschärfte Blicke ins Innere der Dinge« waren 1590 von den holländischen Brillenmachern Z. und H. Janszen durch ein zweilinsiges Mikroskop geworfen worden, bevor Jan Swammerdam um 1658 und Marcello Malpighi um 1661 (hier bereits mit 180facher Vergrößerung) ihre Untersuchungen von Blut und Lungengewebe durchführten. Der frühe Leibniz hat sich hier u. a. auf die Beobachtungen und Gedanken gestützt, die er fand bei Robert Hooke : Micrographia : or some physiological descriptions of minute bodies, London 1665 ; vgl. Leibniz an Thomasius, 20./30. April 1669, A II 17, 29 – 31. ¹³³ Leibniz greift hier das Diktum des Horaz : Oden, III 30, auf, daß große Dichtung ein »monumentum aere perennius« darstelle, und überträgt das allgemein auf die Bewahrung des Wortes durch schriftliche Fixierung. Seit der Verbreitung des Buchdrucks durch Gutenberg ab 1440 ist diese dauernde Gegenwart des historisch geäußerten Wortes, die das Gespräch der großen Geister über die Zeiten hinweg ermöglicht, abgesichert worden durch mechanische Vervielfältigung. ¹³⁴ Gemeint sind die Versuche einer mathematischen Berechnung der Planetenbahnen, deren »geheime« elliptische Umläufe insbesondere durch die Messungen Tycho Brahes und Keplers (um 1600) beschrieben wurden. ¹³⁵ Gemeint sind Verfahren zum Erhitzen und Schmelzen fester Stoffe, insbesondere von Metallen, durch die auf chemischem Wege Umwandlungen und Verbindungen künstlich erzeugt werden können, so daß die Kräfte verschiedener Elemente freigesetzt werden. Im Brief an de Carcavy, 22. Juni ( ?) 1671, nennt Leibniz den »Stahl (chalybs)« das moderne »Werkzeug aller Werkzeuge (—ñãáíïí “ñãÜíùí)« für Krieg und Frieden der Staaten (A II 1, 130, 13 f.).

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Anmerkungen des Herausgebers

¹³⁶ Leibniz entdeckt hier, daß die eigentliche Sprengkraft weniger im Schießpulver selbst zu sehen ist, das seit dem 13. Jahrhundert in Europa bekannt und technisch verbessert worden war, als vielmehr in dem Willen des Menschen, der sich dieser explosiven Kräfte bemächtigt. ¹³⁷ Leibniz stellt hier seine Entwürfe zum Naturrecht in die Tradition der »medicina animi« bzw. »medicina mentis«, die in Anknüpfung an Platon und Epikur seit Cicero : Tusculanae, III 1, als notwendige Ergänzung zur Körperheilkunde gefordert wurde. Leibniz reduziert diese geistige Arznei nicht etwa, wie zahlreiche Nachfolger, auf die formale Logik, sondern begreift sie als Wissenschaft von den Bedingungen für das Gemeinwohl. Die naturrechtliche Ethik ist so gewissermaßen eine Lehre von der richtigen Verbindung des einzelnen als eines Gliedes mit dem politischen Sozialkörper. ¹³⁸ Mit der Formel von den »vera Politicae arcana« spielt Leibniz auf die Lehre von den geheimen Mitteln zur Durchsetzung der Staatsräson an, die seit Beginn des 17. Jahrhunderts in der Politiktheorie entwickelt wurde. Bahnbrechend war hier das Werk des Altdorfer Juristen Arnold Clapmarius : De arcanis rerum politicarum libri sex, Bremen 1605, u. ö. Er unterscheidet die geheimen Kunstgriffe zur Erhaltung des Souveräns (arcana dominationis), des Herrschergeschlechts (arcana domus) sowie des Staates und seiner Verfassung (arcana imperii). ¹³⁹ Die Stelle ist als Chiasmus zu lesen. Wie Leibniz nämlich im Brief an Conring (s. o. 325) darlegt, ist die Politik die Wissenschaft vom »Nützlichen« im Sinne des öffentlichen Wohls oder Gemeinwohls. Ihr ist die Naturrechtsstufe der Billigkeit zugeordnet. Die Ethik dagegen, die Leibniz mit dem von Natur aus »Gerechten« ausschließlich im Sinne des strengen Rechts gleichsetzt, ist die Wissenschaft vom Privatwohl, da es beim strengen Recht ja lediglich um die Sicherheit des einzelnen an Leben und Eigentum geht. ¹⁴⁰ Wie Bacon und Descartes sieht auch Leibniz nur in der Reflexivität des Wissens die Garantie für seine kontrollierte Anwendbarkeit. Erst das Bewußtsein von der methodischen Verfügbarkeit über bestimmte Kenntnisse sichert ihren Charakter als nutzbares Herrschaftswissen. ¹⁴¹ Leibniz hatte das Problem des philosophischen Stils im Kontext von Argumentation und Rhetorik, Klarheit und Eleganz, behandelt

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in der Einleitung zu seiner neuen Edition von Marius Nizolius : De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos libri IV , hg. v. G. W. Leibniz, Frankfurt 1670 (A VI 2, 398 – 476, insb. 408 – 421). ¹⁴² Mit der Unterscheidung zwischen Erfahrungswissenschaften und a priori konstruierenden Vernunftwissenschaften, die sich auch bei Hobbes findet, bringt Leibniz bereits seine später elaborierte, berühmte Unterscheidung zwischen den »verités de fait« oder Tatsachenwahrheiten und den »verités de raison(nement)« oder Vernunftwahrheiten ins Spiel (vgl. z. B. Monadologie 33, GP VI 612). Wie die folgenden Sätze darlegen, sind die Axiome der Logik und Mathematik ebenso wie die höchsten Prinzipien der Rechtswissenschaft (einschließlich der in den Elementen des Naturrechts 2 dargelegten Proportionen) von ewiger Gültigkeit, weil sie niemals durch die Empirie falsifiziert werden können und ihre Wahrheit rein analytisch durch die Unmöglichkeit ihres Gegenteils dargetan werden kann. – Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 153, 154, schreibt zu diesem Passus : »Noch einmal rauscht in reinen, vollen Akkorden die breite Thematik der platonischen Ideenlehre für das Naturrecht auf.« »In der ganzen Naturrechtslehre gibt es keinen Denker, der der platonischen Ideenlehre für das Recht einen so reinen und unverfälschten und zugleich einen so glanzvollen Ausdruck gegeben hat wie Leibniz.« ¹⁴³ Bei seiner geistesgeschichtlichen Verknüpfung der Platonischen »Idee« und des Descartesschen Evidenz-Ideals des »clare et distincte« für das Wesen der Definition kann sich Leibniz durchaus auf Stellen bei Platon selbst stützen (z. B. Respublica 507 b), wie es Cassirer im Anschluß an Mollat erläutert hat (in : G. W. Leibniz : Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, Hamburg ³1966, Philos. Bibliothek Meiner, Bd. 497, 504 f., Anm.). ¹⁴⁴ Leibniz erläutert das im Brief an Chapelain (s. o. 365). ¹⁴⁵ Mit seinem Postulat, die klaren Definitionen wissenschaftlicher Grundbegriffe aus der Beobachtung der gewöhnlichen Wortverwendungsweise zu gewinnen, nimmt Leibniz bereits eine charakteristische Vermittlungsposition zwischen den Extremen ein, die in der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts durch die »ideal language«und die »ordinary language« philosophy markiert sind. Nach Leibniz muß erst die ordinary language untersucht werden, damit sich reine

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Anmerkungen des Herausgebers

Begriffe für eine Idealsprache abstrahieren lassen. Zum Leibnizschen Programm, gerade um der logischen Deutlichkeit willen eine exakte Terminologie der Wissenschaften aus der Sprache des »gemeinen Lebens« zu entwickeln, vgl. die Einleitung zu Nizolius, insb. A VI 2, 408, 24 ff. Hier tadelt Leibniz die abstrakte und schwülstige Schulterminologie und plädiert für die »dicendi […] ratio naturalis«, die ohne Verdrehung und Schminke und daher »facilis et popularis« sei. Vgl. auch den aufschlußreichen Passus über die Alltagssprache als Ariadnefaden aus dem Labyrinth der scholastischen termini technici in § 6 der deutschsprachigen Meditation Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen, A VI 1, 538, 11– 29. ¹⁴⁶ S. o. Anm. 141. ¹⁴⁷ Mit der Anspielung auf das »jus necessitatis« kann sich Leibniz in der Tat auf den Konsens berufen, der sowohl im römischen und germanischen Recht als auch in den meisten Naturrechtstheorien seit der Antike darüber besteht. Er artikuliert sich im Rechtssprichwort »Not kennt kein Gebot (Necessitas non habet legem)«. Bei Grotius : De jure belli ac pacis, I 2, III , sind die klassischen Stellen versammelt. ¹⁴⁸ Leibniz stellt sich hiermit in den Konsens der prudentiellen Tradition in der Ethik und im Naturrecht, die seit Aristoteles die »dianoetische Tugend« der »Klugheit (öñüíçóéò)« zur intellektuellen Kardinaltugend für edles und gerechtes Handelns macht (Ethica Nicomachea 1141 b ff.) oder gar wie Thomas von Aquin die »Klugheit (prudentia)« als »Mutter der Tugenden (genitrix virtutum)« versteht (Scriptum super libros sententiarum, 3, d. 33, 2,5). Die Identifizierung der Klugheit mit der »rechten Einsicht (“ñè’ò ëüãïò, recta ratio)« ist durchaus im Sinne des Aristoteles (Ethica Nicomachea 1144 b 28 ; vgl. 1103 b 34 ; 1138 b 20 – 34). Allerdings versteht Leibniz, im Unterschied zum ethisch gebundenen Klugheitsbegriff der aristotelischen Tradition, die Klugheit weitgehend als Rationalität im Dienste des aufgeklärten Selbstinteresses. Zur Unabtrennbarkeit der Gerechtigkeit von der Klugheit siehe auch die Parallelstellen in den Elementen des Naturrechts 1 (s. o. 91 f.) und im Brief an Conring (s. o. 329). ¹⁴⁹ Mit diesem Satz formuliert Leibniz die kardinale Prämisse seiner Anthropologie : die Unübersteigbarkeit der Selbstliebe. Hiernach ist auch die Liebe zu anderen nur eine Verfeinerung der Selbstliebe. Allerdings darf man die adverbiale Bestimmung »absichtlich« nicht

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außer acht lassen. Leibniz räumt damit die Möglichkeit ein, daß es beim Handeln, z. B. in Hilfssituationen, durchaus eine uneigennützige Motivation gibt, die sich zwar ebenfalls aus unbewußten Quellen der Selbstliebe speist, nicht aber irgendeinen eigennützigen Zweck mit der Hilfeleistung verfolgt. Einige Absätze später wird Leibniz diese Möglichkeit einer uneigennützigen und doch nicht selbstlosen Motivation verdeutlichen durch die Unterscheidung zwischen symbiotischer und instrumenteller Einstellung. In Leibniz’ Überzeugung, daß auch der edelste Mensch letztlich den Zirkel seiner Selbstliebe nicht durchbrechen kann, läßt sich zum einen eine philosophische Aneignung des Theologumenons der Erbsünde sehen. Zum anderen fand Leibniz die unübersteigbare Selbstbezogenheit der sittlichen Praxis aber auch im Philautia-Kapitel des IX . Buches der aristotelischen Ethik skizziert. (Vgl. seine Anmerkung zu Thomasius’ Referat des aristotelischen amor sui ipsius (A VI 1, 63, 31.) Nach Aristoteles : Ethica Nicomachea 1168 a 33 f., widerspricht die Ansicht, daß der Edle nur »um des Guten und des Freundes willen« handle, »das Seinige aber vernachlässige«, den Tatsachen. Denn durch die Identifikation mit dem Guten stärke er auch das eigene Selbst und »gewinne« somit. Wegen der unzerreißbaren Einheit von intendiertem Guten und Selbstvervollkommnungsstreben, actio und voluptas (A VI 1, 62, 4 – 8), verläuft die moralisch entscheidende Grenzlinie nicht etwa zwischen einer vom Makel der Lust affizierten Selbsthaftigkeit und einer über alle Lust erhabenen Selbstlosigkeit, sondern zwischen ethisch niedrigen und höherwertigen Stufen der Lust, zwischen einem niederen und einem höheren Selbst, zwischen den im ethisch relevanten Augenblick hinderlichen Gelüsten und der geistigen Freude am Glück anderer, zwischen dem bloßen Glück und der nur im Bewußtseinshintergrund liegenden, habitualisierten Erwartung von Glückswürdigkeit. ›Selbstüberwindung‹ kann deshalb nur heißen : Überwindung bestimmter eigennütziger Interessen, nicht jedoch der Selbsthaftigkeit als solcher. ¹⁵⁰ Diese berühmte Definition der geistigen Liebe hatte Leibniz bereits im Frühjahr 1669 entwickelt und in der Flugschrift zur polnischen Königswahl artikuliert : »Amare est delectari alterius bonis.« Auch hatte er den Gedanken dort näher begründet, den er vorstellt als »nostra Amoris definitio, quae consistat in congaudendo bonis alte-

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Anmerkungen des Herausgebers

rius, condolendo malis« (A IV 1, 34, 27 – 35, 10). Leibniz wird an seiner frühen Definition der Liebe bis zum Lebensende festhalten (vgl. etwa die Beilage zum Brief an Coste von 1706, GP III 387). ¹⁵¹ Im folgenden prüft Leibniz insgesamt 23 Definitionen des Gerechten bzw. der Gerechtigkeit durch, die entweder in der Geschichte des Gerechtigkeitsdiskurses oder von ihm selbst früher vertreten wurden. In einem apagogischen oder negativen Beweis führt er jede dieser Definitionen durch ein zuwiderlaufendes Beispiel ad absurdum und weist so ihre begriffliche Unzulänglichkeit nach. Dabei stellen sich die durchgemusterten Definientien nicht etwa als falsch heraus, sondern bloß als einseitige Merkmalsfixierungen, bei denen die Begriffsgrenzen entweder zu eng oder zu weit oder tautologisch formalistisch oder aber vitiös zirkulär sind. Ihr Fehler besteht darin, daß sie positiv sind, d. h. nicht in die normenfindende und einschätzende Innerlichkeit der gerechten Einstellung integriert sind. In Leibniz’ späterer Definition als der »Liebe des Weisen (caritas sapientis)« lassen sich dagegen fast alle der durchgemusterten Merkmale ohne einseitige Fixierung integrieren. Nicht stark genug betont werden kann, daß Leibniz im hier vorliegenden Text, im Unterschied zu den provisorischen Definitionsbilanzen in den Elementen des Naturrechts 2, die Gerechtigkeit nicht auf dem bloß eigenützigen Klugheitsniveau der partikularen Gerechtigkeit zu bestimmen sucht, sondern auf der Höhe der alle Einzeltugenden umfassenden universalen Gerechtigkeit. Die gesuchte (und in der Liebe gefundene) Definition muß also eine innere Einstellung beschreiben, die nicht nur die Ulpianschen Rechtsvorschriften Niemanden schädigen und Jedem das Seine zuteilen beherzigt, sondern darüber hinaus auch das Ehrenhaft leben. ¹⁵² Erwiesen sich die bisherigen Definitionen des Gerechten als entweder zu eng oder zu weit, d. h. vernachlässigten sie die Differenziertheit der von Leibniz eingesehenen Proportionen des Gerechten, so stellen sich die folgenden Begriffsbestimmungen entweder als zirkuläre »petitiones principii« dar, die bereits jene Gerechtigkeitsnorm voraussetzen, die sie allerst zu geben beanspruchen, oder als leere Formalismen, die, wie die Goldene Regel, zwar zutreffende Gegenseitigkeitserwartungen formulieren, nicht aber wirklich begriffliche Kriterien dessen, was gerecht ist. ¹⁵³ S. o. Anm. 11.

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¹⁵⁴ In der Neuen Methode, § 71 f., hatte Leibniz diese Begriffsbestimmung den Stoikern und Grotius zugeschrieben. ¹⁵⁵ Dieser Kritikpunkt ist genaugenommen schon angelegt bei Aristoteles : Magna moralia 1198 a 12 – 21. Die altakademische Definition der Tugend als »gemäß der rechten Einsicht handeln (êáôN ô’í “ñè’í ëüãïí ðñÜôôåéí)« sei zu unspezifisch, weil man das Edle auch zufällig und ohne entsprechende Einstellung tun könne. Um zugleich auch den moralischen Habitus des Gerechtigkeitssinnes zu integrieren, müsse man die Tugend vielmehr definieren als ein Handeln »mit rechter Einsicht (ìåôN ëüãïõ)« (vgl. Ethica Nicomachea 1144 a –1145). ¹⁵⁶ Die merkwürdige Definition, die Leibniz auch in den Elementen des Naturrechts 2 durchgespielt hatte (s. o. 107) und mit der er sogar noch in den Elementen des Naturrechts 3 liebäugelt (s. o. 201), kann sich keineswegs direkt auf Aristoteles berufen. ¹⁵⁷ Zur Erläuterung s. o. Anm. 119. ¹⁵⁸ Die Stelle zeigt deutlich, daß die von Leibniz gesuchte Definition der universalen Gerechtigkeit sowohl »dianoetische«, d. h. intellektuelle oder Verstandestugenden, als auch »ethische«, d. h. moralische oder Charaktertugenden einschließen muß. Ungerecht im universalen Sinne ist auch, wer zwar die moralische Tugend der Freigebigkeit besitzt, dabei aber die intellektuelle Tugend der Klugheit vermissen läßt, so daß er »auf törichte Weise« freigebig handelt. Deshalb wird Leibniz in seiner späteren, endgültigen Definition (der »caritas sapientis«) sowohl die moralische als auch die intellektuelle Dimension berücksichtigen. ¹⁵⁹ Zur Erläuterung s. o. Anm. 30. ¹⁶⁰ Leibniz sieht in der besagten Definition also eine dreifache Unzulänglichkeit. Erstens setzt das bereuende Gewissen erneut schon eine Normkenntnis davon voraus, was als gerecht oder ungerecht zu gelten hat, so daß wiederum ein vitiöser Zirkel in der Definition auftaucht. Zweitens aber verliert das Gewissen sogar seine ethische Bedeutung, wenn es zum bedrückenden Bewußtsein einer begangenen und inzwischen bereuten Tat überhaupt verallgemeinert wird, so daß es auch z. B. den Ärger über eine versäumte Möglichkeit zu unrechtmäßiger Übervorteilung einbegreifen müßte. Drittens widerspricht die Definition dann erneut dem Gedanken, daß es Gerechtigkeit nur in bezug auf andere gibt.

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Anmerkungen des Herausgebers

¹⁶¹ Zur Unzulänglichkeit aufgrund der erneuten Zirkularität käme noch eine weitere Schwäche hinzu. Würde die Vermeidung von Angst vor der Bestrafung durch den göttlichen Richter zum Motiv des Handelns, so verkehrte sich der Wille zur gerechten Zuwendung in das unlautere Duckmäusertum vor einem rächenden Gott. ¹⁶² Es ist schwer zu ermitteln, auf wen genau sich Leibniz hier bezieht. Nach dem obigen Stichwort vom »lohndienerischen (mercenarischen)« Verhältnis zur Gerechtigkeit dürfte er – über das große Vorbild Augustinus hinaus – besonders diejenigen Theologen im Auge haben, die, wie Hugo von St. Viktor, beim frühscholastischen Streit innerhalb der christlichen Liebesethik die Vorstellung eines gänzlich selbstlosen »amor purus« oder »amor gratis« (wie ihn z. B. Bernhard von Clairvaux vertrat) zurechtrücken wollten, ohne umgekehrt dem »amor mercenarius« das Wort zu reden. Hugo von St. Viktor : De sacramentis christianae fidei, II , referiert etwa gewisse »stulti« (»tam stulti, ut seipsos non intelligant«), die folgendes Selbstlosigkeitsideal fordern : »in tantum […] excutimus manus ab omni munere, ut etiam ipsum non quaeramus, quem diligimus. Pura enim et gratuita […] dilectione diligimus, nihil quaerimus.« Alle Liebe hingegen, die überhaupt irgendetwas begehre, sei bloßer »amor […] mercenarii et servi«, der für Dienst auf Lohn ausgehe. Auf diese entrückten Vorstellungen von Menschenund Gottesliebe, die nicht einmal »für etwas Sorge trage (curare)«, erwidert Hugo, daß er selbst ungern so geliebt werden möchte, und stellt folgendes richtig. »Aliud est pro ipso, aliud in ipso (amare). Si pro ipso aliquid amas, mercenarius ; si in ipso amas et ipsum amas, filius es.« Lohndienerei liegt also nur dort vor, wo »anstelle« des Wohles der anderen Person »etwas anderes«, d. h. irgendeine Leistung begehrt wird. Hugos Korrektur »non aliud ab ipso (velle), sed ipsum, hoc est gratis« ist mit der Leibnizschen Idee vom bonum alienum per se expetitum eng verwandt (Migne, Patrologia latina 176, 534 f.). Eine gute Darstellung von Leibniz’ späterer Standpunktnahme (nach 1690) im Streit um die interessenlose Liebe gibt Emilienne Naërt : Leibniz et la querelle du pur amour, Paris 1959. Zur Unterscheidung eines affirmativen und eines kritisierten Begriffs von ethischem »désintéressement« beim späteren Leibniz vgl. Louis Le Chevallier : La morale de Leibniz, Paris 1933, 158 f. Ähnlich wie an der vorliegenden Stelle schreibt Leibniz später in der

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Vorrede zum Codex juris gentium diplomaticus : »Amare autem sive diligere est felicitate alterius delectari, vel quod eodem redit, felicitatem alienam asciscere in suam. Unde difficilis nodus solvitur, magni etiam in Theologia momenti, quomodo amor non mercenarius detur, qui sit a spe metuque et omni utilitatis respectu separatus : scilicet quorum felicitas delectat eorum felicitas nostram ingreditur, nam quae delectant per se expetuntur« (GP III 387). John Hostler : Leibniz’s Moral Philosophy, New York 1975, 47 f., hat Leibniz’ Vermittlung von »egoism and altruism« im Vergleich zu den Vorgängern so zusammengefaßt : »Leibniz’ solution to the problem […] hinges upon the logical point that my good, though the formal object of the will, need not be coextensive with its material object ; for that may be good for others as well as for myself«. Albert Heinekamp : Das Glück als höchstes Gut in Leibniz’ Philosophie (Kant-Studien, Ergänzungsheft 98), Bonn 1969, 102, spricht glücklich von einer »Selbstbezogenheit des Handelns« ohne »egoistischen Charakter«. ¹⁶³ Leibniz kritisiert eine nach seiner Ansicht verhängnisvolle Begriffsverwirrung, die der stoischen Abwehrhaltung gegen Epikurs Philosophie der Lust entsprungen ist. (Diogenes Laertius : De vitis, X 3 – 6, referiert diese stoischen Diskriminierungen des hedonistischen »Wollüstlings«, die Gassendi erst spät richtigzustellen suchte.) Leibniz macht die falsche Disjunktion von Lust und Ehrenhaftem nicht zu Unrecht an Cicero fest, obwohl er in den Elementen des Naturrechts 1 konstatierte, daß Cicero keinen Gegensatz zwischen Vorteilhaftem und Ehrenhaftem sah (s. o. 91). Denn obwohl sich Cicero de facto nur gegen die Verabsolutierung des Sinnengenusses gegenüber der Pflicht wendet, läßt sich de verbo immer wieder zu Schmähungen der Lust überhaupt hinreißen. So heißt es z. B. in De officiis, III 119, »daß jegliche Lust der Ehrenhaftigkeit entgegengesetzt ist (omnem voluptatem honestati esse contrariam)«. Tatsächlich meint Cicero stets nur die niedrige bzw. im ethisch entscheidenden Augenblick unangebrachte Lust. Leibniz entdeckt aber zugleich, daß der »Feind der Lust« sich selbst nicht richtig verstehen kann, weil er übersieht, daß auch das »gaudium animi« (De finibus, II 98) der Tugend und Ehre eine Form gleichsam höherer, sittlich gerechtfertigter Lust oder Freude darstellt. ¹⁶⁴ Leibniz’ Insistieren auf der unüberspringbaren Ökonomie der Lust in der moralischen Selbstachtung sieht bei der tätigen Liebe das

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Anmerkungen des Herausgebers

Wohl des anderen nicht etwa als bloßes Mittel zur Steigerung der eigenen Lust an. Deshalb ist es sehr mißverständlich, wenn man mit Kabitz : Philosophie des jungen Leibniz, 107, behauptet, Leibniz gebe »dem Hedonismus sozusagen die religiös-metaphysische Weihe«. Ein praktischer Hedonismus bestünde nicht schon in der Unabtrennbarkeit des sittlichen Handelns vom Motivationshorizont des Glücks und der Lust, sondern erst in jenem verantwortungslos unbeherrschten Umgehen mit eigener und fremder Lust, das Leibniz in der Notiz zum Pentagon als ein Kennzeichen schwacher Charaktere beschrieben hatte (s. o. 19 f.). Ferner läge er in der Verfälschung der sittlichen Motivation durch eine handlungsvorgängige Reflexion auf die lustvolle Rückwirkung des eigenen Tuns. ¹⁶⁵ Zum Vergleich des Geistes mit einem reflektierenden Spiegel, der auch in Leibniz’ Spätphilosophie zentral bleibt (vgl. etwa Discours de métaphysique 9, A VI 4, Teil B, 1541 f. ; Monadologie 56, GP VI 616), siehe außer dem Leib-Seele-Pentagon auch Elemente des Naturrechts 2 (s. o. 123). ¹⁶⁶ Zu diesen befremdlichen Ausführungen s. o. Anm. 49. ¹⁶⁷ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 465 – 480. (Verwiesen sei auf die bei diesem Stück ganz besonders umfangreichen Zusätze in den Lesarten, die hier nicht aufgenommen werden, A VI 2, 566 – 568.) Die Überschrift wurde ergänzt. Nach Einschätzung der Herausgeber der Akademie-Ausgabe ist das Schriftstück »gleichfalls als ein Teil der ersten Fassung der Elementa juris naturalis selbst aufzufassen. Es ist wohl als Hauptteil der Schrift gedacht gewesen, ist aber ebensowenig […] vollendet worden« wie III 4 (A VI 2, 564, 21– 23). Angesichts des in der Einleitung (s. o. CI ) referierten Plans von Leibniz sollte man den Text jedoch genauer als Hauptteil des einleitenden, reinen und beweisfähigen Teils der geplanten Schrift ansehen, der die »Prinzipien der Gerechtigkeit« enthält, welche »von der Liebe des Weisen« handeln. Entsprechend der Euklidischen Methode gliedert sich der Text in Tabellen, die den Charakter von Axiomen haben, Definitionen und Lehrsätze. Zur Erläuterung des Anfangs mit den Tabellen und Definitionen empfiehlt es sich, die unter manchen Aspekten erheblich verbesserte Reinschrift-Fassung der Elemente des Naturrechts 6 zu lesen. ¹⁶⁸ Leibniz bringt hier erstmals explizit jene Umfangsbestimmung »alle« in die Definition der (universalen) Gerechtigkeit ein, die er am

Text III · Elemente des Naturrechts

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Ende der Elemente des Naturrechts 4 (s. o. 243) nur für die Billigkeit genannt hatte. Der Allquantor qualifiziert dieses Naturrecht als streng universalistisch, auch wenn Leibniz später Stufen für die Liebe zu jedem anderen unterscheidet. Wohl erstmals im Brief an van Velthuysen, Anfang Mai 1671, schreibt Leibniz : »Iustum definio, qvi amat omnes« (A II 1, 98, 6). Das wiederholt er dann auch im Brief an Arnauld von Anfang November 1671 (A II 1, 173, 35). ¹⁶⁹ Leibniz’ lateinische Rede vom »vir bonus« ist eine klassische, von Cicero bis Quintilian zu findende Formel für den moralisch wie intellektuell ausgezeichneten Mann, der seine Fähigkeiten im politischen Bereich für das öffentliche Wohl einsetzt. Sie entspricht ungefähr dem óðïõäásïò bei Aristoteles. Da es im Zeitalter der weiblichen Emanzipation keine Gründe gibt, dieses Profil nur auf den Mann zu beschränken, wird »vir bonus« im folgenden mit »guter Mensch« übersetzt. ¹⁷⁰ Leibniz hatte Grotius’ Unterscheidung der zwei moralischen Qualitäten schon in § 14 von Teil II der Neuen Methode übernommen (zur Erläuterung s. o. Anm. 65 zur Neuen Methode). Neu ist jedoch zum einen die Übertragung dieser Qualitäten auf den »guten Menschen«, zum anderen die folgende Ergänzung der zwei Modalitäten des Möglichen und Notwendigen durch die zwei übrigen des Modalquadrats. ¹⁷¹ Das Schema zeigt eine erste, noch nicht ganz ausgereifte Parallelisierung der vier juridischen bzw. ethischen Modalitäten mit den vier logischen Modalitäten. Aufgrund der Entdeckung dieser Parallele darf Leibniz als Begründer der deontischen Logik, Normenlogik oder Sollenslogik gelten. »Leibniz hat vermutlich als erster bemerkt, daß die normativen Grundbegriffe der Pflicht oder des Gebots (debet), der Erlaubnis (licet) und des Verbots (non licet) den modalen Kategorien der Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit strukturähnlich oder analog sind« (Georg Hendrik von Wright : Logik, deontische, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter et al., Basel / Darmstadt 1971 ff., Bd. V 384). Leibniz hat das deontische »contingens« als einen eigenen Modus herausgestellt und somit das aristotelische Modalquadrat vergleichartigt. Hierzu schreibt Heinrich Schepers : Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten, in : Leibniz’ Logik und

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Anmerkungen des Herausgebers

Metaphysik, hg. v. Albert Heinekamp u. Franz Schupp, Darmstadt 1988, 193 – 222 : »Die im aristotelischen Quadrat synonymen Ausdrücke ›possibile‹ und ›contingens‹ begegnen uns bei Leibniz gleichsam auseinandergetreten […]. Damit werden die vier klassischen Modalitäten homogen« (196 f.). Der Begriff »Kontigenz« ist nur schwer ins Deutsche zu übersetzen. Er steht für das Zufällige im Sinne dessen, was nicht aus der Sache heraus notwendig ist, d. h. für das Bedingte. Was schließlich das »Indifferente« betrifft, mit dem Leibniz die ›adiaphora‹ der stoischen Ethik reformuliert, so bezeichnet der Ausdruck weder das Unentschiedene oder Unbestimmte (das es innerhalb der Logik ethischer Reflexion nicht geben kann) noch das Gleichgültige (das der Geisteshaltung liebevoller Rücksichtnahme fremd wäre), sondern das Freigestellte. Dieses allerdings ist strenggenommen nur für die partikulare Gerechtigkeit gegeben, da für die universale Gerechtigkeit die Billigkeitsverpflichtung zur Hilfe gegenüber allen jederzeit besteht, auch wenn sie nie hinreichend erfüllt werden kann. Deshalb schreibt Leibniz später : »Accurate loquendo nihil est indifferens sive omnis actus aut officium aut peccatum est. Oritur ergo indifferentia tantum ab ignorantia nostra (Aphorismi de felicitate, sapientia, caritate, justitia, Sommer bis Winter 1678/79 [ ?], A VI 4, Teil C, 2801, 2 f.). ¹⁷² Zur Erläuterung auch des pragmatischen Sinnes siehe die ausführlichere Parallelstelle in den Elementen des Naturrechts 6 (s. o. 301). ¹⁷³ Die Übersetzung des Schemas integriert in eckigen Klammern die Zusätze, die Leibniz im lateinischen Original unterhalb des Schemas in einer Zusatztabelle angebracht hat. Hans Poser : Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz, Wiesbaden 1969 (Studia Leibnitiana, Suppl. 6), 17, hat bei seiner minutiösen Analyse der Tabellen drei Dimensionen zur Explikation der Modalitäten unterschieden : die »ontologische« erfolgt auf der Ebene des »getan werden (fieri)«, die »logische« auf der Ebene des »richtig (verum)« und die »epistemische« auf der Ebene des »eingesehen werden (intelligere)«, die Leibniz wiederum durch Descartes’ Evidenzkriterium des »klar und deutlich« modelliert. ¹⁷⁴ Die folgenden Definitionen, die Leibniz für die Euklidische Methode im Naturrecht braucht, stellen eine erhebliche Differenzierung und Vertiefung der bisherigen Definitionslisten dar. Außerdem enthalten sie zwischendurch eingestreute Erläuterungen einiger

Text III · Elemente des Naturrechts

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Grundbegriffe, die für das Verständnis des Leibnizschen Naturrechts wesentlich sind. ¹⁷⁵ In den folgenden Definitionen werden die definierenden Begriffe (Definientien) dieser Schlüsseldefinition wiederum definiert. Das Fernziel der Leibnizschen Begriffskombinatorik und ihrer analytischsynthetischen Methode besteht darin, möglichst alle molekularen Teilbegriffe bis in atomare, d. h. selbst indefinible Merkmale zu zerlegen. ¹⁷⁶ Diese wichtige Unterscheidung zwischen Eros und Agape, zwischen der nach Verschmelzung drängenden sinnlichen Liebe, die stets zu einer besitzergreifenden Vereinnahmung des anderen neigt, und der geistigen Haltung eines liebenden Wohlwollens, das den anderen über die Förderung seines Glücks hinaus zugleich freiläßt, hatte der ganz frühe Leibniz noch nicht klar vollzogen. So hieß es noch in Anmerkung 63 zu Thomasius : Philosophia practica : »Liebe ist der Drang nach Vereinigung mit dem Geliebten (Amor est appetitus unionis cum amato)« (A VI 1, 62, 31). Der Vergleich mit Wolf und Lamm findet sich schon bei Platon: Phaedrus, 241 c– d. ¹⁷⁷ Leibniz folgt bei dieser völlig entsubstantialisierten Auffassung des Glücks, die das höchste Gut im Sinne des neuzeitlichen Individualismus ganz inhaltsoffen, dynamisch und von der negativen Freiheit her versteht, erneut dem Vorbild Hobbes. »Das größte der Güter aber besteht in dem so wenig wie möglich gehinderten Fortschreiten zu immer weiteren Zielen (Bonorum autem maximum est, ad fines semper ulteriores minime impedita progressio)« (De Homine XI 15, Opera philosophica latina, hg. v. G. Molesworth, II 103). »Glück ist das ständige Fortschreiten von einer Begierde zur nächsten (Felicitas progressus perpetuus est ab una cupiditate ad alteram)« (Leviathan XI , ebd. III 77). ¹⁷⁸ Diesen Praktizismus teilt Leibniz mit Hobbes. »Scientia propter potentiam ; Theorema […] propter problemata, id est propter artem construendi ; omnis denique speculatio, actionis vel operis alicujus gratia instituta est« (Hobbes : De Corpore, Kap. 1, 6 ; Opera philosophica latina, hg. v. G. Molesworth, I 6). ¹⁷⁹ Formuliert wird hier das Axiom, daß alle physischen Wirkungen beim Handeln jederzeit mit dem Körper ausgeführt werden müssen, so daß keine geistigen Fähigkeiten oder Möglichkeiten sich anders manifestieren können als körperlich oder physisch.

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Anmerkungen des Herausgebers

¹⁸⁰ Zum »ersten Allgemeinen« nach Aristoteles siehe oben Anm. 95 zur Neuen Methode. ¹⁸¹ Um die Anordnung der folgenden Lehrsätze übersichtlicher zu machen, werden im folgenden Numerierungen in Klammern beigefügt. ¹⁸² Die folgende »Musterprobe der Logik«, wie Leibniz sie am Ende nennt, enthält inhaltlich noch völlig unergiebige Lehrsätze. Da ihr Aufbau und ihre logische Methode für sich spricht, kann auf eine Kommentierung, z. B. der Regeln der Begriffsumkehrung oder des Modalgefälles, weitgehend verzichtet werden. ¹⁸³ Hiermit leitet Leibniz das juristische Unmöglichkeitsaxiom logisch ab, wonach niemand zu Unmöglichem verpflichtet ist. Celsus brachte es auf die Formel »Impossibilium nulla obligatio est« (Dig. 50, 17, 185). Bekannter ist die Formel »Ultra posse nemo obligatur«. ¹⁸⁴ Dieser Lehrsatz hat zusammen mit dem folgenden, wonach eine Handlung »eher ungeboten als geboten« ist, eine große ethische, theologische, ja politische Bedeutung. Denn seinem prinzipienökonomischen Minimalismus gemäß legt Leibniz das logisch Voraussetzungsschwächere oder »Kleinere« ganz im Sinne der kleineren Version aus : Solange kein Verdacht des Gegenteils begründbar ist, befindet sich alles Handeln im Spielraum des von Natur aus Richtigen. Leibniz konzipiert das Naturrecht also vom Primat des Möglichen oder Erlaubten her, nicht vom Verbotenen her. Wie er wenig später andeutet, liegt das Leben der Menschen nach dieser Supposition nicht gefangen unter vorgegebenen Normen, sondern ist, theologisch gesprochen, frei von dem Gesetz (Paulus). ¹⁸⁵ Die Überschrift wurde ergänzt, um die Gliederung der Lehrsätze zu verdeutlichen. ¹⁸⁶ Der »gute Mensch«, d. h. derjenige, der alle liebt, ist in den folgenden Lehrsätzen nicht das Subjekt der naturrechtlich apriorischen Erkenntnis, sondern vielmehr das Objekt. Denn es geht darum, was sich am Begriff des »guten Menschen« einsehen läßt. ¹⁸⁷ Der ganze Absatz läßt sich trotz seiner Kürze als eine vorsichtige Revision der lutherischen Rechtfertigungslehre verstehen, der zufolge der Mensch vor dem Angesicht Gottes »allein durch den Glauben (sola fide)« gerechtfertigt ist. Leibniz scheint hier in drei Punkten von Luther abzuweichen : 1. Die Versetzung in den Gnadenstand geschieht

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nicht schlechthin ›sola fide‹, sondern durch jene ›fides, quae per caritatem operatur‹ (Gal. 5,6). 2. Sie ist keine bloß zudeckende Nichtanrechnung, sondern eine tatsächlich tilgende Hinwegnahme der Sünden. 3. Die heiligende Erneuerung des Menschen ist schließlich auch keine bloße Imputation der ›justitia Christi extra nos‹, sondern eine der Seele inhärierende Gerechtigkeit, die der wirklichen Vereinigung des freien Willens mit Gott im ›Reich der Gnade‹ entspringt. ¹⁸⁸ Für Descartes, auf den Leibniz hier Bezug nimmt, ist eine »klare und deutliche« Erkenntnis der Dinge bereits der Garant ihrer Wahrheit (Discours de la méthode IV 3 ; vgl. auch z. B. Meditationes V 12). Leibniz ist hier vorsichtiger, da er mit ihr nur die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit von etwas garantiert sieht. ¹⁸⁹ Die Überschrift wurde wiederum ergänzt, um die Gliederung der Lehrsätze zu verdeutlichen. ¹⁹⁰ Durch seine geschickte Setzung von Klammern hat Leibniz gleich vier Lehrsätze in eine Zeile kontrahiert. Weil dies im Deutschen nicht nachahmbar ist, muß die Übersetzung jede einzelne der folgenden zwölf Zeilen in vier zerlegen. ¹⁹¹ Leibniz hat die folgende Gliederung im Hinblick auf eine Tabelle zur begrifflichen Zerlegung des »vir bonus« in seine Teilbegriffe entworfen. Die Übersetzbarkeit stößt hier an ihre Grenzen. ¹⁹² Die zuvor wiedergegebenen begrifflichen Substitutionen hat Leibniz in der nachstehenden Tabelle (s. u. S. 478) dargestellt. Da eine deutsche Übersetzung nur mit großem technischen Aufwand in Gestalt einer zusammenfaltbaren Doppelseite hätte hergestellt werden können, wurde auf eine Wiedergabe verzichtet . ¹⁹³ Leibniz bezieht sich auf seine Dissertation über die Kombinatorische Wissenschaft von 1666. ¹⁹⁴ Der berühmte Mathematiker und Erfinder Archimedes (ca. 285– 212 v. Chr.) hatte in seiner Schrift Der Sandrechner (Arenarius) berechnet, wieviele Sandkörner den Kosmos ausfüllen, wenn man das heliozentrische Weltmodell des Aristarch von Samos zugrundelegt. Er kam auf ⁵¹. ¹⁹⁵ Legisten hießen die Anhänger des römischen Rechts im Mittelalter. ¹⁹⁶ Mit den Kasuisten, die Leibniz teils »Casistae« (A VI 1, 74, 13 ; 83, 21), teils »Casuistae« (A VI 1, 235, 16) nennt, sind wohl die Vertreter

toto -.-.-.-.-.-.-.-. accidentium -.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-. maximè -.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-. Bono multitudine attributorum contingentium... magis ........... omnibus.................qvi expetitur.................. Pernoscenti omnium qvæ possunt possunt non ita ut non vel qvem sentire ... conamur qvi qvid res non vel pars qvi- sinnovit possit qvo- sinaliis bus- gulis cogitare cum conatu clarè agere aut run- guloprædicari totis sit dam nempe qvem cogitamus cum sentit pati, muconatu NB. tare mutata dam rum, cogitari in eodem æqvalis non etc. non nempe cum qvo cogitamus et mutari etc. harmoniam mutando

Statu -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. -. Optimo

(lit. A.) Felicitate

Amans .................................................................... Omnes qvi delectatur...................................................... qvi delectatur................................................................felicitate qvi harmonicam ..... sentit cui est per se bonum vid. lit. A qvi identitatem .... cum conatu diversitate cogitat expetitum .............................à pernoscente pensantem sentire ............ tentatum .................. à sciente qvid res agere aut pati possit cogitare cum agere cœptum conatu mutatione sui mutare

478 Anmerkungen des Herausgebers

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der juristischen wie der moraltheologischen Methode gemeint, allgemeine Normen auf den einzelnen Fall des Rechts bzw. des Gewissens anzuwenden. ¹⁹⁷ Francis Bacon : Novum Organum, I, Aph. 95 (Works, I 201). ¹⁹⁸ Leibniz selbst identifiziert die pythagoreische Tafel mit dem Großen Einmaleins (Commentatiuncula de judice controversiarum, A VI 1, 558, 34 f.). ¹⁹⁹ Dissertatio de Arte Combinatoria (A VI 1, 203, 1– 31). ²⁰⁰ Tatsächlich beginnt Leibniz mit den Folgesätzen erst nach Beendigung des folgenden Rechenexempels. ²⁰¹ Gemeint sind die sieben vorangehenden, die Leibniz nur für eine Zwischenbilanz noch einmal aufgelistet hat. ²⁰² Erst ab hier führt Leibniz die unter (II .2 b) begonnene Verknüpfung der juridischen Modalbegriffe mit den Zusammensetzungen des »guten Menschen« wirklich durch. Gemäß der Kombinatorik der Begriffe zerlegt er den Ausdruck »wer alle liebt« in diejenigen Bestandteile, die er teils in den Definitionen zu Anfang des Textes, teils in dem Absatz mit den Ersetzungsstrichen (//) für die Tabelle unterschieden hatte. ²⁰³ »Cogitare« bzw. »cogitatio« hat bei Leibniz, wie bei Descartes, zum einen die engere Bedeutung des »Denkens«, zum anderen die weitere Bedeutung des geistigen »Bewußtseins« überhaupt. Die Übersetzung richtet sich im folgenden nach den Bedeutungskontexten. ²⁰⁴ Leibniz weicht mit diesen Begriffsersetzungen von seinen eigenen Definitionen zu Anfang des Textes ab – ein Zeichen vielleicht dafür, daß er auch sie erneut zu optimieren sucht. ²⁰⁵ Daß Leibniz hier Opfer einer falschen Zwischenrechnung wird, zeigt die Erklärung in A VI 2, 569, 6 – 9. ²⁰⁶ Bei diesen Elementen, zu denen Leibniz im folgenden eine Musterprobe liefert, handelt es sich um eine geplante naturphilosophische Lehre vom Zusammen- und Entgegenwirken der Liebesregungen, die nach dem Schema des Pentagons innerhalb der »sphaera intellectus« gebildet werden. Zur Erläuterung dieses psychophysischen Konzepts vgl. Busche : Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, 496 – 500. ²⁰⁷ Gemeint ist der Unterschied zwischen dem Liebesimpuls als einer physikalischen Größe oder wirkenden Kraft (innerhalb des Gehirns) und der Liebesregung als einer genuin psychischen Größe.

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Anmerkungen des Herausgebers

²⁰⁸ Leibniz denkt an seine Theorie der abstrakten Bewegung (A VI 2, 157 –186 u. 258 – 276), aus deren rein rationaler Phoronomie sich Gesetze ergeben, die mit der Erfahrung nicht übereinstimmen. ²⁰⁹ Eigenhändiges Konzept von Leibniz. Text nach A VI 1, 480 – 485. Die Überschrift wurde ergänzt. Es handelt sich formal um eine »Reinschrift« (A VI 2, 564, 20), inhaltlich um eine verfeinerte, differenziertere Fassung des ersten Teils der Elemente des Naturrechts 5, d. h. ihrer tabellarischen Axiome und ihrer Definitionen. Lehrsätze oder Theoreme enthält das Stück nicht mehr. ²¹⁰ Gegenüber der Tabelle zu Anfang der Elemente des Naturrechts 5 variieren wir die Übersetzung leicht. ²¹¹ Aristoteles : Ethica Nicomachea, 1107 a 1 f. ²¹² Papinian in Dig. 28, 7, 15 (De condicionibus institutionum). Leibniz zitiert fast wörtlich. ²¹³ Vgl. Elemente des Naturrechts 4 (s. o. 229 – 241). ²¹⁴ Eine Anspielung auf Cicero und Platon (vgl. § 71 der Neuen Methode und die zugehörige Anm. 118). ²¹⁵ Kaum eine andere Stelle zeigt so deutlich, wie Leibniz mit den beiden Vokabeln caritas und amor das christliche Ethos des Nächsten und das antike aristokratische Ethos der Polis zu verbinden sucht. Während das unmittelbare Herzensgefühl im Umkreis der Allernächsten kaum Rangunterschiede zwischen den einzelnen macht, richtet sich die intellektual wertschätzende Liebe im Kreis von Auserwählten auf charakterliche Vorzüge des anderen. Das Bewerten der LiebensWürdigkeit ist zum einen bei den in den Elementen des Naturrechts 2 beschriebenen Bevorzugungsdilemmata unter ceteris-paribus-Bedingungen unvermeidbar. Zum anderen ist die Stufung liebender Zuwendung nach ›Talenten‹ unumgänglich im politischen Interesse an der Vermehrung der öffentlichen Wohlfahrt. Wem die Liebe zu Gott sich im amare bonum publicum bezeugt (A IV 1, 532, 12 –14), dem rät die Klugheit, im Interesse aller gezielt die Besten zu fördern, die fähig und willens sind, mit ihrem Pfunde für das Allgemeinwohl zu wuchern. Die Liebe im Zeitalter der Berechnung geht dann auf die Maximierung der Harmonie durch die Wahl des jeweils »summarisch größeren Gutes«. Wie Leibniz in einem Brief an Arnauld erläutert, bedeutet Helfen gleichsam das Kapital der Wohlfahrt »multiplizieren«, Schädigen es »dividieren«. »Si plures juuandi sibi obstent, praeferen-

Text III · Elemente des Naturrechts

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dum esse vnde sequatur bonum in summa maius : hinc in casu concursus, ceteris paribus, meliorem, id est, publici amantiorem«. »Iuuare autem esse multiplicare, et nocere diuidere« (an Arnauld, November 1671, A II 1, 174, 10 f. u. 19 f.). Deshalb kann für die politisch verständige Liebe unter bestimmten Umständen geboten sein, was die intime Herzensliebe als schändliche Lieblosigkeit empfinden mag, nämlich die Anwendung der ›kapitalistischen Logik‹ und ihrer Optimierungskalküle auf lebendige Menschen. In Übereinstimmung mit Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 152, dem »Leibnizens Anschauungen weit stärker antik als christlich bestimmt« gelten, behauptet Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 623, daß die intendierte »Vermehrung des Guten durch die Liebe zum Besseren mit der christlichen Liebe zum Bedürftigen nicht mehr viel gemeinsam hat«. Genausogut könnte man jedoch von einem Geist der Caritas unter neuzeitlichen Bedingungen einer politischen Ökonomie sprechen. Denn mit seinen Optimierungserwägungen will Leibniz mittelbar gerade auch die Bedürftigen des Volkes erreichen, wie er in seinem Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät darlegt. Auch dort vergleicht Leibniz die zunächst durch magna ingenia »in schwang« zu bringende Förderung der öffentlichen Wohlfahrt (z. B. »armen studiosis unterhalt […] zu schaffen« und »arme Leute […] vom Bettelstab zu praeserviren«) mit dem exponentiellen Wachstum von Schätzen, die »sich selber mehren und viel 1000 Menschen nuzen können« (A IV 1, 537, 15 f., 18 – 24, 27). Hierfür kann er sich durchaus auf das biblische Gleichnis von den Talenten stützen (Mt. 25, 14 – 29). ²¹⁶ Zur These von der Empfindungslosigkeit der Tiere s. o. 123 und Anm. 49. ²¹⁷ Leibniz versteht die Allgegenwart Gottes, seine beständige Mitwirkung in allen Kreaturen und ihre Erhaltung als eine Anwesenheit in ihrem seelischen Mittelpunkt (in der Zeichnung vom Pentagon dargestellt durch das Zentrum e). In diesem innersten Verbindungspunkt, in dem Schöpfer und Geschöpf »innig vereint (uni intimement)« sind, wirkt er – über die Winkel des Punktes – unmittelbar »durch seinen Einfluß (par son influence)« (Discours de métaphysique 32, A VI 4, Teil B, 1580, 17 –19). Als allgegenwärtiger Mittelpunkt ist er die Erstursache, aus der alles Wirken der Zweitursachen hervorgeht.

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Anmerkungen des Herausgebers

»Chaque Monade est une concentration de l’univers. […] Mais qu’il y a en Dieu non seulement la concentration, mais encore la source de l’univers. Il est le centre primitif dont tout le reste emane« (Extrait du Dictionnaire de M. Bayle article Rorarius, GP IV 553). ²¹⁸ Vgl. Aristoteles : Metaphysica, 1018 b 9 – 1019 a 14. ²¹⁹ S. o. 311. ²²⁰ Die Leoniner sind eine in der Antike erfundene, aber als eigene Form erst im Mittelalter entwickelte Art von Hexametern mit Endund Binnenreim. Hierbei reimt sich jeweils, und zwar in zwei Silben, das Wort vor der Zäsur mit dem Wort am Zeilenende. ²²¹ Claudian : In Rufinum, I, v. 1– 3. Abgesehen von der Ersetzung der 1. Person Singular durch die 3. Person Plural ganz zu Anfang zitiert Leibniz wörtlich. ²²² Mit seiner Schätzung des Alters der Welt, das man seit Sextus Julius Africanus (3. Jh. n. Chr.) aufgrund der biblischen Zeitangaben gemäß der Septuaginta in verschiedenen Chronologien berechnete, nimmt Leibniz eine Art harmonischen Ausgleichs vor, und zwar zwischen dem Kirchenvater Hieronymus (340/50 – 420), der die Schöpfung auf das Jahr 5198 v. Chr. datierte, und Beda Venerabilis (673 / 74 – 735), der sie 3952 v. Chr. ansetzte.

text iv (s. 323 – 379)

¹ Eigenhändig abgefaßter Brief von Leibniz. Text nach A II 1, 28–33. Der wahrhaft enzyklopädische Gelehrte Conring (1606 –1681), dessen Ruhm und Einfluß im protestantischen Teil Deutschlands schon um 1650 gewaltig war, stammte aus einem lutherischen Pfarrhaus. An der Universität Helmstedt war er seit 1632 Prof. der Naturphilosophie, seit 1636 der Medizin und seit 1650 der Politik. Zugleich diente er als Leibarzt mehreren Fürsten, darunter der Königin Christine von Schweden und ihrem Nachfolger Karl X. Gustav. Tätig war er auch als politischer Gutachter für die Könige von Frankreich, Schweden und Dänemark. Was Conring auf dem Gebiet der Politik kennzeichnete, war zum einen die Verteidigung des politischen Aristotelismus gegen Neuerer wie Bacon, Hobbes und Pufendorf, aber auch gegen Machiavelli, zum anderen das Bestreben um eine von den Konfessio-

Text IV · Vier Briefe

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nen emanzipierte Politik der Toleranz. Wie er in seiner Bürgerlichen Klugheitslehre (s. o. Anm. 140 u. 144 zu § 76 der Neuen Methode) darlegt, muß der Nutzen (utilitas) für das Gemeinwohl die höchste Regel politischen Handelns sein. Conrings politische Schriften, die die empirische Staatenkunde (politica particularis) begründen, haben ihren Schwerpunkt in umfangreichen Strukturanalysen der zeitgenössischen Staaten und des Reiches. Conrings Verdienste auf dem Gebiet des Rechts liegen darin, die deutsche Rechtsüberlieferung wiederentdeckt zu haben. Mit seiner Schrift De origine juris germanici, Helmstedt 1635 u. ö., begründete er die Disziplin der deutschen Rechtsgeschichte. ² Der frühe Leibniz hat Conring sehr geschätzt und häufig zitiert oder erwähnt. Zugleich war sein großer Förderer in Mainz, Johann Christian von Boineburg, ein Schüler Conrings. So darf man annehmen, daß Boineburg sich bei seinem Lehrer für Leibniz verwandt hat, bevor dieser im vorliegenden Brief Conring seine Ansichten zum Verhältnis von Politik, Naturrecht und römischem Recht sowie seine eigenen Pläne darlegt. Mit diesem Brief beginnt ein beachtlicher Briefwechsel zwischen Leibniz und Conring, der bis zum Februar 1679 anhält. In dem hier weggelassenen ersten Absatz des Briefes, in dem der junge Philosoph dem berühmten Gelehrten seine Hochachtung erweist, bezieht sich Leibniz wiederum auf Boineburg. ³ Zu diesen wie zu den folgenden Beurteilungen naturrechtlicher Lehrmeinungen siehe die Parallele in §§ 71– 72 der Neuen Methode. ⁴ Daß Leibniz diese Lobesworte auf Hobbes und nicht auf Pufendorf bezieht (was vom lateinischen Duktus her nicht eindeutig ist), legt die Parallelstelle in der Ergänzung zu den Elementen des Naturrechts 2 nahe (s. o. 195*). ⁵ Siehe die Parallele in den Elementen des Naturrechts 1 (s. o. 91). ⁶ Vgl. Aristoteles : Ethica Nicomachea, V 6 – 7. ⁷ Vgl. Anm. 101 zu den Elementen des Naturrechts 2. ⁸ Die römischen Prätoren waren Oberbeamte, die alljährlich in der Funktion von Gerichtsmagistraten Edikte, d. h. Anordnungen allgemeiner Art erließen. Seit 242 v. Chr. gab es zwei Prätoren (Stadtprätor und Fremdenprätor). Sie stellten zu Beginn ihres Amtsjahres auf dem Forum Romanum weiße Holztafeln auf, auf denen sie Erklärungen über ihre Amtsführung sowie Musterformeln für Klagen bekanntgaben. Sie taten das im Geiste jener zwölf bronzenen Tafeln, die die

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Anmerkungen des Herausgebers

Römer angeblich schon 451 v. Chr. öffentlich aufgestellt hatten. Im Zwölftafelgesetz waren grundlegende Rechtssätze niedergelegt. Vgl. Franz Wiacker : Römische Rechtsgeschichte I, München 1988, 83 –127 (Der Prätor). ⁹ S. o. die Einleitung, XXXIV . ¹⁰ Zur Erläuterung siehe Anm. 28 zur Neuen Methode. ¹¹ S. o. Anm. 57 u. 58 zur Neuen Methode. ¹² Es folgen zwei Absätze und ein Postscriptum, die persönlich und für unseren Zusammenhang unergiebig sind. ¹³ Eigenhändig abgefaßter Brief von Leibniz. Text nach A II 1, 41– 43. ¹⁴ Conring antwortete Leibniz brieflich am 10./20. Februar 1670 (A II 1, 33 – 36). ¹⁵ François Viète (Vieta) : In artem analyticam isagoge seu algebra nova, Tours 1591. Der Mathematiker William Oughtred (1575 –1660) gehörte zu den Anregern Newtons. Sein Hauptwerk ist die Arithmeticae in numeris et speciebus institutio, London 1631. René Descartes : Discours de la Méthode […]. Plus la Dioptrique, les Météores, et la Géométrie, Leiden 1637. Auf Viètes Grundlegung der figürlichen Analysis und ihre Bereicherung durch Descartes verweist Leibniz schon in De casibus perplexis (A VI 1, 236, 5 – 7). ¹⁶ Siehe Anm. 66 zu den Elementen des Naturrechts 2. ¹⁷ Siehe Anm. 108 zur Neuen Methode. ¹⁸ Johann Eichel von Rautenkron († 1688), in Helmstedt tätiger Rechtsgelehrter, der einen Commentarius in Tit. de diversis Regulis Juris antiqui, Helmstedt 1652, verfaßt hatte, war von Conring in dessen Antwortbrief auf Leibniz als eine Autorität gelobt worden, die eine nützliche »Methode, die Digesten des römischen Rechts zu interpretieren«, aufgestellt habe (A II 1, 35, 11–13). Leibniz hatte schon in der Neuen Methode verwiesen auf Eichels Ausgabe von Prokop : EÁíåêäüôá Arcana historia sive Historiarum liber IX , Helmstedt 1654 (A VI 1, 317, 3 – 5). ¹⁹ Ludolf Hugo (1630 –1704) war ein Schüler Conrings, der in Helmstedt wirkte und auf dem Gebiet der Politik arbeitete (De statu regionum Germaniae et regimine principum, Helmstedt 1661). Später war er Geheimer Rath und Direktor der Justizkanzlei von Hannover.

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²⁰ Samuel Rachel(ius) (1628 –1691), ein Schüler Conrings und von Feldens, wurde 1658 Prof. der Moralphilosophie in Helmstedt, 1665 des Natur- und Völkerrechts in Kiel. Beachtlichen Einfluß erlangte er erst später durch seine vom protestantischen Aristotelismus geprägten Schriften zum Naturrecht, in denen er, wie Leibniz, drei Stufen annimmt und mit den drei Rechtsvorschriften Ulpians parallelisiert (De jure Naturae et Gentium Dissertationes, Magdeburg 1676 ; Institutionum Jurisprudentiae libri quatuor […], Kiel 1681). ²¹ Es folgen ein Absatz und ein Postscriptum mit Angaben über andere Gelehrte. ²² Das »vielleicht an Jean Chapelain gerichtete, doch wohl nie angekommene Schreiben« (A II 1, XXI ) liegt in einer Abschrift vor. Text nach A II 1, 50 – 56. Daß der Adressat wirklich Chapelain war, liegt zwar vom Inhalt des Briefes her, der beim Empfänger große rechtshistorische Kompetenz voraussetzt, nicht sehr nahe. Er könnte eher an einen französischen Rechtsgelehrten gerichtet sein. Formal sprechen jedoch für die Adressatenschaft Chapelains drei Briefstellen. (Für den Hinweis auf sie danke ich den Kollegen von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Frau Herma Kliege-Biller, Herrn Gerhard Biller und Herrn Heinrich Schepers). Am 1. Juli 1670 teilt Johann Heinrich Horb Leibniz mit, daß Chapelain kein Schreiben von Leibniz erhalten habe (A I 1, 95, 16 f.). Im Brief an Philipp Jakob Spener vom 31. August / 10. September 1670 erläutert Leibniz, daß es sich bei dem nicht angekommenen Schreiben um eine Beilage »de Jurisprudentiae emendatione« handelte, die er einem Brief an Spener beigefügt hatte (A I 1, 99, 6 – 8). Und der Brief an Johann Heinrich Böckler vom 12./22. Oktober 1670, in dem Leibniz seine Ansichten zur Verbesserung des Rechts darlegt, gibt sogar schließlich die Information : »Ich habe über denselben Gegenstand, jedoch unter verdecktem Namen, über Ehrwürden Spener an den berühmten Chapelain geschrieben« (A I 1, 106, 20 f.). Beim Rätsel um den Adressaten führt auch Leibniz’ spätere Bemerkung nicht weiter : »Gehört glaub ich zum briefe ad Ludolphum. ist bey juridicis« (A II 1, 50, 33 f.). Jean Chapelain (1595 –1674), französischer Kritiker und Dichter, gehört zu den Mitbegründern der Académie Française, deren erste Statuten er bearbeitete und die er zur Herausgabe eines Wörterbuchs veranlaßte (es erschien erst 1694). Er war persönlicher Berater Riche-

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Anmerkungen des Herausgebers

lieus in Fragen der Sprache und Literatur und maßgeblicher Vertreter der rationalistischen ›klassischen Doktrin‹, nach der für poetische Werke strenge Normen festgelegt werden können. Wegen seiner Sonette, Madrigale und ersten 12 Gesänge des unvollendeten Epos La pucelle d’Orléans ou la France délivrée (1656) wurde er von Colbert als »der größte Dichter aller Zeiten« gefeiert, aber bereits von Boileau und Racine karikiert. Leibniz könnte den Brief, dessen ersten Absatz wir weglassen, geschrieben haben, um sich der Pariser Akademie mit seinen Arbeiten zur Rechtsreform zu empfehlen. Vielleicht hoffte er sogar darauf, wie viele andere ausländische Gelehrte, z. B. Huyghens, für wissenschaftliche Verdienste eine Pension vom König zu erhalten (s. o. Anm. 115 der Einleitung). Dazu würde auch passen, daß Leibniz auf naturphilosophischem Gebiet und zur Vorstellung seines Plans für eine Rechenmaschine die Verbindung zur Académie Française über den Mathematiker Pierre de Carcavy († 1684) herzustellen suchte. Dieser betreute die Königliche Bibliothek und Akademie in Paris. Leibniz begann im Juni 1671 einen Briefwechsel mit ihm. ²³ Irnerius (ca. 1055 –1130) zählt zu den großen Erneuerern des Rechts. Die von ihm gegründete Rechtsschule von Bologna machte das Corpus juris durch Anmerkungen (Glossen) verständlich, schied Unbrauchbares aus und schuf damit die Grundlagen für das gemeine Recht. ²⁴ Als die Gesetze der Kaiser nach Konstantin d. Gr. zu einem undurchdringlichen Dickicht geworden waren, setzte der byzantinische Kaiser Theodosius II . (401– 450) eine Kommission ein, die die seit 312 erlassenen Gesetze sammelte, auf ihre Echtheit hin untersuchte und ordnete. Seine neue Kodifizierung, der »Codex Theodosianus«, wurde 438 in Konstantinopel und in Rom verkündet. ²⁵ Vom Codex Ludovicaeus hatte Leibniz nicht zuletzt durch die Informationen im Brief von Louis Ferrand einiges erfahren (A I 1, 118, 3 ff.). ²⁶ Die zahlreichen Werke des vom ›mos gallicus‹ geprägten Rechtskommentators Jacques Cujas (Cujacius) (1522 –1590) werden beim jungen Leibniz sehr häufig zitiert, insbesondere die Paratitla in libros quinquaginta Digestorum seu Pandectarum imperatoris Justiniani, Köln 1570 u. ö., sowie die Observationum et emendationum libri XXVIII , Köln 1578 –1598.

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²⁷ Denis Godefroy (Dionysius Gothofredus) (1549 –1622) gab die erste kritische Gesamtausgabe des Corpus Juris Civilis heraus (s. o. Anm. 25 zur Neuen Methode). Als verfolgter Hugenotte mußte er mehrfach den Ort seiner Lehrtätigkeit wechseln. Ab 1585 war er Prof. des Rechts in Genf, ab 1591 in Straßburg, ab 1604 in Heidelberg und ab 1620 wieder in Straßburg. ²⁸ Der Jesuit Denis Petau (Dionysius Petavius) (1583 –1654) machte sich v. a. um die Dogmengeschichte verdient (Theologica dogmata, 4 Bände, Paris 1644 –1650), verfaßte aber auch eine gegen J. J. Scaliger gerichtete Chronologie, und zwar im Opus de doctrina temporum, Paris 1627, sowie im Rationarium temporum, Paris 1633. ²⁹ S. o. Anm. 8. ³⁰ Leibniz erläutert dieses Fernziel seines der analytisch-synthetischen Methode folgenden Gedankenalphabets folgendermaßen : »In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometria gethan, in allen scientien zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weitem aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird. Welche invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen von mir vor das importanteste gehalten wird, ob sie gleich das ansehen noch zur zeit nicht haben mag« (an Herzog Johann Friedrich, 2. Hälfte Oktober ( ?) 1671, A II 1, 160, 4 –12). ³¹ Der niederländische Mathematiker Ludolf van Ceulen (1540 – 1610) berechnete die Kreiszahl ð bis auf 35 Stellen (Van den Zirckel, Delft 1596, Leiden ²1615). ³² S. o. Anm. 121 zur Neuen Methode. ³³ Der englische Theologe Thomas White (Thomas Albius, Thomas Anglus) (1593 –1676), der die katholische Religion auf eine ökumenische Kirche hin entwerfen wollte, verfaßte auch ein umfangreiches Werk zur Ethik, das er die »Waage der Sitten« nannte : Institutionum ethicarum, sive Staterae morum, aptis rationum momentis libratae, London 1660.

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Anmerkungen des Herausgebers

³⁴ S. o. Anm. 23 u. 24 zur Neuen Methode. ³⁵ S. o. Anm. 124 zu § 72 der Neuen Methode. ³⁶ Wilhelm Grotius (Willem de Groot) (1597 – 1662) war einer der beiden jüngeren Brüder von Hugo Grotius. Er verfaßte juristische Schriften, darunter De principiis juris naturalis Enchiridion, Den Haag 1667. ³⁷ Johannes Klenck lehrte von 1648 bis 1668 in Amsterdam. Er verfaßte u. a. die Institutiones juris naturalis, gentium et publici ex Hug. Grotii libris, Amsterdam 1665. ³⁸ Der französische Philosoph und Staatsrechtstheoretiker Jean Bodin (Bodinus) (1530 –1596), dessen Hauptwerk Les six livres de la République 1576 in Paris erschien, verfasste u. a. auch eine Schrift zur logisch-begrifflichen Einteilung des Rechts, die Juris universi distributio, Paris 1578. ³⁹ Pierre Grégoire (Gregorius Tholosanus, Gregor von Toulouse) (1540 –1597), der von Raimundus Lullus inspirierte Enzyklopädist, schrieb auch Bücher zur Rechtswissenschaft. Wie Leibniz an anderen Stellen des Frühwerks zeigt, kannte er Gregors Syntagma juris universi atque legum pene omnium gentium et rerumpublicarum praecipuarum, Lyon 1582, sowie De jure, arte, methodo et praeceptis, Lyon 1580. ⁴⁰ Der Rechtsgelehrte Nicolaus Vigelius (1529 – 1600) verfaßte zahlreiche Schriften zur Methodik des Rechts, darunter auch die Dialectica juris civilis, Basel 1573. Besonders häufig erwähnt Leibniz anderenorts Vigelius’ Methodus juris controversi, Basel 1579, Mainz 1652 u. ö. ⁴¹ S. o. Anm. 102 zu den Elementen des Naturrechts. ⁴² S. o. Anm. 48 zur Neuen Methode. ⁴³ Der letzte, hier weggelassene Absatz des Briefes, der am Ende abrupt abbricht, enthält bloß eine captatio benevolentiae an den Adressaten. ⁴⁴ Beim vorliegenden Brief handelt es sich um einen eigenhändigen Auszug von Leibniz. Text nach A I 1, 180 f. Louis Ferrand (1645 –1699) war Orientalist und Verfasser kontroverstheologischer Schriften. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft wurde er Rechtsanwalt am Parlament von Paris. Zu seinen bekannteren Werken gehören der Conspectus seu Synopsis libri hebraici qui inscribitur : Annales Regum Franciae et regum domus Othomanicae, Paris 1670, und die Réflexions sur la Religion chrétienne, contenant les

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prophéties de Jacob et de Daniel, sur la venue de Messie, 2 Bände, Paris 1679. Erwähnenswert ist auch sein Kommentar zu den Psalmen, Liber Psalmorum, cum argumentis, paraphrasi et annotationibus, Paris 1683. Wie aus Leibniz’ an die Académie Française gerichteter Widmung in der Theorie der abstrakten Bewegung hervorgeht (A VI 2, 261, 27 – 262, 1), wurde Ferrand für ihn zum »Vermittler«, der ihm einen Kontakt zu Pierre de Carcavy und damit zur Akademie verschaffte ; s. o. Anm. 22, letzter Absatz. Im Juli 1670 (A I 1, 117, 25) begann Leibniz einen beachtlichen Briefwechsel mit dem Franzosen. Daß Leibniz auch den vorliegenden Brief nicht ohne den Hintergedanken schrieb, Gunst oder Geld von Ludwig XIV . zu erwerben, zeigt sein Heischen nach der »Zustimmung eines großen Fürsten«. ⁴⁵ S. o. Anm. 215 zu den Elementen des Naturrechts.

BI BL IO G R APH IE

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N A ME N R E G IST E R

Achill 93 Äsop 169 Agamemnon 131 Albius, Thomas s. White Althusius, Johannes 45, 335 Anglus, Thomas s. White Antoninus Pius 171 Archimedes 97, 363 Aristoteles 13, 29, 37, 67, 75, 77, 81, 185, 201, 247, 301, 303, 327 Arnisaeus, Henning 157 Augustinus 11 Ayrault (Aerodius), Pierre 95 Bacon, Francis 33, 57, 285 Barbosa, Augustinus 65 Bodin, Jean 369 Boecler, Johann Heinrich 85 Campanella, Tommaso 187 Ceulen, Ludolf von 363 Chopius, Franz Julius 43 Christus 31, 303 Cicero 27, 35, 75, 77, 91, 195, 239 Commodus 171 Connan, François de 185, 369 Conring, Hermann 85, 95 Coras(ius), Jean de 43 Cujas (Cujacius), Jacques 359 Curtius, Marcus 93, 231 David 193 Del Rio, Martin Antonius 45 Descartes, René 17, 339

Diaz, Johann Bernardus 65 Donneau (Donellus), Hugues 43, 369 Dorsche, Johann Georg 33 Eichel von Rautenkron, Johann 347 Epikur 75, 77 Euklid 29, 33, 41, 253, 259, 335, 363, 369 Felden, Johann von 33, 41, 45, 67, 75, 77, 81, 195, 325, 327, 367 Florentinus 97 Freigius, Johann Thomas 33 Galen 29 Gellius 35 Godefroy, Denis (Dionysius Gothofredus) 359 Grégoire, Pierre (Gregor von Toulouse) 369 Grotius, Hugo 29, 31, 45, 67, 75, 77, 81, 91, 95, 97, 157, 245, 303, 325, 333, 341, 347, 365, 367 Grotius, Wilhelm 367 Haersolte, Arnold van 69 Helmont, Franciscus Mercurius van 45 Hippokrates 29 Hobbes, Thomas 29, 33, 75, 77, 81, 95, 97, 163, 195, 325, 327, 329, 367, 369 Homer 93

508

Namenregister

Hopper, Joachim 43, 85 Hostilius Mancinus 113 Hülsemann, Johann 31 Hugo, Ludolf 347 Iphigenie 133 Irner(ius) 351 Justinian 35, 37, 39, 43, 59, 331, 341 Kalchas 131 Karl d. Große 341 Karneades 91, 329 Klenck, Johannes 367 Lasser, Hermann Andreas 335, 379 Lipsius, Justus 85 Ludwig XIV. 355 Mascardi, Giuseppe 67, 69 Matthaeus, Antonius 37, 43 Meier, Justus 37 Menochius, Jacobus 67, 69 Mommer (Mummerius), Ägidius 37 Moses 303 Nathan 193 Nizolius, Marius 225 Oldendorp, Johann 69 Oughtred, William 339 Pallavicino, Sforza 75, 77, 83, 367 Paulus 31 Petau, Denis (Dionysius Petavius) 359 Pisani, Ottavio 45, 85 f. Platon 27, 75, 81, 223 Plinius 195 Pufendorf, Samuel 33, 45, 325, 327, 367

Rachel(ius), Samuel 347 Raimundus Sabundus 29 Ramus, Petrus 33, 335, 369 Raynaud(us), Theophile 29 Rebhan, Johann 57 Sánchez de las Brozas, Francisco 63 Scherzer, Johann Adam 63 Schoppe (Scioppius), Caspar 63 Seneca 195 Sharrock, Robert 75, 77, 367 Sozzini, Fausto 31 Stephani, Matthias 43 Tabor, Johann Otto 57 Tacitus 195 Thomas von Aquin 37 Thomasius, Jakob 23, 45, 65 Thrasymachos 75, 81 Tribonian 35, 37, 43, 45 Ulpian 167, 181 Vanini, Lucilio 93, 95 Varro, Marcus Terentius 11 Viète (Vieta), François 339 Vigelius, Nicolaus 369 Vossius, Isaac 17 Vultejus, Hermann 45, 335 Walenburch, Adrian u. Peter van 31 Weigel, Erhard 13, 15 Wesenbeck, Matthaeus 69 White, Thomas 367 Zimmermann, Matthias 31 Zucchaeus (Zouchaeus), Richard 45 Zwinger, Theodor 33

S ACHR E GIST E R

Adoption (adoptio) 31 Ähnlichkeit (similitudo) 71, 73, 75 Äther (aether) 299 Affekt / Gefühl (affectus) 17, 107, 125, 199, 225, 231, 233, 307, 319, 351, 371 Allmacht /Allmächtiger (omnipotentia /omnipotens) 83, 155 Antrieb(smoment) (conatus) 209, 211, 289, 291, 295, 307, 311, 315, 327 Arglist / Hinterlist (dolus) 81, 105, 193, 375 Atheist (atheus) 83, 185, 319 Autarkie s. Selbständigkeit Befugnis (facultas) 49, 51, 53, 81, 341 Berechtigung ( jus) 47, 49, 55, 245, 301, 303 Beredsamkeit (eloquentia) 219, 221, 327 Besitz (possessio) 51, 55, 79, 173, 175, 331, 367 Betrug (deceptus) 167 Beweis (demonstratio) 219, 223, 249, 329, 331, 339, 349, 365, 367, 375 – mathematischer (d. mathematica) 365

Billigkeit / billig (aequitas / aequum) 51, 79, 81, 83, 131, 137, 149, 151, 153, 157, 167, 197, 201–207, 227, 243, 245, 301, 325, 331, 333, 349 Brocardische Regeln (brocardica) 61, 65 Darlehen (mutuum) 59 Definition (definitio) 33, 47, 57, 59, 221, 223, 249, 251, 261, 285, 291, 293, 307, 313, 345, 349, 363, 365, 375 Delikt (delictum) 35, 51 Demokriteer (democritaei) 7 Denken / Bewußtsein (cogitatio / cogitare) 123, 209, 239, 281, 283, 289, 291, 307, 311–315 Dienst (officium) 47, 49 Digesten (Digesta) 35, 37, 39, 331, 337, 345, 351, 371 Dummheit (stultitia) 91, 329 Ehrenhaft leben (honeste vivere) 83 Ehrenhaftigkeit (honestas) 91, 327 Eigentum (proprietas) 139 Einsicht, rechte (recta ratio) 225, 231

510

Sachregister

Elemente (elementa) 33, 57, 253, 295, 345, 359 – 371, 375 – 379 Entdeckung (inventio) 177, 179, 183 Entschädigung s. Schadenersatz Erbschaft (haereditas) 31, 35, 55, 59, 67, 191 Ersatzanspruch (regressus) 117 Erziehung (educatio) 85, 87, 171 Ethik (ethica) 13, 39, 217, 325, 327 Feindschaft (inimicitia) 101, 209, 211 Folter (tormentum) 121 Folterqual (cruciatus) 149, 157 Forum der Menschheit (concio generis humani) 147 Forum aller Weisen (concio omnium sapientium) 147, 231 Freiheit (libertas) 9, 49, 51, 53, 249, 251, 265, 353 f. Freude (delectatio) 107, 225, 227, 241, 255, 297, 317, 375 Freundschaft (amicitia) 101, 103, 139, 153, 201, 209 Friede (pax) 77, 81, 327, 367 – öffentlicher (p. publica) 53 Geeignetheit [zum Rechtserwerb] (aptitudo) 81 Gefühl s. Affekt Gehorsam (obedientia)

– unbedingter (o. absoluta) 165 – der Bürger (o. civium) 155 Geisel (obses) 133 Geist (mens) 21, 79, 93, 123, 125, 299, 317 – als Spiegel (speculum) 223, 239, 241 Gemeinschaft (societas) 51, 55, 77, 91, 367 Gerade (gerada) 73, 75 gerecht / ungerecht ( justum / injustum) 47, 75, 77, 81, 91, 99, 107, 121, 147, 157, 197, 201, 203, 249, 253, 255, 259 – 265, 271, 287, 301, 327, 349, 363, 365 Gerechtigkeit ( justitia) 13, 47, 91, 95, 101, 107, 109, 193, 195, 201, 207, 217, 221, 223 – 237, 241– 245, 279, 301, 303, 329, 335, 365 – kommutative / Tausch( j. commutativa) 81, 331 – partikulare ( j. particularis) 331 – universale ( j. universalis) 331 – Zuteilungs- ( j. distributiva) 331 Geschichte (historia) 71, 75, 215, 323, 349, 371 Gesetz (lex) 27, 29, 31, 37, 53, 55, 71, 75, 81, 85, 119, 245, 249, 273, 301, 323, 325, 337, 341, 355, 361, 371, 375, 379

Sachregister

– bürgerliches (l. civilis) 327, 367 – göttliches (l. divina) 29 – menschliches (l. humana) 29 – positives (l. positiva) 29 – römisches (l. romana) 171, 331, 333, 345, 351, 357, 359, 377 Gewalt (vis) 125, 127, 151, 211, 343 Gewissen (conscientia) 13, 125, 233, 239, 325, 335, 343 Gewißheit (certitudo) 209, 365 – mathematische (c. mathematica) 83 Glaube (fides) 273 – böser (mala f.) 173, 175 – guter (bona f.) 171, 173, 175, 333 Glück (beatitudo / eudaimonia / felicitas) 13, 85, 155, 159, 161, 167, 197, 199, 209, 213, 217, 219, 221, 225, 227, 247, 255, 281, 289, 295, 297, 307, 313, 375 Gott (Deus) 11, 13, 29, 31, 47, 53, 61, 79, 83, 91, 93, 95, 107, 109, 121, 123, 147, 149, 153–157, 185, 187, 195, 205, 227, 237, 273, 283, 285, 299, 305, 311, 319, 329 Gohgericht 351 Gottesurteil ( judicium Dei) 145 Güter (bona) 247, 313 – äußere (b. externa) 187

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– des Geistes (b. animi) 187 – des Glücks (b. fortunae) 187 – des Leibes (b. corporis) 187 Gut (bonum) 209, 233, 249, 289, 291, 295, 313, 315, 319 – durch sich selbst (b. per se) 213 – für sich (b. propter se) 213 – im ganzen größeres (maius b. in universum) 157 – höchstes (summum b.) 11, 19, 23, 77, 123 – schlechthin (b. absolute) 213 Handlung (actio) 51 Harmonie (harmonia) 81, 83, 107, 123, 247, 249, 277, 281, 283, 291, 297, 317, 319, 375 – der Dinge (h. rerum) 155 f., 285 – der Geister (h. mentium) 157 – Universal- (h. universalis) 107, 305 – der Welt (h. mundi) 319 Haß /Abneigung (odium) 107, 201, 231 Hausherrschaft (dominium) 35 Helfen / Schädigen ( juvare / laedere) 107, 211 Herrschaft (dominium) – direkte (d. directum) 49 – nützliche (d. utile) 49 Institutionen (Institutiones) 35, 39

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Sachregister

Jedem das Seine zuerteilen (suum cuique tribuere) 81, 331 Jurisprudenz ( jurisprudentia; s. a. Rechtsklugheit, Rechtswissenschaft) 27, 29, 31, 35, 45, 47, 57, 237, 249, 259, 359, 371 – didaktische ( j. didactica) 27, 69 – exegetische ( j. exegetica) 27, 71 – historische ( j. historica) 27 – natürliche ( j. naturalis) 29 – polemische ( j. polemica) 27, 69 Kaufmann (mercator) 167, 169 Kirche (ecclesia) 31 Klage / Prozeß (actio) 81, 139, 167, 185, 325, 331, 333, 343 Klarheit / klar (claritas / clarus) 209, 219, 223, 245, 261, 281, 283, 291, 317, 355, 365, 367 Klugheit / Kluger (prudentia / prudens) 107, 109, 121, 143, 191–195, 207, 209, 225, 227, 233, 241, 249, 267, 301, 325, 329, 339 Knecht (servus) 111, 125, 183, 227, 229, 237 Knechtschaft (servitus) 31, 35, 265 Kodex (Codex) 35, 37, 39, 41 – Justinianischer (C. Justinianeus) 353

– Ludwigs XIV . (C. Ludovici) 355 – Theodosianischer (C. Theodosianus) 351, 353 Kollegium (collegium) 47 Kombinatorik (combinatoria) 29, 67, 283, 285, 293 Krieg (bellum) 75 – 79, 101, 103, 119, 127, 151, 179, 205, 207, 229 – gemäßigter (b. moderatum) 127 – gerechter (b. justum) 137, 139, 153 – mörderischer (b. internecinum) 81, 127 Künstler (artifex) 167, 185 Kunst (ars) 193, 209 Laster (vitium) 11, 85, 193, 195 Leben (vita) 91, 93, 307 – zukünftiges (v. futura / v. post hanc vitam) 121, 205, 235, 329 Liebe (amor / caritas) 107, 125, 201, 209, 225, 231, 237, 241, 245, 247, 255, 273, 279, 295, 303–307, 375 – Gottes- (a. Dei) 187 – sinnliche (a. venereus) 247, 307 – ihre Stufen (gradus) 305, 307 – zu mir (a. mei) 201, 233 – zum Nächsten (a. proximi) 201

Sachregister

Lob (laus) 93, 107, 123 Lohn / Belohnung (praemium) 109, 153, 193, 235, 375 Lust (voluptas) 19, 107, 109, 209, 217, 227, 239 – 243, 247, 275, 281, 303, 307, 309, 313, 317, 319 – des Geistes / Gemüts / Herzens ( jucunditas / v. animi) 77, 79, 239, 293 Mathematik (mathesis) 29 Medizin (medicina) 29, 69, 217 – der Körper und Geister (m. corporum animorumque) 217 Meinung (opinio) 93, 161, 313, 327, 329 Mensch, guter (vir bonus) 245 – 251, 255, 261, 263, 267, 271, 273, 283, 293, 295, 299 – 303, 375 Methode (methodus / mos) 37, 41, 43, 253, 335, 363 – analytische (meth. analytica) 361 – Justinianische (meth. Justinianea) 37, 39 – mathematische (mos mathematicus) 5 – natürliche (meth. naturalis) 33 Mißgeschick (infortunium) 171, 185, 189 –193, 375

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Modalbegriffe (modalia) 247, 253, 255, 303 Moral (moralia) 11, 61, 307, 329, 339 Moralität (moralitas) 13, 47 Nachfolge (successio) 35, 49, 53, 163, 331, 367 Nachteil s. Schaden Natur (natura) 51, 53, 77, 97, 231, 283, 327 – der Gerechtigkeit (n. justitiae) 241 – der Liebe (n. amoris) 237 – der Sache / Dinge (n. rei / rerum) 273, 373 – menschliche (n. humana) 91, 235, 329 Naturzustand (status naturalis) 51, 55, 331 Nießbrauch (ususfructus) 35, 61 Niemanden verletzen (neminem laedere) 81, 331 Nomothetik / gesetzgebende Wissenschaft (nomothetica) 75, 85, 323–327, 331 Notabwendung (necessitas) 99, 193 Nützlichkeit / Vorteilhaftigkeit (utilitas) 47, 91, 107, 129, 329 Nutzen, unschädlicher (utilitas innoxia) 153, 165 Pandekten (Pandectae) 95

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Person (persona) 49, 61, 79, 247, 303–307, 313 – bürgerliche (p. civilis) 47, 309 – natürliche (p. naturalis) 47, 309 Pflicht (officium) 107, 249, 251 Philosophie (philosophia) 29, 43, 239, 349 Pietät (pietas) 79, 83, 85, 157, 187, 205, 301 Platoniker (platonici) 303 Politik (politica) 41, 47, 75, 217, 219, 325, 327 Prätor (praetor) 333, 359 Preis (pretium) 51, 189 Proportion (proportio) 81, 197, 221, 375 – arithmetische (p. arithmetica) 331 – geometrische (p. geometrica) 197, 331 Prozeß / Gerichtsverhandlung (processus) 31, 55, 59, 87, 95, 335, 375 – Zivil- (p. civilis) 53 – Kriminal- (p. criminalis) 53 Pythagoreer (pythagorei) 123 Qualität (qualitas) – des guten Menschen (qu. viri boni) 245 – moralische (qu. moralis) 47, 51, 53, 245, 303 – natürliche (qu. naturalis) 53 – reale (qu. realis) 47

Recht ( jus) 27, 29, 53, 55, 59, 221, 243, 249, 251, 261, 323, 337 – auf alles ( j. in omnia) 47, 77, 83 – Begehungs- (iter) 59 – Begnadigungs- ( j. aggratiandi) 31 – Bestrafungs- ( j. coercendi / j. poenae) 65, 129, 145, 147 – bürgerliches / Zivil- ( j. civile) 55, 71, 73, 83, 327, 375, 377 – deutsches ( j. Germaniae) 323, 343, 345 – der Dienstbarkeit ( j. servitutis) 49 – dingliches ( j. reale) 49, 51, 55, 113, 117 – Durchfahrts- (via) 59 – Durchlaß- (actus) 59 – auf Einbehaltung ( j. retentionis) 113, 117, 181 – der Ersitzung ( j. usucapiendi) 49 – auf Erzwingung ( j. exigendi) 325 – feudales ( j. feudale) 41 – Friedens- ( j. pacis) 79 – Gemeinde- ( j. municipale) 341 – gemeines ( j. commune) 71, 73, 345, 351, 361, 377, 379 – geschriebenes ( j. scriptum) 341, 353 – göttliches positives ( j. divinum positivum) 83

Sachregister

– Gottes ( j. Dei) 159 – heiliges ( j. sacrum) 335 – kanonisches ( j. canonicum) 357 – kirchliches ( j. ecclesiasticum) 41 – Kriegs- ( j. belli) 51, 77–81, 95, 103, 105, 141, 143, 207 – über Leben und Tod ( j. vitae et necis) 49 – Natur-/natürliches ( j. naturae / naturale) 59, 71– 81, 95, 181, 323–333, 341– 349, 357, 361–367, 371, 375–379 seine drei Stufen (tres gradus) 79 – des Nutzens und Nießbrauchs ( j. utendi fruendi) 49 – öffentliches ( j. publicum) 29, 53, 85, 335 – Personen- ( j. personarum) 45 – Pfand- ( j. hypothecae) 113 – positives ( j. positivum) 323, 371 – Privat- ( j. privatum) 29, 85, 333 – regionales ( j. locale) 345, 351, 361, 373 – Reichs- ( j. imperii) 341 – reines ( j. merum) 53, 55, 67, 71, 81, 83, 117, 119 – römisches ( j. romanum) 335, 341– 347, 351, 353, 357– 363, 367– 371, 375 – der Rückbehaltung ( j. retinendi) 49

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– auf Rückerstattung ( j. repetendi) 179 – an einer Sache ( j. in re) 35 – auf eine Sache ( j. ad rem) 35 – Sachen- ( j. rerum) 45 – sächsisches ( j. saxonicus) 73 – des Scheltens ( j. increpationis) 49 – Schöpfungs- ( j. creationis) 61 – sicheres ( j. certum) 26, 71, 373 – strenges / im strengen Sinne ( j. strictum / j. stricte dictum) 79, 81, 83, 131, 151, 207, 325, 331, 333, 343 – unbedingtes ( j. absolutum) 55 – ungeschriebenes ( j. non scriptum) 341 – im weiten Sinne ( j. laxe dictum) 81, 325 – der Züchtigung ( j. castigationis) 49, 137 – Völker- ( j. gentium) 95, 183 – weltliches ( j. profanum) 335 – Widerstands- ( j. resistendi) 157 – auf Wiederversammlung ( j. reconveniendi) 165 Rechtsgelehrter ( jurisconsultus) 27, 37, 85, 87, 245, 301, 331, 339, 369 Rechtsgewalt (potestas) 49 – hausherrschaftliche (p. dominica) 35 – höchste (summa p.) 163

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Sachregister

– väterliche (p. patria) 35 Rechtsklugheit ( jurisprudentia, s. a. Jurisprudenz, Rechtswissenschaft) 323, 339 Rechtsverletzung (injuria) 49, 51, 55 Rechtswissenschaft ( jurisprudentia, s. a. Jurisprudenz) 95 Reflexion /(Wider-)Spiegelung (reflexio) 15, 17, 123, 219, 221, 239, 241, 299 Regel des Rechts (regula juris) 63–67, 345, 349, 359, 363, 369, 375 Regierung (regimen) 85 Reich (imperium) 159, 163 Ruhm (gloria) 93, 327 Sache [ im Gs. zu Person] (res) 47, 49, 79 Sadduzäer (sadducaei) 329 Schaden / Nachteil (damnum) 99–115, 119, 129–133, 137, 139, 375 Schadenersatz / Entschädigung / Wiedergutmachung (reparatio/restitutio) 81, 101, 103, 109, 113, 171, 185 Schmerz (dolor) 109, 125, 151, 155, 185, 209, 217, 241, 243, 247, 303, 307, 309, 313, 319 Schönheit/schön (pulchritudo / pulchrum) 83, 107, 123, 125, 239, 241, 317 – der Tugend (p. virtutis) 239

Scholastiker (scholasticus) 285, 339 Schuld / Verschulden (culpa) 103, 105, 109–115, 119, 121, 149, 159, 169– 173, 181–191, 219, 235, 305 Seele (anima) 7, 53, 55, 93, 101, 187, 329 Selbständigkeit (autarkeia) 85, 159 Sicherheit (securitas) 151, 155, 159–167, 171 – der Bürger (s. civium) 53 – öffentliche (s. communis) 129 Sinn(esvermögen) / Wahrnehmung (sensus) 7, 17, 123, 241, 307, 309, 349 Sitten (mores) 85, 301, 371 Skeptiker (scepticus) 63, 258 Sklave (servus) 49, 137 Sorge (cura) 331, 355 – um das Lob (c. laudis) 123 – um die heile Haut (c. salutis) 123 Sphäre (sphaera) 13 – moralische (s. moralis) 11 – Verstandes- (s. intellectus) 17, 19 Spürsinn (sagacitas) 195 Staat / Gemeinwesen (civitas / respublica) 47, 51–55, 77, 85, 93, 119, 127, 133, 143, 155–167, 171, 205, 323 – 327, 331, 341, 357 – bester (r. optima) 231

Sachregister

– als Sicherheits-Gesellschaft (societas securitatis) 161 – Universal- (r. universalis) 85, 147 – Welt- (c. mundi) 157 Stoiker (stoici) 77, 239, 273, 327, 329 Strafe/Bestrafung (poena) 105, 109, 153, 157, 193, 235, 273, 375 – Todes- (p. capitalis) 31 Streben (conatus) s. a. Antriebsmoment 281, 283 Sünde / Verfehlung (peccatum) 13, 31, 79, 267, 273 – Tod- (p. mortale) 185 Tausch (commutatio) 185 Testament (testamentum) 31, 35, 53, 59 Theologie (theologia) 27, 29, 31, 33, 69, 237, 307, 327 – Moral- (th. moralis) 29 – natürliche (th. naturalis) 29 Tier (bestia / brutum) 83, 123, 211, 241, 247, 303, 307, 309 Tod (mors) 55, 61, 91, 147, 149, 155, 157, 231 Topik (topica) 69 trunksüchtig (ebriosus) 167 Tugend / Tüchtigkeit (virtus) 11, 85, 107, 193–197, 225, 231, 239, 329 – des Liebens oder der Freundschaft (v. amandi seu amicitiae) 203

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– moralische (v. moralis) 195, 231 Übereinkunft (conventio) 51, 55, 59, 71, 331, 367 Unglück / Elend (miseria) 99, 101, 109, 121, 127–131, 137, 139, 145–153, 161, 203 Unsterblichkeit (immortalitas) 93, 101, 217, 239, 329 Ursache / Wirkung (causa / effectus) 63, 65, 311 Urteilskraft ( judiciositas) 195 Verbrechen (criminalia) 53, 55, 59 Verdammnis, ewige (damnatio aeterna) 195 Verdienst (meritum) 197 Vernunft (ratio) 9, 23, 29, 59, 71, 77, 135, 157, 199, 203, 239, 241, 305–309 Verordnungen (ordinationes) – Gerichts- (o. processus) 85 – öffentliche (o. politicae) 53, 85 Verpflichtung (obligatio) 47, 49, 51, 55, 81, 197, 245, 267, 301, 303 Verstand (intellectus) 7, 9, 11, 17, 19, 21, 23, 193 Vertrag (contractus) 35, 45, 51, 53, 71, 139, 323 – hinterlistiger (c. subtilis) 81 – bloßer (pactum nudum) 183, 185, 333 Verwandtschaft (cognatio) 97

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Sachregister

Volk (populus) 51, 71, 85, 165 vorsätzlich (consulto /sciens) 51, 103, 105, 109, 114 Vorteil / Gewinn (lucrum) 99, 101, 103, 111, 115, 129, 131, 211, 375 (Vor-)Vermutung der Rechtmäßigkeit (praesumptio juris) 97, 111, 179, 363 Wahrheit / wahr (veritas / verus) 209, 221, 223, 365 – ewige (aeterna v.) 221 Wahrnehmung s. Sinn Wahrscheinlichkeit / Wahrscheinliches (probabilitas / probabile) 255, 267, 269, 363 Weisheit /Weiser (sapientia / sapiens) 83, 97, 121, 123, 155, 187, 193, 195, 209, 231, 267, 273, 317 Wert (pretium) 115, 117, 165, 171 – Liebhaber- (p. affectionis) 113–117, 165 Wiedergutmachung s. Schadenersatz

Wiedervergeltung (retorsio) 101, 147 Wille (voluntas) 19, 21, 23, 29, 47, 61, 193, 209, 281, 297, 307– 315 – des Staates (v. civitatis) 163 – eines Höheren (v. superioris) 81, 83 Wissenschaft (scientia) 27, 33, 193, 209, 223, 249, 251, 315, 323 – 327, 349 – Natur- (s. naturalis) 219 Wohl (bonum / salus) – der Bürger (b. civium) 85 – eigenes und fremdes (b. suum / nostrum et alienum) 229, 235, 237 – öffentliches / Gemein- (b. publicum / b. sociale / s. publica) 93, 137, 167, 195, 197, 219, 231 – privates (b. privatum) 197, 219 – der Regierung (b. regiminis) 85 – des Volkes (s. populi) 85 Wohlwollen (benevolentia) 165, 167, 305

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PHILOSOPHIE

Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung Von Hubertus Busche. 1997. XXVII, 593 S. ISBN 3-7873-1342-7. Geb.

Leibniz’ frühe Schriften sind bisher kaum systematisch erschlossen worden. Weil sich jedoch gerade in ihnen eine epochentypische Problemlösungsgeschichte dokumentiert, geben sie größten Aufschluß über jenes systembildende Hauptmotiv, dessen Folgeprobleme Leibniz’ ganze Spätphilosophie differenziert beantworten will: die Harmonisierung der traditionellen Geistmetaphysik mit der kausal-mechanischen Naturerklärung durch die Hypothese vom individualperspektivisch repräsentierenden geistigen Punkt, der später »Monade« heißen wird. Das Buch rekonstruiert in problemgeschichtlicher Methode erstmals die ganze philosophisch-enzyklopädische Synthese des frühen Leibniz und skizziert abschließend eine neue Deutung der späten Monadenlehre vom Frühwerk aus.

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PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK

GOT TFRIED WILHELM LEIBNIZ

Monadologie und andere metaphysische Schriften Französisch–Deutsch. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Ulrich Johannes Schneider. PhB 537. 2002. XXXVIII, 200 S. ISBN 3-7873-1606-X. Leinen.

Seine drei längeren Abhandlungen zur Metaphysik hat Leibniz nicht veröffentlicht, sie haben aber seit dem 18. Jhd. das Bild des Philosophen wesentlich geprägt und unsere Auffassung über neuzeitliche Metaphysik stark mitbestimmt. Mit der Lehre von der Monade als dem Prinzip der Einzigartigkeit des Seienden entwickelte er den Gedanken der Individualität, der für die Entfaltung des gesamten neuzeitlichen Denkens tragend wurde. Inhalt: Discours de métaphysique / Metaphysische Abhandlung La monadologie / Monadologie Principes de la nature et de la grâce fondés en raison / Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade

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