Leibniz und Kant: Erkenntnistheoretische Studien 9783110245349, 9783110245332

Leibniz and Kant are two of the most important founders of modern philosophy, and their thought continues to be relevant

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Leibniz und Kant: Erkenntnistheoretische Studien
 9783110245349, 9783110245332

Table of contents :
Vorwort
Einleitung oder: die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants
I. Leibniz
1. Der Satz vom Grund und seine Begründung
1.1 Theoretische Gründe
1.2 Praktische Gründe
2. Monade und Begriff
2.1 Individuelle Substanz
2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie
2.3 Der Perzeptionensatz
2.4 Monaden spiegeln die Welt
2.5 Logischer Atomismus
3. Zeichen, Kalkül, Wahrscheinlichkeit
3.1 Die Idee einer Universalwissenschaft
3.2 Das Leibnizprogramm
3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkül
3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik
4. Philosophie in einer Leibniz-Welt
4.1 Leibniz-Welt und Leonardo-Welt
4.2 Leibnizprogramm I: Die Welt der Sprache
4.3 Leibnizprogramm II: Die Welt der Monaden
4.4 Die Perspektivität der Welt
4.5 DasMaß derWelt
4.6 Die beste aller mçglichen Welten
4.7 Theoria cum praxi
4.8 Die Ethik einer Leibniz-Welt
5. Der Akademiegedanke
5.1 Aller Anfang ist schwer
5.2 Theoria cum praxi
5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt
6. Calculemus?
6.1 Einheit der Wissenschaft
6.2 Einheit der Welt
6.3 Einheit von Theorie und Praxis
6.4 Kritik des Partikularen
7. Der Philosoph und die Kçnigin
7.1 Die ußere Geschichte
7.2 Die philosophische Geschichte
7.3 Die Akademie
II. Kant
8. Über ,transzendental'
8.1 Argumente, Methoden, Theorien
8.2 Bedingungen der Mçglichkeit
8.3 Synthetisches Apriori
8.4 Lebensweltliches Apriori
8.5 Pragmatische Rekonstruktion
9. Ding als Erscheinung und Ding an sich
9.1 Die Gliederung der Welt
9.2 Dinge an sich
9.3 Distinguamus
10. Konstruktion und Rekonstruktion
10.1 Konstruktion und Rekonstruktion
10.2 Analyse und Synthese
10.3 Konstruktion und Schematismus
10.4 Die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion
10.5 Systematischer Ausblick
11. Spontaneität der Vernunft
11.1 Handlungskontext
11.2 Konstruktion der Begriffe
11.3 Autonomie der Vernunft
12. Dialektik der Aufklärung
12.1 Ambivalenzen
12.2 Sich im und durch das Denken orientieren
12.3 Metaphysik als Naturanlage
12.4 Geteilte Aufklärung
12.5 Handlungsautonomie
12.6 Moralische Autonomie
12.7 Genealogie der Vernunft
12.8 Konstruktion und Wirklichkeit
12.9 Aufklärung der Dialektik
13. Der Streit der Fakultäten und die Philosophie
13.1 Der Streit
13.2 Die Vernunftidee der Universität
13.3 Die Philosophische Fakultät, der Forschungsbegriff und die Philosophie
14. Wenn das Denken nicht mehr will oder: Kant, das Wissen und die Medien
14.1 Kants Kçnigsberg
14.2 Aufklärung
14.3 Virtuelle Fieberträume
14.4 Informations- und Medienwelten
III. Leibniz und Kant
15. Leibniz und Kant über mathematische und philosophische Wissensbildung
15.1 Analysis und Synthesis
15.2 Mathesis universalis
15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion
15.4 Konstruktion und reine Anschauung
15.5 Die Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion (ein systematischer Ausblick)
Abkürzungen
Nachweise
Personenregister
Sachregister

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Jürgen Mittelstraß Leibniz und Kant

Jürgen Mittelstraß

Leibniz und Kant Erkenntnistheoretische Studien

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024533-2 e-ISBN 978-3-11-024534-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Mittelstrass, Jürgen. Leibniz und Kant : erkenntnistheoretische Studien / Jürgen Mittelstrass. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024533-2 (hardcover : alk. paper) 1. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Freiherr von, 1646-1716. 2. Kant, Immanuel, 1724-1804. I. Title. B2598.M58 2011 193-dc22 2011009942

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung oder: die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I.

Leibniz

1.

Der Satz vom Grund und seine Begrndung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Theoretische Grnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Praktische Grnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 16 25

2.

Monade und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Individuelle Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie . . . . . . . . . . 2.3 Der Perzeptionensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Monaden spiegeln die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Logischer Atomismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 30 36 44 52 55

3.

Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Idee einer Universalwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Leibnizprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl 3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik . . . . . .

59 59 63 69 77

4.

Philosophie in einer Leibniz-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Leibniz-Welt und Leonardo-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.2 Leibnizprogramm I: Die Welt der Sprache . . . . . . . . . . . . 87 4.3 Leibnizprogramm II: Die Welt der Monaden . . . . . . . . . . 90 4.4 Die Perspektivitt der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.5 Das Maß der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.6 Die beste aller mçglichen Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.7 Theoria cum praxi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.8 Die Ethik einer Leibniz-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

VI

Inhalt

5.

Der Akademiegedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Aller Anfang ist schwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Theoria cum praxi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108 108 112 116

6.

Calculemus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einheit der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Einheit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Einheit von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Kritik des Partikularen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 122 125 128 130

7.

Der Philosoph und die Kçnigin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die ußere Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die philosophische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Akademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133 135 141 149

II. Kant 8.

ber ,transzendental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Argumente, Methoden, Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Bedingungen der Mçglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Synthetisches Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Lebensweltliches Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Pragmatische Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 159 164 168 172 178

9.

Ding als Erscheinung und Ding an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die Gliederung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Dinge an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Distinguamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 189 193 200

10.

Konstruktion und Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Konstruktion und Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Analyse und Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Konstruktion und Schematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Systematischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 205 208 214 220 222

Inhalt

VII

11.

Spontaneitt der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Handlungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Konstruktion der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Autonomie der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224 224 226 235

12.

Dialektik der Aufklrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Sich im und durch das Denken orientieren . . . . . . . . . . . . 12.3 Metaphysik als Naturanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Geteilte Aufklrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Handlungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Moralische Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7 Genealogie der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Konstruktion und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9 Aufklrung der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238 238 240 241 243 244 247 249 252 255

13.

Der Streit der Fakultten und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Der Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Vernunftidee der Universitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Die Philosophische Fakultt, der Forschungsbegriff und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 258 264

14.

Wenn das Denken nicht mehr will oder: Kant, das Wissen und die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Kants Kçnigsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Aufklrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Virtuelle Fiebertrume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Informations- und Medienwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

279 280 285 287 293

III. Leibniz und Kant 15.

Leibniz und Kant ber mathematische und philosophische Wissensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Analysis und Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Mathesis universalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion . . . . . 15.4 Konstruktion und reine Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Die Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion (ein systematischer Ausblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 303 307 314 321 324

VIII

Inhalt

Abkrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Vorwort Die hier vorgelegten Analysen und Darstellungen zur Philosophie Leibnizens und Kants folgen sowohl einem historischen als auch einem systematischen Interesse. Sie verdanken sich unterschiedlichen Anlssen, allesamt aber einer Konzeption, die die Geschichte systematisch zum Sprechen bringt und das Systematische mit seiner Geschichte verbindet. Schließlich geht es bei allem philosophischen Denken darum, das Historische systematisch und das Systematische historisch reflektiert zu begreifen. Das eine stellt sicher, daß das Historische nicht bloß das Historische ist, das andere, daß sich das Systematische gegenber seiner eigenen Geschichte nicht naiv verhlt. Insofern setzen alle Teile mit systematischen Hinweisen und Fragestellungen ein, desgleichen, zur weiteren Verdeutlichung des jeweils spezifischen Zusammenhanges von systematischer Problemwahrnehmung und historischer Rekonstruktionsabsicht, mit einer (gegenber den ursprnglichen Versionen ergnzten) knappen thematischen Einfhrung, die das Folgende in einen grçßeren philosophischen Zusammenhang stellt. Von Rekonstruktion ist dabei insofern die Rede, als es gegenber Leibniz und Kant nicht nur um Interpretationsfragen im blichen Sinne geht, d. h. um die Beseitigung von Verstndnisproblemen, sondern um den Versuch, anspruchsvollen philosophischen Konzeptionen systematisch dadurch gerecht zu werden, daß man sie fr die Zwecke einer gegenwrtigen Argumentationssituation in deren Sprache bersetzt bzw. sie in dieser bersetzung gleichzeitig weiterentwickelt, sie zumindest einer kritischen systematischen Prfung zugnglich macht.1 Daß sich die Analysen und Darstellungen auf Leibniz und Kant beziehen, ist kein Zufall. Beide stehen fr die neuzeitliche Philosophie in ihren anspruchvollsten Formen, und beide haben bis heute ihren Einfluß auf das Denken, zumal in erkenntnistheoretischer und ethischer Hinsicht, nicht verloren. Dabei ist fr Leibniz eine beispiellose Verbindung zwischen Philosophie und (exakter) Wissenschaft charakteristisch, fr Kant eine ebenso beispiellose Begrndungskonzeption, bezogen auf philosophische 1

Vgl. J. Mittelstraß, Artikel: Rekonstruktion, in: ders. (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 550 – 552.

X

Vorwort

und wissenschaftliche Fundamente. Zudem entwickelt Kant seine theoretischen Vorstellungen in stndiger Auseinandersetzung mit Leibniz, und dies nicht nur in theoretischer, sondern auch in methodischer Hinsicht. In dieser Auseinandersetzung vollzieht sich ein wesentlicher Schritt des modernen philosophischen Denkens, kommt das neuzeitliche Denken in Philosophie und Wissenschaft zu seinem Bewußtsein. Die einzelnen Kapitel des Bandes zeugen zwar von unterschiedlichen Anlssen, nicht aber von unterschiedlichen Zwecken. Sie sind zudem ber das zum Zusammenhang von historischem und systematischem Interesse Gesagte hinaus durch systematische Fragestellungen miteinander verbunden. Dasselbe gilt entsprechend von den Konzeptionen Leibnizens und Kants, die sich auf diese Fragestellungen, z. B. hinsichtlich einer Perspektivitt der Welt oder hinsichtlich eines Begrndungspostulats, beziehen lassen. In diesem Zusammenhang werden auch gewisse Wiederholungen in Kauf genommen. Sie haben jeweils ihren systematischen Platz in einem entsprechenden sachlichen Kontext und demonstrieren gleichzeitig die systematische Anschlußfhigkeit vieler der hier angefhrten Konzeptionen. Das gilt z. B. von der Leibnizschen Begriffs- und Urteilstheorie, auf die mehrfach in einem Erluterungs- und Begrndungskontext zurckgegriffen wird, desgleichen fr das so genannte Leibnizprogramm, aber, in gleicher Weise fr Leibniz wie fr Kant, auch von der Rolle eines Konstruktions- und Rekonstruktionsbegriffs, ferner von den Begriffen einer philosophischen und einer mathematischen Erkenntnis. In diesen und anderen Fllen sind entsprechende erneute Anfhrungen Teile eines geschlossenen Argumentationszusammenhanges. Unabhngig davon wurde an einigen Stellen die ursprngliche Fassung gekrzt und die Zitationspraxis insgesamt vereinheitlicht. Der neu hinzugetretene Einleitungsteil dient der Einfhrung in den historischen Zusammenhang, orientiert an der Auseinandersetzung Kants mit Leibniz, und schlgt den Bogen zur neueren Leibniz- und Kant-Literatur. Salzburg, im Winter 2010

Jrgen Mittelstraß

Einleitung oder: die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants Vor nahezu 20 Jahren hat Lewis White Beck, dem die Kant-Forschung wesentliche Beitrge, unter ihnen ein bekanntes Buch ber Kant und seine Vorgnger1, verdankt, mit Blick auf die deutschsprachige Philosophie des 18. Jahrhunderts, das auch als das philosophische Jahrhundert bezeichnet wird, die Frage gestellt: was wre, wenn Kant nicht gewesen wre? Seine Antwort: „Had Kant not lived, German philosophy between the death of Leibniz in 1716 and the end of the eighteenth century would have little interest for us, and would remain largely unknown.“2 Was als deutsche Philosophie nach Leibniz Bedeutung erlangte, verdanke sich dem Umstand, auf dem Wege von Leibniz zu Kant zu liegen. Entsprechend schreibt Beck die Geschichte der deutschen Philosophie nach Leibniz als die Geschichte einer Vorbereitung auf Kant („as a preparation for Kant“3). Den Ausgangspunkt Leibniz beschreibt er wie folgt: „Leibniz was the last great philosophical system-builder of the seventeenth century, and his bold speculations and systematic wholeness were more characteristic of the seventeenth- than of the eighteenth-century philosophers. His peers were Descartes, Malebranche, Arnauld, Hobbes, Locke, and Spinoza, and in comprehensiveness and variety of genius he surpassed each of them. His system had an answer to almost every question put to it; he was said to be ,an academy of science all by himself, and the principal objection to his grand baroque philosophical system was that it was – simply unbelievable. To accept it all would have required a speculative faith and a blind con-

1 2 3

L. W. Beck, Early German Philosophy: Kant and His Predecessors, Cambridge Mass. 1969. L. W. Beck, From Leibniz to Kant, in: R. C. Solomon/K. M. Higgins (Eds.), The Age of German Idealism, London/New York 1993, 5. Ebd.. Zum dabei registrierbaren Wandel des Philosophiebegriffs im philosophischen Jahrhundert vgl. W. Schneiders, Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverstndnis der Philosophie von Leibniz bis Kant (1985), in: W. Schneiders, Philosophie der Aufklrung – Aufklrung der Philosophie. Gesammelte Studien (ed. F. Grunert), Berlin 2005, 485 – 510.

2

Die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants

fidence in the metaphysical powers of the human mind that few philosophers of the eighteenth century could muster.“4 Das ist gewiß eine Vereinfachung5, aber eine ntzliche. Sie zeugt nicht gerade von philosophiehistorischer Gerechtigkeit – die bei Leibniz selbst die Rolle eines hermeneutischen Postulats spielt –, jedoch von systematischem Augenmaß. Wie Christian Wolff sich Leibniz zurechtlegt, ist beeindruckend – und hat sich als Leibniz-Wolffsche Philosophie einen anerkannten Platz in der Philosophiegeschichtsschreibung geschaffen. Wie Christian August Crusius bereits zwischen apriorischen und aposteriorischen Elementen der Erfahrungskonstitution unterscheidet, ist selbst im Rahmen des von ihm vertretenen psychologisierenden Sensualismus systematisch von Bedeutung. Wie Johann Heinrich Lambert Teile des Leibnizprogramms und einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der neuen Physik realisiert, ist Kants entsprechenden Bemhungen ebenbrtig, in mancher Hinsicht, z. B. in Logik und Methodologie, sogar berlegen.6 Und doch teilen diese auch von Beck7 zum Beleg seiner These herangezogenen philosophischen Konzeptionen das von der Philosophiegeschichtsschreibung verhngte Los auch anderer, kleinerer Grçßen, im langen Schatten Leibnizens und im kommenden Lichte Kants zu stehen oder doch so gesehen zu werden. Ausgangspunkt einer derartigen Einschtzung ist in der Regel Kants Kritik an der in seinen systematischen Augen falsch gestellten erkenntnistheoretischen Alternative zwischen (klassischem) Rationalismus und (klassischem) Empirismus, insbesondere an Leibniz selbst. Kant verweist Leibnizens ,intellektuelles System der Welt8, also die Monadenlehre in ihren ontologischen Aspekten, in das Reich der Metaphysik, d. h., er faßt 4 5

6

7 8

Ebd. Vgl. D. Rutherford, Idealism Declined: Leibniz and Christian Wolff, in: P. Lodge (Ed.), Leibniz and His Correspondents, Cambridge 2004, 214 – 237 („A common story about the development of philosophy in eighteenth-century Germany traces a line of influence from Leibniz through Christian Wolff to Kant. In its crudest version the story begins with a position described as the ,Leibnizian-Wolffian philosophy, a system constructed by Wolff out of Leibnizs fragmentary writings. This system, so the story goes, was one Kant embraced in his pre-Critical works and subsequently rejected because of its dogmatic metaphysical commitments. As history, this tale leaves much to be desired“, 214 f.). Vgl. G. Wolters, Basis und Deduktion. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Theorie der axiomatischen Methode bei Johann Heinrich Lambert (1728 – 1777), Berlin/New York 1980. A.a.O., 7 – 24. Kritik der reinen Vernunft B 326.

Die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants

3

dieses ,System als ein „bloßes Herumtappen (…) unter bloßen Begriffen“9 auf bzw. als „Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft lngst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelanget ist, allein fortzukommen“10, also als Ausdruck eines dogmatischen Verfahrens der Vernunft, „ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermçgens“11. Damit scheint – auch fr viele moderne Interpreten – der philosophische Stab ber Leibniz und seiner theoretischen Philosophie gebrochen zu sein, und dies angesichts des Umstandes, daß Kants Leibnizkritik in vieler Hinsicht – und das sowohl fr den vorkritischen Kant, der sich mit Leibnizens Konzeption der lebendigen Kraft auseinandersetzt, als auch fr den kritischen Kant, hier insbesondere in der immer wieder fr diese Kritik als zentral angesehenen Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe in der „Kritik der reinen Vernunft“12 – unzutreffend ist bzw. Leibniz Auffassungen unterstellt, die schwerlich auf dessen philosophische Einsichten und Konstruktionen zutreffen. Kern der Leibnizkritik ist hier der Vorwurf einer „Verwechselung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung“13, verbunden mit der Begrndung: „Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigene Unterschiede bei sich fhren, sahe er nicht fr ursprnglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen; Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Erkenntnis durch den Verstand, der logischen Form nach, unterschieden.“14 Nach Kant habe Leibniz der Sinnlichkeit „keine eigene Art der Anschauung“ zugestanden15, er habe vielmehr die Erscheinungen ,intellektualisiert16. 9 10 11 12 13 14 15 16

Kritik der reinen Vernunft B XV. Kritik der reinen Vernunft B XXXV. Ebd. Kritik der reinen Vernunft B 324 – 336. Kritik der reinen Vernunft B 326. Ebd. Kritik der reinen Vernunft B 332. Kritik der reinen Vernunft B 327. H. Busche sieht in dem Vorwurf, daß Leibniz Phnomenales und Noumenales verwechselt habe, zurecht das entscheidende Mißverstndnis auf Seiten Kants und sieht dieses in vier Folgeirrtmern reichlich dokumentiert (Wie triftig ist Kants Kritik des Metaphysikers Leibniz?, in: A. Lewendoski [Ed.], Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2004 [Studia Leibnitiana Sonderheft 33], 171 – 182). Dazu ferner: G. H. R. Parkinson, Kant as a Critic of Leibniz: The Amphiboly of Concepts of Reflection, Revue internationale de philosophie 136 – 137 (1981), 302 – 314; M. Schneider, Monaden

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Gegen eine derartige Vorstellung werden im Folgenden, im Kontext vor allem logischer und wissenschaftstheoretischer Rekonstruktionen, detaillierte Grnde geltend gemacht. An dieser Stelle mag der Hinweis gengen, daß Leibniz in physikalischen Zusammenhngen, die auch bei Kant einen wesentlichen Rahmen fr seine erkenntnistheoretischen Erçrterungen bilden, sehr wohl einen systematischen Unterschied zwischen Erscheinungen und ihnen zugrundeliegenden Konstruktionen macht, indem er z. B. von (physikalischen) Erscheinungen als ,phaenomena bene fundata spricht17. Die Phnomene gelten als ,fundiert, wenn sie in einem theoretischen Zusammenhang erklrt sind; ein ,bene fundatum ist in einem methodologischen, nicht in einem ontologischen Zusammenhang zu verstehen.18 Dies wiederum entspricht durchaus der Beziehung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich bzw., in transzendentaler Bedeutung, der Beziehung zwischen Phaenomena und Noumena bei Kant, steht jedenfalls nicht in einem irgendwie gearteten Gegensatz zu dieser. Der Vorwurf, den „Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch“ zu betrachten19 bzw. die Begriffe der Sinnlichkeit und der Erscheinung zu ,verflschen20, trifft die (hier im Zusammenhang auch erwhnte) ,Leibniz-Wolffsche Philosophie, nicht die Leibnizsche.21 Ein Unterschied zwischen konzeptionellen Vorstellungen Leibnizens und Kants besteht nur insofern, als es Kant um einen im allgemeinen Sinne erkenntnistheoretisch motivierten, transzendentalen Ansatz geht, in dessen Rahmen die konstruierende Subjektivitt die gesuchte Objektivitt in der Konstitution der Gegenstnde und ihrer gesetzmßigen Beziehungen untereinander sichert, whrend Leibniz im engeren Sinne einen physiktheoretischen Ansatz verfolgt, in dessen Rahmen konstruierte, ,ideale

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und Dinge an sich. berlegungen zu Leibniz und Kant, Studia Leibnitiana 36 (2004), 70 – 80. Vgl. Brief vom 6. Dezember 1715 an A. Conti, in: Der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz mit Mathematikern, ed. C. I. Gerhardt, Berlin 1899, 265; ferner Brief aus dem Jahre 1705 an B. de Volder, Philos. Schr. II, 276. Vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 499 – 501. Kritik der reinen Vernunft B 61. Kritik der reinen Vernunft B 60. Vgl. C. Wilson, Confused Perceptions, Darkened Concepts: Some Features of Kants Leibniz-Critique, in: G. M. Ross/T. McWalter (Eds.), Kant and His Influence, Bristol 1990, 73 – 103. Zur Begrifflichkeit von klar, deutlich und verworren vgl. G. Gabriel, Artikel: klar und deutlich, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 221 – 222.

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Einheiten an die Stelle materieller Einheiten und ihrer Beziehungen untereinander treten. Beide Anstze sind verschieden, schließen aber entgegen Kants Auffassung einander nicht aus. Zumindest trifft der Vorwurf Kants, daß Leibniz eine Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung unterlaufen sei22, in dieser Strenge nicht zu, insofern Leibniz ausdrcklich von einem Fundierungsverhltnis zwischen (konstruierter) Substanz (diese mag hier als Pendant zu Kants Begriff des Dinges an sich gelten) und gegebener Erscheinung spricht. Dieses Verhltnis wird zwar nicht als ein transzendentales verstanden, entspricht diesem aber unter Fundierungsgesichtspunkten. Umgekehrt liegt auch bei Kant die transzendentale Perspektive im Konstruktions- bzw. Rekonstruktionsgedanken beschlossen.23 Auch wenn Kants Beschreibung, daß Leibniz ein ,intellektuelles System der Welt24 geschaffen habe, zutrifft, bersieht er doch, daß auch in diesem System durchaus Platz fr ein realistisches Bild der Welt der Erscheinungen bleibt. In der Leibniz- und Kantforschung ist die Situation unbersichtlich. Entweder gilt Kants Leibnizkritik, in der die Monadenkonzeption als metaphysisches System im Mittelpunkt steht, als zutreffend25, womit dann auch das letzte Wort ber diese Konzeption gesagt zu sein scheint, oder diese Kritik gilt als unzutreffend26, womit entweder die philosophischen Wege Kants und Leibnizens auseinandergehen – der Leibnizschen Monadenkonzeption wird ein eigener systematischer Status, unabhngig von der Kritik Kants, zugeschrieben – oder doch als unterschiedliche Formen eines gemeinsamen Weges, fr den dann die transzendentale Perspektive, die Kant einnimmt, unter Umstnden nicht mehr die entscheidende wre, angesehen werden. Tatschlich ist sowohl Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich bzw., in transzendentaler Hinsicht, zwischen Phaenomena und Noumena als auch Leibnizens Unterscheidung zwischen Erscheinungen (Phaenomena) und Monaden nicht in dem Sinne klar, daß hier in Form einer systematisch auf der Hand liegenden Unterscheidung fr die eine oder die andere, mit entsprechenden wechselseitigen Konsequenzen, argumentiert werden kçnnte. Vielmehr fhren beide 22 23 24 25 26

Kritik der reinen Vernunft B 326. Vgl. Kapitel 10. Kritik der reinen Vernunft B 326. Vgl. G. H. R. Parkinson, Kant as a Critic of Leibniz (Anm. 16). Vgl. z. B. R. Finster, Leibnizens Entwurf der phnomenalen Welt im Hinblick auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“, in: A. Heinekamp (Ed.), Beitrge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz, Wiesbaden/ Stuttgart 1986 (Studia Leibnitiana Supplementband XXVI), 188 – 197.

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Unterscheidungen Probleme mit sich, die erst jeweils fr sich gelçst werden mssen, bevor ein Vergleich die mçgliche Strke der einen und die mçgliche Schwche der anderen erkennen lßt. Selbst dann aber kçnnte es sein, daß man es hier eher mit zwei auf verschiedenen Ebenen konkurrierenden theoretischen Anstzen, die jeweils ihre eigenen Vorteile und ihre eigene berzeugungskraft besitzen, als mit einer systematisch entscheidbaren Alternative zu tun hat. Philosophische Konzeptionen sind selten auf einen gemeinsamen philosophischen Nenner zu bringen; sie verhalten sich untereinander perspektivisch, stellen im gnstigsten Falle ein Bild der Welt dar, nicht wie sie ,wirklich ist, sondern wie wir sie durch unsere Konstruktionen – mit unterschiedlicher begrifflicher Schrfe und theoretischer Konsistenz – sehen. So ruht der philosophische Akzent bei Leibniz auf einer Konstruktion, die generell den begrifflichen und theoretischen Charakter der Wissensbildung, zugleich die Einheit des Wissens (in Form eines Systems des Wissens) im Auge hat, bei Kant auf einer erkenntnistheoretischen Analyse, die nicht selbst schon, nmlich in Form einer Transzendentalphilosophie, auf ein System der Leibnizschen Art zielt.27 Entsprechend werden auch hier beider Anstze voneinander unterschieden, wenn auch aufeinander bezogen, dargestellt – zusammenfassend, unter erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten, im abschließenden Teil III –, ohne daß sich daraus die Notwendigkeit ergibt, den einen Ansatz zugunsten des anderen zu verwerfen. Dafr sind beide fr sich genommen, wiederum aus theoretischen Grnden, zu anspruchsvoll und in sich systematisch zu konsequent.28 In gewissem Sinne spiegelt sich der von Kant betonte Gegensatz zwischen einer metaphysischen Konzeption, die er Leibniz mit einem Intellektualisierungsvorwurf unterstellt, und seiner eigenen erkenntnis27 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B XXIII. 28 Vgl. dazu die klrenden berlegungen von M. Schneider (Monaden und Dinge an sich – berlegungen zu Leibniz und Kant, Studia Leibnitiana 36 [2004], 70 – 80), wobei Schneider besonders den Umstand betont, daß sich Kants Argumente, mit denen er Leibniz in der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe kritisiert, auch gegen die eigene Darstellung richten lassen („Man kann […] fglich die Frage an die Kantische Philosophie richten, ob nicht auch bei Kant die Realitt oder objektive Gltigkeit der Gegenstnde als Gegenstnde mçglicher Erfahrung zustzlich abgesichert wird durch eine im nicht-empirischen Bereich der reinen Verstandesttigkeit vorgegebene ursprngliche Einheit“, 79). Im Unterschied dazu wird hier mit der Rekonstruktion der Unterscheidung Kants zwischen Erscheinungen und Dingen an sich (Kapitel 9) ein anderer Weg gegangen, der geeignet ist, dieses Argument zu entkrften.

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theoretischen (transzendentalphilosophischen) Konzeption in der Philosophie Leibnizens selbst, jedenfalls mit den Augen seiner Interpreten betrachtet. Hier stehen sich noch immer die ,Logiker (zu Beginn etwa B. Russell29 und L. Couturat30) und die ,Metaphysiker (etwa E. Cassirer31 und A. Gurwitsch32) gegenber, wenn es darum geht, das eine aus dem anderen, die Leibnizsche Metaphysik (gemeint ist die Monadenlehre im weiteren Sinne) aus der Leibnizschen Logik (und Erkenntnistheorie) zu erklren (,abzuleiten) oder umgekehrt die Leibnizsche Logik aus der Leibnizschen Metaphysik. Aus einer allgemeinen Rekonstruktionsaufgabe, die beidem gerecht zu werden sucht, wird, auf dem Hintergrund eines vermeintlich ungeklrten Verhltnisses beider Anstze bei Leibniz selbst33, eine besondere Ableitungsaufgabe. Kein Wunder, daß dabei hufig die vermutete Einheit des Leibnizschen Denkens auf der Strecke bleibt oder diese sich mehr oder weniger als erzwungene Einheit zu erkennen gibt.34 Fr Rekonstruktionsbemhungen, die in Leibnizens Werk das Philosophische mit dem Logischen, das Theoretische mit dem Methodischen verbinden, çffnet sich noch immer ein weites Feld. Es ist zugleich das Feld, das die folgenden Leibnizkapitel auf eine selbst begrifflich und methodisch orientierte Weise wieder einzugrenzen bzw. mit konkreten systematischen Vorschlgen zu besetzen suchen. Sieht man von diesen internen Problemen der Leibnizschen Konzeption, die ihren Ausgangspunkt und ihr Ende stets im Monadenbegriff (bzw. dem einer individuellen Substanz) finden35, bleibt in der Leibniz- und 29 A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. With an Appendix of Leading Passages, Cambridge 1900, 21937. 30 La logique de Leibniz daprs des documents indits, Paris 1901. 31 Leibniz System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902. 32 A. Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin/New York 1974. 33 Vgl. F. Mondadori, The Leibnizian Circle, in: M. Kulstad (Ed.), Essays on the Philosophy of Leibniz, Rice University Studies 63 (1977), Nr. 4, 69 – 96. 34 Vgl. A. Blank (Der logische Aufbau von Leibniz Metaphysik, Berlin/New York 2001, 11 – 13), der die von der Leibnizforschung verfolgten Wege auf drei Alternativen und deren hufig wechselseitige Verbindungen bringt und in einer Analyse systematische Defizite der jeweiligen Alternativen ausarbeitet. Die Lçsung sieht Blank in einer Leibnizschen Strategie, die Elemente eines ,revisionren Vorgehens mit Elementen einer ,deskriptiven metaphysischen Begrndung zu einem allen Aspekten der Leibnizschen Philosophie gerechtwerdenden Bild eines ,logischen Aufbaus der Metaphysik verbindet. 35 Auf eine prgnante Weise von K. Fischer in seiner monumentalen „Geschichte der neueren Philosophie“ im Sinne eines seine theoretische Philosophie leitenden Prinzips zum Ausdruck gebracht: „Um den Begriff der einzelnen Substanz streitet er mit Descartes, denn bei ihm ist die einzelne Substanz nie zusammengesetzt,

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Kantforschung selbst Raum fr die These, daß Kant nicht nur seine Kritik der reinen Vernunft als „Apologie fr Leibniz“ auffaßte36, sondern auch selbst Leibnizsche Positionen vertrat bzw. diese mit seinen eigenen Konzeptionen fr vertrglich hielt: „Not only are Kants focal problems Leibnizian problems, it is also the case that no other early-modern philosopher was as close to Kant with regard to their respective positive (metaphysical) views as Leibniz – and this holds not only for the young Kant but for the critical Kant as well.“37 Entsprechend weise Kants eigene Philosophie Leibnizsche Zge auf, eine Eigenschaft, die selbst fr den transzendentalphilosophischen Ansatz gelte („it can be argued that even the transcendental philosophy of the first Critique itself, i. e., the non- or antimetaphysical part of Kants mature theory, shares many aspects with Leibnizs philosophy“38). Kants Kritik, hier in neun Punkten referiert39, betrfe in diesem Falle weniger Leibniz selbst als vielmehr, mit Wolff an der Spitze, die ,Leibnizianer.40 Sachlich luft dies z. B. auf die These hinaus,

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sondern immer einfach: sie ist Einheit. Um den Begriff der Einheit streitet er mit der Arithmetik, denn in seinem Verstande ist die Einheit unteilbar: sie ist Punkt. Um den Begriff des Punktes streitet er mit der Geometrie, denn seine Punkte sind wirkliche Wesen oder Atome. Um den Begriff des Atoms streitet er mit den Atomisten, denn seine Atome sind Krfte oder Formen. Um den Begriff der Formen streitet er mit den Corpuskularphilosophen, denn ihm gelten die Formen der Dinge nicht als zufllige, sondern als wesentliche Bedingungen: sie sind substantielle Formen oder Individuen. Daß die Substanz so begriffen werden msse, erklrt das Wort Monade. ,Und diese Monaden, sagt Leibniz am Anfange seiner Monadologie, ,sind die wahrhaften Atome der Natur und mit einem Wort die Elemente der Dinge.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 41902 [Geschichte der neuern Philosophie III], 341). ber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ltere entbehrlich gemacht werden soll (1791), Akad.-Ausg. VIII, 250 (Werke III, 373). A. Jauernig, Kants Critique of the Leibnizian Philosophy: Contra the Leibnizians, but Pro Leibniz, in: D. Garber/B. Longuenesse (Eds.), Kant and the Early Moderns, Princeton/Oxford 2008, 41 – 63, 214 – 223, hier 44. Vgl. P. Cicovacki, Kants Debt to Leibniz, in: G. Bird (Ed.), A Companion to Kant, Oxford 2006, 79 – 92. A. Jauernig, ebd. A. Jauernig, a.a.O., 45 – 48. Dafr sprche auch, daß wesentliche, fr die Kritik Kants relevante Teile des Leibnizschen Werkes erst im 19. und 20. Jahrhundert publiziert vorlagen – darunter der „Discours de mtaphysique“ von 1686 (publiziert 1846) und der Briefwechsel mit A. Arnauld, B. de Volder und B. Des Bosses –, Kant Leibniz zu großen Teilen durch die Brille der Leibniz-Wolffschen Philosophie sieht und auch ein direkter Beleg fr Kants zentrale These, Leibniz verwechsle die Erscheinung mit Dingen an sich, fehlt. Vgl. D. Garber, What Leibniz Really Said?, in: D.

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daß Kants transzendentaler Ansatz eine Reformulierung der Leibnizschen Subjektphilosophie leiste.41 Das wiederum mag allzu speziell erscheinen, macht aber deutlich, daß der Spielraum fr vergleichende Analysen der Konzeptionen Leibnizens und Kants groß ist. Das gilt natrlich vor allem fr den frhen Kant, d. h. fr eine Phase, in der Kant mit seinen Vorstellungen direkt an Leibniz anschließt. Kant sucht hier die Metaphysik Leibnizens mit der Physik Newtons, d. h. ein traditionelles philosophisches Element mit einer neuen wissenschaftlichen Konzeption, einer ,empirischen Philosophie42, zu verbinden. Er htte diese Verbindung auch bei Leibniz selbst, in dessen Verbindung metaphysischer und physikalischer Konzeptionen, suchen und finden kçnnen. Es geht um Krfte, den Raum, das Unteilbare und die Monaden, die schon bei Leibniz eine Einheit, zuletzt dargestellt in der Monadologie, bilden sollen. In der „Monadologia physica“ (1756) bildet eine Monadologie in Leibnizschem Geiste die Grundlage fr eine Materietheorie, in der die Materie aus einfachen Substanzen, eben Monaden, zusammengesetzt ist, die ber das Fehlen von Teilen definiert sind und deren Zusammensetzung zu (physischen) Kçrpern durch die Wirkung attraktiver und repulsiver Krfte bestimmt ist. Schwierigkeiten, die hier der Raumbegriff (Teilbarkeit des Raumes) mit sich bringt, werden unter Rckgriff auf den Leibnizschen Raumbegriff zu lçsen versucht: „Whrend der Raum ins Unendliche teilbar ist, ist es die Materie keineswegs. Kants Monaden sind einfach, aber ausgedehnt. Wren sie es nicht, so kçnnte aus ihrer Zusammensetzung kein Kçrper endlicher Grçße entstehen. Kants Problem besteht nun darin, deutlich werden zu lassen, wie eine ausgedehnte Monade dennoch keine Teile enthlt. Die Lçsung dieses Problems sucht Kant in der, in ihrer modernen Form von Leibniz begrndeten, relationalen Theorie des Raums, welche den Raum als Inbegriff der mçglichen Anordnung von Kçrpern begreift. Der Raum nmlich ist fr Kant ,von Substantialitt vçllig frei und eine Erscheinung des ußeren Verhltnisses von vereinigten Monaden … (…). Wenn der Raum nur das ußere Verhltnis von Monaden ist, dann impliziert die Teilbarkeit des Raums keinesfalls auch die Teilbarkeit der Monaden. Darber hinaus lßt diese relationale Theorie Garber/B. Longuenesse (Eds.), Kant and the Early Moderns, 64 – 78, 223 – 224. Garber wendet sich gegen Jauernigs Vorstellung vom Leibnizianer Kant. 41 K. E. Kaehler, Kants transzendentale Reformulierung der substantiellen Einheit des leibnizschen Subjekts, in: R. Cristin (Ed.), Leibniz und die Frage nach der Subjektivitt (Leibniz-Tagung Triest 11. bis 14. 5. 1992), Stuttgart 1994 (Studia Leibnitiana Sonderheft 22), 159 – 170. 42 Kritik der reinen Vernunft B 868.

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auch verstehen, wie trotz der unendlichen Teilbarkeit des Raums endliche Raumstcke (also Lngen) mçglich sind: Der Raum besteht nicht aus Punkten; Raumpunkten kommt keine unabhngige Existenz zu.“43 Das gilt, wie M. Carrier zeigt, auch von den nheren Bestimmungen der Struktur von Monaden. Erst in den „Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft“ (1786) verabschiedet sich Kant von seinem Leibnizschen Ansatz in der Materietheorie, insofern sich nunmehr feststellen lßt, „daß eine Monade dem Eindringen einer anderen Monade in die Sphre ihrer Wirksamkeit nur dann widerstehen kçnne, wenn jeder Raumpunkt zwischen den beiden mit repulsiver Kraft und also mit Materie angefllt sei“44. Die Materietheorie lçst sich von ihren metaphysischen

43 M. Carrier, Kants Theorie der Materie und ihre Wirkung auf die zeitgençssische Chemie, Kant-Studien 81 (1990), 170 – 209, hier 173. 44 M. Carrier, a.a.O., 181 f.. Vgl. M. Carrier, Kraft und Wirklichkeit. Kants spte Theorie der Materie, in: Forum fr Philosophie Bad Homburg (Ed.), bergang. Untersuchungen zum Sptwerk Immanuel Kants, Frankfurt 1991, 208 – 230, und M. Carrier, Kants Theory of Matter and His Views on Chemistry, in: E. Watkins (Ed.), Kant and the Sciences, Oxford 2001, 205 – 230. Wenn Kant in den „Metaphysischen Anfangsgrnden“ von Monaden wie von punktfçrmigen Zentren einer Kraftsphre spricht (Akad.-Ausg. IV, 504 f. [Werke V, 56 ff.]), kann das wieder als ein Rckbezug auf Leibniz, nmlich auf dessen Begriffe des formalen Atoms und des metaphysischen Punktes (Systme nouveau [1695], Philos. Schr. IV, 482) angesehen werden. Von einer in Grundzgen beibehaltenen bereinstimmung mit Leibnizens physikalischer Monadenkonzeption zeugt auch die folgende lngere Passage aus den „Metaphysischen Anfangsgrnden“, in der Kant ausfhrlich, und im Blick auf seine eigenen Vorstellungen, auf diese Konzeption eingeht. Kant spricht hier von einer „Monadologie, die gar nicht zur Erklrung der Naturerscheinungen gehçrt, sondern ein von Leibnizen ausgefhrter, an sich richtiger platonischer Begriff von der Welt ist, so fern sie, gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als Ding an sich selbst betrachtet, bloß ein Gegenstand des Verstandes ist, der aber doch den Erscheinungen der Sinne zum Grunde liegt. Nun muß freilich das Zusammengesetzte der Dinge an sich selbst aus dem Einfachen bestehen; denn die Teile mssen hier vor aller Zusammensetzung gegeben sein. Aber das Zusammengesetzte in der Erscheinung besteht nicht aus dem Einfachen, weil in der Erscheinung, die niemals anders als zusammengesetzt (ausgedehnt) gegeben werden kann, die Teile nur durch Teilung und also nicht vor dem Zusammengesetzten, sondern nur in demselben gegeben werden kçnnen. Daher war Leibnizens Meinung, so viel ich einsehe, nicht, den Raum durch die Ordnung einfacher Wesen neben einander zu erklren, sondern ihn vielmehr diese als korrespondierend, aber zu einer bloß intelligibeln (fr uns unbekannten) Welt gehçrig zur Seite zu setzen, und nichts anders zu behaupten, als was anderwrts gezeigt worden, nmlich daß der Raum, samt der Materie, davon er die Form ist, nicht die Welt von Dingen an sich selbst, sondern nur die Erscheinung derselben

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Voraussetzungen und wird (mit Ausschluß fernwirkender Repulsionen) physikalisch. Unberhrt davon, und dies wiederum im Sinne erkenntnisund wissenschaftstheoretischer Einsichten, bleibt die methodische Vorstellung, die beide, Leibniz und Kant, miteinander teilen, nmlich die einer Aneignung (Erklrung) des Gegenstandes durch seine Darstellung (Konstruktion). Kant spricht hier gegenber der lteren Metaphysik von einer ,Revolution der Denkart45, Leibniz von der ,Herrschaft der Vernunft46. Es sind derartige Gesichtspunkte, die ber alle Differenzen, tatschliche oder auch nur angenommene, hinweg die tiefere Einheit der theoretischen Konzeptionen Leibnizens und Kants ausmachen. So liegt auch in der Leibnizkritik Kants, fr die immer wieder die Passage aus der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe herangezogen wird, noch etwas anderes als eine systematische Distanzierung, nmlich die (richtige) Annahme, daß Leibniz in methodischen Dingen bereits die Perspektive Kants teilt, auch wenn sich diese im Sinne Kants noch nicht als transzendental ausweisen lßt.47 An deren Stelle steht, wie bereits erwhnt, ein mit der Formel einer Wohlfundiertheit der Phnomene (phaenomena bene fundata) beschriebenes Konzept, das zumindest Teile einer transzendentalen Einsicht, nmlich die Bestimmung von Bedingungen der Mçglichkeit von Erkenntnis, erfllt. Wo es um zentrale erkenntnistheoretische Elemente einer Konstitution der Gegenstnde und des Wissens von diesen Gegenstnden geht, sind sich – nach Fragestellung und systematischem Ansatz – Leibniz und Kant sehr nahe, auch wenn Kant in den entsprechenden monadologischen Konzeptionen Leibnizens eben jene transzendentale Perspektive vermißt und z. B., in einem Leibnizschen Kontext, in einer Theorie von Raum und Zeit, beim Substanzbegriff 48, dem Konzept

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enthalte, und selbst nur die Form unserer ußern sinnlichen Anschauung sei“ (Akad.-Ausg. IV, 507 f. [Werke V, 62]). Kritik der reinen Vernunft B XI. Brief vom 2. Februar 1702 an P. Varignon, Math. Schr. IV, 94. Vgl. K. E. Kaehler, Systematische Voraussetzungen der Leibniz-Kritik Kants im „Amphibolie-Kapitel“, in: G. Funke (Ed.), Akten des 5. Internationalen KantKongresses Mainz 4.–8. April 1981 (Teil I.1: Sektionen I–VII), Bonn 1981, 417 – 426. Kaehler greift allerdings zur Begrndung auf Gott als dem absoluten Grund des Leibnizschen Systems und damit auf eine metaphysische Kernaussage zurck, die unter methodischen Gesichtspunkten schwerlich rekonstruierbar sein drfte. In Kants Analyse ist die Substanzkategorie, die die Unterscheidbarkeit zwischen Gegenstnden und ihren Eigenschaften sicherstellt, ganz auf die Zeitbestimmung der Beharrung abgestellt (vgl. Kritik der reinen Vernunft B 224 [Erste Analogie der Erfahrung]). Dagegen macht T. Rosefeldt geltend, daß sich Kants Sub-

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einer prstabilierten Harmonie, dem „wunderlichste(n) Figment, was je die Philosophie ausgedacht hat“49, und im Rahmen einer analytischen Urteilstheorie andere philosophische Wege geht. Einer besonderen Begrndung dafr, daß dies in der grundstzlichen systematischen Nhe zu Leibnizens Denken nichts ndert, bedarf es hier nicht. Und auch darin sind sich Leibniz und Kant einig: Das theoretische Wissen besitzt keine Grenzen, aber Schranken.50 Nach Leibniz sind vollstndige Begriffe, die individuelle Substanzen (Monaden) reprsentieren und ber diese das Universum, prinzipiell vollstndig analysierbar, faktisch hingegen nicht. Nach Kant gibt es so etwas wie die Einheit der Erfahrung, nicht aber eine Erfahrung der Einheit.

stanzbegriff im Rahmen der Analyse des Paralogismus der Substantialitt (Substanz ist dasjenige, „dessen Vorstellung das absolute Subjekt unserer Urteile ist“, Kritik der reinen Vernunft A 348) durchaus mit der Leibnizschen Definition einer durch ihren vollstndigen Begriff reprsentierten Substanz in Verbindung bringen bzw. sogar mit dieser gleichsetzen lßt (Absolutes Subjekt und vollstndiger Individuenbegriff. Leibniz Rolle in Kants Kritik der rationalen Psychologie, in: H. Poser [Ed.], Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G. W. Leibniz [VII. Internationaler Leibnizkongreß III], Berlin 2001, 1077 – 1084). Zum Einfluß Leibnizens (im Rahmen der Monadologie) auf die Substanzkonzeption Kants vgl. A. Hahmann, Kritische Metaphysik der Substanz. Kant im Widerspruch zu Leibniz, Berlin/New York 2009 (Kant-Studien Ergnzungshefte 160). In seiner Darstellung der Monadenkonzeption Leibnizens schließt Hahmann weitgehend an die bliche ,metaphysische Auffassung dieser Konzeption an und besttigt insofern auch Kants Kritik, die in der Monadologie ein metaphysisches System zu erkennen glaubt, das im Unterschied zu den hier vorgelegten Studien keiner weiteren erkenntnistheoretischen Rekonstruktion im systematischen Sinne zugnglich ist. 49 Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804), Akad.-Ausg. XX, 284 (Werke III, 618). 50 I. Kant, Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (1783), § 57, Akad.-Ausg. IV, 352 (Werke III, 227). Vgl. N. Rescher, Studies in Leibnizs Cosmology, Heusenstamm 2006 (Nicholas Rescher. Collected Papers XIII), 192.

I. Leibniz

1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung Alle Philosophie fragt nach dem Grund – dem Grund der Dinge und dem Grund alles Philosophierens. Ausdruck dieser Frage ist der Satz vom Grund, der bei Leibniz seine fundamentale Bedeutung, im Theoretischen wie im Praktischen, erhlt. In seiner krzesten und zugleich prgnantesten Formulierung lautet der Satz vom zureichenden Grund, auch einfach Satz vom Grund genannt: nihil est sine ratione. Er findet sich in dieser Formulierung an zahlreichen Stellen des Leibnizschen Werkes, zum ersten Male in der Schrift „Theoria motus abstracti“ von 1670.1 Leibniz setzt hier den von ihm als principium nobilissimum bezeichneten Satz als bereits bekannt voraus und bemerkt lediglich, daß von diesem auch der Satz, daß das Ganze grçßer als seine Teile sei, ,abhinge. Wie das zu verstehen ist, erfhrt man an dieser Stelle nicht, doch drfte zunchst wenigstens dies gemeint sein, daß selbst ein Satz wie das 8. Euklidische Axiom noch ,begrndet werden kann. Das nihil est sine ratione brchte dann aber soviel wie die Aufforderung zu einer solchen Begrndung zum Ausdruck, und unter der Abhngigkeit des zu begrndenden Satzes von einem Satze, der diese Aufforderung enthlt, htte man darber hinaus noch die Erklrung zu verstehen, daß ein Satz wie das genannte Axiom auch begrndet werden muß. Das heißt, das hier erwhnte principium nobilissimum bestnde in nichts anderem als der Verpflichtung, gewisse Stze (hier einen Satz der Geometrie) zu begrnden. Natrlich ist dies zunchst nicht mehr als eine khne Vermutung, eine Vermutung, die sich an dieser Stelle auf keine weiteren Erluterungen zu sttzen vermag und zudem schon dem schlichten Wortlaut des Satzes vom Grund nicht zu entsprechen scheint. Mit dem nihil est sine ratione ist, so mçchte man sagen, eine Behauptung aufgestellt, die strenggenommen selbst noch einer Begrndung bedarf, und keine Forderung erhoben, ber 1

Philos. Schr. IV, 232. Die folgende Darstellung ist in grçßerem Zusammenhang weiter ausgefhrt in: J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 453 – 477.

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

deren Tragweite man allenfalls streiten kçnnte, die es darber hinaus aber einfach zu erfllen gilt. In der Tat greift diese Vermutung weit voraus. Sie soll erst im Folgenden, verstanden nun als eine These ber den Satz vom Grund, genauer dargestellt werden und dabei, in historischer Absicht, die Bedeutung der Leibnizschen berlegungen in diesem Punkte sowie, in systematischer Absicht, den Sinn vor Augen fhren, den ein Satz vom Grund fr alles Denken, das sich ,vernnftig wird nennen drfen, besitzt.

1.1 Theoretische Grnde Ausfhrlichere Formulierungen des Satzes vom Grund finden sich bei Leibniz unter anderem in der „Monadologie“ und in den „Prinzipien der Natur und der Gnade“. So heißt es in den Paragraphen 31 und 32 der „Monadologie“, daß „unsere Vernunfterkenntnisse“ auf „zwei großen Prinzipien“ beruhen. Erstens „auf dem des Widerspruchs, kraft dessen wir das als falsch beurteilen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr das, was zum Falschen entgegengesetzt oder kontradiktorisch ist“. Zweitens „auf dem des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß sich keine Tatsachen als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund gbe, weshalb es so und nicht anders ist, wenngleich uns diese Grnde sehr hufig durchaus nicht bekannt sein mçgen“2. hnlich lautet die Bemerkung ber den Satz vom Grund in Paragraph 7 der „Prinzipien“. Sie besagt dort, daß „nichts ohne zureichenden Grund geschieht, d. h. sich nichts ereignet, ohne daß es dem, der die Dinge hinlnglich kennt, mçglich wre, einen Grund anzugeben, der zureicht, um zu bestimmen, warum es so ist und nicht anders“3. Auf den ersten Blick kçnnte es so erscheinen, als ob hier unter dem Satz vom Grund nichts anderes verstanden wre als ein Prinzip der Kausalitt. Er wrde besagen, daß sich alles, was ,existiert oder ,geschieht, als Wirkung einer Ursache auffassen lasse, die aufzuweisen der Satz vom Grund als Forderung enthielte. Tatschlich legen manche andere Formulierungen eine solche, sich am physikalischen Schema von causa und effectus orientierende Deutung nahe. Leibniz selbst betont wiederholt, daß das nihil est sine ratione ,im gewçhnlichen Verstande auch als nihil fit sine causa bezeichnet werde, und gibt dabei zu erkennen, daß auch eine solche 2 3

Philos. Schr. VI, 612. Philos. Schr. VI, 602.

1.1 Theoretische Grnde

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Formulierung seiner Auffassung des Satzes vom Grund keineswegs zuwiderluft.4 Und doch wrde man Leibniz mißverstehen, wollte man aus derartigen Bemerkungen eine bewußte Einschrnkung des Satzes auf einen physikalisch interpretierten Kausalittsbegriff herauslesen. Diese Einschrnkung ist charakteristisch fr Kants Formulierung eines ,Grundsatzes der Kausalitt in der „Kritik der reinen Vernunft“, entspricht jedoch nicht, wie Kant selbst spter zu erkennen gibt5, der Leibnizschen Intention. Fr Leibniz ist das Kausalittsprinzip, etwa im Sinne Kants, ein Spezialfall des Satzes vom Grund, es bringt lediglich zum Ausdruck, wie man in der Physik nach Grnden suchen soll. Entsprechend tritt in den Leibnizschen Schriften neben einem synonymen Sprachgebrauch von ratio und causa (im Sinne der aristotelisch-scholastischen Tradition) auch ein strengerer, unterscheidender Gebrauch dieser Termini auf, der dann bereits die neuzeitliche, physikalische Auffassung von causa enthlt. So lautet z. B. die Formulierung des Satzes vom Grund in der „Theodizee“, „daß niemals etwas ohne eine Ursache (cause) oder zumindest einen bestimmenden Grund (raison determinante) geschieht“6 ; causa, als ratio in natura, ist ratio realis, so wird an anderer Stelle definiert7, womit wiederum deutlich wird, daß im unterscheidenden Gebrauche ratio als Oberbegriff zu causa (im physikalischen Sinne) auftritt. Doch nicht nur diese berlegungen zeigen, daß mit den ,Vernunfterkenntnissen, die auf dem Satz vom Grund beruhen sollen, keineswegs allein physikalische Stze gemeint sind. Ausdrcklich heißt es einmal, daß sich „ein großer Teil der Metaphysik (gemeint ist hier eine rationale Theologie, Verf.), der Physik und der Ethik“ auf diesem Satze ,errichten lasse8, und unter den Beispielen fr eine solche Verwendung kommen denn auch neben physikalischen Stzen (wie dem 1. Archimedischen Postulat ber das Gleichgewicht9 und dem vielbemhten Esel Buridans10) Erçrterungen ber Handlungen und deren Motivationen vor. Einer mittelalterlichen Vorliebe folgend, ist dabei in erster Linie immer von Gottes Handeln die Rede, und zwar genauer davon, ob dieses gçttliche Handeln in einer vernnftigen und als solche auch erkennbaren Absicht oder aber in 4 Vgl. Philos. Schr. VII, 301, 309. 5 ber eine Entdeckung, nach der alle Kritik der reinen Vernunft durch eine ltere entbehrlich gemacht werden soll (1790), Akad.-Ausg. VIII, 247 f.. 6 Philos. Schr. VI, 127. 7 Philos. Schr. VII, 289. 8 Philos. Schr. VII, 301. 9 Philos. Schr. VII, 356, 301. 10 Philos. Schr. VI, 129 f., vgl. Philos. Schr. III, 402 f..

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

einem nicht weiter als vernnftig ausgezeichneten bloßen Willen beruhe. So hatte im Rahmen der bekannten Kontroverse zwischen Leibniz und Clarke letzterer in seiner zweiten Entgegnung erklrt, daß ein zureichender Grund dafr, warum etwas eher so als anders ist, hufig nur im bloßen Willen Gottes gesucht werden kçnne.11 Dies wrde jedoch, so lautet dagegen Leibnizens Antwort, bedeuten, daß Gott „etwas will, ohne daß es fr seinen Willen einen zureichenden Grund gbe“, womit zugleich unterstellt wre, daß Gott auch unvernnftig handeln kçnne.12 Weniger theologisch gewendet lautet hier die Leibnizsche These, formuliert im vierten Brief, daß „ein einfacher Wille ohne irgendein Motiv (ein bloßer Wille)“ eine Fiktion sei13, auch Handlungen sich also auf ihre Grnde, sprich Motive, hin befragen lassen mssen. In welchem Sinne einige dieser Handlungen dann auch ,vernnftig heißen drfen, deutet eine andere Bemerkung aus der Schrift „De contingentia“ (ca. 1686) an. „Wie sich Gott“, so heißt es hier, „selbst entschlossen hat, niemals zu handeln, es sei denn gemß den wahren Grnden der Weisheit (secundum sapientiae rationes veras), so hat er vernnftige Wesen (creaturas rationales) geschaffen, auf daß sie niemals handeln, es sei denn gemß den vorwiegenden Grnden, nmlich solchen, die zur Wahrheit tendieren oder es zu tun scheinen, und die an Stelle der Vernunft stehen (secundum rationes praevalentes seu inclinantes veras vel apparentes, vicarium rationis).“14 Hier wird, wiederum in theologischer Ausdrucksweise, ein deutlicher Zusammenhang gesehen zwischen ,vernnftig und einem Handeln nach ,wahren Grnden; die Frage ist nur, wann Grnde berhaupt in diesem Zusammenhang als wahre Grnde gelten sollen. Wenn der Satz vom Grund, nunmehr auch auf Handlungen angewendet, zu ,Vernunfterkenntnissen fhren soll, dann offenbar in diesem Falle zur Erkenntnis jener ,wahren Grnde, fr die es nun, zur Unterscheidung von anderen Grnden, die Handlungen bestimmen mçgen, ein Kriterium zu finden gilt. An dieser Stelle empfiehlt es sich, einen Moment innezuhalten und zur besseren Orientierung folgende terminologische Vereinbarung zu treffen. ,Vernunfterkenntnisse werden in Stzen formuliert. Dabei mçgen Stze, die ,Erkenntnisse ber menschliches Handeln enthalten, praktische Stze heißen, und zwar ganz im Sinne Kants, insofern sie ihrerseits menschliches 11 12 13 14

Philos. Schr. VII, 359. Philos. Schr. VII, 365. Philos. Schr. VII, 371. Textes indits, I–II, ed. G. Grua, Paris 1948, I, 305.

1.1 Theoretische Grnde

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Handeln bestimmen sollen. Stze hingegen, die in dieser Weise nicht unmittelbar dazu dienen, menschliches Handeln zu bestimmen, jedoch ebenfalls ,Erkenntnisse formulieren, mçgen theoretische Stze heißen, womit im brigen natrlich nur erneut die traditionelle Einteilung der Philosophie in einen praktischen und einen theoretischen Zweig getroffen ist. Worauf es dabei in diesem Zusammenhang ankommt, ist die jetzt mçgliche Feststellung, daß der Satz vom Grund nach Leibniz sowohl auf theoretische als auch auf praktische Stze anwendbar ist: theoretische wie praktische Stze sollen nach ihren Grnden beurteilt werden kçnnen. Nun ist es gewiß sinnvoll, im Falle theoretischer Stze von Grnden zu sprechen, die, jetzt ebenfalls als Stze formuliert, die Annahme anderer Stze rechtfertigen sollen. So lassen sich etwa physikalische Stze ber irgendwelche Ereignisse dadurch rechtfertigen, daß man andere Stze angibt, welche die Grnde dieser Ereignisse, ihre Ursachen, anzufhren suchen. Ein wenig anders ist dies jedoch im Falle der praktischen Stze. Von ,Grnden zu reden, hat hier nur insofern Sinn, als damit Ziele gemeint sind (hier synonym mit Zwecken aufgefaßt), nach denen das Handeln ausgerichtet ist oder ausgerichtet werden soll. Diese Ziele werden in praktischen Stzen als Zielsetzungen formuliert, und sie allein sind es auch – die Geltung des weiteren Satzes vorausgesetzt, daß nicht alle Ziele bzw. Zwecke die Mittel heiligen (dazu weiter unten) –, die praktische (menschliches Handeln bestimmende) Stze rechtfertigen kçnnen. Es empfiehlt sich also, ein wenig genauer unterscheidend zu sagen, daß der Satz vom Grund, auf theoretische Stze angewendet, die Angabe von Grnden, auf praktische Stze angewendet, die Angabe von Zielen erwarten lßt. Traditionell ausgedrckt: der Satz vom Grund schließt in seiner Leibnizschen Formulierung sowohl ein Kausalprinzip (selbst Spezialfall eines allgemeineren Begrndungsprinzips) als auch ein Finalprinzip ein. Es ließe sich fragen, ob man dann nicht besser berhaupt von zwei Prinzipien sprechen sollte, von denen das eine die Rechtfertigung theoretischer, das andere die Rechtfertigung praktischer Stze betrfe. Tatschlich unterscheidet ja auch Leibniz, wiederum im eingeschrnkten Sinne, zwischen einem Kausalprinzip und einem Finalprinzip; dies aber nun mit der besonderen Pointe, daß sich beide, im Satz vom Grund zusammengefaßt, sowohl auf physikalische Ereignisse als auch auf menschliche Handlungen anwenden lassen.15 So treten Naturgesetze im Rahmen seiner theoretischen Philosophie als Extremalprinzipien auf, d. h., der 15 Vgl. C. 524 f..

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

Kosmos wird hier als ein Resultat von Handlungen aufgefaßt, die sich ihrerseits, entsprechend dem bisher Gesagten, in bestimmten Zwecken oder Zielen manifestieren. Bevorzugtes Beispiel ist das so genannte Fermatsche Prinzip, welches besagt, daß ein Lichtstrahl zwischen zwei Punkten immer den Weg zurcklegt, der sich in krzester Zeit zurcklegen lßt.16 Der Lichtweg ist, mit anderen Worten, allein durch seinen Endpunkt bestimmt, und das Licht wird dabei, wie ein eiliger, aber vernnftiger Wanderer, keineswegs immer den geometrisch krzesten Weg gehen, um sein Ziel mçglichst schnell zu erreichen. Worauf es in dieser finalen Darstellung ankommt, ist, daß hier immer mehrere Mçglichkeiten, im angefhrten Beispiel: mehrere mçgliche Lichtwege zwischen zwei Punkten, unterstellt werden und die Realisierung gewisser Mçglichkeiten dann als das Ergebnis einer final bestimmten, wenn auch zugleich immer kausal erklrbaren Auswahl gedeutet wird.17 Und wie sich physikalische Ereignisse verstehen lassen, als ob sie selbst zielgerichtete, von einem Weltbaumeister so gewollte Handlungen wren, so ist es nun umgekehrt auch im Falle menschlicher Handlungen sinnvoll, nicht nur nach ihren Zielen, sondern auch nach einem sie bestimmenden Kausalnexus zu fragen. Wer etwa einen Kanal bauen will und damit, wie sich Leibniz gerne auszudrcken pflegt, daran geht, Gottes Werke, in diesem Falle seine Flsse, ,im Kleinen nachzubauen18, dessen Handlungen werden nicht nur durch seine Ziele (z. B. die Herstellung eines Schiffahrtsweges) bestimmt, sondern des weiteren auch dadurch, welche Wirkungen gewisse Handlungen (etwa bei der Begradigung natrlicher Wasserlufe) hervorrufen. Es ist damit also durchaus sinnvoll, gelegentlich theoretische und praktische Betrachtungsweisen im Hinblick auf ein und denselben Gegenstand miteinander zu verbinden, und d. h., um mit Leibniz selbst zu reden, in der Anwendung des Satzes vom Grund sowohl nach einer ,theoretischen causa efficiens als auch nach einer ,praktischen causa finalis (causa hier wieder synonym mit ratio) zu fragen.19 Im gesonderten Falle soll nun natrlich nicht schon die Angabe von irgendwelchen Grnden und Zielen gengen, entscheidend ist vielmehr der Aufweis von ,wahren Grnden und von, wie wir jetzt sagen wollen, ,guten Zielen. Eingeschrnkt zunchst auf den Aufweis wahrer Grnde, und hier wiederum exemplifiziert am Aufweis wahrer Ursachen, bedeutet 16 17 18 19

Philos. Schr. IV, 448. Vgl. Philos. Schr. VI, 603. Philos. Schr. VI, 604. C. 525.

1.1 Theoretische Grnde

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dies, daß Ursachen genau dann wahre Ursachen heißen sollen, wenn sie ihrerseits begrndet sind und das zu erklrende Ereignis zur Folge haben. Die Frage ist, was hier mit ,zur Folge haben gemeint ist. Die Antwort Leibnizens lautet, daß sich im begrndeten Falle der Satz, der das Ereignis aussagt, als logische Folge desjenigen Satzes darstellen lßt, der die Ursache aussagt. Wenn also, um ein Beispiel zu bringen, s e P derjenige Satz ist, der ein Ereignis formuliert, nach dessen Ursache gesucht wird, so folgt dieser Satz logisch aus einem anderen Satz, etwa s e Q, wenn P seinerseits logisch aus Q folgt. Der begrndete Satz s e Q muß dabei selbst schon ,aus Vernunftgrnden gesichert sein; es darf sich hier also, in Leibnizens Ausdrucksweise, um keinen kontingenten Satz handeln. Ein kontingenter Satz, d. h. ein Satz, fr den es noch keine apriorische Begrndung gibt, wrde das Begrndungsproblem nur verschieben, die Frage nach den wahren Ursachen wrde an die Prmissen des begrndenden Satzes zurckgegeben. Vorausgesetzt nun, der Satz, der die Ursache aussagt, sei wahr, d. h., es gbe fr ihn eine apriorische Begrndung, so stellt er nach Leibniz den vollstndigen Begriff desjenigen Individuums (oder individuellen Ereignisses) dar, das in den angefhrten Elementarstzen durch den Eigennamen s vertreten war. Unter einem vollstndigen Begriff im Leibnizschen Sinne hat man dabei einen Begriff zu verstehen, der quivalent ist mit der Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prdikatoren. Mit anderen Worten: der in der zugehçrigen vollstndigen Kennzeichnung gegebene komplexe Prdikator bezeichnet den so genannten vollstndigen Begriff des gekennzeichneten Individuums, wobei es im brigen erforderlich ist, beim bergang von irgendeinem vollstndigen Begriff zur vollstndigen Kennzeichnung eines Individuums die Existenz dieses Individuums nachzuweisen. Denn im vollstndigen Begriff allein, wie ihn Leibniz versteht, ist nur die Eindeutigkeit, nicht schon die Existenz enthalten.20 In unserem Beispiel ist also das durch den Eigennamen s vertretene Individuum charakterisiert durch S, seinen vollstndigen Begriff, den hier der Satz, der die Ursache angeben soll, enthlt. Diese Charakterisierung lßt sich durch s e S zum Ausdruck bringen, wobei jetzt der Elementarsatz s e P ersetzt werden kann durch ,derjenige Gegenstand, fr den S gilt, ist P. s e P ist dann aber logisch quivalent mit der generellen Aussage S a P, ,alle S sind P oder ,S ist P, und diese Aussage stellt wiederum in Leibnizens 20 Vgl. G. W. Leibniz, Fragmente zur Logik, ed. F. Schmidt, Berlin 1960, 480. Zur analytischen Begriffs- und Urteilstheorie vgl. ausfhrlicher Kapitel 2.2.

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

Terminologie nichts anderes als einen identischen Satz dar. Leibniz unterscheidet identische Stze, z. B. generelle Stze der Form A est A (animal est animal), die immer wahr, weil tautologisch, sind, von virtuell identischen Stzen, z. B. partikularen Stzen der Form A est B (animal est rationale), die sich ihrerseits jedoch durch den Aufweis, daß B in A ,enthalten ist, in identische Stze der Form AB est B (animal rationale est rationale) berfhren lassen und die dann natrlich auch immer wahr sind.21 Im Falle der generellen Aussage ,S ist P enthlt S per definitionem P als einen konjunktiven Bestandteil, womit es sich hier also um einen identischen Satz der Form AB est B handelt. s e P stellt dagegen einen virtuell identischen Satz dar, der erst mit S fr s, d. h. nach Ersetzung des Eigennamens durch einen vollstndigen Begriff, in einen identischen Satz bergeht. Im Hintergrund steht hier die bekannte, von Leibniz immer wieder unterstrichene Theorie, wonach in jedem wahren Satz der Form SP der Prdikatbegriff P im Subjektbegriff S ursprnglich enthalten sei. Praedicatum inest subiecto lautet diese ,analytische Theorie, auf eine kurze Formel gebracht, wobei es sich dann bei der inesse-Beziehung zwischen Subjekt- und Prdikatbegriff jedesmal um die, in der Syllogistik so genannte konverse a-Beziehung zwischen Begriffen handelt, in der, mit Leibniz zu sprechen, aus der Form ,omne a est b die Form , b inest omni a  wird.22 Die Schwierigkeit nun, in diesem Zusammenhang mit der Annahme vollstndiger Begriffe zu arbeiten, besteht darin, daß man im konkreten Falle ber derartige Begriffe zumeist gar nicht verfgt. Dies gilt insbesondere von den schon erwhnten kontingenten Stzen, die, im Gegensatz zu den so genannten notwendigen Stzen (deren Definition mit der ,analytischen Definition wahrer Stze zusammenfllt), weder von vornherein identische Stze sind, noch sich in endlich vielen Schritten auf identische Stze zurckfhren lassen. Diese Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Stzen, die sich bei Leibniz hufiger findet, bedarf jedoch sogleich einer korrigierenden Bemerkung. Gemeint ist hiermit nmlich nicht, daß sich kontingente Stze niemals in notwendige Stze berfhren ließen. Einer solchen These widerspricht bereits die wiederholte Erklrung, daß auch kontingente Stze ,in Wahrheit, wenn auch nur vor einem besseren, ,gçttlichen Verstande, notwendige Stze sind, und weiterhin der Hinweis, daß sich gerade auch kontingente Stze, die zu21 Vgl. Philos. Schr. VII, 218 ff.; C. 513, 519. 22 Philos. Schr. IV, 52.

1.1 Theoretische Grnde

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nchst nur a posteriori ,erkannt werden23, a priori ,beweisen lassen.24 In einer solchen Beweisfhrung werden diese Stze dann gleichsam auf die andere Seite, die Seite der notwendigen Stze, geschafft. Wenn es also heißt, daß sich kontingente Stze im Unterschied zu den notwendigen Stzen nicht in endlich vielen Schritten auf identische Stze zurckfhren lassen, so kann man das so verstehen, daß sich nicht alle Stze ber ein und dasselbe Individuum a priori beweisen lassen. Und sie lassen sich genau deswegen nicht alle beweisen, weil eben der vollstndige Begriff eines Individuums (d. h. eines konkreten Gegenstandes) faktisch niemals gegeben ist. Bei einer solchen Bemerkung handelt es sich wiederum um keine bloß empirische Feststellung ber einen gegenwrtigen, noch unvollkommenen Stand der Wissenschaft; sie formuliert vielmehr die prinzipielle Unabgeschlossenheit einer gesicherten Orientierung in der Welt. Eine berfhrung kontingenter Stze in identische oder notwendige Stze, und das heißt eben: ihre apriorische Begrndung, gelingt also im allgemeinen nur fr einzelne Stze. Betrachten wir als Beispiel wieder einen Elementarsatz der Form s e P, der zunchst nur eine empirische Feststellung ber ein Individuum mit dem Eigennamen s enthalten soll. Um diesen Satz auch apriorisch zu begrnden, muß jetzt gezeigt werden, daß P im vollstndigen Begriff von s als konjunktiver Bestandteil vorkommt. Da dieser Begriff seinerseits in seiner Totalitt nicht gegeben ist, kann dies wiederum nicht ,direkt durch die Angabe eines komplexen Prdikators geschehen. Man muß sich vielmehr nach anderen Begrndungsmçglichkeiten umsehen, und eine Mçglichkeit bestnde hier nun darin, nachzusehen, welche allgemeinen Stze fr s gelten und ob dabei der Fall e P durch diese Stze gesichert ist, diese Stze den Ausgangssatz s e P implizieren. Zu derartigen allgemeinen Stzen gehçren z. B. solche klassischen Bestimmungen wie die von homo als animal rationale. Auf Grund dieser allgemeinen Bestimmung wre etwa der Elementarsatz ,Alexander ist vernnftig a priori wahr, wenn nur festgestellt wre, daß Alexander unter die Beispiele fr den Prdikator ,Mensch fllt. Im Rahmen der Leibnizschen Terminologie erlaubt dieser Nachweis aber die Feststellung, daß im Falle von s e P, mit s fr ,Alexander und P fr ,vernnftig, P tatschlich im vollstndigen Begriff von s enthalten war, was sich wiederum durch (S0P)S e P wiedergeben lßt. Diese Schreibweise macht deutlich, daß hier der vollstndige Begriff des Individuums s in zwei Bestandteile, S0 und P, 23 Textes indits (vgl. Anm. 14), I, 304. 24 Philos. Schr. II, 62; VII, 300 f..

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

zerlegt wurde, wobei S0 den nicht weiter bekannten ,Rest des vollstndigen Begriffs S darstellt. Zugleich wird in dieser Form des Beweises, fr ,Alexander ist vernnftig, aber deutlich, daß zur Kennzeichnung eines Individuums, hier Alexanders, aposteriorische Bestimmungen nicht zugelassen werden sollen oder, um eine andere Unterscheidung Leibnizens heranzuziehen, hier von ,inneren, nicht von ,ußeren Bestimmungen, von ,Mensch und nicht etwa von ,Kçnig von Makedonien, Gebrauch gemacht wird. Theoretische Stze werden also, das hat die Erçrterung gezeigt, begrndet, indem man sie in einem apriorischen Beweisgang als identische oder notwendige Stze erweist. Auf den Satz vom Grund bezogen bedeutet dies, daß die Aussage, ,es gibt einen zureichenden Grund fr einen Sachverhalt quivalent ist mit der Aussage ,der Satz, der diesen Sachverhalt darstellt, kann a priori bewiesen werden. Daß ein entsprechender Beweis seinerseits hier in den Grenzen einer systematisch gesehen keineswegs unproblematischen Theorie von Wahr und Falsch gedacht ist, schrnkt die Bedeutung dieses logischen Sinnes des Satzes vom Grund in keiner Weise ein. Denn formuliert als ,jeder wahre Satz ist begrndbar (omnis veritatis reddi ratio potest 25) sagt er in erster Linie etwas ber eine Begrndungsmçglichkeit aus und lßt sich dabei als invariant gegenber bestimmten Begrndungsformen auffassen. Auch gegenber Leibnizens eigener ,analytischen Theorie. Aus der Flle jener Bemerkungen, die hier den Satz vom Grund mit seiner Theorie von Wahr und Falsch in Verbindung bringen, sei hier nur die folgende herausgegriffen: „Nichts ist ohne Grund, d. h., es gibt keinen Satz, in dem nicht irgendeine Verbindung des Prdikatbegriffes mit dem Subjektbegriff vorliegt oder der nicht a priori bewiesen werden kann.“26 Dabei geht Leibniz gelegentlich sogar so weit, zu sagen, daß der Satz vom Grund aus seiner Definition der Wahrheit ,folge27 bzw. ebenso wie der Satz vom Widerspruch in dieser Definition ,enthalten sei28, was man jedoch wiederum einfach so verstehen darf, daß von Wahr und Falsch zu sprechen, nur im Zusammenhang einer Theorie des Begrndens sinnvoll ist.

25 26 27 28

Philos. Schr. VII, 309. De libertate, Textes indits (vgl. Anm. 14), I, 287. Philos. Schr. II, 56; C. 519. Philos. Schr. VI, 414.

1.2 Praktische Grnde

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1.2 Praktische Grnde Wie verhlt es sich nun bei den praktischen Stzen, die nicht durch die Angabe von Grnden im bisher betrachteten Sinne, sondern durch die Angabe von Zielen gerechtfertigt werden sollen? Oder anders ausgedrckt: Es wurde gezeigt, wann (im theoretischen Falle) Grnde als wahre Grnde bezeichnet werden drfen; die Frage ist jetzt, wann (im praktischen Falle) Ziele als ,gute Ziele gelten kçnnen. Dabei lassen sich sogleich Stze der Art ,Alexander ist gerecht oder ,diese Handlung ist gerecht, die ebenfalls praktisch heißen sollen, weil sie moralische Bewertungen enthalten, als unproblematisch eliminieren. Denn zur Rechtfertigung dieser Stze im Leibnizschen Sinne gengt, was zur Rechtfertigung im theoretischen Falle gesagt worden war: Man hat nachzusehen, ob der Prdikator ,gerecht hier einerseits im vollstndigen Begriff Alexanders, andererseits im vollstndigen Begriff der gemeinten individuellen Handlung enthalten ist. Problematisch wird eine Rechtfertigung praktischer Stze erst dann, wenn diese nicht Aussagen ber bereits stattgefundenes Handeln, sondern Empfehlungen zu knftigem Handeln enthalten, und dabei nun auch diskutiert werden muß, was, um mit den angefhrten Beispielen zu reden, berhaupt unter einem gerechten Menschen oder einer gerechten Handlung verstanden werden soll. Denn wenn in praktischen Stzen empfohlen werden sollte, gerecht zu handeln (und ein gerechter Mensch wre dann der, der diese Empfehlung befolgt), so wird es eben gerade darum gehen, was hier mit einer gerechten Handlung gemeint ist und welche Ziele sich zu ihrer Rechtfertigung angeben lassen. Und wie eine solche Rechtfertigung bei theoretischen Stzen nur dadurch gelingt, daß nicht irgendwelche, sondern ,wahre Grnde angegeben werden, so wird sie bei praktischen Stzen nur dadurch gelingen, daß Ziele zugleich als ,gute Ziele erweisbar sind. Die Frage ist, wann ein Ziel ,gut genannt werden darf. Leibniz betont, daß als ,Maß des moralisch Guten, also dessen, was ,gut genannt werden darf, die ,Regel der Vernunft zu betrachten sei.29 Damit ist zunchst einmal zum Ausdruck gebracht, daß auch bei der Frage von Handlungszielen eine vernnftige Verstndigung immer mçglich sein soll, weiterhin aber auch, daß im Rahmen dieser Verstndigung als besser (im moralischen Sinne) zu gelten hat, was ,mehr Vernunft auf seiner Seite hat, d. h. wofr sich die besseren Argumente beibringen lassen. Das Beibringen von Argumenten besteht aber wiederum gerade darin, zu zeigen, daß sich empfohlene Handlungen gegenber anderen Handlungen als die 29 Philos. Schr. V, 232.

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

besseren auszeichnen lassen, wobei dann zugleich die Ziele dieser besseren Handlungen als ,gute Ziele bezeichnet werden drfen. Kriterium fr Besser und Schlechter ist dabei in Leibnizscher Terminologie der Gedanke der Aktualisierung einer Welt, welche die beste aller mçglichen Welten genannt zu werden verdient. „Der Wille ist“, so heißt es einmal in der „Theodizee“, „im allgemeinen auf das Gute gerichtet, er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen.“30 Die uns zustehende ,Vollkommenheit aber konstituiert nichts anderes als eben jene beste aller mçglichen Welten, womit im Falle der Ziele ,gut genau jene sind, die diese ,Vollkommenheit oder diese ,beste Welt aktualisieren. Gemeint sind damit, anders ausgedrckt, wiederum solche Ziele, die eine, wie Leibniz sagt31, ,moralische Welt errichten lassen, also das Gemeinwohl fçrdern, insofern sie von allen Beteiligten als gemeinsame Ziele bernommen werden kçnnen. Und genau dann, wenn praktische Stze mit ihren Zielsetzungen in dieser Weise von allen bernommen werden kçnnen, sollen diese Stze ,gerechtfertigt heißen. Rechtfertigen bedeutet also im Falle praktischer Stze: nachweisen, daß die in ihnen formulierten Ziele von allen bernehmbar sind. Nun sind, wie bereits frher deutlich wurde, Betrachtungen ber ,Vollkommenheit auch im Rahmen theoretischer Stze bei Leibniz keineswegs irrelevant. Die These von der besten aller mçglichen Welten soll nicht nur fr die moralische, sondern auch fr die physische Welt gelten, und sie sttzt sich hier auf eben jene Formulierung von Extremalprinzipien, mit der finale Gesichtspunkte Eingang in einen zunchst scheinbar nur kausal bestimmbaren Bereich finden. Auch diese Extremalprinzipien haben im Sinne Leibnizens als Ausdruck der Vollkommenheit zu gelten und charakterisieren nunmehr eine Welt, wie sie, wiederum final gesprochen, offenbar besser nicht htte gemacht werden kçnnen. Von daher erklrt sich aber auch, warum das principium rationis sufficientis bei Leibniz gelegentlich auch als principium melioris 32 oder principium perfectionis 33 auftreten kann, ohne daß damit etwa von vornherein, wie oft vermutet wird, ein ursprnglich logisches Unternehmen auf einmal ontologische Zge annhme. Die Welt unter finalen Gesichtspunkten betrachten, heißt eben nur, sie betrachten, als ob sie von einem Weltbaumeister hergestellt 30 Philos. Schr. VI, 122. 31 Philos. Schr. VI, 622. Zum Begriff der besten aller mçglichen Welten vgl. Kapitel 4.6. 32 Philos. Schr. VI, 44, 614. 33 De libertate, Textes indits (vgl. Anm. 14), I, 288.

1.2 Praktische Grnde

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wre, um das so hergestellt Gedachte dann seinerseits nach Analogie menschlicher Handlungen besser verstehen und damit auch begrnden zu kçnnen. Erst wenn man auch in der umgekehrten Richtung zu gehen versuchte, nmlich aus einer schon begrndeten Kenntnis der Welt auf einen Weltbaumeister schließen wollte, verschçbe sich der Sinn des Satzes vom Grund. Es soll hier nicht behauptet werden, daß Leibniz diese Richtung nicht auch eingeschlagen htte, wohl aber, daß er uns in der anderen Richtung vertrauter sein sollte. Bei dem Versuch, ihm in dieser anderen Richtung zu folgen, hat sich nun jene Vermutung besttigt, die schon zu Beginn geußert wurde. Sie lautete, daß der Satz vom Grund, bezogen auf andere Stze, die Mçglichkeit einer Begrndung dieser Stze zum Ausdruck bringt, und daß, noch einen Schritt weiter, dort, wo von der Abhngigkeit eines Satzes vom Satz vom Grund die Rede sei, nicht mehr nur die Mçglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit einer solchen Begrndung betont werde. Der erste Teil dieser, zunchst nur als Vermutung formulierten These lßt sich jetzt auf folgende Weise przisieren: Den Satz vom Grund auf einen anderen Satz anwenden, heißt: diesen Satz begrnden. Genau dies hat die Erçrterung besttigt. Die Frage ist, ob sie auch den zweiten Teil der These besttigt hat. Um diese Frage ebenfalls positiv zu beantworten, muß man sich klarmachen, was es berhaupt bedeutet, einen Satz in wissenschaftlicher Absicht, und diese Absicht wird auch in den Leibnizschen berlegungen von vornherein unterstellt, zu begrnden. Es bedeutet, seine Annahme zu rechtfertigen, wobei hier zwischen einer Rechtfertigung im Aufweis ,wahrer Grnde und einer Rechtfertigung im Aufweis ,guter Ziele, je nachdem, ob von theoretischen oder von praktischen Stzen die Rede war, unterschieden wurde. Erst ein in dieser Weise begrndeter bzw. gerechtfertigter Satz kann als ,Vernunfterkenntnis bezeichnet werden. Und eben dies ist natrlich auch mit den Leibnizschen Bemerkungen gemeint, daß ,unsere Vernunfterkenntnisse nicht nur auf dem Satz vom Widerspruch, sondern auch auf dem Satz vom (zureichenden) Grund beruhen, und daß es jene ,wahren Grnde bzw. ,guten Ziele sind, die ,an Stelle der Vernunft stehen. Also kçnnen Stze nicht nur begrndet bzw. gerechtfertigt werden, sie mssen dies vielmehr auch, wenn sie in wissenschaftlicher Absicht formuliert sein wollen. Statt ,alle wahren Stze sind begrndbar sollte es darum auch besser heißen ,alle Stze, die in wissenschaftlicher Absicht formuliert sind, mssen begrndet werden. Der Satz vom Grund enthlt damit seinem rechtverstandenen Sinne nach nicht nur eine Begrndungsmçglichkeit, sondern auch eine Begrndungsverpflichtung, er ist, um

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1. Der Satz vom Grund und seine Begrndung

noch einmal mit Leibniz zu sprechen34, wahrhaft ein principium reddendae rationis.

34 Philos. Schr. VII, 309; C. 525.

2. Monade und Begriff Metaphysik, im klassischen Verstande, ist recht verstanden nicht der Versuch, hinter die Dinge zu sehen, sondern sie im Lichte theoretischer Konstruktionen zu begreifen. Bei Leibniz dient die Monadentheorie in Form einer Rekonstruktion und Weiterentwicklung des klassischen Substanzbegriffs eben dieser Vorstellung. Der Versuch, das neuzeitliche Denken, in klassischer Weise orientiert an der Entstehung der neuzeitlichen Physik, durch die Wendung von einem spekulativen (metaphysischen) zu einem kritischen (methodisch bestimmten) Interesse der Vernunft zu kennzeichnen, stçßt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn man sich nicht damit begngt, die Geschichte des Denkens im 17. und 18. Jahrhundert lediglich als Vorgeschichte der Philosophie Kants und die Geschichte des Denkens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert lediglich als Vorgeschichte gegenwrtiger, erneut als kritisch gekennzeichneter Positionen zu schreiben. Was dabei die Entstehung des neuzeitlichen Denkens betrifft, so scheint sogar die Rckkehr zu spekulativen Entwrfen nicht weniger charakteristisch fr dieses Denken zu sein als seine wiederholte Berufung auf ein neuartiges kritisches Interesse. So wird z. B., angeregt durch kosmologische Randbemerkungen der Physiker, aus Methodologie der Physik, einem betont wissenschaftstheoretischen Interesse, (wieder) Metaphysik der Natur. 1 Das metaphysische Interesse, vermeintlich unausrottbar mit dem philosophischen Denken seit dessen griechischem Anfang verbunden, hlt sich gerade dort, wo es von jeher seine besondere Aufgabe sah: unter den Aussagen ber die Welt. Die auch in der neuzeitlichen Physik sofort wieder gestellte Frage nach der materiellen Beschaffenheit der (physikalischen) Welt mutet allzu vertraut an. In philosophischer Terminologie ist es die Frage nach den Grundelementen des Seins, der Anfang einer nicht-empirischen Kosmo1

Vgl. J. Mittelstraß, Metaphysik der Natur in der Methodologie der Naturwissenschaften. Zur Rolle phnomenaler (Aristotelischer) und instrumentaler (Galileischer) Erfahrungsbegriffe in der Physik, in: K. Hbner/A. Menne (Eds.), Natur und Geschichte (X. Deutscher Kongreß fr Philosophie, Kiel 8.–12. Oktober 1972), Hamburg 1973, 63 – 87.

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2. Monade und Begriff

logie, die erneut (ungeachtet des dem Programme nach streng empirischen Charakters paralleler physikalischer Bemhungen) mçglich und nur durch ein zustzliches, philosophisches Interesse realisierbar erscheint. Leibnizens Philosophie bildet hier offenbar keine Ausnahme. Im Gegenteil. Die Monadentheorie, wie man sie zu verstehen pflegt, ist selbst das reprsentative Exempel einer ,neuen Metaphysik, die mit dem Anspruch auftritt, das neuzeitliche physikalische Denken verstanden und zugleich durch philosophische Begrndungen, eine nicht-empirische Kosmologie ungewçhnlicher Art, ergnzt zu haben. Doch dieses Verstndnis wird Leibniz nicht gerecht. Es ist entweder selbst durch ein noch immer beibehaltenes metaphysisches Interesse geleitet oder hlt eine kritische Rekonstruktion dieser Theorie von vornherein fr eine vergebliche Bemhung. Wenn im Folgenden von zentralen Stcken der Monadentheorie die Rede ist, dann in der Absicht, beiden gelufigen Auffassungen, dem Zugestndnis an ein vermeintlich unhintergehbares metaphysisches Interesse und der Verdchtigung des Leibnizschen Interesses als eines bloß spekulativen Interesses, zu widersprechen. Es soll der Versuch unternommen werden, die Monadentheorie mit rekonstruierbaren theoretischen Absichten so zu verbinden, daß sie ihren metaphysischen (spekulativ-kosmologischen) Charakter weitgehend verliert und sich in wesentlichen Stcken als eine nunmehr vernnftig verstehbare theoretische Konstruktion darstellen lßt.2

2.1 Individuelle Substanz Die Monadentheorie ist kein Lehrstck der Leibnizschen Philosophie, das von Anfang an, zumindest in Grundzgen unverndert, dieser Philosophie ihr besonderes Geprge gibt. Beeinflußt durch die Korpuskularphysik seiner Zeit (Huygens, Boyle) sowie durch die Tradition ,philosophischer atomistischer Entwrfe (Bacon, Gassendi) stellt sich diese Theorie ursprnglich in Form eines naiven, nur die Schwchen bekannter kosmolo2

Dieser Versuch ist ein thematisch in sich geschlossener Teil einer grçßeren Darstellung der Leibnizschen Philosophie, die ich an anderer Stelle versucht habe (Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, 413 – 528 [§§ 12 – 14]). Die im Folgenden zunchst kurz skizzierte Leibnizsche Formulierung eines physikalischen Atomismus sowie die Art und Weise seiner Revision sind, ebenso wie der dann wiedergegebene Interpretationsversuch der Monadentheorie, in § 14 der genannten Arbeit ausfhrlich dargestellt.

2.1 Individuelle Substanz

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gischer Annahmen systematisierenden physikalischen Atomismus dar. Dessen Ergnzung – zunchst durch einen neuen Kraftbegriff, dann durch die Anwendung von Kontinuumsbetrachtungen auf physikalische Sachverhalte (Formulierung eines Kontinuittsprinzips) – fhrt denn auch allmhlich zu seiner berwindung; der Begriff materieller (unter anderem durch die Eigenschaft der Ausdehnung bestimmter) elementarer Bausteine der physikalischen Welt wird selbst problematisch. Dem damit entstehenden Dilemma, nach wie vor ber elementare Bausteine sprechen zu wollen, dies aber nicht mehr in der gewohnten physikalischen Terminologie tun zu kçnnen, glaubt Leibniz durch den Schritt von den ,materiellen Punkten (physischen Atomen) zu ,metaphysischen Punkten (formalen Atomen) zu entgehen. Doch dieser Schritt, erlutert durch die Verbindung mathematischer Aussagen ber differentielle Grçßen mit physikalischen Aussagen ber den elementaren Aufbau der Welt, ist methodisch unzureichend, zumal schon der Begriff des Differentials selbst unter Ermangelung eines exakten Begriffs des Grenzwertes und der Stetigkeit ergnzungsbedrftig bleibt. Trotzdem lßt sich sagen, was Leibniz bei der Ersetzung des Begriffs des materiellen Atoms durch den Begriff des formalen Atoms im Auge gehabt haben drfte. Es ist der Begriff des Massenpunktes. Die Idealisierung von Kçrpern als geometrischer Punkte, wobei von deren Ausdehnung, nicht aber von deren Trgheit abgesehen wird, stellt eine theoretische Konstruktion dar, die (a), wie Leibniz in physikalischen Erçrterungen zu erkennen gibt, przise Aussagen ber die (physikalische) Welt, z. B. ber die Bewegung von Kçrpern, erlaubt und (b) geeignet ist, an die Stelle bisheriger kosmologischer Vorstellungen zu treten. Gerade letzteres aber, die Explikation des Begriffs des Massenpunktes in einer nunmehr revidierten Monadentheorie, bleibt eine bloße Andeutung. Es gelingt Leibniz nicht, eine physikalische Konzeption, die an die Stelle des ursprnglichen physikalischen Atomismus treten soll, von anderen Intentionen (darunter auch metaphysischen Intentionen im klassischen Sinne) freizuhalten. Es schieben sich im Begriff des elementaren Teiles oder (spter) der Monade Begriffssysteme bereinander, die im Grunde nicht zueinander passen.3

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Z.B. heißt es in einem Brief aus dem Jahre 1716 an P. Dangicourt: „Les vritables substances ne sont que les substances simples ou ce que jappelle Monades. Et je crois quil ny a que de monades dans la nature, le reste ntant que les phnomnes qui en rsultent“ (G. W. Leibniz, Opera philosophica, ed. J. E. Erdmann, Berlin 1840, 745). Um diese Behauptung verstehen zu kçnnen, muß man ersichtlich Philosophiegeschichte (Geschichte der Metaphysik), nicht Methodolo-

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2. Monade und Begriff

Bliebe es bei dieser Auskunft, wre die Rede von Monaden tatschlich ein Stck erneuerter Metaphysik, die sich von lteren Bemhungen nur dadurch unterschiede, daß zu ihrer Begrndung auf physikalische berlegungen neuer Art verwiesen wrde. Doch so einfach, wie es noch die lapidaren Stze aus den einleitenden Paragraphen der „Monadologie“ erscheinen lassen, liegen die Dinge nicht. Htten wir nur diese Stze, kçnnte man die Monadentheorie getrost vergessen; sie wre (in Ermangelung methodisch begrndeter Unterscheidungen) ebenso naiv wie die kosmologischen Teile der bisherigen metaphysischen Tradition. Aber wir haben mehr. Leibniz hat, gewissermaßen in einem zweiten Anlauf, versucht, der erwhnten Schwierigkeiten Herr zu werden, und zwar nicht durch erneute Reduktion seiner Bemhungen auf ursprngliche, durch die Kritik am physikalischen Atomismus gekennzeichnete Intentionen, sondern durch eine methodisch vçllig selbstndige Besinnung auf den Begriff einer individuellen Substanz (substance individuelle).4 Monaden sind, so lautet ein Hauptsatz des ,Systems (ganz gleich, ob man es nun in der Formulierung des „Systme nouveau“ oder der „Monadologie“ liest), individuelle, d. h. voneinander durch Benennung unterscheidbare, Substanzen. Die Frage, auf die es ankommt, ist nicht, was sich mit dem Begriff der Monade systematisch anfangen lßt, sondern wie es einsichtig gelingt, den Begriff der individuellen Substanz zu bilden. Charakteristischerweise beginnt denn auch Leibniz an dieser Stelle nicht mit der wiederholten Frage nach dem elementaren Aufbau der Kçrper, er empfiehlt vielmehr, bei dieser Bemhung den Begriff, „den ich von mir selbst habe“, zugrundezulegen („pour jouger de la notion dune substance individuelle, il est bon de consulter celle que jay de moy mÞme“5). Am Beispiel dessen, was man als ,Ich bezeichnet („ lexemple de ce quon appelle moy“6), soll deutlich werden, wie sich berhaupt von

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gie der Physik treiben. Zum historischen Hintergrund derartiger Behauptungen vgl. G. Martin, Leibniz. Logik und Metaphysik, Berlin 21967, 170 ff.. Systematisch eingefhrt wird dieser Begriff im „Discours de mtaphysique“ (1686). L. Stein weist darauf hin, daß der auf 1683 datierte „Essay de dynamique“ einen derartigen Begriff noch nicht enthlt (Leibniz und Spinoza. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizschen Philosophie, Berlin 1890, 148). Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, Philos. Schr. II, 52 (= Discours de mtaphysique et correspondance avec Arnauld, ed. G. le Roy, Paris 1957 [im Folgenden zitiert als Le Roy], 118). Brief vom 28. November/8. Dezember an Arnauld, Philos. Schr. II, 76 (= Le Roy, 145); vgl. Brief vom 20. Juni 1703 an B. de Volder, Philos. Schr. II, 251 („veluti t¹ Ego“); weitere Belege bei R. Pflaumer, Zum Ich-Charakter der Monade, Wiesbaden 1969 (Studia Leibnitiana Supplementa I), 148 – 160.

2.1 Individuelle Substanz

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individuellen Einheiten sprechen lßt. Wenn man so will, macht Leibniz hier von dem Ergebnis der Zweifelsbetrachtung Descartes Gebrauch, das er unter Ergnzung von „ego cogito (adeoque sum)“ durch „varia a me cogitantur“7 – wodurch diese Betrachtung ihren monologischen Charakter verliert! – seiner methodischen Rolle nach akzeptiert. Worauf es dabei jedoch im Gegensatz zu Descartes ankommt, ist der Umstand, daß hier erst ein Begriff gewonnen werden soll, von dem Descartes, wenn er von res cogitans bzw. res extensa spricht, irrtmlich annimmt, daß er ihn schon hat: der Begriff der Substanz (substantia, res), hier der Begriff der individuellen Substanz. Mit anderen Worten: die Erçrterung, die bisher eindeutig kosmologische Zge trug und bereits dadurch von vornherein einen spekulativen Charakter besaß, wird jetzt auf eine logische Ebene verlegt. Auf eine logische Ebene insofern, als es begrifflicher Verfahren bedarf, um die Redeweise von Einzeldingen nicht mehr nur vorlufig, durch Exempel in einer schon verstandenen Redesituation, sondern methodisch gesichert (,zum ersten Mal) korrekt einzufhren. Im Grunde geht es schon im Realismus-Nominalismus-Streit um nichts anderes als um dieses Problem, und beruht von Anfang an die relative Strke der nominalistischen Position in diesem Streit eben darin, daß das Sprechen von Einzeldingen nicht trivial erscheint, sondern als an ein logisch-sprachphilosophisches Verfahren, das Verfahren der Individuation, gebunden erkannt wird. Leibniz teilt diese Einsicht, ohne deswegen etwa selbst schon ein Nominalist zu sein. Seine Erçrterung ber den Begriff der individuellen Substanz ist ein neuer und zugleich seinen frheren Bemhungen methodisch berlegener Versuch, unterscheidbare Einheiten exakt zu bestimmen. Dabei liegt Leibniz natrlich daran, den einmal gewonnenen Ansatz, der mit der Wiedereinfhrung des Begriffs der substantiellen Form (bzw. des substantiellen Atoms), im Anschluß an den Begriff des metaphysischen Punktes, sein charakteristisches Aussehen bekommen hatte, nach Mçglichkeit beizubehalten. Sein Wunsch ist, diesen vermeintlich schon aus physikalischen Grnden hinreichend gerechtfertigten Ansatz ber eine logische Konstruktion zu besttigen, nicht etwa, ihn im Verlauf einer solchen Konstruktion wieder preisgeben zu kçnnen. In diesem Punkte war fr ihn die sachliche Beziehung beider Bemhungen ganz unproblematisch. Sucht man nach einer Bemerkung, die diesen Zusammenhang zum Ausdruck bringt, so lßt sich z. B. die folgende anfhren: „il ny a que les points 7

Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), Philos. Schr. IV, 357.

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2. Monade und Begriff

metaphysiques ou de substance (…) qui soyent exacts et reels, et sans eux il ny auroit rien de reel, puisque sans les veritables units il ny auroit point de multitude.“8 Diese Bemerkung aus dem „Systme nouveau“ scheint auf den ersten Blick (wegen des Gegensatzes von ,physischen und ,metaphysischen Punkten) Ausdruck einer naiven Zweiweltentheorie zu sein. Sie paßt sich in den ontologisierenden Stil der ganzen Abhandlung ein und wre dennoch vçllig unverstndlich, wenn hier nicht nur den Wçrtern, sondern auch der Sache nach in ontologischer Tradition argumentiert wrde. Denn was soll es heißen, daß nur metaphysische (substantielle) Punkte ,wirklich sind und ohne sie als die ,wahren Einheiten es nichts ,Wirkliches und keine ,Vielfalt gbe, wenn nicht unter jenen metaphysischen Punkten begriffliche Einheiten verstanden wren, mit deren Hilfe ,wirkliche Gegenstnde unterscheidend bestimmt werden kçnnen. Ohne die Konstruktion begrifflicher Einheiten lßt sich nun einmal ber ,wirkliche Einheiten nichts sagen; die Individuation bleibt eine Leistung des begrifflichen Sprechens, auch wenn die normale Redesituation diese fundamentale Leistung nicht mehr ausdrcklich verlangt. Die Unterscheidung der Gegenstnde und damit ihre individuelle Bestimmung gilt vielmehr in der Regel als bereits geleistet; mit welchen Mitteln, ist eine Frage, die nur den (Sprach-) Theoretiker (bzw. den Logiker) interessiert. Die Behauptung lautet an dieser Stelle, daß diese Frage Leibniz interessierte und daß eben sie es ist, die (zumindest auch) hinter dem ontologisierenden Stil jener zitierten Bemerkung und des Zusammenhangs, in den sie gehçrt, steht. Der „Discours de mtaphysique“ bringt dann in diesem Punkte die gewnschte Klarheit, wobei der gegenber dem begrifflichen Niveau des „Discours“ ein wenig seltsam anmutende anachronistische Zug des „Systme nouveau“ daher rhrt, daß beide Abhandlungen wohl im selben Jahr, nmlich 1686, entstanden, das strker kosmologisch orientierte „Systme nouveau“ jedoch erst 1695 erschien.9 Der noch ein wenig zçgernden Rehabilitation des Begriffs der substanti8 9

Systme nouveau, Philos. Schr. IV, 483. Die Bemerkung S. Fouchers nach dem Erscheinen des „Systme nouveau“ 1695, er kenne dieses System schon 10 Jahre (Objections de M. Foucher, Chanoine de Dijon, contre le nouveau systeme de la communication des substances, dans une lettre lauteur de ce systeme 12 Septemb. 1695, Philos. Schr. IV, 487), besttigt Leibniz mit einer kleinen Korrektur: es sind nicht 10, sondern 9 Jahre (Remarques sur les Objections de M. Foucher, Philos. Schr. IV, 490); der Beleg liegt vor: Extrait de ma lettre M. Foucher, 1686 (Philos. Schr. I, 380 – 385; vgl. die sorgfltige Behandlung dieser Datierungsfrage bei L. Stein, a.a.O., 141 ff.).

2.1 Individuelle Substanz

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ellen Form im „Systme nouveau“ sekundiert Leibniz im „Discours de mtaphysique“ mit dem Begriff der individuellen Substanz. In beiden Fllen, und dies ist das Entscheidende, geht es um den Substanzbegriff: im „Systme nouveau“ wird er aus physikalischen Grnden gefordert und dabei auch gleich mit traditionellen Unterscheidungen in Verbindung gebracht, im „Discours de mtaphysique“ wird er bestimmt. Wie wichtig diese (begriffliche) Bestimmung fr Leibniz sein mußte, geht nicht nur aus seinen dynamischen Betrachtungen ber eine vis viva und deren Trger hervor, sondern auch aus der Absicht, diese Betrachtungen in verallgemeinerter Form auf folgende terminologische Bestimmung zu bringen10 : x e substantia , x e res agens Im Begriff der Handlung, wie ihn insbesondere die spteren Entwrfe der Monadentheorie vor Augen fhren, ist die Unterscheidung zwischen dem physikalischen Begriff einer (wirkenden) Kraft und dem anthropologischen Begriff der Ttigkeit bewußt aufgehoben: „La Substance est un tre capable dAction“11 – wie von diesem Handlungsvermçgen gesprochen werden soll, hngt von dem Kontext ab, den man whlt. Eine differenziertere Bestimmung der rechten Regelseite (x e res agens) durch Angabe eines solchen Kontextes aber verlangt nun auch nach einer differenzierteren Bestimmung der linken Regelseite (x e substantia), denn auch eine Differenzierung der rechten Regelseite fhrt nicht von selbst schon zu einer Differenzierung der linken Seite. Insbesondere wird der Begriff einer individuellen Substanz, um den es geht, durch die angegebene Regel (einschließlich einer zustzlichen Erluterung des Handlungsbegriffs) nicht bestimmt; der Terminus ,individuelle Substanz stammt aus einem anderen Zusammenhang bzw. verlangt nach einer von der erwhnten 10 „Quantum ego mihi notionem actionis perspexisse videor, consequi ex illa et stabiliri arbitror receptissimum philosophiae dogma, actiones esse suppositorum; idque adeo esse verum deprehendo, ut etiam sit reciprocum, ita ut non tantum omne quod agit sit substantia singularis, sed etiam ut omnis singularis substantia agat sine intermissione, corpore ipso non excepto, in quo nulla unquam quies absoluta reperitur“ (De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque [1698], Philos. Schr. IV, 509; vgl. Essais de thodice, Philos. Schr. VI, 350). 11 Principes de la nature et de la grace, fonds en raison § 1, Principes da la nature et de la grace, fonds en raison. Principes de la philosophie ou Monadologie, ed. A. Robinet, Paris 1954 (im Folgenden zitiert als Robinet), 27 (= Philos. Schr. VI, 598).

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2. Monade und Begriff

Regel unabhngigen Erçrterung. Eben dies ist auch der Ausgangspunkt der entsprechenden berlegungen im „Discours“. Nachdem zunchst aus kirchenpolitisch-theologischem Anlaß12 von Handlungen Gottes die Rede war und dabei schließlich die aufschlußreiche (systematisch leider nicht weiterverfolgte) Bemerkung fllt, es sei doch recht schwierig, Handlungen Gottes von Handlungen der Geschçpfe zu unterscheiden13, heißt es: „Or puisque les actions et passions appartiennent proprement aux substances individuelles (actiones sunt suppositorum), il seroit necessaire dexpliquer ce que cest quune telle substance.“14

2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie Bei der Rekonstruktion dessen, was Leibniz unter Substanz und individueller Substanz versteht, ist es zweckmßig, zunchst kurz auf den Zusammenhang von analytischer Urteilstheorie und Begriffstheorie innerhalb der Leibnizschen Logik einzugehen. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen identischen und virtuell identischen Stzen besagt auf dem Hintergrund einer analytischen Definition der Wahrheit, daß in wahren Stzen entweder der Subjektbegriff auf der Prdikatseite lediglich wiederholt wird (identischer bzw. tautologischer Fall) oder aber sich der Prdikatbegriff als ein ursprnglich im Subjektbegriff enthaltener Teilbegriff herausstellt (virtuell identischer Fall), was per analysin notionum 15 gezeigt werden kann. Die analytische Urteilstheorie geht damit auf eine spezielle Begriffstheorie zurck. Im Rahmen dieser Begriffstheorie sind Begriffe in der Regel zusammengesetzte Begriffe, Kombinationen von Teilbegriffen. Ein instruktives Beispiel gibt Leibniz in den „Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis“ (1684), wo es vom Begriff des regelmßigen Tausendecks heißt, daß er die Teilbegriffe der Seite, der Gleichheit und der Zahl Tausend bzw. der dritten Potenz von Zehn enthalte.16 Die Analyse zusammengesetzter Begriffe fhrt auf diese Weise von einer notio composita zu einfachen Begriffen, notiones primitivae bzw. notiones irresolu12 Dazu L. Stein, a.a.O., 143 ff.; G. le Roy in der Einleitung zu seiner Ausgabe des „Discours“ (8 ff.). 13 Discours de mtaphysique § 8, Philos. Schr. IV, 432 (= Le Roy, 43). 14 Ebd. 15 Primae veritates (ca. 1680 – 1684), C. 519. 16 Philos. Schr. IV, 423.

2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie

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biles 17, wobei allerdings die Frage nach einem strengen Kriterium dafr, wann ein Begriff wirklich eine notio primitiva ist, offenbleibt. Leibniz begngt sich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die relative Einfachheit (des Begriffs) der Zahlen, an anderer Stelle gibt er eine Liste (vermutlich) einfacher Begriffe (termini primitivi simplices vel interim pro ipsis assumendi) an, darunter ,Terminus, ,Ens, ,Existens, ,Individuum und ,Ego.18 Auch hier aber macht die vorsichtige Einschrnkung deutlich, daß eine exemplarische Analyse bis hin zu wirklich einfachen Begriffen, wrde sie durchgefhrt, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen muß. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich die von Leibniz im grçßeren Zusammenhang erstrebte Kombinatorik, die characteristica universalis, ausdrcklich erst der Existenz einfacher Begriffe vergewissern muß, um berhaupt in Gang zu kommen. Weniger fatal sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Unsicherheit fr eine analytische Urteilstheorie ergeben. Zwar ist auch hier der kombinatorische Grundgedanke wirksam, daß man es in Stzen mit vollstndig analysierbaren Subjektbegriffen zu tun haben sollte, doch gengt ja auch von Fall zu Fall der Hinweis, daß jedenfalls ein bestimmter Prdikator als ursprnglich im Subjektbegriff enthalten gedacht werden kann, der entsprechende Satz also wahr ist, weil er nichts anderes als die Explikation dieser ursprnglichen Zusammensetzung ist. Fr die Behauptung jedoch, daß alle wahren Stze im Grunde analytische Stze, auch kontingente Stze in Wahrheit (unter Zuhilfenahme eines gçttlichen Verstandes) notwendige Stze sind19, gilt dies nicht. Voraussetzung dafr ist vielmehr die Existenz vollstndiger Begriffsnetze oder, spezieller, vollstndiger Begriffspyramiden, in denen sich fr jeden beliebigen Begriff alle Oberbegriffe, unter die er fllt, angeben lassen. Dies ist, um ein Platonisches Beispiel zu nehmen20, fr den Begriff der Tierjagd nicht der Fall, solange unter seinen Oberbe17 Ebd. 18 Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum (1686), C. 360 f.. Die im gleichen Jahre wie der „Discours“ verfaßten „Generales Inquisitiones“ stellen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Erçrterungen ber eine analytische Urteilstheorie und eine analytische Begriffstheorie die logischen Mittel zur Verfgung, derer sich Leibniz dann im „Discours“ bedient. „Hic egregie progressus sum“, bemerkt er selbst nach Fertigstellung der „Generales Inquisitones“ (C. 356); der selbstbewußte metaphysische Vortrag des „Discours“ sttzt sich auf ein Stck geleisteter logischer Arbeit. 19 Vgl. dazu J. Mittelstraß, Die Begrndung des principium rationis sufficientis, Studia Leibnitiana Supplementa III, Wiesbaden 1969, 143. In diesem Band Kapitel 1. 20 Sophistes 219 f..

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2. Monade und Begriff

griffen wie ,Kunst, ,erwerbende Kunst und ,sich der Beute bemchtigende Kunst nicht auch der Begriff ,jagdmßige Kunst auftritt. Erst in dieserart vollstndigen Begriffspyramiden ist im Sinne einer strengen analytischen Theorie jeder Begriff quivalent mit der Konjunktion seiner Oberbegriffe oder der Adjunktion seiner Unterbegriffe. Eine strenge analytische Theorie ist nun auch im „Discours de mtaphysique“ im Zusammenhang mit einer Definition der individuellen Substanz vorausgesetzt. Leibniz geht von der als klassisch hingestellten Erklrung aus, daß man von einer individuellen Substanz dann spreche, wenn ein Prdikatbegriff einem Subjektbegriff inhriert, dieser Subjektbegriff aber nirgendwo sonst als Prdikatbegriff auftritt.21 Diese, gut Aristotelische22, Erklrung wird als zutreffend, in dieser Form jedoch als noch nicht hinreichend bezeichnet. Sie bedarf der Erluterung, als welche die analytische Theorie auftritt. Leibniz rekapituliert diese Theorie (unter Betonung des Unterschieds von identischen und virtuell identischen Stzen sowie der konversen a-Beziehung zwischen Begriffen im Falle virtueller Identitt) in kurzen Zgen und fhrt dann mit folgenden Worten fort: „Cela estant, nous pouvons dire que la nature dune substance individuelle ou dun estre complet, est davoir une notion si accomplie quelle soit suffisante comprendre et en faire deduire tous les predicats du sujet

qui cette notion est attribue.“23 Begriffe, die diese Funktion erfllen, stehen nicht an irgendeiner beliebigen Stelle einer Begriffspyramide. Es handelt sich vielmehr um spezielle Subjektbegriffe, die nach der Aristotelischen Definition niemals als Prdikatbegriffe auftreten kçnnen. Analog zu ,la substance individuelle ist denn an dieser Stelle auch pointiert von ,la notion individuelle die Rede.24 Leibniz vermag nun die Aristotelische Bedingung fr spezielle Subjektbegriffe so zu erfllen, daß er solche individuellen Begriffe als vollstndige Begriffe konstruiert, nmlich als (unendliche) Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prdikatoren. Wrde ein vollstndiger (Subjekt-)Begriff selbst als Prdikator auftreten kçnnen, so mßte nach dem Ununterscheidbarkeitssatz (principium identitatis indiscernibilium) das Individuum, von dem er prdiziert wird, mit dem ursprnglichen In21 „Il est bien vray, que lorsque plusieurs predicats sattribuent un mÞme sujet, et que ce sujet ne sattribue plus aucun autre, on lappelle substance individuelle“ (Discours de mtaphysique § 8, Philos. Schr. IV, 432 [= Le Roy, 43]). 22 Vgl. Categoriae 5.2a11 – 13. 23 Discours de mtaphysique § 8, Philos. Schr. IV, 433 (= Le Roy, 43). 24 Ebd.

2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie

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dividuum, das er kennzeichnet, identisch sein. Denn nach diesem Satz sind Individuen, die in allen Eigenschaften bereinstimmen, bereits identisch. Genauer noch: Es hat keinen Sinn, von verschiedenen Individuen zu reden, wenn sich kein unterscheidendes Merkmal, z. B. eine der Identifizierung dienende Benennung, angeben lßt.25 Vollstndige Begriffe im Leibnizschen Sinne erfllen damit diejenigen Bedingungen, die (in moderner Sprechweise) ein Begriff erfllen muß, um fr eine Kennzeichnung verwendet werden zu kçnnen: der Begriff darf nicht leer sein, und es muß genau ein Individuum geben, das unter ihn fllt. Whrend dabei die Eindeutigkeit durch die Vollstndigkeit des Begriffs von vornherein gewhrleistet ist (weil es, wieder auf Grund des Ununterscheidbarkeitssatzes, keine zwei Individuen geben kann, die in allen ihren Eigenschaften bereinstimmen), muß zur Erfllung der ersten Bedingung ein Existenzbeweis gefhrt werden, der es erlaubt, dann von einem mçglichen Begriff zu sprechen, nmlich einem solchen, der keinen logischen Widerspruch impliziert. Kennzeichnungen wiederum, die mit Hilfe von vollstndigen Begriffen gebildet werden, mçgen vollstndige Kennzeichnungen heißen. Sie sind ein Spezialfall der gewçhnlichen Kennzeichnung, bei der es gengt, zur eindeutigen Bestimmung eines Individuums lediglich einen fr dieses Individuum charakteristischen Prdikator anzufhren.26 25 K. Lorenz hat gezeigt (Die Begrndung des principium identitatis indiscernibilium, Studia Leibnitiana Supplementa III, Wiesbaden 1969, 149 – 159), daß die mit dem Ununterscheidbarkeitssatz (vgl. Leibnizens Formulierung in: Les principes de la philosophie § 9, Robinet, 9 [= Philos. Schr. VI, 608]) gegebene Definition der Identitt die bereinstimmung der zugehçrigen vollstndigen Begriffe betrifft; auf diese Weise wird schließlich die Synonymitt der traditionell ,ontologisch genannten Bestimmung der Identitt (durch den Ununterscheidbarkeitssatz) mit der ,logischen Bestimmung der Identitt (durch Austauschbarkeit salva veritate) bewiesen. In unserem Zusammenhang: Sind ,s und ,t Eigennamen von Gegenstnden, so gehçren (nach einem von F. Schmidt verçffentlichten Fragment: Ph. VII B IV, 13 – 14 [ca. 1695], G. W. Leibniz. Fragmente zur Logik, Berlin 1960, 479) auch die Prdikatoren ,,s-heißen bzw. ,,t-heißen zu den ,inneren Bestimmungen des mit ,s bzw. ,t benannten Gegenstandes, d. h., sie treten in den vollstndigen Begriffen dieser Gegenstnde auf (vgl. unten Anm. 33). In der Tat sind daher die vollstndigen Begriffe zweier Gegenstnde s und t verschieden, wenn ,s und ,t unterschiedene Gegenstnde benennen. 26 Auch Leibniz weiß, daß man hier mit weniger auskommt. Aus einem Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, in dem er erluternd auf seine Theorie vollstndiger Begriffe zurckkommt, geht hervor, daß schon die Namengebung allein zur Kennzeichnung eines Individuums gengt, ohne daß damit dessen vollstndiger Begriff angegeben wre. ,Adam, so lautet das Beispiel an dieser Stelle, ist ein

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2. Monade und Begriff

Leibniz gibt in diesem Zusammenhang mehrere Beispiele. In § 13 des „Discours“ heißt es von Caesar: „Da Julius Caesar stndiger Diktator, Herr der Republik werden und die Freiheit der Rçmer vernichten wird, ist dieses Handeln in seinem Begriff enthalten; denn wir setzen voraus, daß es das Wesen eines solchen vollkommenen Begriffes eines Subjektes (dune telle notion parfaite dun sujet) ist, alles in sich zu schließen, damit der Prdikator in ihm enthalten sei, ut possit inesse subjecto.“27 In § 8 tritt Alexander der Große als Beispiel auf. Leibniz schreibt: „Wenn Gott (…) den individuellen Begriff (notion individuelle) oder die Haecceitas (hecceit) Alexanders vor Augen hat, so sieht er darin zugleich die Grundlage (fondement) und den Grund (raison) fr alle Prdikatoren, die sich von ihm berechtigt aussagen lassen, z. B. daß er Darius und Porus besiegen wird; ja er weiß sogar a priori (nicht kraft Erfahrung), ob er eines natrlichen Todes oder durch Gift gestorben ist, was wir nur aus der Geschichte wissen kçnnen.“28 In der Alexander den Großen betreffenden Kennzeichnung sollen also nicht nur neben den hier bereits angefhrten Prdikatoren weitere Prdikatoren wie ,ber-den-Hellespont-gehen oder ,bei-Issossiegen vorkommen, Prdikatoren nmlich, von denen unter Umstnden ein einziger gengen wrde, um Alexander eindeutig zu kennzeichnen, sondern auch solche wie ,Anfang-November-333-schlecht-schlafen und ,in-Aristotelischer-praktischer-Philosophie-schlecht-benotet. Die zum vollstndigen Begriff Alexanders des Großen gehçrige vollstndige Kennzeichnung ist eine lckenlose Biographie. Dabei kommt es wiederum nicht so sehr auf die Frage an, ob die Anzahl der Prdikatoren in einer solchen vollstndigen Kennzeichnung berschaubar ist oder nicht. Leibniz selbst hebt hervor, daß sie in der Regel Name, mit dessen Hilfe sich ein Individuum kennzeichnen lßt (der kennzeichnende Prdikator wre ,Adam-heißen). Eine solche Kennzeichnung ist jedoch unvollstndig, sofern nun auch entschieden werden sollte, welche Eigenschaften diesem benannten Individuum zukommen und welche nicht: „ce qui determine un certain Adam doit enfermer absolument tous ses predicats, et cest cette notion complete qui determine rationem generalitatis ad individuum“ (Philos. Schr. II, 54 [= Le Roy, 119]). 27 Philos. Schr. IV, 437 (= Le Roy, 48); dazu noch die folgende Bemerkung: „Car si quelque homme estoit capable dachever toute la demonstration, en vertu de la quelle il pourroit prouver cette connexion du sujet qui est Cesar et du predicat qui est son entreprise heureuse; il feroit voir en effect que la Dictature future de Cesar a son fondement dans sa notion ou nature, quon y voit une raison, pourquoy il a plustost resolu de passer le Rubicon que de sy arrester, et pourquoy il a plustost gagn que perdu la journe de Pharsale“ (Philos. Schr. IV, 437 f. [= Le Roy, 48]). 28 Philos. Schr. IV, 433 (= Le Roy, 43).

2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie

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nur im Falle der notwendigen, d. h. der identischen, Stze berschaubar ist, whrend im Falle der kontingenten Stze die Individualitt, wie er sagt, die Unendlichkeit einschließt29 und ihre Analyse deswegen auch eine unendliche Aufgabe ist (resolutio procedit in infinitum)30. Das bedeutet wiederum nicht, daß sich einzelne kontingente Stze nicht doch in endlich vielen Schritten auf identische und damit notwendige Stze zurckfhren ließen. Die Einschrnkung, die hier durch die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Stzen ausgedrckt wird, gilt nur hinsichtlich der Mçglichkeit einer vollstndigen Reduktion aller kontingenten Stze auf notwendige Stze. Diese ist wegen der Voraussetzung von unendlichen Kennzeichnungen, vollstndigen Kennzeichnungen mit unendlich vielen Prdikatoren, unmçglich. Hingegen kçnnen z. B. Kennzeichnungen fr abstrakte Gegenstnde, etwa animal rationale (als vollstndiger Begriff von homo) durchaus endlich sein. In einem solchen Falle – und das lßt sich so einfach natrlich nur bei nicht-konkreten Gegenstnden durchfhren – ist durch eine Definition oder durch terminologische Bestimmungen das Verfahren, Gegenstnde zu bestimmen, abgeschlossen. Der entsprechende Begriff ist vollstndig, die zugehçrige Kennzeichnung dennoch nicht unendlich. Leibniz hat auch diese, systematisch gebotene Variante eines vollstndigen Begriffs bemerkt; er spricht in einem solchen Falle statt von einer notio completa von einer notio plena. 31

29 Nouveaux essais III 3 § 6, Akad.-Ausg. VI/6, 289. 30 Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis, Philos. Schr. VII, 309. Die hier auftretenden systematischen Schwierigkeiten sind von L. Krger unter dem Stichwort des Leibnizschen Rationalismus ausfhrlich diskutiert worden (Rationalismus und Entwurf einer universalen Logik bei Leibniz, Frankfurt 1969). Krger lßt dabei bewußt die Mçglichkeit beiseite, kontingente Aussagen als Aussagen ber Individuen (konkrete Gegenstnde, Ereignisse) aufzufassen (a.a.O., 30, Anm. 5), wodurch sich die These von der generellen Rckfhrbarkeit auch kontingenter Aussagen auf identische Aussagen plausibel machen lßt. Er legt sich damit eine hinsichtlich der Komplexitt der Leibnizschen berlegungen zu starke, Beschrnkung auf. Andererseits weist er im gleichen Zusammenhang darauf hin, daß Leibniz, seinem rationalistischen Argument (Reduktion aller Begrndungsformen auf einen analytischen Begriff der Wahrheit) folgend, schließlich (wegen der Abhngigkeit wahrer kontingenter Stze von einer rationalen Rekonstruktion der Erfahrung) selbst die Erfahrung als Beweismittel zulassen msse (a.a.O., 31). Die erwhnte Formulierbarkeit kontingenter Aussagen als Aussagen ber Individuen aber ist in gewissem Sinne nichts anderes als die Theorie hierzu (aufgebaut als Theorie vollstndiger Begriffe). 31 Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld (Randbemerkung), Philos. Schr. II, 49 (Anm.); vgl. K. Lorenz, a.a.O., 155 f..

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2. Monade und Begriff

Aber auch hinsichtlich konkreter Gegenstnde, deren vollstndige Kennzeichnungen unendlich sind, erscheint eine zunehmend genauere Bestimmung, gemessen an den gegebenen Zielen, nicht schlechterdings illusionr. Aufschlußreich ist hier eine Bemerkung aus den „Generales Inquisitiones“, mit der Leibniz seine Beispiele aus dem „Discours“ durch einen methodischen Gesichtspunkt ergnzt: „Der Vorfall (gemeint ist die Verleugnung Christi durch Petrus, Verf.) muß aus dem Begriff Petri demonstriert werden. Doch ist der Begriff Petri vollstndig (completa) und schließt daher Unendliches ein, weshalb der Vorfall wiederum nicht vollkommen demonstriert werden kann. Dennoch lßt sich dies stndig mehr und mehr erreichen, so daß der Unterschied geringer als jeder gegebene Unterschied ist (differentia sit minor quavis data).“32 Eine stetige Annherung wird also ausdrcklich fr mçglich gehalten; ,infinitesimal gesprochen: jede noch so große Zahl kann schließlich erreicht werden. Wenn es dabei an dieser Stelle heißt, daß sich der Unterschied zunehmend geringer machen lßt, dann soll damit wohl gemeint sein, daß jede gegebene Anzahl von Teilbegriffen der Verleugnung (deren ,Umstnde betreffend) durch eine geeignete Vervollstndigung des Begriffs Petri erschlossen werden kann. Mit anderen Worten: wo eine differenziertere Zerlegung des mit einer Kennzeichnung gegebenen komplexen Prdikators gewnscht wird, ist diese auch durchfhrbar. Die Begrndung, warum der vollstndige Begriff eines Individuums, d. h. eines konkreten Gegenstandes, faktisch niemals gegeben ist, schließt nicht aus, daß sich der zugehçrige komplexe Prdikator ,stckweise beliebig genau formulieren lßt (was nach Leibnizens analytischer Theorie bedeutet, daß durch eine derartige Vervollstndigung des ,vollstndigen Begriffs einzelne kontingente Stze schließlich zu notwendigen Stzen werden). ber die Konstruktion individueller Begriffe als vollstndiger Begriffe ist es Leibniz damit gelungen, allein mit logischen (nmlich begrifflichen) Hilfsmitteln diejenige Unterscheidung einzufhren, die in der Tradition als ontologische Grundunterscheidung von Substanz und Akzidenz angesehen wurde. Whrend bisher die berzeugung herrschte, daß sprachliche Formulierungen ontologischen Unterscheidungen nur folgen kçnnten, diese den sprachlichen Unterscheidungen schon zugrundelgen, weiß Leibniz, daß mit einer derartigen These nichts gewonnen ist. Zwar kommt es in seinem eigenen Vorschlag noch zu keiner vçlligen Umkehrung dieser These, der Einsicht nmlich, daß auch so genannte ontologische Unterscheidungen sprachlich getroffene Unterscheidungen sind, daß sie den32 Generales Inquisitiones § 74, C. 376 f..

2.2 Begriffstheorie und analytische Urteilstheorie

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selben Begrndungsverpflichtungen unterliegen wie jede andere Unterscheidung, doch wird man sagen drfen, daß der Absicht nach diese Umkehrung bereits eingeleitet ist. Die Konstruktion vollstndiger Begriffe, so methodisch unvollkommen diese im Detail auch selbst noch sein mag, rechtfertigt die Einfhrung des Substanzbegriffs – nicht in Form einer zustzlichen Erluterung, sondern in Form einer selbstndigen Begriffsbildung. Das bedeutet aber hinsichtlich des grçßeren Zusammenhangs, in dem diese Bemhung steht, also z. B. fr den Zusammenhang des „Discours“ mit dem „Systme nouveau“, daß der Rckgriff auf ontologische Traditionen im Begriff der substantiellen Form an entscheidender Stelle nur ein verbaler Rckgriff ist, Leibniz sofort ber einen Begriff der Substanz verfgt, der ihn von der Tradition systematisch gesehen unabhngig macht. Anders ausgedrckt: seine Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes (als solche versteht er wohl seine Bemhung) fhrt berhaupt erst zu einem logisch vertretbaren Begriff. Was nun die zunchst, fr physikalische Kontexte, angedeutete, in der in Anmerkung 2 zu Beginn genannten Arbeit weiter ausgefhrte Erklrung der Ausdrcke ,metaphysischer Punkt bzw. ,formales Atom durch den Begriff des Massenpunktes betrifft, so ist diese mit der Erluterung des Begriffs der individuellen Substanz durchaus vertrglich. Leibniz gibt zwar selbst keine genaueren Hinweise darauf, wie sich der vollstndige Begriff eines physikalischen Elements bilden lßt – seine Beispiele stammen, wie im Falle der Alexander-Monade, aus einem Bereich, in dem die Existenz von Eigennamen oder Kennzeichnungen von vornherein nichts Ungewçhnliches ist –, doch handelt es sich hier lediglich um ein Problem der Ausfhrung, nmlich um die Anwendung begrifflicher Hilfsmittel außerhalb desjenigen Beispielbereichs, der zu ihrer Einfhrung diente. Hinsichtlich des Begriffs des Massenpunktes kann der Zusammenhang wie folgt hergestellt werden: Kennt man alle physikalischen Bestimmungen (darunter auch die Randbedingungen) eines physikalischen Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt (die Koordinaten der Massenpunkte und deren zeitliche Ableitungen zu einem gegebenen Zeitpunkt), so sind daraus auf analytischem Wege alle knftigen Zustnde des Systems vollstndig ableitbar. Fr ein solches System lßt sich damit nach Leibniz ein vollstndiger Begriff angeben; desgleichen aber auch fr einen Massenpunkt selbst, sofern dieser im Rahmen des Systems ein spezielles System darstellt, als ein solches spezielles System beschrieben werden kann. Eine Schwierigkeit dieser Erklrung besteht lediglich darin, daß es sich bei den Randbedingungen eines Systems um ußere Bedingungen handelt, die im Rahmen der Leibnizschen Unterscheidungen zur Kennzeichnung einer

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2. Monade und Begriff

individuellen Substanz nicht zugelassen sind.33 Andererseits lassen sich diese ußeren Bedingungen als innere Bedingungen eines (unendlichen) Gesamtsystems auffassen. Und dieser Begriff eines (unendlichen) Gesamtsystems, so problematisch er systematisch gesehen ist, macht nun wiederum innerhalb der Leibnizschen Philosophie keine Schwierigkeiten, da in deren Zusammenhang auch von unendlichen Begriffen die Rede ist. Die hier gegebene Erklrung ist im Grunde nur die logische Explikation des Gedankens der prstabilierten Harmonie.

2.3 Der Perzeptionensatz Es wre eine gewiß reizvolle Aufgabe, die hier begonnene Analyse der Leibnizschen Monadentheorie auf dem Hintergrund einer Theorie vollstndiger Begriffe in extenso weiterzufhren. Doch entsprche das nicht der Absicht, mit der diese Analyse begonnen wurde. Wenn an dieser Stelle ausfhrlich von Leibnizens Philosophie die Rede ist, dann nicht um deren umfassenden Darstellung willen, sondern um ein Beispiel dafr zu geben, wie nunmehr die Logik zum Vehikel so genannter metaphysischer Betrachtungen wird. Zu diesem Zweck gengt die Analyse einiger zentraler Stcke dieser Philosophie, gengt der Nachweis, daß gewisse Aussagen logisch rekonstruiert werden, die bislang als metaphysische Aussagen methodisch isoliert standen. Aus der Flle spekulativ anmutender Stze der Monadentheorie, die sich mit Hilfe der Theorie vollstndiger Begriffe einsichtig machen lassen, sei hier die Behauptung herausgegriffen, daß es Perzeptionen sind, die das Individuum konstituieren.34 Zum einen handelt es sich bei diesem Satz, dem Perzeptionensatz der Monadentheorie, wie er im Folgenden bezeichnet werden soll, um ein wirklich zentrales Stck der Leibnizschen Monadenkonzeption, zum anderen ist der Zusammenhang mit der vorausgegangenen Diskussion des Begriffs der individuellen 33 Vgl. Les Principes de la philosophie ou la Monadologie § 9, Robinet, 73 (= Philos. Schr. VI, 608). Hier heißt es hinsichtlich der paarweisen Verschiedenheit der Monaden untereinander (in Anwendung des Ununterscheidbarkeitssatzes): „il ny a jamais dans la nature deux Etres, qui soient parfaitement lun comme lautre, et o il ne soit possible de trouver une difference interne, ou fonde sur une denomination intrinseque“. 34 Vgl. Nouveaux essays sur lentendement humain, Preface, Akad.-Ausg. VI/6, 53 („Ces perceptions insensibles marquent encore et constituent le mÞme individu, qui est caracteris par les traces, quelles conservent des estats prcedens de cet individu, en faisant la connexion avec son estat present“).

2.3 Der Perzeptionensatz

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Substanz evident. In beiden Fllen geht es um die unterscheidende Bestimmung von Einzeldingen. Als klassische Stelle fr das Verstndnis dessen, was Leibniz mit dem Ausdruck ,perceptio meint, darf das Vorwort zu den „Nouveaux essais“ gelten. Leibniz wendet sich hier in seiner Auseinandersetzung mit Locke unter anderem gegen die These, es kçnne gleichsam tote Augenblicke im Leben eines Individuums geben, in denen die Seele, vergleichbar einem Kçrper ohne Bewegung, leer sei. Zwei Argumente, ein apriorisches und ein aposteriorisches Argument, werden geltend gemacht. Das apriorische Argument lautet, daß eine Substanz ,von Natur aus (nmlich ihrem Begriffe nach!) gar nicht ohne Ttigkeit existieren kçnne (d. h., es wird die terminologische Bestimmung bekrftigt: x e substantia , x e res agens)35 ; das aposteriorische Argument ist ein Hinweis auf die Erfahrung: „Dailleurs il y a mille marques, qui font juger quil y a tout moment une infinit de perceptions en nous, mais sans apperception et sans reflexion, cest

dire des changements dans lame mÞme, dont nous ne nous appercevons pas, parce que ces impressions sont ou trop petites et en trop grand nombre, ou trop unies, en sorte quelles nont rien dassez distinguant part, mais jointes dautres, elles ne laissent pas de faire leur effect, et de se faire sentir au moins confusment dans lassemblage.“36 Zweifellos ist hier die sinnesphysiologische bzw. psychologische Unterscheidung zwischen unterschwelligen und berschwelligen Reizen ins Auge gefaßt, wobei bereits deutlich ausgesprochen wird, daß die Summation mehrerer unterschwelliger Reize schließlich einen berschwelligen Reiz ergeben kann. Leibniz gibt in diesem Zusammenhang selbst einige instruktive Beispiele.37 Er hebt hervor, daß die Gewohnheit auf die Bewegung einer Mhle oder eines Wasserfalls nicht mehr achten lßt, und daß Gerusche einer Volksmenge oder das Rauschen des Meeres das Ohr eines Menschen lediglich als verworrene Eindrcke erreichen. Der zustzliche 35 Nouveaux essays, Preface, Akad.-Ausg. VI/6, 53 („Car je soutiens que naturellement, une substance ne sauroit estre sans action“); vgl. die Hinweise oben Anm. 10. 36 Ebd. 37 Nouveaux essais, Preface, Akad.-Ausg. VI/6, 53 f.; vgl. Eclaircissement des difficults que Monsieur Bayle a trouves dans le systeme nouveau de lunion de lame et du corps (1698), Philos. Schr. IV, 521; Considerations sur la doctrine dun Esprit Universel Unique (1702), Philos. Schr. VI, 534; Discours de mtaphysique § 33, Philos. Schr. IV, 459 (= Le Roy, 71 f.); Brief vom 30. April 1687 an Arnauld, Philos. Schr. II, 91 (= Le Roy, 159 f.); Brief vom 9. Oktober 1687 an Arnauld, Philos. Schr. II, 113 (= Le Roy, 181).

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2. Monade und Begriff

Hinweis auf den bergang von so genannten kleinen bzw. unmerklichen Perzeptionen (petites perceptions, perceptions insensibles) zu merklichen Perzeptionen (perceptions remarquables) unterstreicht, daß es sich in jedem Falle bei diesen Perzeptionen um sinnesphysiologische Vorgnge, um Wahrnehmungen, handelt. Derartige aposteriorische, in Form empirisch-psychologischer Betrachtungen vorgetragene Erklrungen nehmen sich nun im Rahmen der Monadentheorie ußerst merkwrdig aus. Sie passen nicht recht zu theoretischen Erwgungen etwa ber den Begriff der individuellen (einfachen) Substanz oder ber das Postulat einer prstabilierten Harmonie, und doch lßt sich schwerlich bersehen, daß Leibniz dort, wo er von diesen Dingen spricht, stets auch auf den Begriff der Perzeption zu sprechen kommt. Nun kann Leibniz nicht so naiv gewesen sein, wirklich anzunehmen, individuelle Substanzen (Monaden) ließen sich durch physiologische oder psychologische Vorgnge hinreichend bestimmen. Seine Auseinandersetzung mit Locke wre dann gnzlich unverstndlich, weil er ja nunmehr selbst die empiristische These vom fundierenden Charakter sinnesphysiologischer und psychologischer Vorgnge bernommen htte. Gegen diese These aber wendet sich gerade seine Kritik, weshalb auch (jedenfalls im Rahmen theoretischer Betrachtungen zur Konstituierung von Individuen) unter ,perceptio etwas anderes verstanden sein muß als ,Wahrnehmung. Und so ist es denn auch. Der Perzeptionensatz, das lßt sich schon an seinen Formulierungen erkennen, bringt als theoretisches Element der „Monadologie“ keine empirischen Ergebnisse oder gibt derartige Ergebnisse gar als fundierende Teile des Systems aus; er setzt vielmehr jene Erçrterungen fort, die im Begriff des vollstndigen Begriffs zu einer ersten logischen Bestimmung des Begriffs der individuellen Substanz gefhrt hatten. Der Perzeptionensatz lautet in der Formulierung der „Principes de la nature et de la grace“ (§ 2): „une Monade en elle-mÞme, et dans le moment, ne sauroit Þtre discerne dune autre que par les qualits et actions internes, lesquelles ne peuvent Þtre autre chose que ses Perceptions (cest- -dire les reprsentations du compos, ou de ce qui est dehors, dans le simple), et ses Appetitions (cest- -dire ses tendences dune perception lautre).“38 Entsprechend heißt es in der parallelen Abhandlung „Principes de la philosophie ou la Monadologie“ (§ 12), daß es Perzeptionen sind, die fr die Besonderheit und die Mannigfaltigkeit der einfachen Substanzen (la specification et la variet des substances simples) sorgen.39 Expressis verbis 38 Robinet, 29 (= Philos. Schr. VI, 598). 39 Robinet, 75 (= Philos. Schr. VI, 608).

2.3 Der Perzeptionensatz

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geht es hier um die unterscheidende Bestimmung von Individuen und damit um dasselbe Problem, das in logischen Kontexten als das Problem der Konstruktion individueller Substanzen aufgetreten war. Whrend dieses Problem zunchst durch die Einfhrung vollstndiger Begriffe gelçst wurde, Begriffe, die jeweils quivalent sind mit der Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prdikatoren, ist nun von Perzeptionen die Rede, und zwar evidentermaßen an einer Stelle, wo hinsichtlich vollstndiger Begriffe von Prdikatoren (in einer Kennzeichnung) gesprochen wurde. Sowohl die in einer Kennzeichnung auftretenden Prdikatoren als auch die einem Individuum zugeschriebenen Perzeptionen determinieren nach Leibniz das (gekennzeichnete) Individuum.40 Die Vermutung liegt nahe, daß hier nur scheinbar auf verschiedenen Ebenen argumentiert wird. Was auf den ersten Blick wie ein von jener logischen Bestimmung unabhngiger Versuch aussehen mag, kçnnte eine ergnzende Variante derselben Bestimmung sein. Tatschlich lßt sich schwerlich von determinierenden Perzeptionen sprechen (wobei an dieser Stelle natrlich keine Wahrnehmungen gemeint sein kçnnen), ohne dabei in irgendeiner Weise das logische Hilfsmittel der Kennzeichnung heranzuziehen. Wer Perzeptionen angibt, um mit ihnen ein Individuum unterscheidend zu bestimmen, tut dies von vornherein in Form einer Kennzeichnung, wobei eben jene Perzeptionen als Prdika40 Im vollstndigen Begriff eines Gegenstandes waren es innere Bestimmungen, von denen zur Kennzeichnung des betreffenden Gegenstandes allein Gebrauch gemacht wurde. Nur sie, nicht ußere Bestimmungen, determinieren hier, im logischen Sinne, einen Gegenstand. Entsprechend heißt es nun hinsichtlich der Perzeptionen einer Monade, daß diese deren ,inneren Zustand darstellen („la Perception qui est ltat interieur de la Monade“, Les principes de la nature et de la grace § 4, Robinet, 35/37 [= Philos. Schr. VI, 600]). Das ist kein verbaler Zufall, sondern eine begrifflich fixierte Entsprechung. Parkinson macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, daß Leibniz die Termini ,perception und ,sentiment stets unterschieden verwendet (sentiment ist ,wahrgenommene Perzeption; vgl. Principes de la nature et de la grace § 4, Robinet, 33 f. [= Philos. Schr. VI, 599]); Les principes de la philosophie § 19, Robinet, 81 [= Philos. Schr. VI, 610]; G. H. R. Parkinson, Logic and Reality in Leibnizs Metaphysics, Oxford 1965, 178 f.). Whrend ,perception in der eben erluterten Weise sowohl eine ,innere als auch eine ,ußere Bestimmung betrifft, ist ,sentiment als Wahrnehmung bloß ,ußere Bestimmung – reine Wahrnehmungsdaten, also die ,wahrgenommenen Perzeptionen, treten in vollstndigen Begriffen in Form kennzeichnender Prdikatoren nicht auf. Was dabei Parkinsons eigene Darstellung betrifft, so beschrnkt sich diese noch auf eine referierende Wiedergabe des Leibnizschen Textes; der Hinweis auf Zusammenhnge mit logischen Kontexten (a.a.O., 178) bleibt interpretatorisch ungenutzt.

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2. Monade und Begriff

toren innerhalb der Kennzeichnung auftreten. Man muß also gar nicht erst die ntzliche Vorschrift ,entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem bemhen, um zu erkennen, daß hier, wenn einerseits von Prdikatoren im vollstndigen Begriff einer individuellen Substanz, andererseits von Perzeptionen (in) einer individuellen Substanz die Rede ist, der Sache nach dasselbe gemeint ist. Durch den Zusammenhang mit einer Theorie vollstndiger Begriffe verliert der Perzeptionensatz seinen spekulativen Charakter und erweist sich nun sogar als informative Ergnzung dieser Theorie. Dies lßt sich am besten dadurch verdeutlichen, daß man auf folgendes mçgliches Mißverstndnis aufmerksam macht. Die Erklrung von ,perceptio einer Monade durch ,Prdikator im vollstndigen Begriff einer Monade kçnnte zunchst so verstanden werden, als seien mit Perzeptionen einer Monade diejenigen Prdikatoren gemeint, die ein Individuum im Vollzug der Prdikation vergibt. Damit wrde aber nicht das Individuum, sondern die Außenwelt konstituiert, sofern Prdikatoren Unterscheidungen artikulieren, die man in seiner Umwelt trifft. Prdikatoren dieser Art trten nicht im vollstndigen Begriff des prdizierenden Individuums, sondern im vollstndigen Begriff des prdizierten Gegenstandes auf; man sprche von Perzeptionen des betreffenden Gegenstandes, nicht von seinen eigenen.41 So war denn auch am Beispiel des vollstndigen Begriffs Alexanders des Großen von Prdikatoren wie ,ber-den-Hellespont-gehen, ,in-Aristotelischer-praktischer-Philosophie-schlecht-benotet und ,Darius-besiegen (einem Prdikator, den Leibniz selbst anfhrt) die Rede, von Prdikatoren also, die gewissermaßen von außen, aus der Sicht eines fiktiven Betrachters (hier eines Kriegskorrespondenten und eines Philosophen) in bezug auf Alexander unterscheidend gebraucht wurden. Dasselbe gilt von den brigen Beispielen, wobei es nun gerade die Unterscheidung zwischen prdizierender und prdizierter Monade ist, die hinsichtlich dieser Beispiele im Zusammenhang mit dem Perzeptionensatz vor sonderbaren empirisch-psychologischen bzw. physiologischen Assoziationen bewahrt. 41 Durch eine derartige berlegung wird schließlich auch die Behauptung verstndlich, selbst ,bloße Monaden (monades toutes nues, Les principes de la philosophie § 24, Robinet, 83 [= Philos. Schr. VI, 611]), Monaden ,ohne Bewußtsein seien niemals ohne Perzeptionen (Les principes de la philosophie § 21, Robinet, 81 [= Philos. Schr. VI, 610]). Auch diese Monaden, Teile der anorganischen Natur, lassen sich kennzeichnen, was nach der hier gegebenen Erluterung immer eine Kennzeichnung hinsichtlich Perzeptionen (ausschließlich als innere Bestimmungen verstanden) bedeutet.

2.3 Der Perzeptionensatz

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Greift man an dieser Stelle einmal die von Leibniz hufig erwhnte perceptio Meeresrauschen heraus, so sieht es zunchst wieder so aus, als ob ,Meeresrauschen ein Prdikator sei, der einem vom prdizierenden Individuum verschiedenen Gegenstand zukommt. Eben dies aber ist auch hier nicht gemeint. Leibniz spricht, um ein vçllig unverdchtiges empirisches Zeugnis zu whlen, in den „Nouveaux essais“ in diesem Zusammenhang von Eindrcken (impressions), welche die uns umgebenden Dinge auf uns machen42, womit jedenfalls so viel gewiß ist, daß nicht von diesen Dingen selbst, sondern von den sie ,perzipierenden Individuen die Rede ist. Wenn die ja bereits in den „Nouveaux essais“ pointiert formulierte Behauptung, das Individuum werde durch Perzeptionen konstituiert, einen vernnftigen Sinn haben soll, dann muß auch in diesem Falle ein Prdikator gemeint sein, der dem Individuum selbst zukommt. Er hieße genaugenommen ,Meeresrauschen-Hçren und stnde auf der gleichen begrifflichen Stufe wie die erwhnten, im vollstndigen Begriff Alexanders vorkommenden Prdikatoren. Fr diese Erluterung spricht nicht nur die Verbindung zu einer Theorie vollstndiger Begriffe, sondern auch ein von dieser Theorie unabhngiges systematisches Argument. Es betrifft die methodische Reihenfolge der Prdikatoren ,Meeresrauschen-Hçren und ,Meeresrauschen. Faßt man nmlich deren Reihenfolge nicht in der Weise auf, wie dies hier innerhalb einer interpretatorischen Bemhung geschah, dann tritt ,Meeresrauschen-Hçren nicht mehr als Prdikator auf, der einem Individuum zukommt, sondern als ,Sinneseindruck, den das Individuum von außen empfngt und der es allererst veranlaßt, den Prdikator ,Meeresrauschen zu vergeben. In einem solchen Falle werden theoretisch sptere Stze, nmlich Stze der Sinnesphysiologie, dazu benutzt, die elementare Handlung des Prdizierens ihrerseits noch zu begrnden. Aus den Perzeptionen aber werden erst jetzt ,Eindrcke, ,Empfindungen oder ,Vorstellungen, was innerhalb des behandelten theoretischen Kontextes wiederum zur Konsequenz htte, die Monade als ein Gesamt von solchen sinnesphysiologischen Daten anzusehen. Der Perzeptionensatz wre ein skurriles Stck Metaphysik, das zur Lçsung der Frage nach der theoretischen Bestimmbarkeit von Individuen nicht das geringste beisteuern kçnnte. Wie bereits hinlnglich betont, besteht keinerlei Veranlassung, Leibniz einen derartig schwerwiegenden methodischen Irrtum zu unterstellen. Zwar fllt es gelegentlich schwer, in seinen Argumentationen zwischen 42 Akad.-Ausg. VI/6, 55.

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2. Monade und Begriff

empirisch-psychologischen bzw. sinnesphysiologischen Analysen und Behauptungen ber die theoretische Bestimmbarkeit von Individuen klar zu trennen, doch gengt auch hier im Grunde der Hinweis auf seinen Gegner Locke, um die Akzente richtig zu setzen. Denn Locke ist es gerade, der den erwhnten methodischen Irrtum beging, indem er sinnesphysiologische Stze als Begrndungen fr das, was elementar sein soll, einzufhren suchte, Stze, die selbst auf einer elementaren Stufe gar nicht auftreten kçnnen. Leibniz argumentiert gegen dieses Mißverstndnis. Es mag sein, daß ihm dabei hufig (gerade auch in der Verwendung des Ausdrucks ,perception, der bei Locke ,sensation und ,reflection umfaßt) methodisch nicht mehr gerechtfertigte Zugestndnisse unterlaufen; aus diesen Zugestndnissen, aus gelegentlichen begrifflichen Unklarheiten selbst wieder eine Lockesche Position zu machen, wre widersinnig. Dagegen lßt sich mit einigem Recht fragen, ob es nun ausgerechnet derartig preziçser Prdikatoren wie ,Meeresrauschen-Hçren bedarf, um ein Individuum zu kennzeichnen. In einer gewçhnlichen Kennzeichnung wird ein solcher Prdikator sicher nicht auftreten, doch ist die Sache anders, wenn ber vollstndige Begriffe nunmehr vollstndige Kennzeichnungen gefordert werden. Als Element einer vollstndigen Kennzeichnung ist ,Meeresrauschen-Hçren von anderen, sonst zur Kennzeichnung herangezogenen Prdikatoren nicht wesentlich unterschieden. Der Prdikator ,Meeresrauschen-Hçren, der an dieser Stelle nicht etwa aus ,Meeresrauschen und ,hçren zusammengesetzt verstanden werden darf, tritt ebenfalls als eine innere Bestimmung auf. Die ihr als perceptio zugeordnete ußere Bestimmung ist dann ein Wahrnehmungsdatum, das jedoch erst im Rahmen einer Theorie ber die Prdikationen ,dieses Meer rauscht und ,ich nehme das Meeresrauschen wahr begrifflich isoliert werden kann. ,Ich nehme das Meeresrauschen wahr ist dabei synonym mit ,ich hçre Meeresrauschen: hier sind, im Gegensatz zur inneren Bestimmung ,Meeresrauschen-Hçren, ,Meeresrauschen und ,hçren zwei Prdikatoren – das Wahrnehmungsdatum wird traditionellerweise (grammatisch) als Objekt einer Ttigkeit, im angegebenen Falle ,hçren, konstruiert. Sofern dabei diese Zerlegung von ,Meeresrauschen-Hçren, die begriffliche Isolierung eines Wahrnehmungsdatums durch die Interpretation von perceptio als ußerer Bestimmung, in der Verwendung des Ausdrucks ,perceptio bereits antizipiert ist, handelt es sich im Sinne Leibnizens auch bei Meeresrauschen-Hçren um eine Ttigkeit, und zwar um eine innere

2.3 Der Perzeptionensatz

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Ttigkeit (action interne).43 Der Begriff der Perzeption ist von vornherein so weit gefaßt, daß er unabhngig von seinem Auftreten im Zusammenhang mit sinnesphysiologischen bzw. psychologischen berlegungen auch auf die Aufeinanderfolge der Handlungen individueller Substanzen, die continuatio seriei suarum operationum 44, zutrifft. Auch Wendungen wie die, daß mit einer Monade stets etwas ,geschieht, daß ihr etwas ,begegnet, und daß dies alles aus ihrem vollstndigen Begriff folge, schrnken eine solche ,aktivistische Fassung des Begriffs der Perzeption nicht wieder ein. Sie besttigen nur, daß Leibniz seinen Perzeptionensatz tatschlich in enger Anlehnung an seine Theorie vollstndiger Begriffe formuliert. Wçrtlich heißt es, daß alles, was einer individuellen Substanz widerfhrt, nur die Folge ihrer Idee oder ihres vollstndigen Begriffes ist, da diese Idee bereits smtliche Prdikatoren oder Ereignisse enthlt („ce qui arrive chacune nest quune suite de son ide ou notion complete toute seule, puisque cette ide enferme dja tous les predicats ou evenemens“45) und uns außer Gedanken (dem Ergebnis einer Reflexion auf Perzeptionen, d. h. der Apperzeption46) und Perzeptionen nichts widerfahren kann.47 An dieser Stelle ist der sachliche Zusammenhang von ,perceptio einer Monade und ,Prdikator im vollstndigen Begriff einer Monade evident; was als Perzeption einer Monade widerfhrt, ist als Prdikator Bestandteil ihres vollstndigen Begriffs. Alle Erfahrungen und Handlungen einer Monade, auch die zuknftigen, liegen von vornherein in diesem vollstndigen Begriff fest; das Problem ist nicht, wie sich ein derartiger Begriff denken lßt, sondern einzig und allein, wie er sich realisieren lßt. Doch auf dieses Realisierungsproblem scheint es Leibniz auch gar nicht anzukommen. Der wiederholte Hinweis, daß jedenfalls ,vor Gott vollstndige Begriffe auch faktisch gegeben sind, besagt systematisch gesehen nur, daß sie mçglich sind. Und dies gengt Leibniz, um mit Hilfe seiner Theorie vollstndiger Begriffe und des Perzeptionensatzes wiederum andere Stze seiner Monadentheorie zu formulieren, Stze, mit denen jetzt jener spe43 Les principes de la nature et de la grace § 2, Robinet, 29 (= Philos. Schr. VI, 598); vgl. Les principes de la philosophie § 17, Robinet, 79 (= Philos. Schr. VI, 609). 44 Brief vom 23. Mrz 1690 an Arnauld, Philos. Schr. II, 136 (= Le Roy, 199). 45 Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 440 (= Le Roy, 50); vgl. § 33, Philos. Schr. IV, 458 (= Le Roy, 71). 46 Brief vom 9. Oktober 1687 an Arnauld, Philos. Schr. II, 112 (= Le Roy, 181); vgl. Les principes de la nature et de la grace § 4, Robinet, 35 f. (= Philos. Schr. VI, 600). 47 „En effect rien ne nous peut arriver que des penses et des perceptions“; Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 440 (= Le Roy, 50).

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2. Monade und Begriff

kulative Spielraum ausgenutzt wird, den eine logische Konstruktion wie die dargestellte geçffnet hat.

2.4 Monaden spiegeln die Welt Der wohl attraktivste Satz der Monadentheorie ist die Behauptung, daß jede Monade fr sich genommen die Welt reprsentiert. Was hier in eindrucksvollen, meist geometrischen Metaphern, in systematischer Verknpfung mit dem Begriff der prstabilierten Harmonie, immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, ist im Grunde nur eine Erluterung des formalen Charakters vollstndiger Begriffe. Im „Discours“ wird darauf explizit verwiesen. Ein vollstndiger Begriff enthlt nicht nur „smtliche Prdikatoren oder Ereignisse“ einer individuellen Substanz, er drckt auch das ganze Universum aus (et exprime tout lunivers).48 Die Behauptung ist ohne weiteres klar: Auf Grund der Vollstndigkeit eines Begriffs mssen smtliche Gegenstnde, vertreten durch Eigennamen oder wiederum durch Kennzeichnungen, in mindestens einem Prdikator seiner unendlichen Konjunktion von Prdikatoren vorkommen. Tatschlich lßt sich diese Bedingung durch eine Konstruktion folgender Art erfllen. Beispiel sei die Alexander-Monade. Man nehme, einmal abgesehen von den (historisch) gelufigen Aussagen ber Alexander, auf die ja auch Leibniz selbst, wenn er auf dieses Beispiel zu sprechen kommt, zurckgreift, irgendeine andere Aussage und verwandle sie passend in einen Prdikator, der Alexander zukommt. Dies gelingt mit Hilfe einer geeigneten Relation zwischen Alexander und einem der Gegenstnde der fraglichen Aussage. Whlt man z. B. die Aussage ,Antonius ist der letzte Liebhaber Kleopatras, so gengt bereits die Relation ,vor-jemandem-leben zwischen Alexander und Antonius, um alles, was von Antonius ausgesagt werden kann, in eine Aussage ber Alexander umzuformen. Aus ,Antonius war der letzte Liebhaber Kleopatras wird ,Alexander kommt zu, vor Antonius, dem letzten Liebhaber Kleopatras, gelebt zu haben. Ein solches Verfahren ist dabei ohne Einschrnkung berall anwendbar, nur bedarf es zugleich wesentlich detaillierterer sprachlogischer Konstruktionen, um deutlich zu machen, daß zur Einfhrung derartig komplexer Prdikatoren die Kenntnis der vorausgehenden Aussagen ber andere Gegenstnde nicht etwa schon bençtigt wird. Die von Leibniz innerhalb 48 Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 440 (= Le Roy, 50).

2.4 Monaden spiegeln die Welt

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der Monadentheorie verwendeten gebrauchssprachlichen Mittel reichen dafr nicht aus. Das zeigt aber einmal mehr, daß sich Leibniz in seiner Metaphysik nicht nur dessen bedient, was er auf anderem Felde (hier der Logik) schon hinreichend gezeigt zu haben glaubt, sondern daß er sich dabei auch mit einer im Grunde noch recht vorlufigen Zusammenstellung von Ergebnissen zufriedengibt. Vollstndige Begriffe, wie sie Leibniz fr seine vollstndigen Kennzeichnungen braucht, erlauben es tatschlich, Aussagen ber beliebige Gegenstnde als Aussagen ber ein und denselben Gegenstand darzustellen. Aber es fehlt innerhalb der Leibnizschen Metaphysik jede ausfhrlichere Darstellung mit den geeigneten theoretischen Mitteln, die dies auch einmal in begrndeter Form vor Augen fhrte. Stattdessen treten Aussagen auf, die durch ihren metaphorischen Charakter („Monaden spiegeln die Welt“ etc.) nur dazu geeignet sind, den Abstand zu jener nchternen Erklrung, wonach in der Kennzeichnung einer Monade Raum fr beliebige, in Prdikatoren umgewandelte Aussagen ber andere Monaden ist, zu vergrçßern.49 Nicht nur die Sprache, in der hier gesprochen wird50, auch der sachliche Zusammenhang mit begrndenden Stcken einer oft selbst nicht hinreichend ausgefhrten Theorie muß erst rekonstruiert werden, ein Umstand, der diese ungewçhnliche Metaphysik trotz ihrer offenkundigen Abhn49 In diesem Zusammenhang wird denn auch von Leibniz selbst bewußt eine Analogie zu seinen mathematischen berlegungen gesucht: „Je tiens donc, pour mexpliquer en style dAlgbre, que si, limitation de Monsr. Hudde, qui prtendoit pouvoir assigner une Courbe Algbraique, dont les contours marqueroient les traits dun visage connu, on pouvoit exprimer, par une formule dune Caractristique suprieure, quelque proprit essentielle de lUnivers, on y pourroit lire, quels seront les tats successifs de toutes ses parties, dans tous les tems assigns“ (aus einem Brief an P. Varignon: G. W. Leibniz. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I–II, ed. E. Cassirer (bers. v. A. Buchenau), Hamburg 31966, 557; Jan Hudde [1628 – 1704], hollndischer Mathematiker, bekannt durch Arbeiten ber Verfahren zur Auflçsung von Gleichungen dritten und vierten Grades). Den spekulativen Charakter einer solchen Analogie unterstreicht die folgende Bemerkung aus demselben Brief: „Je pense donc avoir de bonnes raisons pour croire, que toutes les diffrentes classes des Etres, dont lassemblage forme lUnivers, ne sont dans les ides de Dieu, qui connoit distinctement leurs gradations essentielles, que comme autant dOrdonnes dune mÞme Courbe“ (a.a.O., 558). 50 Pointiert spricht E. Cassirer von Leibnizens ,Sprache der Metaphysik, die Kant dann in die ,Sprache der Methode bersetzt (Leibniz System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902, 400 [Anm. 1]); was allerdings auch hier nicht bedeuten soll, daß Leibniz nicht selbst schon methodisch denkt.

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2. Monade und Begriff

gigkeit von logischen Betrachtungen extrem interpretationsbedrftig macht. Und dies wird hinsichtlich einer philosophischen Bemhung, in der ,Abkrzungen gleich welcher Art nicht auf Kosten der begrifflichen Klarheit gehen drfen, immer ein berechtigter Vorwurf bleiben. Ungeachtet dieses Vorwurfs aber ist die Monadentheorie in den hier analysierten Teilen eben wegen ihrer systematischen Bindung an logische Betrachtungen keine naive Metaphysik mehr. Die Rekonstruktion des Substanzbegriffs allein mit logischen, d. h. begrifflichen, Hilfsmitteln, das Kernstck dieser Theorie, bedeutet mehr als nur die Fortsetzung traditionellen metaphysischen Denkens mit vernderten Mitteln. Derartige Bemhungen lassen vielmehr erkennen, daß die bisher beanspruchte methodische Prioritt metaphysischen Denkens fallengelassen ist und theoretische Philosophie nicht mehr so ohne weiteres mit Metaphysik bzw. deren Disziplinen wie Kosmologie und (rationaler) Psychologie identisch ist. Gerade was das Problem der begrifflichen Konstruktion von Gegenstnden betrifft, ist es von Leibniz zu Kant nur noch ein kleiner Schritt. In gewissem Sinne erweist sich Leibniz dabei in der Wahl seiner Hilfsmittel Kant sogar als berlegen. Die Schwierigkeiten, die sich Kants Bemhungen im Rahmen der „Kritik der reinen Vernunft“ in den Weg legen, ohne daß sie als solche von Kant schon bemerkt worden sind, bestehen in dem Versuch, ohne sprachlogische Konstruktionen, allgemeiner: ohne das Mittel der Sprachkritik, theoretische Philosophie als Kritik (nmlich als kritische Theorie ber den Aufbau des Wissens noch vor aller Wissenschaft im engeren Sinne) zu begrnden. An dieser Stelle weisen Leibnizens logische Betrachtungen, in exemplarischer Form: seine Konstruktion ,individueller Begriffe als vollstndiger Begriffe, in eine zumindest methodisch besser berschaubare Richtung. Die Behauptung wiederum, daß „la mtaphysique de Leibniz repose uniquement sur les principes de sa Logique, et en procde tout entire“51, muß deswegen noch nicht gerechtfertigt sein. Hier gengt vielmehr der Hinweis, daß es (a) schwerfallen drfte, einen logikfreien Zugang zur Monadentheorie zu finden, und (b) im Kopfe eines Logikers vom Range Leibnizens wohl auch Metaphysik vorkommen kann, jedoch sicher nicht ohne jeden Zusammenhang mit logischen Konstruktionen.52 51 L. Couturat, La logique de Leibniz, Paris 1901, X. 52 Der hinsichtlich des Zusammenhangs von Logik und Metaphysik zu Couturats Auffassung kontrren, von K. Fischer und W. Kabitz vertretenen These, „daß Leibniz Logik auf metaphysischen Voraussetzungen beruht und von Metaphysik durchzogen ist“ (W. Kabitz, Die Philosophie des jungen Leibniz. Untersuchungen

2.5 Logischer Atomismus

55

Daß dies mehr als eine bloße Vermutung ist, haben die vorausgegangenen Interpretationsbemhungen gezeigt.

2.5 Logischer Atomismus Geht man ber Leibnizens Rekonstruktion des Substanzbegriffes und die Formulierung des Perzeptionensatzes hinaus und sieht auf den systematischen Gebrauch, der von diesen Bemhungen gemacht wird, so lßt sich nicht bersehen, daß der Versuch, Logik zum Vehikel einer neuen Metaphysik zu machen, schließlich doch den Verlockungen der herkçmmlichen Metaphysik verfllt. Und dies nicht etwa nur, weil Behauptungen fallen, deren Rekonstruktion aller Voraussicht nach auf unkritische ltere Denkgewohnheiten zurckfhren wrde (Beispiel: „der letzte Grund der Dinge liegt in einer notwendigen Substanz“53), sondern weil die Monadentheorie (auch nach Einfhrung einer Theorie vollstndiger Begriffe) der Intention nach im Grunde das physikalische Thema, die Bestimmung elementarer materieller Teile, variiert. Leibniz sucht nach einer Alterna-

zur Entwicklungsgeschichte seines Systems, Heidelberg 1909, 38), liegt zudem ein naiver Metaphysikbegriff zu Grunde. Metaphysik im klassischen Sinne wird wie selbstverstndlich als eine methodisch fundierende Disziplin betrachtet, biographische Zusammenhnge (der nicht zu leugnende Umstand, daß Leibniz, z. B. mit seinem physikalischen Atomismus, innerhalb einer metaphysischen Tradition beginnt) werden als systematisch bedeutungsvolle und begrndbare Zusammenhnge mißverstanden. Hinzu kommt die Absicht, Leibnizens Universalitt auf einen verbindenden Ursprung zurckzufhren; als ein solcher Ursprung aber bietet sich nicht zufllig ein metaphysisches Interesse an, das diffus genug ist, um etwa auch die Beschftigung mit Vertretern der Mystik (z. B. J. Tauler, S. Franck, V. Weigel, J. Bçhme und Fnelon) erlutern zu kçnnen (vgl. hierzu die detaillierte Darstellung bei D. Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, Jahrbuch fr Philosophie und phnomenologische Forschung 7 [1925], 409 ff.). Diese Universalitt aber, wenn sie, abgesehen von ihrer Motivation durch eine ungewçhnliche intellektuelle Neugierde, mehr ist als ein erstaunliches Nebeneinander disparater Interessen und Einsichten, hat keinen singularen Ursprung; sie wchst erst langsam aus einer enzyklopdischen Vielfalt, zu der auch ein biographisch frhes Interesse an traditionellen metaphysischen Problemen gehçrt, zusammen. Logische Studien mçgen dabei – wie gleich deutlich werden wird – eine wichtige Stelle im ,System einnehmen, der metaphysische Charakter dieses Systems bedeutet dennoch keine Abhngigkeit der logischen Grundbegriffe von Begriffen einer metaphysischen Tradition. 53 Les principes de la philosophie § 38, Robinet, 93 (= Philos. Schr. VI, 613).

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2. Monade und Begriff

tive zum physikalischen Atomismus, das Ergebnis ist ein logischer Atomismus. Die entschiedene These dieses hinsichtlich seiner Konstruktionsmittel vernderten Atomismus besteht nach wie vor in der Annahme, daß es unzerlegbare Einheiten gibt. Die bekanntlich von Russell vertretene, Wittgenstein im Hinblick auf den „Tractatus“ zugeschriebene Theorie des logischen Atomismus charakterisiert auch die systematische Position von Leibniz, und zwar eben nicht nur seine ,vorkritische atomistische Position, sondern auch seine kritische logizistische Position. Die Welt besteht im Rahmen dieser Theorie aus einfachen Gegenstnden, die durch einfache (nicht mehr analysierbare) Namen vertreten werden. Hinzu kommen, vertreten durch Prdikatoren, einzelne Relationen, welche die Eigenschaften der benannten einfachen Dinge darstellen. Das Ganze luft auf eine simple Abbildtheorie hinaus, die das realistische Mißverstndnis einer eineindeutigen Zuordnung sprachlicher Ausdrcke zu den Gegenstnden, ihren Eigenschaften und Beziehungen weitertrgt. Wieweit eine solche Abbildtheorie auch aus den erkenntnistheoretischen Erwgungen Leibnizens spricht, mag hier dahingestellt bleiben. Entscheidend hinsichtlich der Frage, ob Leibniz auch spter noch an einem (wenngleich auch nicht mehr physikalischen) atomistischen Konzept festgehalten hat, ist weniger seine Stellung zur Realismus-NominalismusAlternative als vielmehr seine Auffassung des Zusammenhanges von Analyse und Synthese. Die wiederholt vertretene Meinung, daß es einfache Substanzen (substances simples) geben muß, weil es zusammengesetzte Substanzen (substances composes) gibt54, es ohne einfache Dinge (estres simples) keine zusammengesetzten Dinge (estres composs) gebe55, ist nicht nur eine kosmologische (als solche interpretationsbedrftige) Behauptung, sondern in erster Linie eine Behauptung ber die methodische Prioritt synthetischer bzw. konstruktiver Verfahren. Diese Behauptung steckt natrlich auch in dem bereits angefhrten Satz aus dem „Systme nouveau“, wonach es ohne wahre Einheiten keine Vielfalt gibt. Was durch den Hinweis auf begriffliche Einheiten erlutert wurde, die der unterscheidenden Bestimmung der Gegenstnde dienen, stellt darber hinaus eine Entscheidung ber die systematische Reihenfolge analytischer und synthetischer (konstruktiver) Verfahren dar. Fr Leibniz wie fr den logischen Atomismus im allgemeinen gilt es als aus54 Vgl. Les principes de la philosophie § 2, Robinet, 69 (= Philos. Schr. VI, 607). 55 Vgl. Brief aus dem Jahre 1702 an P. Bayle, Philos. Schr. III, 69; dazu ein nicht abgesandtes Schreiben an N. Remond aus dem Jahre 1714, Philos. Schr. III, 622.

2.5 Logischer Atomismus

57

gemacht, daß Analyse in jedem Falle Synthese schon voraussetzt, und daß eine Synthese, eine begriffliche Konstruktion, ihrerseits mit unzerlegbaren Einheiten beginnen muß. Daher auch das hartnckige Festhalten am Programm eines (elementaren) ,Alphabets der Gedanken. Wo solche unzerlegbaren, elementaren Einheiten nicht angegeben werden kçnnen, ist – so lautet diese atomistische These – weder Synthese noch Analyse mçglich. Die Suche nach unzerlegbaren Einheiten, der konstruktive Anfang bei elementaren Bausteinen, die auch im Verlauf von Synthese und Analyse elementare Bausteine bleiben, wird zu einer Aufgabe, von deren Lçsung die methodische Sicherheit der gesamten theoretischen Philosophie abzuhngen scheint. Daß hier eine zu starke Bedingung formuliert ist, weiß im Grunde schon Platon. Im „Kratylos“ wird explizit die Mçglichkeit eines Rckganges auf gewisse Basisprdikatoren diskutiert, die der Definition komplexer Prdikatoren dienen sollen. Ergebnis dieser Diskussion, die im Zusammenhang steht mit der Frage nach der ,Richtigkeit der Namen (eingefhrt durch die Wahrheit der zugehçrigen Elementarstze), ist jedoch nicht die Behauptung, daß sich solche Basisprdikatoren ein fr allemal angeben ließen und diese dann tatschlich die ,ersten unzerlegbaren Einheiten wren, sondern nur, daß die Analyse von ,Namen stets mit irgendwelchen Einheiten beginnen msse. Ob diese Einheiten ihrerseits weiter zerlegbar sind, ist eine Frage, die fr den Anfang ohne Bedeutung ist.56 Die Beschrnkung, die sich Platon faktisch auferlegt (explizite Angaben ber methodische Grenzen des Verfahrens finden sich an dieser Stelle nicht), kommt damit in der begrndeten Annahme zum Ausdruck, daß sich fr bestimmte Zwecke Einheiten hypothetisch konstruieren lassen. Im logischen Atomismus wird diese Beschrnkung aus methodisch in keiner Weise einsichtigen Grnden aufgehoben; an die Stelle der Platonischen Annahme tritt die Behauptung: ,es gibt (eindeutig und endgltig) unzerlegbare Einheiten. Der Grund, warum Leibniz diese Behauptung ausdrcklich bernimmt, ist typisch fr den Antagonismus von kritischer und spekulativer Vernunft, der das Denken der beginnenden Neuzeit bestimmt: Ohne sie ist die These von der eindeutig bestimmten Welt nicht mçglich. Und an dieser These haben weder Leibniz noch die neuzeitlichen Verfechter eines so genannten mechanistischen Weltbildes gezweifelt. Sie ist das physicotheologische Motiv, das in nahezu allen kosmologischen Erwgungen jener 56 Vgl. K. Lorenz/J. Mittelstraß, On Rational Philosophy of Language: The Programme in Platos Cratylus Reconsidered, Mind 76 (1967), 1 – 20.

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2. Monade und Begriff

Zeit zu finden ist, ein Stck Metaphysik im klassischen Sinne, das sich das neuzeitliche Denken vor Kant noch einmal in spekulativer Fortfhrung seiner kritischen Absichten leistet. Der Begriff der prstabilierten Harmonie ist in diesem Zusammenhang nur die anspruchvollste Formulierung dieser These. Sie zu begrnden, ist hingegen auch Leibniz nicht gelungen. Seine Ersetzung des physikalischen durch einen logischen Atomismus bringt systematisch gesehen nicht die gewnschte Entlastung des kosmologischen Arguments. Das Ergebnis ist auch hier ein spekulatives Gebilde: der knstlich-vergebliche Entwurf einer Welt der Philosophen.

3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit* Die Idee einer architektonischen wie inhaltlichen Einheit des Wissens ist so alt wie das Wissen selbst. Bei Leibniz findet sie in der Konstruktion einer Wissenschaftssprache bzw. eines Formalismus zur Bildung und Darstellung des Wissens, desgleichen in einer Logik des Kontingenten, d. h. in der Wahrscheinlichkeitslogik, ihre erste Realisierung. Damit rckt auch die Idee der Einheit der Welt, im metaphysischen Sinne, nher.

3.1 Die Idee einer Universalwissenschaft Der alte philosophische Traum einer wiedergefundenen Einheit in der Mannigfaltigkeit auseinanderstrebender Erfahrungs- und Vorstellungsbestnde hat viele Gesichter. Neben den Ideen des Systems und der Enzyklopdie ist es im 17. und 18. Jahrhundert vor allem die Idee einer Universalwissenschaft, die diesem Traum zu neuer philosophischer Kraft verhilft. Mit der Idee des Systems teilt die Idee einer Universalwissenschaft die Vorstellung einer Architektonik des Wissens, mit der Idee der Enzyklopdie die Vorstellung seiner vollstndigen Erfassung. Im Vordergrund steht der systematische Gedanke. Ziel einer Universalwissenschaft ist es zunchst, die formalen oder, erkenntnistheoretisch formuliert, die a priori begrndbaren Wissenschaften in einem einheitlichen Aufbau zusammenzuschließen. Historisch geschieht dies entweder in der Weise, daß man mçglichst viele Wissenschaften auf eine apriorische Basis zu stellen sucht, oder so, daß man sich von vornherein auf die formalen Wissenschaften beschrnkt. So ordnet z. B. Johann Heinrich Lambert neben Arithmetik, Geometrie, Chronometrie und Logik auch Kosmologie, Phoronomie und Ontologie den apriorischen Wissenschaften zu1; Kant hlt das Gravitationsgesetz fr * 1

Gemeinsam mit Peter Schroeder-Heister. Vgl. J. H. Lambert, Neues Organon oder Gedanken ber die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und Schein, I – II, Leipzig 1764; ders., ber die Methode die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen, ed. K. Bopp, Berlin 1918. Zu Lamberts Wissen-

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

apriorisch herleitbar. Umgekehrt fhrt eine Beschrnkung auf formale Wissenschaften zur Unterscheidung zwischen dem (allgemeinen) Programm einer Universalwissenschaft (scientia universalis oder scientia generalis) und dem eingeschrnkten Programm einer mathesis universalis, d. h. dem Versuch, die Struktur formaler Wissenschaften in mechanisch bzw. kalklmßig kontrollierbaren Abhngigkeitsbeziehungen darzustellen und damit die Begrndung wissenschaftlicher Stze auf die Basis einer einheitlichen exakten Wissenschaftssprache zu stellen. Der Sprachgebrauch von ,mathesis universalis ist im 17. und 18. Jahrhundert nicht einheitlich. Das liegt bereits am uneinheitlichen Sprachgebrauch von ,mathesis. So unterscheiden philosophische Lexika eine allgemeine Bedeutung von ,mathesis, die alle Wissenschaften umfaßt, und eine spezielle Bedeutung, die den mathematischen Gebrauch betrifft: „dicitur scientia mathematica, quae explicat demonstrationes, principia et proprietates magnitudinum et numerorum.“2 Unklarheiten kommen vor allem dadurch zustande, daß oft der speziellere mathematische Gebrauch des Ausdrucks ,mathesis – zumal in der Bedeutung von ,mathesis universalis – auf alle Wissenschaften, also auch auf die nicht-formalen Wissenschaften, bertragen wird. Zu denjenigen, die zwischen der Idee einer Universalwissenschaft, die alle Wissenschaften umfassen soll, und einer mathesis universalis, aufgefaßt als eine allgemeine Theorie der Grçßen und Grçßenverhltnisse, zu unterscheiden suchen, gehçrt Ren Descartes. In seiner Einleitung zu Regula IV schreibt Descartes, daß zu dieser mathesis all das zu rechnen sei, „wobei nach Ordnung und Maß geforscht wird, und daß es hierbei gar nicht darauf ankommt, ob man dieses Maß nun in den Zahlen oder in den Figuren oder den Gestirnen oder den Tçnen oder in irgend einem anderen Gegenstande zu suchen hat, so daß es also eine bestimmte allgemeine Wissenschaft geben muß, die all das erklren wird, was der Ordnung und dem Maße unterworfen, ohne Anwendung auf eine besondere Materie, als Problem auftreten kann. Diese kann man, nicht durch ein fremdes, sondern durch ein altes und in allgemeinen Gebrauch bergegangenes Wort, als Universalmathematik bezeichnen, weil in ihr der Grund dafr enthalten ist,

2

schaftstheorie vgl. G. Wolters, Basis und Deduktion. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Theorie der axiomatischen Methode bei J. H. Lambert (1728 – 1777), Berlin/New York 1980. J. Micraelius, Lexicon philosophicum, Stettin 21662, 722 f.; vgl. P. Ramus, Scholarum mathematicarum libri XXXI, Frankfurt 1627, ferner Chr. Wolff, Mathematisches Lexicon, Leipzig 1716, 863 ff. (Artikel: Mathematica seu Mathesis, die Mathematick).

3.1 Die Idee einer Universalwissenschaft

61

weswegen man auch die brigen Wissenschaften als mathematische Lehren bezeichnet.“3 Unter den brigen Wissenschaften versteht Descartes, in bereinstimmung mit dem Mathematikbegriff seiner Zeit, neben Arithmetik und Geometrie auch Astronomie, Musik (rationale Harmonienlehre), Optik und Mechanik4, also alle mathematischen Wissenschaften, die auch als formale oder apriorisch begrndete Wissenschaften angesehen werden kçnnen. Mathesis universalis wiederum bedeutet nicht die inhaltliche Einheit in einem System der Wissenschaften, sondern ihre methodische Einheit in einer Theorie der Grçßen und Grçßenverhltnisse. Zur Erluterung dieser Idee einer mathesis universalis erinnert Descartes an die Analysis der ,alten Geometer und an die (elementare) Algebra5, die sich in Form rein schematischer Rechenoperationen mit Buchstaben als Zahlenvariablen seit Franciscus Vieta als so genannte algebra speciosa auszubilden beginnt. Nach Descartes ist es die Aufgabe dieser mit der Umformung und Lçsung elementarer Gleichungen befaßten Algebra, „das von den Zahlen darzulegen, was die Alten von den Figuren bewiesen“6. Descartes orientiert sich also an der geometrischen Analysis, die ursprnglich eine Analysis von Figuren war und hierin in ihrer griechischen Konzeption ein heuristisches Verfahren an geometrischen Figuren darstellt.7 Die bliche propositionale Auffassung der Analysis, an die 3

4 5 6 7

R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii. Regula IV, Oeuvres, I–XII, ed. C. Adam/P. Tannery, Paris 1897 – 1910, nouvelle prsentation, I–XI, Paris 1964 – 1974, X, 378 (dt. von A. Buchenau, Hamburg 21920 [Philosophische Bibliothek 26b], 21); vgl. Discours de la mthode III, Oeuvres VI, 17. Zur Einordnung der Cartesischen Bemhungen in die zeitgençssischen Methodenberlegungen H. W. Arndt, Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalklbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New York 1971, 29 ff.. Vgl. Regula IV, Oeuvres X, 377. Regula IV, Oeuvres X, 373. Ebd. Vgl. J. Hintikka/U. Remes, The Method of Analysis. Its Geometrical Origin and Its General Significance, Dordrecht/Boston 1974, 31 ff.; ferner M. S. Mahoney, Another Look at Greek Geometrical Analysis, Archive for History of Exact Sciences 5 (1968/1969), 318 – 348; G. Buchdahl, Metaphysics and the Philosophy of Science. The Classical Origins. Descartes to Kant, Oxford 1969, 126 ff.. Die der modernen Rekonstruktion zugrundeliegende erste explizite Analyse der komplementren Methoden von Analysis und Synthesis bei Pappos von Alexandreia, Collectionis quae supersunt e libris manu scriptis, I–III, ed. F. Hultsch, Berlin 1876 – 1878, II, 634 ff.. Nach dieser Analyse wird im analytischen Teil einer Konstruktionsaufgabe, der strukturell dem natrlichen Schließen entspricht, der zu konstruierende Sachverhalt figrlich vorgelegt. In diese Figur werden die ex-

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Descartes mit seiner Regula V erinnert, geht (im Anschluß an die Wissenschaftstheorie der Aristotelischen „Zweiten Analytiken“) dann als Verallgemeinerung oder logisches Abstrakt aus dieser Analysis von Figuren hervor. Es werden nunmehr, in einer erweiternden Reflexion auf das ursprngliche Verfahren, auch solche Satzzusammenhnge betrachtet, die nicht geometrisch-konstruktiver Art sind. Im Sinne einer derartigen Erweiterung hat Descartes nun nicht so sehr eine Theorie der formalen Wissenschaften ausgearbeitet, als vielmehr versucht, den argumentativen Aufbau in den „Meditationes“ nachtrglich dem Verfahren einer mathesis universalis einzuordnen.8 Die ,Analysis der Alten und die ,Algebra der Modernen fhrt damit Descartes (1) auf das (allgemeine) Projekt einer mathesis universalis, als deren mathematische Ausarbeitung die analytische Geometrie aufgefaßt werden kann. Darber hinaus betrachtet Descartes eine derartige mathesis universalis (2) als das Organ einer zuknftigen Universalwissenschaft, deren Regeln (3) in Form einer allgemeinen philosophischen Methodenlehre, wie sie der „Discours“ enthlt, entworfen werden. Die Analysen in den „Meditationes“ werden schließlich (4) sowohl als Exempel eines analytischen Verfahrens im engeren, nmlich geometrischen Sinne, als auch als Exempel einer allgemeinen Methodenlehre aufgefaßt. Descartes Idee einer mathesis universalis umfaßt damit nicht nur Geometrie und ,geometrische Universalwissenschaft, sondern auch allgemeine Methodenlehre und ,geometrische Metaphysik. Was fehlt bzw.

8

pliziten Voraussetzungen sowie relevante, bereits konstruktiv ausgewiesene Linien eingezeichnet. Die eigentliche Analysis besteht dann im Auffinden geeigneter Hilfskonstruktionen, die ebenfalls in die Figur eingezeichnet werden. Sie gilt als abgeschlossen, wenn diejenigen Hilfskonstruktionen herausgefunden sind, die es erlauben, die gesuchte Konstruktion nunmehr aus den gegebenen expliziten Voraussetzungen unter Verwendung zulssiger Verfahren auszufhren. Diese Konstruktion stellt den synthetischen Teil des Beweises dar, der durch den analytischen Teil erst ermçglicht wird. Pappos bezeichnet dabei sowohl die erluterte Verwendung der Analysis allein als auch ihre Verwendung einschließlich der Synthesis als ,Analysis. Zur Begriffsgeschichte von Analysis in diesem Methodenzusammenhang vgl. J. Mittelstraß/G. Wolters, Artikel: Methode, analytische, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Mannheim/Wien/Zrich 1984, Stuttgart/Weimar 1995, 879 – 881. Vgl. Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 156 f.. Zur Analyse und Beurteilung dieser Erweiterung vgl. J. Mittelstraß, Die Idee einer Mathesis universalis bei Descartes, Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 4 (1978, Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach I. Das Experiment der Vernunft, ed. R. Berlinger/F. Kambartel), 177 – 192.

3.2 Das Leibnizprogramm

63

auf den geometrischen Fall beschrnkt bleibt, ist eine Mathematisierung bzw. Logisierung der Methodenkonzeption, die den konstruktiven oder operativen Charakter dieser Konzeption deutlich zum Ausdruck gebracht htte. Auf eben diesen Charakter zielt ihrer Idee nach die mathesis-universalis-Konzeption im 17. und 18. Jahrhundert. Wie im geometrischkonstruktiven Falle der Analysis soll die Wissensbildung als das Resultat eines konstruktiven Handelns bzw. als eines Operierens nach festen Regeln aufgefaßt werden (z. B. in der Weise der Addition von Zahlen oder der Differentiation von Funktionen). Im operativen Paradigma der Wissensbildung, wie es auch Descartes mit seinem Hinweis auf die ,Analysis der Alten vor Augen steht, wird Wissen nicht ,aufgesucht oder ,entdeckt (als etwas, das seinen Grund unabhngig von Verfahren seiner Erfassung hat), sondern ,hergestellt – zwar nicht im Sinne reiner ,Erfindung, aber doch so, daß Verfahren der Wissensbildung als konstitutiv fr die Form des Wissens und fr die ,epistemische Form der Gegenstnde des Wissens gelten kçnnen. Ihren prgnantesten Ausdruck findet diese Idee der Wissensbildung im 17. und 18. Jahrhundert bei Leibniz. Leibniz realisiert sie im konzeptionellen Rahmen einer mathesis universalis im weiteren Sinne: Er konzentriert sich zwar, insbesondere in seiner Kalkltheorie, auf deduktive Logik und Mathematik, schließt aber in seinen wahrscheinlichkeitstheoretischen berlegungen die empirische Wissensbildung zumindest programmatisch mit ein. Leibnizens Bemhungen, die sich in dieser Weise von allen anderen zeitgençssischen Konzeptionen einer mathesis universalis abheben, erweisen sich damit nicht nur als bedeutende Vorstufen der modernen deduktiven Logik, sondern auch der Wissenschaftstheorie empirischer Wissenschaften, speziell der Theorie der Besttigung von Hypothesen. Die folgenden Analysen dienen (a) der Darstellung der Leibnizschen Konzeption und (b) der Darstellung ihrer Realisierungsformen am Beispiel eines arithmetischen Logikkalkls und wahrscheinlichkeitstheoretischer Konstruktionen.

3.2 Das Leibnizprogramm In Unterschied zu Descartes, bei dem zwar auch schon die Idee einer einheitlichen Wissenschaftssprache (langue universelle) auftritt9, sprachliche Verhltnisse im Aufbau des Wissens aber im Grunde etwas Abge9

Vgl. Brief vom 20. November 1629 an M. Mersenne, Oeuvres I, 81.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

leitetes bleiben, sucht Leibniz eine fundamentale Reorganisation des Wissens unmittelbar von einer Reorganisation der Wissenschaftssprache abhngig zu machen. Kernstck dieses Programms ist die Konstruktion einer Kunstsprache (characteristica universalis), die auf der Basis einer Zeichentheorie (ars characteristica, ars symbolica) zur Darstellung von Sachverhalten und deren Beziehungen untereinander sowohl logische Schluß- und Entscheidungsverfahren (ars iudicandi) als auch inhaltliche Begriffsbestimmungen auf der Basis einer Definitionstheorie (ars inveniendi, ars combinatoria) einschließen und inhaltlichen Schlußweisen die formale Sicherheit des Rechnens verleihen soll. In der Verbindung sprachlicher Konstruktionen mit mathematischen und logischen Verfahren ist es das Ziel einer derartigen Kunstsprache, der philosophischen und wissenschaftlichen Analyse ein exaktes Organ zur Verfgung zu stellen. Leibniz knpft dabei an Vorstellungen des Renaissance-Lullismus an, die sich nicht nur aus der Kombinatorik des Raimundus Lullus, sondern auch aus alchemistischen und kabbalistischen Quellen speisen, insgesamt gesehen aber charakteristisch fr die Idee einer Universalwissenschaft sind, wie sie im 17. Jahrhundert unter der Idee einer universalen Organisation des Wissens neben die Ideen des Systems und der Enzyklopdie tritt. Paradigma ist die ars magna Lulls10, das Projekt einer christlichen Universalwissenschaft in Form einer (auf der Aristotelischen Syllogistik basierenden) Kombinatorik. Als heuristisches Hilfsmittel dient im Rahmen dieses Projekts eine mechanische Vorrichtung, die aus einem gegeneinander verstellbaren System konzentrisch angeordneter Kreisscheiben unterschiedlicher Grçße besteht, wobei durch das Drehen der Scheiben kombinatorische Verknpfungen der auf den Scheibenrndern angeordneten Begriffssymbole (fr Grundeigenschaften bestimmter Gegenstandsbereiche) erfolgen. Leibniz nimmt diese Vorstellungen auf, wobei er allerdings (wie vor ihm schon Descartes und Beeckman11) erkennt, daß sie in ihrer bisherigen Form als ein Instrument der Forschung nicht taugen und auch eher Ausdruck einer Klassifikationslehre sind. Er bemngelt die 10 R. Lullus, Ars compendiosa invendiendi veritatem seu Ars magna et maior (1273 – 1275), in: ders., Opera I, ed. I. Salzinger, Mainz 1721 (Nachdruck Frankfurt 1965), 433 – 473; vgl. R. Lullus, Ars generalis et ultima (1305), Venedig 1480 (unter dem Titel: Ars magna, generalis et ultima, Lyon 1517, Ars generalis ultima, Palma de Mallorca 1645; Nachdruck Frankfurt 1970). 11 Vgl. Brief Descartes vom 26. Mrz 1619 an I. Beeckman, Oeuvres X, 156 f.. Beeckman vermerkt am Rand: „Ars generalis ad omnes quaestiones solvendas quaesita“, Journal tenu par Isaac Beeckman de 1604 1634, I–IV, ed. C. de Waard, La Haye 1939 – 1953, 59.

3.2 Das Leibnizprogramm

65

Unbestimmtheit der in der Lullischen Kunst zugrundegelegten Begriffe (die letztlich dazu fhre, „von der Wahrheit zu reden, keineswegs aber sie zu entdecken“12) und zeigt sich auch ber entsprechende Bemhungen Athanasius Kirchers (Ars magna sciendi, Amsterdam 1669) enttuscht.13 Was Leibniz eben von Anfang an vorschwebt, ist keine bloße Klassifikationslehre (Lull), auch keine allgemeine philosophische Methodenlehre (Descartes), sondern ein Formalismus zur Bildung und Darstellung des Wissens, wobei der Aufbau der gesuchten Kunstsprache der Idee folgt, die Relation der Wçrter (Begriffe) dieser Sprache zu ihren Basisbegriffen in der gleichen Weise zu organisieren, wie sich die natrlichen Zahlen zu den Primzahlen verhalten; die eindeutige Rckfhrbarkeit aller Begriffe dieser Sprache auf gewisse Basisbegriffe soll der eindeutigen Primzahlzerlegung nachgebildet sein. Die Orientierung einer um universalsprachliche Elemente erweiterten mathesis universalis an der Mathematik spielt damit bei Leibniz nicht eine ,propagandistische, sondern eine konstitutive Rolle: „Wenn man Charaktere oder Zeichen finden kçnnte, die geeignet wren, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudrcken wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdrckt, kçnnte man offenbar bei allen Gegenstnden, soweit sie dem vernnftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut.“14 Fr eine derartige Vorstellung bietet der Lullismus allenfalls einen historischen Anknpfungspunkt, keine konzeptionelle Vorlage. Diese ist eher mit den Bemhungen von Hobbes gegeben, auf die Leibniz zustimmend verweist.15 Thomas Hobbes hatte bereits ausdrcklich, wenn auch wiederum nur programmatisch, sprachliche Operationen mit Verfahren rein formalen Rechnens in Verbindung gebracht. Die These, daß Vernunft nichts anderes als Rechnen sei16, wird dabei von Hobbes durch den Hinweis 12 C. 177. 13 Ergnzungen (nach 1695) zur „Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667)“, Akad.-Ausg. VI/1, 279 (Kircherus in Arte magna sciendi [quam vocat] longissime infra nostram spem subsedit). Vgl. die sorgfltige Dokumentation von W. Hbener, Leibniz und der Renaissance-Lullismus, in: A. Heinekamp (Ed.), Leibniz et la Renaissance, Wiesbaden 1983 (Studia Leibnitiana Supplementa XXIII), 103 – 112. 14 C. 155. 15 Dissertatio de arte combinatoria (1666), Akad.-Ausg. VI/1, 194. 16 Th. Hobbes, Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil I 5, The English Works of Thomas Hobbes, I–XI, ed. W. Molesworth, London 1839 – 1845, III, 30.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

zu erlutern versucht, daß derjenige, der die elementaren arithmetischen Operationen der Addition und Subtraktion beherrsche, auch in der Lage sein msse, sein Denken bzw. Sprechen in mechanisch kontrollierbare Operationen zu zerlegen.17 Unter Addition ist hier die Addition von Prdikationen, unter Subtraktion die Subtraktion von Prdikationen, beim Schließen das Weglassen von Bestimmungen in den Prmissen verstanden. Das Verfahren ist praktikabel und wrde, wenn ausgefhrt, einen einfachen Begriffskalkl ergeben.18 Mit der Orientierung an mathematischen Verfahren treten bei Leibniz natrlich auch, wie schon bei Descartes, die komplementren Methoden der Analysis und Synthesis in den Vordergrund.19 Dabei geht es vor allem um den Gesichtspunkt der ,Entdeckung, d. h. der Wissensbildung. Leibniz sucht der analytischen Methode die von ihm gesuchte ars inveniendi und der synthetischen Methode die von ihm gesuchte ars iudicandi zuzuordnen20, hebt an anderer Stelle aber auch den inventiven Charakter beider Methoden hervor: „Es gibt zwei Methoden, die synthetische mit Hilfe der kombinatorischen Wissenschaft und die analytische. Jede von beiden kann den Ursprung der inventio zeigen; das ist also nicht das Vorrecht der Analyse. Der Unterschied besteht darin, daß die Kombinatorik eine ganze Wissenschaft oder wenigstens die Reihe der Lehrstze und Probleme darstellt, darunter auch das, was gesucht wird. Die Analyse dagegen fhrt ein aufgestelltes Problem auf Einfacheres zurck.“21 Erneut wird dabei auf die Algebra verwiesen22, im Unterschied zu entsprechenden Charakteri17 Vgl. Th. Hobbes, De Corpore I (Computatio sive logica) 1, Opera philosophica latina, I–V, ed. W. Molesworth, London 1839 – 1845, I, 3; vgl. Leviathan I 5, Works III, 29 f.. 18 Zu den zeitgençssischen konzeptionellen Hintergrnden des Leibnizprogramms, darunter auch die Zeichensprachen von J. Wilkins und G. Dalgarno, vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 413 – 452. 19 „Die Methode zur Lçsung einer Aufgabe ist entweder synthetisch oder analytisch (…). Synthetisch oder kombinatorisch ist sie, wenn wir andere Aufgaben durchgehen und schließlich auf unsere kommen; und dahin gehçrt die Methode des Fortgangs von einfachen zu zusammengesetzten Aufgaben. Analytisch ist sie, wenn wir, ausgehend von unserer Aufgabe, so weit zurckgehen, bis wir zu den Bedingungen gelangen, die zu ihrer Lçsung ausreichen“ (Elementa nova matheseos universalis [um 1675], C. 350 f.). 20 Zur Terminologie vgl. R. Kauppi, ber die Leibnizsche Logik. Mit besonderer Bercksichtigung des Problems der Intension und der Extension, Helsinki 1960 (Acta Philosophia Fennica XII), 14 ff.. 21 C. 557. 22 Ebd.

3.2 Das Leibnizprogramm

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sierungen bei Descartes aber gleichzeitig der Gedanke einer Kalklisierung in den Vordergrund gerckt: die „Wahrheiten der Vernunft“ sollen „wie in der Arithmetik und Algebra so auch in jedem anderen Bereich, in dem geschlossen wird, gewissermaßen durch einen Kalkl erreicht werden kçnnen“23. Paradigma einer derartigen Kalklisierung ist der Infinitesimalkalkl, d. h. die erstmals 1684 erfolgte Einfhrung eines kalklmßigen Verfahrens zur Tangentenbestimmung und zur Behandlung von Integrationsproblemen.24 Was dabei im engeren mathematischen Sinne eine Kalklisierung infinitesimaler Darstellungen in einer Theorie der Differentiation und Integration reeller Funktionen ist, dient bei Leibniz, ebenso wie in der parallelen Entwicklung der Fluxionsrechnung bei Isaac Newton, der Bewltigung auch mechanischer Probleme: die Tangentenbestimmung ebener Kurven wird als die Bestimmung der Geschwindigkeit einer Bewegung interpretiert, wobei die Steigung der Tangente die Grçße der Geschwindigkeit angibt. Neu bei Leibniz ist, daß diese Tangentenbestimmung ebener Kurven, auf dem Wege ber die Entdeckung des so genannten charakteristischen Dreiecks, d. h. die Einsicht, daß sich die Eigenschaften einer Kurve durch die Verhltnisse der Seiten infinitesimaler Dreiecke darstellen lassen, deren Hypotenusen Tangenten an die Kurve sind, durch kalklmßige Verfahren erfolgt. Mit anderen Worten: Leibniz konnte – hnlich wie Descartes im Hinblick auf eine Arithmetisierung der Geometrie – in diesem Kalklisierungsprogramm die Realisierung eines Teils einer mathesis universalis, nunmehr konzipiert in Form einer characteristica universalis, sehen. Der Kalklbegriff, der in den mathesis-universalis-Konzeptionen bisher fehlte, wird von Leibniz wie folgt definiert: „Ein Kalkl oder eine Operation besteht in der Herstellung von Beziehungen, welche durch Umwandlung von Formeln bewerkstelligt wird, wobei die Umwandlungen entsprechend gewiß vorgeschriebenen Gesetzen vollzogen werden.“25 Die fr den Kalklbegriff konstitutiven Teilbegriffe der Grundfigur und Grundregel, die die Herstellung besonderer Systeme von Figuren erlauben, sind hier przise gebildet; die Elemente des Kalkls, aus denen die 23 Teil eines nicht abgesandten Briefes an C. Rçdeken aus dem Jahre 1708, Philos. Schr. VII, 32. 24 Nova methodus pro maximis et minimis (…), Acta Eruditorum 3 (1684), 467 – 473 (Math. Schr. V, 220 – 226). Integrale werden zwei Jahre spter eingefhrt: De geometria recondita et analysi indivisibilium atque infinitorum, Acta Eruditorum 5 (1686), 292 – 300 (Math. Schr. V, 226 – 233). 25 Philos. Schr. VII, 206.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Figuren zusammengesetzt werden, stellen ein ,Alphabet des Denkens (alphabetum cogitationum humanarum)26 dar, als das nun die gesuchte Universalsprache (characteristica universalis) bezeichnet wird. Die dieser Sprache zugrundeliegende Zeichentheorie wird in folgender Definition erfaßt: „Die Zeichenkunst (ars characteristica) ist die Kunst, Zeichen derart zu bilden und zu ordnen, daß sie die Gedanken darstellen bzw. daß sie untereinander jene Beziehung haben, welche die Gedanken ihrerseits untereinander haben. Ein Ausdruck ist eine Ansammlung von Zeichen, welche die Sache, die ausgedrckt wird, vergegenwrtigen. Das Gesetz der Ausdrcke ist folgendes: daß ein Ausdruck fr eine Sache aus den Zeichen fr jene Sachen zusammengesetzt werde, aus deren Ideen die Idee der Sache, die ausgedrckt werden soll, zusammengesetzt wird.“27 Entsprechend der bereits hervorgehobenen und anhand der Darstellung eines arithmetischen Logikkalkls im nchsten Abschnitt nher explizierten Orientierung des Aufbaus von Begriffen am Aufbau der echt teilbaren natrlichen Zahlen aus Primzahlen sollen die Grundzeichen dieser Sprache in ihrer Zusammensetzung dem Aufbau der aus Elementarbegriffen zusammengesetzten Begriffe vçllig isomorph sein. Als ,charakteristisch kann dabei die zu bildende Sprache gelten, weil (a) ihre Wçrter aus endlich vielen Zeichen (Charakteren) nach bestimmten Kombinationsregeln hergestellt werden und (b) jedes Zeichen den von ihm bezeichneten Begriff eindeutig, und zwar einschließlich dessen Beziehungen zu anderen Begriffen, ,charakterisiert.28 In diesem Sinne treten in der Leibnizschen Ausarbeitung einer mathesis-universalis-Konzeption neben den Infinitesimalkalkl verschiedene Logikkalkle als Anwendungen einer characteristica universalis. Im einzelnen handelt es sich dabei (1) um einen arithmetischen Logikkalkl (in mehreren Fassungen29), (2) um Entwrfe zu einem algebraischen Logikkalkl30 und (3) um zwei Er-

26 De organo sive arte magna cogitandi, C. 430, vgl. 220, 435, ferner Philos. Schr. VII, 185, 199. 27 Die Leibniz-Handschriften der Kçniglichen ffentlichen Bibliothek zu Hannover, ed. E. Bodemann, Hannover 1889 – 1895, 80 f.. 28 Vgl. Chr. Thiel, Artikel: Leibnizsche Charakteristik, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II (vgl. Anm. 7), 580 f., IV, Stuttgart/Weimar 22010, 523 f.. 29 C. 42 – 92, 245 – 247; darunter (alle 1679): Elementa characteristicae universalis (C. 42 – 49), Elementa calculi (C. 49 – 57). 30 Specimen calculi universalis (1681), Philos. Schr. VII, 218 – 221; Ad specimen calculi universalis addenda (1681), Philos. Schr. VII, 221 – 227; C. 239 – 243.

3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl

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weiterungen des algebraischen Logikkalkls, in denen der bergang von einer (intensionalen) Begriffslogik zu einer Klassenlogik erfolgt.31 Im Folgenden sei als Beispiel der arithmetische Logikkalkl nher erlutert. Dieser Kalkl steht dem Programm einer characteristica universalis insofern am nchsten, als in ihn explizit die Vorstellung der Zusammensetzung von Begriffen aus elementaren Teilbegriffen und deren formaler Reprsentation, zumindest als heuristische Idee, eingeht. Ferner schließt sich der arithmetische Kalkl mit seiner Interpretation von Begriffen durch Zahlen unmittelbar an die Vorstellung vom Schließen als Rechnen an.32 Allerdings muß man sich in diesem Zusammenhang die erweiterte Bedeutung des Kalklbegriffs – verglichen mit der modernen Auffassung – vergegenwrtigen: Wenn man von einem arithmetischen Kalkl spricht, meint man einfach ein arithmetisches Prfverfahren fr deduktive Beziehungen. Dagegen lßt sich etwa der algebraische Kalkl als Formalismus im engeren Sinne verstehen, der die formale Herleitung von Aussagen aus Anfangsaussagen mit Hilfe von Regeln erlaubt.

3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl Es ist die Idee einer Universalsprache, Begriffe so durch Zeichen zu charakterisieren, daß einfachen Begriffen umkehrbar eindeutig einfache Zeichen entsprechen und der Zusammensetzung von komplexen Begriffen aus einfachen Begriffen die Zusammensetzung von komplexen Zeichen aus einfachen Zeichen entspricht.33 Das setzt voraus, daß sich komplexe Begriffe eindeutig in Elementarbegriffe als Bestandteile zerlegen lassen34,

31 Non inelegans specimen demonstrandi in abstractis (um 1690), Philos. Schr. VII, 228 – 235; C. 250 – 252, 264 – 270 (der so genannte ,Plus-Minus-Kalkl); ferner der so genannte ,Plus-Kalkl, Philos. Schr. VII, 236 – 247. 32 Vgl. dazu C. 85 (G. W. Leibniz. Fragmente zur Logik, ed. F. Schmidt, Berlin 1960 [im Folgenden zitiert als Fragmente zur Logik], 228); ferner J. Łukasiewicz, Aristotles Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, Oxford 21957, 129. 33 Vgl. Anm. 27 (Zitat im Text). 34 Diese Elementarbegriffe mssen nicht in einem absoluten Sinne einfach sein (obwohl dies natrlich das Ideal einer characteristica universalis ist); fr den diskutierten Zusammenhang gengt die Vorstellung relativ einfacher Begriffe (H. Poser, Erfahrung und Essenz. Zur Stellung der kontingenten Wahrheiten in Leibniz Ars characteristica, in: A. Heinekamp/F. Schupp [Eds.], Die intensionale Logik bei Leibniz und in der Gegenwart. Symposium der Leibniz-Gesellschaft

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

entsprechend komplexe Zeichen in einfache Zeichen. Im Bereich der Arithmetik der natrlichen Zahlen liegt mit der Primzahlzerlegung ein schçnes Analogon fr diese Situation vor: Jede natrliche Zahl lßt sich eindeutig in ihre Primfaktoren zerlegen – eine Tatsache, die man seit K. Gçdel in der modernen mathematischen Logik benutzt, um die Zeichen einer formalen Sprache selbst wieder zu kodieren. Daher wundert es nicht, daß Leibniz anstelle einer formalen Zeichensprache im eigentlichen Sinne immer wieder die Charakterisierung von Begriffen durch inhaltliche Zahlen (nicht Ziffern!) ins Auge faßt: Der Zusammensetzung und Zerlegung von Zeichen entspricht eben in gewisser Weise die Multiplikation und Division von Zahlen. Ferner erspart man sich bei dieser Vorgehensweise die Abstraktion von unwesentlichen Eigenschaften der charakterisierenden Zeichen – etwa der Reihenfolge der Teilzeichen eines Zeichens, die die Merkmale eines Begriffs charakterisieren. In diesem Zusammenhang muß auf eine Ambiguitt der Rede von ,Zusammensetzung (entsprechend ,Zerlegung) hingewiesen werden. Wenn man von der ,Zusammensetzung eines Zeichens aus Teilzeichen spricht, meint man dabei in der Regel die Verkettung (Konkatenation, d. h. die Aneinanderfgung der Teilzeichen); die Teilzeichen sind damit Bestandteile (im graphischen Sinne) des komplexen Zeichens. Die ,Zusammensetzung einer natrlichen Zahl aus Primfaktoren hingegen ist, selbst wenn man Zahlen weitgehend mit Ziffern identifiziert, keine Aneinanderreihung, sondern das Resultat der Anwendung einer Funktion, nmlich der Multiplikation, auf die Primfaktoren; die Primfaktoren ,verschwinden damit in der zusammengesetzten Zahl (auch wenn sie sich nachtrglich wieder aus ihr gewinnen lassen). Dies scheint der Situation auf der Ebene der Begriffe eher zu entsprechen als die Zusammensetzung von Zeichen: auch wenn sich die Merkmale eines Begriffs durch dessen Definition angeben lassen, so sind sie doch in dem Begriff(swort) nicht schon augenscheinlich enthalten. Eine characteristica universalis soll nun nicht nur der leichteren Verstndigung durch eindeutige Darstellung von Begriffen dienen, sondern auch die Wahrheitsfindung erleichtern, d. h. das Urteilen abbilden. Dazu muß nicht nur die Zusammensetzung von Begriffen aus Teilbegriffen, sondern auch die Zusammensetzung von Urteilen aus Begriffen reprsentiert werden, und zwar derart, daß nicht nur die Bedeutung der Urteile wiedergegeben wird (d. h. ihre Bildung mit Hilfe logischer VerknpfunHannover, 10. und 11. November 1978, Wiesbaden 1979 [Studia Leibnitiana Sonderheft 8], 70, spricht in diesem Kontext von ,Bereichscharakteristiken).

3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl

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gen), sondern zugleich auch die Wahrheit oder Falschheit der Urteile auf der Basis der Zeichengestalt von ihren Reprsentanten sofort entschieden werden kann.35 Auch hier bieten sich fr Leibniz Zahlen als Vertreter von formalen Zeichen an, deren Teilbarkeitsrelationen elementar entscheidbar sind. Die Wahrheit von Urteilen soll durch das Bestehen gewisser Teilbarkeitsbeziehungen fr Zahlen, die fr diejenigen Begriffe charakteristisch sind, die ein Urteil ausmachen, definiert werden.36 Fr die Auszeichnung der Teilbarkeitsrelation ist sicher auch Leibnizens Gedanke leitend, daß ein Urteil wahr ist, wenn der Prdikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist.37 Diese Idee fhrt Leibniz fr die kategorischen Urteile SaP, SiP, SeP, SoP der traditionellen Syllogistik durch. Interessant ist dabei hier nur die Behandlung von SaP und SiP, da es sich bei SeP und SoP gemß dem logischen Quadrat einfach um deren Negate handelt.38 In seinen ersten Entwrfen39 geht Leibniz von der Charakterisierung40 von Subjekt- und Prdikatbegriff durch (positive) natrliche Zahlen aus, deren Primfaktoren ihre jeweiligen Merkmale charakterisieren. Im Rahmen des rein intensionalen (begriffslogischen) Verstndnisses der Syllogistik, dem Leibniz zu dieser Zeit noch anhngt, bedeutet ,alle S sind P, daß jedes Merkmal von P auch Merkmal von S ist, arithmetisch: daß die P charakterisierende Zahl CðPÞ die S charakterisierende Zahl CðSÞ teilt. Die arithmetische Charakterisierung von ,einige S sind P macht dann jedoch Schwierigkeiten: Die zunchst41 gewhlte Bedingung fr SiP, nmlich daß CðSÞ CðPÞ teilt oder umgekehrt, ist offensichtlich inadquat, da sonst ,SiP mit ,SaP oder PaS quivalent wre; ebenso eine sptere42, wonach es eine Zahl a geben muß, so daß CðPÞ das Produkt CðSÞ  a teilt (gemß der Vorstellung, ,SiP bedeute, daß der Unterbegriff von S, der durch die durch a reprsentierten 35 Vgl. C. 66 (= Fragmente zur Logik [vgl. Anm. 32], 203). 36 Ebd.. In diesem Zusammenhang benutzt Leibniz bereits den Terminus ,calculus universalis, obwohl es hier noch nicht um deduktive Beziehungen geht. Das zeigt, daß sich entgegen Arndts Meinung (a.a.O., 114 ff.) das Kalklprogramm nicht vom Programm der bloßen Konstruktion einer Kunstsprache trennen lßt. 37 Vgl. z. B. C. 68 (= Fragmente zur Logik, 205). 38 Vgl. C. 61 f. (= Fragmente zur Logik, 197). 39 C. 42 – 70 (= Fragmente zur Logik, 170 – 209). 40 ,Charakterisierung ist im Folgenden immer im Sinne einer Zuordnung von Zahlen (bzw. spter auch Zahlenpaaren) zu Begriffen verstanden und wird mit ,C bezeichnet. Charakterisiert werden also Begriffe durch charakterisierende oder charakteristische Zahlen. 41 Z.B. C. 43 (= Fragmente zur Logik, 171). 42 Z.B. C. 58 f. (= Fragmente zur Logik, 192 f.).

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Begriffe aus S ausgesondert wird, Unterbegriff von P ist43, da sonst ,SiP immer gelten wrde (whle a : ¼ CðSÞ). Aus diesem Grunde whlt Leibniz schließlich44 eine Charakterisierung von Begriffen durch Paare teilerfremder natrlicher Zahlen, von denen die erste (mit ,þ bezeichnete) Komponente die positiven Merkmale, die zweite (mit , bezeichnete) Komponente die negativen Merkmale eines Begriffs charakterisieren soll. Diese Unterscheidung zwischen positiven und negativen Merkmalen eines Begriffs setzt natrlich voraus, daß die infragekommenden Merkmale, d. h. Grundbegriffe, untereinander vertrglich und sogar voneinander unabhngig sind – eine nicht unproblematische Annahme, auf die Russell hingewiesen hat.45 Bezeichnet man mit CðAÞ das A charakterisierende Zahlenpaar, mit Cþ ðAÞ dessen erste und mit C ðAÞ dessen zweite Komponente, dann kann man Leibnizens Bedingungen fr SaP und SiP in der endgltigen Fassung seines arithmetischen Kalkls wie folgt wiedergeben: (1) SaP ist wahr, falls gilt: Cþ ðPÞ teilt Cþ ðSÞ und C ðPÞ teilt C ðSÞ (2) SiP ist wahr, falls gilt: Cþ ðPÞ und C ðSÞ sowie C ðPÞ und Cþ ðSÞ sind jeweils teilerfremd.46 Die erste Bedingung entspricht wieder der Vorstellung, daß S alle, sowohl die positiven als auch die negativen, Merkmale von P haben soll; die zweite Bedingung drckt aus, daß fr die Gltigkeit von ,einige S sind P S und P vertrglich sein mssen, d. h., daß es kein positives (negatives) Merkmal von S gibt, das einem Merkmal von P widerspricht, d. h. negatives (positives) Merkmal von P ist.47 43 Vgl. C. 55 f. (= Fragmente zur Logik, 188 f.). 44 C. 70 – 92, 245 – 247 (= Fragmente zur Logik, 209 – 240). 45 B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. With an Appendix of Leading Passages, London 21937, 18 ff.. Vgl. auch H. Poser, Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz, Wiesbaden 1969 (Studia Leibnitiana Supplementa VI), 37 ff.. 46 C. 78 – 80 (= Fragmente zur Logik, 219 – 222). 47 Entscheidender Grund fr die Einfhrung von Zahlenpaaren als charakterisierender Objekte drfte damit die Deutung partikular bejahender Urteile sein, nicht so sehr, wie oft angenommen, das Problem der Einfhrung von Komplementbegriffen (d. h. kontradiktorischer Gegenteile von Begriffen). Letzteres ist zwar ein fundamentales (und im Rahmen des arithmetischen Kalkls auch nach der Einfhrung von Zahlenpaaren nicht gelçstes) Problem, jedoch ist es von der Deutung der Syllogistik unabhngig, da man etwa ,kein P ist Q nicht als ,alle P sind nicht-Q verstehen muß, sondern als ,nicht: einige P sind Q lesen kann.

3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl

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Hier zeigt sich erneut Leibnizens begriffslogisches Verstndnis der Syllogistik: Die Vertrglichkeit von S und P hinsichtlich ihrer Merkmale wird als hinreichend dafr angesehen, daß einige S P sind.48 Die Forderung der Teilerfremdheit bei der Charakterisierung von Begriffen entspricht der Forderung, daß Begriffe widerspruchsfrei sein sollen, d. h., daß kein Merkmal zugleich positives und negatives Merkmal ist (wenn Primfaktoren Merkmale charakterisieren, dann bedeutet Teilerfremdheit ja das Fehlen gemeinsamer Merkmale). Die Rede von ,wahr in (1) und (2), die Leibniz selbst verwendet, ist problematisch. Sie setzt voraus, daß eine Charakterisierung C effektiv gegeben ist. Das ist jedoch bei Leibniz nicht der Fall. Es finden sich zwar programmatische Erklrungen, aber keine Versuche, eine Charakterisierung selbst durchzufhren. Die Zahlenwerte, die Leibniz in seinen Beispielen angibt, kçnnen nicht als Charakterisierung im Sinne einer characteristica universalis gelten, da sie viel zu niedrig sind, um die Merkmalsmenge der verwendeten Begriffe zu kodieren. Leibniz spricht denn auch von nur ,vorlufig herangezogenen Zahlen, die er aber doch ,charakteristische Zahlen nennt.49 Das legt die Deutung nahe, (1) und (2) im Sinne von ,relativer Wahrheit zu verstehen, d. h. als: ,SaP ist wahr relativ zu C, falls … und ,SiP ist wahr relativ zu C, falls …, und dabei C als Charakterisierung im Sinne einer beliebigen Zuordnung von Paaren teilerfremder Zahlen zu den verwendeten Begriffen aufzufassen. In dieser Weise soll ,Charakterisierung auch im Folgenden verstanden werden. Allerdings geht dabei der inhaltliche Sinn von ,Charakterisierung weitgehend verloren, zumal Leibniz immer von konkreten Begriffen ausgeht, die charakterisiert werden, nicht von Variablen wie ,P und ,Q (fr die solche beliebigen Charakterisierungen verstndlich wren).50 Bis hier handelt es sich bei dem arithmetischen Kalkl um ein Entscheidungsverfahren inhaltlicher Urteile unter Rckgriff auf deren inhaltliche Interpretation. Im modernen Sinne versteht man unter ,Kalkl jedoch mehr, nmlich ein Verfahren zur Kontrolle von Schlssen. Leibniz 48 Allerdings nicht unbedingt dafr, daß es Gegenstnde gibt, die sowohl unter S als auch unter P fallen. Denn Leibniz nimmt nicht eindeutig existentiellen Import bei syllogistischen Urteilen (einschließlich der partikular bejahenden) an. Vgl. H. Burckhardt, Logik und Semiotik in der Philosophie von Leibniz, Mnchen 1980, 37 – 42. 49 C. 78 (= Fragmente zur Logik, 219). 50 Fr weitere grundstzliche Argumente gegen Charakterisierungen durch Zahlenpaare vgl. L. Krger, Rationalismus und Entwurf einer universalen Logik bei Leibniz, Frankfurt 1969 (Wissenschaft und Gegenwart 42), 21 ff..

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

scheint zu meinen, daß seine Charakteristik auch dieses leistet, und zwar fr verschiedenste Arten von Schlssen. Er spricht von „Regeln, mit denen ber die Gltigkeit von Folgerungen (…) mit Hilfe von Zahlen geurteilt werden kann“, derart, „daß nach Berechnung einer Summe von Zahlen sich auch bei sehr langen Schlußfolgerungen zeigt, ob die Folgerung gltig ist“51. Leibniz scheint also zu meinen, daß mit Hilfe einfacher arithmetischer Operationen (z. B. Summenbildung), angewandt auf charakterisierende Zahlen der beteiligten Begriffe, die Gltigkeit eines Schlusses entschieden werden kann. Nun hat bei Schlssen die Auswahl der inhaltlichen Termini und damit die inhaltliche Wahrheit von Prmissen und Konklusion nicht viel mit der Gltigkeit des Schlusses selbst zu tun. Ein Schluß ist gltig, wenn er wahrheitskonservierend ist allein aufgrund der Form der beteiligten Urteile, d. h. deren Gliederung mit Hilfe der logischen Konstanten (in der traditionellen Syllogistik a, e, i, o). Dessen ist sich Leibniz sehr wohl bewußt52, doch geht dies leider nicht in seine Behandlung der Syllogismen ein. Das Verfahren, das Leibniz zur berprfung der Gltigkeit eines Syllogismus vorschlgt, bercksichtigt nur die inhaltliche Wahrheit der beteiligten Urteile relativ zu einer Charakterisierung: Man charakterisiere die beteiligten Begriffe in der beschriebenen Weise durch Zahlenpaare derart, daß sich alle Prmissen unter dieser Charakterisierung als wahr herausstellen. Dann prfe man, ob die Konklusion unter dieser Charakterisierung wahr wird.53 Es lßt sich zeigen, daß sich nach diesem Verfahren alle Syllogismen, deren Konklusion mit den Prmissen vertrglich ist (deren negierte Konklusion also nicht aus den Prmissen folgt), als gltig herausstellen wrden: Sei ein beliebiger Syllogismus dieser Art mit der Konklusion S*P (*: a, e, i oder o) gegeben. Man whle eine beliebige Charakterisierung der Begriffe S und P, so daß S*P unter dieser Charakterisierung wahr wird. Dann lßt sich eine solche Charakterisierung des Mittelbegriffs M angeben, unter der beide Prmissen des Syllogismus nach den Bedingungen (1) und (2) wahr sind. Dies liegt, grob gesehen, daran, daß mit der Charak51 C. 77 (= Fragmente zur Logik, 217 f.). 52 Vgl. C. 73 f., 84 (= Fragmente zur Logik, 213 f., 227 f.). 53 Vgl. C. 89 – 92 (= Fragmente zur Logik, 234 – 238). Zur Wahl der charakterisierenden Zahlenpaare sagt Leibniz an anderer Stelle, daß man hier eigentlich mit den ,wahren charakterisierenden Zahlen arbeiten msse, diese jedoch vorlufig durch ,erfundene ersetzt werden kçnnten (C. 85, = Fragmente zur Logik, 228). Dies zeigt erneut, daß Leibniz auf der inhaltlichen Deutung der verwendeten Begriffe und nicht auf der logischen Form der verwendeten Urteile aufbaut.

3.3 Characteristica universalis und arithmetischer Logikkalkl

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terisierung von S und P der Wert der Konklusion schon feststeht und mit der Charakterisierung des Mittelbegriffs der Wert der Prmissen in bestimmten Grenzen manipuliert werden kann. Leibniz selbst hat sich das Scheitern dieses Ansatzes an einem Beispiel aus dieser Gruppe von Syllogismen klargemacht.54 Es lßt sich auch ein Gegenbeispiel aus der Gruppe der syllogistischen Schlsse mit nur einer Prmisse angeben, die Leibniz in der berprfung der Beziehungen des logischen Quadrats vornehmlich betrachtet: Mit CðSÞ ¼ ð4; 9Þ und CðPÞ ¼ ð2; 3Þ wird SiP und SaP und damit nach Leibnizens Definition die ungltige Umkehrung SiP SaP der Subalternationsbeziehung zwischen SaP und SiP als gltig entschieden. Damit ist der arithmetische Kalkl – unter Verwendung moderner Terminologie – jedenfalls nicht korrekt, da ein ungltiger Syllogismus im arithmetischen Kalkl hergeleitet (d. h. positiv entschieden) werden kann. Allerdings ist er vollstndig insofern, als jeder gltige Syllogismus auch positiv entschieden wird, wie sich leicht nachprfen lßt – jedoch ist Vollstndigkeit nur dann eine relevante Eigenschaft eines Kalkls, wenn auch Korrektheit vorliegt. Als Ausweg gibt Leibniz in einer Notiz55 eine vernderte Definition seines Prfverfahrens fr Syllogismen: Man prfe fr alle Charakterisierungen C der beteiligten Begriffe, ob der Fall einstritt, daß alle Prmissen wahr sind relativ zu C, die Konklusion jedoch falsch ist. Wenn kein solcher Fall auftritt, ist der gesamte Syllogismus als gltig entschieden. Dies kann man auch wie folgt ausdrcken: Man prfe fr alle Charakterisierungen C, bei denen alle Prmissen wahr sind relativ zu C, ob auch die Konklusion wahr ist relativ zu C. Wenn dieser Test positiv ausfllt, ist der Syllogismus als gltig entschieden. In der Tat liegt hier eine Definition explizit vor, nach der der arithmetische Kalkl genau alle gltigen Syllogismen als gltig entscheidet und damit korrekt und vollstndig ist. Dies wurde von Chr. 54 C. 246 (fehlt in: Fragmente zur Logik), von Leibniz durchgestrichen. Zur Diskussion dieser Passage in der Literatur vgl. Chr. Thiel, Leibnizens Definition der logischen Allgemeingltigkeit und der „arithmetische Kalkl“, in: Theoria cum praxi. Zum Verhltnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Internationalen Leibnizkongresses, Hannover, 12. bis 17. November 1977, III, Wiesbaden 1980 (Studia Leibnitiana Supplementa XXI), 580 f.. 55 C. 247 (= Fragmente zur Logik, 240).

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Thiel (1979) entdeckt, nachdem schon J. Łukasiewicz56 die Korrektheit und Vollstndigkeit im Sinne einer solchen, von ihm implizit benutzten Definition nachweisen konnte. Entscheidend an dieser Definition ist die Quantifikation ber alle Charakterisierungen.57 Allerdings lßt sich damit eigentlich nicht mehr zu Recht von einem Kalkl sprechen. War schon Leibnizens frheres inkorrektes Verifikationsverfahren fr Syllogismen nur in dem sehr allgemeinen Sinne ein Kalkl, insofern durch elementare arithmetische Rechnung, nicht im strengen Sinne eines Herleitungsverfahrens nach Regeln (wie der sptere algebraische Kalkl), ber die Gltigkeit eines Syllogismus entschieden werden sollte, so kann nach der neuen Definition nicht einmal mehr von einem elementaren Entscheidungsverfahren die Rede sein, da unendlich viele Charakterisierungen der Begriffe eines Syllogismus in Betracht gezogen werden mssen. Definitiv entschieden werden kann nur ber Gegenbeispiele fr ungltige Syllogismen. Daher wundert es nicht, daß Leibniz an dieser Idee nicht weitergearbeitet, sondern sich Kalklen im ,eigentlichen Sinne zugewandt hat; nachdem die Entwicklung eines arithmetischen Prfverfahrens fr logische Schlsse Leibniz schließlich zu etwas gefhrt hatte, das kein genuines Verfahren mehr ist.58 Da Leibniz im kalkltheoretischen Teil seiner Semiotik in erster Linie an dem, was man heute Syntax nennt, orientiert war, vermochte er nicht mehr zu erkennen, daß er – deutet man seinen arithmetischen ,Kalkl statt als Prfverfahren als Gltigkeitsdefinition fr Syllogismen – mit seiner abschließenden Definition einen wesentlichen Beitrag zur Semantik geliefert hat. Genauer hat Leibniz, wie Thiel (1979) gezeigt hat, die auf B. Bolzano zurckgehende und von A. Tarski entwickelte moderne modelltheoretische Idee, wonach (3) ein Schluß logisch gltig ist, wenn jedes Modell der Prmissen auch Modell der Konklusion ist 56 J. Łukasiewicz, a.a.O., 127 – 129. Vgl. D. Marshall, Łukasiewicz, Leibniz and the Arithmetization of the Syllogism, Notre Dame Journal of Formal Logic 18 (1977), 235 – 242. 57 Das wird vçllig verkannt, wenn man darin nur eine Form der (aussagenlogischen) reductio ad absurdum, genannt Regression, sieht, wie L. Couturat, La logique de Leibniz daprs des documents indits, Paris 1901 (Nachdruck Hildesheim 1961), 8, oder H. Burckhardt, a.a.O., 338 f.. Wie oben geschehen, kann man die Definition auch negationsfrei formulieren. 58 In gewisser Weise hat Couturat also mit seiner Feststellung recht (a.a.O., 334), daß der arithmetische Kalkl zu kompliziert war, wenn auch ,kompliziert eine recht unklare Ausdrucksweise fr diesen Sachverhalt ist.

3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik

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(oder anders: wenn es keine Interpretation der nicht-logischen Zeichen gibt, die die Prmissen wahr, die Konklusion falsch macht), fr den Bereich der kategorischen Syllogistik vorweggenommen. Nennt man eine arithmetische Charakterisierung C Modell einer syllogistischen Aussage A, wenn A relativ zu C wahr ist im Sinne von (1) und (2), dann kann man die Formulierung (3) fr die Syllogistik bernehmen. Diese vom modernen Standpunkt aus gesehen bahnbrechende Idee, die Leibniz auch als Semantiker ausweist, entspricht jedoch nicht seinen Absichten: Leibniz ging es nicht darum, die Gltigkeit von Syllogismen allererst zu definieren, sondern darum, ein Verfahren zu entwickeln, Argumentationen auf ihre Gltigkeit hin zu kontrollieren, indem man sie quasi mechanisch nachvollziehbar macht. Wenn man Leibniz von modernen semantischen Konzeptionen aus beurteilen wollte, so mßte man ihn eher im Umkreis von beweis- und argumentationstheoretischen Semantiken, wie sie im Bereich des Intuitionismus und des Konstruktivismus diskutiert werden, ansiedeln, als ihn der modelltheoretischen Semantik zuordnen.

3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik Leibniz unterscheidet strikt zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten, zwischen dem, was notwendigerweise, und dem, was nur kontingenterweise der Fall ist.59 Andererseits besteht er als ,Rationalist darauf, daß jede Wahrheit (auch die kontingente) durch einen Beweis a priori begrndet werden kann, der außer auf logische Prinzipien nur auf Definitionen zurckgreift.60 Dies ist jedoch nur ein scheinbarer Widerspruch, da Leibniz neben endlichen Beweisen, wie er sie in seiner Theorie des logischen Argumentierens einschließlich seiner Kalkltheorie behandelt, auch unendliche Beweise in Betracht zieht, deren Konklusion nicht in endlich vielen Schritten aus ihren Axiomen und Definitionen folgt. Solche Beweise kçnnen natrlich von einem endlichen Wesen nicht – oder nur approximativ – durchgefhrt werden; nur Gott kann sie in ihrer unendlichen Komplexitt berschauen. Diesen Charakter haben nach 59 Vgl. z. B. Nouveaux essais IV 2 § 1, Akad.-Ausg. VI/6, 361. 60 „Omnis autem propositio vera potest probari“ (C. 373) (= Fragmente zur Logik, 265), vgl. auch C. 388 (= Fragmente zur Logik, 288) sowie Philos. Schr. VII, 300 (hier gibt Leibniz nahezu genau die Bestimmungen an, die nach G. Frege fr ein analytisches Urteil charakteristisch sind). Entsprechendes gilt fr die formale Widerlegbarkeit falscher Aussagen.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Leibniz nun gerade die Beweise kontingenter Wahrheiten.61 Das heißt, daß bis hierhin im Programm einer auf einer characteristica universalis aufbauenden Kalkltheorie, in der es um endliche Deduktionen (oder allgemeiner: Verfahren) geht, die kontingenten Wahrheiten noch gar nicht erfaßt sind. Eine wirkliche mathesis universalis muß um eine Logik des Kontingenten erweitert werden. Eine solche Logik des Kontingenten ist nach Leibniz die Logik des Wahrscheinlichen: „Es fehlt (…) der ntzlichste und praktischste Teil der Logik ber die Grade der Wahrscheinlichkeit oder die Waage der Grnde fr den Fall, daß sich widerstreitende Meinungen auf das Wahrscheinliche sttzen, der die Logocritica des Kontingenten ist, denn Aristoteles gab nur die Logik des Notwendigen.“62 Die Wahrscheinlichkeitslogik ist damit der endliche, fr Menschen handhabbare Ersatz der unendlichen Logik. Sie ist dann erforderlich, wenn, wie in den meisten Fllen, nicht genug Information zur Verfgung steht, um die Wahrheit einer Aussage deduktiv zu erschließen: „Im Beweisen gibt es zwei Grade: entweder steht der Weg zur Wahrheit sicher offen oder wir mssen mit dem Wahrscheinlichen zufrieden sein, dann nmlich, wenn nicht gengend Daten zur Bestimmung der Wahrheit vorhanden sind.“63 Das Programm dieser Logik lßt sich auch ohne die rationalistische Fassade leicht verstehen – Leibniz hat, wie I. Hacking zeigen konnte, die induktive Logik des Empiristen R. Carnap zumindest der Idee nach vor-

61 Vgl. C. 373 f., 388 f. (= Fragmente zur Logik, 265 – 267, 288 f.). Von unendlichen Beweisen ist dabei immer im Hinblick auf die reduktive, analytische Methode des Auflçsens die Rede, d. h. davon, daß Aussagen nicht in endlich vielen Schritten auf identische Stze zurckgefhrt werden kçnnen. – Es ist nicht unproblematisch, von einer ,analytischen Urteils- oder Wahrheitstheorie Leibnizens zu sprechen, da der moderne Standardgebrauch von ,analytisch nur Deduktionen im eigentlichen (endlichen) Sinne in Betracht zieht. I. Hacking (Infinite Analysis, Studia Leibnitiana 6 [1974], 126 – 130) schlgt vor, unendliche Beweise als Ableitungen mit Hilfe der w-Regel im Sinne der modernen Beweistheorie zu rekonstruieren. Vgl. auch Th. Meijering, On Contingency in Leibnizs Philosophy, Studia Leibnitiana 10 (1978), 22 – 59. 62 Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae, Akad.-Ausg. VI/1, 281 (zitiert bei Burckhardt, a.a.O., 425). Einen berblick ber Leibnizens Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitstheorie gibt K.-R. Biermann, berblick ber die Studien von G. W. Leibniz zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, Sudhoffs Archiv fr Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 51 (1967), 79 – 85. 63 Brief an C. D. Koch (undatiert), Philos. Schr. VII, 477 (zitiert bei Burckhardt, a.a.O., 430).

3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik

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weggenommen.64 In Carnaps induktiver Logik65 geht es um die rationale Bewertung von Hypothesen relativ zu gegebenen Erfahrungsdaten. Entsprechend geht es bei Leibniz um den „Grad der Wahrscheinlichkeit aus den vorliegenden Umstnden (ex datis)“66. Den Gedanken einer grundstzlich relativen Aussagenwahrscheinlichkeit entwickelt Leibniz insbesondere im Rahmen von berlegungen zur praktischen Philosophie67 und zur Rechtstheorie. Der rechtstheoretische Fall liefert einen direkten Bezug zur Aussagen- oder Hypothesenwahrscheinlichkeit ohne eine bertragung von Begriffen z. B. aus der Theorie der Glcksspiele68, da in der Rechtssprechung im unmittelbaren Sinne Aussagen bewertet werden mssen. Schon in seinen frhen Disputationen „De conditionibus“69 hatte Leibniz bei der Diskussion bedingter 64 Vgl. I. Hacking, Equipossibility Theories of Probability, British Journal for the Philosophy of Science 22 (1971), 339 – 355; ders., The Leibniz-Carnap Program for Inductive Logic, Journal of Philosophy 68 (1971), 597 – 610; ders., Leibniz and Descartes: Proof and Eternal Truths, Proceedings of the British Academy 59 (1973), 175 – 188; ders., The Emergence of Probability: A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1975, vor allem Kapitel 15 (134 – 142). Zur Diskussion dieser Thesen vgl. M. D. Wilson (Possibility, Propensity, and Chance: Some Doubts about the Hacking Thesis, Journal of Philosophy 68 [1971], 610 – 617) sowie L. Krger (Probability in Leibniz: On the Internal Coherence of a Dual Concept, Archiv fr Geschichte der Philosophie 63 [1981], 47 – 60). Zur Diskussion von Hackings generellen historischen Thesen ber die Entstehung der Wahrscheinlichkeitstheorie im 17. Jahrhundert (The Emergence of Probability, 1975) vgl. D. Garber/S. Zabell, On the Emergence of Probability, Archive for History of Exact Sciences 21 (1979/1980), 33 – 53; I. Schneider, Why Do We Find the Origin of a Calculus of Probabilities in the Seventeenth Century?, in: J. Hintikka/D. Gruender/E. Agazzi (Eds.), Probabilistic Thinking, Thermodynamics and the Interaction of the History and Philosophy of Science. Proceedings of the 1978 Pisa Conference on the History and Philosophy of Science II, Dordrecht/Boston 1981, 3 – 24; I. Hacking, From the Emergence of Probability to the Erosion of Determinism, in: J. Hintikka/D. Gruender/E. Agazzi (Eds.), Probabilistic Thinking, Thermodynamics and the Interaction of the History and Philosophy of Science, 105 – 123. 65 Kurze Darstellung (mit Literaturangaben) in P. Schroeder-Heister, Artikel: Logik, induktive, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II (vgl. Anm. 7), 662 – 666. 66 Nouveaux essais IV 2 § 14, Akad.-Ausg. VI/6, 372. 67 Vgl. dazu K. Jacobi, Zur Konzeption der praktischen Philosophie bei Leibniz, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17.–22. Juli 1972, III, Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa XIV), 145 – 173. 68 Vgl. I. Hacking, The Leibniz-Carnap Program for Inductive Logic, a.a.O., 600. 69 Akad.-Ausg. VI/1, 97 – 150. Vgl. dazu H. Schepers, Leibniz Disputationen „De Conditionibus“: Anstze zu einer juristischen Aussagenlogik, in: Akten des II.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

Rechtsansprche im rçmischen Recht eine Wahrscheinlichkeitsbewertung vorgeschlagen, bei der ein von einer notwendigen Bedingung abhngiger Rechtsanspruch (ius purum) den Wert 1 erhlt, ein von einer echt kontingenten Bedingung abhngiger Anspruch (ius conditionatum) den Wert 1/2 und ein von einer unmçglichen Bedingung abhngiger Anspruch (ius nullum) den Wert 0. Er hatte damit eine Skala von Wahrscheinlichkeitswerten zwischen 0 und 1 nahegelegt. Das entspricht bereits der These, daß die Wahrscheinlichkeit eine Metrisierung des Bereichs des Mçglichen ist, oder, wie Leibniz spter sagt: „Probabilitas est gradus possibilitatis.“70 Die Rechtssprechung ist nicht nur ein gutes Beispiel fr den relativen Charakter der Aussagenwahrscheinlichkeit, d. h. die Bezugnahme auf gegebenes, beschrnktes Datenmaterial, sondern auch fr ihren objektiven, rationalen Charakter: Es geht nicht nur um bloß subjektiv-private, sondern um rational begrndbare Wahrscheinlichkeitsbewertungen. Auch daran hlt Leibniz fest, wenn er immer wieder betont, daß es eine Logik des Wahrscheinlichen gebe, die genauso sicher nach berprfbaren Regeln fortschreite wie die deduktive Logik, von ihrer Ntzlichkeit ganz zu schweigen.71 Leibnizens verstreute Bemerkungen zu diesem Thema bleiben allerdings, anders als seine Theorie der deduktiven Logik, im Programmatischen. Es gelingt ihm nicht, Regeln einer Wahrscheinlichkeitslogik im einzelnen anzugeben. Im Lichte von Carnaps Versuch, ein solches Programm durchzufhren, kann man ermessen, mit welchen Schwierigkeiten die Angabe von Rationalittskriterien fr induktives Schließen verknpft ist. Obwohl Carnap mit einer sehr einfachen Modellsprache arbeitet, die kaum ber die Hilfsmittel von Leibnizens characteristica universalis hinausgeht, ergeben sich Probleme, die die Idee einer induktiven Logik als Theorie der Begrndung (oder Besttigung) kontingenter Aussagen wieder sehr fraglich macht. Insbesondere gelingt es nicht, eine induktive Methode eindeutig als die rationale Methode auszuzeichnen; Carnap wird vielmehr zu einem Kontinuum unendlich vieler induktiver Methoden gefhrt, die alle den geforderten Rationalittskriterien gengen, sich jedoch darin unterscheiden, daß sie verschiedene Annahmen ber die Uniformitt der Welt maInternationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17.–22. Juli 1972, IV, Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa XV), 1 – 17, und H. Burckhardt, a.a.O., 423 f.. 70 De incerti aestimatione (1678), in: K.-R. Biermann/M. Faak, G. W. Leibniz „De incerti aestimatione“, Forschungen und Fortschritte 31 (1957), 48. 71 Vgl. z. B. Nouveaux essais IV 2 § 14, Akad.-Ausg. VI/6, 372 f.; IV 17 § 6, Akad.Ausg. VI/6, 484.

3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik

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chen. Liegen als Ausgangswahrscheinlichkeiten die Gewichtungen aller Zustandsbeschreibungen (d. h., in einer an Leibniz anschließenden Terminologie, die Wahrscheinlichkeiten der Beschreibungen aller mçglichen Welten) fest, dann ist dadurch zwar auch die Wahrscheinlichkeit fr komplexe Aussagenbeziehungen gegeben; aber nach welchen Kriterien bestimmt man die Ausgangswahrscheinlichkeiten? Diese Fragestellung lßt sich leicht auf Leibnizens characteristica universalis bertragen.72 Da die characteristica universalis auf einfachen Grundzeichen aufbaut, lßt sich durch die mçglichen Kombinationen dieser Grundzeichen – geht man von deren Endlichkeit aus – jede mçgliche Welt beschreiben. Weiß man, wie wahrscheinlich jede mçgliche Welt und damit jede Menge mçglicher Welten ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese h relativ zu den Daten e durch das Verhltnis der Wahrscheinlichkeiten der logischen Spielrume von h und e und e gegeben (logischer Spielraum von a ¼ Menge der mçglichen Welten, in denen a gilt). Die Ausgangswahrscheinlichkeiten selbst lassen sich jedoch nicht mehr nur logisch festlegen. Zumindest scheint Leibniz, was die Methode zur Bestimmung solcher konkreter Wahrscheinlichkeiten betrifft, zwischen apriorisch-kombinatorischen berlegungen einerseits und der empirischen Bestimmung relativer Hufigkeiten andererseits zu schwanken. Mit Fragen der ersten Art hat sich Leibniz seit seiner „Dissertatio de arte combinatoria“73 beschftigt, vor allem in Untersuchungen zur Theorie der Glcksspiele74. Eine dabei behandelte Hauptfrage war das zu seiner Zeit intensiv diskutierte ,Teilungsproblem: Wie sind die Einstze bei einer vorzeitig abgebrochenen zusammengehçrigen Serie von Glcksspielen aufzuteilen? Auch wenn Leibnizens Antworten in technischen Dingen hufig fehlerhaft sind und keinesfalls ber Christian Huygens „De ratiociniis in ludo aleae“75 und 72 Vgl. I. Hacking, The Leibniz-Carnap Program for Inductive Logic, a.a.O., 605. 73 Akad.-Ausg. VI/1, 163 – 230. Zur Beziehung von Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitsrechnung vgl. auch C. 561 f.. 74 De numero jactuum in tesseris (1976), vgl. K.-R. Biermann, ber die Untersuchung einer speziellen Frage der Kombinatorik durch G. W. Leibniz, Forschungen und Fortschritte 28 (1954), 357 – 361; Manuskript zum Calcul des partis (1676), vgl. K.-R. Biermann, ber eine Studie von G. W. Leibniz zu Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Forschungen und Fortschritte 29 (1955), 110 – 113; De incerti aestimatione (1678) (vgl. Anm. 70). 75 Chr. Huygens, De ratiociniis in ludo aleae, in: F. van Schooten, Exercitationum Mathematicarum libri quinque. (…) Quibus accedit C. Hugenii tractatus de ratiociniis in aleae ludo, Leiden 1657.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

den Briefwechsel Blaise Pascals mit Pierre de Fermat76 hinausgehen, ist der philosophische Rahmen seiner Untersuchungen neu: In „De incerti aestimatione“ (1678) werden wahrscheinlichkeitstheoretische Probleme insofern in die mathesis universalis eingeordnet, als eine axiomatische Herleitung wahrscheinlichkeitstheoretischer Prinzipien aus metaphysischen Grundannahmen versucht wird77, wozu insbesondere das Indifferenzprinzip gehçrt.78 Ferner findet sich hier schon in umschreibender Form die Definition der Wahrscheinlichkeit als Quotient der Anzahl der gnstigen und der Anzahl der gleichmçglichen Flle. Leibnizens Interesse an Fragen der zweiten Art, der empirischen Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten, zeigt sich in seinen berlegungen zur Sterbewahrscheinlichkeit und zur Bestimmung von Leibrenten (,wieviel sollte der Staat von einem Brger bestimmten Alters verlangen, um ihm eine bestimmte Rente auf Lebenszeit auszahlen zu kçnnen) im Anschluß an die Untersuchung von J. de Witt (Waerdye van Lyf-renten naer proportie van Los-renten, Den Haag 1671) und J. Graunt (Natural and political observations mentioned in a following Index, and made upon the Bills of Mortality. With reference to the government, religion, trade, growth, ayre, and diseases of the said city, London 1662) sowie an die (unverçffentlichte) Amsterdamer Sterblichkeitsstatistik J. Huddes.79 In diesem Rahmen stellt Leibniz selbst die empirische These auf, daß die Sterbewahrscheinlichkeit bis zum 81. Lebensjahr gleich bleibt, d. h., daß die Wahrscheinlichkeit einer n Jahre alten Person, im ðn þ 1Þten Lebensjahr zu sterben, gleich ist fr alle n < 81.80 Leibniz plante sogar, Huddes

76 P. de Fermat, Oeuvres, I–IV, ed. P. Tannery/C. Henry, Paris 1891 – 1922, II, 288 – 331. 77 „potest demonstrari ex Metaphysicis“, a.a.O. (vgl. Anm. 70), 47. 78 Auch die Verwendung eines formalen Zeichens, das sowohl þ als auch  bedeuten kann, verweist auf das Programm einer characteristica universalis. Leibniz hatte solche ,characteres ambigus schon ca. 1674 allgemein als Hilfmittel der ,methode de luniversalit beschrieben (C. 99 f.). Vgl. K.-R. Biermann, berblick ber die Studien von G. W. Leibniz zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, a.a.O., 81. 79 Vgl. K.-R. Biermann, Eine Untersuchung von G. W. Leibniz ber die jhrliche Sterblichkeitsrate, Forschungen und Fortschritte 29 (1955), 205 – 208; ders./M. Faak, G. W. Leibniz und die Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeit bei J. de Witt, Forschungen und Fortschritte 33 (1959), 168 – 173. 80 Diese These wurde von L. Couturat (La logique de Leibniz daprs des documents indits, 1901) als absolut unhaltbar verworfen; I. Hacking (The Leibniz-Carnap Program for Inductive Logic, a.a.O., 601 f.) hlt sie jedoch auf Grund der Leibniz zur Verfgung stehenden Daten fr gerechtfertigt.

3.4 Mathesis universalis und Wahrscheinlichkeitslogik

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Tafeln in eine neue Auflage seiner Dissertation aufzunehmen.81 An der Bedeutung aposteriorischer Hufigkeitsfeststellungen fr die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten hlt er auch spter noch fest, insbesondere nach Kenntnis der fr die Entwicklung der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie maßgeblichen „Ars conjectandi“ (Basel 1713) von Jakob Bernoulli, in dem erstmals das Gesetz der großen Zahlen bewiesen wird.82 Mit dem Akzeptieren der Bedeutung empirischer Untersuchungen fr die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten stellt sich natrlich fr das Leibnizsche System das Problem, wie aposteriorische Daten ber die Hufigkeit physikalischer Ereignisse mit der Aussagenwahrscheinlichkeit verknpft werden kçnnen. Hacking glaubt, daß dies unter Heranziehung zentraler Thesen der Leibnizschen Metaphysik, insbesondere der Auffassung von Mçglichkeit als Verwirklichungstendenz (Daseinsstreben), erreichbar ist: die apriorische Bestimmung von Hufigkeiten fhrt asymptotisch zu derjenigen Wahrscheinlichkeit (= Grad der Mçglichkeit!), die den Dingen a priori innewohnt.83 Hacking beruft sich dabei insbesondere auf Leibnizens Diktum „quod facile est in re, id probabile est in mente“84. Krger hingegen verweist auf die grundstzliche Inkompatibilitt von aposteriorischen Bestimmungen und Leibnizens Mçglichkeitsbegriff und argumentiert, daß das rationalistische Schema der Leibnizschen Philosophie mit den wahrscheinlichkeitstheoretischen berlegungen gesprengt wird, oder doch nur durch sehr viel weitergehende metaphysische Annahmen gerettet werden kçnnte.85 Auch wenn der wahrscheinlichkeitstheoretische Teil der mathesisuniversalis-Konzeption Leibnizens nicht nur inhaltliche, sondern auch konzeptionelle Schwierigkeiten (im Rahmen anderer systematischer Teile des Leibnizschen Systems) mit sich fhrt, entscheidend ist das Folgende: Leibniz weist mit seiner Einbeziehung der Wahrscheinlichkeitslogik in die mathesis universalis darauf hin, daß zu einer einheitlichen Wissenschaftskonzeption nicht nur eine einheitliche Sprache und eine deduktive Theorie, sondern auch eine Theorie der Begrndung empirisch-theoretischer Aus81 Vgl. C. 561. 82 Vgl. Brief an Bourguet vom 22. 3. 1714, Philos. Schr. III, 570. Dazu I. Hacking, Equipossibility Theories of Probability, a.a.O., 346. 83 Vgl. I. Hacking, The Leibniz-Carnap Program for Inductive Logic, a.a.O., 605 f.. 84 Akad.-Ausg. VI/2, 492 (innerhalb einer Definitionstafel von 1671/1672 zur characteristica universalis). Hacking sieht in Leibnizens Begriff der facilitas auch eine interessante Parallele zu K. Poppers propensity-Interpretation der Wahrscheinlichkeit. 85 Vgl. L. Krger, Probability in Leibniz, a.a.O., 57, 59.

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3. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit

sagen gehçrt. Neben Fragen der Sprachphilosophie und der Linguistik einerseits und Fragen der formalen Logik andererseits rcken Fragen der Wissenschaftstheorie empirischer Wissenschaften. Damit ist nicht nur die Idee einer Universalwissenschaft in den Grenzen einer mathesis universalis vollstndiger erfaßt, als dies in anderen zeitgençssischen Entwrfen der Fall ist, sondern auch konkreter. Das besagt unter anderem, daß Leibnizens berlegungen auch in einem modernen Rahmen, abgesteckt durch Probleme der Syntax und Semantik formaler und natrlicher Sprachen sowie der Besttigung von (empirischen) Aussagen, diskutierbar sind. Maßgebend fr diese berlegungen ist dabei sowohl die (ltere) Idee eines systematischen Zusammenhangs aller Wissenschaften, von Leibniz mit dem Problem der Einheit von empirischer und nicht-empirischer Erkenntnis verbunden, als auch die Idee einer operativen Begrndung der Wissensbildung in Wissenschaftsform. Beide Ideen gewinnen bei Leibniz ein neuartiges methodologisches Profil. Dieses Profil bleibt auch dann noch, im Gegensatz zu konkurrierenden Konzeptionen im 17. und 18. Jahrhundert, erkennbar, wenn man die Leibnizschen Bemhungen um eine mathesis universalis nach wie vor als Teil des philosophischen Traumes von der Einheit der Welt und des Wissens von dieser Welt begreift. Auch Leibniz hat, nicht nur in seinen systematischen Vorstellungen von einer prstabilierten Harmonie und von der uneingeschrnkten Geltung des Satzes vom Grund, an diesem Traum gebaut – allerdings, wie seine Arbeiten zur Zeichen-, Kalkl- und Wahrscheinlichkeitstheorie dokumentieren, mit sehr exakten Steinen.

4. Philosophie in einer Leibniz-Welt In Form einer Leibniz-Welt wird die Welt zu einer philosophischen Welt. Dem dienen bei Leibniz sowohl ein Leibnizprogramm als auch eine logische Hermeneutik, die in der Perspektivitt der Welt deren Vernnftigkeit erkennt.

4.1 Leibniz-Welt und Leonardo-Welt Die Welt der Philosophen ist nicht die Welt, in der wir leben; und doch gehçren zu der Welt, in der wir leben, auch philosophische Elemente. Nicht in Form von Wolkenkuckucksheimen, in denen sich niemand aufzuhalten vermag, oder in Form von Gutenachtgeschichten, die das Einschlafen erleichtern, sondern als Teil des rationalen Wesens der modernen Welt und ihrer Kultur. Diese Kultur ist eine argumentierende, forschende, konstruktive und selbstreflexive Kultur. Sie ist die Welt bewohnbar gemacht, verwandelt in die Welt des Menschen, der die Dinge nicht nur berhrt, sondern sie verndert, und der sich nur in Dingen wiederzuerkennen vermag, die er sich angeeignet hat oder die er selbst gemacht hat, in Dingen, denen er Objektivitt, so in wissenschaftlichen Zusammenhngen, verleiht, und in Dingen, die seine Subjektivitt atmen. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen und seine Welt ist eine kulturelle Welt. Sie ist es auf vielfltige, und darin auch philosophische, Weise. Da ist zunchst eine Welt, in der sich der Mensch als Entdecker bewegt, eine Welt, auf die der Mensch forschend und aneignend seinen Fuß setzt, die er mit seinem Verstand und seinen Bedrfnissen ausmißt. Es ist die Kolumbus-Welt. Da ist ferner eine Welt, mit der der Mensch ber seine Deutungen verbunden ist, eine Welt, der der Mensch seine Perspektiven gibt und die er (allein) begreift, indem er sich selbst begreift. Diese Welt ist die Leibniz-Welt (und von dieser Welt wird im Folgenden vor allem die Rede sein). Und da ist schließlich eine Welt, die der Mensch selbst gemacht hat, eine Welt, die der Mensch mit seinem Verstand und seinen Hnden gebaut hat, um fortan als Entdecker und Deuter in seiner eigenen Welt zu leben. Diese Welt ist die Leonardo-Welt.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

Kolumbus-Welt, Leibniz-Welt und Leonardo-Welt beschreiben die kulturelle Welt des Menschen gewiß nicht vollstndig, aber doch in wesentlichen philosophischen Aspekten. Außerdem verbindet diese drei Welten auch eine Geschichte. Zuerst war die Kolumbus-Welt, eine fremde, unbekannte Welt, die jenseits der Grenzen der erfahrenen, vertrauten Lebenswelt liegt und deren Grenzen mit den Grenzen der Erfahrung, einer wissenschaftlich und philosophisch gefhrten Erfahrung, weiterwandern. Dann die Leibniz-Welt, die entdeckte Welt als Rtsel und gedeutete Welt, die immer wieder, im Wechsel ihrer Deutungen, zum Rtsel wird. Schließlich die Leonardo-Welt als das eigentliche Werk des Menschen, orientiert nicht so sehr an dem intelligenten Bedrfnis zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhlt (als Kolumbus-Welt und Leibniz-Welt), sondern an der nicht geringeren und durch die Verwandlung der Welt in die Welt des modernen Menschen immer dringlicheren Aufgabe, sie zusammenzuhalten. Wenn Kultur aber nicht zuletzt Forschung, Invention und Darstellung ist, sich im Medium von Finden, Erfinden und Gestalten bewegt, dann ist die moderne Welt als Kolumbus-, Leibniz- und Leonardo-Welt zugleich auch immer eine philosophische Welt, eine Welt, die um ihren eigentmlichen Charakter als Kolumbus-, Leibniz- und Leonardo-Welt weiß. Sie mag das gelegentlich vergessen, vor allem, wenn sie ihren politischen und wirtschaftlichen Geschften nachgeht und dabei mehr oder weniger naiv auf die Leistungsfhigkeit der Leonardo-Welt setzt; abzulegen vermag sie diese ihr eigentmliche philosophische Form nicht. Dabei hat die Leonardo-Welt, die doch das eigentliche Werk des Menschen ist, in der modernen Welt die Tendenz, sich auch gegen den Menschen zu wenden, d. h. sich den Menschen anzueignen. Der Aneignung der Welt durch den Menschen (in den Formen von Kolumbus-Welt, Leibniz-Welt und Leonardo-Welt) folgt wie ein immer grçßer werdender Schatten der weltkonstituierenden Kraft des Menschen die Aneignung des Menschen durch die (angeeignete) Welt. Wissenschaft und Technik, die beide dominanter Ausdruck einer Leonardo-Welt sind, fhren keineswegs wie von selbst in eine humane Welt; auch die inhumane Welt liegt an ihrem Weg. Humane Kultur ist die eine Seite der Leonardo-Welt, science fiction und Mickey Mouse ihre andere. Und das ist selbst keine Fiktion, sondern lngst Teil unserer Wirklichkeit: Medizin, Biologie, Chemie – die Naturwissenschaften haben die Natur des Menschen als etwas entdeckt, das man ebenso verndern kann, wie man die physische Welt und die soziale Welt verndert hat. Wir stehen in unserer Kultur, in unserer rationalen Kultur, vor einem schwerwiegenden Schritt: der berantwortung des Menschen

4.2 Leibnizprogramm I: Die Welt der Sprache

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an seine Welt. Die Leonardo-Welt beginnt sich an die Stelle des Menschen zu setzen. In dieser Situation ist es gut, sich daran zu erinnern, daß die moderne Welt nicht nur eine Leonardo-Welt, sondern, vor allem in ihrer Form als Leibniz-Welt, auch eine philosophische Welt ist. Gemeint ist eine Welt, deren Deutungen nicht nur die Erinnerung lenkt (etwas, das faktisch auch heute noch im wesentlichen die Welt der Philosophie, nmlich als Philosophiegeschichte, bestimmt) und die daher nur zu oft an der Welt, in der wir leben, vorbeifhren, sondern eine Welt, die ihre orientierende Kraft nicht verloren hat. Leibniz-Welt – das soll als Teil einer Kultur-Welt auch Orientierungswelt bedeuten: eine Welt, die nicht nur zurckblickt und die nicht stumm zwischen einer unwiederbringlichen Naturwelt und einer zwanghaften Aneignungswelt steht, sondern eine Welt, die sich selbst als das vernnftige Auge einer menschlichen Welt begreift. Und hier sollte dann auch Leonardo fr Leibniz sprechen kçnnen: wer an einen Stern gebunden ist, der kehrt nicht um. Philosophie als produktive, orientierende Kraft lßt sich in einer Leibniz-Welt nicht aufhalten. Was ist das genauer fr eine Welt?

4.2 Leibnizprogramm I: Die Welt der Sprache Die Leibniz-Welt ist erstens eine wissenschaftliche Welt, organisiert durch ein Programm, das man in der Philosophie das Leibnizprogramm nennt. Mit ihm sucht Leibniz eine Ordnung der Welt ber die Ordnung der sprachlichen Mittel zu erreichen, mit denen wir die Ordnung der Welt darzustellen suchen. Gemeint ist im engeren Sinne die Welt des Wissens und eine Wissenschaftssprache. Kernstck dieses Leibnizprogramms ist denn auch – wie oben (Kapitel 3.2) nher dargestellt – die Konstruktion einer (wissenschaftlichen) Kunstsprache (characteristica universalis), die auf der Basis einer Zeichentheorie (ars characteristica, ars symbolica) zur Darstellung von Sachverhalten und deren Beziehungen untereinander sowohl logische Schluß- und Entscheidungsverfahren (ars iudicandi) als auch inhaltliche Begriffsbestimmungen, beruhend in einer Definitionstheorie (ars inveniendi, ars combinatoria), einschließen und inhaltlichen Schlußweisen die formale Sicherheit des Rechnens verschaffen soll. Ziel einer derartigen Kunstsprache – in der Verbindung sprachlicher Konstruktionen mit mathematischen und logischen Verfahren – ist es, der philosophischen und wissenschaftlichen Analyse ein exaktes Organon zur Verfgung zu stellen.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

Dabei geht es Leibniz nicht nur um den Aufbau eines Formalismus zur Darstellung des Wissens, sondern auch um den Aufbau eines Formalismus zu dessen ,Entdeckung, d. h. zur Wissensbildung. Den Zusammenhang bilden hier die aus der Mathematik gelufigen komplementren Methoden der Analysis und der Synthesis, wobei Leibniz der analytischen Methode die von ihm gesuchte ars inveniendi und der synthetischen Methode die von ihm gesuchte ars iudicandi zuzuordnen sucht: „Die Methode zur Lçsung einer Aufgabe ist entweder synthetisch oder analytisch (…). Synthetisch oder kombinatorisch ist sie, wenn wir andere Aufgaben durchgehen und schließlich auf unsere kommen; und dahin gehçrt die Methode des Fortgangs von einfachen zu zusammengesetzten Aufgaben. Analytisch ist sie, wenn wir, ausgehend von unserer Aufgabe, so weit zurckgehen, bis wir zu den Bedingungen gelangen, die zu ihrer Lçsung ausreichen.“1 An anderen Stellen betont Leibniz aber auch den inventiven Charakter beider Methoden: „Es gibt zwei Methoden, die synthetische mit Hilfe der kombinatorischen Wissenschaft und die analytische. Jede von beiden kann den Ursprung der inventio zeigen; das ist also nicht das Vorrecht der Analyse. Der Unterschied besteht darin, daß die Kombinatorik eine ganze Wissenschaft oder wenigstens die Reihe der Lehrstze und Probleme darstellt, darunter auch das, was gesucht wird. Die Analyse dagegen fhrt ein aufgestelltes Problem auf Einfacheres zurck.“2 In diesem Zusammenhang wird (wie schon bei Descartes im gleichen Kontext) auf die Algebra verwiesen, und gleichzeitig (im Unterschied zu Cartesischen Vorstellungen) auf die Idee einer Kalklisierung: die „Wahrheiten der Vernunft“ sollen „wie in der Arithmetik und Algebra so auch in jedem anderen Bereich, in dem geschlossen wird, gewissermaßen durch einen Kalkl erreicht werden kçnnen“3. Paradigma einer derartigen Kalklisierung ist dann bei Leibniz selbst der Infinitesimalkalkl.

1

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Elementa nova matheseos universalis (um 1675), C. 350 f.. Vgl. hierzu im grçßeren Kontext J. Mittelstraß/P. Schroeder-Heister, Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit. Elemente einer Mathesis universalis bei Leibniz, in: H. Stachowiak (Ed.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens I (Pragmatisches Denken von den Ursprngen bis zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1986, 392 – 414 (in diesem Band Kapitel 3). Ferner J. Mittelstraß, The Philosophers Conception of Mathesis Universalis from Descartes to Leibniz, Annals of Science 36 (1979), 593 – 610. C. 557. Teil eines nicht abgesandten Briefes an C. Rçdeken aus dem Jahre 1708, Philos. Schr. VII, 32.

4.2 Leibnizprogramm I: Die Welt der Sprache

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Die Elemente eines solchen Kalkls stellen ein ,Alphabet des Denkens (alphabetum cogitationum humanarum 4) dar, gemeint ist die gesuchte Kunstsprache, die ihrerseits eine universale Wissenschaftssprache sein soll. Die dieser Sprache zugrundeliegende Zeichentheorie wird in folgender Definition erfaßt: „Die Zeichenkunst (ars characteristica) ist die Kunst, Zeichen derart zu bilden und zu ordnen, daß sie die Gedanken darstellen bzw. daß sie untereinander jene Beziehung haben, welche die Gedanken ihrerseits untereinander haben. Ein Ausdruck ist eine Ansammlung von Zeichen, welche die Sache, die ausgedrckt wird, vergegenwrtigen. Das Gesetz der Ausdrcke ist folgendes: daß ein Ausdruck fr eine Sache aus den Zeichen fr jene Sachen zusammengesetzt werde, aus deren Ideen die Idee der Sache, die ausgedrckt werden soll, zusammengesetzt wird.“5 Dabei sollen die Grundzeichen dieser Sprache – entsprechend einer ins Auge gefaßten Orientierung des Aufbaus von Begriffen am Aufbau der echt teilbaren natrlichen Zahlen aus Primzahlen – in ihrer Zusammensetzung dem Aufbau der aus Elementarbegriffen zusammengesetzten Begriffe isomorph sein. Als ,charakteristisch kann die zu bildende Sprache gelten, weil (1) ihre Wçrter aus endlich vielen Zeichen (Charakteren) nach bestimmten Kombinationsregeln hergestellt werden und (2) jedes Zeichen den von ihm bezeichneten Begriff eindeutig, und zwar einschließlich dessen Beziehungen zu anderen Begriffen, ,charakterisiert.6 In diesem Sinne treten in der Leibnizschen Ausarbeitung einer mathesis-universalis-Konzeption neben den Infinitesimalkalkl verschiedene Logikkalkle als Anwendungen einer characteristica universalis. Mathesis universalis – das ist bei Leibniz (wie in Kapitel 3.1 ausfhrlich dargestellt) der Versuch, die Struktur formaler Wissenschaften in mechanisch bzw. kalklmßig kontrollierbaren Abhngigkeitsbeziehungen darzustellen und damit die Begrndung wissenschaftlicher Stze auf die Basis einer einheitlichen exakten Wissenschaftssprache zu stellen. In diesem Sinne stellt das Leibnizprogramm in seiner ursprnglichen Form 4 5

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De organo sive arte magna cogitandi, C. 430, vgl. C. 220, C. 435, ferner Philos. Schr. VII, 185, 199. Die Leibniz-Handschriften der Kçniglichen ffentlichen Bibliothek zu Hannover, ed. E. Bodemann, Hannover 1889 – 1895, 80 f. (ebenfalls bereits zitiert und erlutert in Kapitel 3.2). Vgl. Chr. Thiel, Leibnizens Definition der logischen Allgemeingltigkeit und der „arithmetische Kalkl“, in: Theoria cum praxi. Zum Verhltnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des II. Internationalen Leibnizkongresses, Hannover, 12. bis 17. November 1977, III, Wiesbaden 1980 (Studia Leibnitiana Supplementa XXI), 580 f..

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

bei Leibniz selbst den Anfang der modernen Logik und der modernen Wissenschaftstheorie dar. Das gilt sowohl in einem durch Probleme der Syntax und Semantik formaler (und natrlicher) Sprachen abgesteckten Rahmen als auch hinsichtlich einer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, die heute im wesentlichen durch die Problemfelder Theorienstruktur, Theoriendynamik und Theorienexplikation charakterisiert wird. Whrend diese aber in erster Linie durch Aufgaben einer Analyse der Theorieform des wissenschaftlichen Wissens bestimmt ist und erst in zweiter Linie durch Aufgaben, die sich mit der Forschungsform des (wissenschaftlichen) Wissens verbinden, sucht Leibniz noch beiden Aufgaben in gleicher Weise gerecht zu werden. Dabei sttzt er sich auf einen eigentmlichen Apriorismus, den spter Kant mit Leibniz teilen wird. Er besagt, daß die ,Wahrheiten der Vernunft in der gesuchten Ordnung des Wissens zugleich die Wahrheiten der Welt, gemeint ist eine wissenschaftliche Welt, sind. Das ist, philosophisch gesehen, der inhrente Rationalismus des Leibnizprogramms und der ihm folgenden wissenschaftlichen Architektur einer Leibniz-Welt.

4.3 Leibnizprogramm II: Die Welt der Monaden Die Leibniz-Welt ist zweitens eine philosophische Welt (im engeren Sinne), organisiert durch ein Programm, das man in der Philosophie mit der Bezeichnung Monadologie versehen hat. Mit ihm sucht Leibniz eine Ordnung der Welt nicht ber eine Ordnung der Sprache, sondern – in der Sprache der philosophischen Tradition – ber die Ordnung einfacher Substanzen, deren symbolische Reprsentationen die Dinge sind, darzustellen. Ausgangspunkt sind (1) berlegungen zum Problem der Individuation, d. h. der Beantwortung der Frage ,wodurch wird ein Individuum in seiner Individualitt konstituiert?7, (2) Unterscheidungen in dynamischen Zusammenhngen und (3) mathematische Begriffsbildungen (Stichwort: ,Labyrinth des Kontinuums8). Leibniz beantwortet die Frage nach der Existenz elementarer Einheiten (auch im dynamischen Bereich) ber die

7

8

Vgl. K. Lorenz, Artikel: Individuation, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Mannheim/Wien/Zrich 1984, 227 – 229, berarbeitet: III, Stuttgart/Weimar 22008, 586 – 589. Vgl. Dissertatio exoterica de statu praesenti et incrementis novissimis deque usu geometriae (1675), Math. Schr. VII, 326.

4.3 Leibnizprogramm II: Die Welt der Monaden

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Bestimmung begrifflicher Einheiten9, bezeichnet als ,individuelle Substanzen, ,substantielle Formen oder ,erste Entelechien, schließlich (seit 1696) auch als Monaden. Das Besondere und beide Leibnizprogramme, das wissenschaftliche wie das im engeren Sinne philosophische, miteinander Verbindende ist, daß die Kennzeichnung individueller Substanzen bzw. Monaden dabei ber individuelle Begriffe erfolgt, die ihrerseits als vollstndige Begriffe konstruiert sind, d. h. als (unendliche) Konjunktion aller einem Individuum zukommender Prdikate.10 Hinter der Welt der Begriffe steht die Welt der Monaden. Konturen dieser seltsamen Welt werden deutlich, indem Leibniz seine Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffs um metaphysische Orientierungen erweitert, ohne daß diese Rekonstruktion ihren logischen Charakter verliert. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, daß (1) die Leibniz-These einer Reprsentanz des Universums in jeder Monade (Monaden ,spiegeln das Universum11) auf der mit der Konstruktion vollstndiger Begriffe gegebenen Mçglichkeit beruht, Aussagen ber beliebige Gegenstnde als Aussagen ber ein und denselben Gegenstand darstellen zu kçnnen. Es kommt ferner darin zum Ausdruck, daß sich (2) die Leibniz-These einer prstabilierten Harmonie 12 begreifen lßt als die Anwendung einer derartigen Mçglichkeit auf die (problematische) Annahme eines durch einen vollstndigen Begriff darstellbaren unendlichen Gesamtsystems. Der Leibnizsche Satz, daß es keine Interaktion zwischen Monaden gebe, jede Monade eine Welt fr sich sei, ist lediglich die dazu komplementre Bedeutung. Schließlich fhrt auch (3) die These, daß Monaden durch Perzeptionen konstituiert werden13, auf eine Theorie vollstndiger Begriffe bzw. auf begriffliche Bestimmungen im Sinne der eben erluterten Thesen (1) und (2) zurck: auch der Perzeptionensatz der Monadologie ist als Satz ber vollstndige Kennzeichnungen rekonstru9 Systme nouveau (1695), Philos. Schr. IV, 483. 10 Vgl. die ausfhrliche Darstellung in Kapitel 2. Details dieser Rekonstruktion bei J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 453 – 528. Zusammenfassung in: ders., Artikel: Monadentheorie, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Mannheim/Wien/Zrich 1984, 924 – 926. 11 Vgl. Discours de mtaphysique (1686) § 14, Philos. Schr. IV, 440; Principes de la philosophie ou la Monadologie § 56, Philos. Schr. VI, 616. 12 Vgl. Principes de la philosophie ou la Monadologie § 78, Philos. Schr. VI, 620. 13 Principes de la nature et de la grce fonds en raison (1714) § 2, Philos. Schr. VI, 598; Nouveaux essais sur lentendement humain (1704), Akad.-Ausg. VI/6, 55. Zum Folgenden die ausfhrliche Darstellung in Kapitel 2.3.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

ierbar. Wieder schließen sich die Welt der Begriffe und die Welt der Monaden. Das kommt bereits in der Parallelitt der Wendungen ,Prdikate im vollstndigen Begriff einer individuellen Substanz und ,Perzeptionen (in) einer individuellen Substanz zum Ausdruck. Entsprechend der Leibnizschen Theorie vollstndiger Begriffe tritt auch der Begriff einer Perzeption, diese definiert als ,innere Eigenschaft und Ttigkeit14 einer Substanz, im vollstndigen Begriff bzw. der vollstndigen Kennzeichnung der betreffenden Substanz auf: Alles das, was einer individuellen Substanz (Monade) widerfhrt, „ist nur die Folge ihrer Idee oder ihres vollstndigen Begriffs, da diese Idee bereits smtliche Prdikate oder Ereignisse enthlt und das Universum insgesamt ausdrckt. In der Tat kann uns nichts außer Gedanken und Perzeptionen begegnen“15. Perzeptionen gehçren damit zu den inneren Bestimmungen einer Monade16, nicht zu ihren ußeren. Zwar ist jeder inneren Bestimmung – Leibniz fhrt das Beispiel Meeresrauschen-Hçren an17 – eine ußere Bestimmung, nmlich als Wahrnehmungsdatum (,ich hçre Meeresrauschen), zugeordnet, doch treten diese ,wahrgenommenen Perzeptionen in vollstndigen Begriffen in Form kennzeichnender Prdikatoren nicht auf. Logisch gesehen gehçren ußere Bestimmungen in diesem Sinne nicht zum vollstndigen Begriff des prdizierenden Individuums, sondern zum vollstndigen Begriff des prdizierten Gegenstandes (Konstitution der ,Außenwelt). An die Stelle des empirischen Subjekts tritt ein logisches Subjekt. Dieser Gesichtspunkt, mit dem sich die Leibniz-Welt als eine Monadenwelt und die Monadologie als Projekt einer logischen Hermeneutik zu erkennen gibt, ist berzeugend von K. Lorenz unter Hinweis auf die in der Monadologie18 formulierte Reprsentanz des Einfachen, d.i. die Monade, durch das Zusammengesetzte, d.i. der Kçrper, herausgearbeitet worden: „weil der vollstndige Begriff eines Gegenstandes im allgemeinen nicht zur Verfgung steht, muß der zugehçrige Kçrper, ein Dies-da, ihn symbolisch ersetzen. Alexander, der empirische Mensch Alexander, muß die fehlende vollstndige Kennzeichnung (und a fortiori den Begriff) von Alexander, seine Seele also, ersetzen – symbolisch reprsentieren, sagt

14 15 16 17 18

Vgl. Principes de la nature et de la grce fonds en raison § 2, Philos. Schr. VI, 598. Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 440. Vgl. Principes de la nature et de la grce fonds en raison § 4, Philos. Schr. VI, 600. Nouveaux essais sur lentendement humain, Preface, Akad.-Ausg. VI/6, 54 f.. Principes de la philosophie ou la Monadologie § 61 ff., Philos. Schr. VI, 617 ff..

4.4 Die Perspektivitt der Welt

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Leibniz“19. Umgekehrt lßt sich die Zusammensetzung der Kçrper aus Monaden, ,das Eingehen der Monaden in die Zusammengesetzten20, gerade nicht als eine Teilbeziehung deuten; die Monade muß vielmehr „als begriffliche Artikulation des Zusammengesetzten, als ,einheitsstiftendes Prinzip primr ihres Kçrpers“21, aufgefaßt werden. Damit ist klar, „daß der Zusammenhang einfacher und zusammengesetzter Substanzen, also der Monaden und der Kçrper, gerade nicht durch ein synthetisches oder konstruktives Verfahren auf der Gegenstandsebene gegeben ist, sondern den Zusammenhang eines Gegenstandes mit seiner sprachlichen, genauer: begrifflichen, Reprsentation – mit dem Hilfsmittel des aus einer vollstndigen Kennzeichnung bestehenden Namens – betrifft“22. Die Welt der Sprache und die Welt der Monaden, hier die wissenschaftliche und die philosophische Welt, verbinden sich in einer philosophischen Analyse. Selbstverstndlich sind die Kçrper aus Teilen zusammengesetzt; eben deren Einheit aber liegt wieder in ihrer begrifflichen Artikulation, in einer Monade.

4.4 Die Perspektivitt der Welt Die Leibniz-Welt – das sollte in beiden vorgestellten Leibnizprogrammen zum Ausdruck kommen – ist nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein wissenschaftliches Faktum. Ihre wissenschaftliche und ihre philosophische Architektur ergnzen sich. Ihre Theorien sind Konstruktionen, in die wir aufnehmen, was wir von der Welt wissen, und in die wir unsere Vorstellungen, unsere wissenschaftlichen und unsere philosophischen Vorstellungen ber einen geordneten Aufbau der Welt und unseres Wissens stecken. Noch pointierter formuliert: nicht nur die Philosophie, auch die Wissenschaft hat ein monadologisches Wesen. Gemeint ist, daß wissenschaftliche Theorien zwar in ihrer Rationalitts- und Geltungsstruktur festgelegt sind, nicht jedoch in ihren (philosophischen) Deutungen, bzw. daß sie diese Deutungen nicht selbst festlegen. Dazu drei kurze Beispiele:

19 K. Lorenz, Die Monadologie als Entwurf einer Hermeneutik, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17.–22. Juli 1972, III (Metaphysik, Ethik, sthetik, Monadenlehre), Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa XIV), 323. 20 Principes de la philosophie ou la Monadologie § 1, Philos. Schr. VI, 607. 21 K. Lorenz, ebd. 22 K. Lorenz, a.a.O., 322.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

(1) Die mechanistische Tradition des 19. Jahrhunderts interpretiert das elektromagnetische Feld als Zustand eines mechanischen thers; Einstein hingegen faßt es als eigenstndige Grçße auf. Dabei handelt es sich um verschiedene (mçgliche) Auslegungen derselben Maxwellschen Theorie der Elektrodynamik. (2) In der Physik des 20. Jahrhunderts gibt es unterschiedliche Interpretationen der Quantenmechanik. Sie unterscheiden sich darin, ob sie die quantenmechanischen Unbestimmtheiten als Ausdruck eines wesentlichen Zufalls oder als Resultat einer bloß ungenauen Kenntnis der realisierten Randbedingungen betrachten. Letzteres wird z. B. bei einer Deutung durch verborgene Parameter unterstellt. (3) Es ist umstritten, ob der Allgemeinen Relativittstheorie tatschlich (wie Einstein selbst glaubte) eine relationale Raumtheorie adquat ist. Je nachdem, auf welche Weise man den klassischen Relationismus in die Begrifflichkeit der Relativittstheorie bersetzt, erhlt man unterschiedliche Antworten. Es ist (zumindest gegenwrtig) nicht mçglich, eine dieser bersetzungen eindeutig auszuzeichnen. Whrend also – und dies machen alle drei Beispiele deutlich – eine wissenschaftliche Theorie in der Regel durch Rationalitts- und Geltungskriterien eindeutig ausgezeichnet ist, gilt dies im Falle ihrer Deutungen nicht. Diese sind nicht eindeutig. In ihrem hermeneutischen Charakter weisen Deutungen, wie in diesem Falle naturphilosophische Deutungen, stets charakteristische Unsicherheiten auf, die sich auch durch eine rationale Rekonstruktion der einer Theorie zugrundeliegenden Prinzipien nicht vollstndig beheben lassen. Die Deutung der Quantentheorie unterscheidet sich hierin nicht wesentlich von einer Deutung der Theorie Kants von Raum und Zeit. Die Perspektivitt der Welt, die ein wesentliches Element einer Leibniz-Welt ist – bei Leibniz selbst in wissenschaftstheoretischer und monadologischer Form ausgedrckt –, erfaßt auch ihre Theorien und macht zugleich etwas deutlich, das im erkenntnistheoretischen Sinne das Wesen aller ,Wahrheit ist: die Aneignung des Gegenstandes durch seine Darstellung. Erst in ihren Darstellungen wird die Welt zu unserem Wissen. Das gilt fr wissenschaftliche Erklrungen ebenso wie fr philosophische Deutungen. Auch sie sind Darstellungen, die Prinzipien, nicht nur den Sachen, die sie darstellen, folgen. So konstituiert etwa, um diesmal zwei weit auseinanderliegende Beispiele zu nehmen, in der Physik ein Komplementarittsprinzip unsere Vorstellungen von den atomaren und subatomaren Erscheinungen und in der Geschichtswissenschaft ein Rezeptionsund Erkenntnisinteressenprinzip das, was wir Geschichte nennen. Die atomaren und die subatomaren Erscheinungen und die Geschichte stehen

4.5 Das Maß der Welt

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uns unabhngig von Physik und Geschichtswissenschaft bzw. physikalischen und historischen Theorien nicht zur Verfgung. Das heißt: Auch Erscheinungen, physikalische wie historische, sind in Wahrheit Darstellungen und folgen darin Prinzipien, die sich dem Dargestellten nicht einfach entnehmen lassen. Eben darum leben wir auch in der Wissenschaft in einer Leibniz-Welt. Oder, in einer Hegelschen Diktion ausgedrckt: Wie wir die Welt ansehen, so sieht sie uns an. Eine einfache Vernunft der Tatsachen, mit der wir uns gewissermaßen an unseren eigenen wissenschaftlichen oder philosophischen Darstellungen vorbeidenken kçnnten, gibt es nicht. Noch anders formuliert: In einer Leibniz-Welt ist das Gegenber des Wissens keine ,objektive Welt und das Gegenber der Welt kein ,objektives Wissen. Die Dinge sind vielmehr, wie wir sie sehen und darstellen – durch unsere alltglichen, lebensweltlichen Erfahrungen und durch unsere Theorien. Mit einer Einschrnkung: Wie sich die Dinge nicht an die Stelle von Erfahrungen und Theorien setzen kçnnen, so auch Erfahrungen und Theorien nicht an die Stelle der Dinge. Das ist zugleich eine Formel, die die Leibniz-Welt und ihr Begreifen vor einem falschen Relativismus bewahrt. Daß eine Theorie ihre Deutung in der Regel nicht festlegt, bedeutet nicht, daß jede Deutung, sei sie eine wissenschaftliche oder ein philosophische Deutung, gleich gut wre. Gegen einen derartigen Relativismus, vor dem alle Einsichten grau wrden, steht nicht nur die gebotene Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Geltungskriterien und ,monadologischen Deutungen einer Theorie, sondern auch die Einsicht, daß in der Formel von der Aneignung des Gegenstandes durch seine Deutung das konstruktive Wesen jeder Orientierung, der wissenschaftlichen wie der lebensweltlichen, zum Ausdruck kommt. ,Sich orientieren bedeutet eben weder, nur dem Gegebenen folgen, noch, sich in seinen Kopf zurckziehen. Orientierungen verbinden vielmehr die Welt mit dem Kopf, die Dinge mit ihrer Darstellung, das, was vor Augen liegt, mit einer Leibniz-Welt.

4.5 Das Maß der Welt Das Maß der Welt, das sich in einer Leibniz-Welt durch die ihr eigene Perspektivitt zur Geltung bringt, ist nicht nur ein erkenntnistheoretisches und wissenschaftstheoretisches Maß. Bei Leibniz selbst verbinden sich entsprechende Analysen mit praktisch-philosophischen, ethische und theologische Momente einschließenden berlegungen. Diese richten sich

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

auf eine Welt, die gewiß noch nicht das Produkt des wissenschaftlichen und des technologischen Wissens des Menschen, also Leonardo-Welt, ist. Sie ist aber die Welt, in der sich dieses Wissen – nicht zuletzt in Leibnizens eigener Arbeit, die ein universalwissenschaftliches Profil besitzt – zu bilden beginnt. Und insofern sich dieses Wissen auf eine enge Weise mit Vorstellungen ber das Wesen des Menschen und seiner Welt verbindet, lßt sich wohl auch an dieser Stelle noch immer aus Leibnizens Sicht der Dinge, der wissenschaftlichen wie der nicht-wissenschaftlichen Dinge, lernen. Jedenfalls folgen wir, indem wir jetzt unser Augenmerk auf diese Form einer Leibniz-Welt richten, seiner eigenen, eine philosophia perennis begrndenden Maxime, welche besagt, „daß der grçßte Teil der Lehren, die von den lteren berliefert und çffentlich anerkannt sind, wahr und richtig ist, wenn man nur einen rechten Dolmetscher und nicht einen lrmenden Spçtter findet“23. Leibnizens Sicht der Dinge scheint allerdings auf den ersten Blick auch hier reichlich ungewçhnlich, uns eigentmlich fremd zu sein: An der Stelle einer praktisch-philosophisch erweiterten Erkenntnistheorie des Wissens steht eine Theologie des Wissens. Die Rede ber das epistemische Wesen des Menschen, die das Wissen, auch das wissenschaftliche und technologische Wissen, zum Wesen auch der Welt des Menschen, hier einer LeibnizWelt, macht, verbindet sich mit der Rede von Gott. „Wir sehen alle Dinge durch Gott“, heißt es in der „Metaphysischen Abhandlung“ von 1686: „Man kann (…) sagen, daß allein Gott das unmittelbare Objekt außer uns ist, und daß wir alle Dinge durch ihn sehen. Wenn wir z. B. die Sonne und die Sterne sehen, so ist es Gott, der uns ihre Ideen gegeben hat und sie in uns bewahrt, der uns durch seine gewçhnliche Mitwirkung dazu bestimmt, wirklich an sie zu denken, wenn unsere Sinne, den von ihm aufgestellten Gesetzen gemß, in bestimmter Weise dazu disponiert sind.“24 Wissenschaft wird hier ein durch die Rede ber Gott, durch Theologie legitimiertes Unterfangen. Der Ordnung des Wissens geht eine Ordnung der Welt voraus. Nicht irgendeine Ordnung, sondern eine gçttliche. ,Objektive Rationalitt hat nach Leibniz ihren Grund in einer gçttlichen ,Subjektivitt, dem gçttlichen Intellekt.25 Gemeint ist der Gott des siebten 23 Fragment zur scientia generalis (um 1680), Philos. Schr. VII, 130 f. (dt. in: Schçpferische Vernunft. Schriften aus den Jahren 1668 – 1686, ed. W. v. Engelhardt, Mnster/Kçln 21955, 217). 24 Discours de mtaphysique § 28 / Metaphysische Abhandlung § 28, ed. H. Herring, Hamburg 1958, 70/71. 25 Vgl. A. Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin/New York 1974, 23 ff..

4.5 Das Maß der Welt

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Tages, „der Gott, der sein Werk beendet hat und es fr gut (…) hlt, und der deshalb nicht mehr auf sie und in ihr zu wirken braucht, sondern sie nur erhalten und in ihrer Existenz bewahren muß“26. Wer so denkt, fr den wird Wissenschaft selbst zu einem Stck Theologie. Eine „jegliche Wahrheit, ein jegliches Experiment oder Theorema“, so schreibt der 25jhrige Leibniz in seinem „Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Soziett in Deutschland zu Aufnehmen der Knste und Wissenschaften“, ist „als ein neuerfundener Spiegel der Schçnheit Gottes fr unschtzbar und hçher als der kostbarste Diamant zu achten, daher auch, was auf ehrliche gottesfrchtige und verstndige Leute zu Perfektionierung der Natur-Kndigung und realen Knste gewendet wird, pro piissima causa (fr eine hçchst gottgefllige Angelegenheit, Verf.) und Stiftung zur unerschçpflichen wahren Ehren Gottes gehalten werden muß“27. Vernunft und Religion, die in der Neuzeit auseinanderzutreten beginnen, erscheinen in dieser Vorstellung noch einmal vereint. Entsprechend schreibt Leibniz 1687 an Pierre Bayle: „Die wahre Physik muß aus der Quelle der gçttlichen Vollkommenheiten geschçpft werden. Gott ist die letzte Ursache der Dinge, und die Erkenntnis Gottes ist nicht weniger das Prinzip der Wissenschaften, als sein Wesen und Wille das Prinzip alles Daseins. Die Philosophie wird geheiligt, wenn man ihre Bche aus der Quelle gçttlicher Krfte herleitet. Statt die Endursachen und die Betrachtung einer weisen Macht von der Naturlehre auszuschließen, muß man vielmehr alles in der Natur daraus erklren. (…) Und auf diese Weise muß man die Religion mit der Vernunft versçhnen.“28 Indem wir alle Dinge, auch die physikalischen Dinge, durch Gott sehen, drckt nicht nur die Welt, sondern drcken auch die ,Geister, wie Leibniz sagt, Gott aus. Sie tun dies zugleich auf eine ungleich erhabenere Weise als die Welt, die sie zu erkennen suchen: „Da das ganze Wesen der Substanzen, ihr Zweck, ihr Vermçgen und ihre Aufgabe nur darin besteht, Gott und das Universum auszudrcken (…), so gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, daß diejenigen Substanzen, die das mit Bewußtsein dessen, was sie tun, ausdrcken und die in der Lage sind, die erhabenen Wahrheiten bezglich Gottes und des Universums zu erkennen, dies un26 A. Koyr, From the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore 1957, 1968, 240 f. (dt. Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt 1969, 217). 27 Leibniz. Die Hauptwerke, ed. G. Krger, Stuttgart 1958, 12. 28 Extrait dune lettre Mr. Bayle sur un principe gnral, utile lexplication des loix de la nature (1687), zitiert nach K. Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 41902, 571.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

vergleichlich besser ausdrcken als diejenigen Naturen, die entweder Tiere sind und unfhig zum Erkennen von Wahrheiten, oder vçllig ohne Empfindung und Bewußtsein; der Unterschied zwischen den vernnftigen Substanzen und denen, die es nicht sind, ist ebensogroß wie der, der zwischen einem Spiegel besteht und jemandem, der sieht.“29 Die Einheit der Welt in ihren Darstellungen, die Leibniz in der Monadologie als die Reprsentanz des Universums in jeder Substanz, in jeder Monade, in seiner Logik als die Mçglichkeit zu erlutern sucht, Aussagen ber beliebige Gegenstnde als Aussagen ber ein und denselben Gegenstand zu konstruieren, wird in dieser frommen Metaphorik als Einheit der Welt mit Gott und den erkennenden Subjekten beschrieben. Zugleich zieht Leibniz aus dieser Beschreibung den Schluß, daß auch die Moral mit der Metaphysik verbunden werden msse30 – nicht nur die Erkenntnissubjekte, auch die moralischen Subjekte sind in diese prstabilierte Harmonie zwischen Gott und Welt einbezogen. Es ist vor allem der kontemplative Charakter dieser harmonischen Synthese, der uns heute eine derartige Vorstellung vom Wissen und von der Stellung des Menschen in der Welt befremdlich erscheinen lßt. Theologische, kosmologische und anthropologische Metaphern, die sich zu der Metapher von der Einheit der Welt in Gott verbinden, beschreiben eine andere Welt. Nicht die Welt, in der wir leben, und wohl auch nicht die Welt, in der Leibniz lebte. Allerdings kommt es in der Philosophie auch nicht darauf an, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist – schon gar nicht, wenn es sich dabei um eine Leibniz-Welt handelt. Dieser deskriptiven Aufgabe dienen – so jedenfalls das wissenschaftliche Verstndnis schon in der beginnenden Neuzeit – die empirischen Wissenschaften. Worauf es dem Philosophen Leibniz ankommt, ist, die innere Ordnung dieser Welt, die nicht nur eine Ordnung der physischen Dinge und Prozesse ist, darzulegen. Und diese Ordnung ist nach Leibniz Spiegel einer gçttlichen Ordnung. Das heißt: das Maß der Welt, das sich zunchst erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch in der Perspektivitt der Welt zum Ausdruck bringt, ist ein gçttliches Maß – und das Maß der Wissenschaft ebenso. Wissen, so heißt es in einem Briefentwurf von 1714, ahmt ,die Architektur Gottes nach.31

29 Discours de mtaphysique § 35, a.a.O., 88/89. 30 Ebd. 31 An N. Remond, Philos. Schr. III, 623.

4.6 Die beste aller mçglichen Welten

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4.6 Die beste aller mçglichen Welten Die Architekturmetapher fhrt zusammen mit der Vorstellung, daß die Welt Spiegel Gottes sei, auf die zentrale Leibnizsche These, daß die wirkliche Welt die beste aller mçglichen Welten sei. „Man tadelt“, so heißt es in der „Metaphysischen Abhandlung“, „das Werk eines Baumeisters, wenn man zeigt, daß er es htte besser machen kçnnen.“32 Und in der „Theodizee“ von 1710, in der Leibniz den philosophischen Nachweis fr seine These zu erbringen sucht, wird von ihm weiter ausgefhrt: Die „hçchste Weisheit (konnte) in Verbindung mit einer Gte, die nicht weniger unendlich ist als sie, nur das Beste whlen (…). Denn da ein geringeres bel eine Art Gut ist, ist ebenso ein geringeres Gut eine Art bel, wenn es einem grçßeren Gut hinderlich ist, und es wrde an den Handlungen Gottes etwas zu rgen sein, wenn es ein Mittel gab, es besser zu machen. Und wie in der Mathematik, wenn es kein Maximum und kein Minimum, kurzum, nichts Bestimmtes gibt, alles gleichmßig geschieht oder, wenn das nicht mçglich ist, gar nichts geschieht, so kann man auch bezglich der Weisheit, die nicht minder geregelt ist als die Mathematik, behaupten, daß, wenn es keine beste (optimum) unter allen mçglichen Welten gbe, Gott gar keine geschaffen haben wrde“. Es gibt „unendlich viele mçgliche Welten (…), von denen Gott die beste gewhlt haben muß, da er nichts tut, ohne der hçchsten Vernunft gemß zu handeln.“33 Eine derartige Vorstellung, so sehr sie in ihrer Argumentationsstruktur im Grunde der noch immer frommen Naturphilosophie der beginnenden Neuzeit entsprach, ist schon von Zeitgenossen mit Ironie und beißendem Spott berzogen worden. Erfahrung, in diesem Falle eine sehr lebensweltliche und lebenskluge Erfahrung, tritt gegen philosophische Konstruktionen an. Am eindrucksvollsten in den Erfahrungen Candides34, dessen Hauslehrer Panglosse auf einem westflischen Schloß ein berzeugter Leibnizianer ist. Panglosse vermochte, so eine hbsche ,Kurzfassung des Anfangs dieser mißlichen Erfahrungen, „in trefflicher Manier nachzuweisen, daß es keine Wirkung ohne Ursache gebe, daß in dieser besten aller Welten das Schloß des Herrn Baron das schçnste aller Schlçsser und die Frau Baronin die beste aller Baroninnen sei. Um das 32 § 3, a.a.O., 6/7. 33 Essais de thodice sur la bont de Dieu, la libert de lhomme et lorigine du mal § 8, Philos. Schr. VI, 107 (dt. in: Philosophische Schriften II/1, ed. H. Herring, Darmstadt 1985, 219 ff.). 34 Voltaire, Candide ou loptimisme (1759).

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

Prinzip des zureichenden Grundes auch mit der Tat zu erproben, treibt er mit der Kammerzofe im Gebsch etwas, was Voltaire als Unterricht in der Experimentalphysik umschreibt. Die Tochter des Barons, Cungonde, belauscht ihn dabei, erkennt die Ursachen und die Wirkungen und ihre Verknpfung und mçchte nun ebenfalls in dieser Form unterrichtet werden. Sie erwhlt sich fr diesen Zweck den jungen Candide, denn sie ist der Meinung, sie kçnne sehr wohl fr ihn und er wiederum fr sie der zureichende Grund werden.“35 Mit mißlichen Folgen. Der Baron entdeckt das ,Experiment und jagt Candide aus dem Haus. Auch Cungonde und Panglosse geht es nach einem berfall des Schlosses durch Bulgaren nicht besser. Nach entbehrungsreichen Irrfahrten treffen sich alle auf einem kleinen Landgut am Marmara-Meer wieder. Man ist Leibnizianer geblieben, trotz allem – auch wenn die Devise jetzt heißt: ,Arbeiten wir, ohne viel zu grbeln. Kein Zweifel, es fllt schwer, in der Welt des Philosophen die eigene Welt wiederzuerkennen. Dennoch steckt hinter dieser Leibniz-Welt mehr als nur ein oberflchlicher und weltfremder Optimismus. Leibniz hat seine Vorstellung theoretisch zu untermauern versucht, unter anderem durch Hinweis auf die Geltung von Extremalprinzipien in der Physik. Das sind Stze der Physik, die physikalische Systeme beschreiben, in denen ein Parameter einen Extremwert, meist ein Minimum wie im Falle des so genannten ,Prinzips der kleinsten Wirkung, annimmt. Auf diese Details soll hier nicht nher eingegangen werden. Entscheidend ist, daß Leibniz seine These von der (verborgenen) Vernnftigkeit der Tatsachen, die er nicht nur durch physikalische, sondern auch durch erkenntnistheoretische Grnde zu untermauern sucht, zur These von der Vernnftigkeit der Welt erweitert. Nichts anderes ist auch mit der Wendung ,beste aller mçglichen Welten gemeint. Worauf es Leibniz ankommt, ist der Nachweis, daß die Welt durchgngig vernnftig und intelligibel ist.36 Eine derartige Voraussetzung wird von ihm als Konsequenz anderer Sachverhalte, z. B. auch Gottes Vernnftigkeit, dargestellt. Sie ist gleichwohl der eigentliche Ausgangspunkt seines Denkens. Darin erweist er sich, rckblickend betrachtet, auf der Seite Hegels: was ist, ist vernnftig. Und auch bei Hegel wird spter unklar sein, ob diese Vorstellung im Sinne einer Voraussetzung zu verstehen ist – einer Voraussetzung, unter der man versucht, die Dinge zum Sprechen zu bringen – oder im Sinne 35 W. Hbener, Sinn und Grenzen des Leibnizschen Optimismus, Studia Leibnitiana 10 (1978), 224. 36 Vgl. Theodizee § 76, Philos. Schr. VI, 143.

4.6 Die beste aller mçglichen Welten

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einer Behauptung – der Behauptung nmlich, daß eine derartige Vernunft bereits realisiert sei. Nun gibt es noch eine ganz andere Mçglichkeit, Leibnizens so grotesk erscheinende These von der besten aller mçglichen Welten zu verstehen. Dazu muß man sich verdeutlichen, daß diese These eben nicht nur etwas mit theoretischer Vernunft, etwa im Sinne physikalischer Aussagen ber die Welt, sondern auch etwas mit praktischer Vernunft, der Art, wie wir uns in der Welt handelnd an ethischen Maßstben orientieren, zu tun hat. In diesem Falle stnde nicht die Beschreibung einer vernnftigen Welt, die zugleich unsere Welt wre, auf der philosophischen Tagesordnung, sondern die Herstellung einer solchen Welt, die unsere Welt werden kçnnte. Vernunft wre hier nicht als theoretische Struktur der Welt verstanden, sondern als das Prinzip des sittlich Guten, dessen Wirksamkeit die Welt zu einer vernnftigen machen kçnnte. „Der Wille ist“, so heißt es in der „Theodizee“, „im allgemeinen auf das Gute gerichtet, er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen.“37 Die uns zustehende ,Vollkommenheit konstituiert in diesem Falle nichts anderes als eine ,beste Welt. Sie wre das ,Maß des moralisch Guten, von dem es an anderer Stelle heißt, daß es die ,Regel der Vernunft darstelle.38 Was ,mehr Vernunft auf seiner Seite hat, realisiert auch das ,Maß des moralisch Guten besser als das, was weniger Vernunft hat. Eine ,moralische Welt39 ist in diesem Sinne eine vernnftige Welt, und diese ist die beste aller mçglichen Welten. Gewiß, auch in dieser Vorstellung kommt ein ungewçhnliches Vertrauen in die Leistungsfhigkeit der Vernunft und in eine zuknftige Vernnftigkeit der Welt zum Ausdruck. Doch sttzt sich dieses Vertrauen weniger auf eine erkennbare gçttliche ,Architektur der Welt, als vielmehr auf die Kraft vernnftiger berzeugungen. Leibnizens Ethik, die sich hier mit der Formel von der besten aller mçglichen Welten ein eher fremd anmutendes theoretisches Aussehen verschafft, ist eine Vernunftethik, die auf die regulative Kraft von Prinzipien setzt, keine Wertethik, die auf materiale ,exklusive Zugnge und Einsichten in das, was das Gute und das Gerechte heißt, pocht. Eben hierin steckt der eigentliche, der Ironie weit schwerer zugngliche Leibnizsche Vernunftoptimismus. Die Vernnftigkeit der Welt – wenn man denn noch so reden will – liegt in ihrer argumentativen Struktur, auch in ethischen Dingen, nicht so sehr in ihrer ontologischen Struktur (auch wenn Leibniz selbst stets daran festgehalten 37 § 33, Philos. Schr. VI, 122. 38 Nouveaux essais sur lentendement humain II 28, § 6, Akad.-Ausg. VI/6, 250. 39 Principes de la philosophie ou la Monadologie § 86, Philos. Schr. VI, 622.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

hat, daß beide Strukturen Ausdruck ein und derselben ,Perfektion der Welt sind). Dieser Vernunftoptimismus kommt etwa in der folgenden Bemerkung zum Ausdruck: „Je mehr wir mit Vernunft handeln, desto mehr werden wir von den Perfektionen unserer Natur bestimmt, d. h. wir sind frei.“40 Das bedeutet: Vernunft ist unserer Natur nichts Fremdes, Entgegenstehendes. Im Gegenteil: Vernunft ist unsere Natur. Kant wird spter das gleiche in der berzeugung zum Ausdruck bringen, daß der Mensch nur im Vernunftgebrauch seiner Natur verbunden bleibt.41 Die Vernnftigkeit der Welt – das ist in erster Linie die Vernnftigkeit der Natur des Menschen. In ihr verschafft sich Ausdruck, was im Rahmen der Leibnizschen Metaphysik auch Ausdruck der Welt selbst, und ihres abbildhaften Verhltnisses zu Gott, ist. Daher gilt aber auch mutatis mutandis vom Menschen, was nach Leibniz, auf dem Hintergrund der Theodizeeproblematik, von Gott gilt: „Die Macht geht auf das Sein, die Weisheit oder der Verstand auf das Wahre und der Wille auf das Gute.“42 Es sind diese drei Elemente, die nach Leibniz das Maß einer Leibniz-Welt bestimmen, in der sich nicht nur das rationale Wesen Gottes, so der fromme Leibniz, sondern auch das rationale Wesen des Menschen, nicht zuletzt in Form der Wissenschaft, entfalten soll.

4.7 Theoria cum praxi In einem derartigen Maß drckt sich nicht nur ein Wissen, sondern auch Verantwortung aus. Verantwortung fr eine Welt, die der Mensch nicht gemacht hat, deren Ordnung er jedoch als eine Leistung der Vernunft, in dieser philosophischen Optik: der Vernunft Gottes, zu begreifen vermag. Dieses Begreifen soll zugleich, wie wir gesehen haben, das Handeln bestimmen: Welt und Tun haben eine gemeinsame vernnftige Orientierung. Einer derartigen Orientierung dienen bei Leibniz auch die Wissenschaften. Nicht nur in jenem zunchst diagnostizierten kontemplativen 40 De libertate, zitiert bei F. Kaulbach, Das Labyrinth der Freiheit, in: Akten des internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14.–19. November 1966, I, Wiesbaden 1968 (Studia Leibnitiana Supplementa I), 50. 41 Vgl. J. Mittelstraß, Kant und die Dialektik der Aufklrung, in: J. Schmidt (Ed.), Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 353 ff. (in diesem Band Kapitel 12). 42 Theodizee § 7, Philos. Schr. VI, 107 (dt. 218/219).

4.7 Theoria cum praxi

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Sinne, der etwa auch darin zum Ausdruck kommt, daß Leibniz meinte, auch die Mathematik solle der Theologie dienen (um ihr ein hçhere Maß an Gewißheit zu geben). Was theoretisch ist, ist vielmehr nach Leibnizens Auffassung, in anderer Weise, d. h. bezogen auf seine Wirkungen, stets auch praktisch. Schon als Student ergnzt Leibniz in einem zeitgençssischen Metaphysiklehrbuch die Regeln des Seins, zu denen neben der Regel „kein Sein ist absolut“ auch die Regel „kein Sein ist so niedrig, daß es keine angemessene Wirkung hat“ durch den Hinweis „und ein wertloses Mitglied der Republik des Seins wird“43. In einem ,Reich der Geister verbinden sich theoretische und praktische Formen des Wissens. Die Leibnizsche Formel dafr lautet: theoria cum praxi. Sie besagt: „Wenn wir die Disziplinen an und fr sich betrachten, sind sie alle theoretisch; wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Anwendung betrachten, sind sie alle praktisch.“44 Und sie besagt ferner, daß man die Disziplinen, die Wissenschaften praktisch, d. h. anwendungsbezogen, zu machen habe. Den Weg dahin sah Leibniz in der Grndung von Akademien (von den Universitten und ihrer Leistungsfhigkeit hielt er offenbar wenig). Am 12. Mrz 1700 schreibt er an Jablonski, den spteren Prsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften (1733 – 1740): „Ich htte gern etwas mit der Zeit, davon ein realer Nutz und nicht bloße Curiositten zu erwarten.“45 Gesucht sind Leute, die „sonderlich (…) auf gemeinntzige Applicationes bedacht wren“46. Entsprechend heißt es dann auch in Leibnizens „Denkschrift ber die Errichtung einer Churfrstlichen Societt der Wissenschaften“ (1700): „Solche Churfrstliche Societt mßte nicht auf bloße Curiositt oder Wissensbegierde und unfruchtbare Experimenta gerichtet seyn, oder bey der bloßen Erfindung ntzlicher Dinge ohne Application und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris, London und Florenz geschehen (…); sondern man mßte gleich anfangs das Werk sammt der Wissenschaft auf den Nutzen richten, und auf solche Specimina denken, davon der hohe Urheber Ehre, und das gemeine Wesen ein mehrers zu erwarten Ursach habe. Wre demnach der Zweck, theoriam cum praxi zu vereinigen, und nicht allein die Knste und die Wissen43 Notae ad Joh. Henricum Bisterfeldium, Akad.-Ausg. VI/1, 155. Vgl. L. E. Loemker, Das ethische Anliegen des Leibnizschen Systems, in: Akten des internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14.–19. November 1966, IV, Wiesbaden 1969 (Studia Leibnitiana Supplementa IV), 67. 44 Dissertatio de arte combinatoria (1666), Akad.-Ausg. VI/1, 229. 45 Deutsche Schriften, I–II, ed. G. E. Guhrauer, Berlin 1838/1840, II, 145. Dazu und zum Folgenden ausfhrlicher Kapitel 5. 46 A.a.O., 146.

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

schaften, sondern auch Land und Leute, Feld-Bau, Manufacturen und Commercien, und mit einem Wort die Nahrungs-Mittel zu verbessern.“47 Auch an praktischen Beispielen fr diesen Praxisbezug fehlt es nicht. Ein besonders hbsches Beispiel ist die empfohlene Einrichtung einer Anstalt gegen Feuer-Schden: „Zum Exempel, eines der ntzlichsten Dinge, zum Besten Land und Leute wre eine gute Anstalt gegen FeuerSchden. Und weil nunmehro vortreffliche Mittel dagegen ausgefunden, welche in Machinis und mathematischen Grund beruhen, so kçnnten alle große und kleine Stdte in allen Churfrstlichen Landen damit aufs vortheilhafteste versehen, und ein Theil des fundi Societatis zufçrderst darin gesuchet werden, indem alle Brger, nach Werth ihrer Huser, ein leidliches jhrlich zu Anschaffung und Erhaltung der Brandspritzen und dazu gehçriger Mittel zu contribuiren htten, solches auch, als zu ihrer Wohlfahrt gereichend, von Herzen gern thun wrden, welches dann also zu fassen, daß ein merklicher Ueberschuß bleibe, welcher zu nichts anders, als ad cassam Societatis Scientiarum anzuwenden, damit sie besser im Stand sey, mehr dergleichen Landersprießliche Dinge auszufinden, oder zu veranstalten.“48 Wie man sieht, ist auch das Geschftliche in diesem Beispiel aufs beste geregelt. Und mehr noch. Leibniz wendet sich mit visionrem Blick, der kaum mehr etwas von seinen philosophischen Reflexionen ber die Vernnftigkeit einer Leibniz-Welt und eine kontemplative Form der Wissenschaft erkennen lßt, gegen eine offenbar schon zu seiner Zeit starke Wissenschaftsskepsis. Um 1680 schreibt er in einem seiner vielen wissenschaftssystematischen Entwrfe: „Es gibt (…) Menschen, die sich einbilden, daß die Vernunft uns nur qulen kann, und daß man die Wahrheit mit Absicht fliehen muß, statt sie zu suchen, da sie nur dazu dient, unser Elend zu vermehren, indem sie uns unsere Nichtigkeit allzusehr erkennen lßt. Viele sind davon berzeugt, daß von den Wissenschaften und den Fertigkeiten nur die materiellsten, wie die Mechanik und die Mathematik, von einiger Zuverlssigkeit sind, whrend die brigen nur als schçne Trugbilder dazu dienen, diejenigen bequem zu ernhren, die sie betreiben, und dazu, um die Vçlker bei ihrer Pflicht zu halten. Man erwartet so lange nichts von der Medizin, als bis man krank ist; man macht sich ber das Recht lustig, solange man keinen Prozeß am Halse hat, und man spielt sich als Freigeist der Theologie gegenber auf bis zu dem Augenblicke, in dem man an das 47 Deutsche Schriften II, 268. 48 A.a.O., 271 f..

4.7 Theoria cum praxi

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Sterben denken muß.“49 Und weiter (mit einer hbschen, anderen Form von Wissenschaftsskepsis verbunden): „Sehen wir nicht jeden Tag neue Entdeckungen, nicht nur in der Technik, sondern auch in der Philosophie und in der Medizin? Warum sollte es nicht mçglich sein, eines Tages bis zu einer wirklich bedeutenden Erleichterung unserer Leiden zu gelangen? Man wird mir erwidern, daß bereits so viele Jahrhunderte mit wenig Erfolg daran gearbeitet haben. Wenn man aber die Dinge recht betrachtet, so haben die meisten, die die Wissenschaft betrieben, einander nur abgeschrieben oder sich die Zeit angenehm vertrieben. Es ist fast eine Schande fr das menschliche Geschlecht, die kleine Anzahl derjenigen zu sehen, die wirklich gearbeitet haben, um Entdeckungen zu machen. Wir verdanken fast alles, was wir wissen (von zuflligen Entdeckungen abgesehen), einigen zehn Personen; die brigen haben sich nur erst auf den Weg gemacht, voranzukommen.“50 Wissenschaft, mit anderen Worten, dient nicht nur der Ehre Gottes, sondern auch den Bedrfnissen und der Vernunftnatur des Menschen. Sie dient darber hinaus der Orientierung in einer Welt, die schon zu Leibnizens Zeiten immer unbersichtlicher zu werden beginnt. Ob dabei seine Vorstellungen von einem Maß der Wissenschaft, das sich aus der Einheit von gçttlicher, weltlicher und menschlicher Vernunft ergibt, heute noch praktikabel sind, steht dahin. Nicht jedoch die Leibnizsche Vorstellung, daß es eines Maßes bedarf, um auch die Wissenschaft als Ausdruck der vernnftigen Natur des Menschen und seiner Welt begreifen zu kçnnen. Unsere Probleme, die Probleme einer Leonardo-Welt, waren (noch) nicht Leibnizens Probleme. Dafr hat Leibniz erkannt, was wir oft zu vergessen scheinen und dessen wir doch gerade in unserer Situation, in der Situation einer Leonardo-Welt, am dringlichsten bedrften: daß nmlich Verfgungswissen, d. h. ein positives Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel, mit dem wir ber die Welt verfgen, und ein Orientierungswissen, d. h. ein regulatives Wissen um begrndete Ziele und Zwecke, mit dem wir uns in der Welt und in unserem eigenen Leben orientieren, zusammengehçren. Von dem einen, dem Verfgungswissen, haben wir heute eher zu viel, von dem anderen, dem Orientierungswissen, eher zu wenig. Die Leibnizsche Frage nach einem Maß der Wissenschaft ist auch die Frage, ob Wissenschaft noch die Funktionen eines Orientierungswissens bernehmen kann. Fr Leibniz war das klar, fr uns ist es heute nicht mehr klar. 49 C. 333 (dt. in: Schçpferische Vernunft [vgl. Anm. 23], 180 f.). 50 A.a.O., 334 (dt. 182).

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4. Philosophie in einer Leibniz-Welt

4.8 Die Ethik einer Leibniz-Welt Die Leibniz-Welt, wie wir sie bei Leibniz selbst kennengelernt haben, ist eine Orientierungswelt, und sie ist darin eine philosophische Welt. Das bedeutet nicht, daß sie nicht mehr unsere Welt ist. Unsere Welt ist zwar in erster Linie eine Leonardo-Welt, eine Welt, die das Werk des Menschen ist, die aber auch die Tendenz hat, sich den Menschen selbst zum Werk zu machen, dem Menschen sein Wesen und seine Perspektiven zuzuweisen, doch schließt auch diese Welt Elemente einer Leibniz-Welt ein. Sie zwingt den Menschen, eine eigene Perspektive einzunehmen, damit die in einer Leonardo-Welt drohende berantwortung des Menschen an seine Welt nicht stattfindet. Dazu mssen wir nicht gleich (wie Leibniz) die Vernnftigkeit der Welt unterstellen, aber wir mssen sie wollen. Hinzu kommt, daß jede Deutung der Welt auch das Bild des Menschen von sich selbst verndert. Der Mensch wird durch die Wahl einer Perspektive auf die Welt selbst ein anderer. Also ist jede Leonardo-Welt auch eine LeibnizWelt und jede Leibniz-Welt auch eine Leonardo-Welt. Wenn aber die Leibniz-Welt eine philosophische Welt ist, dann kommt auch der Philosophie in dieser Welt und in unserer Welt, die hinsichtlich ihrer Darstellungs- und Deutungsstrukturen eine Leibniz-Welt und hinsichtlich ihrer Werk- und Aneignungsstrukturen eine Leonardo-Welt ist, eine besondere Aufgabe zu. Um dieser Aufgabe zu entsprechen, muß sie sich selbst verndern und hat sie sich auch in Teilen verndert. Sie muß in gewissem Sinne wieder zu einer Leibniz-Philosophie werden – nicht dem philosophischen Buchstaben nach, Philosophie mit philosophischen Erinnerungen verwechselnd, sondern ihrem philosophischen Wesen nach. So muß sie analytische Schrfe und konstruktive Kraft dort zur Geltung bringen, wo in der Gegenwart die Konturen des Zuknftigen sichtbar werden, und sie muß in einer Welt auseinanderlaufender Rationalitten, in einer Welt, in der Expertenkleinkram die Kammern unseres Bewußtseins besetzt, die Idee einer Einheit der Welt und einer Einheit der Rationalitt wachhalten. Dabei soll die Philosophie gewiß nicht dem Zeitgeist das Wort reden, aber sie soll auch nicht am Zeitgeist vorbei ihre philosophischen Wolken schieben. Eben das tut sie, wenn sie sich in ihren Subjekten nur noch als den spten Intimus eines Klassikers versteht oder das philosophische Denken mit Tiefsinn und Dunkelheit verwechselt. Gesucht ist, mit anderen Worten, eine Philosophie, die nicht lnger beharrlich zu spt kommt, wenn die Gestalten des Lebens grau geworden sind und die Welt ihren Frieden mit dem Unfrieden und der Unvernunft geschlossen hat, sondern die ihre

4.8 Die Ethik einer Leibniz-Welt

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Programme der Aufklrung und einer Modernisierung der Welt fest in die Hand nimmt, die mit den Wissenschaften aufbricht, auch deren Wege geht, nicht meidet, die sich selbst wissenschaftlicher und die Wissenschaften philosophischer macht. Philosophie, die nicht erschrickt und nicht errçtet, wenn sie auf die Welt trifft, die sich in ihr vielmehr wiedererkennt und die an ihrem eigenen vernnftigen Wesen und dem Wesen einer vernnftigen Welt arbeitet. Philosophie ist (noch einmal) Aufklrung, die Wahrnehmung des Ganzen in seinen Teilen, Konstruktivitt und Widerspruch. Kurzum: Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Das ist hier mit einer Leibniz-Philosophie gemeint. Wir kçnnen also in der Tat von Leibniz lernen. Von seinem Philosophiebegriff, desgleichen, daß die Welt unter Darstellungs- und Orientierungsaspekten eine Leibniz-Welt ist und eine Leibniz-Welt bleibt. Und dies gilt auch fr die Wissenschaften. Weder die Vernunft noch die Welt ist einfach gegeben. Beide sind vielmehr, in ihren verwirklichten wie in ihren defizienten Formen, das Resultat der Arbeit des Menschen, der wissenschaftlichen wie der philosophischen Arbeit und vieler anderer Arbeitsweisen auch. Niemand hat das klarer gemacht und bewußter zur Grundlage seines eigenen Denkens genommen als Leibniz selbst. In Leibnizens Denken und Tun wird das, was hier die Leibniz-Welt genannt wurde, wirklich. Nicht nur in ihren theoretischen Aspekten, in Wissenschaftstheorie und Monadologie, sondern auch in ihren praktischen, ethischen Aspekten. Deshalb gilt es auch diese Dimension des Leibnizschen Denkens in unsere Zeit hinberzuholen. Es geht um die Wiedergewinnung der Philosophie und der Ethik einer Leibniz-Welt fr eine Leonardo-Welt.

5. Der Akademiegedanke Auch in der Akademie spiegelt sich eine Leibniz-Welt. Ihrer Leibnizschen Idee nach soll sie ein Verfgungswissen, das sie selbst in seiner wissenschaftlichen Form schafft, mit einem Orientierungswissen, das dem wissenschaftlichen Wissen nahebleibt, zu einer vernnftigen Welt verbinden. Es geht in der Idee der Akademie um die Ethik einer Leibniz-Welt fr eine Leonardo-Welt.

5.1 Aller Anfang ist schwer Um 1671 notiert Leibniz mit sicherem Blick fr das Gegebene und das Machbare, daß, um „den Schçpfer zu loben und dem Nechsten zu nuzen“, unter einem „hohen Stiffter“ diejenigen, die ber Verstand, und diejenigen, die ber Macht verfgen, zusammengefhrt werden sollten. Dazu sei „die aufrichtung einer wiewohl anfangs kleinen, doch wohl gegrndeten Societt oder Academi, eines der leicht- und importantesten (Mittel)“1. 30 Jahre spter ist es endlich so weit. Der Philosoph Adolf Trendelenburg, mehr als 150 Jahre nach Grndung Sekretr der Berliner (Kçniglichen) Akademie der Wissenschaften, faßt anlßlich der çffentlichen Sitzung zur Feier des Leibnizschen Jahrestages am 1. Juli 1852 die Ereignisse knapp zusammen: „Die Akademie der Wissenschaften hat sich heute, am Geburtstage Leibnizens, versammelt, um das Andenken des Mannes zu feiern, an dessen unsterblichen Namen sich ihr eigener Ursprung anknpft. Die Kurfrstin Sophie Charlotte, die erste Kçnigin, eine Frau von hohem und großem Geist, gab zu dem Gedanken einer Societt der Wissenschaften die nchste Gelegenheit, welche Leibniz, der ihrem Vertrauen nahe stand, ergriff. Er entwarf den Plan. Kçnig Friederich I. grndete darnach die Akademie und ersah Leibniz zu ihrem ersten Prsidenten.“2 1

2

Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societt in Tetschland zu auffnehmen der Knste und Wißenschafften, Akad.-Ausg. IV/1, 534 f. (§ 18), 536 (§ 24). A. Trendelenburg, Leibniz und die philosophische Thtigkeit der Akademie im vorigen Jahrhundert. Ein Vortrag, gehalten am Gedchtnistage Leibnizens, am 1. Juli 1852, in der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1852, 1.

5.1 Aller Anfang ist schwer

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Tatschlich hatte sich Leibniz bei der Realisierung seiner Akademieplne mit einer Frau verbunden, die beides, Verstand und Macht, besaß. 1697 hatte Sophie Charlotte die wohl von Daniel Ernst Jablonski, Hofprediger in Berlin, ab 1733 Prsidenten der Akademie, und Johann Jakob Chuno, Geheimem Kabinettsarchivar und ab 1700 Mitglied des Konvents der Akademie, entwickelten ursprnglichen und von Daniel Ludolf Danckelman, dem Oberprsidenten des Geheimen Rates gebilligten Plne aufgegriffen, in Berlin ein Observatorium nach dem Vorbild von Paris zu bauen.3 Leibniz verbindet diese Plne, ber die er mit Schreiben vom 20. Mrz 1700 von Jablonski unterrichtet worden war4, sofort mit seinem bereits 1695 in entsprechenden Denkschriften vorgetragenen, auf Entwrfe seit 1668 zurckgehenden Projekt einer großen naturwissenschaftlichen Akademie. Berlin, so Leibniz schmeichelnd, sei mit Salomon (gemeint ist Friedrich III.) und der Kçnigin von Saba (gemeint ist Sophie Charlotte) ohnehin ein Zentrum der Wissenschaften und der Knste.5 Doch daraus wird zunchst nichts; der Sturz Danckelmans kommt dazwischen. Erst Kalenderprobleme, nmlich der Beschluß der evangelischen Reichsstnde im September 1699, den julianischen Kalender abzuschaffen und, statt zum gregorianischen Kalender berzugehen, eine eigene, den protestantischen Staaten nunmehr selbst zugewiesene Kalenderreform zu betreiben, bringt die Dinge wieder in Gang. Leibniz 3

4 5

Vgl. C. Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten, Heidelberg/Berlin/Oxford 1993, 60 ff.; H.-St. Brather (Ed.), Leibniz und seine Akademie. Ausgewhlte Quellen zur Geschichte der Berliner Soziett der Wissenschaften 1697 – 1716, Berlin 1993, 46 – 64 (8. Die gemeinsamen Denkschriften von Jablonski und Chuno). Abgedruckt bei H.-St. Brather, a.a.O., 48 – 49. Brief vom 14. 12. 1697 an Sophie Charlotte, in: Die Werke von Leibniz (Reihe 1: Historisch-Politische und Staatswissenschaftliche Schriften), I–XI, ed. O. Klopp, Hannover 1864 – 1888 (im Folgenden zitiert als Klopp), X, 40. Zur Errichtung und zur Geschichte des Observatoriums vgl. E. Knobloch, Astronomie, in: T. Buddensieg/K. Dwell/K.-J. Sembach (Eds.), Wissenschaften in Berlin (Begleitband II zur Ausstellung „Der Kongress denkt“ vom 14. Juni bis 1. November 1987 in der wiedererçffneten Kongresshalle Berlin), Berlin 1987, 45 – 49; ders./B. Weiss, Astronomen und Astrophysiker in Berlin, in: W. Treue/G. Hildebrandt (Eds.), Berlinische Lebensbilder I. Naturwissenschaftler, Berlin 1987, 79 – 90. Zum Zusammenwirken von Sophie Charlotte und Leibniz vgl. J. Mittelstraß, Der Philosoph und die Kçnigin – Leibniz und Sophie Charlotte, in: H. Poser/A. Heinekamp (Eds.), Leibniz in Berlin, Wiesbaden 1990 (Studia Leibnitiana Sonderheft 16), 9 – 27; in diesem Band Kapitel 7.

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5. Der Akademiegedanke

schlgt im Februar 1700 ein kurbrandenburgisches Kalendermonopol vor, aus dessen Ertrgen sich ein Observatorium samt einer Soziett der Wissenschaften finanzieren lasse. Jablonski legt am 19. Mrz 1700 dem Kurfrsten eine mit Leibniz und anderen abgestimmte Denkschrift vor, die „ein vollstndig Collegium oder Academias Scienciarum in Physicis, Chimicis, Astronomicis, Geographicis, Mechanicis, Opticis, Algebraicis, Geometricis, und dergleichen ntzlichen wissenschafften“6 vorsah, und empfiehlt Leibniz als Prsidenten. Bereits am gleichen Tage stimmt Friedrich III. zu. Auf seine Einladung reist Leibniz im Mai nach Berlin, verfaßt dort im Juni/Juli mehrere Denkschriften zur Finanzierung der Soziett, die von der Besteuerung von Auslandsreisen der brandenburgischen Jugend ber die Einfhrung neuartiger Feuerspritzen, an denen auch die Soziett verdienen sollte, bis zur Etablierung einer Lotterie zu ihren Gunsten reichen, und wird am 12. Juli, nachdem Friedrich III. am Vortage die Stiftungsurkunde unterzeichnet hatte, zum Prsidenten der Soziett ernannt (drei Tage spter, am 15. Juli, zum brandenburgischen Geheimen Justizrat). Leibniz hat die Akademie nicht erfunden, ebensowenig wie Jablonski oder Chuno. Der Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit war schon wesentlich frher von den traditionellen Bildungsinstitutionen, den Klçstern und Universitten, in Akademien bergegangen, z. B. mit den italienischen Akademiegrndungen, der „Accademia delle Crusca“ (1584), der „Accademia dei Lincei“ (1603) und der von Galilei-Schlern gegrndeten „Accademia del Cimento“ (1657), der Grndung der „Royal Society“ (1660), deren Vorgeschichte bis 1645 zurckreicht7, der „Acadmie FranÅaise“ (1635), der „Acadmie des Sciences“ (1666, durch Colbert) und der 1677 in den Stand einer Reichsakademie erhobenen „Leopoldina“. Aber Leibniz gibt dem Akademiegedanken einen neuen programmatischen Inhalt. Schon in seinem „Grundriß eines Bedenckens“ um 1671, desgleichen im (unabgeschlossenen) „Bedencken von aufrichtung einer Academie oder Societt in Tetschland, zu Aufnehmen der Knste und Wißenschafften“ aus der gleichen Zeit8 und einer um 1690 entstandenen weiteren Denkschrift9 kristallisiert sich eine Akademie heraus, die einen wesentlichen Teil eines philosophischen Konzepts, 6 7 8 9

In H.-St. Brather, a.a.O., 50. Vgl. C. Grau, a.a.O., 64. Vgl. D. McKie, The Origins and Foundation of the Royal Society of London, in: H. Hartley (Ed.), The Royal Society: Its Origins and Founders, London 1960, 1 – 37. Akad.-Ausg. IV/1, 543 – 552. Mmoire pour des personnes claires et de Bonne intention, Klopp X, 7 – 21.

5.1 Aller Anfang ist schwer

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nmlich die Idee einer Leibniz-Welt realisieren und als wissenschaftliches Unternehmen in stndiger Zusammenarbeit mit der (gesellschaftlichen) Praxis stehen sollte. Ihr Zweck sollte es sein, „Theoreticos Empiricis felici connubio zu conjungiren und mit einem des andern defectus zu suppliren“10. Die bekannte Leibnizsche Formel dafr lautet: theoria cum praxi. 11 Allerdings sind Leibnizens Akademieplne in vieler Hinsicht interessanter als ihre Berliner Realisierung. In den ersten 10 Jahren kommt die Akademie ohnehin nicht auf die Beine; ihre Finanzierung ist vçllig unzureichend, ihre feierliche Erçffnung lßt bis 1711 auf sich warten, und Leibniz ist fern.12 Er lßt sich nach Hannover berichten, aber er fhrt nicht; in Berlin ist er zwischen 1700 und 1711 nur sechs Mal fr insgesamt 36 Monate prsent. Erst 1744, mit der Umkonstituierung durch Friedrich II., kommt die Akademie langsam aus ihren Schwierigkeiten und ihrem eher provinziellen Zuschnitt heraus. Auch diese schließlich doch noch positive, mit weiteren Akademiegrndungen verbundene Entwicklung wre mçglicherweise ausgeblieben, wenn sie sich nicht auf dem Hintergrund einer andauernden Verfallsgeschichte der Universitten vollzogen htte. Bis 1818 halbiert sich die Zahl der Universitten im deutschen Sprachgebiet. 22 Universitten, darunter die Universitten Bonn, Erfurt, Frankfurt/Oder, Kçln und Mnster, schließen ihre Pforten, nachdem sich viele zuvor an Bedeutungslosigkeit gegenseitig berboten hatten.13 In einem elend langen Bildungsroman „Carl von Carlsberg oder ber das menschliche Elend“ (1773 – 1788) schreibt der dem Basedow-Kreis in Dessau angehçrende Christian Gotthilf Salzmann: „Die Einrichtung unserer Universitten ist in Zeiten gemacht worden, da die Welt noch arm an Bchern war, und ein Mann, der lesen und schreiben konnte, unter die Seltenheiten gehçrte. Und fr diese Zeiten mochten sie sehr ntzlich seyn. In unsern Tagen machen sie aber eine (…) elende Figur.“14 Nichts wie Halbbildung wird diagnostiziert und, von einem anderen Pdagogen, Unheilbarkeit attestiert. So schreibt Joachim Heinrich Campe, wie Salzmann Lehrer am Dessauer Philanthropinum: „Das bel ist, so viel ich sehen kann, unheilbar. Es liegt in der wesentlichen 10 Akad.-Ausg. IV/1, 538. Vgl. H.-St. Brather, a.a.O., XX. 11 Erste Denkschrift von 1700, in: Deutsche Schriften, I–II, ed. G. E. Guhrauer, Berlin 1838/1840, II, 268; H.-St. Brather, a.a.O., 72. 12 Vgl. H.-St. Brather, a.a.O., XXXI–XLIV; C. Grau, a.a.O., 66 ff.. 13 Vgl. H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universitt und ihrer Reformen, Dsseldorf 21970, 21 ff.. 14 Chr. G. Salzmann, Carl von Carlsberg oder ber das menschliche Elend, I–VI, Leipzig 1783 – 1788, I, 319.

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5. Der Akademiegedanke

Form der Universitten, die nicht anders als mit den Universitten selbst aufgehoben werden kann. Alle bisher versuchte und knftig etwa noch zu versuchende Heilmittel sind nur so viel Palliative, wodurch der Schaden zwar vor ungebten Augen versteckt, auch in einzelnen, obgleich seltenen Fllen vielleicht gemindert, aber nie von Grund aus gehoben werden kann.“15 Die Philanthropen blasen zum Sturm, allerdings zu schwchlich, um selbst die Universitt aus ihrer Krise zu fhren. Schließlich fllt ihnen (wie auch vielen modernen Krisenbewltigern im Universittswesen) nichts anderes ein als weitere Verschulung. Sarkastisch hlt Paulsen in seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ in bezug auf çsterreichische Verhltnisse fest: „Es fehlte der Glaube an die menschliche Natur; wie die Kirchenlehre den Satz zum Angelpunkt hat, daß der Mensch von Natur nichts Gutes tut, so beruhte die çsterreichische Staatspdagogik auf der Anschauung, daß er von Natur nichts lernen wolle, wenigstens nicht das Rechte. Der alte Aristoteles war anderer Ansicht.“16 Aber Aristoteles hatte sich schon zu seiner Zeit und spter im so genannten Aristotelismus auch der hohen Schulen mit seiner auf prinzipielle Offenheit des Wissenschaftsprozesses dringenden Forschungskonzeption gegen seine Bewunderer und Schler nicht durchsetzen kçnnen. So bleibt nichts anderes brig, als das produktive Wissen aus den Universitten herauszufhren – in die Akademien. Eben dies ist, zusammen mit weiterreichenden Vorstellungen ber eine Verwandlung der Welt in Philosophie und Wissenschaft, der Kern schon der Leibnizschen Akademiekonzeption.

5.2 Theoria cum praxi Nach Leibniz sollen Wissenschaft und Philosophie (gemeint ist eine ebenso wissenschaftsbezogene wie lebensweltrelevante Philosophie) ber die institutionelle Form der Akademien den Weg in die Lebenswelt, die Welt der gemeinsamen Bedrfnisse und Probleme, finden. Was theoretisch ist, ist in anderer Weise, z. B. bezogen auf seine Wirkungen, immer auch praktisch. Schon als Student hatte Leibniz in einem zeitgençssischen Metaphysik15 J. H. Campe, Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft practischer Erzieher, I–XVI, Hamburg etc. 1785 – 1792, XVI, 164. 16 F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, I–II, Berlin/ Leipzig 1919/1921, II, 115 f..

5.2 Theoria cum praxi

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lehrbuch die philosophisch erhabenen „Regeln des Seins“, zu denen neben der Regel „kein Sein ist absolut“ auch die Regel „kein Sein ist so niedrig, daß es keine angemessene Wirkung hat“ durch den Hinweis „und ein wertloses Mitglied der Republik des Seins wird“17 ergnzt. In einem ,Reich der Geister sollen sich theoretische und praktische Formen des Wissens miteinander verbinden. Und eben dafr lautet die Leibnizsche Formel: theoria cum praxi. Sie besagt: „Wenn wir die Disziplinen an und fr sich betrachten, sind sie alle theoretisch; wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Anwendung betrachten, sind sie alle praktisch.“18 Und sie besagt ferner, daß die Disziplinen, die Wissenschaften praktisch, d. h. anwendungsbezogen, gemacht werden sollen. Am 12. Mrz 1700 schreibt Leibniz in diesem Sinne an Jablonski: „Ich htte gern etwas mit der Zeit, davon ein realer Nutz und nicht bloße Curiositten zu erwarten.“19 Gesucht sind Leute, die „sonderlich (…) auf gemein-ntzige Applicationes bedacht wren“20. Entsprechend heißt es dann auch in Leibnizens erster Denkschrift von 1700: „Solche Churfrstliche Societt mßte nicht auf bloße Curiositt oder Wissensbegierde und unfruchtbare Experimenta gerichtet seyn, oder bey der bloßen Erfindung ntzlicher Dinge ohne Application und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris, London und Florenz geschehen (…); sondern man mßte gleich anfangs das Werk sammt der Wissenschaft auf den Nutzen richten, und auf solche Specimina denken, davon der hohe Urheber Ehre, und das gemeine Wesen ein mehrers zu erwarten Ursach habe. Wre demnach der Zweck theoriam cum praxi zu vereinigen, und nicht allein die Knste und die Wissenschafften, sondern auch Land und Leute, Feld-Bau, Manufacturen und Commercien, und mit einem Wort die Nahrungs-Mittel zu verbessern.“21 Das bedeutet, daß Wissenschaft und Technik im Leibnizschen Sinne ihre Leistungsfhigkeit in Problembereichen zeigen sollen, die auch heute noch ihre zentralen Anwendungsbereiche, unter ihnen berbevçlkerung und Krankheit, sind. Auch an praktischen Beispielen fr diesen konsequenten Praxisbezug fehlt es nicht. Ein besonders hbsches Beispiel ist die empfohlene, zuvor schon zitierte Einrichtung einer Anstalt gegen FeuerSchden: „Zum Exempel, eines der ntzlichsten Dinge, zum Besten Land 17 18 19 20 21

Notae ad Joh. Henricum Bisterfeldium, Akad.-Ausg. VI/1, 155. Dissertatio de arte combinatoria (1666), Akad.-Ausg. VI/1, 229. Deutsche Schriften II, 145; H.-St. Brather, a.a.O., 44. Deutsche Schriften, 146; H.-St. Brather, a.a.O., 44. Deutsche Schriften II, 268; H.-St. Brather, a.a.O., 71 f.. Dazu schon Kapitel 4.7.

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5. Der Akademiegedanke

und Leute wre eine gute Anstalt gegen Feuer-Schden. Und weil nunmehro vortreffliche Mittel dagegen ausgefunden, welche in Machinis und mathematischen Grund beruhen, so kçnnten alle große und kleine Stdte in allen Churfrstlichen Landen damit aufs vortheilhafteste versehen, und ein Theil des fundi Societatis zufçrderst darin gesuchet werden, indem alle Brger, nach Werth ihrer Huser, ein leidliches jhrlich zu Anschaffung und Erhaltung der Brandspritzen und dazu gehçriger Mittel zu contribuiren htten, solches auch, als zu ihrer Wohlfahrt gereichend, von Herzen gern thun wrden, welches dann also zu fassen, daß ein merklicher berschuß bleibe, welcher zu nichts anders, als ad cassam Societatis Scientiarum anzuwenden, damit sie besser im Stand sey, mehr dergleichen Landersprießliche Dinge auszufinden, oder zu veranstalten.“22 Nebenbei ist, wie man sieht, auch das Geschftliche in dieser Vorstellung aufs beste geregelt. Trendelenburg, in seiner bereits zitierten Gedchtnisrede, hat fr diese realistische Einstellung noch eine andere, der Philosophie in ihrer akademischen Gestalt nicht sonderlich gewogene Erklrung: „In demselben Maße, als die Eigenthmlichkeit theoretischer Ansichten wchst, wchst in ihnen eine ausschließende, abstoßende Kraft, welche die Gemeinschaft hindert. Wo der Gedanke, wie in der Philosophie, sich selbst Aufgabe wird, da weicht er immer mehr aus der gemeinsamen Arbeit vereinigter Krfte in die isolirte Thtigkeit des still in sich schaffenden Geistes. Zwar wirkt die Mittheilung auch im Theoretischen belebend und berichtigend; aber der praktische Zweck fordert die Vereinigung der Krfte und die Hlfe gemeinsamer Mittel viel dringender. So geschah es, daß Leibniz der Philosophie in der Societt der Wissenschaften keine eigene Stelle anwies.“23 Leibniz selbst htte wohl nicht ganz so streng geurteilt. Fr ihn ist auch Wissenschaft Philosophie, nur auf eine andere, konkrete Weise betrieben. Eben deshalb ist aber auch der Philosoph, nicht allein der Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisator Leibniz gemeint, wenn Trendelenburg die Akademie darauf verpflichtet, ein ,unvergnglicher Leibniz zu sein24. Im brigen bleibt auch die Leibnizsche Akademie, nicht nur in ihren Anfangsjahren, offenbar hinter ihren eigenen Ntzlichkeitsvorstellungen weit zurck. 1798 mahnt Friedrich Wilhelm III. in einer Kabinettsorder eben diese Ntzlichkeit an: „Ich kann der Akademie nicht bergen, daß das Ganze ihrer Arbeiten mir immer nicht genug auf den allgemeinen Nutzen 22 A.a.O., 271 f.; H.-St. Brather, a.a.O., 74. 23 A.a.O., 11. 24 A.a.O., 24.

5.2 Theoria cum praxi

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hingerichtet zu seyn schien. Man hat sich zu sehr darauf eingeschrnkt, abstrakte Gegenstnde auseinander zu setzen, die Methapysik und spekulativen Theorien mit gelehrten Endeckungen zu bereichern, und man hat nicht daran gedacht, die Einsichten auf wahrhaft ntzliche Gegenstnde zu richten, auf die Vervollkommnung der Knste und Gewerke (…). Ich wnschte daher, daß die Akademie zu Berlin sich so zu sagen mehr humanisirte, als bis dahin geschehen ist, daß sie weniger die spekulativen Untersuchungen begnstigte, als die Bemhungen, zum Glck des gemeinen Lebens, und zur Vervollkommnung alles dessen beizutragen, was mit seinen Bedrfnissen und Vergngen in Verbindung steht; daß sie die Nazional-Industrie wekte (…); daß sie die verschiedenen Systeme der sittlichen und gelehrten Erziehung von den unbestimmten und irrigen Grundstzen reinigen mçge, welche die Mode und die Fantasie einiger exaltirten Pdagogen eingefhrt haben, und welche das Verderben der Nachkommen besorgen lassen; daß sie eben so die Vorurtheile und den Aberglauben des Volks unterdrcken mçge, als die zgellosen und zerstçrenden Grundstze der falschen Philosophie unserer Zeit.“25 In Sachen Ntzlichkeit fhren die Wege von Universitt und Akademie offenbar schon damals wieder zusammen: die eine, die Universitt, will sie nicht, die andere, die Akademie, leistet sie nicht. Nun reimen sich auch bei Leibniz selbst nicht alle Akademiekonzeptionen allein auf Ntzlichkeit in dem hier angemahnten Sinne. Dafr sorgt schon der Philosoph Leibniz, um den sich Trendelenburg in seiner Gedchtnisrede wohl auch ein wenig besorgt zeigt. So sollte die Akademie nach Leibniz nicht zuletzt institutioneller Ausdruck der Einheit der Wissenschaft sein, deren wissenschaftstheoretisches Konzept er in zahlreichen Entwrfen zu einer mathesis universalis bzw. einer scientia generalis darzulegen suchte, d. h. in der Darstellung wissenschaftlicher Strukturen durch mechanisch bzw. kalklmßig kontrollierbare Abhngigkeitsbeziehungen (deren Basis wiederum das Konzept einer einheitlichen exakten Wissenschaftssprache bildet). Zeitweilig dachte Leibniz sogar daran, die Ausarbeitung einer derartigen mathesis universalis oder scientia generalis berhaupt einer Akademie zu bertragen, die sich aus den Ertrgen seiner Erfindungen im Harzbergbau finanzieren sollte.26 Als organisatorischer 25 Jahrbcher der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Dritten 2 (1798), 187 ff.. 26 Schreiben an Herzog Johann Friedrich vom Herbst 1678, Februar (?) und 29. 3. 1679, Akad.-Ausg. I/2, 79 – 89, 120 – 126, 153 – 161. Vgl. H.-St. Brather, a.a.O., XXII.

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5. Der Akademiegedanke

Ausdruck einer derartigen Einheit der Wissenschaft schwebte Leibniz wiederum eine Ordnung von Akademien vor, die sich zu einer Art Weltakademie verbinden sollten. Schon um 1669 hatte er, der Tradition utopischen Denkens verpflichtet, das Konzept einer international angelegten, hier noch mçnchisch organisierten „Societas philadelphica“ formuliert27, die sich vor allem mit Medizin, aber auch schon mit Manufakturen und Kommerzien befassen sollte. Was heute unter den Begriff einer Internationalisierung der Wissenschaftsverhltnisse gefaßt ist, war nach Leibniz die primre Aufgabe eines Akademiensystems, das nicht nur der eigentlichen Produktion des (wissenschaftlichen) Wissens und seiner Anwendung, sondern eben auch dessen Systematisierung und kommunikativer Vergegenwrtigung dienen sollte. Nationale und regionale Akademien, wie sie Leibniz selbst nach der erfolgreichen (fr ihn in mancher Hinsicht aber auch enttuschenden) Berliner Akademiegrndung in Dresden, St. Petersburg und Wien zu grnden suchte, hatten dieser Konzeption nach nicht nur einen wissenschaftsorganisatorischen, bis in die Wissenschaftsverwaltung und die Kultur- und Bildungspolitik reichenden, sondern auch und vor allem einen wissenschaftssystematischen Sinn.28 Dieser Sinn, der sich schon zu Leibnizens Zeiten und spter nicht realisieren ließ, ist heute in gleichem Maße, in dem auch die Idee einer Einheit der Wissenschaft ber der Regie von Spezialisierung um jeden Preis und Partikularisierung der Fcher und Disziplinaritten aus den (wissenschaftlichen und wissenschaftssystematischen) Augen gert, blaß geworden.

5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt Doch Leibniz hatte noch Hçheres, nmlich (doch wieder) Philosophisches, im Sinn als die Einheit und die Internationalisierung der Wissenschaft. Die Welt, auch die Welt der Bedrfnisse und der Probleme, schließlich auch die Welt der Akademien, sollte sich (wie schon erwhnt) in eine Leibniz-Welt verwandeln.29 Damit ist eine Welt gemeint, ber die der Mensch nicht

27 Akad.-Ausg. IV/1, 552 – 557. Vgl. H.-St. Brather, a.a.O., XIX. 28 Vgl. W. Totok, Leibniz als Wissenschaftsorganisator, in: A. Heinekamp/I. Hein (Eds.), Leibniz und Europa, Hannover 1994, 129 ff.. 29 Zu diesem Begriff und zum Folgenden (an einigen Stellen in erneuter Wiederaufnahme) vgl. J. Mittelstraß, Philosophie in einer Leibniz-Welt, in: I. Marchlewitz/A. Heinekamp (Eds.), Leibniz Auseinandersetzung mit Vorgngern und

5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt

117

allein mit seinen Bedrfnissen und Problemen, sondern auch und vor allem mit seinen Deutungen verbunden ist, und zwar – und das verbindet diese Vorstellung wieder mit dem Akademiegedanken – in Philosophie- und Wissenschaftsform. Schon Leibniz weiß, daß die Aneignung der Welt durch den Menschen, zu der dieser nicht nur durch einen mythischen Auftrag Gottes, sondern auch durch seine eigene Natur und um der Zukunft seiner Welt willen aufgerufen ist, wenn sie denn nicht direkt unser ,handanlegendes Tun (Husserl), Pflgen und Bauen betrifft, ber Darstellungen erfolgt, ber Theorien und Erklrungen, eben in Philosophieund Wissenschaftsform. Das Ergebnis dieser Aneignung der Welt durch ihre Darstellung ist eine Leibniz-Welt, deren eigentmliche Intellektualitt spter Kant mit Leibniz teilen wird. Sie besagt, daß die ,Wahrheiten der Vernunft in der gesuchten Ordnung des Wissens zugleich die Wahrheiten der Welt sind. Das ist nicht nur ungemein philosophisch gesehen, sondern auch der inhrente Rationalismus des Leibnizschen Denkens und der ihm folgenden philosophischen und wissenschaftlichen Architektur einer Leibniz-Welt. Zu dieser Architektur gehçrt auch der Begriff der Perspektivitt. Philosophische und wissenschaftliche Theorien sind – auch das sei an dieser Stelle noch einmal mit Blick auf Kapitel 4.4 wiederholt – als Darstellungen Konstruktionen, in die wir aufnehmen, was wir von der Welt wissen, und in die wir unsere philosophischen und wissenschaftlichen Vorstellungen ber einen geordneten Aufbau der Welt und unseres Wissens ber die Welt stecken. Erst in diesen Konstruktionen wird die Welt zu unserer Welt und zu unserem Wissen. Das lßt sich auch in einer Hegelschen Diktion ausdrcken: Wie wir die Welt ansehen, so sieht sie uns an; eine einfache Vernunft der Tatsachen, mit der wir uns an unseren wissenschaftlichen oder philosophischen Darstellungen vorbeidenken kçnnten, gibt es nicht. Oder noch erkenntnistheoretischer formuliert: In einer Leibniz-Welt bildet das Gegenber des Wissens keine ,objektive Welt und das Gegenber der Welt kein ,objektives Wissen. Die Dinge sind vielmehr, wie wir sie sehen und darstellen – durch unsere alltglichen, lebensweltlichen Erfahrungen und durch unsere philosophischen und wissenschaftlichen Theorien. Whrend eine wissenschaftliche Theorie in der Regel durch Geltungskriterien eindeutig ausgezeichnet ist, gilt dies fr ihre Deutungen nicht. Die mechanistische Tradition des 19. Jahrhunderts interpretierte z. B. das elektromagnetische Feld als Zustand eines mechanischen thers; Zeitgenossen, Stuttgart 1990 (Studia Leibnitiana Supplementa XXVII), 1 – 17; in diesem Band Kapitel 4.

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5. Der Akademiegedanke

Einstein faßt es als eine eigenstndige Grçße auf. Dabei handelt es sich um verschiedene (mçgliche) Deutungen derselben Maxwellschen Theorie der Elektrodynamik. Deutungen (nicht nur die philosophischen, auch die wissenschaftlichen) sind nicht eindeutig. Und doch lçsen sie die Welt nicht auf. Denn wie sich die Dinge nicht an die Stelle von Erfahrungen und Theorien setzen kçnnen, so auch Erfahrungen und Theorien nicht an die Stelle der Dinge. Das ist zugleich eine Formel, die die Leibniz-Welt und ihr Begreifen vor einem falschen Relativismus bewahrt. Daß eine Theorie ihre Deutung in der Regel nicht festlegt, bedeutet nicht, daß jede Deutung, sei sie eine wissenschaftliche oder eine philosophische Deutung, gleich gut wre. Gegen einen derartigen Relativismus, vor dem alle Einsichten grau wrden, steht nicht nur die gebotene Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Geltungskriterien und Deutungen einer Theorie, sondern auch die Einsicht, daß in der Formel von der Aneignung des Gegenstandes durch seine Deutung bzw. seine Darstellung das konstruktive Wesen jeder Orientierung, der wissenschaftlichen wie der lebensweltlichen, zum Ausdruck kommt. ,Sich orientieren bedeutet eben weder, nur dem Gegebenen folgen, noch, sich in seinen Kopf zurckziehen. Orientierungen verbinden vielmehr die Welt mit dem Kopf, die Dinge mit ihrer Darstellung, das, was vor Augen liegt, mit einer Leibniz-Welt. Sie verbinden das Wissen auch mit unseren Bedrfnissen und unseren Problemen. Und eben darin schließt sich fr Leibniz auch der Kreis um die Konstruktion einer Leibniz-Welt und die Aufgaben einer ebenso theoretischen wie praktischen Akademie. Dabei wendet sich schon Leibniz mit einem geradezu visionren Blick, der nichts von Traumtnzen der Philosophie und wissenschaftlichen Elfenbeintrmen erkennen lßt, gegen eine offenbar schon zu seiner Zeit erkennbare Wissenschaftsskepsis. Um 1680 notiert er: „Es gibt (…) Menschen, die sich einbilden, daß die Vernunft uns nur qulen kann, und daß man die Wahrheit mit Absicht fliehen muß, statt sie zu suchen, da sie nur dazu dient, unser Elend zu vermehren, indem sie uns unsere Nichtigkeit allzu sehr erkennen lßt. Viele sind davon berzeugt, daß von den Wissenschaften und den Fertigkeiten nur die materiellsten, wie die Mechanik und die Mathematik, von einiger Zuverlssigkeit sind (…). Man erwartet so lange nichts von der Medizin, als bis man krank ist; man macht sich ber das Recht lustig, so lange man keinen Prozeß am Halse hat, und man spielt sich als Freigeist der Theologie gegenber auf bis

5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt

119

zu dem Augenblicke, in dem man an das Sterben denken muß.“30 Und weiter mit einer hbschen, einer anderen Form von Wissenschaftsskepsis verbundenen und nicht weniger realistischen Bemerkung: „Wenn man (…) die Dinge recht betrachtet, so haben die meisten, die die Wissenschaft betrieben, einander nur abgeschrieben oder sich die Zeit angenehm vertrieben. Es ist fast eine Schande fr das menschliche Geschlecht, die kleine Anzahl derjenigen zu sehen, die wirklich gearbeitet haben, um Entdeckungen zu machen. Wir verdanken fast alles, was wir wissen (von zuflligen Entdeckungen abgesehen), einigen zehn Personen; die brigen haben sich nur erst auf den Weg gemacht, voranzukommen.“31 Der Weg der Akademien sollte ein solcher Weg sein; die Beurteilung dieses Weges durch Leibniz steht noch aus. Philosophie und Wissenschaft, damit auch die Akademien im Leibnizschen Sinne, dienen der Ehre Gottes (wie der fromme Leibniz an keiner Stelle unerwhnt lßt), der Bewltigung von Problemen und zu befriedigenden Bedrfnissen sowie der Vernunftnatur des Menschen, die sich in ihnen Ausdruck verschafft. Sie dienen darber hinaus der Orientierung in einer Welt, die schon zu Leibnizens Zeiten lngst keine natrliche, d. h. sich auf natrliche Ordnungen berufende, Welt mehr ist. Dabei drften seine Vorstellungen von einem philosophischen und wissenschaftlichen Maß, in dem sich gçttliche und menschliche Vernunft miteinander verbinden, heute kaum mehr Realisierungschancen haben, sehr wohl aber seine Einsicht, daß es eines Maßes bedarf, um Philosophie und Wissenschaft als Ausdruck der vernnftigen Natur des Menschen und seiner Welt, die Welt der Bedrfnisse und Probleme eingeschlossen, begreifen zu kçnnen. Schließlich hat schon Leibniz erkannt (auch das sei noch einmal wiederholt), daß ein Verfgungswissen, d. h. ein positives Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel, mit dem wir in Wissenschaftsform ber die Welt verfgen, und ein Orientierungswissen, d. h. ein regulatives Wissen um begrndete Ziele und Zwecke, mit dem wir uns in der Welt orientieren, zusammengehçren. Die Leibnizsche Frage nach einem Maß von Philosophie und Wissenschaft ist auch die Frage, ob Philosophie und Wissenschaft noch die Funktionen eines Orientierungswissens bernehmen kçnnen. Fr Leibniz war das klar, fr uns ist es nicht mehr klar.

30 C. 333 (dt. in: Schçpferische Vernunft. Schriften aus den Jahren 1668 – 1686, ed. W. v. Engelhardt, Mnster/Kçln 21955, 180 f.). Auch diese und die folgende Bemerkung bereits in Kapitel 4.7. 31 A.a.O., 334 (dt. 182).

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5. Der Akademiegedanke

Natrlich leben wir (und die Akademien) heute in einer anderen Welt als Leibniz, und auch unsere Konstruktionen, mit denen wir die Welt erklren und sie zukunftsfhig zu machen suchen, fgen sich zu keiner Leibniz-Welt mehr zusammen. Wir leben in einer Welt, die wir mit unserem wissenschaftlichen und technologischen Wissen geschaffen haben. Diese Welt hatte Leibniz bereits ins Auge gefaßt. Wir leben aber auch in einer Welt, der wir, obgleich wir sie geschaffen haben, zunehmend gehçren. Die wachsende Anonymitt des Fortschritts, das Auseinandertreten von Wissen und Information, die Auflçsung der Natur in technikbestimmte (,artifizielle) Umwelten und zunehmende biologische Manipulationsmçglichkeiten, mit denen der Mensch seine Evolution in die eigene Hand nimmt, sind Beispiele fr diese neuartige, von Leibnizens rationalen Visionen nicht erfaßte Struktur, die sich auch als Aneignung des Menschen durch seine (moderne) Welt beschreiben lßt. Wir leben nicht nur in einer Leibniz-Welt, mit der wir ber unsere philosophischen und wissenschaftlichen Rationalitten verbunden bleiben, sondern auch in einer Welt – als Leonardo-Welt bezeichnet32 –, deren Werk wir selbst zu werden beginnen. Das mag daran erinnern, daß dies nicht das Gesetz ist, nach dem die moderne Welt angetreten war, und mit Leibniz an eine Sicht der Dinge, die ganz anders ist. Dabei gilt sicher, daß wir nicht einfach an Leibnizens fromme Weltansicht, die z. B. mit seiner These von der besten aller mçglichen Welten und mit seinen praktischen Vorstellungen ber die Bedrfnisstruktur der Gesellschaft und die Leistungsfhigkeit der Wissenschaft verbunden bleibt, anknpfen kçnnen. Anders jedoch im Hinblick auf Leibnizens eindringliche Verbindung von Denken und Tun, die nicht nur eine theoretische oder anwendungsbezogene ist, sondern auch und in erster Linie eine ethische. Die Vernnftigkeit der Welt, die Leibniz in philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht unterstellt, ist nichts mehr, wovon wir einfach ausgehen kçnnen, aber sie bleibt etwas, das wir wollen sollten. Schließlich geht es schon bei Leibniz selbst nicht nur um die Beschreibung einer vernnftigen Welt, die zugleich unsere Welt wre, sondern um die Herstellung einer solchen Welt, die unsere Welt werden kçnnte. Diese Leibnizsche Vorstellung gilt es auch in unsere Zeit hinberzuholen. Es geht, pointiert formuliert, um die Wiedergewinnung der Ethik einer Leibniz-Welt fr eine Leonardo-Welt, und es geht wohl auch um die Erneuerung derjenigen Institution, der Leibniz diese Synthese, in 32 Vgl. J. Mittelstraß, Leonardo-Welt. ber Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt 1992.

5.3 Die Akademie in einer Leibniz-Welt

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Erweiterung des Prinzips theoria cum praxi, zutraute, nmlich der Akademie. Doch hier drfte eher Skepsis geboten sein. So wird man schon skeptisch sein wollen, ob sich die altgewordene Leibnizsche Akademie dessen berhaupt noch bewußt ist. Ihre Wirklichkeit, die zudem die Wissenschaft hufig nur noch zu verwalten scheint, statt sie in neue theoretische und praktische Dimensionen zu fhren, spricht dagegen. Aber man kann auch optimistisch sein, daß in unserer Zeit gelingen kçnnte, was in der Geschichte der deutschen Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen tatschlich erst zweimal, mit der Leibnizschen Akademie und der Humboldtschen Universitt, gelungen ist, nmlich eine grundlegende Reform des Wissenschafts- und Bildungswesens. Die Leibnizsche Akademie hat, ebenso wie die Humboldtsche Universitt, einen langen historischen Atem; sie sollte auch die Luft und die Kraft fr eine maßgebliche institutionelle Reform von Wissenschaft und Bildung haben, und zwar, getreu den Prinzipien einer Leibniz-Welt, in theoretischer und in praktischer Hinsicht. Harnack schreibt in seiner großen Geschichte der Berliner Akademie, daß die Soziett bis 1710 „niemals lebendig gewesen (war) – nur ihre Seele, Leibniz, war lebendig“33. Vielleicht ist es in den Akademien wieder einmal an der Zeit fr eine neue Seele, einen neuen Leibniz.

33 A. Harnack, Geschichte der Kçniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, I – III, Berlin 1900, I/1, 183.

6. Calculemus? Die Bedingungen des Wissens liegen weder in den Phnomenen noch in der Wahrnehmung, sondern in der Arbeit des konstruierenden Verstandes. In ihm hebt sich der Gegensatz zwischen dem Natrlichen und dem Artifiziellen, dem Konkreten und dem Abstrakten, dem Anschaulichen und dem Begrifflichen, dem Lebenshaften und dem Maschinenhaften, dem Atmenden und dem Rechnenden auf. Wenn eine Welt zurckschaut, um sich im Spiegel ihres Werdens zu betrachten, richtet sich ihr Blick mit Vorliebe auf ihre Grnder. Schließlich ist sie nicht Natur, sondern das Produkt menschlichen Denkens und Tuns. Wenn die moderne Welt, die in diesem Sinne vor allem das Produkt des wissenschaftlichen und des technologischen Verstandes ist, zurckschaut, trifft ihr Blick, neben anderen Großen, auf Leibniz. Leibniz – der Mathematiker, Naturwissenschaftler, Ingenieur, Logiker, Philosoph, Jurist, Historiker, Wissenschaftsorganisator, vielleicht der letzte Universalist, dem es noch gelang, in seinem Kopf das Wissen seiner Zeit und das Wissen einer kommenden Zeit, in seinen Grundzgen, zu vereinigen. Leibniz, der die Welt noch als eine dachte und sie in seinem Denken zusammenhielt – in allen ihren Aspekten: wissenschaftlichen, technischen, philosophischen, ethischen und organisatorischen Aspekten. Davon soll unter drei Gesichtspunkten – der Einheit der Wissenschaft, der Einheit der Welt und der Einheit von Theorie und Praxis – die Rede sein.

6.1 Einheit der Wissenschaft Was in der Wissenschaft einmal etwas Selbstverstndliches war, heute aber wie eine Utopie erscheint, ist der Gedanke der Einheit der Wissenschaft, verstanden als Einheit der wissenschaftlichen Rationalitt und des wissenschaftlichen Wissens. Wenn die Welt eine ist, die wir mit unserem Wissen zu erkennen suchen, warum dann nicht auch das wissenschaftliche Wissen, vor allem dann, wenn es sein Ziel, das Begreifen der Welt, erreicht hat? Mit Leibnizens Namen verbindet sich der vielleicht eindrucksvollste Versuch, diese Einheit nicht nur zu denken, sondern ihr auch die erfor-

6.1 Einheit der Wissenschaft

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derlichen Instrumente zur Verfgung zu stellen. Die Stichworte lauten: Leibnizprogramm und mathesis universalis. Unter dem Leibnizprogramm verstehen wir die Bemhungen Leibnizens, eine Wissenschaftssprache zu entwickeln, mit der es gelingt, die Ordnung der Welt auf eine wissenschaftliche Weise darzustellen. Kernstck dieses Programms ist entsprechend die Konstruktion einer (wissenschaftlichen) Kunstsprache, die auf der Basis einer Zeichentheorie (ars characteristica) zur Darstellung von Sachverhalten und deren Beziehungen untereinander, unter Einschluß mathematischer und formallogischer Verfahren, inhaltlichen Schlußweisen die formale Sicherheit des Rechnens verschaffen soll. Ziel einer derartigen Kunstsprache ist es, der wissenschaftlichen Analyse, aber auch der philosophischen Analyse, ein exaktes Organon zur Verfgung zu stellen. Die schlichte Anweisung lautet dann: „calculemus“.1 Dabei geht es Leibniz nicht nur um den Aufbau eines Formalismus zur Darstellung des Wissens, sondern auch um den Aufbau eines Formalismus zur Entdeckung des Wissens. Den Zusammenhang bilden hier die aus der Mathematik gelufigen komplementren Methoden der Analysis und der Synthesis, wobei Leibniz der analytischen Methode die von ihm gesuchte ars inveniendi und der synthetischen Methode die von ihm gesuchte ars iudicandi zuzuordnen sucht und gleichzeitig den inventiven Charakter beider Methoden betont: „Es gibt zwei Methoden, die synthetische mit Hilfe der kombinatorischen Wissenschaft und die analytische. Jede von beiden kann den Ursprung der inventio zeigen; das ist also nicht das Vorrecht der Analyse. Der Unterschied besteht darin, daß die Kombinatorik eine ganze Wissenschaft oder wenigstens die Reihe der Lehrstze und Probleme darstellt, darunter auch das, was gesucht wird. Die Analyse dagegen fhrt ein aufgestelltes Problem auf Einfacheres zurck.“2 Ferner wird von Leibniz in diesem Zusammenhang auf die Algebra und auf die Idee einer Kalklisierung verwiesen: die „Wahrheiten der Vernunft“ sollen „wie in der Arithmetik und Algebra so auch in jedem anderen Bereich, in dem geschlossen wird, gewissermaßen durch einen

1

2

Entwurf zu den „Initia et Specimina Scientiae generalis“, Philos. Schr. VII, 65. Zur ausfhrlichen Darstellung des Leibnizprogramms vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 435 – 452, ferner die Kapitel 3.1 und 3.2 in diesem Band. C. 557.

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6. Calculemus?

Kalkl erreicht werden kçnnen“3. Paradigma einer derartigen Kalklisierung sind wiederum der von Leibniz begrndete Infinitesimalkalkl und mehrere Logikkalkle als Anwendungen einer characteristica universalis. Mathesis universalis – das ist dann der Versuch, die Struktur formaler bzw. mit formalen Mitteln arbeitender Wissenschaften in mechanisch bzw. kalklmßig kontrollierbaren Abhngigkeitsbeziehungen darzustellen. Dies gelingt zwar nicht in dem beabsichtigten, die Einheit der Wissenschaft im allgemeinen und im besonderen auch wirklich erzeugenden Sinne, bedeutet aber immerhin den Anfang der modernen Logik und der modernen Wissenschaftstheorie. Das gilt sowohl in einem durch Probleme der Syntax und der Semantik formaler Sprachen abgesteckten Rahmen als auch hinsichtlich einer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, die heute im wesentlichen durch die Problemfelder Theorienstruktur, Theoriendynamik und Theorienexplikation charakterisiert wird. Whrend diese aber in erster Linie durch Aufgaben einer Analyse der Theorieform des wissenschaftlichen Wissens bestimmt ist, und erst in zweiter Linie durch Aufgaben, die sich mit der Forschungsform des (wissenschaftlichen) Wissens verbinden, sucht Leibniz noch beiden Aufgaben in gleicher Weise gerecht zu werden. Dabei sttzt er sich auf einen eigentmlichen Apriorismus, den spter Kant mit Leibniz teilen wird. Dieser besagt, daß die „Wahrheiten der Vernunft“ in der gesuchten Ordnung des Wissens zugleich die Wahrheiten der Welt, gemeint ist eine wissenschaftliche Welt, sind. Das ist, philosophisch gesehen, der inhrente Rationalismus des Leibnizprogramms und der ihm folgenden wissenschaftlichen Architektur einer Welt, die hier die Leibniz-Welt genannt wird. Leibniz dachte im brigen daran, die Ausarbeitung des Gedankens einer Einheit der Wissenschaft in Form einer mathesis universalis einer Akademie zu bertragen; den Universitten traute er die Durchfhrung eines derartigen Programms, die auf eine Reorganisation der Wissenschaft in systematischer und organisatorischer Form hinauslaufen wrde, offenbar nicht zu. Diese Akademie – und auch an derartig praktische Dinge dachte Leibniz – sollte sich aus den Ertrgen seiner Erfindungen im Harzbergbau finanzieren.4 Der Erfinder als Organisator und Unternehmer; auch diese Einheit war bei Leibniz gut aufgehoben. Als weiterer organisatorischer Ausdruck einer Einheit der Wissenschaft schwebte 3 4

Teil eines nicht abgesandten Briefes an C. Rçdeken aus dem Jahre 1708, Philos. Schr. VII, 32. Schreiben an Herzog Johann Friedrich vom Herbst 1678, Februar (?) und 29. Mrz 1679, Akad.-Ausg. I/2, 79 – 89, 120 – 126, 153 – 161.

6.2 Einheit der Welt

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Leibniz ferner eine Ordnung von Akademien vor, die sich zu einer Art Weltakademie verbinden sollten. Schon um 1669 hatte er, der Tradition utopischen Denkens verpflichtet, das Konzept einer international angelegten, hier noch mçnchisch organisierten „Societas philadelphica“ formuliert5, die sich vor allem mit Medizin, aber auch mit Manufakturen und Commerzien befassen sollte.

6.2 Einheit der Welt Was einer Einheit der Wissenschaft zugrundezuliegen scheint, nmlich eine Einheit der Welt, ist nach Leibniz in Wahrheit selbst eine Konstruktion, fr die nun weniger der wissenschaftliche als vielmehr der philosophische Verstand zustndig ist. Dabei ist es eine sehr merkwrdige Welt, auf die wir bei Leibniz in seinem Versuch, auch diese Einheit zum Ausdruck zu bringen, stoßen. Es ist die Welt der Monaden. Unter Monaden versteht Leibniz begriffliche Einheiten; der Weg zu diesen fhrt unter anderem wieder ber formale und ber physikalische Betrachtungen. Ausgangspunkt sind hier einfache Kontinuittsbetrachtungen und die Formulierung eines Kontinuittsprinzips, ferner Arbeiten zu einem Differentialkalkl6, die die Preisgabe des Begriffs des kçrperlichen Atoms im Sinne eines physikalischen Atomismus zu erzwingen scheinen.7 In systematischer Nhe zum modernen Begriff des Massenpunktes ordnet Leibniz elementaren physikalischen Einheiten Punkte im geometrischen Raum zu und interpretiert diese Einheiten als Kraftzentren. Dies ist dadurch gerechtfertigt, daß man differentialgeometrisch Punkten auf Raumkurven Beschleunigungsvektoren zuordnen kann, denen physikalische Krfte entsprechen, wenn man die Kurven als Bahnen bewegter Massen versteht. Entsprechend wird der Ausdruck ,(materielles) Atom durch die Ausdrcke ,substantielles Atom, ,formales Atom oder ,metaphysischer Punkt ersetzt8, seit 1696 durch den Ausdruck ,Monade. Im Rahmen der so genannten Monadentheorie und im bergang zur Konzeption eines logischen Atomismus bezeichnet der Begriff der Monade 5 6 7 8

Vgl. Akad.-Ausg. IV/1, 552 – 557. Nova methodus pro maximis et minimis (…), Acta Eruditorum 3 (1684), 467 – 473, Math. Schr. V, 220 – 226. Vgl. Specimen dynamicum (1695), Math. Schr. VI, 248. Dazu ausfhrlich Kapitel 2. Systme nouveau (1695), Philos. Schr. IV, 482.

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6. Calculemus?

dann das Programm, elementare Einheiten (auch im dynamischen Bereich) ber begriffliche Einheiten, eben die Monaden, anzugeben.9 In einem philosophischen Kontext fhrt diese Konzeption, mit der auch ltere Substanzbegriffe rekonstruiert werden, zu einigen zentralen, eine Leibniz-Welt nunmehr auch ,von innen charakterisierenden Stzen, unter diesen die Stze: (1) Jede Monade reprsentiert (,spiegelt) das Universum. (2) Zwischen den Monaden, insbesondere zwischen Kçrperund Seelenmonaden, besteht eine prstabilierte Harmonie. Derartige Stze klingen seltsam und spekulativ, erweisen sich aber bei nherem Hinsehen durchaus als logisch rekonstruierbar. So besagt etwa der zweite Satz, daß sich jede Handlung oder jedes Ereignis als Realisierung eines bereits (nicht zeitlich, sondern logisch) vorab gegebenen Gesamtzusammenhangs, im physikalischen Kontext z. B. eines (unendlichen) physikalischen Gesamtsystems, verstehen lßt. Der Logiker schaut dem Metaphysiker ber die Schulter, und der Wissenschaftler auch. In einer kleinen deutschen Schrift aus dem Jahre 1695 heißt es unter Anspielung auf das Reprsentanztheorem der Monadentheorie (den hier zitierten ersten Satz) und den mit diesem gegebenen Perspektivismus der Wahrnehmung und des Wissens: Wir mssen uns „mit den Augen des Verstandes dahin stellen, wo wir mit den Augen des Leibes nicht stehen, noch stehen kçnnen. Zum Exempel, wenn man den Lauf der Sterne auf unsrer Erdkugel betrachtet, darin wir stehen, so kommet ein wunderliches verwirretes Wesen heraus, so die Stern-Kndige kaum in etlich tausend Jahren zu einigen gewissen Regeln haben bringen kçnnen (…). Aber nachdem man endlich ausgefunden, daß man das Auge in die Sonne stellen msse, wenn man den Lauf des Himmels recht betrachten will, und daß alsdann alles wunderbar schçn herauskomme, so siehet man, daß die vermeinte Unordnung und Verwirrung unsers Verstandes schuld gewesen, und nicht der Natur“10. Leibniz nutzt, wie spter Kant, die Kopernikanische Astronomie (ohne Kopernikus namentlich zu erwhnen), um eine wesentliche, mit der Monadentheorie verbundene erkenntnistheoretische Neuorientierung zu verdeutlichen, die darin besteht, die Bedingungen der Erkenntnis weder in den Phnomenen noch in der Wahrnehmung, sondern in der Arbeit des (konstruierenden) Verstandes aufzusuchen. In der Sprache der Monadentheorie: Es handelt sich bei den Erscheinungen, hier in der Arbeit des naturwissenschaftlichen Verstandes, um phaenomena 9 A.a.O., 483. 10 Von den Verhngnisse, Philos. Schr. VII, 120.

6.2 Einheit der Welt

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bene fundata 11, d. h. um Phnomene, fundiert in begrifflichen oder theoretischen Konstruktionen. Die Welt der Erscheinungen, das ,allgemeine System der Phnomene, wie Leibniz sagt12, ist nicht ,an sich gegeben, sondern das Produkt anschaulicher und begrifflicher (theoretischer) Konstruktionen. Diese bilden, auch in der Wissenschaft, eigene Welten, Leibniz-Welten. Das hat im brigen dazu gefhrt, daß der Monadenbegriff auch in anderen wissenschaftlichen Umgebungen Karriere gemacht hat, z. B. in der Non-Standard-Analysis, wo es heißt, daß jede reelle Zahl von einer Monade aus unendlich vielen ,hyperreellen Zahlen umgeben ist, oder in der Theorie des funktionalen Programmierens.13 Monaden lassen sich eben auch – ganz im Sinne Leibnizens, der sich selbst mit der Konstruktion von Rechenmaschinen beschftigte und die fr die Computertechnik wichtige Dyadik und die Determinantentheorie begrndete14 – als rechnende Maschinen auffassen. Das Besondere und das Großartige ist eben: Leibniz vermag auch das Gegenstzliche, das Philosophen so lieben und das eine Grundstruktur unserer Welt zu sein scheint – hier rechnende Maschine und atmendes Leben –, als Einheit zu denken, spekulativ und logisch zugleich. Das Gegenstzliche ist fr ihn nicht die Substanz, sondern die Erscheinung, auch wenn es die philosophische Tradition, und die wissenschaftliche hufig auch, gern umgekehrt sieht. Mehr noch: Leibniz hat den Gegensatz zwischen Sein und Erscheinung, lange vor Hegel und klarer als Hegel, aufgehoben. Nicht indem Sein zu Schein oder Schein zu Sein wird, sondern indem beides als Erscheinungsform von etwas Zugrundeliegendem begriffen wird. Nach Leibniz ist dieses Zugrundeliegende nicht wieder etwas Konkretes, sondern etwas Begriffliches, das Konkrete symbolische Reprsentanz des Begrifflichen, der Monade. Auf diese Weise gelingt es Leibniz, das Artifizielle und das Natrliche, das Konkrete und das Abstrakte, das Anschauliche und das Begriffliche, das Maschinenhafte und das Lebenshafte, das Rechnende und das Atmende in Eines zu fassen. Es ist der Kopf, der das Ganze denkt (die Welt 11 Schreiben aus dem Jahre 1705 an B. de Volder, Philos. Schr. II, 276. 12 Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 439. 13 Vgl. P. Rechenberg/G. Pomberger (Eds.), Informatiklehrbuch, Mnchen/Wien 1997, 450 – 452. 14 Vgl. H. J. Greve, Entdeckung der binren Welt, in: Herrn von Leibniz Rechnung mit Null und Eins, Berlin/Mnchen 31979, 21 – 31; E. Knobloch, Erste europische Determinantentheorie, in: E. Stein/A. Heinekamp (Eds.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Das Wirken des großen Philosophen und Universalgelehrten als Mathematiker, Physiker, Techniker, Hannover 1990, 32 – 41.

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6. Calculemus?

denkt sich selbst nicht). Und zu diesem Ganzen gehçrt nicht nur die Einheit der Wissenschaft und die (gedachte) Einheit der Welt, sondern auch die Einheit von Denken und Handeln, Theorie und Praxis.

6.3 Einheit von Theorie und Praxis Die bekannte Leibnizsche Formel, die die Einheit von Theorie und Praxis, die Einheit von Wissenschaft und Leben zum Ausdruck bringen soll, lautet „theoria cum praxi“.15 Sie besagt: „Wenn wir die Disziplinen an und fr sich betrachten, sind sie alle theoretisch; wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Anwendung betrachten, sind sie alle praktisch.“16 Und sie besagt ferner, daß man die Disziplinen, die Wissenschaften praktisch, d. h. anwendungsbezogen, zu machen habe. Theorie und Praxis sind einander keine Fremden, Wissenschaft und Leben sind keine verschiedenen Welten. Am 12. Mai 1700 schreibt Leibniz im Zusammenhang mit seinen Akademieplnen in diesem Sinne: „Ich htte gern etwas mit der Zeit, davon ein realer Nutz und nicht bloße Curiositten zu erwarten.“17 Das heißt, Wissenschaft soll nach Leibniz ihre Leistungsfhigkeit nicht nur gegenber einem theoretischen Interesse, sondern auch gegenber einem praktischen Interesse unter Beweis stellen. Es geht nicht nur um die Lçsung von Problemen, die sich die Wissenschaft selbst stellt, sondern auch um die Lçsung von Problemen, die die Welt stellt; ausdrcklich werden von Leibniz in diesem Zusammenhang die Versorgungsprobleme im Nahrungsmittelbereich und Krankheit genannt. Deshalb aber auch sein Interesse an der Lçsung technischer Probleme und der Konstruktion von Maschinen. Ob man dabei wieder an seine Konstruktion einer Rechenmaschine und an seine Kolben- und Pumpenkonstruktionen, darunter die Konstruktion einer Drehschieberpumpe18, fr den Harzbergbau denkt oder an die (mathematische) Lçsung mechanischer Probleme wie die Berechnung des elastischen Widerstands eines beschwerten Balkens, die 15 Vgl. Deutsche Schriften, I–II, ed. G . E. Guhrauer, Berlin 1838/1840, II, 268. Dazu ausfhrlich Kapitel 5. 16 Dissertatio de arte combinatoria (1666), Akad.-Ausg. VI/1, 229. 17 Deutsche Schriften II, 145. 18 Vgl. H. P. Mnzenmayer, Leibniz, der Erfinder der Drehschieberpumpe?, Studia Leibnitiana 10 (1978), 247 – 253; ferner J. Gottschalk, Technische Verbesserungsvorschlge im Oberharzer Bergbau, in: E. Stein/A. Heinekamp (Eds.), Gottfried Wilhelm Leibniz (oben Anm. 14), 62 – 71.

6.3 Einheit von Theorie und Praxis

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eine technische Relevanz hat19, immer steht der Gesichtspunkt im Vordergrund, daß Wissen praktisch werden muß, daß es nicht nur darum geht, die Welt (mit theoretischen Mitteln) zu beschreiben, sondern auch darum, sie (mit technischen Mitteln) zu verndern, zum Besseren zu verndern. Die ,beste aller mçglichen Welten, die Leibniz unter anderem unter Hinweis auf die Geltung von Extremalprinzipien in der Physik – also Stzen, die physikalische Systeme beschreiben, in denen ein Parameter einen Extremwert, meist ein Minimum wie im Falle des so genannten ,Prinzips der kleinsten Wirkung, annimmt – schon realisiert sieht, soll auch in der Praxis, d. h. in den weltlichen Verhltnissen, verwirklicht werden. Dabei holt Leibniz weit aus. In seinen philosophischen Reflexionen beruht die Vernunft der Welt nicht nur in der (verborgenen) Vernunft der Tatsachen, unter diesen wiederum physikalische Tatsachen, sondern auch in der Vernunft Gottes. In einer Art Theologie des Wissens verbindet sich die Rede ber das physikalische Wesen der Welt und ber das epistemische Wesen des Menschen mit der Rede von Gott.20 „Wir sehen alle Dinge durch Gott“, heißt es in der „Metaphysischen Abhandlung“ von 1686: „Man kann (…) sagen, daß allein Gott das unmittelbare Objekt außer uns ist, und daß wir alle Dinge durch ihn sehen.“21 Wissenschaft wird hier ein theologisch fundiertes Unterfangen. Der Ordnung des Wissens geht eine Ordnung der Welt voraus, eine gçttliche Ordnung. ,Objektive Rationalitt hat nach Leibniz ihren Grund in einer gçttlichen ,Subjektivitt, dem gçttlichen Intellekt.22 Die Einheit der Welt, die Leibniz in einer mathesis universalis als Einheit des Wissens und der Wissenschaft, in seiner Metaphysik als die Reprsentanz des Universums in jeder Substanz, in jeder Monade zu beschreiben sucht, wird in dieser frommen Metaphorik als Einheit der Welt mit Gott und den erkennenden Subjekten beschrieben. Zugleich zieht Leibniz aus dieser Beschreibung den Schluß, daß auch die Moral mit der Metaphysik verbunden werden msse23 – nicht nur die Erkenntnissubjekte, auch die moralischen Subjekte sind in diese ,prstabi19 Vgl. H. Wußing, Ars inveniendi – Leibniz zwischen Entdeckung, Erfindung und technischer Umsetzung, in: K. Nowak/H. Poser (Eds.), Wissenschaft und Weltgestaltung (Internationales Symposion zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April 1996 in Leipzig), Hildesheim/Zrich/New York 1999, 231 – 253. 20 Vgl. Kapitel 4.5. 21 Discours de mtaphysique § 28, Akad.-Ausg. VI/4B, 1573. 22 Vgl. A. Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin/New York 1974, 23 ff.. 23 Discours de mtaphysique § 35, Akad.-Ausg. VI/4B, 1584.

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6. Calculemus?

lierte Harmonie zwischen Gott und Welt und in diese nach innen gekehrte Einheit von Theorie und Praxis einbezogen. Es ist vor allem der kontemplative Charakter dieser harmonischen Synthese, der uns heute eine derartige Vorstellung vom Wissen und von der Stellung des Menschen in der Welt befremdlich erscheinen lßt. Theologische, kosmologische und anthropologische Metaphern, die sich zu der Metapher von der Einheit der Welt in Gott verbinden, beschreiben eine andere Welt. Nicht die Welt, in der wir leben, und wohl auch nicht die Welt, in der Leibniz lebte. Allerdings kommt es in der Philosophie auch nicht darauf an, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist. Dieser deskriptiven Aufgabe dienen – so jedenfalls das wissenschaftliche Verstndnis schon in der beginnenden Neuzeit – die empirischen Wissenschaften. Worauf es fr den Philosophen Leibniz ankommt, ist es, die innere Ordnung dieser Welt, die nicht nur eine Ordnung der physischen Dinge und Prozesse ist, darzulegen und in ihr die Vernunft der Welt zu beschreiben. Allerdings geschieht dies schon bei Leibniz in der Weise, daß das, was da beschrieben wird, eigentlich etwas ist, das erst hergestellt werden muß, um es zu beschreiben. Das geschieht in der Arbeit des Wissenschaftlers ebenso wie in der Arbeit des Philosophen. Das heißt, die Vernunft der Welt, die Leibniz in philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht unterstellt, ist strenggenommen nichts, wovon wir einfach ausgehen kçnnen, aber sie bleibt etwas, das wir wollen sollten. Schließlich geht es schon bei Leibniz selbst nicht nur um die Beschreibung einer vernnftigen Welt, die zugleich unsere Welt wre, sondern um die Herstellung einer solchen Welt, die unsere Welt werden kçnnte. Diese Leibnizsche Vorstellung gilt es daher auch in unsere Zeit hinber zu holen. Schließlich ist „theoria cum praxi“ nicht nur ein wissenschaftliches und ein technisches Prinzip, sondern auch ein ethisches Prinzip. Oder anders, ebenfalls in Leibnizscher Diktion formuliert: das Maß der Welt ist auch ein ethisches Maß.

6.4 Kritik des Partikularen Wir bewundern heute in Leibniz den universalen Wissenschaftler, der in seinem wissenschaftlichen Schaffen allein eine Universitt darstellen kçnnte, den großen Philosophen, der dem Wissen philosophische Tiefe und der Philosophie einen wissenschaftlichen Ausdruck verschaffte, den genialen Konstrukteur, der die Theorie in die Konstruktion und das Konstruktive in die Theorie holte, und denjenigen, der das alles in seinem Denken zusammenhielt. Aber indem wir ihn bewundern, historisieren wir

6.4 Kritik des Partikularen

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ihn auch und vergessen, daß sich aus Leibniz auch lernen lßt. Dazu zwei Bemerkungen. Wir leben heute in einer Expertenwelt. Diese Welt lebt von einer zunehmenden Partikularisierung des Wissens, so wie die Welt der Wissenschaft zu einer Spezialistenwelt geworden ist. Das ist in gewissem Sinne eine unvermeidbare Entwicklung, doch geht in dieser Entwicklung etwas Wesentliches verloren, die Fhigkeit nmlich, in grçßeren Zusammenhngen zu denken und sich in grçßeren Zusammenhngen zu orientieren. In einer Expertenwelt verliert das Wissen seine Orientierungsfunktion. Deshalb ist es heute auch mit einem Orientierungswissen schlecht bestellt. Der Welt stehen Unmengen von Wissen und Unmengen von Informationen, hier in Form eines transportierten Wissens, zur Verfgung, gleichwohl wird sie immer orientierungsschwcher. Es ist der berfluß, der uns zu Verlierern macht, und das Unvermçgen, das Wissen des Spezialisten und das Kçnnen des Experten noch mit anderem Wissen und Kçnnen zu verbinden. Eben dies ist die Idee, die sich in unterschiedlichen Einheitsvorstellungen bei Leibniz – der Einheit des Wissens und der Wissenschaft, der Einheit der Welt und der Einheit von Theorie und Praxis – Geltung verschafft, metaphorisch gesprochen: in einer Monade, in der sich ein Universum spiegelt. Deshalb ist eine Leibniz-Welt auch eine Orientierungswelt – und Leibniz selbst der eigentliche Inbegriff dieser Welt. Wir leben aber nicht nur in einer Experten- und Spezialistenwelt, wir leben auch, in der Wissenschaft, in einer Welt, in der der Partikularisierung des Wissens eine Partikularisierung der institutionellen Formen des Wissens, einer epistemischen Partikularisierung eine institutionelle entspricht. In dieser Welt folgen die wissenschaftlichen Institutionen nicht der tatschlichen Forschungs- und Wissenschaftsentwicklung, sondern weit eher Forschungs- und Wissenschaftentwicklungen einer gegebenen institutionellen Ordnung. Wir reden stndig von Inter- und Transdisziplinaritt, denen die wissenschaftliche Zukunft gehçren soll, und halten doch an einem Wissenschaftssystem, zerlegt in universitre und außeruniversitre Teilsysteme, fest, als handle es sich hier um eine gottgegebene Ordnung. Ganz anders die Idee, die Leibniz verfolgte. Seine Akademieplne, gegen die erstarrte Wirklichkeit der Universitten gerichtet, sollten die Forschung zusammenfhren und ihr zugleich, zwischen Wissenschaft und Leben, eine Basis geben, von der aus sie frei operieren konnte. An die Stelle einer geschlossenen institutionellen Form des Wissens sollte eine offene institutionelle Form des Wissens treten. Deswegen mahnt auch der Philosoph Adolf Trendelenburg, mehr als 150 Jahre nach Leibnizens

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6. Calculemus?

Akademiegrndung in Berlin Sekretr dieser Akademie, die Akademie, ein „unvergnglicher Leibniz“ zu sein.24 Nach Adolf Harnack, der 1900 die Geschichte der Leibnizschen Akademie schrieb, war Leibniz die Seele der Akademie25, die ihrerseits Mittelpunkt der wissenschaftlichen Welt war. Es wre gut, wenn unsere wissenschaftliche Welt, in der der Spezialist regiert und kein System, keine Einheit der Wissenschaft, im Systematischen wie im Organisatorischen, mehr erkennbar ist, diese Seele wiederentdeckte.

24 A. Trendelenburg, Leibniz und die philosophische Thtigkeit der Akademie im vorigen Jahrhundert. Ein Vortrag, gehalten am Gedchtnistage Leibnizens, am 1. Juli 1852, in der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1852, 1. 25 A. Harnack, Geschichte der Kçniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, I–III, Berlin 1900, I/1, 183.

7. Der Philosoph und die Kçnigin fr Bettina Charlotte und Johanna Sophie

Was biographisch ist, ist manchmal auch philosophisch. Man muß nur den richtigen Menschen begegnen. In der Begegnung zwischen Leibniz und Sophie Charlotte, der philosophischen Kçnigin, entsteht aus gelegentlichen Gesprchen ber Gott und die Welt eine große Philosophie.

Prolog Die Geschichte der Philosophie wird in der Regel geschrieben als die Geschichte einer gelehrten Tradition, die von einem großen Philosophen zum anderen reicht, als das Gesprch eindrucksvoller Einzelgnger ber die Jahrhunderte hinweg, und deren Schlern, die sich an ihre philosophischen Fersen heften. Die Sprache dieses seltsamen Gesprchs sind große Werke, z. B. die Platonische Politik, die Aristotelische Metaphysik, Kants Kritiken, Hegels Phnomenologie. Diese Werke sind, so die bliche Auffassung von Philosophie, von großer Schçnheit und Tiefe, allerdings in der Regel nur Eingeweihten vorbehalten, nmlich denjenigen, die die gleiche Sprache sprechen oder diese Sprache zu verstehen glauben. Die Welt der Philosophen ist nicht die Welt ihrer Zeitgenossen, auch nicht unsere Welt. Es ist eine Welt, in der der Weltgeist in seine Bibliothek bittet und in der die Eule der Minerva ihren Flug beginnt, wenn alles ruhig ist und die Gestalten des Lebens blaß geworden sind. Philosophen haben, so die bliche Vorstellung, diese Blsse zu ihrer Lebensform gemacht. Nicht alle. Zu denjenigen, die eine andere Philosophie haben, gehçrt Leibniz. Das wird schon in der Universalitt seines Denkens und Tuns deutlich. Leibniz ist nicht nur Philosoph, sondern auch Historiker, Mathematiker, Physiker, Techniker, Geologe, Logiker, und seine philosophische Lebensform ist nicht die eines weltfremden Einzelgngers, sondern die eines ,Mannes von Welt, eines Diplomaten und Wissenschaftsorganisators, eines Mannes, der das Gesprch und die Auseinandersetzung sucht und den es dorthin zieht, wo in der Gegenwart Konturen der Zukunft sichtbar werden. Und weil die Philosophie, die man hat, nicht

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

nur davon abhngt, was fr ein Mensch man ist (Fichte), sondern auch davon, welchen Menschen man begegnet, war diese ,Welthaftigkeit seines Denkens und seiner Lebensform fr Leibniz nichts ußerliches, sondern ein wesentliches Element seiner Philosophie. Unter den Begegnungen, die Leibniz suchte und mit denen er einen großen Teil seines philosophischen Selbstverstndnisses verband, spielen Begegnungen mit frstlichen Frauen eine bedeutende Rolle. Er folgt darin dem Vorbild Descartes, den es (wohl auch nicht nur aus philosophischen Grnden) zur unglcklichen Pfalzgrfin Elisabeth und zu Christine, Kçnigin von Schweden, zog. Leibniz hlt sich zunchst an die Schwester Elisabeths, Sophie, Kurfrstin von Hannover und ,Mutter der Kçnige, wie sie im Blick auf die Dynastien Preußens, Englands und Hannovers genannt wurde, dann an deren Tochter Sophie Charlotte, Kurfrstin von Brandenburg und, ab 1701, Kçnigin von (in) Preußen, ferner an Lieselotte von der Pfalz, Nichte Sophies und Schwgerin Ludwigs XIV., sowie, vor allem nach dem Tode Sophie Charlottes, an die Prinzessin Caroline von Ansbach, die sptere Gemahlin Kçnig Georgs II. von England, deren wachsende Sympathie fr den Newtonianismus den berhmten Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, dessen Feder Newton fhrt, auslçsen sollte. Dabei spielt die preußische Kçnigin Sophie Charlotte offenbar die bedeutendste Rolle in Leibnizens Leben. In ihrem Wesen, das Leibniz strker anzog, als er zu Lebzeiten der Kçnigin zu erkennen gibt, verbinden sich ein ungewçhnliches Maß an philosophischer Bildung, die sie unter den Gelehrten ihrer Zeit als eine der ihren erscheinen ließ, und eine offenbar faszinierende Attraktivitt, die weibliche Anmut mit rationaler Bestimmtheit verband und nicht nur Leibniz in ihren Bann schlug. Was Leibniz in Sophie Charlotte fand, muß ber seine eigene, eher konventionelle Beurteilung ,gelehrter Frauenzimmer, in deren Bewunderung sich das gebildete 17. und 18. Jahrhundert selbst gefielen, weit hinausgegangen sein: „Ich habe (…) oft gedacht“, schreibt er im November 1697 artig, aber eben auch nicht sonderlich neuartig, an Sophie Charlotte, „daß Frauen von Geist mehr als die Mnner geeignet sind, die schçnen Wissenschaften zu fçrdern. Die Mnner, beansprucht von ihren Geschften, denken meist nur ans Notwendige, whrend die Frauen, die ihr Stand der Mhen und Sorgen enthebt, freier und fhiger sind, ans Schçne zu denken. Wenn man sie, statt ihren Geist auf die Beschftigung mit ihrem ußeren zu beschrnken, zeitig genug auf die echte und bestndigere Schçnheit und Zierde lenkte, die sich in den Wundern Gottes und der Natur findet, so wren ihre Wißbegier und ihr Feingefhl ntzlicher fr das menschliche Geschlecht und wrden zum Ruhme Gottes mehr beitragen als all die Plne von Er-

7.1 Die ußere Geschichte

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oberern, die nur Wirren und Vernichtung bringen.“1 Das ist hbsch gesagt, sicher auch als anregend (hier im Zusammenhang mit der Berliner Akademiegrndung) wahrgenommen, aber eben doch (noch) geprgt durch eine mnnliche Vorstellung, die mehr schmeicheln als konventionelle Geschlechterrollen verndern will. Wie dem auch sei – in der Begegnung von Leibniz mit Sophie Charlotte, dem Philosophen und der Kçnigin, wird ein Stck Geistes- und Wissenschaftsgeschichte geschrieben.

7.1 Die ußere Geschichte Die ußere Geschichte dieser Begegnung ist schnell erzhlt. „Am 2. October 1668 ward dem Herzog Ernst August von Braunschweig-Lneburg, damaligem Frstbischof von Osnabrck, und seiner Gemahlin Sophie, der Tochter des unglcklichen Kurfrsten Friedrich V. von der Pfalz und der Elisabeth Stuart, auf dem Schlosse Iburg bei Osnabrck eine Tochter geboren, welche in der Taufe von der Mutter und deren Nichte, der Prinzessin Elisabeth Charlotte von der Pfalz, der spteren Herzogin von Orleans, die Namen Sophie Charlotte erhielt. Schon frh zeigten sich bei dieser die schçnsten Anlagen des Geistes und Herzens; auch ihr fehlte nicht jener geniale Zug, der so vielen Gliedern des reichbegabten Stuartschen Geschlechts gemeinsam war.“ So beginnt der Leibnizforscher und Leibnizherausgeber Eduard Bodemann 1880 seine Darstellung dieser Geschichte.2 Durch Leibniz, der seit 1676 in Hannoveraner Diensten stand und ab 1680 die damals 12jhrige Sophie Charlotte unterrichtete, gewann diese, so Bodemann weiter, „frh die Bildung des Urtheils, die Kenntniß vieler Dinge, den freisinnigen Blick in die Welt und den Drang nach Wahrheit“3. Ihr gewinnendes ußeres beschreibt ein Zeitgenosse wie folgt: „Ihre Taille ist mittelmßig. Sie hat den schçnsten Hals und Busen, den man sehen kann, große und sanfte blaue Augen, eine wunderbare Flle schwarzen Haars, Augenbrauen wie abgezirkelt, eine wohlproportionirte Nase, einen Mund von Incarnat, sehr schçne Zhne und einen lebhaften Teint. Die Bildung ihres Gesichts ist weder lnglich noch rund, sondern beides zu1

2 3

Die Werke von Leibniz (Erste Reihe. Historisch-politische und staatswissenschaftliche Schriften), I–XI, ed. O. Klopp, Hannover 1864 – 1888 (im Folgenden zitiert als Klopp), VIII, 49. E. Bodemann, Leibniz und die Kçnigin Sophie Charlotte von Preußen, Illustrierte Deutsche Monatshefte Folge 4, Bd. 5 (1880), 214. A.a.O., 215.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

gleich. Sie hat viel Geist und herzgewinnende Freundlichkeit. Sie singt schçn, spielt Clavier, tanzt mit Anmuth und hat ein solches Wissen, wie es in so jungem Alter wenige Personen haben.“4 Und Varnhagen von Ense, der Biograph Sophie Charlottes, ergnzt 1837 mit Blick auf Leibniz und familire Umstnde: „Die Herzogin Sophie, fhig einen solchen Genius zu wrdigen, wurde seine treuste Beschtzerin und Freundin, sie besprach mit ihm die hçchsten Geistesfragen, und vertraute seiner Klugheit die wichtigsten Familienanliegen. Auch Sophie Charlottens frhe Jugend entfaltete sich unter diesem wohlthuenden Einflusse, und schon in dem kindlichen Gemthe keimten die Gefhle der Verehrung und Dankbarkeit fr den weisen Lehrer und Freund ihrer Mutter, der in spteren Jahren ebenso der ihrige wurde.“5 Dieser ,weise Lehrer und Freund stellt sich in den Worten Varnhagens wie folgt dar: „Leibniz, eine der ersten Grçßen deutschen Namens, eines der Lichter, welche jahrhundertweise die dunklen Pfade der Menschheit beleuchten, hatte frh die Tiefe des Denkens mit der Macht allumfassenden Wissens verbunden, und diesem schon seltnen Bunde noch seltner die Kenntniß und Leichtigkeit der großen Welt und den Glanz der hçchsten Lebenserscheinung hinzugefgt. Frhzeitig mit Frsten und Staatsmnnern vertraut, in den wichtigsten çffentlichen Angelegenheiten befragt oder thtig, der franzçsischen Sprache gleich kundig zum geselligen wie zum wissenschaftlichen Gebrauche, dabei ein stattlicher, nicht allzugroß aber fest und wohlgebauter Mann, von freiem Blick und Benehmen, htte er in der Hof- und Staatswelt ein selbststndiges Dasein schon allein durch seine Lebensbildung behaupten kçnnen; diese war jedoch nur ein Aeußeres fr ihn, die bloße Form fr ein anderes weit hçheres Dasein, das er unaufhçrlich in jenes bertrug.“6 Fazit also: eine idyllische Landschaft mit Philosoph und Kçnigin? Wohl auch dies – Ausflge von Philosophen in die große weite Welt der Hçfe hatten stets (seit Platons eher unglcklichen Erfahrungen in Unteritalien) etwas von liebenswrdiger berflssigkeit an sich –, doch kaum eine Beschreibung, die der wahren Bedeutung beider und der Rolle, die sie im geistigen und politischen Leben ihrer Zeit spielten, gerecht wird.

4 5 6

Zitiert bei O. Krauske, Artikel: Sophie Charlotte, in: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892), 677. K. A. Varnhagen von Ense, Leben der Kçnigin von Preußen Sophie Charlotte, Berlin 1837, 17 f.. A.a.O., 90.

7.1 Die ußere Geschichte

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Richtig ist, daß Leibniz alsbald, fr Mutter wie fr Tochter, Berater und Freund nicht nur in philosophischen Dingen wird, in beiden Rollen dabei nahezu unentbehrlich. Beschrnken wir uns hier auf die Berliner Zeit, so hatten beide Sophien ihren Anteil an Leibnizens Rolle und Anwesenheit. Sophie Charlotte sah in Leibniz den berragenden Gelehrten und den guten Freund, den sie auch nach ihrer bersiedlung 1684 nach Berlin in ihrer Nhe wissen wollte; die Kurfrstin Sophie bençtigte einen politischen Vertrauten in Berlin – sowohl Leibnizens Bewerbung um die Nachfolge des Hofhistoriographen Samuel von Pufendorf 1694 als auch seine Bemhungen um eine Union der protestantischen Kirchen seit 1698 und die Idee einer Soziettsgrndung in Berlin, zuerst ausgefhrt in mehreren Denkschriften fr den brandenburgischen Premierminister Eberhard von Danckelman 1695, entsprachen den Interessen der welfischen Politik.7 Deren gewissenhafte Verfolgung fhrt 1703 sogar zu einem Spionagevorwurf gegen Leibniz am Berliner Hof. Sophie Charlottes Wunsch, Leibniz fr lngere Zeit in Berlin zu haben, ist groß. Im August 1698, desgleichen im Januar 1699 scheitert ein solcher Wunsch und damit auch die wiederholte Einladung Sophie Charlottes an Leibniz, an der Weigerung ihres Bruders, des Kurfrsten Georg Ludwig, Leibniz ziehen zu lassen. Immerhin kommt es im November 1698 zu einem kurzen Besuch in Berlin, in dessen Verlauf (10.–12. November) und spter (29. November) Leibniz Sophie Charlotte beim Ausbau des Schlosses und Gartens in Ltzenburg (dem spteren Charlottenburg) bert. Die Wende bringt die Akademiegrndung, d. h. einer Sternwarte und einer Soziett der Wissenschaften in Berlin, im Jahre 1700, von der spter noch die Rede sein wird. Vom Mai bis zum August 1700 hlt sich Leibniz in Berlin auf, am 22. Mai zum ersten Male auch in Ltzenburg, wo ihm Sophie Charlotte ein Zimmer zur Verfgung stellt und wo er in den folgenden Tagen an den Feierlichkeiten zur Hochzeit von Luise Dorothea Sophie von Brandenburg mit dem Erbprinzen Friedrich von Hessen-Kassel teilnimmt. Auch ab Oktober 1701 ist Leibniz fr lngere Zeit (bis Januar 1702) wieder in Berlin, anfangs meist in Ltzenburg, wo er im Dezember 1701 eine Vollmacht entwirft, durch die ihn Sophie Charlotte zu politischen Verhandlungen fr Preußen in Hannover ermchtigt. Bereits am 11. Juni 1702 kehrt Leibniz erneut nach Berlin bzw. Ltzenburg zurck, wo er sich bis zum Juni 1703 aufhlt (dabei muß Sophie Charlotte im Mai 1703 sogar dem Gercht 7

Vgl. A. Harnack, Geschichte der Kçniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, I–III (in vier Bnden), Berlin 1900, I/1, 38 ff..

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

entgegentreten, Leibniz wolle seine Verbindungen nach Hannover lçsen und ganz in preußische Dienste treten). Das Jahr 1702/1703 ist ein wichtiges Jahr im Verhltnis zwischen unserem Philosophen und unserer Kçnigin. Der Wunsch Sophie Charlottes, Leibniz in Ltzenburg zu sehen, wird drngender. „Ich erwarte Sie mit Ungeduld in Ltzenburg, wohin ich zu Ostern gehe“, schreibt sie am 15. Mrz 1702 an Leibniz8 ; „alles was ich erbitte, ist Ihre baldige Ankunft“, heißt es in einem Brief vom 2. Mai 1702, den Frulein von Pçllnitz fr Sophie Charlotte an Leibniz richtet (die gleiche Bitte hatte sie bereits unter dem 8. April vorgetragen). Auch der Grund wird genannt: „Ich vertraue Ihnen an, Sie tun ein Liebeswerk, wenn Sie kommen, denn die Kçnigin hat hier keine lebende Seele, mit der sie Gesprche fhren kann.“9 Auch andere, recht lebensweltliche Grnde stehen hinter diesem Wunsch: eine Hofdame, eben jenes Frulein von Pçllnitz, tut sich mit Mathematik schwer: „Was Sie zu kommen zwingt“, schreibt Sophie Charlotte, „ist ein Werk der Nchstenliebe. Die Pçllnitz hat sich ein Buch gekauft, aus dem man Mathematik lernen kann, welche sie gern studieren will. Die Begriffe und ihre Bedeutung sind aber so schwierig, daß ihr ganz schwindlig werden wird, wenn Sie ihr nicht zu Hilfe kommen.“10 Leibniz antwortet mit der bersendung seiner Dyadik (am 22. April)11 – was die mathematische Situation in Ltzenburg nicht ganz so hoffnungslos erscheinen lßt. Im Hintergrund bleibt der rger mit Hannover. Im August 1703 untersagt der Kurfrst Leibniz erneut, (mit der Kurfrstin Sophie) auf Berlinreise zu gehen; erst Anfang 1704 ist Leibniz wieder in Berlin. Zweifellos litt Sophie Charlotte unter der Routine des Berliner Hoflebens. Ihr suchte sie in eine andere Welt, die Welt des Geistes und der Musik, zu entkommen. Diese Welt gewann in Ltzenburg Gestalt, und zu dieser Welt gehçrte auch Leibniz. Ihr Medium war das Gesprch. Der Historiker Ranke hat diese Welt Sophie Charlottes, die sie selbst war, einmal wie folgt, und nicht ohne idealisierende Elemente, beschrieben: „Ihr eigentmlichstes Talent (…) – vielleicht das dem weiblichen Geiste, wenn er zu seiner Reife gelangt, entsprechendste – war das der Konversation. Recht im Gegensatz mit ihrem Gemahl, der sich am frhesten 8 Klopp X, 136. Dt. zitiert in: K. Mller/G. Krçnert, Leben und Werk von Gottfried Willhelm Leibniz. Eine Chronik, Frankfurt 1969 (im Folgenden zitiert als Chronik), 178. 9 Klopp X, 146 (dt. in: Chronik, 179). 10 Klopp X, 137 (dt. in: Chronik, 178). 11 Klopp X, 145.

7.1 Die ußere Geschichte

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Morgen erhob und sein Tagwerk gern mit zeremoniçser Pracht unterbrach, liebte sie die langen Abende, zwanglose Hoheit, freies Gesprch. Keine Schmeichelei, viel weniger etwas Unschçnes htte sich an sie heranwagen drfen; sie wußte das Echte von dem Falschen zu unterscheiden. Die Gelehrten, die sie in ihre Nhe zog, haben der Verbindung von Schçnheit und Geist, Adel und Hçflichkeit, die in ihr war, nie vergessen. So erschien sie auch in der Gesellschaft, die den Hof bildete. Sie kannte ihre Leute durch und durch und schonte ihre Eigenschaften im vertrauten Gesprche mitnichten; Anmaßung, namentlich ungeschickte, wies sie mit Klte von sich, verlegene Bescheidenheit zog sie eher hervor. Sie war stolz und voll Anmut.“12 Und sie fhlte sich, wohl ohne jede falsche Hçflichkeit, als Leibnizens Schlerin: „Was mich angeht“, so schreibt sie am 22. August 1699 an Leibniz, „so kçnnen Sie mich von jetzt ab fr eine von Ihren Schlerinnen zhlen, fr eine von denen, welche Sie schtzen und Ihr Verdienst beachten.“13 Auch andere Lehrer waren Sophie Charlotte willkommen, unter ihnen z. B. der Aufklrer und Deist John Toland, Autor des einflußreichen Werkes „Christianity not Mysterious“ (1696), das eine erbitterte Kontroverse zwischen Deismus und Orthodoxie auslçste. In diese Kontroverse hatte Leibniz auf Seiten Tolands, den er schon im Sommer 1701 in Hannover getroffen hatte, eingegriffen.14 Am 26. Juli 1702 trifft Toland zu Gesprchen mit Leibniz und Sophie Charlotte in Berlin ein. Wiederum scheint Sophie Charlotte dabei die treibende philosophische Kraft gewesen zu sein („Ich ermuntere ihn [Leibniz], ein wenig mit Toland zu disputieren“15). Tolands philosophische „Letters to Serena“ (1704 erschienen) sind dann Sophie Charlotte gewidmet (sie ist mit Serena gemeint). In seiner Reisebeschreibung, die er nach seinem Besuch in Hannover und Berlin zugleich in Englisch und Franzçsisch schrieb und die 1706 auch in deutscher bersetzung erschien, heißt es ber Sophie Charlotte: Ltzenburg wird „in kurtzer zeit ein sehr angenehmer ort werden (…); Und zwar das durch anordnung und einrichtung Sophie Charlottens, der allerschçnsten Prinzeßin Ihrer zeit, und die keinem menschen an richtigen verstande, an 12 L. v. Ranke, Zwçlf Bcher Preußischer Geschichte I (Genesis des Preußischen Staates), ed. H. Michael, Hamburg/Wien/Zrich 1928, 455. 13 Klopp X, 54 (dt. in: Chronik, 159). 14 Annotatiunculae subitaneae ad Tolandi librum „De Christianismo Mysteriis carente“ (1701). 15 Brief vom 30. September 1702 an H. C. v. Bothmer, Briefe der Kçnigin Sophie Charlotte von Preußen und der Kurfrstin Sophie von Hannover an hannoversche Diplomaten, ed. R. Doebner, Leipzig 1905, 21.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

netten und wohlgesetzten worten, wie auch an annehmlichkeit der conversation und umganges etwas nachgiebet. Sie hat gar beraus viel gelesen, und kan mit allerhand leuten von allerhand dingen reden. Man admiriret so wohl ihren scharffen und geschwinden geist, als ihre grndliche wissenschaft, so sie in denen schweresten stcken der welt-weißheit erlanget hat. Ja, ich muß frey, und ohne die geringste schmeicheley gegen Ihre hohe person bekennen, daß ich in meinem gantzem leben niemand gehçret, welcher geschicktere einwrfe htte machen, oder die unzulnglichkeit und sophisterey eines vorgebrachten argumentes und schlusses hurtiger entdecken, oder auch die schwche und strcke einer meynung leichter penetriren kçnnen, als eben Sie. Kein mensch hat iemals besser die kunst gelernet, wie man sich bey allem seinem thun und lassen mit nutzen eine zulßliche ergçtzligkeit machen kçnne, als eben Sie. Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music, und wer Sie in eben so hohem grade lieben will, muß sie auch so wohl verstehen, als Ihr. Maj. welches nichts leichtes ist.“16 Man versteht die intellektuelle und sinnliche Faszination, die von dieser Frau ausgegangen sein muß und die auch Leibniz immer wieder in ihren Bann schlug. Sophie Charlotte war nicht die Schlerin, als die sie sich selbst darzustellen sucht, sondern selbst Teil einer philosophischen Erfahrung, die nicht von einem lehrenden Kopf in einen lernenden Kopf transportiert wird, sondern die alle in gleicher Weise erfaßt, die sich auf sie einlassen. Sie selbst, Sophie Charlotte, ist es, die diese Erfahrung in Gang zu halten sucht. Daher ihre Unnachgiebigkeit und ihr Drngen Leibniz gegenber. Philosophie ist kein Zeitvertreib; sie ist – eine Wendung Hegels variierend – die Zeit selbst ,in Gedanken gefaßt. Von Hannover nach Berlin war es in dieser Hinsicht fr Leibniz nur ein kurzer Weg. In den Grten von Herrenhausen erçrtert er mit der Mutter das Prinzip der Individuation und der Identitt des Ununterscheidbaren (anhand zweier Herbstbltter), in den Grten von Ltzenburg mit der Tochter die beste aller mçglichen Welten und was jenseits der Sinne liegt. Darber hinaus scheint er regelrechte Vorlesungen, auf Einladung der Kçnigin, gehalten zu haben. Mit anderen Worten: die beiden Sophien halten Leibniz nicht nur politisch, sondern auch philosophisch in Atem. Sie bestimmen seine Plne und seine philosophischen Entwrfe – zu einer Zeit, in der philosophisch noch immer in Zweifel stand, ob Frauen ber16 Relation von den Kçniglichen Preußischen und Chur-Hannoverischen Hçfen, an einen vornehmen Staats-Minister in Holland berschrieben, Frankfurt 1706, 38 f..

7.2 Die philosophische Geschichte

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haupt eine Seele haben, und „ob man auch dem Frauenzimmer die Gradus Academicos mittheilen kçnne“17.

7.2 Die philosophische Geschichte Soweit die ußere Geschichte. Ihr entspricht in allen Teilen die ,innere, die philosophische Geschichte. Worum ging es in den Gesprchen zwischen Leibniz und Sophie Charlotte? Eine handgeschriebene Einladung von Sophie Charlotte mag einen ersten Hinweis geben. Sie lautet: „Herr Leibniz behandelt den Gegenstand der Metaphysik in einer leicht verstndlichen Weise, und zwar gemß dem neuen Prinzip der Einheitlichkeit, ber das ich Aufklrung wnsche.“ Und Leibniz notiert auf der Einladung, was gemeint ist: „Das Prinzip der Einheitlichkeit impliziert, daß die Natur letztlich immer dieselbe ist, obwohl sie sich einer großen Bandbreite von Spielarten bedient (…). Als Folge der Einheitlichkeit vertrete ich immer (…) eine vollkommene Betrachtung der Naturgesetze. Den gngigen philosophischen Vorstellungen, daß die Bewegung der Kçrper durch die Seelen verndert wird und daß die Seelen von ihren Funktionen durch die Kçrper abgelenkt werden, halte ich entgegen, daß die Kçrper immer ihren Gesetzen folgen, ohne daß die Seelen sie dabei beeintrchtigen kçnnen, und daß auch die Seelen durchaus nicht durch die Kçrper verwirrt werden, sondern daß eines mit den anderen in Einklang sich bewegt, weil die Seelen dazu da sind, die Kçrper, ja sogar – aus ihrer Perspektive – das Universum darzustellen. Es herrscht Einheitlichkeit in den konstitutiven Prinzipien und in den Naturgesetzen.“18 Das ist nichts anderes als die Philosophie der so genannten Monadologie und der Erkenntnistheorie in den „Nouveaux essais“. Man muß nur das Vorwort zu diesen ,neuen Abhandlungen lesen, um dies zu erkennen. Noch deutlicher wird die Intensitt der Ltzenburger Philosophie anhand eines Traktats ber das, ,was jenseits der Sinne und der Materie liegt, in dem Leibniz den Gegenstand seiner Gesprche mit Sophie Charlotte dokumentiert und den er im Juni 1702 dieser in Briefform selbst bergibt.19 Auch in diesem Traktat legt Leibniz seine erkenntnistheoretischen und 17 H. Suden, Der gelehrte Criticus ber zwey hundert sieben und viertzig curieuse Dubia und Fragen (…), I–III, Leipzig 1704 – 1706, I, 31715, 279 – 294. 18 Hannover, Niederschsische Landesbibliothek LBr F 27 Bl. 198r/v. 19 Lettre touchant ce qui est independant des Sens et de la Matiere (1702), Philos. Schr. VI, 499 – 508.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

monadologischen Vorstellungen ausfhrlich dar. In klaren, knappen Formulierungen wird der philosophische Kern dieser Vorstellungen, den der Substanzbegriff und der Begriff eines intelligiblen Subjekts darstellen, beschrieben. Ein Beispiel: Der „Gedanke meiner selbst, der ich mir der Sinnesobjekte und meiner eignen, hieran anknpfenden Ttigkeit bewußt werde, fgt zu den Gegenstnden der Sinne etwas hinzu. Es ist etwas ganz andres, ob ich an eine Farbe denke oder ob ich zugleich ber diesen Gedanken reflektiere, ebenso, wie die Farbe selbst von dem ,Ich, das sie denkt, verschieden ist. Da ich nun einsehe, daß auch andre Wesen das Recht haben kçnnen, ,Ich zu sagen, oder daß man es fr sie sagen kçnnte, so verstehe ich daraus, was man ganz allgemein als Substanz bezeichnet. Es ist ferner die Betrachtung meiner selbst, die mir auch andre metaphysische Begriffe, wie die der Ursache, Wirkung, Ttigkeit, hnlichkeit usw., ja selbst die Grundbegriffe der Logik und der Moral liefert. Demnach kann man sagen, daß nichts im Verstande ist, das nicht aus den Sinnen kme, ausgenommen der Verstand selbst oder das verstehende Subjekt.“20 Hier tritt mit dem letzten Satz nicht nur die zentrale Formel auf, mit der Leibniz gegen den erkenntnistheoretischen Empirismus John Lockes argumentiert, sondern mit dem zuvor erluterten Begriff des inneren Sinnes, d. h. der Einbildungskraft, auch eine Konzeption, die bereits in eine Kantische Richtung fhrt21. Es folgen Bemerkungen ber den Begriff der Wahrheit und die Grundlagen der Mathematik, desgleichen ber experimentelle Methoden, die Frage, ob es immaterielle Substanzen gibt, und Gott – einen sehr philosophischen Gott. Auch dazu eine kleine Kostprobe: Der „letzte Grund der Dinge, der allen gemeinsam und wegen der Verknpfung aller Teile der Natur allumfassend ist, (ist) das, was man Gott nennt. Dieser muß notwendig eine unendliche und absolut vollkommene Substanz sein. Ich neige dazu, anzunehmen, daß alle immateriellen, endlichen Substanzen – selbst die Genien oder Engel nach der Ansicht einiger alten Kirchenvter – Organe besitzen und daß sie mit Materie verbunden sind, ja, daß sich berall Seelen oder ttige Formen vorfinden.“22 Das sind Kernstze der Leibnizschen Monadologie. In ihrer metaphysischen Sprache auch fr uns heute eindrucksvoll, aber eigentmlich fremd zugleich. Sie verbinden sich erneut mit erkenntnistheoretischen 20 Philos. Schr. VI, 502. bersetzung nach: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, ed. E. Cassirer (bers. v. A. Buchenau), I–II, Leipzig 1904/1906 (im Folgenden zitiert als Hauptschriften), II, 413 f.. 21 Vgl. Philos. Schr. VI, 501 (= Hauptschriften II, 412 f.). 22 Philos. Schr. VI, 507 (= Hauptschriften II, 420 f.).

7.2 Die philosophische Geschichte

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Reflexionen: „Man darf (…) wohl annehmen“, so schließt Leibniz seine berlegungen ab, „daß es berall in den Geschçpfen noch etwas Immaterielles gibt, vor allem aber in uns, wo diese Kraft (…) von jenem Lichte begleitet wird, (…) das uns im Kleinen der Gottheit hnlich macht: sowohl in der Erkenntnis der vorhandenen Ordnung, als durch die Ordnung, die wir selbst in den Dingen stiften, die in unsrem Bereich liegen, indem wir die gçttliche Verfassung des Universums nachahmen.“23 Der Mensch als kleiner Gott – nicht nur in seinem Denken, das die Welt zu begreifen vermag, sondern auch in seinem ,ordnenden Tun, das sie zu seiner Welt werden lßt. Sophie Charlotte – und das sollte hier dokumentiert werden – ist die Adressatin weitreichender philosophischer Ideen. Diese sind fr sie und mit ihr entwickelt. Nicht in popularisierender Form, wie man erwarten mçchte, sondern so, wie sie philosophisch bei Leibniz sind: einfach, klar (auch in ihrer metaphysischen Sprache) und von erheblicher Bedeutung. Kein Zweifel, daß sie auch Sophie Charlotte klar waren. In ihren erkenntnistheoretischen Teilen bilden diese Ideen die Grundlage der gegen Locke gerichteten „Nouveaux essais“, die insofern ihr Entstehen ebenfalls den Gesprchen mit Sophie Charlotte verdanken. Am 4. Dezember 1703 schreibt Sophie Charlotte an Leibniz: „Ich lese gerade das Buch von Mr. Locke, von dem Sie in Ihrem Brief sprachen, und ich bin inzwischen bei den angeborenen Prinzipien angelangt, die mir so gut widerlegt scheinen, daß ich auf Ihre Erwiderung um so neugieriger bin.“24 Sophie Charlotte ist beeindruckt, Leibniz beunruhigt. Bereits am 7. Dezember antwortet er warnend: „Obgleich das Buch von Locke gut geschrieben ist, frchte ich doch, daß es Ew. M. zu trocken sein wird. Denn dieser im brigen sehr gewandte Schriftsteller ist doch nicht genug Mathematiker, um das Wesen der Beweisfhrung recht zu erkennen. Daher kommt es, daß er die Quellen der universal notwendigen oder ewigen Wahrheiten und die der faktischen oder partikularen und zuflligen Wahrheiten, die fehlbar und keinesfalls von absoluter Notwendigkeit sind, nicht hinreichend zu unterscheiden vermochte. Die Erfahrungen der Sinne lehren uns die faktischen Wahrheiten (Tatsachenwahrheiten); aber sie kçnnen uns nie lehren, was notwendig ist (…). Da (…) die Vernunftgrnde oder ewigen Wahrheiten nicht allein durch Erfahrungen oder die ußeren Sinne bewiesen werden kçnnen, folgt daraus, daß sie dem angeborenen Licht (la lumire inne) oder der natrlichen Vernunft (la raison naturelle) entspringen. Und diese Wahrheiten werden auch vor aller Erfahrung er23 Philos. Schr. VI, 507 (= Hauptschriften II, 421). 24 Klopp X, 219 f..

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

kannt.“25 Eben dies wird prgnant im Vorwort zu den „Nouveaux essais“, dem eigentlichen erkenntnistheoretischen Hauptwerk Leibnizens, dargelegt. Dessen Redaktion erfolgt 1704. Am 25. April schreibt Leibniz an Sophie Charlotte: „Ich habe meine Bemerkungen ber das Werk Lockes, die ich in verlorenen Stunden zu Herrenhausen oder unterwegs auf der Reise gemacht habe, fast vollendet (…). Vieles von dem, was er nur oberflchlich behandelt, glaube ich geklrt zu haben.“26 Als alles fertig ist, stirbt Locke (8. November 1704). Leibniz verliert das Interesse an einer Publikation27, arbeitet aber weiter am Text (bis in den Januar 1705). Am 1. Februar 1705 stirbt Sophie Charlotte. Ein Dokument gemeinsamen Philosophierens wird zum Denkmal, und wird erst 1765 (50 Jahre nach Leibnizens Tod) verçffentlicht. Es gibt noch ein weiteres großes Werk Leibnizens, das seine Entstehung den Ltzenburger Gesprchen verdankt. Auch dieses Werk wird erst nach dem Tode Sophie Charlottes (in diesem Falle aber noch zu Lebzeiten Leibnizens) publiziert: die berhmte „Thodice“ (1710).28 Den Anlaß bildet wiederum die Auseinandersetzung mit einem anderen philosophischen Autor: Pierre Bayle. Im Sommer 1702 erscheint die 2. Auflage von dessen „Dictionnaire historique et critique“, in dem wesentliche Teile der Philosophie Leibnizens, vor allem der 1695 entwickelte Gedanke einer prstabilierten Harmonie (auf Leib und Seele und den Kosmos insgesamt bezogen) kritisiert werden.29 Sophie Charlotte, die Bayle 1700 auf einer politischen Reise persçnlich in Holland kennengelernt und mit ihm korrespondiert hatte, ermuntert Leibniz, seine Einwnde gegen Bayle schriftlich darzulegen. Die „Thodice“ ist das Ergebnis dieser Ermunterung und vieler Sommergesprche in den Grten von Ltzenburg. Leibniz erinnert sich (in einem Brief an Thomas Burnet aus dem Jahre 1710): „Der grçßte Teil dieses Werkes ist in Fragmenten whrend meines Aufenthalts bei der inzwischen verstorbenen Kçnigin von Preußen entstanden, an deren Hofe diese Themen im Zusammenhang mit dem Wçr25 26 27 28

Klopp X, 220 f.. Klopp X, 230 (dt. in: Chronik, 190). Vgl. Brief vom 26. Mai 1706 an Th. Burnet, Philos. Schr. III, 307. Essais de thodice sur la bont de Dieu, la libert de lhomme et lorigine du mal, Amsterdam 1710. 29 Leibniz hat diesen Gedanken im „Systme nouveau“ (Philos. Schr. IV, 477 – 487) entwickelt, der im Juni 1695 im „Journal des Scavans“ erschien, aber wohl schon, ebenso wie der „Discours de mtaphysique“, der die gleiche Konzeption enthlt, bereits 1686 entstanden ist (vgl. Discours de mtaphysique § 33, Philos. Schr. IV, 458 f.).

7.2 Die philosophische Geschichte

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terbuch und den dort viel gelesenen anderen Werken Bayles erçrtert wurden. In unseren Gesprchen antwortete ich gewçhnlich auf die von Bayle erhobenen Einwnde, um der Kçnigin klar zu machen, daß diese nicht hielten, was einige, der Religion gegenber kritisch eingestellte Leute glauben machen wollten. Ihre Majestt forderte mich hufig auf, meine Antworten schriftlich zu verfassen, um sie sorgfltiger abwgen zu kçnnen. Nach dem Tode dieser großen Frstin habe ich auf Drngen meiner Freunde, die von meiner Aufgabe wußten, diese Stcke gesammelt und vermehrt, aus denen dann das erwhnte Werk in Oktavformat von respektabler Grçße entstanden ist. Da ich seit meiner Jugend ber dieses Thema nachgedacht habe, meine ich, es grndlich erçrtert zu haben.“30 Was Leibniz in dieser „Thodice“ ber den Gedanken einer prstabilierten Harmonie, ber die Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft und ber die Rechtfertigung Gottes gegenber der Existenz des bels in der Welt schreibt, das war, was Sophie Charlotte wissen wollte, und das war der Inhalt vieler Gesprche in Ltzenburg. Die Thesen, die Leibniz hierzu formuliert, mnden in die zentrale Leibnizsche These, daß die wirkliche Welt die beste aller mçglichen Welten sei. Die ,hçchste Weisheit, so Leibniz hier, konnte „in Verbindung mit einer Gte, die nicht weniger unendlich ist als sie, nur das Beste whlen (…). Denn da ein geringeres bel eine Art Gut ist, ist ebenso ein geringeres Gut eine Art bel, wenn es einem grçßeren Gut hinderlich ist, und es wrde an den Handlungen Gottes etwas zu rgen sein, wenn es ein Mittel gab, es besser zu machen. Und wie in der Mathematik, wenn es kein Maximum und kein Minimum, kurzum, nichts 30 Brief vom 30. Oktober 1710 an Th. Burnet, Philos. Schr. III, 321. Vgl. Brief vom 30. April 1709 an J. Toland, in: A Collection of Several Pieces of Mr. John Toland II, London 1726, 388; ferner Brief vom 2. Mai 1715 an Chr. J. N. von Greiffencrantz („Was meine „Essais de Thodice sur la Bont de Dieu, la Libert de lHomme et lorigine du mal“ betrifft – denn dies ist der Titel des Buches und Thodice bezeichnet die Lehre von der Gerechtigkeit Gottes – sage ich Ihnen, daß die verstorbene Kçnigin von Preußen die Gelegenheit zu diesem Werk gegeben hat. Denn als ich einige Male mehrere Sommermonate mit ihr in Ltzenburg war – ein Landsitz nahe Berlin, den man nun Charlottenburg nennt –, hat sie sich in meiner Gegenwart Passagen aus den Werken Bayles vorlesen lassen, die tausend wissenswerte und gefllige Dinge enthalten, in denen Bayle aber auch Einwnde gegen die Vorsehung und gegen andere Artikel der natrlichen Theologie macht, und ich habe versucht, darauf zu antworten. Und da meine Antworten Ihrer Majestt nicht mißfielen, ußerte sie von Zeit zu Zeit den Wunsch, daß ich sie aufschriebe“, in: G. van den Heuvel, Leibniz in Berlin. Ausstellung im Schloß Charlottenburg, 10. Juni – 22. Juli 1987, Berlin 1987 [Aus Berliner Schlçssern. Kleine Schriften IX], 54).

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

Bestimmtes gibt, alles gleichmßig geschieht oder, wenn das nicht mçglich ist, gar nichts geschieht, so kann man auch bezglich der Weisheit, die nicht minder geregelt ist als die Mathematik, behaupten, daß, wenn es keine beste (…) unter allen mçglichen Welten gbe, Gott gar keine geschaffen haben wrde“. Es gibt „unendlich viele mçgliche Welten (…), von denen Gott die beste gewhlt haben muß, da er nichts tut, ohne der hçchsten Vernunft gemß zu handeln.“31 Eine derartige Vorstellung, so sehr sie in ihrer Argumentationsstruktur im Grunde der noch immer frommen Naturphilosophie der beginnenden Neuzeit entspricht, ist schon von Zeitgenossen, am schrfsten von Voltaire, mit Ironie und beißendem Spott berzogen worden. Tatschlich fllt es schwer, in dieser Welt des Philosophen – wenn sie denn nicht nur die heile Welt in Ltzenburg sein soll – die eigene Welt wiederzuerkennen. Dennoch steckt hinter der Leibnizschen Vorstellung der besten aller mçglichen Welten mehr als nur ein oberflchlicher und weltfremder Optimismus. Leibniz hat diese Vorstellung, die hier ein wenig nher dargelegt werden soll, weil sie in das Zentrum seiner Gesprche mit Sophie Charlotte fhrt, theoretisch zu untermauern versucht, unter anderem durch Hinweis auf die Geltung von Extremalprinzipien in der Physik (das sind Stze der Physik, die physikalische Systeme beschreiben, in denen ein Parameter einen Extremwert, meist ein Minimum wie im Falle des so genannten ,Prinzips der kleinsten Wirkung, annimmt). Details mçgen unerwhnt bleiben. Entscheidend ist, daß Leibniz seine These von der (verborgenen) Vernnftigkeit der Tatsachen, die er nicht nur durch physikalische, sondern auch durch erkenntnistheoretische Grnde zu untermauern sucht, zur These von der Vernnftigkeit der Welt erweitert. Nichts anderes ist mit der Wendung ,beste aller mçglichen Welten gemeint. Worauf es Leibniz ankommt, ist der Nachweis, daß die Welt durchgngig vernnftig und intelligibel ist.32 Eine derartige Voraussetzung wird von ihm als Konsequenz anderer Sachverhalte, z. B. auch Gottes Vernnftigkeit, dargestellt. Sie ist gleichwohl der eigentliche Ausgangspunkt seines Denkens. Darin erweist er sich, rckblickend betrachtet, auf der Seite Hegels: was ist, ist vernnftig. Und auch bei Hegel wird spter unklar sein, ob diese Vorstellung im Sinne einer Voraussetzung zu verstehen ist (einer Voraussetzung, unter der man versucht, die Dinge zum 31 Essais de thodice § 8, Philos. Schr. VI, 107 (bersetzung nach: Philosophische Schriften II/1, ed. H. Herring, Darmstadt 1985, 219 ff.). Vgl. zum Folgenden, in teilweise wçrtlicher Wiederaufnahme, Kapitel 4.6. 32 Vgl. Essais de thodice § 76, Philos. Schr. VI, 95.

7.2 Die philosophische Geschichte

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Sprechen zu bringen) oder im Sinne einer Behauptung (der Behauptung, daß eine derartige Vernunft bereits realisiert sei). Es gibt allerdings noch eine ganz andere Mçglichkeit, Leibnizens These von der besten aller mçglichen Welten zu verstehen. Dazu muß man sich verdeutlichen, daß diese These nicht nur etwas mit theoretischer Vernunft, etwa im Sinne physikalischer Aussagen ber die Welt, sondern auch etwas mit praktischer Vernunft, der Art, wie wir uns in der Welt handelnd an ethischen Maßstben orientieren, zu tun hat. In diesem Falle ginge es nicht um die Beschreibung einer vernnftigen Welt, die zugleich unsere Welt wre, sondern um die Herstellung einer solchen Welt, die unsere Welt werden kçnnte. Vernunft wre hier nicht als theoretische Struktur der Welt verstanden, sondern als das Prinzip des sittlich Guten, dessen Wirksamkeit die Welt zu einer vernnftigen machen kçnnte. „Der Wille ist“, so heißt es in der „Thodice“, „im allgemeinen auf das Gute gerichtet, er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen.“33 Die uns zustehende ,Vollkommenheit konstituiert in diesem Falle nichts anderes als eine ,beste Welt. Sie wre das ,Maß des moralisch Guten, von dem es in den „Nouveaux essais“ heißt, daß es die ,Regel der Vernunft darstelle.34 Was ,mehr Vernunft auf seiner Seite hat, realisiert auch das ,Maß des moralisch Guten besser als das, was weniger Vernunft hat. Eine ,moralische Welt35 ist in diesem Sinne eine vernnftige Welt, und diese ist die beste aller mçglichen Welten. Ein sich darin ausdrckender Vernunftoptimismus kommt etwa in der folgenden Bemerkung zum Ausdruck: „Je mehr wir mit Vernunft handeln, desto mehr werden wir von den Perfektionen unserer Natur bestimmt, d. h. wir sind frei.“36 Das bedeutet: Vernunft ist unserer Natur nichts Fremdes, Entgegenstehendes. Im Gegenteil: Vernunft ist unsere Natur. Kant wird spter das gleiche in der berzeugung zum Ausdruck bringen, daß der Mensch nur im Vernunftgebrauch seiner Natur verbunden bleibt.37 Die Vernnftigkeit der Welt – das ist in erster Linie die Vernnftigkeit der 33 34 35 36

Essais de thodice § 33, Philos. Schr. VI, 122. Nouveaux essais sur lentendement humain II 28, § 6, Akad.-Ausg. VI/6, 250. Principes de la philosophie ou la Monadologie § 86, Philos. Schr. VI, 622. De libertate, zitiert bei F. Kaulbach, Das Labyrinth der Freiheit, in: Studia Leibnitiana Supplementa I (Akten des internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14.–19. November 1966 I), Wiesbaden 1968, 50. 37 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht (1784), Werke VI, 33 – 50. Dazu J. Mittelstraß, Wissenschaft, Lebensform, Aufklrung – mit Kants Augen betrachtet, in: R. Mocek (Ed.), Die Wissenschaftskultur der Aufklrung, Halle 1990, 32 – 46.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

Natur des Menschen. In ihr verschafft sich Ausdruck, was im Rahmen der Leibnizschen Metaphysik auch Ausdruck der Welt selbst, und ihres abbildhaften Verhltnisses zu Gott, ist. Das ist der Vernunftoptimismus, der in den Grten von Ltzenburg zur Debatte steht. In ihn ist alles eingebunden, was an erkenntnistheoretischen, monadologischen und praktisch-philosophischen Dingen erçrtert wird. Sophie Charlotte ist voller philosophischer Ungeduld, sie treibt den Gelehrten mit ihren Fragen – und ihrer Unzufriedenheit. Am 7. August 1702 schreibt sie an Frulein von Pçllnitz: „Ich mag diesen Mann, obgleich ich mich eigentlich ber die Art, mit der er alles so oberflchlich mit mir erçrtert, rgern mßte. Ich zweifle an meinem Talent, denn selten geht er genau auf die Themen ein, die ich behandle.“38 Wer dahinter die liebenswrdige Rcksicht des Philosophen auf die philosophische Ignoranz einer Kçnigin vermutet, der findet sich getuscht. Ranke findet wieder die richtigen Worte: Sophie Charlotte „besaß nicht allein eine sehr gute ußerliche Kenntnis, so daß sie wohl manchen Fachgelehrten in Verlegenheit setzen konnte, sondern sie widmete den Studien das lebendige Interesse, das aus einem noch unbefriedigten Suchen der Wahrheit entspringt; sie kannte die Probleme, die noch nicht gelçst waren“39. ,Die Probleme, die noch nicht gelçst waren – ihre Kenntnis hlt die philosophische Bewegung in Gang. Das hat auch Leibniz gewußt und wohl auch darum in Sophie Charlotte die Philosophin verehrt. Alles andere ist rhrender Schnickschnack, z. B. wenn eine Prinzeß Georg von SachsenMeiningen 1939, auf Sophie Charlotte und Leibniz bezogen, erlutert: „Obgleich das metaphysische Denken mehr eine mnnliche Sache ist, wissen wir doch von einer nicht geringen Anzahl von Frauen, denen das Philosophieren sozusagen Herzenssache war, die neben den realen Dingen dieser Welt nicht nur durch die Scharfsinnigkeit ihres Verstandes, sondern auch durch die Anmut ihres Geistes dazu geschaffen waren, dem ihnen in diesem Sinne ebenbrtigen Mann Freundin, Helferin und Mitarbeiterin zu sein.“40 Als ob Metaphysik eine mnnliche Wissenschaft wre, und Philosophie erst zur Herzenssache werden muß, um weiblich zu werden.

38 Zitiert bei J. P. Erman, Mmoires pour servir lhistoire de Sophie Charlotte, Reine de Prusse, Berlin 1801, 197. 39 L. v. Ranke, a.a.O., 453. 40 Kçnigin Sophie-Charlotte und Leibniz, Die Frau. Monatsschrift fr das gesamte Frauenleben unserer Zeit 46 (1939), 229.

7.3 Die Akademie

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7.3 Die Akademie In Ltzenburg und Berlin geht es nicht nur um Metaphysik, sondern auch um sehr viel handfestere, weltliche Dinge. Nicht nur die beste aller mçglichen Welten steht zur Realisierung an, sondern unter anderem auch eine Maulbeerbaumkultur in der Spreeebene und eine Akademie der Wissenschaften in Berlin. Die Initiative, eine solche ,Societt zu grnden, geht wiederum von Sophie Charlotte aus. 1697 ußert sie den Wunsch, in Berlin ein Observatorium nach dem Vorbild von Paris zu bauen. Leibniz greift diesen Wunsch auf und verbindet ihn sogleich mit seinem bereits 1695 in entsprechenden Denkschriften vorgetragenen Projekt einer großen naturwissenschaftlichen Akademie. Berlin, so Leibniz schmeichelnd, sei mit Salomon (gemeint ist Friedrich III.) und der Kçnigin von Saba (gemeint ist Sophie Charlotte) ohnehin ein Zentrum der Wissenschaften und der Knste.41 Doch daraus wird zunchst nichts. Der Sturz Danckelmans, den Sophie Charlotte betrieben hatte – worin sich die liebenswrdige Philosophin als recht resolute Politikerin erweist – kommt dazwischen. Erst Kalenderprobleme, nmlich der Beschluß der evangelischen Reichsstnde im September 1699, den julianischen Kalender abzuschaffen und, statt zum gregorianischen Kalender berzugehen, eine eigene, den protestantischen Staaten nunmehr selbst zugewiesene Kalenderreform zu betreiben, bringt die Dinge wieder in Gang. Leibniz schlgt im Februar 1700 ein kurbrandenburgisches Kalendermonopol vor, aus dessen Ertrgen sich ein Observatorium samt einer Soziett der Wissenschaften finanzieren lasse. Daniel Ernst Jablonski, Hofprediger in Berlin und spterer Vizeprsident der Akademie, ab 1733 deren Prsident, legt am 19. Mrz 1700 dem Kurfrsten eine mit Leibniz abgestimmte Denkschrift zur Akademiegrndung vor und empfiehlt Leibniz als Prsidenten. Bereits am gleichen Tage stimmt Friedrich III. zu. Auf seine Einladung reist Leibniz im Mai nach Berlin, verfaßt dort im Juni/Juli mehrere Denkschriften zur Finanzierung der Soziett, die von der Besteuerung von Auslandsreisen der brandenburgischen Jugend ber die Einfhrung neuartiger Feuerspritzen, an denen auch die Soziett verdienen sollte, bis zur Etablierung einer Lotterie zu ihren Gunsten reichen, und wird am 12. Juli, nachdem Friedrich III. am Vortage die Stiftungsurkunde unterzeichnet hatte, zum Prsidenten 41 Brief vom 14. Dezember 1697 an Sophie Charlotte, Klopp X, 40. Das Folgende stellt in Teilen eine Kurzfassung von Kapitel 5 dar.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

der Soziett ernannt (drei Tage spter, am 15. Juli, zum brandenburgischen Geheimen Justizrat).42 Leibniz und Sophie Charlotte haben Wissenschaftsgeschichte gemacht, auch wenn die Akademie erst 11 Jahre spter im eigentlichen Sinne zu arbeiten beginnt; nicht zuletzt aus finanziellen Grnden. Immerhin weiß Leibniz im Januar 1709 der Kurfrstin Sophie aus Berlin einiges Trçstliche in dieser Hinsicht zu berichten: „meine Gedanken sind hier fast ausschließlich auf das Gedeihen der Wissenschaften gerichtet. Da die Soziett, die der Kçnig zu ihrer Pflege gegrndet hat, das Privileg fr Maulbeerbume erhielt, haben wir im letzten Jahr mit unseren eigenen Blttern bereits 12 Pfund exzellente Seide hergestellt, und wir haben wohl eine Million Bume und mehrere Hecken gepflanzt, deren Bltter uns dienlich sein werden. Es ist eine Angelegenheit, welche die verstorbene Kçnigin sehr fçrderte und derer sich nun der Kronprinz gelegentlich annimmt.“43 Wie konkret und praktisch sich Leibniz und Sophie Charlotte die Arbeit der Akademie vorgestellt haben, spiegelt sich nicht nur in diesen eigenartigen Finanzierungsformen, sondern auch in einer klaren wissenschaftssystematischen und wissenschaftspolitischen Konzeption. Die Leibnizsche Formel dafr lautet: theoria cum praxi. Sie besagt: „Wenn wir die Disziplinen an und fr sich betrachten, sind sie alle theoretisch; wenn 42 Zur Geschichte der Akademie vgl. A. Harnack, Geschichte der Kçniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (oben Anm. 7); ferner G. Kanthak, Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektmacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademiebewegung des 17. Jahrhunderts, Berlin 1987 (Historische Forschungen 34), 89 ff.. 43 Klopp IX, 296 (dt. in: Leibniz in Berlin [Anm. 30], 53). Mit welchen Schwierigkeiten Leibniz noch 1707 zu kmpfen hatte, geht aus einem weiteren Brief (vom 12. Mai 1707) an die Kurfrstin Sophie hervor: „Ich arbeite fr eine vernnftige Einrichtung der Soziett der Wissenschaften. Ich bin dabei jedoch auf fast ebenso große Schwierigkeiten gestoßen, als wenn ich fr den Papst verhandeln wrde. Und selbst in den Dingen, die schon entschieden waren, gab es Verzçgerungen, die jeden anderen entmutigt htten und die mich mehr als zwei Monate gekostet haben. Man hat mir Hoffnung auf einen glcklichen Ausgang gemacht, und nach 6 oder 7 Jahren hat man schließlich nachdrcklich angeordnet, daß das Observatorium fertiggestellt werden solle, und der Kçnig wird einige tausend Taler fr ein anderes notwendiges Gebude der Soziett aufwenden. Wenn die anderen Herren [d.h. die Mitglieder der Soziett der Wissenschaften, Verf.] sich an die Vereinbarungen, die ich mit ihnen getroffen habe, halten, wird man jedes Jahr etwas verçffentlichen, was vielleicht des Erscheinens wert ist, und fortan werden die Dinge wohl besser ihren Gang nehmen, ohne daß ich mich derart abmhen muß“ (Klopp IX, 281 [dt. in: Leibniz in Berlin, 52]).

7.3 Die Akademie

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wir sie unter dem Gesichtspunkt der Anwendung betrachten, sind sie alle praktisch.“44 Und sie besagt ferner, daß man die Disziplinen, die Wissenschaften praktisch, d. h. anwendungsbezogen, zu machen habe. Den Weg dahin sieht Leibniz in der Grndung von Akademien, der seine Bemhungen auch an anderer Stelle (z. B. in Dresden, Petersburg und Wien) dienen (von den Universitten und deren Leistungsfhigkeit hielt er offenbar wenig). Am 12. Mrz 1700 schreibt er an Jablonski: „Ich htte gern etwas mit der Zeit, davon ein realer Nutz und nicht bloße Curiositten zu erwarten.“45 Gesucht sind Leute, die „sonderlich (…) auf gemeinntzige Applicationes bedacht wren“46. Entsprechend heißt es dann auch in seiner „Denkschrift ber die Errichtung einer Churfrstlichen Societt der Wissenschaften“ (1700): „Solche Churfrstliche Societt mßte nicht auf bloße Curiositt oder Wissensbegierde und unfruchtbare Experimenta gerichtet seyn, oder bey der bloßen Erfindung ntzlicher Dinge ohne Application und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris, London und Florenz geschehen (…); sondern man mßte gleich anfangs das Werk sammt der Wissenschaft auf den Nutzen richten, und auf solche Specimina denken, davon der hohe Urheber Ehre, und das gemeine Wesen ein mehrers zu erwarten Ursach habe. Wre demnach der Zweck, theoriam cum praxi zu vereinigen, und nicht allein die Knste und die Wissenschaften, sondern auch Land und Leute, Feld-Bau, Manufacturen und Commercien, und mit einem Wort die Nahrungs-Mittel zu verbessern.“47 Auch an praktischen Beispielen fr diesen Praxisbezug fehlt es nicht. Ein besonders hbsches Beispiel ist die empfohlene Einrichtung einer Anstalt gegen Feuer-Schden: „Zum Exempel, eines der ntzlichsten Dinge, zum Besten Land und Leute wre eine gute Anstalt gegen FeuerSchden. Und weil nunmehro vortreffliche Mittel dagegen ausgefunden, welche in Machinis und mathematischen Grund beruhen, so kçnnten alle große und kleine Stdte in allen Churfrstlichen Landen damit aufs vortheilhafteste versehen, und ein Theil des fundi Societatis zufçrderst darin gesuchet werden, indem alle Brger, nach Werth ihrer Huser, ein leidliches jhrlich zu Anschaffung und Erhaltung der Brandspritzen und dazu gehçriger Mittel zu contribuiren htten, solches auch, als zu ihrer Wohlfahrt gereichend, von Herzen gern thun wrden, welches dann also zu fassen, daß ein merklicher Ueberschuß bleibe, welcher zu nichts anders, als 44 45 46 47

Dissertatio de arte combinatoria (1666), Akad.-Ausg. VI/1, 229. Deutsche Schriften, I–II, ed. G. E. Guhrauer, Berlin 1838/1840, II, 145. A.a.O., 146. A.a.O., 268.

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7. Der Philosoph und die Kçnigin

ad cassam Societatis Scientiarum anzuwenden, damit sie besser im Stand sey, mehr dergleichen Landersprießliche Dinge auszufinden, oder zu veranstalten.“48 Man sieht auch hier, daß das Geschftliche Leibniz bei all seinen wissenschaftsorganisatorischen Aktivitten nicht mehr loslßt. Der Philosoph Adolf Trendelenburg, mehr als 150 Jahre spter Sekretr der Akademie, hat fr diese lebenspraktische Optik noch eine andere Erklrung: „In demselben Maße als die Eigenthmlichkeit theoretischer Ansichten wchst, wchst in ihnen eine ausschließende, abstoßende Kraft, welche die Gemeinschaft hindert. Wo der Gedanke, wie in der Philosophie, sich selbst Aufgabe wird, da weicht er immer mehr aus der gemeinsamen Arbeit vereinigter Krfte in die isolirte Thtigkeit des still in sich schaffenden Geistes. Zwar wirkt die Mittheilung auch im Theoretischen belebend und berichtigend; aber der praktische Zweck fordert die Vereinigung der Krfte und die Hlfe gemeinsamer Mittel viel dringender. So geschah es, daß Leibniz der Philosophie in der Societt der Wissenschaften keine eigene Stelle anwies.“49 Leibniz selbst htte wohl so nicht gedacht. Fr ihn ist auch wirklichkeitsnahe Wissenschaft Philosophie, nur auf eine andere, konkrete Weise betrieben. Eben deshalb ist aber auch richtig, wenn Trendelenburg in derselben Rede ,am Gedchtnistage Leibnizens, am 1. Juli 1852, die Akademie darauf verpflichtet, ein ,unvergnglicher Leibniz zu sein.50 Das hatte schon Friedrich der Große so gesehen, der dabei allerdings auch die Verdienste seiner Großmutter bei der Grndung der Akademie nicht vergißt: „Die Kçnigin Sophie Charlotte hatte das Hauptverdienst daran. Der Genius der Frstin glich dem eines bedeutenden Mannes, ihre Kenntnisse glichen denen eines Gelehrten. Sie hielt es einer Kçnigin nicht fr unwrdig, einen Philosophen hochzuschtzen. Wie man schon errt, war der Philosoph, den wir meinen, Leibniz. Da die mit besonderen Gaben des Himmels Begnstigten den Frsten ebenbrtig werden, gewhrte sie Leibniz vertrauten Umgang. Ja, sie tat noch mehr: sie schlug ihn als den einzigen vor, der fhig sei, die neue Akademie zu grnden. Leibniz, der mehr als eine Seele hatte, wenn ich so sagen darf, war wohl wrdig, den

48 A.a.O., 271 f.. 49 A. Trendelenburg, Leibniz und die philosophische Thtigkeit der Akademie im vorigen Jahrhundert. Ein Vortrag gehalten am Gedchtnistage Leibnizens, am 1. Juli 1852, in der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1852, 11. 50 A.a.O., 24.

7.3 Die Akademie

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Vorsitz in einer Akademie zu fhren, die er wenn nçtig allein htte darstellen kçnnen.“51 Epilog Damit sind wir beim Epilog angelangt. Die Akademie, nach ihrer Grndung noch weit davon entfernt, ein ,unvergnglicher Leibniz zu sein, hat nicht nur finanzielle Probleme; mit dem Tode Sophie Charlottes verliert sie auch ihre eigentliche Mentorin. Leibniz erhlt die Todesnachricht am 2. Februar 1705. Noch am gleichen Tage schreibt er an Frulein von Pçllnitz: „Ich beurteile Ihre Gefhle nach meinen eigenen. Ich weine nicht, ich beklage mich nicht, aber ich weiß nicht, woran ich bin. Der Verlust der Kçnigin erscheint mir wie ein Traum, aber wenn ich aus meiner Betubung erwache, finde ich ihn nur zu wahr.“52 Leibniz hat in der Tat nicht nur eine kçnigliche Gçnnerin, er hat eine vertraute Freundin verloren. Das dokumentieren auch andere Briefe, die von seiner Erschtterung zeugen. Ebenfalls vom gleichen Tage stammen die Stze an den Kammerprsidenten und Geheimen Rat v. Gçrtz in Hannover: „Eure Exzellenz kann beurteilen, wie sehr mich die traurige und unheilvolle Nachricht vom Tode der Kçnigin getroffen haben muß. Jedermann wird zugeben, daß ich zu denjenigen gehçre, die am meisten verlieren. Und bis hin zu den auslndischen Gesandten gibt man es mir zu erkennen. Doch ist es nicht so sehr der Schaden, den dadurch meine eigenen Interessen erleiden kçnnen, als vielmehr der Verlust, den ich durch den Tod einer so vollkommenen Kçnigin erleide, der mich so sehr berhrt, weil es keine grçßere Befriedigung gab, als sie zu sehen.“53 „Obgleich die Vernunft mir sagt“, heißt es in einem Brief vom 4. Mrz 1705 an Johann Matthias von der Schulenburg, „daß Klagen vergeblich sind und daß man das Andenken der Kçnigin von Preußen ehren soll, anstatt es zu beklagen, fhrt mir meine Einbildungskraft immer wieder diese Frstin mit ihren Tugenden vor Augen und sagt mir, daß sie uns entrissen ist und daß ich eine der grçßten Freuden der Welt, die ich mir nach menschlichem Ermessen fr mein ganzes Leben versprechen konnte, verloren habe.“54 51 Des moeurs, des coutumes, de lindustrie, des progrs de lesprit humain dans les arts et dans les sciences, Oeuvres historiques de Frdric le Grand, I–XXXI, Berlin 1846 – 1857 (im Folgenden zitiert als Oeuvres), I, 230. 52 Klopp X, 264 (dt. in: Chronik, 195). 53 Klopp X, 263 (dt. in: Leibniz in Berlin, 66). 54 Klopp X, 270 (dt. in: Chronik, 195).

154

7. Der Philosoph und die Kçnigin

Leibnizens Klage schließt auch die Erinnerung an gemeinsame philosophische Erfahrungen und Hinweise auf die gemeinsamen Akademieplne ein. Am 10. Juli 1705 schreibt er an den Cambridger Theologen William Wotton: „Sie wollte mich oft in ihrer Nhe haben; so genoß ich hufig das Gesprch einer Frstin, deren Geist und Menschlichkeit von keiner jemals bertroffen wurde. Da ich mich an dieses Glck gewçhnt hatte, berhrte mich die allgemeine Trauer aus persçnlichen Grnden noch schmerzlicher. (…) Diese Kçnigin besaß eine unglaubliche Kenntnis auch auf abgelegenen Gebieten und einen außerordentlichen Wissensdrang, und in unseren Gesprchen trachtete sie danach, diesen immer mehr zu befriedigen, woraus eines Tages ein nicht geringer Nutzen fr die Allgemeinheit erwachsen wre, wenn sie der Tod nicht dahingerafft htte.“55 hnlich heißt es in einem Brief an Lady Masham, die Tochter des Cambridger Platonisten Ralph Cudworth, vom gleichen Tage: „Der Tod der Kçnigin von Preußen hat meinen Briefwechsel und meine berlegungen lange unterbrochen. Diese große Frstin erwies mir unendliche Gte: sie ließ sich mit Vergngen ber meine Spekulationen unterrichten, vertiefte sie sogar, und ich teilte ihr mit, was Sie mir zukommen ließen und worauf ich die Ehre hatte, Ihnen zu antworten. Man hat wohl nie eine so vollkommene und zugleich so philosophische Kçnigin gesehen. Urteilen Sie selbst, Madame, welche Freude ich empfinden mußte, oft bei einer solchen Frstin zu weilen und ermutigt zu werden durch den Eifer, den sie fr die Erkenntnis der Wahrheit bekundete. Wenn sie nach Hannover abreiste, mußte ich ihr bald folgen, denn sie erwies mir die Gnade, sehr oft nach mir zu fragen. Aber wie bestrzt war ich und ganz Berlin, als wir von ihrem Tod erfuhren! Das traf besonders mich wie ein Blitzschlag, der ich im allgemeinen Unglck den grçßten Verlust erlitt. Ich glaubte, darber krank zu werden, da ja die Empfindsamkeit nicht vom Verstand abhngt. Ich war von diesem Schicksalsschlag sehr verwirrt. Aber schließlich bin ich wieder zu mir und meinen Freunden gekommen, und ich mußte Ihnen, Madame, diesen Umstand mitteilen, um fr mein langes Schweigen eine Entschuldigung zu geben.“56 Die philosophische Kçnigin. Sie scheint es noch im Tode gewesen zu sein. Friedrich der Große, ihr Enkel, berichtet, daß sie auf dem Sterbelager zu einer Hofdame gesagt haben soll: „Klagen Sie nicht um mich, denn ich werde jetzt meine Neugierde auf die Prinzipien der Dinge befriedigen, die Leibniz mir nie zu erklren vermochte: den Raum, das Unendliche, das 55 Klopp X, 287 (dt. in: Chronik, 195). 56 Philos. Schr. III, 366 f..

7.3 Die Akademie

155

Sein und das Nichts.“57 Philosophie und Leben berhren sich im Denken Sophie Charlottes, auch wenn diese Worte auf der Schwelle des Todes gesprochen werden. Selbst eine so flchtig und heiter hingeworfene Bemerkung wie die folgende mag das dokumentieren: „Letzthin verfaßte mir Leibniz eine Abhandlung ber das Unendlichkleine. Wer eher als ich, meine Liebe“, schreibt Sophie Charlotte an Frulein von Pçllnitz, „gehçrt dazu?“58 Auch zwischen Mathematik und Leben liegen in Ltzenburg keine disziplinren und andere Welten – Adressat der Infinitesimalbetrachtungen Leibnizens ist nicht nur der Mathematiker Pierre Varignon (etwa in einem Brief vom 20. Juni 170259), sondern auch die Kçnigin Sophie Charlotte. Die Leibnizsche Lehre von der Perspektivitt der Welt, nach der alles, was Teil ist, das Ganze spiegelt, jede Monade die Welt, auf jeweils besondere Weise, reprsentiert, gewinnt hier realistische – oder mßte man sagen barocke? – Zge. Barock ist jedenfalls das Denkmal, das Leibniz Sophie Charlotte setzt: eine Elegie auf den Tod der preußischen Kçnigin. In diese Elegie, deren Entstehen sich keinem hçfischen Anlaß verdankt und die man dennoch als „einen in seiner Art großartigen Abschluß in der Entwicklung des hçfischen Trauergedichts“ bezeichnet hat60, sind philosophische Gedanken eingearbeitet, die uns spter bei Leibniz in der „Monadologie“ (1714) und in den „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ (1714) wieder begegnen werden, die aber auch in der „Metaphysischen Abhandlung“ von 1686 und in der „Thodice“ wurzeln. Mit ihnen ruft Leibniz die Erinnerung an eine gemeinsame philosophische Geschichte zurck. Zuerst das ,Fçrmliche: Der Preußen Kçnigin verlst den Kreiß der Erden Und diese Sonne wird nicht mehr gesehen werden Des hohen Sinnes liecht, der wahren Tugend schein Der schçnheit heller glanz soll nun erloschen seyn Dann das ,Philosophische (die Strophen 11 und 17 als Beispiele): Wrckt Gott dann gar nichts auß daß immer kan bestehen Muß dann ein geist sowohl als wie ein Leib zergehen? Wenn sein erkentniß gleich tieff in die gottheit siht Und auß der ewigkeit den wahrheits-faden ziht 57 Oeuvres I, 112. 58 Brief vom 7. August 1702 an Frulein von Pçllnitz, zitiert bei J. P. Erman, a.a.O., 198. 59 Math. Schr. IV, 106 – 110. 60 W. Loos, Leibniz Gedicht auf den Tod der Kçnigin Sophie Charlotte, in: R. Alewyn u. a., Aus der Welt des Barock, Stuttgart 1957, 80.

156

7. Der Philosoph und die Kçnigin

Der geist ein wesen ist, so durch empfindligkeiten In einem Eins gefast was sonst zertheilt im Weiten Gleich wie der Mittel Punct nimt alle strahlen ein So kan was einfach ist reich ohne Theile seyn61

Leibniz faßt seine Erschtterung in eine metaphysische Zuversicht. Die Philosophie durchbricht das Konventionelle dieses Trauergedichts und stellt die gemeinsame philosophische Erfahrung wieder her. Eben dazu scheint es geschrieben zu sein. Dem philosophischen Nachruf, der eine bleibende Gegenwart beschwçrt, folgt gut 40 Jahre spter der weltliche, der nun schon in eine Vergangenheit fhrt. Er stammt wiederum von Sophie Charlottes Enkel, Friedrich dem Großen: Sophie Charlotte „war eine Frstin von ausgezeichnetem Verdienst, die alle Reize ihres Geschlechts mit der Anmut des Geistes und der Klarheit der Vernunft verband. Sie war in ihrer Jugend unter der Obhut ihrer Familie nach Italien und Frankreich gereist. Man bestimmt sie fr den franzçsischen Thron; Ludwig XIV. war von ihrer Schçnheit beeindruckt, aber politische Grnde ließen diese Heirat scheitern. Diese Frstin fhrte in Preußen den Sinn fr Geselligkeit, die wahre Hçflichkeit und die Liebe zu den Knsten und Wissenschaften ein. Sie grndete die kçnigliche Akademie. Sie berief Leibniz und viele andere Gelehrte an ihren Hof: ihre Wißbegierde wollte die Anfangsgrnde aller Dinge erfassen. Leibniz, den sie eines Tages ber dieses Thema befragte, sagte zu ihr: ,Madame, es gibt kein Mittel, Sie zufriedenzustellen; Sie trachten danach, das Warum des Warum herauszufinden.“62 In seinem „Versuch einer Geschichte der Churmark Brandenburg“ (in sechs Teilen zwischen 1765 und 1775 erschienen) bezeichnet Samuel Buchholtz die Tage Sophie Charlottes als die Epoche, „seit welcher die Deutschen angefangen in der Philosophie zu dencken“63. Wenn diese Feststellung zutreffen sollte, dann trge dieses historische Werk zwei Namen: Leibniz und Sophie Charlotte, die philosophische Kçnigin.

61 Text nach W. Loos, a.a.O., 69 ff.. 62 Mmoire ber Friedrich I., Oeuvres I, 111 f.. 63 S. Buchholtz, Versuch einer Geschichte der Churmark Brandenburg (…), I–VI, Berlin 1765 – 1775, IV, 355.

II. Kant

8. ber ,transzendental Auch der Begriff des Transzendentalen ist Ausdruck der Frage nach dem Grund – dem Grund alles Erkennens und seiner Dinge. Bei Kant schließt diese Frage sowohl einen Begrndungsaspekt (Bedingungen der Mçglichkeit) als auch einen Fundierungsaspekt (Anfnge) ein. In Form einer transzendentalen Pragmatik fhrt das Konzept des Transzendentalen auf einen Imperativ der Rekonstruktion.

8.1 Argumente, Methoden, Theorien „Die Logik ist transcendental“, schreibt Wittgenstein im „Tractatus“ (6.13) und macht damit deutlich, daß auch die von ihm ausgearbeitete Abbildtheorie der Erkenntnis erkenntnistheoretischen Intentionen Kants folgt. Daß Logik transzendental sei, bedeutet in der Konzeption Wittgensteins, daß sie die Bedingung der Mçglichkeit der Darstellung von Tatsachen enthlt: „Die logischen Stze beschreiben das Gerst der Welt, oder vielmehr, sie stellen es dar“ (6.124). In einer derartigen Darstellung liegt nach Wittgenstein eine transzendentale Leistung, also etwas, das auch nach Kant das Wesen des Wissens ausmacht. Wittgensteins Charakterisierung der Logik als transzendental ist nur ein Beispiel fr neuere Verwendungsweisen des Ausdrucks ,transzendental, mit denen an eine Begriffsbildung Kants erinnert wird. Verwirrend ist, daß dies hufig unter systematisch sehr unterschiedlichen Orientierungen und bezogen auf unterschiedliche Kontexte (Argumentationstheorie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) geschieht. Was bei Kant begrifflicher Ausdruck eines unverwechselbaren Neuansatzes in der Philosophie war, bestimmt heute das Profil philosophischer Richtungen (zumindest als Teil ihres Selbstportraits), die sonst nicht allzu viel Gemeinsames miteinander im Sinn haben. Ein solcher Umstand mahnt zur Vorsicht und empfiehlt eigentlich Askese – etwa in der Form, daß man die Rede von ,transzendental wieder strker auf den systematischen Kontext der Philosophie Kants bezieht. Gleichwohl soll hier einer solchen Empfehlung nur bedingt gefolgt werden. Nicht, weil der Autor angesichts eines vielstimmigen philosophischen Kanons der Versuchung unterliegt, mitzuteilen,

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8. ber ,transzendental

daß auch ihm etwas zu ,transzendental eingefallen ist, sondern weil er meint, daß es mit der Rede von ,transzendental in der Tat bertragbare Einsichten zu bewahren bzw. weiter auszuarbeiten gilt. ,Transzendental tritt heute vorwiegend in drei Bedeutungen auf, nmlich zur Bezeichnung (1) einer Argumentationsfigur (,transzendentales Argument), (2) bestimmter Verfahren der Wissensbildung (,transzendentale Methode) und (3) philosophischer Positionen, die durch die Verwendung ,transzendentaler Argumente und/oder ,transzendentaler Methoden charakterisierbar sind (,Transzendentalphilosophie). Diesen Bedeutungen entsprechen in der neueren Diskussion prsuppositionstheoretische, metatheoretische bzw. wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Anstze. Diese Anstze seien einleitend kurz charakterisiert.1 Der Begriff des transzendentalen Arguments bezieht sich in erster Linie nicht (wie die Verwendungsweisen von ,transzendental bei Kant) auf Konstitutionsleistungen in der Wissensbildung, sondern auf den Gebrauch von tu-quoque-Argumenten bzw. auf das Faktum einer ,pragmatic selfrefutation.2 Damit ist wiederum weniger ein logisch-semantischer Zusammenhang der folgenden Art gemeint: p verneinen und q behaupten ergibt notwendig einen Widerspruch, wenn p durch q logisch vorausgesetzt wird. Tu-quoque-Argumente bzw. das Faktum einer ,pragmatic self-refutation involvieren vielmehr eine nicht-sprachliche Ebene: wie ein Kennzeichnungsterm ein Ding prsupponiert, so ein tu-quoque-Argument eine Handlung – du tust schon, was du redend bestreitest. Zur ,transzendentalen Verwendung des Prsuppositionsarguments gehçrt es, daß eine Handlung, darunter auch das Sagen eines Satzes, die Bedingungen der Mçglichkeit ihres Tuns unterstellt (,prsupponiert), das heißt: prsup1

2

Einen differenzierten berblick gibt R. Aschenberg, ber transzendentale Argumente. Orientierung in einer Diskussion zu Kant und Strawson, Philosophisches Jahrbuch 85 (1978), 331 – 358. Wichtige Diskussionsbeitrge in: P. Bieri/R.-P. Horstmann/L. Krger (Eds.), Transcendental Arguments and Science. Essays in Epistemology, Dordrecht/Boston/London 1979 (Beitrge von M. Baum, J. Bennett, R. Rorty, J. F. Rosenberg u. a.). Vgl. J. Passmore, Philosophical Reasoning, London 21970, 58 – 80 (IV Self-Refutation). Einen prsuppositionstheoretischen Ansatz vertreten unter anderen: P. A. Crawford, Kants Theory of Philosophical Proof, Kant-Studien 53 (1961/1962), 257 – 268; M. S. Gram, Kant, Ontology, and the a priori, Evanston 1968; ders., Transcendental Arguments, Nous 5 (1971), 15 – 26; A. P. Griffiths, Transcendental Arguments, Proceedings of the Aristotelian Society Suppl. 43 (1969), 165 – 180; H. L. Ruf, Transcendental Logic. An Essay on Critical Metaphysics, Man and World 2 (1969), 38 – 64.

8.1 Argumente, Methoden, Theorien

161

poniert werden nicht Stze, sondern Handlungen. Daraus folgt dann z. B., daß sich, wenn sich auf der Ebene der Handlungen ,bewußtlos sein und ,ber Bewußtlosigkeit reden pragmatisch ausschließen, fr die Ebene der Stze die Falschheit von ,ich bin bewußtlos ergibt. Deutlich ist damit aber auch, daß tu-quoque-Argumente keine Methode im konstruktiven Sinne darstellen, d. h. weder eine Methode, die Theorien, noch eine Methode, die Prinzipien generiert. Als ,transzendental ist in ihrem Rahmen allein der Status eines Arguments charakterisierbar. Ein Argument heiße demnach ,transzendental, wenn es zeigt, daß das, was bestritten wird, (schon) getan wird, und es heiße ferner ,transzendental, wenn es Voraussetzungen (darunter dann auch Voraussetzungen der Wissensbildung) als pragmatisch unhintergehbar offenlegt. Nun verknpft sich mit dem ursprnglichen, Kantischen Sinn von ,transzendental nicht so sehr die Idee prsuppositionstheoretischer Argumente, sondern in erster Linie die Idee einer Methode. Kant spricht zwar selbst nicht von ,transzendentaler Methode, macht aber deutlich, daß ,transzendentale Kritik „die Methode der Erkenntnis aus reiner Vernunft“3 darstellt. Entsprechend wird die „Kritik der reinen Vernunft“ als ,Traktat von der Methode4 bzw. „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollstndigen Systems der reinen Vernunft“ als ,transzendentale Methodenlehre5 bezeichnet. So hat denn auch vor allem Hintikka gegen eine allzu enge Orientierung der Bedeutung von ,transzendental an tu-quoque-Argumenten wieder daran erinnert, daß sich mit der Rede von ,transzendental ein erkenntniskonstitutiver Sinn verknpft. Gemeint ist eine Methode, die Mçglichkeit einer begrifflicher Praxis, damit insbesondere die Mçglichkeit ,theoretischer Wissensbildung, zu demonstrieren und gleichzeitig den Geltungsanspruch einer faktischen Praxis, d. h. faktischen Wissens, zu rekonstruieren. Dabei wird in Hintikkas Darstellung der in tu-quoque-Argumenten liegende Gesichtspunkt der Selbstbezglichkeit als Eigenschaft transzendentaler methodischer Orientierungen durchaus festgehalten: „The conclusion (the possibility of certain conceptual practices) is arrived at by reasoning which itself relies on these

3 4 5

Kritik der reinen Vernunft B 740. Kritik der reinen Vernunft B XXII. Kritik der reinen Vernunft B 735.

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8. ber ,transzendental

practices. The conclusion makes possible the very argument by means of which it is established.“6 Entscheidend ist, daß es hier nicht allein um den Status von Argumenten (so der prsuppositionstheoretische Ansatz), sondern um den Status der Wissensbildung selbst geht. Wo ber diesen Status aber in Form eines Systems von Aussagen ber Aussagen (in Kants Konzeption: ber synthetisch-apriorische Aussagen) gesprochen wird, nehmen entsprechende Analysen einen metatheoretischen Charakter an. Moderne Varianten eines methodologischen Ansatzes machen von diesem Umstand Gebrauch, in dem z. B. Stegmller die eigentlichen Intentionen der Analysen Kants, im Sinne einer ,Metatheorie der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis7, wiedergegeben sieht. Kçrner wiederum sucht gerade in einer metatheoretischen Interpretation der Analysen Kants die Unmçglichkeit einer transzendentalen Begrndung der Wissensbildung nachzuweisen.8 Die Auszeichnung eines bestimmten kategorialen Schemas, die Kant im Rahmen einer ,transzendentalen Deduktion vornimmt, lßt sich nach Kçrner nicht begrnden, womit zugleich, zumindest in ihrer Kantischen Form, die Mçglichkeit einer ,transzendentalen Methode bestritten wird. Die Grenze metatheoretischer bzw., wenn auf wissenschaftliche Wissensbildung bezogen, wissenschaftstheoretischer Auffassungen berschreiten Konzeptionen, in denen ,transzendentale Argumente und ,transzendentale Methoden zur Charakterisierung bestimmter philosophischer Positionen (im Rahmen der Erkenntnistheorie) dienen. Paradigma ist in diesem Falle noch immer Kants Position selbst, d. h. sein ,transzendentaler Idealismus.9 Dieser Idealismus stellt den Lehrbegriff

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J. Hintikka, Transcendental Arguments: Genuine and Spurious, Nous 6 (1972), 278; vgl. ders., Logic, Language-Games and Information: Kantian Themes in the Philosophy of Logic, Oxford 1973, 98 ff.. W. Stegmller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie and Analytischen Philosophie IV/1 (Personelle und Statistische Wahrscheinlichkeit. Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung), Berlin/Heidelberg/New York 1973, 39 – 41; vgl. ders., Gedanken ber eine mçgliche rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung, I–II, Ratio 9 (1967), 1 – 30, 10 (1968), 1 – 31. St. Kçrner, The Impossibility of Transcendental Deductions, The Monist 51 (1967), 317 – 331, ferner in: L. W. Beck (Ed.), Kant Studies Today, La Salle Ill. 1969, 230 – 244. Kritik der reinen Vernunft B 519. Im gleichen Sinne spricht Kant auch vom ,formalen oder ,kritischen Idealismus; vgl. Kritik der reinen Vernunft B 519 Anm.; Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft

8.1 Argumente, Methoden, Theorien

163

dar, „daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Vernderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegrndete Existenz haben“10. Kant bezieht sich mit diesem Lehrbegriff auf seine ,Kopernikanische Wende, wonach apriorische Leistungen des Erkenntnissubjekts, die zur Ausstattung der (berindividuellen) Subjektivitt gehçren, die Objektivitt der erfahrungsbezogenen Gegenstandserkenntnis bestimmen. Im Gegensatz zum empirischen Idealismus, dessen Gegenstand beliebige Vorstellungen empirischer Subjekte sind, handelt der transzendentale Idealismus nach Kant in diesem Sinne von Vorstellungen, die sich ,notwendig aus der Organisation unseres Vorstellungsvermçgens ergeben. Daher auch die Rede von Transzendentalphilosophie als einer ,Theorie der Gemtskrfte.11 Weniger weitreichende Behauptungen und damit ein anderer ,Lehrbegriff bestimmen neuere Formen von Transzendentalphilosophie, z. B. Formen einer im Anschluß an Strawson so genannten analytischen Transzendentalphilosophie. Anlaß der Rede von ,transzendental ist bei Strawson die Analyse von Begriffen „the use and application of which are essential to empirical knowledge, and which are implicit in any coherent conception of experience which we can form“12. Wie wenig ein derartiges Programm mit Kants Idee einer Transzendentalphilosophie bzw. seinem ,transzendentalen Idealismus zu tun hat, wird darin deutlich, daß die nach dem ,Lehrbegriff Kants gerade fundamentalen Leistungen des Erkenntnissubjekts zugunsten kategorialer Analysen und einer Theorie der Identifikationsbedingungen empirischer Gegenstnde zurcktreten. Es stellt sich deshalb auch die Frage, ob hier die Bezeichnung ,Transzendentalphilosophie noch angemessen ist, oder anders ausgedrckt: ob es so etwas wie eine (nicht-Kantische) Transzendentalphilosophie und eine (nicht-Kantische) transzendentale Methode im strengen Sinne berhaupt gibt. wird auftreten kçnnen § 13 Anm. III (Akad.-Ausg. IV, 294 [Werke III, 158]), § 60 Anhang (Akad.-Ausg. IV, 375 [Werke III, 254]). 10 Kritik der reinen Vernunft B 518 f.. 11 Reflexionen zur Metaphysik 4642, Akad.-Ausg. XVII, 622 („Die Verstandesbegriffe drcken alle actus der Gemthskrfte aus, insofern nach ihren Allgemeinen Gesetzen vorstellungen mçglich sind, und zwar diese ihre Mçglichkeit a priori“). 12 P. F. Strawson, The Bounds of Sense: An Essay on Kants Critique of Pure Reason, London 1966, 18.

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8. ber ,transzendental

Unbeschadet der Beantwortung dieser Frage darf es allerdings als gewiß gelten, daß sich neuere Verwendungsweisen von ,transzendental und ihnen entsprechende systematische Orientierungen, wenn nicht ohnehin unmittelbar im Rahmen einer Kant-Interpretation ausgearbeitet, stets in irgendeiner Weise auf Kant beziehen. Das wiederum bedeutet, daß im Umkreis der Rede von ,transzendental Klrungen der Position Kants nach wie vor auch systematisch gesehen unabdingbar sind. Die folgenden berlegungen dienen in diesem Sinne (a) der Darstellung des begrifflichen Kontextes von ,transzendental, (b) der Erluterung des problematischen Zusammenhangs der Begriffe ,transzendental und ,a priori, (c) der Formulierung eines Vorschlags, wie sich die Konzeption Kants in Richtung auf ein weiteres Apriori (,lebensweltliches Apriori) ausarbeiten bzw. ergnzen lßt, sowie (d) der Reformulierung der Kantischen Idee einer ,transzendentalen Kritik im Sinne eines Rekonstruktionsprogramms.

8.2 Bedingungen der Mçglichkeit Eine der am hufigsten zitierten Definitionen von ,transzendental bei Kant lautet: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenstnden, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenstnden, so fern diese a priori mçglich sein soll, berhaupt beschftigt.“13 In dieser Definition sind alle wesentlichen Elemente, die die Rede von ,transzendental bestimmen, beisammen: ihr Zusammenhang mit apriorischem Wissen, mit der Formel von den ,Bedingungen der Mçglichkeit von Erkenntnis, mit der Auszeichnung des Erkenntnissubjekts und schließlich, zumindest mittelbar, auch mit Begrndungs- und Fundierungsgesichtspunkten. Trotz aller Ambivalenz, die Kants Sprachgebrauch von ,transzendental mit Rcksicht auf andere Stellen belastet14, ist soviel zumindest klar, auch terminologisch: als ,transzendental gelten nach Kant Untersuchungen, die sich mit den in ,synthetischen Stzen a priori for13 Kritik der reinen Vernunft B 25. 14 Dazu, unter Bercksichtigung des Sprachgebrauchs vor Kant, N. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjhrige Kant, Stuttgart/Berlin/ Kçln/Mainz 1970, 20 ff.; ferner I. Angelelli, On the Origins of Kants ,Transcendental, Kant-Studien 63 (1972), 117 – 122; ders., On ,Transcendental Again, Kant-Studien 66 (1975), 116 – 120. Weitere Differenzierungen, die insbesondere den Begriff des transzendentalen Gegenstandes betreffen, bei G. Buchdahl, Reduction – Realization: a Key to the Structure of Kants Thought, Philosophical Topics 12 (1982), 39 – 98.

8.2 Bedingungen der Mçglichkeit

165

mulierten Erkenntnissen bzw. deren Geltungsanspruch befassen, sowie Theorien, die durch solche Untersuchungen charakterisierbar sind (,transzendentaler Idealismus) bzw. solche Erkenntnisse enthalten. Dabei antizipiert Kant, worauf Stegmller hingewiesen hat, Theorien, die „entweder nur solche Erkenntnisse (Mathematik) oder zum Teil solche Erkenntnisse produzieren (Naturwissenschaften)“15, womit der Terminus ,transzendental wiederum einen metatheoretischen Charakter erhlt. Diese Charakterisierung ist nur deshalb nicht allgemein, weil Kant zugleich in seinen erkenntnistheoretischen Analysen ber wissenschaftstheoretische Analysen im engeren Sinne hinausgeht; seine ,Architektonik der reinen Vernunft ist keine ausschließlich wissenschaftstheoretische. Daher bezeichnet auch ,transzendental „grundstzlich, durch das ganze Werk (gemeint ist die „Kritik der reinen Vernunft“, Verf.) hindurch, die Reflexion der menschlichen Vernunft auf ihre eigenen ,Elemente, ihre Begriffe und Grundstze a priori“16. Indiz dafr, daß Kant selbst zwischen einem metatheoretischen und einem erkenntnistheoretischen Aspekt der transzendentalen Theorie unterscheidet, ohne daß dies in seinen Augen dem Begriff des Transzendentalen unterschiedliche Bedeutung verleiht, ist die Unterscheidung zwischen einer ,synthetisch-progressiven Methode, die der Darstellung der „Kritik der reinen Vernunft“ entspricht, und einer ,analytisch-regressiven Methode, die der Darstellung der „Prolegomena“ entspricht.17 Whrend die ,analytisch-regressive Methode die tatschliche Geltung einer Theorie (hier der Newtonschen Physik) unterstellt und ihren Aufbau rekonstruiert, sucht die ,synthetisch-progressive Methode ohne eine derartige Unterstellung, damit auch ohne explizite Orientierung an einem bereits geleisteten theoretischen Aufbau, auszukommen – ihre Rekonstruktionsleistung wird ,allgemein, d. h. adquat fr alle dann in der Rolle von Beispielen auftretenden Theoriebildungen, unterstellt. Was auf den ersten Blick wie eine grundstzliche Differenz anmutet, in der die philosophische Theorie Kants in einen ,transzendentalen und in einen ,metatheoretischen Teil auseinanderzufallen scheint, ist fr Kant selbst nur eine Differenz methodologischer Perspektiven. Insofern nmlich der Sache nach auch die synthetisch-progressive Methode zumindest 15 W. Stegmller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie IV/1, 40. 16 H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft I (Ideenlehre und Paralogismen), Berlin 1966, 11. 17 Prolegomena §§ 4 – 5 (Akad.-Ausg. IV, 271 – 280 [Werke III, 130 – 141]).

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8. ber ,transzendental

auf das Faktum von Erfahrung angewiesen bleibt, ohne dessen Anerkennung die Rede von mçglicher Erfahrung keinen Sinn htte, enthlt sie selbst noch ein regressives Element. Und insofern auch die analytischregressive Methode in ihrer Orientierung an einem theoretischen Faktum dieses nicht nur darstellt, sondern auch um seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ergnzt, enthlt sie selbst wiederum ein progressives Element. Wenn, so darf man im Sinne der vorausgegangenen Feststellung ergnzen, ,transzendental im Rahmen der Terminologie Kants die Reflexion der Vernunft auf ihre eigenen Elemente bezeichnet, dann erfolgt diese Reflexion im Rahmen einer synthetisch-progressiven Methode allgemein auf ,Begriffe und Grundstze a priori, im Rahmen einer analytisch-regressiven Methode speziell auf ,Begriffe und Grundstze a priori einer gegebenen Theorie. Daß ,Begriffe und Grundstze a priori, ferner ,reine Anschauungen (Raum und Zeit), als Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung auftreten, ist dann ein weiteres konstitutives Element der Rede von ,transzendental. Auch dieses Element bereitet in der Regel Verstndnisschwierigkeiten. So ist insbesondere nicht klar, wie sich die Formel ,Bedingung der Mçglichkeit auf die einer Analyse von wenn-so-Stzen (z. B. Subjunktionen der Form ,a ! b, ^x ðaðxÞ ! bðxÞÞ, d. h. generellen hypothetischen Stzen) zu entnehmende logische Unterscheidung zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung bezieht. Die traditionelle Auffassung, auch im Falle der Kantischen Formel sei auf logische Verhltnisse abgestellt, ist zumindest hinsichtlich der weiteren Unterscheidung zwischen einer junktoren- bzw. quantorenlogischen und einer modallogischen Interpretation von wenn-so-Stzen (ein Ereignis E1 ist hinreichende Bedingung eines Ereignisses E2, falls DðE1 ! E2 Þ gilt, und notwendige Bedingung von E2 , falls Dð:E1 ! :E2 Þ gilt), ferner hinsichtlich der Interpretation von modallogischen Beziehungen als Kausalbeziehungen zwischen Ereignissen18, problematisch. Allgemein drfte bei Kant der in prsuppositionstheoretischen Kontexten explizierte Umstand gemeint sein, daß die Realisierbarkeit theoretischer und pragmatischer Intentionen von der Befolgung bestimmter Regeln bzw. (erneut) von bereits vorliegenden Realisierungen solcher Intentionen abhngig ist. Dies entsprche auch dem auf logische Beziehungen nicht eingrenzbaren 18 Vgl. G. H. v. Wright, Causality and Determinism, New York/London 1974; zu den unterschiedlichen Bedeutungen von ,Bedingung: F. Kambartel, Bedingung, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Mannheim/Wien/Zrich 1980, 260 – 261, Stuttgart/Weimar 22005, 379 – 380.

8.2 Bedingungen der Mçglichkeit

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konstitutionstheoretischen Sinn der Formel bei Kant. Dieser Sinn grenzt andererseits Bedingungen auf solche begrifflicher oder pragmatischer Art ein, schließt also z. B. die Bercksichtigung von historischen, gesellschaftlichen oder ,natrlichen Bedingungen (etwa die Existenz des Zentralnervensystems) aus. Im Rahmen des konstitutionstheoretischen Sinnes der Formel treten dann sowohl Gesichtspunkte einer ,transzendentalen Begrndung (einzelner Stze oder Satzzusammenhnge) als auch Gesichtspunkte einer ,transzendentalen Fundierung, und damit Probleme des Anfangs, auf. Auch diese Gesichtspunkte, d. h. die Angabe von Schritten, die methodisch zu Wissen fhren (Begrndung), bzw. die Angabe der Basis, auf der ein methodischer Aufbau erfolgt (Fundierung), sind bei Kant nicht immer streng geschieden. So schließen ,transzendentale Begrndungen, z. B. die Begrndung der autonomistischen These im Rahmen der Freiheitsantinomie, den Hinweis auf ,fundierende Sachverhalte (hier das „Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen“19) ein, ,transzendentale Fundierungen wiederum Hinweise auf Begrndungsfolgen (z. B. in Form von Regelschritten bei den transzendentalen Schemata20). Allgemein scheint die Konzeption des Transzendentalen bei Kant Begrndungsschritte auf Fundierungsschritte, eben den Aufweis von ,Bedingungen der Mçglichkeit, zurckzufhren. Allerdings gibt sich Kant mit einer solchen Zurckfhrung noch nicht zufrieden. Das synthetische Apriori, um dessen ,Mçglichkeit bzw. ,objektive Gltigkeit es hier systematisch geht, wird vielmehr vorzugsweise in Grundstrukturen der Organisation des Bewußtseins oder des menschlichen Wahrnehmungsapparates gesehen. Insbesondere ist es die Unterscheidung zwischen einem ,empirischen Bewußtsein und einem ,transzendentalen Bewußtsein (,Bewußtsein berhaupt), die in fundierender Absicht ,Bedingungen der Mçglichkeit wenn nicht auf ein empirisches, so doch auf ein ,ursprngliches Faktum, die „ursprngliche Einheit der Apperzeption“21, zurckfhren soll: „Die gegebene Anschauung muß unter einem Begriff subsumiert werden, der die Form des Urteilens berhaupt in Ansehung der Anschauung bestimmt, das empirische Bewußtsein der letzteren in einem Bewußtsein berhaupt verknpft, und dadurch den empirischen Urteilen Allgemeingltigkeit verschafft.“22 19 20 21 22

Kritik der reinen Vernunft B 561. Vgl. unten 8.5. Kritik der reinen Vernunft A 118, vgl. A 117. Prolegomena § 20 (Akad.-Ausg. IV, 300 [Werke III, 166]).

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8. ber ,transzendental

Es gibt Bemhungen, auch diesen bewußtseinstheoretischen Hintergrund wieder fr eine auf Kant bezogene Bestimmung der Bedeutung von ,transzendental zur Geltung zu bringen.23 Ob dies systematisch von Nutzen ist, muß allerdings als sehr problematisch angesehen werden; zumindest stehen systematisch einleuchtende Rekonstruktionen des Kantischen Begriffs der ,ursprnglichen Apperzeption nach wie vor aus. Insofern drften aber auch Bemhungen, Kants Analysen eines synthetischen Apriori ohne Verwendung ,bewußtseinstheoretischer Mittel zu rekonstruieren, systematisch weitaus berzeugender sein. Nur solche Bemhungen versetzen in die Lage, moderne systematische Einsichten und Einsichten Kants miteinander zu verbinden.

8.3 Synthetisches Apriori Wenn ,transzendental die Reflexion der Vernunft auf Begriffe, (reine) Anschauungen und Grundstze a priori bezeichnet, und zwar in deren Rolle als ,Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung, dann hngt eine Klrung von ,transzendental auch wesentlich von einer Klrung von ,a priori ab. Das gilt im brigen nicht nur hinsichtlich der Kantischen Bestimmungen von ,transzendental, sondern, insofern hier auf nicht-empirische Elemente abgehoben wird, hinsichtlich jeder systematischen Bestimmung dieses Begriffs. Zuvor war bereits darauf hingewiesen worden, daß es nach Kant apriorische Leistungen des Erkenntnissubjekts sind, die im Sinne einer erkenntnistheoretischen ,Kopernikanischen Wende die Objektivitt der erfahrungsbezogenen Gegenstandserkenntnis ausmachen. Dies drckt Kant bekanntlich auch so aus, „daß wir (…) von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“24, und daß es daher auch besondere Urteile, nmlich synthetische Urteile a priori sind, in denen diejenigen Bedingungen (Begriffe, reine Anschauungen, Grundstze) formuliert werden, die ,Erfahrung, d. h. ein ,Erkennen der Dinge, konstituieren. Weiter in der Terminologie Kants gesprochen: Erkenntnis ist ,objektiv, insofern ihre Gegenstnde von uns, also ,subjektiv, d. h. vom Erkenntnisvermçgen bzw. ,Bewußtsein, erzeugt werden. Gegenstnde der Erkenntnis sind nicht ,Dinge an sich, sondern Vorstellungen, nmlich unsere 23 Vgl. E. Schaper, Arguing Transcendentally, Kant-Studien 63 (1972), 101 – 116. 24 Kritik der reinen Vernunft B XVIII; vgl. J. Hintikka, Logic, Language-Games and Information, 116 f..

8.3 Synthetisches Apriori

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Vorstellungen, weshalb auch ein ,Erkennen der Dinge in erster Linie ein Begreifen unserer eigenen Konstruktionen ist. Das Erkenntnisobjekt (sinnlich Gegebenes) wird durch die (reinen) Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und (vermittelt ber den Schematismus) durch die Verstandesbegriffe (Kategorien) strukturiert. Eben dies bedeutet: Erst die anschaulichen und begrifflichen Unterscheidungsleistungen und ,synthetischen Leistungen des (Erkenntnis-)Subjekts konstituieren das (Erkenntnis-)Objekt und ermçglichen insofern auch, bezogen auf die Art der Erkenntnisleistung, objektive Erkenntnis. Kants oberster Grundsatz der ,transzendentalen Deduktion bringt dies zum Ausdruck: „die Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung berhaupt sind zugleich Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde der Erfahrung, und haben darum objektive Gltigkeit in einem synthetischen Urteile a priori“25. Soweit Kants Darstellung der Rolle eines die Erfahrung organisierenden synthetischen Apriori. Wie aber ist es nun mçglich, sich einen methodischen Zugang zur Rede von ,a priori-Elementen, die dann auch als Elemente des Begriffs des Transzendentalen auftreten sollen, zu verschaffen? Kant selbst gewinnt diesen Zugang in einer Analyse der beiden Begriffspaare ,analytisch – synthetisch und ,a priori – a posteriori (bzw. ,a priori – empirisch), die, abgesehen von der Verbindung ,analytisch – empirisch, zwei voneinander unabhngige Unterscheidungen darstellen.26 Dabei soll der Sinn der Verbindungen ,analytisch – a priori, ,synthetisch – a priori und ,synthetisch – a posteriori bestimmt werden (wegen der Definition von ,analytisch als Inklusionsverhltnis von Begriffen ist die Verbindung ,analytisch – a posteriori ausgeschlossen). Kant bezeichnet Stze als ,a priori, die „von der Erfahrung und selbst von allen Eindrcken der Sinne unabhngiges Erkenntnis“ geben, als ,empirisch entsprechend solche, „die ihre Quellen a posteriori, nmlich in der Erfahrung, haben“27. Analytische Stze erweisen sich auf der Basis dieser Bestimmungen als Stze a priori, nicht-apriorische Stze als notwendig synthetisch, nmlich nicht-analytisch („Erfahrungsurteile, als sol25 Kritik der reinen Vernunft B 197. 26 Die folgende Darstellung folgt der Analyse der Begriffsgeschichte von ,a priori in: J. Mittelstraß, Changing Concepts of the a priori, in: R. E. Butts/J. Hintikka (Eds.), Historical and Philosophical Dimensions of Logic, Methodology and Philosophy of Science (Part Four of the Proceedings of the Fifth International Congress of Logic, Methodology and Philosophy of Science, London, Ontario, Canada – 1975), Dordrecht/Boston 1977 (The University of Western Ontario Series in the Philosophy of Science 12), 113 – 128. 27 Kritik der reinen Vernunft B 2.

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8. ber ,transzendental

che, sind insgesamt synthetisch“28). Offen bleibt allein noch die Frage nach dem Sinn einer Verbindung ,synthetisch – a priori, d. h. die Frage nach der Mçglichkeit synthetischer Stze a priori. Gemeint sind Stze, die (1) synthetisch sind, d. h. durch analytische Begriffsexplikationen nicht vollstndig bestimmbar, und (2) apriorische Geltung besitzen, d. h., die trotz ihres synthetischen Charakters ber Folgerungen, die man aus ihnen zieht (Kant: ,durch Erfahrung) nicht widerlegbar sind. Und hier lautet nun die Antwort Kants (unter Hinweis auf ein arithmetisches Beispiel), daß es sich dabei um Stze handelt, die nicht aufgrund allein logisch-definitorischer (sprich: analytischer) Bestimmungen, sondern aufgrund von Konstruktionen gelten, die ihrerseits nicht bloß wieder die logisch-definitorischen Bestimmungen der beteiligten Begriffe betreffen. Neben Geometrie und Arithmetik sind es dann bekanntlich vor allem bestimmte Grundstze der Physik, z. B. das Kausalprinzip, fr die nunmehr die Geltung eines synthetischen Apriori beansprucht wird. Es gehçrt zu den wesentlichen Ergebnissen dieser Analyse Kants, daß sich die Unterscheidung zwischen ,analytisch und ,empirisch methodisch gesehen als unvollstndig erweist. Kant legt dabei (und auch das ist, zumindest begriffsgeschichtlich gesehen, wesentlich) die Bedeutung von ,a posteriori auf ,empirisch fest. Gemeint ist hier ein empirisch-physikalisches Wissen, d. h. ein Wissen, das sich auf Meßergebnisse sttzt. In diesem Sinne spricht Kant auch von ,empirischen Erkenntnissen. Die Unterscheidung zwischen empirischer Geltung und apriorischer Geltung von Stzen ist demnach so zu verstehen, daß sich empirische Geltung auf Ergebnisse einer Meßpraxis (insbesondere Lngen-, Zeit- und Massenmessungen) sttzt, apriorische Geltung auf den Nachweis, daß sich die Wahrheit eines Satzes ohne Rekurs auf eine derartige Meßpraxis sichern lßt. Entscheidend ist dabei natrlich fr den Begriff des synthetischen Apriori, der hier gebildet wird, daß von Kant ber die Behauptung, daß sich ,empirische Erkenntnisse ohne Inanspruchnahme eines apriorischen Wissens begrndet nicht gewinnen lassen, ein Zusammenhang zwischen empirischer Geltung und apriorischer Geltung hergestellt wird. Im Unterschied zu seiner frheren Verwendung als Metaprdikator fr beweistheoretische Zusammenhnge erhlt der Begriff des Apriori damit einen grundlagentheoretischen Aspekt. Behauptet wird, daß empirische Wissenschaften wie die Physik in ihrer Meßpraxis und in ihren leitenden Orientierungen (z. B. Grundstzen wie dem Kausalprinzip) von nichtempirischem, in diesem Sinne mit apriorischer Geltung vorgetragenem 28 Kritik der reinen Vernunft B 11.

8.3 Synthetisches Apriori

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Wissen abhngig sind. Eben dies besagt jetzt die Rede von den Bedingungen der Mçglichkeit von Erfahrung sowie der Umstand, daß ,a priori bei Kant in der Regel ,apriorischer Teil empirisch-physikalischen Wissens (eben dessen, was bei ihm vornehmlich ,Erfahrung heißt) bedeutet. Kants Analyse erlaubt damit, ohne daß dies die bernahme irgendwelcher Beweislasten zur Konsequenz htte, die sich aus Kants Philosophie ergeben, folgende Przisierungen der Rede von ,a priori: (1) Eine Aussage A heiße ,a priori wahr (bzw. gelte a priori), wenn die Begrndung von A ohne Rekurs auf Folgerungen erfolgt, die man mit Hilfe von A zieht, und wenn A durch solche Folgerungen auch nicht widerlegbar ist. In dieser Definition, der eine synonyme Verwendung der Ausdrcke ,wahr und ,begrndet zugrundeliegt, ist ,a priori ohne Festlegungen darber, welcher Art solche Folgerungen sein sollen, als beweistheoretischer Metaprdikator bzw. beweistheoretisches Apriori bestimmt. (2) Ein Wissen W 1 heiße ,a priori wahr (bzw. gelte a priori) relativ zu einem Wissen W 2 , wenn W 1 konstitutiv fr W 2 ist (W 2 ein auf eine Meßpraxis rekurrierendes Wissen, kurz: ein empirisch-physikalisches Wissen). Diese Definition stellt die von Kant vorgenommene grundlagentheoretische Einschrnkung dar, die seither die Kontroversen ber den Status apriorischer Begrndungen im wesentlichen bestimmt. Logisch gesehen tritt ,a priori in beiden Definitionen als ein zweistelliger Relator zwischen Aussagen auf; in Definition (2) ist eine dieser Aussagen bzw. das Aussagensystem W 2 als empirisch im genannten Sinne charakterisiert.29

29 Vgl. F. Kambartel, Wie abhngig ist die Physik von Erfahrung und Geschichte? Zur methodischen Ordnung apriorischer und empirischer Elemente in der Naturwissenschaft, in: K. Hbner/A. Menne (Eds.), Natur und Geschichte (X. Deutscher Kongreß fr Philosophie Kiel 8.–12. Oktober 1972), Hamburg 1973, 154 ff.. G. Wolters hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Unterscheidung zwischen einer beweistheoretischen und einer grundlagentheoretischen Bedeutung von ,a priori in Anstzen bereits bei J. H. Lambert auftritt. Aus der Sicht Lamberts lßt sich, so Wolters, ein beweistheoretisches Apriori als ein zweistelliger Prdikator ,ap verstehen und ein n-Tupel ðS1 ; . . . ; Sn Þ von Stzen bezglich eines Satzes S entsprechend als ,a priori bezeichnen, wenn S aus ðS1 ; . . . ; Sn Þ logisch folgt: (S1, …, Sn) ap S Ð(S1, …, Sn) a S Dieses beweistheoretische Apriori wird bei Lambert, ebenso wie bei Kant, fr den Begriff einer messenden Erfahrung ,grundlagentheoretisch erweitert (G. Wolters, Basis und Deduktion. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Theorie der axiomatischen Methode bei J. H. Lambert (1728 – 1777), Berlin/New York 1980, 77 ff.).

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8. ber ,transzendental

Damit wird auch noch einmal deutlich, daß jedenfalls alle analytischen Stze zu einem apriorischen Wissen gerechnet werden mssen; darunter sowohl die auf logisch-definitorischen Vereinbarungen beruhenden formal-analytischen Stze als auch die zustzlich auf terminologischen Regeln beruhenden material-analytischen Stze. Zugleich ist dies der Punkt, an dem Kant im Hinblick auf den Begriff des Transzendentalen eine wesentliche Einschrnkung vornimmt. Nach Kant ist nmlich nicht alles apriorische Wissen als ,transzendental charakterisierbar, vielmehr nur das auf synthetischen Urteilen a priori basierende Wissen – nach den Vorstellungen Kants also neben einer rationalen Physik auch Geometrie und Arithmetik, insofern diese Konstruktionen in der reinen Anschauung zum Gegenstand haben. Analytisches Wissen, obgleich apriorisches Wissen, besitzt hingegen in dieser Konzeption keinen transzendentalen Status: „nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder mçglich sind, (heißen) transzendental (d.i. die Mçglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori).“30 Allein das grundlagentheoretische Apriori bildet demnach auch ein transzendentales Apriori im strengen Sinne. Und das macht einen guten Sinn. Denn welchen Sinn sollte es auch haben, etwa hinter dem (formal-analytisch wahren) Satz ,x,y e verheiratet ! x e Junggeselle (der Prdikator ,Junggeselle definiert durch: x e Junggeselle Ð x e mnnlich ^ :_y x; y e verheiratet) eine transzendentale Wahrheit bzw. ein transzendentales Apriori zu vermuten? |

8.4 Lebensweltliches Apriori Mit der Charakterisierung des synthetischen Apriori als transzendentales Apriori ist der konstitutionstheoretische Sinn dieser Begriffsbildung Kants gegenber anderen Formen apriorischen Wissens (z. B. den analytischen Formen) deutlich herausgearbeitet. Diese Begriffsbildung ist auch logisch soweit klar, als im Rahmen des bergangs von einer beweistheoretischen zu einer grundlagentheoretischen Bedeutung von ,a priori gezeigt wird, daß die Unterscheidung zwischen ,analytisch und ,empirisch unvollstndig ist. Kants Ergnzung dieser Unterscheidung, deren Unvollstndigkeit heute anhand der Problematik von theoretischen und Dispositionsbegriffen erneut diskutiert wird, durch den Begriff des synthetischen 30 Kritik der reinen Vernunft B 80.

8.4 Lebensweltliches Apriori

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Apriori trgt dabei den besonderen Bedingungen in Mathematik und Physik Rechnung, in deren Rahmen es jeweils synthetische Bestimmungen sind, die hier die Gegenstnde der Erkenntnis konstituieren. Wissenschaftstheoretisch weiter ausgearbeitet fhrt das synthetische Apriori Kants in diesem Sinne auf die Unterscheidung zwischen formal-synthetischen Stzen, d. h. Stzen, deren Wahrheit sich durch Rekurs auf logischdefinitorische Bestimmungen und pragmatisch gerechtfertigte symbolische Konstruktionen sichern lßt, und material-synthetischen Stzen, die zustzlich den Rekurs auf ideale Handlungsnormen (,ideative Regeln), z. B. fr die Euklidische Ebene, vorsehen. Im Sinne einer derartigen begrifflichen Ausarbeitung des synthetischen Apriori charakterisieren formal-synthetische Stze die Arithmetik, material-synthetische Stze die Geometrie bzw. eine mit ihren Mitteln aufgebaute Protophysik (als Theorie der Meßgrçßen bzw. der Meßgerte).31 Systematisch unklar ist angesichts dieser Differenzierungen wiederum der Versuch Kants, das synthetische Apriori, zumal in seiner transzendentalen Verwendung, in Grundstrukturen der Organisation des Bewußtseins oder des menschlichen Wahrnehmungsapparates zu verankern. Der erkenntnistheoretische Rahmen, in dem sich die berlegungen Kants bewegen und der sich als eine Philosophie der (berindividuellen) Subjektivitt charakterisieren lßt, erweist sich an dieser Stelle als zu eng; Kants Bemhungen, dennoch in diesem Rahmen zu bleiben, fhren zwangslufig von konstitutionstheoretischen Analysen in materiale Theorien (ber das Bewußtsein bzw. die Wahrnehmung). Anders ausgedrckt: Der Weg in derartige Theorien wird von Kant beschritten, weil er (1) die Mçglichkeiten einer sprachphilosophischen Rekonstruktion konstitutionstheoretischer Zusammenhnge noch nicht in Erwgung zog und (2) den ,Aristotelischen Weg einer Einbettung wissenschaftlicher Erfahrungsbegriffe in eine Analyse lebensweltlicher Verhltnisse nicht mehr sah. Nun ist es nicht so, daß Kants Begriff der Erfahrung allein auf empirisch-physikalisches Wissen festgelegt und in diesem Sinne ein ausschließlich metatheoretischer Begriff ist. Das machen unter anderem die Analysen der „Transzendentalen sthetik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ deutlich. Wenn Kant im Rahmen dieser Analysen nmlich auch den 31 Zu diesen Unterscheidungen vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen, Logische Propdeutik oder Vorschule des vernnftigen Redens, Mannheim 1967, 213 ff.; ferner P. Lorenzen/O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/Zrich 21975, 210 ff..

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8. ber ,transzendental

Anschauungsraum als ,Bedingung der Mçglichkeit von Erfahrung bezeichnet, dann sind hier unter Erfahrung sowohl lebensweltliche (ansatzweise darum auch ,Aristotelische) Orientierungsvermçgen als auch Erfahrungsstze einer experimentellen Physik (Kant: ,empirische Erkenntnisse) verstanden. Das sei kurz erlutert. In der „Transzendentalen sthetik“ geht es um den Nachweis, daß ein rumliches Orientierungsvermçgen kein empirisches Wissen betrifft, das in hnlicher Weise gebildet wrde wie ein auf Gegenstnde der Wahrnehmung bezogenes oder auf Gegenstnde der Wahrnehmung rekurrierendes Wissen. Gleiches gilt fr die Rede von ausgedehnten Kçrpern und rumlichen Formen sowie in analoger Weise von zeitlichen Orientierungsvermçgen und deren Realisierungen (z. B. Handlungsschritte wie Aufeinanderfolge und Wiederholungen). Der Nachweis wird gefhrt, indem deutlich gemacht wird, daß der Raum nicht nur nicht wahrgenommen werden kann und in diesem Sinne kein empirischer Gegenstand ist32, sondern daß seine Vorstellung alle Wahrnehmungen und darber hinaus alle Erfahrung immer schon begleitet, insofern die Wahrnehmung eines Gegenstandes diese Vorstellung bereits voraussetzt. Als ,reine Form der Anschauung geht der Raum nach Kant, ebenso wie die Zeit, „allen Erscheinungen und allen Datis der Erfahrung vorher, und macht diese vielmehr allererst mçglich“33. Damit ist ein das Orientierungsvermçgen und damit auch die Ordnung der ,Erscheinungen organisierendes Apriori nicht-begrifflicher Art entdeckt, das von Kant dann zu den methodischen Grundlagen sowohl der Physik als auch der Mathematik genommen wird. Daß der Raum nach Kant ,reine Anschauung, Anschauung a priori ist, liegt daran, daß Begriffe Intensionen von Prdikatoren ber beliebig viele ,Beispiele sind, von Raum aber nur hinsichtlich ein und desselben Anschauungsraumes, und zwar ohne Rekurs auf empirische Anschauungen, gesprochen wird. Daß der Raum als reine Anschauung zu den Grundlagen sowohl der Arithmetik als auch der Geometrie gehçrt, ist so zu verstehen, daß deren Stze auf anschaulichen Konstruktionen, d. h. der Herstellung rumlicher Formen bzw. anschaulicher Figurenreihen, beruhen. Damit leistet aber eine Theorie des Anschauungsraumes, wie sie Kant zum ersten Male methodisch unabhngig von empirisch-physikalischen und formalistisch-mathematischen Theorien zu formulieren sucht, sowohl eine nhere Bestimmung 32 „Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von ußeren Erfahrungen abgezogen worden“ (Kritik der reinen Vernunft B 38). 33 Kritik der reinen Vernunft B 323.

8.4 Lebensweltliches Apriori

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des Begriffs der Konstruktion (als Konstruktion im Anschauungsraum) als auch den Nachweis der Abhngigkeit wissenschaftlicher und vor-wissenschaftlicher Erfahrung von den Bedingungen ihrer rumlichen Erzeugung bzw. ihres rumlichen Auftretens.34 Sieht man hier von der verbleibenden Unklarheit ber den unterschiedlichen Status der anschaulichen Struktur wissenschaftlicher und vorwissenschaftlicher Erfahrung sowie einer systematisch problematischen Verbindung mit einer Theorie der Wahrnehmung ab, so darf man feststellen, daß in Kants Analyse der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit mit der Explikation eines nicht-begrifflichen Apriori erste Anstze zur Formulierung eines lebensweltlichen Apriori wissenschaftlicher Theorien gegeben sind. Dieses bringt sich, soweit von ,Raum die Rede ist, im rumlichen Orientierungsvermçgen und in der Praxis der Herstellung rumlicher Formen zur Geltung und ist daher auch geeignet, das synthetische Apriori statt in einer Theorie des Bewußtseins in einer Reflexion auf pragmatische Orientierungs- und Konstruktionsleistungen zu begrnden. Genauer gesagt: das synthetische Apriori hat selbst keine rein theoretische Struktur, es ist vielmehr aus vor-wissenschaftlichen (,lebensweltlichen) und wissenschaftlichen (,empirische Erkenntnisse organisierenden) Elementen zusammengesetzt. In einer systematisch ber Kants Analysen hinausgehenden Form lßt sich dies in der Rekonstruktion eines gestuften Apriori empirischer Theorien nachweisen. Resultat einer derartigen Rekonstruktion ist35, daß sich auf der Basis eines vor-theoretischen Apriori, das im ,Aristotelischen Sinne als ein ,Nest pragmatischer Orientierungsund Handlungsgewohnheiten charakterisierbar ist, ein meßtheoretisches Apriori aufbauen lßt, das die Maßstbe fr die die Objektivitt einer messenden (empirischen) Theorie sichernden Meßverfahren zur Verfgung stellt und damit seinerseits Basis hypothetisch-deduktiver empirischer Theorien ist. Ein synthetisches Apriori empirischer Theorien erweist sich in einer derartigen Rekonstruktion gegenber der Analyse Kants als wesentlich komplexer. 34 Vgl. die hieran anschließenden systematischen berlegungen bei P. Janich/J. Mittelstraß, Raum, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Ch. Wild (Eds.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe II, Mnchen 1973, 1154 – 1168. 35 Vgl. dazu F. Kambartel, a.a.O. (Anm. 29), 158 ff.; ferner J. Mittelstraß, Historische Analyse und konstruktive Begrndung, in: K. Lorenz (Ed.), Konstruktionen versus Positionen. Beitrge zur Diskussion um die Konstruktive Wissenschaftstheorie, I–II, Berlin/New York 1979, II (Allgemeine Wissenschaftstheorie), 256 – 277, hier 269 ff..

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8. ber ,transzendental

Um zu verdeutlichen, was mit einem vor-theoretischen oder lebensweltlichen Apriori gemeint ist, sei hier kurz an die erkenntnistheoretische Rolle der Prdikation erinnert.36 Ein elementares Wissen und Kçnnen, auf das auch ein theoretisches Wissen in einem methodischen Aufbau angewiesen bleibt, bezieht sich in erster Linie auf das Erlernen und die Beherrschung von Unterscheidungen und Orientierungen. Durch sie, d. h. durch Unterscheidungshandlungen und Orientierungshandlungen, konstituiert sich erkenntnistheoretisch eine vor-theoretische Praxis, die durch ineinandergreifende Lehr- und Lernsituationen charakterisierbar ist. In diesen Situationen werden einfache Sprachhandlungen wie das Unterscheiden und sprachfreie Orientierungshandlungen wie das rumliche Sehen pragmatisch beherrscht und kontrolliert. Die Normierung einer faktischen Unterscheidungspraxis beliebiger Komplexitt durch eine methodisch veranstaltete Einfhrungspraxis fhrt dann jeweils zu einer Rekonstruktion des mit dieser Praxis gegebenen Unterscheidungswissens. Sie schließt dabei bereits eine Rekonstruktion elementarer Begrndungshandlungen wie die ,argumentative Sicherung von Elementaraussagen, durch die erste einfache Geltungsfragen beantwortet werden, ein. Umgekehrt setzt – und dies ist hier das Entscheidende – jedes theoretische Wissen eben diese elementare Praxis des Unterscheidens, Unterscheidungen-Verwendens und des Argumentierens fr oder gegen unterscheidungsabhngige Behauptungen schon voraus. Es gibt keinen Anfang theoretischen Wissens, der sich außerhalb von Unterscheidungen stellen kçnnte bzw. von einer Normierung elementarer Sprachhandlungen unabhngig wre. Insofern baut die Begrifflichkeit theoretischer Diskurse, die Kant noch direkt, nmlich ohne vorausgehende Klrung der Prdikationspraxis selbst, anzugeben versuchte, auf einer derartigen (elementaren) Prdikationspraxis auf. Methodisch formuliert basieren theoretische Zusammenhnge also auf einem mit der elementaren Prdikation bzw. den dieser zugeordneten Elementaraussagen und ihren logischen Verknpfungen gegebenen Wissen. Dem genetischen Primat eines lebensweltlich zur Verfgung stehenden Unterscheidungs- und Orientierungswissens entspricht der logische Primat der elementaren Prdikation vor theoriebildenden komplexen Aussagen und den in diesem Zusammenhang Anwendung findenden 36 Die folgenden Bemerkungen entsprechen, in geringfgig modifizierter Form, der Darstellung in: Changing Concepts of the a priori (oben Anm. 26), 120 ff.; vgl. ferner J. Mittelstraß, Die Mçglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 56 – 83, 221 – 229 (Kap. 3 Erfahrung und Begrndung).

8.4 Lebensweltliches Apriori

177

spezielleren Beweis- und Begrndungsverfahren. Die elementare Prdikation stellt insofern, erkenntnistheoretisch formuliert, ein Apriori jeden Wissens dar, weil (1) theoretisches Wissen die elementare Prdikation weder zu erklren noch zu begrnden vermag, ohne selbst schon von ihr Gebrauch zu machen, und weil es (2) keine, auch keine apriorische Begrndung einer Theorie geben kann, in die nicht selbst schon jene vortheoretische Unterscheidungs- und Orientierungspraxis als ein apriorischer Bestandteil Eingang gefunden htte. Dieses Apriori, das Teil des lebensweltlichen Apriori ist, soll als Unterscheidungsapriori bezeichnet werden.37 In der Terminologie Kants wre damit ein transzendentaler Status der Prdikation rekonstruiert und zugleich die vornehmlich metatheoretisch und erkenntnistheoretisch orientierte Analyse auch wieder mit einem prsuppositionalen Sinn von ,transzendental (im Rahmen der Ausgangsunterscheidungen) verbunden: Als sprachlich fundamentale Handlung ist die Prdikation im strengen Sinne ,unhintergehbar; jede Reflexion ber die Prdikation, auch jede sprachphilosophische oder linguistische Theorie der Prdikation, macht von ihr bereits Gebrauch. Das bedeutet, noch einmal anders formuliert: (1) die Prdikation ist tatschlich (in einem allgemeinen Sinne) ein Anfang, sie lßt sich nicht ,fundieren; (2) die Prdikation ist ,Bedingung der Mçglichkeit gemeinsamer Orientierungen, darunter Theorien, weil derartige Orientierungen unterscheidend zustandekommen. Wo nicht unterschieden wird, wird nichts gesagt. Auf diesen Umstand sttzt sich im Kern auch die anfangs zitierte These Wittgensteins ber den transzendentalen Charakter der Logik. Lorenz hat gezeigt, daß sich die Abbildtheorie im „Tractatus“, aus dem diese These stammt, als eine Theorie der Prdikation auffassen lßt.38 Als solche enthielte sie dann im Sinne des eben Gesagten die ,Bedingung der Mçglich37 Einen anderen Teil, dessen Rekonstruktion sich auf den apparativen bzw. experimentellen Aufbau empirischer Theorien wie der Physik bezieht, bildet ein Herstellungsapriori (vgl. auch dazu die in Anm. 36 genannten Arbeiten). Im Falle der Physik ist dieses Apriori dadurch gegeben, daß geometrische Begriffe im Rahmen einer operativen Begrndung ber Herstellungsverfahren fr rumliche Formen definiert werden. Eine Theorie der geometrischen Grçßenbestimmungen setzt dann bereits die Herstellung von Meßgerten voraus, womit das Herstellungsapriori in ein meßtheoretisches Apriori empirischer Theorien wie der Physik fhrt. Vgl. P. Janich, Zur Protophysik des Raumes, in: G. Bçhme (Ed.), Protophysik. Fr und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, Frankfurt 1976, 83 – 130. 38 K. Lorenz, Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der Analytischen Philosophie, Frankfurt 1970, 64 ff..

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8. ber ,transzendental

keit der Darstellung von Tatsachen. Kant wre vom Kopf (Begriff der Subjektivitt, deren Basis eine Theorie des Bewußtseins ist) auf die Fße (Begriff eines lebensweltlichen Apriori, dessen Basis unter anderem eine Prdikationstheorie ist) gestellt.

8.5 Pragmatische Rekonstruktion Es gibt allerdings auch bei Kant thematische Ausarbeitungen des Begriffs des synthetischen Apriori, die eine solche Prozedur offenbar nicht erforderlich machen. Whrend sich die Konzeption eines lebensweltlichen Apriori im prdikationstheoretischen Sinne nur sehr mittelbar auf Kant beziehen lßt, ist das hinsichtlich der von Kant analysierten anschaulichen Struktur mathematischer Konstruktionen ganz anders. Kant selbst verlßt hier nmlich die Ebene der Stze und Begriffsexplikationen und argumentiert stattdessen, wie schon die Hinweise auf seine Theorie des Anschauungsraumes deutlich machen sollten, auf einer pragmatischen Ebene. Daß diese Argumentation unter dem Titel „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“39 zu den schwierigsten Passagen der „Kritik der reinen Vernunft“ gehçrt, ist nicht notwendigerweise ein Indiz gegen ihren systematisch gesehen elementaren Charakter. Kants Explikation eines nicht-begrifflichen Apriori, von dem bereits die Rede war, geht von der Annahme aus, daß der ,mathematischen Erkenntnis „eine reine Anschauung zum Grunde liegen“ muß, „in welcher sie alle ihre Begriffe in concreto, und dennoch a priori darstellen, oder, wie man es nennt, sie konstruieren kann“40. ,Transzendentale Schemata stellen in diesem Sinne Regeln bzw. Konstruktionsverfahren dar.41 So ist nach Kant

39 Kritik der reinen Vernunft B 176 ff.. 40 Prolegomena § 7 (Akad.-Ausg. IV, 281 [Werke III, 142 f.]). 41 Vgl. zum Folgenden F. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt 1968, 21976, 113 ff.; ferner J. Hintikka, Kant on the Mathematical Method, The Monist 51 (1967), 352 – 375; ders., Logic, Language-Games and Information, 114 ff.; A. T. Winterbourne, Construction and the Role of Schematism in Kants Philosophy of Mathematics, Studies in History and Philosophy of Science 12 (1981), 33 – 46, sowie die folgenden einschlgigen Arbeiten von R. E. Butts: Kants Schemata as Semantical Rules, in: L. W. Beck (Ed.), Kant Studies Today (oben Anm. 8), 290 – 300; Rules, Examples and Constructions. Kants Theory of Mathematics, Synthese 47 (1981), 257 – 288.

8.5 Pragmatische Rekonstruktion

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,die Zahl Schema der Kategorie ,Quantitt, charakterisierbar durch die beiden Herstellungsregeln )j n ) nj In diesem arithmetischen Kalkl bedeutet die erste Regel eine Anfangsregel (Regel ohne Prmissen), mit der die Grundfigur ,j hergestellt wird, die zweite Regel den bergang zu einer weiteren Figur: wenn n, die Prmisse der Regel, hergestellt ist, dann ist es erlaubt, auch nj, die Konklusion der Regel, herzustellen. Der Regelpfeil ,) besagt hier ein praktisches ,wenn-dann – immer dann, wenn eine Handlung ausgefhrt und ihr Resultat eine Figur n ist, soll eine weitere Handlung regelgerecht sein, bei der ,nj hergestellt wird. Daß damit Kants systematische Intentionen getroffen sind, machen seine Erluterungen deutlich. ,Transzendentale Schemata sollen die Verbindung zwischen den ,reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) und den ,Erscheinungen herstellen, und zwar so, daß damit das Problem der Anwendung begrifflicher Hilfsmittel auf das in der sinnlichen Anschauung Gegebene gelçst werden kann: Es ist „eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufgen), als, seine Anschauungen sich verstndlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermçgen, oder Fhigkeiten, kçnnen auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“42. Diese Vereinigung leisten die ,transzendentalen Schemata, insofern sie sowohl ,intellektuell als auch ,sinnlich sind.43 ,Sinnlich dabei in der Weise, daß sie sich auf Struktureigenschaften von Handlungsfolgen wie Anfang, Aufeinanderfolge und Wiederholung, nicht jedoch ,bildlich auf bestimmte anschauliche Handlungen beziehen: Ein ,transzendentales Schema ist „etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemß einer Regel der Einheit nach Begriffen berhaupt, die die Kategorie ausdrckt“44. Entsprechend ist fr Kant die Zahl „eine Vorstellung (…), die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt“45.

42 43 44 45

Kritik der reinen Vernunft B 75 f.. Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 75. Kritik der reinen Vernunft B 181. Kritik der reinen Vernunft B 182.

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8. ber ,transzendental

,Schematisch meint hier die Wiederholung einer Handlung ausgehend von einem Anfang, wobei sich das entsprechende Konstruktionsverfahren unterschiedlicher Realisierungsformen ,in der sinnlichen Anschauung bedienen kann – im Falle des arithmetischen Kalkls z. B. Strich- oder anderer Figurenfolgen (die Gleichheit von Figuren, die hier Ziffern fr Zahlen darstellen, sichern die beiden weiteren Regeln )j=j und m = n ) mj = nj). Entscheidend ist dabei nach Kant, daß dem ,Begriff der Zahl kein Bild, sondern ein Herstellungsverfahren ,in der Anschauung entspricht. Und dieses schematische Verfahren der Darstellung ist ein ,transzendentales Verfahren, insofern mit ihm Erzeugungsbedingungen von Begriffen ,in der Anschauung angegeben sind.46 Die Stze, die ber ein solches Verfahren gewonnen werden, waren zuvor als formal-synthetische Stze, im Unterschied zu den material-synthetischen Stzen der Geometrie, klassifiziert worden. Bei der Rede von den ,transzendentalen Schemata geht es Kant also allgemein um das Verhltnis von Begriff und Anschauung, speziell um die Rekonstruktion pragmatischer Fundamente (,anschaulicher Strukturen) der Mathematik. Diese pragmatischen Fundamente liegen in Handlungsstrukturen beschlossen. Das aber bedeutet im Sinne des ber das Unterscheidungsapriori Gesagten: Whrend das Erlernen eines Handlungsschemas (im arithmetischen Falle z. B. das Aneinandersetzen und Wiederholen) die Geltung irgendwelcher theoretischer Aussagen nicht voraussetzt, versetzt es selbst, wie im arithmetischen Falle ber Handlungsanweisungen zur regelgerechten Herstellung von Figuren (Ziffern), in die Lage, theoretische Gegenstnde, hier die natrlichen Zahlen, zu erzeugen. Die Konstruktionen der Mathematik erweisen sich darin unter Fundierungsgesichtspunkten als Rekonstruktionen einer vor-theoretischen (,pragmatischen) Praxis. Insofern aber derartige Rekonstruktionen bei Kant zum Begriff der Konstruktion gehçren, gibt es der Sache nach bei Kant bereits eine transzendentale Pragmatik. Mit einer derartigen Pragmatik erreichen die Analysen Kants auch in Bezug auf spezielles Wissen, wie anhand des arithmetischen Kalkls dargestellt, ein nicht-begriffliches und vor-theoretisches Apriori, ohne daß dies im Begriff des synthetischen Apriori explizit ausgewiesen wrde. Zugleich gewinnt der Begriff des Transzendentalen in diesem Zusammenhang Aspekte, die ihn in neuere berlegungen transformierbar machen. Gemeint ist damit nicht nur die bliche (prsuppositionale) Cha46 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 25; Prolegomena, Anhang Anm. (Akad.-Ausg. IV, 373 f. [Werke III, 252]).

8.5 Pragmatische Rekonstruktion

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rakterisierung transzendentaler bzw. tu-quoque-Argumente in der zu Beginn erwhnten Form (Argumente, die zeigen, daß das, was bestritten wird, schon getan wird, bzw. Argumente, die Voraussetzungen als pragmatisch unhintergehbar offenlegen). Derartige Argumente lçsen unter anderem das Problem des Anfangs im strengen, nmlich unmittelbar theoriebildenden Sinne, nicht – im Unterschied zur Idee des Transzendentalen bei Kant: Der Schematismus der Zahl ist nicht nur transzendental im Sinne seines (allgemeinen) erkenntniskonstitutiven Charakters, er ist vielmehr, auch in Form von Konstruktionsregeln, ein (spezieller) Anfang. Gemeint ist der Begriff der Rekonstruktion in einer Verwendung, die logische (oder rationale) und pragmatische Elemente einschließt. Von Rekonstruktion ist heute vorwiegend im Hinblick auf eine wissenschaftstheoretische Analyse von Theorien, im bertragenen Sinne auch von Theoriegenesen und wissenschaftlichen Entwicklungen, die Rede. ,Rekonstruktion bezeichnet dabei ein Vorgehen, das auf der Ebene der Stze und Begriffsexplikationen operiert. Daher auch ihre Charakterisierung als ,rational oder ,logisch. Paradigma rationaler Rekonstruktion in diesem Sinne ist Carnaps Programm einer Revision unklarer Wissenschaftssprachen durch exakte Sprachkonstruktionen.47 Dieses Programm wurde von Reichenbach weitergefhrt und dabei, auch unter dem Begriff einer logischen Analyse bzw. einer Wissenschaftsanalyse, um normative Elemente ergnzt.48 Spter wird es insbesondere von Stegmller vertreten, der wiederum ganz im Sinne Carnaps als Ziel ,rekonstruktiver Explikationen die berfhrung von Begriffsbestimmungen in formale Strukturen ansieht.49 Allgemein lßt sich sagen, daß eine Rekonstruktion als gelungen bzw. als adquat gilt, wenn eine Konstruktion K 0 , fr einen gegebenen begrifflichen Zusammenhang K substituiert, K nicht nur in allen wesent47 R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, unter dem Titel: Der logische Aufbau der Welt. Scheinprobleme in der Philosophie, Hamburg 21961 (engl. The Logical Structure of the World. Pseudoproblems in Philosophy, Berkeley/London 1967). 48 Vgl. H. Reichenbach, Experience and Prediction. An Analysis of the Foundations and the Structure of Knowledge, Chicago/London 1938, 7 f.. 49 Vgl. W. Stegmller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie IV/1, 13 f.. Zur Begriffsgeschichte von ,Rekonstruktion in der neueren Wissenschaftstheorie vgl. J. Mittelstraß, Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, in: P. Janich (Ed.), Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Mnchen 1981, 89 – 111, 137 – 148; ferner (unter Verwendung einiger Materialien aus diesem Artikel) ders., What Does ,Reconstruction Mean in the Analysis of Science and Its History?, Communication & Cognition 13 (1980), 223 – 236.

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8. ber ,transzendental

lichen Teilen korrekt wiedergibt, sondern zugleich diejenigen Intentionen, die K zu erfllen sucht, besser (zumindest nicht schlechter) erfllt als K. Dieser Rahmen wird berschritten, wenn der Begriff der Rekonstruktion um pragmatische Fundierungsbeziehungen ergnzt, d. h. die Ebene der Stze und Begriffsexplikationen verlassen wird. Eben dies geschieht bei Kant im Rahmen der Schematismuskonzeption und in den neueren konstruktiven Theorien der Mathematik und Physik.50 Zugleich verbindet sich mit dem Begriff der pragmatischen Rekonstruktion 51 die Idee eines begrndeten Aufbaues wissenschaftlicher Theorien anstelle der (insbesondere von Popper vertretenen) Idee eines unvermeidlichen Anfangs mit einem theoretischen Rahmen, der der Behauptung nach wohl zugunsten eines anderen verlassen, nicht selbst aber auf dem Wege einer Rekonstruktion gerechtfertigt werden kann. In der Tat ist dies in gewissem Sinne nicht mçglich, wenn gleichzeitig die Konvention gilt, daß Rekonstruktionen die Ebene der Stze und Begriffe nicht verlassen drfen. Gilt 50 Vgl. Die entsprechende Darstellung von P. Lorenzen in: P. Lorenzen/O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 181 ff.. 51 Dazu F. Kambartel, Pragmatic Reconstruction, as Exemplified by an Understanding of Arithmetics, Communication & Cognition 13 (1980), 173 – 182. Dieser Begriff impliziert im brigen nicht die weit ber den hier gezogenen wissenschaftstheoretischen Rahmen hinausgehende Konzeption einer Transzendentalpragmatik bzw. Universalpragmatik, wie sie, ebenfalls unter Rckgriffen auf Kant, von Habermas und Apel vertreten wird. Kern einer derartigen Konzeption ist eine semiotische Transformation der Kantischen Philosophie der Subjektivitt in eine ,transzendentale Sprachpragmatik (Apel), die zugleich der Abhngigkeit universeller Regeln kommunikativen Handelns von kontingenten ,natrlichen, d. h. historisch-genetisch bestimmten, Randbedingungen Rechnung tragen soll (Habermas). Vgl. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, I–II, Frankfurt 1973, II (Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft), 155 ff. (mehrere einschlgige Arbeiten unter dem Rahmentitel: Transformation der Transzendentalphilosophie); J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt 1971, 101 – 141; ders., Legitimationsprobleme im Sptkapitalismus, Frankfurt 1973, 152 ff. (Anm. 160); ders., Was heißt Universalpragmatik, in: K.-O. Apel (Ed.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976, 174 – 272. Gegenber Apel tritt Habermas im Sinne einer strkeren Bercksichtigung kontingenter Randbedingungen fr eine ,minimalistische Deutung des Transzendentalen ein (Was heißt Universalpragmatik?, a.a.O., 198 ff.). Zur kritischen Beurteilung der mit einer Transzendentalpragmatik und Universalpragmatik verbundenen Begrndungskonzeptionen vgl. C. F. Gethmann/R. Hegselmann, Das Problem der Begrndung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus, Zeitschrift fr allgemeine Wissenschaftstheorie 8 (1977), 342 – 368, hier 346 – 356.

8.5 Pragmatische Rekonstruktion

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diese Konvention nicht, stellt sich auch im Rahmen des modernen Begriffs der Rekonstruktion Kants Problem eines synthetischen Apriori aufs Neue. Bedeutet das auch, daß der Terminus ,transzendental eine neue wissenschaftstheoretische Verwendung finden soll? Zunchst scheint dies naheliegend zu sein. In pragmatischen Rekonstruktionen, d. h. Rekonstruktionen, in denen normierbare Handlungen bzw. Handlungsschemata Anfnge und zum Teil auch den weiteren Aufbau theoretischer Strukturen bestimmen, werden solche Bedingungen, eben pragmatische, ausgezeichnet, die ihrerseits theoretisch nicht fundiert werden kçnnen. Als Beispiel sei an eine Definition geometrischer Begriffe ber Herstellungsverfahren fr rumliche Formen erinnert.52 Das ließe sich in der Sprache Kants auch so ausdrcken, daß hier transzendentale Bedingungen vorliegen; entsprechend war gesagt worden, daß es der Sache nach bei Kant bereits eine transzendentale Pragmatik gibt. Daß derartige Bedingungen ferner Teil eines gestuften Apriori und nicht Teil eines kontingenten Faktums sind, kommt darin zum Ausdruck, daß sie im Rahmen desjenigen Aufbaus, dessen pragmatischer Teil sie sind, nicht durch Anderes (zumal theoretische Strukturen) ersetzt werden kçnnen. Insofern wre damit auch der andere Gesichtspunkt Kants in der Rede von ,transzendental, daß nmlich der Aufweis derartiger Bedingungen einen bestimmten Aufbau erzwingt, bercksichtigt.53 Trotzdem gibt es gute Grnde, die gegen die Wiederaufnahme des Terminus ,transzendental, bezogen auf rationale (oder logische) und pragmatische Rekonstruktionen, sprechen. Dazu gehçren: (1) Das Erfordernis, in unterschiedlichen Zusammenhngen stets aufs Neue den Gebrauch von ,transzendental gegenber denjenigen Intentionen und 52 Vgl. oben Anm. 37. 53 In diesem Zusammenhang erlutert R. Bubner den Sinn von ,transzendental nach Kant als ,Demonstration der Alternativenlosigkeit desjenigen Wissens, das eine transzendentale Analyse rekonstruiert (R. Bubner, Zur Struktur eines transzendentalen Arguments, Kant-Studien [Sonderheft] 65 [1974], 15*–27*, hier 24*). Problematisch, zumindest im Rahmen einer Kant-Interpretation, ist die an dieser Stelle von St. Kçrner (The Impossibility of Transcendental Deductions [oben Anm. 8]) und R. Rorty (Transcendental Arguments, Self-Reference, and Pragmatism, in: P. Bieri/R.-P. Horstmann/L. Krger [Eds.], Transcendental Arguments and Science [oben Anm. 1], 77 – 103) hergestellte Verbindung zwischen einer Analyse transzendentaler Bedingungen und der Mçglichkeit konkurrierender theoretischer Anstze. Kritisch dazu D. Henrich, Challenger or Competitor? On Rortys Account of Transcendental Strategies, in: P. Bieri/R.-P. Horstmann/L. Krger (Eds.), Transcendental Arguments and Science [oben Anm. 1], 113 – 120, hier 115).

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8. ber ,transzendental

systematischen Ausarbeitungen Kants abzugrenzen, die nicht bernommen werden sollen. Dazu kçnnte z. B. der gesamte erkenntnistheoretische Rahmen einer Philosophie der Subjektivitt gehçren, zumindest dessen bewußtseinstheoretische Ausarbeitung. Schließlich zeigt Kants eigene Schematismuskonzeption, daß es im Hinblick auf die Leistung normierter Handlungen bzw. Handlungsschemata unnçtig ist, etwa auch noch die ,Einheit des Bewußtseins unter die ,Bedingungen der Mçglichkeit von Arithmetik aufzunehmen. (2) Das Erfordernis, dem Eindruck entgegenzutreten, es gbe so etwas wie eine ,transzendentale Methode. Was es gibt, sind Verfahren, deren Status sich gegenber gewissen Resultaten, wie im Falle anschaulicher Konstruktionen in der Mathematik, wohl als ,transzendental bezeichnen lßt; es gengt aber im Grunde auch hier, von pragmatischen Rekonstruktionen zu sprechen. (3) Das schon erwhnte Erfordernis, bei der Rede von ,transzendental hinsichtlich des Problems eines methodischen Anfangs zwischen tu-quoque-Argumenten und schrittweise gerechtfertigten pragmatischen (Re-)Konstruktionen zu unterscheiden. Angesichts dieser Grnde und der verwirrenden Vielfalt einer Berufung auf Kant innerhalb der Diskussion um den Begriff des Transzendentalen empfiehlt es sich nicht, diesen Begriff so ohne weiteres auf pragmatische Rekonstruktionen anzuwenden. Was eine pragmatische Rekonstruktion ist, wird nicht dadurch klarer, daß man sagt, sie sei transzendental. Andererseits ist im Hinblick auf die hier diskutierten Theorieteile Kants (transzendentale sthetik, transzendentaler Schematismus) die Behauptung gerechtfertigt, daß pragmatische Rekonstruktionen die Rolle transzendentaler Analysen bernehmen. Damit bliebe nicht nur der historische Zusammenhang beider Konzeptionen prsent; es kçnnte auch gezeigt werden, daß pragmatische Rekonstruktionen tatschlich gewisse Intentionen Kants, die sich terminologisch mit dem Begriff des Transzendentalen verbinden, in einer methodisch geklrten und terminologisch unbelasteten Weise realisieren. Der Aufweis eines lebensweltlichen Apriori innerhalb solcher Rekonstruktionen kann dann im brigen wieder als ein ,transzendentales Argument in Begrndungsdiskursen faktischer Theorien auftreten, insofern Theorien nicht begrnden kçnnen, was ihnen pragmatisch zugrundeliegt. Eventuell gilt eine derartige Transformation transzendentaler Analysen in pragmatische Rekonstruktionen auch im Hinblick auf Kants Konzeption einer transzendentalen Deduktion, deren Resultate transzendentale Begriffe (Kategorien) und transzendentale Prinzipien sind. Auch diese Deduktion orientiert sich an einem Faktum, nmlich der Existenz eines

8.5 Pragmatische Rekonstruktion

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begrifflichen Wissens, das nach der hier gegebenen Darstellung stets auf ein nicht-begriffliches Apriori bezogen bleibt. Pragmatische Rekonstruktionen explizieren ein solches Apriori, wie wiederum anhand der Schematismuserçrterungen Kants gezeigt wurde. Damit verliert aber auch das problematische Verhltnis von Genesis und Geltung, das bei Kant durch die Explikation ,transzendentaler Bedingungen geklrt werden soll – die ,faktische Wissensbildung steht unter Bedingungen, die zugleich ihre Geltung garantieren –, seine vermeintliche Zirkularitt: Nicht die Begrndung so genannter transzendentaler Begriffe und Grundstze steht zur Debatte, sondern deren Fundierung. Ihr Fundament ist ein Faktum, nmlich ein bestimmtes Wissen, auf das hin die Rede von ,Bedingungen der Mçglichkeit berhaupt erst ihren Sinn erhlt, und ein Apriori, nmlich ein um seine vor-theoretischen und nicht-begrifflichen Elemente erweitertes Apriori. Allein pragmatische Rekonstruktionen sind in der Lage, beides, Faktum und apriorische Elemente des Wissens, zu erklren.54 Es ist klar, daß damit die hier vorgeschlagene Transformation transzendentaler Analysen in pragmatische Rekonstruktionen im Rahmen der Kantischen Unterscheidung zwischen einer ,synthetisch-progressiven und einer ,analytisch-regressiven Methode der ,analytisch-regressiven Methode den Vorzug gibt und gleichzeitig metatheoretische Gesichtspunkte in den Vordergrund rckt. Rekonstruktionen sind immer Rekonstruktionen gegebenen Wissens, in erster Linie orientiert an dessen theoretischer Form. Daß eine derartige Wendung aber durchaus mit den Intentionen Kants vertrglich ist, wurde anfangs durch den Hinweis, daß beide Methoden in den Kantischen Analysen faktisch ineinandergearbeitet sind, bereits hervorgehoben. Die Betonung eines metatheoretischen Gesichtspunktes lßt sich wiederum dadurch rechtfertigen, daß ,a priori bei Kant in der Regel ,apriorischer Teil empirisch-physikalischen Wissens bedeutet und die Explikation des Begriffs der Erfahrung im wesentlichen dieser Bedeutung folgt. Andererseits kann natrlich z. B. die Ausarbeitung eines Unterscheidungsapriori bzw. der in dieser Ausarbeitung festgestellte transzendentale Status der Prdikation (in einem nicht nur prsuppositionalen Sinne) als Beleg fr die nach wie vor bestehende Mçglichkeit 54 Vgl. dazu kritisch K. Lorenz, The Concept of Science. Some Remarks on the Methodological Issue ,Construction versus ,Description in the Philosophy of Science, in: P. Bieri/R.-P. Horstmann/L. Krger (Eds.), Transcendental Arguments and Science [oben Anm. 1], 177 – 190 („problems of justification are treated as if they were problems of constitution, i. e. as if they concerned investigations into the conditions of possible experience“, 180).

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8. ber ,transzendental

eines ,synthetisch-progressiven Vorgehens dienen, desgleichen fr den Umstand, daß pragmatische Rekonstruktionen nicht auf Theorien beschrnkt sind. Auch diese Umstnde unterstreichen damit noch einmal die systematische Adquatheit des Begriffs der (pragmatischen) Rekonstruktion im Hinblick auf die mit dem Begriff des Transzendentalen verfolgten Intentionen Kants. Entscheidend ist dabei, daß der Begriff der Rekonstruktion tatschlich pragmatisch gefaßt wird, d. h. nicht nur auf der Ebene der Stze und Begriffsexplikationen (im Sinne des seit Carnap blichen Begriffs der logischen bzw. rationalen Rekonstruktion) angesiedelt ist. Nur so nmlich lßt sich mit dem Begriff der Rekonstruktion die Idee eines begrndeten Aufbaus verbinden, und nur so werden in faktischen Rekonstruktionen auch diejenigen Elemente eines begrifflichen Zusammenhangs erfaßt, die wie die ,schematisierten Handlungen oder anschaulichen Konstruktionen in mathematischen Zusammenhngen selbst nicht begrifflich, aber gleichwohl konstitutiv fr den rekonstruierten Zusammenhang sind. Weil die berlegungen ihren Ausgang von Kant nahmen, ist es vielleicht nicht unangebracht, diesem Umstand die Form eines Imperativs zu geben. Dieser lautet: Bilde in deinen Sprach- und Wissenschaftskonstruktionen einen Konstitutions- und Geltungszusammenhang, dessen Basis stets ein lebensweltliches Apriori, eingeschlossen in pragmatischen Strukturen, ist. 55 Ein solcher Imperativ, der Kants Idee des Transzendentalen in Form pragmatischer Rekonstruktionen festhlt, soll Imperativ der Rekonstruktion heißen.

55 Zur Erluterung: Bezogen auf das Unterscheidungsapriori folgt aus diesem Imperativ z. B. die Bedingung, daß terminologische Systeme in endlich vielen Schritten auf exemplarische Bestimmungen, d. h. exemplarisch eingefhrte Prdikatoren, zurckfhrbar sein mssen. Andernfalls fnde in Wahrheit, wegen des dann anlaufenden unendlichen terminologischen Regresses, keine Erluterung von Prdikatoren statt.

9. Ding als Erscheinung und Ding an sich Was ist wirklich, was nicht? Ein metaphysischer Dualismus zieht sich durch Lebenswelt und Philosophie. Dieser Dualismus, der zwischen Erscheinungen und Dingen an sich unterscheidet, muß erst zu einer erkenntnistheoretischen Unterscheidung werden, um Ausdruck einer systematischen Einsicht zu sein, nmlich der Einsicht in das praktische Interesse der theoretischen Philosophie – auch in erkenntnistheoretischen Dingen. In einem 1967 erschienenen Buch mit dem Titel „Die Antworten der Philosophie heute“1 findet sich unter anderem folgende Frage an eine Gruppe philosophischer Autoren gestellt: „Zeigt sich uns die Welt so, wie sie wirklich ist? Oder ist die Welt, die wir kennen, ausschließlich das Produkt unserer Sinnes- und Verstandeswerkzeuge, die uns kein Ding so vorstellen, wie es an sich ist?“ Wer eine solche Frage stellt, nimmt an, daß sie verstndlich ist. Und wer sie, was in diesem Falle zutrifft, nicht schon aus einem speziellen fachwissenschaftlichen Interesse stellt, nimmt an, daß sie jedermann verstndlich ist. Jedermann, der gelernt hat, zwischen eigenen Vermçgen, Verstand und Sinnlichkeit, und einer Welt, in der er lebt, zu unterscheiden. Jedes theoretische, nicht mehr unmittelbar in das eigene Handeln einbezogene Interesse an dieser Welt fhrt, so scheint es, zu der Frage, wie es denn unabhngig von den genannten Vermçgen, d. h. der Weise, wie wir die Welt ,sehen, mit ihr ,an sich, wie es ,wirklich mit ihr bestellt sei. Eine solche Fragestellung gilt dabei schon als reflektiert, als erster Schritt zur Wissenschaft. Sie ist in Wahrheit aber noch naiv. Dafr ein Beispiel. Ein Spaziergnger trifft auf eine Blume (unter Logikern meist eine Rose) und bemerkt zutreffend: Welch eine hbsche Rose! Er unterscheidet damit einen Gegenstand, diese Rose, von anderen Gegenstnden, etwa Baum und Strauch, nimmt mancherlei, wiederum unterscheidend, an ihm wahr und kann sich ber diese Wahrnehmungen mit anderen Spaziergngern ebenso verstndigen wie ber die zuvor erwhnten sprachlich getroffenen Unterscheidungen. Ein Botaniker wird dabei vermutlich andere Unterscheidungen treffen als ein in diesem Fache ungebter Spaziergnger, doch kommt es bei der als vernnftig unter1

W. Hochkeppel (Ed.), Die Antworten der Philosophie heute, Mnchen 1967.

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

stellten Redeweise von Welt, wie sie ,wirklich ist, und Dingen, wie sie ,an sich sind, auf diesen fachwissenschaftlichen Vorsprung des Botanikers vor dem botanischen Laien nicht einmal an. Im Sinne dieser Redeweise sind alle Unterscheidungen – ob sie sprachlich oder, wie man meint, sprachfrei in der Wahrnehmung getroffen werden – solche, die wir an den Dingen treffen. Und auf dieses Wir richtet sich nun der Verdacht, daß hier nicht nur ungenau, sondern sogar verflschend unterschieden wird. Verflschend nmlich insofern, als wir etwa im Sehen auf unsere Augen, im Hçren auf unsere Ohren und im Denken auf unsere begrifflichen Unterscheidungen angewiesen sind, dies aber Bedingungen (Bedingungen der Sinnlichkeit und des Verstandes) sein kçnnten, die allesamt einen ungetrbten Blick auf die Dinge – man sagt nun: wie sie ,wirklich oder wie sie ,an sich sind – nicht zulassen. Fr unseren Spaziergnger scheint damit ,hinter der Rose, die er sieht und von der er spricht, eine weitere Rose, eine ,Rose an sich zu wachsen. ber diese Rose wiederum lßt sich nach Voraussetzung (!), eben weil Verstand und Sinnlichkeit als Bedingungen aufgefaßt werden, die der Mensch bei seinen Orientierungsbemhungen nicht hinter sich zu lassen vermag, nichts sagen. Die Naivitt der angefhrten Fragestellung liegt also darin, daß sie von einer Unterscheidung Gebrauch macht, die sich an den Dingen gar nicht treffen lßt. In Wahrheit ist darum aber auch bereits die Rede von einer Unterscheidung irrefhrend. Unterscheidungen mssen explizit getroffen werden, was unter anderem besagt, daß sich ber das jeweils Unterschiedene auch Aussagen machen lassen. Da dies nach Voraussetzung bei einem Ding an sich nicht mçglich ist, liegt gar keine Unterscheidung vor, bleibt der Ausdruck ,an sich ein bloß syntaktischer Zusatz. Er lßt sich an jeden Prdikator (ein Prdikat im logischen Sinne) anfgen und scheint den Sprecher wegen der gemachten Voraussetzung nicht einmal zur Begrndung der mit dieser sprachlichen Handlung immerhin intendierten Unterscheidung zu verpflichten. Es zeigt sich damit, daß die zunchst unterstellte Unterscheidung eine Pseudounterscheidung ist. Im naiven Verstande, in dem theoretische Aussagen, hier ber Verstand und Sinnlichkeit, als Aussagen ber die (physische) Welt mißverstanden werden, erweist sich eine solche Unterscheidung als sinnlos, weil sie sich methodisch einsichtig gar nicht treffen lßt. Die Frage ist, ob sie auch im reflektierten Verstande, in einer Bemhung, die dieses Mißverstndnis als solches durchschaut und den Ausdruck ,Ding an sich als Terminus einer Theorie versteht, sinnlos ist. Es ist die Frage, ob sich innerhalb der theoretischen Philosophie, aus deren Geschichte der Ausdruck ,Ding an sich stammt, diese Unterscheidung

9.1 Die Gliederung der Welt

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methodisch einsichtig treffen lßt oder ob die genannte Naivitt hier nur im theoretischen Gewande wiederkehrt.

9.1 Die Gliederung der Welt Da zunchst einmal keinerlei Veranlassung besteht, den Ausdruck ,Ding an sich in die gegenwrtige philosophische Diskussion neu einzufhren, und dort, wo dieser Ausdruck dennoch auftritt, ausdrcklich an frhere Diskussionen angeschlossen wird, liegt es nahe, in Beantwortung jener zweiten Frage gleich den Ort aufzusuchen, wo diese Diskussion erstmals in hinreichender begrifflicher Klarheit gefhrt wurde. Dieser Ort ist die Philosophie Immanuel Kants. Und Kants Motiv fr die theoretisch zu begrnden versuchte Redeweise von Ding an sich ist die Auseinandersetzung mit einer philosophischen Position, in der sich eine solche Redeweise gerade als berflssig, als ein Stck dogmatischer Metaphysik herausgestellt zu haben schien. Gemeint ist der englische Empirismus, der ber die sinnliche Erfahrung einen begriffsfreien (unterscheidungsfreien) Zugang zur ,Wirklichkeit behauptete und dabei mit George Berkeley ausdrcklich die Identifikation von ,wirklichen Dingen (real things) und ,wahrgenommenen Dingen (things that are perceived) vollzog. Was dabei wie eine nchterne Reduktion metaphysischer Unterscheidungen auf erfahrungsabhngige Behauptungen anmuten mag, ist in Wahrheit selbst Metaphysik, ,dogmatischer Idealismus, wie Kant unter Hinweis auf Berkeley betont, weil es das reine sinnliche Datum, eine begriffsfreie (unterscheidungsfreie) Basis des Erkennens nicht gibt. Wer von reinen sinnlichen Daten spricht, muß vielmehr schon selbst unterschieden haben, zunchst zwischen seinen eigenen Sinnen, dann zwischen dem, was er als reines Datum gelten lassen mçchte und was nicht. Und auch dann treten sinnliche Daten stets als Beispiele (bzw. Gegenbeispiele) bereits beherrschter Unterscheidungen auf, sie sind, im Gegensatz zum methodologischen Selbstverstndnis dieser empiristischen Position, unterscheidungsabhngig. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei, daß sich Unterscheidungen deshalb auch nicht durch bloßen Hinweis auf sinnliche Daten rechtfertigen lassen, und auch die Behauptung, das wahrgenommene Ding sei das wirkliche Ding, eine dogmatische Behauptung bleibt. Kant hat dies gesehen. Er glaubte jedoch seinerseits mehr behaupten zu mssen als die Unterscheidungsabhngigkeit sinnlicher Daten, um jene bald gelufige Formel esse est percipi zu entkrften: er fhrt die Unterscheidung zwischen

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

Ding als Erscheinung (kurz: Erscheinung) und Ding an sich, deren naive Verwendung gerade die empiristische Kritik hervorgerufen hatte, erneut ein und setzt sich damit selbst dem Vorwurf aus, die alte Naivitt nur in vernderter theoretischer Form zu wiederholen. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Ist, wie Friedrich Nietzsche einmal gesagt hat, die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich „der faule Fleck des Kantischen Kritizismus“2, sofern Kant hier hinter seine eigenen kritischen Einsichten wieder zurckfllt, behauptet, was sein eigener erkenntnistheoretischer Vorschlag, beim Worte genommen, verbietet? Es sieht zunchst tatschlich so aus. Denn diese Unterscheidung scheint zu besagen, daß sich einerseits von Gegenstnden, wie sie in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind, und andererseits von eben denselben Gegenstnden, wie sie wirklich sind, sprechen lasse. Daß damit nicht etwa die Unterscheidung zwischen Stzen des Alltags und wissenschaftlichen Stzen gemeint ist, wobei nur wissenschaftliche Stze als wahre Stze ber Dinge, wie sie wirklich sind, auftreten sollen, lßt sich aus Kants eigenen Erluterungen entnehmen. „Was wir ußere Gegenstnde nennen“, heißt es in der „Transzendentalen sthetik“ der „Kritik der reinen Vernunft“, sind „nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit (…), deren wahres Correlatum (…), d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird“3. Und in der „Transzendentalen Dialektik“ steht der Satz: „Das den Erscheinungen zum Grunde liegende transzendentale Objekt (hier synonym mit Ding an sich, Verf.), und mit demselben der Grund, warum unsere Sinnlichkeit diese vielmehr als andere oberste Bedingungen habe, sind und bleiben fr uns unerforschlich.“4 Man hat angesichts dieser problematischen (nach Voraussetzung nicht przisierbaren) Unterscheidung oft, unter Hinweis auf eine entsprechende Bemerkung Kants, so argumentiert, es handle sich bei dem Begriff eines Dinges an sich um einen bloßen Grenzbegriff.5 Mit diesem Begriff solle nicht die Existenz einer wirklichen Welt der Dinge hinter der uns bekannten Welt (Nietzsches ,Hinterwelt der Dogmatiker) behauptet, son2 3 4 5

F. Nietzsche, Werke in drei Bnden, ed. K. Schlechta, Mnchen 1956, III, 863. Kritik der reinen Vernunft B 45. Kritik der reinen Vernunft B 641 f.. Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 310 f. (Unterscheidung zwischen einem negativen und einem positiven Gebrauch des Begriffs Noumenon und Festlegung auf einen negativen Gebrauch).

9.1 Die Gliederung der Welt

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dern nur aufs Neue eingeschrft werden, daß sich unser Wissen von der Welt allein auf Erscheinungen erstrecken kçnne, d. h. von vornherein an die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung und an die Weise, wie wir theoretisch ber Gegenstnde sprechen, gebunden sei. Gerade diese Ausdrucksweise aber ist irrefhrend. Daß Verstand und Sinnlichkeit Bedingungen sind, unter denen wir die Welt betrachten, ist eine Behauptung, die das naive Mißverstndnis ber den Erkenntniswert beliebiger Aussagen ber die Welt nicht verhindert, sondern im Gegenteil gerade fçrdert. Erst jetzt drngt sich ja die weitere Behauptung auf: Unter anderen Bedingungen sieht die Welt anders aus. Und diese Behauptung (unter Hinweis auf Verstand und Sinnlichkeit formuliert) ist sinnlos, weil in diesem Zusammenhang von Bedingungen zu reden bereits voraussetzt, daß man zwischen Welt und erkennendem Subjekt (Erfahrungssubjekt) unterschieden hat. Man muß also schon unterscheiden kçnnen, wenn man von Bedingungen spricht. So tun, als kme man mit der Rede von Bedingungen hinter seine Fhigkeit, zu unterscheiden, ist naiv. Wer also Kant in dieser Stelle mit der Behauptung beispringen mçchte, unser Wissen sei immer schon an die Bedingungen von Verstand und Sinnlichkeit gebunden, beziehe sich demnach auf Erscheinungen, nicht auf ein Ding an sich, steuert selbst geradewegs in jene Schwierigkeiten, die er von Kant glaubt berwunden zu sehen. Hier nun ein anderer Vorschlag. Machen wir uns zunchst eine Unterscheidung klar, wie sie Kant in dieser Form noch nicht getroffen hat, nmlich die Unterscheidung zwischen Welt und gegliederter Welt. Von gegliederter Welt sprechen wir immer dann, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, daß unser Umgang mit der Welt jederzeit von Unterscheidungen Gebrauch macht, die wir anfnglich gelernt haben und die sich stets, nach Maßgabe von Orientierungserfordernissen, verfeinern, nicht aber in der Weise rckgngig machen lassen, daß man alle Unterscheidungen mit einem Schritt wieder preisgeben kçnnte und dann etwa eine ,ungegliederte Welt vor sich htte. Welt ist in diesem Sinne immer schon gegliederte Welt, und zwar primr sprachlich gegliederte Welt. Dennoch ist es nicht sinnlos, von Welt gelegentlich so zu sprechen, als ob dieser Umstand nicht gelte. Man kann nmlich sagen, daß in gewissem Sinne ,die Welt unseren sprachlichen Gliederungen auch vorausgeht, insofern wir diese Gliederungen nicht in irgendwelchen Wolkenkuckucksheimen, sondern nirgendwo anders als in der Welt treffen. Das soll wiederum nicht heißen, daß diese unsere Unterscheidungen tragende Welt jemals selbst, Kantisch gesprochen, zum Gegenstand der Erfahrung werden kçnnte, wohl aber, daß alle unsere sprachlich artikulierten Unterscheidungen in einer Welt erfolgen, in der

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

man sich etwa auch, als sprachlose Wesen, allein durch nicht-sprachliche Handlungen zurechtfinden, nmlich berleben kçnnte. Obwohl also, in dieser Redeweise, Welt immer schon gegliederte Welt ist, und sei es durch nicht-sprachliche Handlungen gegliedert, ist doch die Unterscheidung zwischen Welt und gegliederter Welt, so getroffen, nicht sinnlos. Nun, Kant spricht nicht so, und er lßt in diesem Zusammenhang auch unbercksichtigt, daß Unterscheidungen in der Regel sprachlich realisierte Unterscheidungen sind. Dennoch sieht es so aus, als sei mit der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich dasselbe gemeint wie mit gegliederter Welt und Welt. Kant scheint hier lediglich eine strker theoretische Ausdrucksweise zu bevorzugen. Auch in seinem Sinne ist die gegliederte Welt eine Leistung des Menschen, nur wird als Mittel nicht die Sprache, sondern die Sinnlichkeit angegeben. Erscheinungen sind dementsprechend Daten der Empfindung, als deren Vermçgen oder Form die Sinnlichkeit auftritt. Gegenstnde sind, in der Ausdrucksweise Kants, zunchst nur in der Sinnlichkeit ,gegeben, was eben nichts anderes bedeutet, als daß die Sinnlichkeit auf dem Wege der Empfindung allererst Gegenstnde ausgrenzt. Diese empirisch gegebenen Gegenstnde werden dann in einem zweiten Schritt zu ,Objekten der Erfahrung, indem jetzt ,objektive begriffliche Unterscheidungen dem ,subjektiven empirischen Befund zu Hilfe kommen. Wenn Kant von ,Objekt oder ,Objekt der Erfahrung spricht, so ist immer dieser Akt einer begrifflichen Konstitution des in der Sinnlichkeit Gegebenen vorausgesetzt. Kant drckt dies bekanntlich so aus, daß er von zwei Stmmen der menschlichen Erkenntnis spricht, „nmlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstnde gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“6. Worauf es hier ankommt, ist zweierlei: 1. Wenn Kant von Empfindung und Sinnlichkeit spricht, dann nicht so, als habe man es zunchst mit reinen sinnlichen Daten zu tun. Wre dies gemeint, lge wiederum das bereits erwhnte empiristische Mißverstndnis ber den Anfang des Wissens vor. Kants bekannte methodische Vorschrift, Begriffe „sinnlich zu machen“7, bedeutet vielmehr nichts anderes, als auf exemplarisch getroffene Unterscheidungen zurckzugehen. Also ist auch mit der Behauptung, daß Gegenstnde zunchst in der Sinnlichkeit gegeben sind, nur gemeint, daß dem theoretischen Sprechen ber Gegenstnde deren exemplarischer Aufweis, d. h. ihre Unterscheidung von anderen Gegenstnden, vorausgeht. 2. Wenn die Erscheinung eine Leistung der Sinnlichkeit ist, wobei unter Erschei6 7

Kritik der reinen Vernunft B 29. Kritik der reinen Vernunft B 75.

9.2 Dinge an sich

193

nung nun das exemplarisch Unterschiedene zu verstehen ist, dann wre, so der Vorschlag, das Ding an sich nichts anderes als die Welt, in der die Sinnlichkeit ihre Unterscheidungen trifft. Dieses Ding an sich bleibt dann in der Tat, fr sich genommen, ,unerforschlich, weil es nur auf der empirischen Stufe der Sinnlichkeit ,in Erscheinung tritt, und es wird ebenso auch niemals ,in der Erfahrung nach ihm gefragt werden, weil sich Erfahrung ja auf nichts anderes als ,Erscheinungen bezieht.

9.2 Dinge an sich So befriedigend diese Interpretation auf den ersten Blick erscheinen mag – sie nimmt der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich ihre herkçmmliche Naivitt –, sie leistet noch nicht, was sie an dieser Stelle leisten mßte. Kant spricht nmlich keineswegs nur von ,Ding an sich oder ,Ding an sich selbst im Singular, sondern, wie dies anfangs auch hier geschah, von ,Dingen an sich oder ,Dingen an sich selbst im Plural. Die zunchst angesetzte Interpretation gengt dann nicht mehr. Wieder sieht es so aus, als ob von Dingen die Rede ist, von denen man kraft Voraussetzung nicht reden kann. Dazu eine Stelle aus den „Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen“: „(…) wenn wir die Gegenstnde der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas affiziert werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern kçnnen wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulssig, sondern auch unvermeidlich sei.“8 Und aus der „Transzendentalen Analytik“ der „Kritik der reinen Vernunft“: „was die Dinge an sich sein mçgen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann.“9 Wie es scheint, liegt hier ein Verzicht vor, den Kant fr unumgnglich hlt, wobei nach allem, was bisher gesagt wurde, es ausgerechnet eine naive Annahme ist, die der Reflexion Grenzen setzt. 8 9

Prolegomena § 32 (Akad.-Ausg. IV, 314 f. [Werke III, 183]). Kritik der reinen Vernunft B 332 f..

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

Aber diese Darstellung befriedigt nicht recht. Und zwar nicht nur nicht, weil sie allzu grndlich Nietzsche recht gibt, der wie nahezu alle Kant-Nachfolger Kant in diesem Punkte kritisiert und die Unterscheidung zwischen Ding als Erscheinung und Ding an sich allenfalls „eines homerischen Gelchters“ wert hlt10, sondern weil sie sich auch mit anderen, im Sinne der zunchst gegebenen Interpretation durchaus vertretbaren Bemerkungen nicht vertrgt. Man wird also nach weiteren Gesichtspunkten suchen mssen, die in die Lage versetzen, den erstaunlichen Plural womçglich anders zu verstehen. Dabei empfiehlt sich zunchst ein Blick in Kants praktische Philosophie. Hier bietet nmlich eine Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich dem Verstndnis bei weitem nicht die Schwierigkeiten, die sich im Rahmen der theoretischen Philosophie bei dieser Unterscheidung zwangslufig ergeben. Der Mensch ist nmlich, nach Auskunft Kants, Erscheinung, insofern er mit allen anderen Kçrpern Naturgesetzen unterliegt, also selbst Bestandteil jener Natur ist, von der die Physik spricht. Er ist aber zugleich auch ein Ding an sich, insofern er nmlich nicht nur physikalischer Kçrper, sondern auch moralisches Wesen, d. h. Person, ist. Als Person ist der Mensch handelndes Vernunftwesen, Brger einer Welt, die nicht durch Naturgesetze, sondern durch den Kategorischen Imperativ bestimmt ist. So ist in der „Kritik der praktischen Vernunft“ einmal von Handlungen eines Menschen die Rede, die sich nach besserer Einsicht in ihre interessenbestimmten Beweggrnde und ußeren Bedingungen natrlich auch als Erscheinungen (als natrliche Vorgnge) verstehen lassen, und doch heißt es dann, „daß diese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehung dessen, was nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneitt des Subjekts, als Dinges an sich selbst, abhngt, von deren Bestimmung sich gar keine physische Erklrung geben lßt“11. Gemeint ist also die Autonomie der Vernunft, hier die moralische Autonomie, die nach Kant Freiheit nicht nur als ein „Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen“12, d. h. als Spontaneitt von Handlungen gegenber bloßen Wirkungen, sondern auch als die Bestimmung des Handelns als eines „Zweckes an sich selbst“13 voraussetzt. Und wenn, um dieser Autonomie Raum zu geben, gewissermaßen eine zweite Welt 10 11 12 13

Werke I, 459. Kritik der praktischen Vernunft A 179. Kritik der reinen Vernunft B 561. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 64; vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 4 f..

9.2 Dinge an sich

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konstruiert wird, der der Mensch nunmehr als Ding an sich angehçrt, so ist diese Welt oder „der Begriff einer Verstandeswelt“, wie Kant sagt, eben „nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich gençtigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken“14. Sich selbst als praktisch denken, heißt: sich als Person unter moralische Normen stellen. Das Paradigma Mensch macht also verstndlich, wie sich die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich begrnden lßt. Dabei darf offenbleiben, ob eine Bezeichnung wie ,Ding an sich, auf den Menschen bezogen, sehr glcklich ist oder nicht. Auf jeden Fall erweist sich damit, wie so oft bei Kant, eine Redeweise innerhalb der praktischen Philosophie als durchaus vertretbar, die innerhalb der theoretischen Philosophie (aus der sie zweifellos zunchst einmal stammt) nur Verwirrung zu stiften scheint. Tatschlich wird denn auch in der Vorrede zur 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich ausdrcklich mit dem Hinweis zu rechtfertigen gesucht, daß ohne sie eine praktische Philosophie nicht auskommen kçnne.15 Anders ausgedrckt: „sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“16 Daß diese Unterscheidung aber auch im Bereich abstrakter Gegenstnde anwendbar ist, macht ein Blick auf die Geometrie deutlich. Unter einem Ding an sich lßt sich hier die Idee eines geometrischen Gegenstandes, etwa des Kreises oder der Ebene, verstehen und unter Erscheinung entsprechend eine empirische Approximation dieser Idee, als ,Objekt unserer sinnlichen Anschauung, wie Kant sagen wrde. Damit ist zwar noch nicht die Redeweise von geometrischen Ideen selbst gerechtfertigt, jedoch darauf aufmerksam gemacht, daß geometrische Stze sich nicht schon auf empirische Figuren selbst beziehen, sondern immer das Schema der Realisierung einer Idee an solchen Figuren voraussetzen. Gemeint ist wiederum nicht, daß eine ideale Realisierung selbst erreichbar wre, irgendwann einmal, Kantisch gesprochen, ,in der sinnlichen Anschauung gegeben sei, wohl aber, daß ohne sie ein bestimmtes Reden ber empirische Figuren, ein Reden nmlich, das beliebige Verbesserungen im Hinblick auf jenes Schema zulßt, nicht mçglich wre. Nun geht Kants Behauptung ber Dinge an sich, wenn sie so verstanden werden darf, jedoch weiter. Nicht nur fr die Gegenstnde der 14 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 119. 15 Kritik der reinen Vernunft B XXVIff.. 16 Kritik der reinen Vernunft B 564.

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

Geometrie lßt sich, so muß diese Behauptung jetzt lauten, eine ideale Realisierung denken; dies gilt vielmehr auch von anderen Gegenstnden. Terminologisch als ,Ding an sich, als ,transzendentales Objekt oder ,Noumenon gefaßt (Unterschiede, die sich hinter dieser Terminologie verbergen, einmal außer acht gelassen)17, rckt der Gedanke einer idealen, 17 Im Begriff des Dinges an sich schieben sich bei Kant zwei (terminologisch nicht immer deutlich geschiedene) Unterscheidungssysteme bereinander: ein empirisches (Erscheinung und Ding an sich, vgl. Kritik der reinen Vernunft B 62, B 313) und ein transzendentales (Phaenomenon und Noumenon, vgl. Kritik der reinen Vernunft B 63, B 298). Dabei ist zunchst dem Begriff der Erscheinung in empirischer Bedeutung der Begriff des Phaenomenon in transzendentaler Bedeutung zugeordnet, d. h., Erscheinungen („bloße Vorstellungen“, Kritik der reinen Vernunft B 521) werden auf dem Wege anschaulicher und begrifflicher Konstruktionen als Teil einer gesetzmßig organisierbaren Erfahrung begriffen („Erscheinungen, so fern sie als Gegenstnde nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena“, Kritik der reinen Vernunft A 248 f.). Desgleichen ist dem Begriff des Dinges an sich in empirischer Bedeutung der Begriff des Noumenon in transzendentaler Bedeutung zugeordnet, d. h., die unter empirischer Bedeutung postulierten Korrelate der Erscheinungen (vgl. Kritik der reinen Vernunft B 45) werden als Noumena ,im negativen Verstande bestimmt („Die Lehre von der Sinnlichkeit ist […] zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d.i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien, in dieser Art sie zu erwgen, keinen Gebrauch machen kçnne“, Kritik der reinen Vernunft B 307 f.). ber diese Zuordnungen hinaus kçnnen dann sowohl der Begriff des Noumenon als auch der Begriff des Phaenomenon als ansatzweise Rekonstruktionen des Begriffes des Dinges an sich aufgefaßt werden, insofern beide jene Einschrnkung der Sinnlichkeit leisten, die mit dem Hinweis auf Dinge an sich in ursprnglich empirischer Bedeutung im wesentlichen spekulativ bleibt. Whrend die Bestimmung des Menschen als moralischen Wesens einen ,positiven Gebrauch des NoumenonBegriffes (bzw. des Begriffes des Dinges an sich) gegenber dem durch Naturkausalitten bestimmten Reich der Erscheinungen sichert, erweist eine unter dem Phaenomenon-Begriff vorgenommene Analyse des Erscheinungs- bzw. Erfahrungswissens den fundierenden Charakter anschaulicher und begrifflicher Konstruktionen, womit unter bestimmten, nmlich nicht lnger so genannten ontologischen, sondern methodologischen oder erkenntnistheoretischen, Voraussetzungen dieser Begriff in transzendentaler Bedeutung an der Stelle des Begriffs des Dinges an sich in empirischer Bedeutung eingesetzt werden kann. Der Ausdruck ,transzendentales Objekt (bzw. ,transzendentaler Gegenstand) wiederum dient im Kontext einer Theorie der Erfahrung generell zur Charakterisierung nicht-empirischer Gegenstnde, und zwar, ungeachtet einiger auch anderslautender Bemerkungen (z. B. Kritik der reinen Vernunft A 253: der transzendentale Gegenstand ,nicht das Noumenon), sowohl in empirischer Be-

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empirisch niemals erreichbaren Realisierung einer Idee in die Nhe einer Konzeption der Erfahrung, die zunchst auch ohne diesen Gedanken auszukommen scheint. Lediglich die Verwendung des Ausdrucks ,Erscheinung kçnnte eine irgendwie geartete Ergnzung erwarten lassen, und es sieht gelegentlich so aus, als ob Kant hieran auch in erster Linie gedacht htte. An entsprechenden Stellen heißt es dann etwa, sehr mißverstndlich, daß es die ,Dinge an sich sind, welche in der ,Erscheinung unsere Sinne deutung (als Dinge an sich) als auch in transzendentaler Bedeutung (als Noumena). Diese bei Kant im einzelnen nicht weiter ausgearbeiteten begrifflichen Verhltnisse hat G. Prauss unter Hinweis auf die gegenseitige systematische Abhngigkeit der Unterscheidungen zwischen (empirischen) Erscheinungen und (empirischen) Dingen an sich auf der einen Seite und Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen auf der anderen Seite nher analysiert (G. Prauss, Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin 1971). Diese Analyse sichert nicht nur die systematische Bedeutung der (frher hufig als logisch unzureichend beurteilten) Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen im Rahmen einer Theorie der Erfahrung, sondern unterstreicht auch den (in der Regel unbemerkten) rekonstruktiven Sinn, den der diesen begrifflichen Kontext reprsentierende Begriff des Phaenomenon auch fr den Begriff des Dinges an sich in dessen empirischer Bedeutung besitzt. In einer weiteren Arbeit (Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974) hat G. Prauss darauf aufmerksam gemacht, daß die Wendung ,an sich nicht als adnominale Bestimmung zu ,Ding, sondern als adverbiale Bestimmung zu ,betrachtet im Sinne der jetzt als Standard bezeichneten Wendung ,Dinge an sich (selbst) betrachtet aufgefaßt werden msse (vgl. Kritik der reinen Vernunft B 312: der Verstand schrnkt die Sinnlichkeit ein „dadurch, daß er Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt“). Sachlich ndert sich allerdings dadurch gegenber der bisher blichen Auffassung der Terminologie Kants (im Gegensatz zu Prauss eigener Beurteilung in dieser Sache) wenig: es kommt begrifflich gesehen auf dieselbe Unterscheidung hinaus, ob man nun von der Existenz von Dingen an sich oder von der Mçglichkeit, Dinge an sich (selbst) zu betrachten, spricht. In beiden Fllen geht es um die Frage, ob sich von Dingen auch anders als in der Weise von Erscheinungen sprechen lßt, nur kommt in der Wendung ,Ding an sich (selbst) betrachtet dieser erkenntnistheoretische Sinn einer solchen Unterscheidung deutlicher zum Ausdruck. – Von neueren Deutungsbemhungen sei noch genannt: G. Buchdahl, Metaphysics and the Philosophy of Science. The Classical Origins – Descartes to Kant, Oxford 1969, 532 ff. („The significance of the contrast between Noumena and Phenomena“), ferner N. Reschers Vorschlag, ,kausale Mißverstndnisse des Verhltnisses von Erscheinung und Ding an sich ber eine Deutung dieses Verhltnisses im Sinne des Prinzips vom zureichenden Grund auszurumen; von begriffener oder begrndeter Erscheinung mßte nicht lnger in einem primr kausalen Sinne (unter Bezug auf ein Ding an sich) gesprochen werden (N. Rescher, Noumenal Causality, in: L. W. Beck [Ed.], Proceedings of the Third International Kant Congress, Dordrecht 1972, 462 – 470).

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

,affizieren18, obgleich nach diesen Dingen an sich in der Erfahrung dann wiederum gar nicht mehr gefragt werden soll19. Lßt man darum auch derartige Bemerkungen Kants einmal beiseite (Kant scheint sie spter selbst nicht mehr sehr geschtzt zu haben) und versucht erst einmal zu begreifen, was mit der Behauptung verstanden sein kçnnte, berall im Bereich der Erscheinungen seien ideale Realisierungen denkbar, so wird man sogleich an die Platonische Ideenlehre erinnert. Und zwar an jene Lehre, die unter Ideen nicht Begriffe verstand, sondern Urbilder, die an ,Vollkommenheit allen Dingen, in dieser Terminologie ihren ,Abbildern, berlegen sind. Kant war mit der Platonischen Ideenlehre vertraut, und zahlreiche Hinweise zeigen, daß er sie auch in eben dieser ,klassischen Form kennengelernt hatte.20 Dabei spielt es keine Rolle, ob Kant bei seiner Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich auch tatschlich an die Platonische Konzeption von Ideen gedacht hat, entscheidend ist lediglich, daß sowohl Platon als auch Kant, zumindest fr eine gewisse Zeit, mit der Mçglichkeit rechneten, auch fr nicht-geometrische Gegenstnde lasse sich eine ideale Realisierung, eben im so genannten Ding an sich, denken. Praktisch liefe dies natrlich darauf hinaus, daß man anzugeben suchte, wie Gegenstnde (einschließlich natrlicher Gegenstnde wie Berg und See) idealiter auszusehen htten bzw. beschaffen sein mßten, und das heißt eben nichts anderes als: welche Forderungen, die in der vollkommenen Realisierung einer Idee als erfllt gedacht werden, bei der Herstellung derartiger Gegenstnde oder auf der Suche nach ihnen erhoben werden sollen. Ob sich solche Forderungen wirklich berall stellen und vertreten lassen, muß hier dahingestellt bleiben, zumal auch Kant hierber keine Angaben macht. Immerhin lßt sich anhand zahlreicher Stellen in seinem Werk nachweisen, daß mit der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich genau diese Mçglichkeit, zumindest der Intention nach, verfolgt wird und nicht etwa der naive, durch mißverstndliche Ausdrucksweisen immer wieder einmal nahelegte, Gedanke eines ontologischen Fundierungsverhltnisses. Im „Opus postumum“ kommt dies dann in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, sofern hier Dinge an sich durchweg als Ideen im dargestellten Platonischen Sinne auftreten. Ein Ding an sich ist „nicht ein wirkliches 18 Prolegomena § 13 Anm. III (Akad.-Ausg. IV, 290 [Werke III, 154]); vgl. Prolegomena § 32 (Akad.-Ausg. IV, 314 f. [Werke III, 183]). 19 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 45. 20 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 370.

9.2 Dinge an sich

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Ding, was dem Gegenstande gegenbersteht“21, sondern, wie stndig wiederholt wird, ein „ens rationis“22, ein „Gedankending“23. Als solches ist es lediglich „cogitabile“, nicht „dabile“24. Davon, daß es womçglich eben jene Dinge an sich sein kçnnten, die in den Erscheinungen die Sinne ,affizieren, ist keine Rede mehr. Der Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen an sich ist vielmehr, wie nun nachdrcklich betont wird, „nicht ein Unterschied der Objekte als Dinge an sich, sondern nur ein szientifischer (ideal) fr das Subjekt nicht das Objekt“25. Und auch was es mit diesem ,szientifischen Unterschied des nheren auf sich hat, wird gesagt: Im Ding an sich wird nichts anderes als „die Idee der Abstraktion vom Sinnlichen“ gedacht26, d. h., anders formuliert, es wird das Sinnliche am Maßstab seiner Idee betrachtet. Kein Zweifel also, daß Kant in der Tat die Mçglichkeit einer idealen Realisierung auch fr den Bereich der Erscheinungen im Auge hat und es gerade die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich ist, die diese Mçglichkeit terminologisch zum Ausdruck bringen soll. Allerdings erfhrt man dabei nicht, welchen Zweck diese Unterscheidung genauer haben soll, d. h. welches ,szientifische oder theoretische Interesse hier im Spiele ist. Allein, daß es nicht mehr jenes naive Interesse sein kann, das unter Berufung auf einen universalen Anthropomorphismus die Welt gewissermaßen vor dem Menschen zu schtzen sucht (welche Welt, so muß man gleich fragen und wird dabei ohne Antwort bleiben), ist klar. Auch ohne eine positive Erluterung aber wird man sagen drfen, daß die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich nunmehr verstndlich wird und in dieser Form auch ber den engeren Rahmen der Philosophie Kants hinaus diskutierbar bleibt. Wie aber steht es dann mit der zunchst versuchten Interpretation, die noch nicht mit einer Vielzahl von Dingen an sich rechnete? Ist sie damit hinfllig, oder kann sie sich auf eine andere Ding-an-sich-Konzeption berufen? Wenn ja, sollen dann beide Konzeptionen nebeneinander stehenbleiben? Manches spricht dafr, daß Kant in der Tat den Ausdruck ,Ding an sich, gerade auch in seiner Verwendung in Singular und Plural, nicht immer in gleicher Weise benutzte, eine quivokation also beiden 21 22 23 24 25 26

Akad.-Ausg. XXII, 24. Z.B a.a.O., 27. Ebd. Z.B. a.a.O., 33. A.a.O., 74. A.a.O., 23.

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

angebotenen Interpretationen je fr sich zu ihrem Recht verhelfen kçnnte. Immerhin mssen damit die beiden hier zugrundegelegten Konzeptionen nicht vçllig disparat erscheinen. Es lßt sich vielmehr vermuten, daß folgender Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Im Sinne der ersten Interpretation war unter dem Ding an sich die Welt verstanden, wie sie unseren durch Sprache oder Sinnlichkeit (Kant) getroffenen Unterscheidungen stets vorausgeht, ohne jemals selbst ,Objekt der Erfahrung zu sein. Darber hinaus ließ sich ber die Welt nicht das geringste mehr sagen. Gerade hier aber kçnnte nun jene berlegung einsetzen, die sprachlich und terminologisch nicht mehr mit einem Ding an sich (Singular), sondern mit Dingen an sich (Plural) operiert. Auch diese Dinge an sich sind keine ,Objekte der Erfahrung, sind also ebensowenig ,gegeben wie die Welt, in der wir unsere Unterscheidungen treffen; sie kçnnten aber so gemeint sein, daß sich mit ihrer Hilfe diese Welt schließlich doch noch konstruieren ließe. In der Terminologie Kants gesprochen: Wir erkennen die Welt mit den Mitteln der Sinnlichkeit und des Verstandes. Der Rekurs auf die Sinnlichkeit, d. h. den Gebrauch exemplarisch getroffener Unterscheidungen, mag dabei als eine Einschrnkung gelten, sofern es an dieser Stelle keine ,ußere Garantie fr die Verlßlichkeit getroffener Unterscheidungen gibt. Wir sind aber auch, und hier kommt der Gedanke von Dingen an sich ins Spiel, in der Lage, auf dem Wege ber die Annahme einer idealen Realisierung von Ideen, angewendet auf alle Erscheinungen, diese Schranken der Sinnlichkeit wieder aufzuheben. Und eine Korrektur der Sinnlichkeit, verstanden als stetige Verbesserung der Unterscheidungen, hieße dann: die Welt am Leitfaden der Ideen zunehmend besser begreifen.

9.3 Distinguamus Zwei Fragen mssen zum Abschluß dieser Darstellung noch gestellt und wenigstens kurz beantwortet werden. 1. Was leistet der gemachte Vorschlag fr die Kant-Interpretation? 2. Was lßt sich systematisch mit diesem Vorschlag anfangen? Friedrich Heinrich Jacobis geistreiche, fr die Kant-Interpretation folgenschwere Bemerkung, wonach man „ohne jene Voraussetzung (die Voraussetzung von Dingen an sich, Verf.) in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben“ kçnne27, ist 27 F. H. Jacobi, Werke, I–VI, ed. F. Kçppen/F. Roth, Leipzig 1825 – 1827, II, 304.

9.3 Distinguamus

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korrekturbedrftig. Jacobi und mit ihm der grçßte Teil der Kant-Tradition bis auf den heutigen Tag unterstellen von vornherein eine Verwendung des Ausdrucks ,Ding an sich im naiven Verstande. Das heißt, Erscheinung und Ding an sich treten in der zuvor kritisierten Weise als komplementre Begriffe auf, wobei sich die Rede von Erscheinungen an der Rede von Dingen an sich orientiert. Das Jacobische Dilemma entsteht dann dadurch, daß das Ergebnis der Kantischen Kritik die eigenen (begrifflichen) Voraussetzungen nicht mehr zuzulassen scheint. Das aber ist nur eine Folge unterstellter (oder eigener) Naivitt im genannten Sinne. Vermeidet man sie und nimmt an, daß auch Kant sie als solche durchschaut und zumindest seit der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ vermieden hat, dann kommt man entgegen Jacobis Befrchtung auch ohne unklare begriffliche Vorleistungen in das System Kants hinein und kann weiterhin mit dem Begriff des Dinges an sich, ohne begrifflichen Schein, in diesem System bleiben. Was seit Jacobi als ein systematisches Dilemma erscheint, ist allenfalls ein genetisches: Kant fngt (wie in der Dissertation von 1770) mit traditionellen Unterscheidungen an; seine kritischen Erçrterungen machen sie spter jedoch berflssig, wobei sich auch die terminologischen Bestimmungen von Erscheinung und Ding an sich ndern. Gerade dies aber blieb bisher weitgehend unbemerkt. Es galt als ausgemacht (unter Anhngern wie unter Kritikern), man wisse schon, was mit Dingen an sich gemeint ist; die Frage war nur noch, ob sie in das System Kants paßten oder nicht. Ein typisches Beispiel fr einen unkritischen Anfang also, in diesem Falle einer interpretatorischen Bemhung. Man hat die Welt schon eingeteilt, hier, wie man sagt, in Erscheinungen und Dinge an sich, und fragt lediglich, ob auch Kant diese Unterscheidung seinen eigenen Voraussetzungen nach treffen durfte. Daß die Unterscheidung sich in der unterstellten (naiven) Weise methodisch einsichtig gar nicht treffen lßt, mit ihr gar keine echte Unterscheidung vorliegt und man den Wçrtern allein nicht ansieht, wie sie gemeint sind, gehçrt daher, so ungewohnt dies auch klingen mag, zu den bisher ungelçsten, ja hufig nicht einmal recht gesehenen Aufgaben einer sowohl historischen als auch systematischen philosophischen Besinnung.28 Und damit gleich zur zweiten Frage: Was lßt sich systematisch mit dem gemachten Interpretationsvorschlag anfangen? Da, wie bereits erwhnt, gegenwrtig keine Veranlassung besteht, den Ausdruck ,Ding an sich in die philosophische Diskussion wieder einzufhren, kçnnte man sich 28 Eine Wendung haben hier die angefhrten Arbeiten von G. Prauss gebracht (oben Anm. 17).

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9. Ding als Erscheinung und Ding an sich

mit einer Kant-Interpretation begngen, die, wie in diesem Falle, gewisse Unklarheiten in der Darstellung beseitigt, von einem systematischen Gebrauch der Argumentation also absehen. Andererseits kann man diese Argumentation dazu benutzen, sich auch ohne bernahme des Ausdrucks ,Ding an sich ber gewisse fundamentale erkenntnistheoretische Fragen Klarheit zu verschaffen. Und nur dieser Weg ist der vernnftige, weil sich in der Philosophie, ihrer praktischen Absicht zufolge, die reine Interpretation gar nicht rechtfertigen lßt. Die Frage ,was bedeutet ein Vorschlag systematisch? ist in der Philosophie nicht freigestellt, sie gehçrt vielmehr zum Begriff der philosophischen Reflexion selbst. Im vorliegenden Falle fllt die Antwort auf eine solche Frage nicht schwer. Die Behauptung Kants lautete (in der hier vorgetragenen Rekonstruktion): Schranken der Sinnlichkeit lassen sich durch die bereits durch das Bedrfnis, die Welt zu begreifen, gerechtfertigte Annahme idealer Realisierungen von Ideen, angewendet auf alle Erscheinungen, wieder aufheben. Wenn dies wiederum so verstanden werden darf, daß damit eine stndige Korrektur ,in der Sinnlichkeit getroffener Unterscheidungen gemeint ist, dann geht es hier um nichts anderes als um den Sinn und die Verlßlichkeit von Unterscheidungen, die wir ,in der Welt treffen. Daß in diesem Zusammenhang sowohl realistische als auch nominalistische Entwrfe unzureichend sind, darf heute als nachgewiesen gelten, und Kants Verdienst also zunchst schon darin gesehen werden, diese falsch gestellte Alternative seinerseits vermieden zu haben. Unterscheidungen gliedern die Welt (das ist ihr Sinn) und sie sind verlßlich, nicht weil diese Gliederung durch eine eineindeutige Zuordnung von Wçrtern und Weltstcken geschieht (realistische These), oder willkrlich (nominalistische These), sondern weil Verlßlichkeit auch hier eine Folge von Maßnahmen ist, mit denen der Mensch seine Handlungen, in diesem Falle seine sprachlichen Handlungen, begleitet. Korrektur und przisierende Weiterfhrung bereits getroffener Unterscheidungen sind die wichtigsten dieser Maßnahmen, wobei die Forderung nach Korrektur und Weiterfhrung bereits aus dem unterscheidenden Gebrauch der Sprache selber folgt. Wer spricht, unterstellt Unterscheidungen, und wer (zumal in wissenschaftlicher Absicht) seine Unterscheidungen gegenber anderen vertreten will, tut dies, indem er sie als die besseren (gegenber bisher akzeptierten) Unterscheidungen darzustellen sucht. Das aber heißt: er faßt sein Tun ausdrcklich als unter ein Postulat gestellt auf. Dieses Methodenpostulat lßt sich wie folgt formulieren: Unterscheide so, daß deine Vorschlge als begrndete nderung

9.3 Distinguamus

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der bisher bestehenden und als Grundlage zuknftiger Vorschlge dienen kçnnen.29 Beides ist hier wichtig: die Abgrenzung von bisherigem Denken (man soll seine Vorschlge gegenber gegebenen Vorschlgen begrnden) und die Einbeziehung zuknftigen Denkens (man soll seine Vorschlge begrndet so formulieren, daß andere mit diesen Vorschlgen arbeiten kçnnen). Das Postulat als erfllt denken, bedeutet dann nichts anderes, als sich von seinen inhaltlichen Bestimmungen leiten lassen. Nicht mehr und nicht weniger. Und genau diesen praktischen Charakter hatte denn auch die bereits als systematisch gerechtfertigt bezeichnete Verbindung von moralischem Subjekt und Ding an sich bei Kant. Den Menschen als Ding an sich begreifen, hieß: ihn unter die Forderung stellen, ein moralisches Subjekt (Brger eines Reiches der Freiheit) zu werden, dieses Subjekt in seinem Handeln zu verwirklichen. Also geht es um ein Postulat der praktischen Vernunft, dieses nunmehr auf das Subjekt selbst, seine Selbstverwirklichung fordernd, gewendet. Die Selbstverwirklichung auch zu kçnnen, ist dann ebenso wie das Vermçgen, die brigen Ideen zu verwirklichen, Gegenstand der theoretischen Vernunft. Die Unterscheidung zwischen Ding als Erscheinung und Ding an sich dient daher in der Tat dem praktischen Interesse auch der theoretischen Philosophie und ist somit nur eine faÅon de parler fr den vernnftig bestimmten Willen, dem Methodenpostulat zu folgen.

29 Dieses Methodenpostulat ist unter der Bezeichnung methodischer Imperativ und innerhalb eines sprachphilosophischen Rahmens weiter ausgefhrt in: J. Mittelstraß, Die Mçglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 62), 158 – 205, 244 – 252 („Das normative Fundament der Sprache“), hier insbesondere 199 – 205, 249 – 252.

10. Konstruktion und Rekonstruktion Rekonstruktionen sind Konstruktionen, mit denen sich weiterentwickelte systematische Einsichten an die Stelle ihres ursprnglichen Gegenstandes setzen. Sie sind nicht auf Satz- und Begriffsexplikationen beschrnkt, sondern erfassen auch ein handlungstheoretisches Fundament. Im erkenntnistheoretischen Kontext Kants betrifft dies sowohl die Verbindung des Begriffs der (mathematischen) Konstruktion mit einer transzendentalen Analyse des Begriffs der (mathematischen) Anschauung als auch die Mçglichkeit, mathematische Konstruktionen unter Fundierungsgesichtspunkten als pragmatische Rekonstruktionen – im Sinne einer transzendentalen Pragmatik – zu begreifen. Zugleich kommt in dem gewhlten transzendentalphilosophischen Rahmen die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion zum Ausdruck. Kant ist, nicht nur im deutschsprachigen Raum, ein allgegenwrtiger Klassiker. Und weil das so ist, ist lngst jede Ecke seines Werkes ausgeleuchtet, jede Seite tausendfach aufgeschlagen, alles Ungedruckte gesichtet, jeder Gedanke, in den Zeilen und zwischen den Zeilen, wieder und wieder gedacht. Dabei ist es keineswegs das akademische Fußvolk unter den Philosophen, das sich hier um einen der ganz Großen schart, vielmehr sind es immer wieder die Besten, die die Philosophie aufzubieten hat, die in Kant die Philosophie in ihrem Zenit sehen oder doch wissen, daß nur an ihm vorbei, in der Auseinandersetzung mit ihm, ein vielleicht noch immer winkender Zenit erreichbar ist. Und was mçglicherweise noch bersehen sein kçnnte, hat der Fleiß der zurckliegenden Jahre, Kants 200. Todesjahr vor Augen, wohl lngst herausgefunden. Eine Veranstaltung, Kant gedenkend, jagte 2004 die andere, und immer wieder wird sein Werk hin- und hergewendet, ausgeleuchtet, in Beziehung gesetzt, verstndlich gemacht, ediert, befragt, geprft, gepriesen. Da fllt es schwer, noch etwas Neues zu sagen, Entdeckungen zu reklamieren, einen ,unbekannten Kant ans Licht zu ziehen. Es gibt ihn nicht. Deshalb soll hier auch gar nicht erst versucht werden, mit dem Anspruch auf neue Einsichten aufzutreten. Vielmehr soll es unter einer systematisch, d. h. erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch, relevanten Perspektive, um den Zusammenhang zwischen Konstruktion und Rekonstruktion in der

10.1 Konstruktion und Rekonstruktion

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theoretischen Philosophie Kants gehen. Es wird sich zeigen, daß dieser Zusammenhang nicht nur ein wesentliches Element einer klassischen Konzeption ist, sondern in seiner Kantischen Fassung auch heute noch philosophische Aufmerksamkeit verdient. Daß die Dinge nicht einfach sind und eine dem nicht-philosophischen Verstand vielleicht beschwerliche Analyse erfordern, ist auf dem Felde der Kant-Interpretation normal, sollte aber nicht zu jener Entlastung fhren, die Napoleon offenbar bei der Antwort eines Lausanner Professors auf seine Frage „Was hlt man in der Schweiz von Kant?“ empfand. Dieser antwortete: „Wir verstehen ihn nicht!“ Darauf Napoleon zu seinem Marschall: „Hçren Sie, Berthier, Kant wird auch hier nicht verstanden!“1, womit man zur Tagesordnung, einer ohnehin wenig philosophischen, bergehen konnte. Das soll hier nicht geschehen. Gegenstand ist vielmehr die Rekonstruktion dessen, was Kant unter Konstruktion und Rekonstruktion verstand bzw. welche Rolle er diesem Begriffspaar in der Architektur seiner theoretischen Philosophie zumaß – wobei es ohne Belang ist, daß Rekonstruktion kein Kantischer Terminus ist. Es geht in der Philosophie immer um die Sache, nicht um ihre Bezeichnung. Den Anfang bilden daher auch einige kurze systematische Bemerkungen zum Verhltnis von Konstruktion und Rekonstruktion.

10.1 Konstruktion und Rekonstruktion Der moderne Konstruktionsbegriff, in seiner hier relevanten philosophischen Bedeutung, stammt aus der mathematisch-logischen Grundlagendiskussion und bezeichnet ein konstruierendes Vorgehen in der Theoriebildung. Gegenstnde werden, in einem wissenschaftlichen Kontext, als Konstruktionen aufgefaßt, d. h. als Produkte, deren Erzeugung sich bestimmten Regeln (Konstruktionsregeln) verdankt. In Begrndungszusammenhngen bedeutet dies, daß „die Bedingungen fr eine gelingende Begrndung allererst (…) herzustellen sind“2, d. h., daß auch die Zwecke und Mittel (in Regelform) konstruktiv zur Verfgung stehen mssen. Im (mathematischen) Intuitionismus (L. E. J. Brouwer, A. Heyting) wird diese 1 2

Zitiert nach C. J. Weber, Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen VIII, Stuttgart 1839 (Smmtliche Werke XXIII), 408. C. F. Gethmann/R. Hegselmann, Das Problem der Begrndung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus, Zeitschrift fr allgemeine Wissenschaftstheorie 9 (1977), 363 f..

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

Konzeption gegen den (mathematischen) Formalismus (D. Hilbert) zur Geltung gebracht, im Methodischen Konstruktivismus der Erlanger Schule weiter ausgearbeitet und auf alle Felder der Theoriebildung erweitert. Im Unterschied zum Konstruktionsbegriff, der seine moderne Bedeutung in einem wissenschaftstheoretischen Kontext gewinnt – allerdings, wie noch deutlich werden wird, auch schon bei Kant eine philosophische Grundlegung erfhrt –, greift der Rekonstruktionsbegriff auf idealistische und romantische Konzeptionen im Rahmen einer allgemeinen Hermeneutik zurck, so etwa, wenn Johann Gottlieb Fichte vom ,Nachkonstruieren eines Begriffs bzw. dessen Genese3, Friedrich Carl v. Savigny von einer „Rekonstruktion des Inhalts des Gesetzes“ spricht4 und Friedrich Schlegel die Aufgabe einer Rekonstruktion darin sieht, einen Begriff „in seinem Werden (zu) konstruieren“5. Systematisch gesehen geht es hier bereits um den Gesichtspunkt einer Rekonstruktion von Begriffen oder begrifflichen Zusammenhngen durch bzw. ber die Analyse ihrer (historischen) Genese. In diesem Sinne faßt Rudolf Carnap sein Programm einer Wissenschaftslogik, ausgefhrt im Aufbau eines Konstitutionssystems, in dem auf empiristischer Basis Begriffe ber ,konstitutionale Definitionen eingefhrt werden sollen, als „eine rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaus der Wirklichkeit“ auf.6 Auf Carnap wiederum greift Wolfgang Stegmller zurck, wenn dieser die „begriffliche Durchdringung und Przisierung des Begriffs- und Satzgerstes von Theorien, der in Theorien enthaltenen logisch-mathematischen Strukturen, der Methoden wissenschaftlicher berprfung und der Anwendungskriterien von Theorien“ als das Programm einer ,rationalen Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis bezeichnet.7 Anders bei Imre Lakatos. Dieser verwendet den Begriff einer methodologischen Rekonstruierbarkeit im Rahmen einer Methodologie wis3

4 5 6 7

J. G. Fichte, Wissenschaftslehre 1804, Nachschrift der zweiten Vorlesung, in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe IV/2 (Kollegnachschriften 1796 – 1804), ed. R. Lauth/H. Gliwitzky, Stuttgart 1978, 297. F. K. v. Savigny, Juristische Methodenlehre (1802/1803), ed. G. Wesenberg, Stuttgart 1951, 18. F. Schlegel, Lessings Gedanken und Meinungen (1804), in: ders., Charakteristiken und Kritiken II (1802 – 1809), ed. H. Eichner, Mnchen etc. 1975, 60. R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Leipzig 1928, Hamburg 31966, 139. W. Stegmller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie IV/1 (Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung), Berlin/Heidelberg/New York 1973, 13 f..

10.1 Konstruktion und Rekonstruktion

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senschaftlicher Forschungsprogramme als Kriterium zur Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Wissenschaftsentwicklung, ferner als Kriterium wissenschaftlicher Rationalitt, die sich in einer ,vernnftigen Wissenschaftsentwicklung dokumentieren soll.8 Rekonstruierbarkeit bestimmt in diesem Sinne eine methodologisch gerechtfertigte Weiterfhrung eines Forschungsprogramms bzw. dessen Ersetzung durch ein anderes. Im brigen geht Lakatos (wie Karl R. Popper) von der Annahme aus, daß die wissenschaftliche Theorienbildung stets auf einen theoretischen Rahmen bezogen bleibt, der in Form eines methodisch erfolgenden Aufbaus, vor allem der dabei verwendeten Wissenschaftssprachen, nicht zur Verfgung steht. In diesem Punkte unterscheidet sich die Lakatossche Konzeption von derjenigen des Methodischen Konstruktivismus, in der zudem die Begriffe der Konstruktion und der Rekonstruktion methodisch zusammengefhrt werden. Hier geht es im Rekonstruktionsbegriff um eine konstruktive Interpretation, die sich, ausgehend von vortheoretischen (lebensweltlichen) Handlungs- und Orientierungsvermçgen, im Aufbau inhaltlich (ber Zwecke) gerechtfertigter, methodisch geordneter und voraussetzungsfrei gehaltener, sprachlich mçglichst ausdrucksfhiger (differenzierter) Theorien vollzieht. Rekonstruktionen setzen sich an die Stelle des rekonstruierten Gegenstandes und sind in eben diesem Sinne konstruktive Interpretationen. 9 Systematisch stellt sich der Zusammenhang zwischen Konstruktion und Rekonstruktion wie folgt dar: Eine Rekonstruktion ist gegeben bzw. gilt als gelungen, d. h. als adquat, wenn eine Konstruktion K , fr einen gegebenen begrifflichen (theoretischen) Zusammenhang K substituiert, K nicht nur in allen wesentlichen Teilen korrekt wiedergibt, |

8

9

I. Lakatos, History of Science and Its Rational Reconstructions, in: R. C. Buck/R. S. Cohen (Eds.), PSA 1970. In Memory of Rudolf Carnap (Proceedings of 1970 Biennial Meeting Philosophy of Science Association), Dordrecht 1971 (Boston Studies in the Philosophy of Science VIII), 91 – 135. Vgl. J. Mittelstraß, Forschung, Begrndung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begrndungsstreit, in: H. Schndelbach (Ed.), Rationalitt. Philosophische Beitrge, Frankfurt 1984, 117 – 140, hier 125 ff., ferner in: J. Mittelstraß, Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt 1989, 257 – 280, hier 267 ff.. Dazu auch J. Mittelstraß, Rekonstruktion, in: ders. (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/ Weimar 1995, 550 – 552. Zur Konzeption des Methodischen Konstruktivismus (,Erlanger Schule) insgesamt vgl. M. Jger, Die Philosophie des Konstruktivismus auf dem Hintergrund des Konstruktionsbegriffs, Hildesheim/Zrich/New York 1998.

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

sondern zugleich diejenigen Intentionen, die K zu erfllen sucht, besser – zumindest nicht schlechter – erfllt als K. 10 Diese ,konstruktive Definition erfaßt auch andere, z. B. historische, Verwendungsweisen der Begriffe Konstruktion und Rekonstruktion und lßt sich insofern auch als eine geeignete begriffliche Folie fr die Rekonstruktion anderer Konstruktions- und Rekonstruktionsbegriffe auffassen. Unter diesen nehmen die entsprechenden Konzeptionen Kants eine besondere Stellung ein, insofern diese ausdrcklich an einen mathematischen Konstruktionsbegriff anschließen und ihn – teils im Gegensatz zu ihm, teils in bereinstimmung mit ihm – in Richtung eines philosophischen Konstruktions- und Rekonstruktionsbegriffs ausarbeiten.11

10.2 Analyse und Synthese Kants Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft mçglich sei, verstanden als die Gretchenfrage der Philosophie auf dem Wege zu rationaler Klarheit und systematischer Substanz, wird nicht erst in der „Kritik der reinen Vernunft“ gestellt und gleich auch noch fr materiale theoretische Konzeptionen beantwortet; sie tritt bereits in der „Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und der Moral“ (1764), also einem Werk der so genannten vorkritischen Periode, auf und verbindet sich hier mit der Feststellung, daß ihre Beantwortung in der Weise der Mathematik nicht mçglich sei. Dabei geht es Kant um eine wesentliche Differenz in der Begriffsbildung und damit um eine wesentliche Differenz in der Konstitution der Gegenstnde von Mathematik und Metaphysik bzw. Philosophie. Die Mathematik, so heißt es hier, beginnt mit der Konstitution ihrer Gegenstnde, indem sie deren Definitionen bildet („in der Mathematik sind die Definitionen der erste Gedanke“12); 10 J. Mittelstraß, Forschung, Begrndung, Rekonstruktion, a.a.O., 128 f. (= 1989, 272); ders., Rekonstruktion, a.a.O., 551. 11 Die folgende Darstellung orientiert sich in wesentlichen Teilen an einer frheren, die Konzeption Leibnizens und Kants miteinander in Beziehung setzenden Darstellung: J. Mittelstraß, Leibniz and Kant on Mathematical and Philosophical Knowledge, in: K. Okruhlik/J. R. Brown (Eds.), The Natural Philosophy of Leibniz, Dordrecht/Boston 1985 (The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science XXIX), 227 – 261. In gekrzter und berarbeiteter Form in diesem Band III. 12 Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und Moral, Akad.-Ausg. II, 281 (Werke I, 750).

10.2 Analyse und Synthese

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die Metaphysik beginnt mit gegebenen Gegenstnden bzw. Begriffen. Ihre Definitionen stehen nicht am Anfang, sondern am Ende einer unabweisbaren Klrungsbemhung, die sie zugleich als Disziplin insgesamt charakterisiert. In der Mathematik, so Kant, „fange ich mit der Erklrung meines Objekts, z.E. eines Triangels, Zirkels u.s.w. an, in der Metaphysik muß ich niemals damit anfangen, und es ist so weit gefehlt, daß die Definition hier das erste sei, was ich von dem Dinge erkenne, daß es vielmehr fast jederzeit das letzte ist. Nmlich in der Mathematik habe ich ehe gar keinen Begriff von meinem Gegenstande, bis die Definition ihn gibt; in der Metaphysik habe ich einen Begriff, der mir schon gegeben worden, obzwar verworren, ich soll den deutlichen, ausfhrlichen und bestimmten davon aufsuchen“13. Terminologischer Ausdruck dieser Unterscheidung ist die Erklrung, daß die Mathematik „zu allen ihren Definitionen synthetisch, die Philosophie aber analytisch“ gelangt14 : „Es ist das Geschfte der Weltweisheit, Begriffe, die als verworren gegeben sind, zu zergliedern, ausfhrlich und bestimmt zu machen, der Mathematik aber, gegebene Begriffe von Grçßen, die klar und sicher sind, zu verknpfen und zu vergleichen, um zu sehen, was hieraus gefolgert werden kçnne.“15 Wenig spter, in der „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765 – 1766“, hat Kant die so bestimmte systematische Differenz von Mathematik und Philosophie noch einmal bekrftigt und sie terminologisch mit der Unterscheidung zwischen einem synthetischen und einem analytischen Vorgehen verbunden: „Diesem (d. h. dem synthetischen Vorgehen, Verf.) zufolge ist das Einfache und Allgemeinste in der Grçßenlehre auch das Leichteste, in der Hauptwissenschaft aber das Schwereste, in jener muß es seiner Natur nach zuerst, in dieser zuletzt vorkommen. In jener fngt man die Doctrin mit den Definitionen an, in dieser endigt man sie mit denselben und so in andern Stcken mehr.“16 Als Beispiel fr ein ,analytisches Vorgehen der Philosophie dient Kant der Begriff der Zeit (in Erinnerung an Augustins Bemerkung, daß er wohl wisse, was die Zeit sei, aber, wenn ihn jemand danach frage, er es nicht mehr wisse17): „Wollte ich hier synthetisch auf eine Definition der Zeit zu kommen suchen, welch ein glcklicher Zufall mßte sich ereignen, wenn dieser Begriff gerade derjenige wre, der die uns ge13 14 15 16 17

A.a.O., 283 (Werke I, 753). A.a.O., 276 (Werke I, 744). A.a.O., 278 (Werke I, 746). A.a.O., 308 (Werke I, 911). A.a.O., 283 (Werke I, 753).

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

gebene Idee vçllig ausdrckte!“18 Dieser Zufall ist nach Kant fr einige Philosophen ihrer Behauptung nach Normalitt. Sein Beispiel: „wenn der Philosoph eine Substanz mit dem Vermçgen der Vernunft sich willkrlicher Weise gedenkt, und sie einen Geist nennt“19 ; und sein Zeuge ist Leibniz: „Leibniz dachte sich eine einfache Substanz, die nichts als dunkle Vorstellungen htte, und nannte sie eine schlummernde Monade. Hier hatte er nicht diese Monas erklrt, sondern erdacht; denn der Begriff derselben war ihm nicht gegeben, sondern von ihm erschaffen worden.“20 Leibniz steht hier in den Augen Kants fr die traditionelle Philosophie, deren systematischer Irrtum darin beruhe, die ,analytische Form der philosophischen Wissensbildung mit der ,synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung verwechselt zu haben. Kant zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen und Theologen William Warburton mit der Bemerkung, „daß nichts der Philosophie schdlicher gewesen sei als die Mathematik, nmlich die Nachahmung derselben in der Methode zu denken, wo sie unmçglich kann gebraucht werden“21. Damit treten nicht nur Mathematik und Philosophie auseinander, sondern auch die methodischen Orientierungen, denen beide folgen. Eben dies, d. h. die Art und Weise, wie Kant hier zwei unterschiedliche Methodenideale, die analytische und die synthetische Methode, mit zwei unterschiedlichen disziplinren Anstzen, philosophischen und mathematischen, verbindet, bringt den Konstruktionsbegriff ins Spiel und verleiht ihm auf diese Weise eine, allerdings problematische, wissenschaftstheoretische Bedeutung. Kant identifiziert die Methode der Mathematik mit der synthetischen Methode, deren wesentliches Merkmal die gegenstandskonstituierende Definition von Grundbegriffen ist. Er orientiert sich dabei am Ideal der Euklidischen Geometrie, die bis in die Neuzeit hinein das eigentliche Paradigma eines logisch ausgewiesenen Aufbaus und einer begrndeten Darstellung wissenschaftlicher Theorien bildet. Hier stellen Konstruktionsverfahren das theoretische Mittel fr den Nachweis mathematischer Existenz dar; deren Kriterien formulieren die Euklidischen Postulate. Anders, so Kant, in der Philosophie (in deren theoretischen Teilen als Metaphysik). Diese ,hat ihre Gegenstnde nicht durch Konstruktion bzw. Definition, sondern in Form von ,verworrenen Begriffen (Begriffen ohne distinkte Bestandteile), die sich auf in der Erfahrung 18 19 20 21

A.a.O., 277 (Werke I, 745). Ebd. Ebd. A.a.O., 283 (Werke I, 752).

10.2 Analyse und Synthese

211

gegebene Gegenstnde (z. B. die Zeit) beziehen. Sie muß deshalb, analog zu ,Newtons Methode in der Naturwissenschaft, wie Kant meint22, ,durchaus analytisch23 verfahren, d. h., ihre Methode ist die Explikation einer als unmittelbar gewiß bezeichneten ,inneren Erfahrung. An einer mathematischen Orientierung wird bei dieser Bestimmung der philosophischen Methode insofern noch festgehalten, als diese Explikation in Axiomen und in der Ableitung von Folgerungen aus diesen Axiomen erfolgen soll. Definitionen, die den Anfang der mathematischen Methode bilden, sind dann mçgliche Resultate einer solchen Explikation. In Form ,erster materialer Grundstze der menschlichen Vernunft24 sind entsprechende Axiome zwar ,unerweislich (Beispiel: ,ein Kçrper ist zusammengesetzt)25, aber geeignet, andere Stze zu begrnden. Kant bersieht an dieser Stelle, daß die Unterscheidung zwischen ,analytisch und ,synthetisch, hier bezogen auf die Wissensformen der Philosophie und der Mathematik, ursprnglich gar keine disziplinenbildende und in diesem Sinne wissenschaftstheoretische Bedeutung besaß, vielmehr zwei aufeinander bezogene Aspekte ein und derselben Methode bezeichnete. Diese kommt in der Beweis- und Konstruktionspraxis der griechischen Mathematik in ihrer methodologischen Rekonstruktion bei Pappos von Alexandreia zum Ausdruck.26 Im Rahmen der Konstruktion geometrischer Figuren und des Beweises geometrischer Lehrstze treten hier Analysis und Synthesis als methodisch einander zugeordnete Elemente auf. Unter Analysis wird dabei eine Analysis von Figuren verstanden und das gesamte Verfahren in drei Schritte gegliedert: (1) Axiome, explizite Voraussetzungen, bereits bewiesene Theoreme und das zu beweisende Theorem werden als gegeben betrachtet. (2) In einer Figur, die den zu beweisenden Sachverhalt darstellt – mit bereits konstruktiv ausgewiesenen Linien –, werden geeignete Hilfslinien eingezeichnet, um die gesuchten Voraussetzungen zu bestimmen. (3) Es werden solche Hilfslinien aufgesucht, die bei Ausschluß des zu beweisenden Theorems einen deduktiven Beweis aus den gegebenen Stcken ermçglichen. Teil (3) des Verfahrens bildet den synthetischen Teil, dessen Anwendung durch den vorausgegangenen analytischen Teil, der ein heuristisches Verfahren an 22 23 24 25 26

A.a.O., 275 (Werke I, 743), vgl. 286 (Werke I, 756). A.a.O., 289 (Werke I, 759). A.a.O., 295 (Werke I, 766). Ebd. Collectiones, I–III, ed. F. Hultsch, Berlin 1876/1877, II, 634 ff.. Vgl. J. Hintikka/U. Remes, The Method of Analysis: Its Geometrical Origin and Its General Significance, Dordrecht/Boston 1974, 31 ff.

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

geometrischen Figuren darstellt, berhaupt erst ermçglicht wird. Pappos bezeichnet dabei sowohl den analytischen Teil einer Konstruktionsaufgabe allein, der strukturell dem natrlichen Schließen weitgehend entspricht, als auch seine Verbindung mit dem synthetischen Teil als ,Analysis. Aus dieser geometrisch-konstruktiven Auffassung von Analysis und Synthesis geht wiederum, im Anschluß an die Wissenschaftstheorie der Aristotelischen „Zweiten Analytiken“ die bliche propositionale Auffassung der Analysis als Verallgemeinerung oder logisches Abstrakt, nmlich der Analysis von Figuren, hervor. Das heißt, in einer Reflexion auf das ursprngliche Verfahren werden, mit der Intention seiner Verallgemeinerung, auch solche Satzzusammenhnge betrachtet, die nicht geometrisch-konstruktiver Art sind.27 In ihrer Aristotelischen Form bernimmt das lateinische Mittelalter die propositionale Auffassung von Analysis (resolutio) und Synthesis (compositio) im Sinne zweier ,Wege zur Wahrheit, wobei auch hier der analytische Weg vom Ganzen zu den Teilen erst im synthetischen Weg von den Teilen zum Ganzen seine Vollendung finden soll. Der Sinn dieser Unterscheidung bleibt dabei der ursprnglichen geometrisch-konstruktiven und propositionalen Auffassung nach ein beweistheoretischer. Das ndert sich erst im Paduaner Aristotelismus, in dem unter Rckgriff auf scholastische Traditionen wie auf eine ltere, auf die Galen-Kommentierung zurckgehende Identifikation der resolutio (analytische Methode) mit einer demonstratio quia (Beweis, daß [etwas so ist, wie es ist]) und der compositio (synthetische Methode) mit einer demonstratio propter quid (Beweis, warum [etwas so ist, wie es ist])28 diese Unterscheidung zum Kernstck einer Methodologie empirischer Wissenschaften wird. So dient die resolutio bei Galileo Galilei der Bereitstellung von Stzen zur Erklrung beobachteter Phnomene, die compositio der Formulierung von Hypothesen mit Hilfe ,analytisch gewonnener Stze, wobei die Hypothesen in erneuter Anwendung der resolutio exhauriert werden.29 Isaac Newton wiederum verschiebt diese Terminologie noch 27 Vgl. Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Analyticorum Priorum Librum Commentarium, ed. M. Wallies, Berlin 1883 (Commentaria in Aristotelem Graeca II/1), 340 f.. 28 Vgl. J. Mittelstraß, Changing Concepts of the a priori, in: R. E. Butts/J. Hintikka (Eds.), Historical and Philosophical Dimensions of Logic, Methodology and Philosophy of Science, Dordrecht/Boston 1977 (The University of Western Ontario Series in the Philosophy of Science XII), 113 – 128. 29 G. Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo I, Le Opere di Galileo Galilei. Edizione Nazionale, I–XX, Florenz 1890 – 1909, XII, 75 f..

10.2 Analyse und Synthese

213

weiter in Richtung auf eine Methodologie von Ursache und Wirkung: als analytische Methode wird die Angabe von Ursachen fr beobachtete Wirkungen bezeichnet, als synthetische Methode der Schluß von beobachteten Ursachen auf Wirkungen.30 Die Experimentalanalysis fhrt nach Newton letztlich auf isolierte Partikel und essentielle Eigenschaften, aus denen die Phnomene synthetisch hergeleitet werden kçnnen. Damit unterliegt aber im Unterschied zur Galileischen Konzeption, in deren Rahmen sich die analytische Methode noch als eine apriorische Erklrung von Grundbegriffen und Grundstzen auffassen lßt, bei Newton jetzt auch die Analysis einer empirischen Kontrolle, d. h., die analytische Methode wird, ungeachtet des Umstandes, daß sich der logische Aufbau der „Principia“31 an dem konstruktiven Ideal der Euklidischen Geometrie und damit am Ideal der synthetischen Methode orientiert (im Aufbau der Euklidischen Geometrie spielt die Analysis lediglich eine, wenn auch wichtige, heuristische Rolle), Bestandteil eines insgesamt empirischen Verfahrens. Einen weiteren Schritt in diese Richtung bilden die so genannten analytischen Theorien in der nach-Newtonschen Mechanik, beginnend mit der Mechanik Leonhard Eulers32, in deren Rahmen Bewegungen nicht mehr durch geometrische Konstruktionen und logische Deduktionen aus Axiomen gerechtfertigt, sondern durch Berechnung der Lçsungen von bestimmten Differentialgleichungen unter bestimmten Nebenbedingungen bestimmt werden. Ursachen und Wirkungen treten hier als meßbare Grçßen auf, deren Abhngigkeit in den Gleichungen, die Naturgesetze formulieren, eindeutig festgelegt ist. Die Verwendung des Terminus ,analytisch als Kennzeichnung fr den von der synthetischen Methode verschiedenen Aufbau physikalischer Theorien aus Grundgleichungen reflektiert dabei neben der Newtonschen Methodologie sowohl die konsequente Verwendung der Infinitesimalrechnung als auch die vor allem von Franciscus Vieta in seiner Gleichungslehre verwendete Terminologie. Die Begriffsgeschichte von analytisch und synthetisch lehrt – und deswegen wurde sie hier angefhrt –, daß Kants Stellungnahme nicht nur 30 I. Newton, Opticks, or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections & Colours of Light II, Qu. 31 (41730), ed. I. B. Cohen/D. H. D. Roller, New York 1982, 404 f.. Zum Aufbau der Newtonschen Physik und zur Newtonschen Methodologie vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 287 – 306. 31 I. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London 1687, 31726. 32 L. Euler, Mechanica sive Motus Scientia Analytica Exposita, I–II, St. Petersburg 1736.

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

die ursprngliche Bedeutung der Analysis/Synthesis-Unterscheidung in ihrer geometrisch-konstruktiven Auffassung bersieht, sondern auch Newtons problematische Verengung des Begriffs der analytischen Methode (und dessen Ausarbeitung in der analytischen Mechanik des 18. Jahrhunderts) allzu unbedenklich bernimmt. Wenn Kant erklrt, daß die Mathematiker zwar ,bisweilen analytisch erklrt htten, dies aber ,jederzeit ein Fehler gewesen sei33, so macht dies nur deutlich, daß er den Beweis- und Konstruktionsgedanken der griechischen Mathematik, in dessen Rahmen Analysis und Synthesis zwei wohldefinierte Aspekte ein und derselben Methode waren, nicht mehr kennt. Dies relativiert aber auch die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen einer analytischen Form der philosophischen Wissensbildung und einer synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung, da zumindest fr den mathematischen Fall mit differenzierteren methodologischen Zusammenhngen gerechnet werden muß. Er relativiert ferner Kants Stellungnahme gegenber Leibniz, der hier fr die traditionelle Auffassung der philosophischen Wissensbildung herhalten muß, wonach dieser die analytische Form der philosophischen Wissensbildung irrtmlich mit der synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung identifiziert habe.

10.3 Konstruktion und Schematismus Kant hat seine Unterscheidung zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung, die philosophisch klar, wissenschaftshistorisch und wissenschaftstheoretisch weit weniger klar ist, in der „Transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“ weiter ausgearbeitet und dabei begrifflich und systematisch auf ein neues Fundament gestellt. Im Mittelpunkt steht nun der Begriff der Konstruktion selbst, nicht nur bezogen auf die mathematische, sondern auch bezogen auf die philosophische Wissensbildung, zumindest was deren Begrifflichkeit betrifft. Kant beschrnkt sich jetzt nicht mehr auf einen Hinweis auf die synthetische Methode der (Euklidischen) Geometrie, in deren Rahmen Konstruktionsverfahren das theoretische Mittel fr den Nachweis mathematischer Existenz sind, sondern verbindet den Begriff der (mathematischen) Konstruktion mit einer transzendentalen Analyse des Begriffs der (mathematischen) Anschauung. Die mathematische Begriffsbildung wird als Konstruktion in der reinen Anschauung bestimmt, wobei Kant mit der 33 Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze, a.a.O., 277 (Werke I, 745).

10.3 Konstruktion und Schematismus

215

Unterscheidung zwischen empirischer und reiner Anschauung und einer handlungstheoretischen Fundierung des Konstruktionsbegriffs wichtige, die (Euklidische) Idee einer synthetischen Mathematik wesentlich modifizierende Einsichten in die Form der mathematischen Wissensbildung gelingen. Ausgangspunkt sind wiederum der besondere erkenntnistheoretische Status der Mathematik (sie „gibt das glnzendste Beispiel einer sich, ohne Beihlfe der Erfahrung, von selbst glcklich erweiternden reinen Vernunft“34) und die Unterscheidung zwischen einer philosophischen und einer mathematischen Wissensbildung. Jene wird nunmehr als Vernunfterkenntnis aus Begriffen, diese als Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe bestimmt.35 Definiert wird, was es heißt, einen Begriff konstruieren, nmlich: „die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen“36. In dieser Darstellung muß, eben weil sie sich nicht auf eine empirische Anschauung bezieht, weil sie kein Objekt der empirischen Anschauung zum Gegenstand hat, „dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten“37. Dies entspricht durchaus der ursprnglichen geometrisch-konstruktiven Auffassung der komplementren Methoden der Analysis und Synthesis („So konstruiere ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal aber vçllig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle“38), wird nun aber, auf dem Hintergrund der transzendentalen Systematik Kants, handlungstheoretisch rekonstruiert: bei der Bildung mathematischer Begriffe wird „immer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs (…) gesehen“39 ; empirische (,hingezeichnete) Figuren dienen lediglich dazu, den Begriff ,auszudrcken, und zwar ,unbeschadet seiner Allgemeinheit40. Mit anderen Worten, mathematische Begriffe stehen nicht fr figrliche Darstellungen in der (empirischen) Anschauung, sondern fr Verfahren ihrer Herstellung in der (reinen) Anschauung. Dies 34 35 36 37 38 39 40

Kritik der reinen Vernunft B 740. Kritik der reinen Vernunft B 741. Ebd. Kritik der reinen Vernunft B 744. Kritik der reinen Vernunft B 741. Kritik der reinen Vernunft B 742. Ebd.

216

10. Konstruktion und Rekonstruktion

wiederum gilt nach Kant von mathematischen Begriffen allgemein, nicht nur von geometrischen Begriffen.41 Hinter dieser handlungstheoretischen Definition mathematischer Begriffe als Konstruktionen in der reinen Anschauung steht die Schematismuskonzeption Kants, ausgearbeitet unter dem Titel „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“42. Das „Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“, heißt dieser Konzeption entsprechend „das Schema zu diesem Begriffe“43. Gemeint sind ber Verfahrensregeln definierte anschauliche Schemata, z. B. solche, die mit Definitions- und Axiomenschemata gegeben sind. Diese gewinnen ihre Bedeutung unter anderem dort, wo sich Begriffe auf unendliche Prozesse beziehen und folglich nicht durch endlich viele beispielhafte Darstellungen bestimmt werden kçnnen.44 Die Konstruktion der Begriffe lßt sich in die Konstruktion ihrer Bilder, gemeint sind anschauliche Schemata, fortsetzen. So wrde man das wohl heute ausdrcken. Kants Ausdrucksweise ist um vieles komplizierter. So stellen fr ihn mathematische Konstruktionsverfahren oder Regeln ,transzendentale Schemata dar, ,transzendental insofern, als ein (transzendentales) Schema die ,reine Synthesis ist, „gemß einer Regel der Einheit nach Begriffen berhaupt, die die Kategorie ausdrckt“; sie ist „ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes berhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, so fern diese der Einheit der Apperzeption gemß a priori in einem Begriff zusammenhngen sollten“45. Wer hier angesichts dieser ungeheuren terminologischen Verdichtung zu verzweifeln beginnt, dem wird immerhin ein verstndliches Beispiel an die Hand gegeben46 : Schema der Kategorie der Quantitt ist die Zahl, in moderner Darstellung konstruiert ber die Regeln eines arithmetischen Kalkls, nmlich einer Anfangsregel, einer Regel ohne Prmissen, mit der eine Grundfigur hergestellt wird, und einer weiteren Regel, mit der zu einer weiteren Figur bergegangen werden kann.47 41 42 43 44

Kritik der reinen Vernunft B 745. Kritik der reinen Vernunft B 176 ff.. Kritik der reinen Vernunft B 179 f.. Vgl. F. Kambartel, Schema, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 697 f.. 45 Kritik der reinen Vernunft B 181. 46 Kritik der reinen Vernunft B 182. 47 Vgl. K. Lorenz, Artikel: Kalkl, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Stuttgart/Weimar 1995, 338, IV, 22010, 137 – 138.

10.3 Konstruktion und Schematismus

217

Entsprechend der von Kant zur Lçsung des Problems der Anwendung begrifflicher Hilfsmittel auf das in der sinnlichen Anschauung Gegebene geforderten Verbindung zwischen ,reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) und ,Erscheinungen48 ist die Zahl als transzendentales Schema in diesem Sinne sowohl ,intellektuell als auch ,sinnlich49. ,Sinnlich hier in der Weise, daß sich das Schema der Zahl auf Struktureigenschaften von Handlungsfolgen wie Anfang, Aufeinanderfolge und Wiederholung, nicht jedoch ,bildlich auf bestimmte anschauliche Handlungen bezieht. Die Zahl ist folglich „eine Vorstellung (…), die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefaßt“50. Ihr schematischer Charakter liegt in der Wiederholung einer Handlung, ausgehend von einem Anfang, wobei sich das entsprechende Konstruktionsverfahren unterschiedlicher Realisierungsformen bedienen kann. Schemata wie das Schema der Zahl stellen also Handlungscharaktere dar. Bezogen auf den Unterschied zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung fhrt diese transzendentale Einfhrung bzw. Interpretation des Konstruktionsbegriffs bei Kant zur Unterscheidung zwischen einem intuitiven Vernunftgebrauch ,durch die Konstruktion der Begriffe und einem diskursiven Vernunftgebrauch ,nach Begriffen.51 Im Gegensatz zur mathematischen Begriffsbildung durch Konstruktion kann aus „Begriffen a priori (im diskursiven Erkenntnisse) (…) niemals anschauende Gewißheit, d.i. Evidenz entspringen, so sehr auch sonst das Urteil apodiktisch gewiß sein mag“52, oder anders ausgedrckt: der philosophische Beweis „wird immer mit Worten gefhrt“53. Insofern beruht aber auch die wesentliche Differenz zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung nicht mehr allein in der Identifikation der mathematischen Wissensbildung mit der synthetischen Methode der (Euklidischen) Geometrie, sondern in einer transzendentalen Rekonstruktion des Begriffs der Anschauung bzw. des Begriffs der Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung. Diese Rekonstruktion besttigt zwar in Kants Augen seine ursprngliche Auffassung von der fundamentalen Differenz beider Wissensformen, macht diese jedoch nicht mehr lediglich an Gesichtspunkten der Anwendung einer Methode (im mathe48 49 50 51 52 53

Kritik der reinen Vernunft B 75 f.. Kritik der reinen Vernunft B 75. Kritik der reinen Vernunft B 182. Kritik der reinen Vernunft B 747. Kritik der reinen Vernunft B 762. I. Kant, Wiener Logik, Akad.-Ausg. XXIV/2, 893.

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

matischen Falle der synthetischen Methode) fest. Darber hinaus ist Kants Analyse des Begriffs der Konstruktion ber den (transzendentalen) Begriff des Schematismus geeignet, mathematische Verfahren, etwa auch das geometrisch-konstruktive Verfahren in seinem ursprnglichen griechischen Sinne, in den Formen einer transzendentalen Pragmatik philosophisch zu begrnden.54 Dieser Umstand fhrt weit ber bloße Klassifikationen hinaus und legitimiert erstmals Kants These von der wissenschaftssystematischen, nmlich disziplinenbildenden Funktion des Konstruktionsbegriffs. Insofern der Begriff der Konstruktion ber den (transzendentalen) Begriff des Schematismus erlutert wird, ist er systematisch auch mit einer ,transzendentalen Analytik von Raum und Zeit verbunden: Konstruktionen sind, in der Terminologie Kants, synthetische Verfahren zur Realisierung von Urteilsformen (Kategorien) in den Anschauungsformen von Raum und Zeit. Damit gehçren auch Raum und Zeit als reine Anschauungsformen zu den Grundlagen der Mathematik – deren Stze beruhen auf anschaulichen Konstruktionen, d. h. der Herstellung rumlicher Formen bzw. anschaulicher Figurenreihen, auf einer ,figrlichen Synthesis, wie Kant sagt55. Die Entdeckung eines die Erscheinungen organisierenden Apriori nicht-begrifflicher Art fhrt hier, speziell in einer Theorie des Anschauungsraumes, wie sie Kant zum ersten Mal methodisch unabhngig von empirisch-physikalischen und formalistisch-mathematischen Theorien zu formulieren sucht, sowohl zu einer nheren Bestimmung des Begriffs der Konstruktion (als Konstruktion im Anschauungsraum) als auch auf den Nachweis der Abhngigkeit theoretischer und vortheoretischer Erfahrung von den Bedingungen ihrer rumlichen Erzeugung bzw. ihres rumlichen Auftretens. Kants Begriff des Raumes gewinnt daher auch selbst – einerseits hinsichtlich der systematischen Verbindung mit dem Konstruktionsbegriff, andererseits hinsichtlich der festgehaltenen Orientierung an der Euklidischen Geometrie – einen konstruktiven Charakter und unterscheidet sich insofern auch sowohl von Newtons substantiellem Raumbegriff (Raum als absolutes Bezugssystem, dessen Koordinaten 54 Vgl. J. Mittelstraß, ber ,transzendental, in: E. Schaper/W. Vossenkuhl (Eds.), Bedingungen der Mçglichkeit. ,Transcendental Arguments und transzendentales Denken, Stuttgart 1984, 158 – 188 (engl. On ,transcendental, in: R. E. Butts/J. R. Brown [Eds.], Constructivism and Science. Essays in Recent German Philosophy, Dordrecht/Boston/London 1989 [The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science 44], 77 – 101); in diesem Band Kapitel 8. 55 Kritik der reinen Vernunft B 154.

10.3 Konstruktion und Schematismus

219

absolute Orte und entsprechend absolute Abstnde bezeichnen)56 als auch von Leibnizens relationalem Raumbegriff (der Raum bestimmt durch mçgliche Relationen von Kçrpern zueinander57). Es ist also die Festlegung des Begriffs der Konstruktion auf Konstruktionen in der (reinen) Anschauung (,figrliche Synthesis), die – ungeachtet des Umstandes, daß Kants Begriffe von Raum und Zeit in dem erluterten Sinne selbst konstruktiv genannt werden mßten – Kant an der These von der prinzipiellen Differenz zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung festhalten lßt. Diese These gewinnt zudem im Rahmen der „Kritik der reinen Vernunft“ durch die Bestimmung der ,Grenzen der reinen Vernunft im transzendentalen Gebrauche58 eine zustzliche Schrfe. Gegen hartnckige Bemhungen der Philosophie, „ber Grenzen der Erfahrungen hinaus in die reizenden Gegenden des Intellektuellen zu gelangen“, ist es nach Kant „notwendig, noch gleichsam den letzten Anker einer phantasiereichen Hoffnung wegzunehmen, und zu zeigen, daß die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art Erkenntnis nicht den mindesten Vorteil schaffen kçnne, es mßte denn der sein, die Blçßen ihrer selbst desto deutlicher aufzudecken, daß Meßkunst und Philosophie zwei ganz verschiedene Dinge sein“59. Noch einmal betont Kant in diesem Zusammenhang, daß die ,Grndlichkeit der Mathematik auf ,Definitionen, Axiomen, Demonstrationen beruhe und „keines dieser Stcke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie kçnne geleistet, noch nachgeahmet werden. Daß der Meßknstler, nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebude zu Stande bringe, der Philosoph nach der seinigen in dem Anteil der Mathematik nur ein Geschwtz erregen kçnne, wiewohl eben darin Philosophie besteht, seine Grenzen zu kennen, und selbst der Mathematiker (…) die Warnungen der Philosophie nicht ausschlagen, noch sich ber sie wegsetzen kann“60. Die traditionelle Metaphysik, aber etwa auch Leibnizens Programm einer ,Versçhnung von Geometrie und Metaphysik61, das auch Kant selbst anfnglich in unmittelbarem Anschluß an die Leib-

56 Vgl. M. Carrier, Artikel: Raum, absoluter, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 490 – 493. 57 Vgl. Brief vom 16. Juni 1712 an B. Des Bosses, Philos. Schr. II, 450. 58 Kritik der reinen Vernunft B 754. 59 Ebd. 60 Kritik der reinen Vernunft B 754 f.. 61 Vgl. F. Kaulbach, Immanuel Kant, Berlin 1969, 59.

220

10. Konstruktion und Rekonstruktion

nizsche Monadenlehre vertreten hatte62, werden endgltig jenseits dieser Grenzen angesiedelt.

10.4 Die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion Folgt man Kants Analyse von der „Deutlichkeit der Grundstze“ bis zur „Kritik der reinen Vernunft“, dann wre die Mathematik eine konstruktive (oder synthetische) Disziplin, die Philosophie eine analytische Disziplin. Kants Behauptung, daß die Philosophie bzw. die Metaphysik bisher dem Leibnizideal einer Metaphysik aus dem Geiste der Mathematik gefolgt sei, erlutert die Feststellung, daß „noch niemals eine geschrieben worden“63 – sie lßt sich eben, nach Kant, aus mathematischem Geiste nicht schreiben. Gegen diese Beurteilung lßt sich wiederum im Hinblick auf Kants eigene systematische Verbindung des Konstruktionsbegriffs mit dem Schematismusbegriff manches einwenden. Auch hat Kant selbst von der in seinen Augen disziplinenbildenden Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Methode64 einen durchaus philosophischen Gebrauch gemacht. Diese Methodenunterscheidung dient bekanntlich der Charakterisierung des Aufbaus der „Kritik der reinen Vernunft“ als synthetisch, der „Prolegomena“ als analytisch.65 Hier wird die propositionale Auffassung der ursprnglichen, geometrisch-konstruktiven Unterscheidung von Analysis und Synthesis auf philosophische Darstellungsformen bertragen, d. h., im Sinne der ursprnglichen Methodenunterscheidung ist die Philosophie stets beides, synthetisches und analytisches Wissen. Im brigen gibt es auch mathematische Grnde, die fr eine mehr vermittelnde Auffassung gegenber den Formen der philosophischen und der mathematischen Wissensbildung sprechen. Ausgehend davon, daß die Form der philosophischen (und wissenschaftstheoretischen) Analyse die Rekonstruktion im anfangs dargestellten Sinne ist66, erweisen sich nmlich 62 Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. Continet Monadologiam Physicam (1756), Akad.-Ausg. I, 473 – 487. 63 Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze, a.a.O., 283 (Werke I, 752). 64 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 758. 65 Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (1783), §§ 4f., Akad.-Ausg. IV, 274 ff. (Werke III, 134 ff.). 66 Vgl. J. Mittelstraß, Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, in: P. Janich (Ed.), Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Mnchen 1981, 89 – 111, 137 – 148.

10.4 Die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion 221

in einem tieferen systematischen Sinne auch Konstruktionen, die nach Kant die Mathematik definieren, als Rekonstruktionen, die nach Kant in Form einer philosophischen Analyse ,gegebener Begriffe die Philosophie definieren. Gemeint ist, daß sich auch mathematische Konstruktionen unter Fundierungsgesichtspunkten als pragmatische Rekonstruktionen begreifen lassen.67 Eben dies ist aber gerade ein wesentliches Resultat der Analysen Kants im Rahmen der Schematismuskonzeption. Mathematische Konstruktionen haben ein pragmatisches Fundament; es liegt in ihren Handlungs- oder operativen Strukturen beschlossen. Theoretische Gegenstnde, in Kants Beispiel die natrlichen Zahlen, werden ber Handlungsanweisungen zur regelgerechten Herstellung von Figuren (Ziffern) erzeugt, und zwar in Form von Rekonstruktionen einer vortheoretischen (pragmatischen) Praxis, zu der auch Handlungen wie das Setzen eines Anfangs, Aufeinanderfolge und Wiederholung gehçren. In diesem Sinne war gesagt worden, daß mathematische Verfahren bereits bei Kant in einer transzendentalen Pragmatik begrndet sind. Mathematik und Philosophie htten, wenn ihre Methode die Rekonstruktion ist, ein gemeinsames Fundament. Entscheidend ist hier ein Begriff von Rekonstruktion, der sich nicht auf die Ebene der Stze und Begriffsexplikationen beschrnkt, sondern eine pragmatische Ebene in den Blick nimmt. Eben dies tut auch Kant, wenngleich noch verbunden mit einem Bewußtseinsbegriff, der beide Ebenen, die sprachliche wie die pragmatische, einschließt. Ein Unterschied zwischen philosophischer und mathematischer Wissensbildung bestnde dann lediglich in der Bindung des (mathematischen) Konstruktionsbegriffs an Bedingungen der reinen Anschauung. Diese Bindung besteht fr die philosophische Analyse nicht, auch wenn sie es gerade ist, die deutlich macht, was Bedingungen der reinen Anschauung sind. Systematisch gesehen verdanken sich diese Umstnde dann eher wieder den Besonderheiten der Analyse Kants – zu denen auch das Festhalten an einem Bewußtseinsbegriff gehçrt, der sowohl in mathematischer als auch in philosophischer Hinsicht alle pragmatischen Schritte begleitet – aus systematischen Gesichtspunkten. Diese sprechen denn auch eher fr eine Einheit im Konstruktionsbegriff, und weiter noch: fr eine philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion.

67 Vgl. F. Kambartel, Pragmatic Reconstruction, as Exemplified by an Understanding of Arithmetics, Communication & Cognition 13 (1980), 173 – 182.

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10. Konstruktion und Rekonstruktion

10.5 Systematischer Ausblick Fr Kant zeugt alles Wissen von den Leistungen einer transzendentalen Subjektivitt. Dabei bringt diese (einfacher gesagt: das erkennende Subjekt) nicht nur das Wissen selbst, sondern auch die Prinzipien des Wissens – Kategorien und die Formen der Anschauung – hervor, und dies, wenn die vorausgegangene Analyse zutreffen sollte, auf einem pragmatischen Fundament. Kants handlungstheoretische Terminologie und die sich in seiner Konzeption nahelegende philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion machen das deutlich, wenn auch – wohl wegen der bei alledem beibehaltenen Bewußtseinsterminologie – nicht in dem Maße und in der Klarheit, wie dies im Blick auf die von Kant schon gewonnene Einsicht in die transzendentalen oder eben konstruktiven Bedingungen des Wissens erwartet werden kçnnte. Auch ein Blick auf die weitere Entwicklung macht dies deutlich. So nimmt Fichte eine Erweiterung des Kantischen Konstruktionsbegriffs vor, indem er diesen auf den (problematischen) Begriff der intellektuellen Anschauung anwendet und in diesem Zuge den Begriff der mathematischen Konstruktion durch den der philosophischen Konstruktion ersetzt. Explizit spricht Fichte nun von der Konstruktion des Begreifens: „So nun, wie jene den Triangel, construiren wir das Wissen, z. B. das Denken, das Begreifen: dort, wie ein Triangel, der eben nur dies, nicht etwa ein Quadrat, zu Stande komme; so hier, wie ein Begreifen zu Stande komme.“68 Damit verweist der Konstruktionsbegriff unmittelbar und allgemein auf das (poietische, d. h. herstellende) Handeln, nicht nur auf das mathematische. Er gewinnt an operativem Gehalt, verliert aber gleichzeitig, wenn man ihn mit dem Konstruktionsbegriff Kants vergleicht, seine wissenschaftstheoretische Klarheit. Subjekt der Konstruktion ist nun ein absolutes Ich, d. h., aus einer methodisch eingesetzten transzendentalen Subjektivitt wird mit einem absoluten Ich ein absoluter Grund, und eben darin soll nun auch der absolute Charakter der Konstruktion liegen. In Fichtes Konzeption: ein absolutes Wissen, unter dem kein Wissen im mathematischen Sinne, sondern der ,Grund allen Wissens verstanden wird69, stellt nicht das Ende 68 J. G. Fichte, Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813), Nachgelassene Werke I, ed. I. H. Fichte, Bonn 1934, 29. Dazu J. Mittelstraß, Fichte und das absolute Wissen, in: W. Hogrebe (Ed.), Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen, Frankfurt 1995, 141 – 161. 69 Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus dem Jahre 1801, Smmtliche Werke, I–VIII, ed. I. H. Fichte, Berlin 1845 – 1846, II, 42.

10.5 Systematischer Ausblick

223

eines Wissensbildungsprozesses dar, sondern dessen Anfang als ursprngliche Konstruktion. In derartigen Formulierungen wird aus einem methodischen Sinn von Konstruktion – und dessen pragmatischer Interpretation als Rekonstruktion – wieder ein spekulativer, gegen den Kants ursprngliche Intentionen gerichtet waren. Noch nicht vollstndig erreichte Klarheit erweckt die philosophische Spekulation zu neuem Leben. Heute noch, wenn man etwa an den so genannten radikalen Konstruktivismus denkt, der das Kind, den konstruktiven Gedanken, mit dem Bade, einem falsch verstandenen Realismus, ausschttet, oder an den so genannten Dekonstruktivismus, der den Konstruktivismus nie verstanden hat. Auf Kant bezogen bedeutet dies, daß es darauf ankommt, dem Konstruktionsbegriff in den Grenzen einer Transzendentalphilosophie wieder, wie hier versucht, zu methodischer Klarheit zu verhelfen. Auf die philosophische Sache bezogen, d. h. systematisch gesehen, kommt es darauf an, deutlich zu machen, daß erst dann, wenn zum transzendentalen Gedanken der konstruktive Gedanke tritt, daraus ein philosophischer und wissenschaftstheoretischer Schuh wird.

11. Spontaneitt der Vernunft Spontaneitt ist ein Allerweltswort und ein philosophischer Begriff, der einen anthropologischen Kontext anzeigt. Als Spontaneitt der Vernunft steht er fr ein Autonomiekonzept, das aus der theoretischen Philosophie in die praktische Philosophie fhrt. Seine theoretische Herleitung erfolgt bei Kant im Rahmen der Logik, genauer: einer Logik der Begriffsbildung. Das logische Ich erweist sich als Paradigma reiner Spontaneitt.

11.1 Handlungskontext Seit die Menschen auf eine vernnftige Weise ber ihr Tun und ihre Stellung in der Welt nachdenken, wissen sie um eine eigentmliche Selbstndigkeit, die sie gegenber allen anderen Lebewesen auszeichnet. Diese Selbstndigkeit kommt darin zum Ausdruck, daß sie allein Handlungen auszufhren vermçgen, deren Ursprnge – wie es Aristoteles ausgedrckt haben wrde – ausschließlich in ihnen selbst liegen, und daß sie darber hinaus diese ihre Handlungen aufeinander abstimmen und gegenber anderen vertreten kçnnen. Besonders deutliche Beispiele derartiger Handlungen sind etwa solche, die sich einer moralischen Wertung unterziehen lassen – wobei gerade die Mçglichkeit moralischer Wertungen in der Selbstndigkeit des Menschen ihre Bedingung findet –, und weiterhin solche, die unseren eigenen Konstruktionen, etwa in der Mathematik oder in der Logik, dienen. In beiden Fllen, den moralisch bewertbaren Handlungen wie den Konstruktionen der reinen Vernunft, folgt der Mensch keiner Vorschrift der Natur, die ihm Ziele und Zwecke aufzwingen wrde. Was diese Handlungen vielmehr auszeichnet, ist ihr transzendentaler Charakter, insofern nmlich ohne sie die dem Menschen eigentmliche Selbstndigkeit nicht realisiert wre. Was jene moralisch bewertbaren Handlungen betrifft, so kçnnen sie eben nicht einfach unterlassen werden, weil damit die Mçglichkeit des Miteinanderlebens selbst aufgehoben wrde; und wie sie erfolgen sollten, lßt sich nur ber Vorschlge entscheiden, die der Mensch selbst macht. Im Falle der Mathematik und der Logik ist dies noch einmal anders, insofern sich beide historisch gesehen selbst erst als sinnvolle T-

11.1 Handlungskontext

225

tigkeiten des Menschen rechtfertigen mssen, man heute also ausdrcklich sagen muß, warum man Mathematik oder Logik treibt, eine Frage, ber die bei den moralisch bewertbaren Handlungen unmittelbar immer schon entschieden ist. Handlungen nun, die in dieser Weise ihren Ursprung im Menschen selbst haben und von ihm allein gerechtfertigt werden kçnnen, werden im allgemeinen als autonome oder spontane Handlungen bezeichnet, so unscharf hier auch der alltgliche Sprachgebrauch normalerweise ist. Es kommt jetzt darauf an, diese Handlungen von anderen Handlungen zu unterscheiden. Nicht alle menschlichen Handlungen nmlich wird man als spontane Handlungen bezeichnen wollen. So wrde es etwa niemandem einfallen, von einer spontanen Nahrungsaufnahme oder einem spontanen Schlafen zu sprechen. Handlungen also, die wie ein entsprechendes Verhalten von Tieren der Befriedigung elementarer Bedrfnisse dienen, scheiden hier von vornherein aus. Allerdings sind damit noch nicht alle anderen menschlichen Handlungen als spontane Handlungen gekennzeichnet. Der traditionelle Gegensatz von spontanen und rezeptiven Handlungen, oder kurz: von Spontaneitt und Rezeptivitt, macht vielmehr deutlich, daß es Grnde gibt, auch die sinnlichen Vernehmensweisen des Menschen, Handlungen also, die in die so genannten, ,Wahrnehmungen, aber auch die ,Erfahrungen eingehen, noch deutlich von spontanen Handlungen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung soll hier aber vernachlssigt werden, zumal sie zu der schwer diskutierbaren Frage fhren wrde, ob nicht auch bei diesen Handlungen spontane Elemente beteiligt sind. Um diese Frage befriedigend beantworten zu kçnnen, mßte man aber ohnehin erst genau wissen, was man unter Spontaneitt verstehen will; und dieses Wissen verschafft man sich natrlich am besten dadurch, daß man mçglichst deutliche und nicht etwa gleich zweifelhafte Beispiele anfhrt. Entsprechend wurde auch in der philosophischen Tradition seit Platon, beinahe ausschließlich, pointiert von der Spontaneitt der Vernunft gesprochen und wurden dafr Beispiele angefhrt, die wie die anfangs genannten moralisch bewertbaren und in eigenen Konstruktionen beruhenden Handlungen von vornherein unter die besonderen Leistungen der Vernunft fallen. Im Folgenden soll ein solches Beispiel, und zwar unter Bercksichtigung dessen, was sich hierber schon bei Kant findet, diskutiert werden. Gewhlt wird hierzu ein Kapitel aus der Logik, nmlich die Frage, wie man vernnftig zu Begriffen kommt, und zurckgegriffen wird zur Rechtfertigung gerade dieses Beispiels zunchst nur auf die Rolle, die es bei Kant in diesem Zusammenhang spielt.

226

11. Spontaneitt der Vernunft

11.2 Konstruktion der Begriffe Sieht man einmal von der anderen Zwecken dienenden Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand ab, dann wird man sagen drfen, daß in der Philosophie Kants die logische Konstruktion der Begriffe als exemplarischer Fall einer Spontaneitt der Vernunft behandelt wird, wie berhaupt das ,logische Ich in Kants weitgestecktem Rahmen seiner Spontaneittsdiskussion den Vorzug genießt, als ,reine Spontaneitt beurteilt zu werden.1 Whrend dabei in der „Kritik der reinen Vernunft“ ausgiebig davon Gebrauch gemacht wird, daß sich, wie es hier heißt, die Begriffe „auf der Spontaneitt des Denkens“ grnden2 oder die Spontaneitt das Vermçgen sei, „Vorstellungen“ – an dieser Stelle Begriffe – „selbst hervorzubringen“3, stellt sich fr Kant in seiner von G. B. Jsche 1800 herausgegebenen Logikvorlesung die przise Frage: „Welche Handlungen des Verstandes einen Begriff ausmachen“4 oder was der „logische Ursprung der Begriffe“ sei5. In Beantwortung dieser Frage findet sich dann in eben dieser Vorlesung eine Begriffstheorie, die im wesentlichen drei ,logische Operationen6 voneinander unterscheidet: die Komparation, die Reflexion und die Abstraktion.7 Die erste logische Operation besteht hierbei in einer Durchmusterung offenbar in der Anschauung, also empirisch gegebener Vorstellungen, wobei es insbesondere auf die Feststellung von Verschiedenheiten an1

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3 4 5 6 7

Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, Akad.-Ausg. XX, 271 (Werke III, 602). Kritik der reinen Vernunft B 93. – Da es hier in systematischer Absicht allein auf ein deutliches Beispiel fr Spontaneitt, also den Versuch ihrer exemplarischen Bestimmung ankommt, kann im Folgenden die Rolle, die der Begriff der Spontaneitt innerhalb der Philosophie Kants im Zusammenhang mit anderen Begriffen spielt, unbercksichtigt bleiben. Zur Rolle dieses Begriffs im Rahmen der „Kritik der reinen Vernunft“ vgl. I. Heidemann, Spontaneitt und Zeitlichkeit. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft“, Kçln 1958 (Kant-Studien Erg.Heft 75). Kritik der reinen Vernunft B 75. Logik § 5, Akad.-Ausg. IX, 93 (Werke III, 524). Logik § 5 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 (Werke III, ebd.). Logik § 6 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 (Werke III, 525). Gelegentlich spricht Kant im Hinblick auf diese drei Operationen auch nur von Reflexion (Logik § 5 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 [Werke III, 524]) oder Abstraktion (Anthropologie § 3, Akad.-Ausg. VII, 131), daneben auch von einem analytischen Verfahren (Kritik der reinen Vernunft B 102). Vgl. H. J. Paton, Kants Metaphysic of Experience I, London 1936, 200 f..

11.2 Konstruktion der Begriffe

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kommen soll. Demgegenber zielt die zweite logische Operation auf eine Feststellung von Gemeinsamkeiten, die ihrerseits dann in der Abstraktion, der dritten Operation, zu einem Begriff verbunden werden. Es sieht demnach so aus, als wre ein Begriff nichts anderes als eine Zusammenfassung relevanter Merkmale in der Anschauung gegebener Dinge, was cum grano salis im brigen auch ein weitverbreiteter Standpunkt innerhalb der traditionellen Logik gewesen sein drfte. Kants Beispiel, das sich an dieser Stelle findet, scheint das zu besttigen. Es heißt: „Ich sehe z. B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde. Indem ich diese Gegenstnde zuvçrderst untereinander vergleiche, bemerke ich, daß sie voneinander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der ste, der Bltter u. dgl.m.; nun reflektiere ich aber hiernchst nur auf das, was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die ste, die Bltter selbst und abstrahiere von der Grçße, der Figur derselben u.s.w.; so bekomme ich einen Begriff vom Baume.“8 Bis auf die dritte Operation, die Abstraktion, scheint das ganze Verfahren zur Konstruktion von Begriffen also mehr oder weniger eine Angelegenheit empirischer Beschreibungen zu sein; untersucht wird, „wie gegebene Vorstellungen im Denken zu Begriffen werden“9, wobei Merkmale selbst als Bausteine auftreten. Der bergang zur Abstraktion bleibt dann aber dunkel, weil man nicht recht weiß, wie aus einer Reihe von Vorstellungen, zuletzt den von relevanten Merkmalen, ein Begriff, also doch wohl etwas Abstraktes, entstehen sollte. Kant scheint sich nun geholfen zu haben, indem er auch an dieser Stelle noch von Vorstellungen spricht. So beruhen die Begriffe, wie es in der „Transzendentalen Analytik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ heißt, auf der „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“10, womit sich der Begriff von der empirisch gegebenen Vorstellung nur dadurch unterscheidet, daß diese eine repraesentatio singularis und jener eine repraesentatio per notas communes (bzw. eine repraesentatio discursiva) ist.11 Alle Schwierigkeiten fhren damit wieder zu dem Terminus ,Vorstellung zurck, mit dem in einer unglcklichen Entscheidung die Tradition so oft an den rechtverstanden sprachlichen Grundlagen methodischen Denkens vorbeiphilosophiert hat. Unter logischen Operationen, von de-

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Logik § 6 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 f. (Werke III, 525). Logik § 5 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 (Werke III, 524). Kritik der reinen Vernunft B 93. Logik § 1, Akad.-Ausg. IX, 91 (Werke III, 521).

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11. Spontaneitt der Vernunft

nen hier die Rede ist, sind dann, dieser Tradition entsprechend, in Wahrheit nichts anderes als psychische Operationen verstanden. Nun wird man in diesem Punkte im Falle Kants sicher differenzieren mssen, da sich die „Kritik der reinen Vernunft“ als eine Transzendentalphilosophie von der, wie Kant sich ausdrckt, „Transzendentalphilosophie der Alten“12 ja gerade darin unterscheidet, daß sie im wesentlichen eine Theorie ber Stze, nmlich synthetische Stze a priori, und nicht etwa ber Gegenstnde oder Eigenschaften aufzustellen sucht.13 Hier stehen also sprachliche Gebilde immer im Vordergrund. Sollte man dann aber nicht auch eine anspruchsvollere Begriffstheorie erwarten drfen? Um diese Frage zu entscheiden, d. h. der hier kurz skizzierten Theorie mçglicherweise doch noch positivere Gesichtspunkte abgewinnen und damit die These von der Spontaneitt der Vernunft im Sinne Kants besser vertreten zu kçnnen, bedarf es zunchst eines geeigneten Vorschlags, wie man selbst von Begriffen sprechen mçchte. Ohne einen derartigen, systematisch gerechtfertigten Vorschlag, der jetzt versucht werden soll, wrde die philosophiehistorische Beurteilung hier jeder Maßstbe entbehren. Im gewçhnlichen, nicht normierten Sprachgebrauch treten Begriffe zumeist als die Bedeutungen bestimmter Wçrter auf, und zwar in deutlicher Analogie zur Verwendung der Eigennamen. Eigennamen sind Wçrter, die zur Bezeichnung von Gegenstnden dienen, wobei diese Gegenstnde in Stzen durch Eigennamen vertreten und die Bedeutung des jeweiligen Eigennamens genannt werden. In dem elementaren Satz ,Peter ist groß etwa vertritt der Eigenname ,Peter einen Gegenstand, der also seine Bedeutung ist, und diesem Gegenstand wird dabei ,groß zugesprochen. Bei ,groß handelt es sich nun offenkundig um keinen Eigennamen, sondern um ein Wort, das vielen Gegenstnden zugesprochen oder abgesprochen werden kann. Wçrter dieser Art sollen Prdikatoren genannt werden, womit bereits eine logische Normierung vorgenommen ist, in der von der grammatischen Verwendung etwa des Prdikates als eines Satzteiles abgesehen wird. Prdikatoren sind in diesem Sinne alle Wçrter, also etwa auch ,laufen oder ,Tisch, sofern sie nur dazu dienen, in Stzen den durch Eigennamen vertretenen Gegenstnden zu- oder abgesprochen zu werden; und genau sie sind es nun, von denen man sagt, daß ihre Bedeutungen Begriffe seien. Man sagt also etwa im Hinblick auf die zu 12 Kritik der reinen Vernunft B 113. 13 Vgl. H. Scholz, Einfhrung in die Kantische Philosophie, in: ders., Mathesis universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft, ed. H. Hermes/F. Kambartel/J. Ritter, Basel 1961, 171 ff..

11.2 Konstruktion der Begriffe

229

verschiedenen Sprachen gehçrenden Prdikatoren ,rot, ,red, und ,rouge, daß sie als Wçrter zwar verschieden seien, daß ihre Verwendung aber in gleicher Weise erfolge und sie darum denselben Begriff bedeuten. Nun ist damit noch nicht viel gewonnen, weil es zunchst ja nur so aussieht, als wre ,denselben Begriff bedeuten nur eine synonyme Redeweise fr ,in gleicher Weise verwendet werden. Dagegen soll aber gerade die Verwendung des Wortes ,Begriff allein schon so eingefhrt werden, daß sie die Zulssigkeit dieser verschiedenen Redeweisen legitimiert. Hier hilft der gewçhnliche Sprachgebrauch nicht weiter, man muß vielmehr eine von diesem Sprachgebrauch unabhngige Konstruktion einfhren. Beginnen wir also noch einmal bei den Prdikatoren. Ihre Verwendung wird in der Regel an endlich vielen Beispielen (durch Zusprechen) und Gegenbeispielen (durch Absprechen) eingebt, was zunchst nur zu bedeuten scheint, daß sie auf diese Beispiele eingeschrnkt bleibt. Um diese Einschrnkung zu berwinden, und zwar nicht auf dem umstndlichen Wege einer stndig neuen Entscheidung darber, ob irgendwelche Gegenstnde als Beispiele oder Gegenbeispiele fr einen bestimmten Prdikator angesehen werden sollen, fhrt man darum Regeln ein, d. h. terminologische Bestimmungen fr die Verwendung von Prdikatoren. Als eine solche terminologische Bestimmung kann etwa die Regel x ist Tisch ) x ist nicht Stuhl auftreten, die besagt, daß die Beispiele fr ,Tisch als Gegenbeispiele fr ,Stuhl behandelt werden sollen. Endlich viele Regeln ber endlich vielen exemplarisch eingefhrten Prdikatoren stellen auf diese Weise ein Regelsystem dar, das es nun auch erlaubt, zwei verschiedene Prdikatoren etwa als gleichwertig zu bezeichnen. So sind zwei verschiedene Prdikatoren P und Q terminologisch gleichwertig, wenn die terminologischen Bestimmungen es erlauben, von Aussagen der Form ,x ist P zu Aussagen der Form ,x ist Q berzugehen und umgekehrt. Und zu Begriffen kommt man nun, wenn sich im Sinne des hier vorgetragenen, in seiner przisen Form auf Paul Lorenzen zurckgehenden Vorschlags14 anstelle der Wen14 Vgl. P. Lorenzen, Gleichheit und Abstraktion, Ratio 4 (1962), 77 – 81, und: Methodisches Denken, Ratio 7 (1965), 1 – 23; ausfhrlich auch K. Lorenz/J. Mittelstraß, Die Hintergehbarkeit der Sprache, Kant-Studien 58 (1967), 206 ff., ferner J. Mittelstraß, Artikel: Begriff und Wort, in: J. Ritter (Ed.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie I (1971), Sp. 785 – 787; jetzt auch der Artikel: Begriff, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Stuttgart/Weimar 22005, 384 – 386.

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11. Spontaneitt der Vernunft

dung ,P und Q sind gleichwertig die Wendung ,P und Q stellen denselben Begriff dar begrnden lßt, womit man zugleich der gebrauchssprachlichen Wendung ,P und Q bedeuten denselben Begriff einen vernnftigen Sinn gegeben htte. Um diesen Schritt von den Prdikatoren zu den Begriffen methodisch einsichtig darzustellen, ist es zweckmßig, sich zunchst zu vergegenwrtigen, daß die Einfhrung von ,Begriff weder aufgrund einer exemplarischen Einfhrung (es gibt keine Beispiele fr Begriffe wie es Beispiele fr Tische und Sthle gibt) noch aufgrund einer expliziten Definition (der Art etwa wie ,Junggeselle durch ,unverheirateter Mann definiert wird) erfolgen kann. Eine ,direkte Bestimmung von ,Begriff ist also nicht mçglich. Wenn sich infolgedessen auch die Frage ,was ist ein Begriff ? an dieser Stelle nicht als sinnvoll erweist, eben weil hier exemplarische Bestimmungen oder explizite Definitionen nicht in Frage kommen, wird es damit am besten sein, wenn man erst einmal Aussagen ber Begriffe betrachtet. Aussagen ber Prdikatoren stehen dabei schon zur Verfgung; man weiß also z. B., wann zwei Prdikatoren gleichwertig genannt werden kçnnen. Und auf genau diese Aussagen, Aussagen, in denen sich ein Prdikator P durch einen terminologisch gleichwertigen Prdikator Q ersetzen lßt, ohne daß sich damit an Wahrheit oder Falschheit dieser Aussagen etwas ndert, kommt es nun an. Man kann diese Aussagen invariante Aussagen nennen, invariant nmlich bezglich der Ersetzung eines Prdikators durch einen terminologisch gleichwertigen anderen, und diese Aussagen von den nicht-invarianten Aussagen unterscheiden, in denen eine solche Ersetzung ohne nderung ihrer Wahrheit bzw. Falschheit nicht mçglich ist. Betrachtet man etwa die folgenden beiden Aussagen ,rot hat drei Buchstaben ,rot ist nicht grn und ersetzt den Prdikator ,rot durch einen terminologisch gleichwertigen Prdikator ,rouge, so stellt sich heraus, daß die erste Aussage falsch wird, whrend die zweite Aussage wahr bleibt, womit es sich also nur im Falle der zweiten Aussage um eine invariante Aussage (invariant gegenber der Ersetzung von ,rot durch ,rouge) handelt. Invariante Aussagen ber Prdikatoren sollen nun Aussagen ber Begriffe genannt werden, oder anders: Begriffe sollen durch Invarianzforderungen an Aussagen ber Prdikatoren bestimmt werden. Das heißt: Im Sinne dieses Vorschlags ist jede invariante Aussage A ber einen Prdikator P als eine Aussage ber den Begriff P aufzufassen, wobei die Verwendung des Wortes ,Begriff dann jedesmal deutlich macht, daß man

11.2 Konstruktion der Begriffe

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sich auf invariante Aussagen beschrnken will. Wenn man also, um das letzte Beispiel noch einmal aufzugreifen, Aussagen ber ,rot in der Weise bildet, daß diese Aussagen wahr bleiben, wenn man ,rot durch ,rouge ersetzt, dann spricht man nicht allein ber den Prdikator ,rot, sondern auch ber den Begriff ,rot; die Redeweise von Begriffen ist nichts anderes als eine bestimmte Weise, ber Prdikatoren zu reden. Der entscheidende Punkt ist also, daß Begriffe nicht mehr als eine dritte Sorte von Gegenstnden neben Dingen oder Wçrtern aufgefaßt werden mssen derart, daß man etwa sagen kçnnte ,dies ist ein Baum, ,dies ist ein Prdikator und ,dies ist ein Begriff, sondern daß Begriffe, wie gezeigt werden sollte, immer nur von Prdikatoren dargestellt werden. Sie gehen durch Konstruktion aus Prdikatoren hervor, wobei man diese Konstruktion ber den Prdikatoren, in bereinstimmung mit der Tradition, als Abstraktion bezeichnen kann. Abstrahiert wird hier von allen nicht-invarianten Aussagen ber terminologisch gleichwertige Prdikatoren, oder kurz: Abstraktion ist Restriktion auf invariante Aussagen. Geht man von dieser Begriffstheorie, die eine Abstraktionstheorie ist, aus und wendet sich noch einmal der Begriffstheorie Kants zu, indem man diese zugleich ein wenig genauer betrachtet, als dies bisher geschah, so erscheinen die drei logischen Operationen, die hier zu den Begriffen fhren sollen, nmlich Komparation, Reflexion und Abstraktion, in einem ganz neuen Licht. Wenn Kant sein Beispiel mit „ich sehe z. B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde“ beginnt und im Folgenden von ihren Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten spricht, so sah dies bisher so aus, als ob in Wahrheit nicht logische, sondern psychologische Operationen schließlich zu den Begriffen fhren sollten. Es sah insbesondere so aus, als ob es sich bei den in verschiedene und gemeinsame eingeteilten Merkmalen jedesmal um etwas ,Wirkliches oder ,Psychisches, also nicht etwa um die den Gegenstnden zukommenden Prdikatoren handelte. Genau diese Einsicht aber, daß von Merkmalen zu sprechen nur Sinn hat, wenn man dabei an Prdikatoren denkt, lßt sich auch in der Logikvorlesung Kants nachweisen. Kant unterscheidet hier einmal zwischen einer logischen und einer sthetischen Deutlichkeit in der Weise, daß erstere eine „Klarheit durch Begriffe“, letztere eine „Klarheit durch Anschauung“ sei, wobei die „Klarheit durch Anschauung“ in einer „bloßen Klarheit durch Beispiele in concreto“ beruhe.15 Das heißt aber nichts anderes, als daß der logischen Deutlichkeit terminologische Bestimmungen und der sthetischen Deutlichkeit exemplarische Bestimmungen dienen. Und in diesem 15 Logik, Einleitung VIII, Akad.-Ausg. IX, 62 (Werke III, 489 f.).

232

11. Spontaneitt der Vernunft

Zusammenhang fllt nun auch die erhellende Bemerkung, Beispiele, nmlich jene „Beispiele in concreto“, seien „berhaupt keine Merkmale und gehçren nicht als Teile zum Begriffe, sondern als Anschauungen nur zum Gebrauche des Begriffs“16. Merkmale hingegen gehçren zum Begriff, sie sind ,Teilbegriffe, wie sich Kant ausdrckt17, und also nichts anderes als Prdikatoren (selbstverstndlich einschließlich ihrer Ersetzbarkeit durch terminologisch gleichwertige – auf ihre Lautgestalt kommt es nicht an), und diese Prdikatoren werden ihrerseits in ihrer Verwendung an Beispielen eingebt. Folglich drften nun aber auch, in diesem Sinne, ,Beispiele in concreto gemeint sein, wenn es heißt „ich sehe z. B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde“. Werden dagegen dann im Rahmen der Komparation Verschiedenheiten festgestellt, und das heißt eben: Merkmale voneinander unterschieden, so ist man bereits bei Prdikatoren angelangt. Die Feststellung von Verschiedenheiten erfolgte demnach recht verstanden in einer terminologischen Fixierung von Prdikatoren, etwa der Art: Fichten Linden Linden Weiden usw.

) nadeltragend ) blttertragend ) rundblttrig ) langblttrig

An diesen Beispielen, in denen ,Fichte, ,Linde und ,Weide als Prdikatoren behandelt werden, ist dabei wichtig, daß es sich bei ,nadeltragend bzw. ,blttertragend und ,rundblttrig bzw. ,langblttrig jeweils um Paare kontrrer Prdikatoren handelt, um Prdikatoren also, die nicht beide zugleich Gegenstnden zukommen sollen. Lßt sich aber die Komparation in dieser Weise verstehen, macht natrlich auch das Verstndnis der Reflexion keine Schwierigkeiten mehr. Hier handelt es sich dann um die terminologische Fixierung gemeinsam zukommender Prdikatoren, etwa der Art: 16 Ebd. 17 Z.B. Logik, Einleitung VIII, Akad.-Ausg. IX, 59 (Werke III, 486). Dem entspricht, wenn es an anderer Stelle heißt, daß man Merkmale „erst durch die Synthesis“, gemeint ist die reine Synthesis, erhlt (Logik, Einleitung VIII, Akad.-Ausg. IX, 63 [Werke III, 491]), womit sie gerade nicht der „Rezeptivitt der Sinnlichkeit“, sondern der „Spontaneitt des Verstandes“ zugeordnet sind (Fortschritte der Metaphysik, Akad.-Ausg. XX, 276 [Werke III, 608]; vgl. Kritik der reinen Vernunft B 130).

11.2 Konstruktion der Begriffe

Fichten Linden Weiden Fichten Linden usw.

233

) stmmehabend ) stmmehabend ) stmmehabend ) wurzelnhabend ) wurzelnhabend

In der Abstraktion schließlich als der letzten der nun ersichtlich logischen Operationen geht es dann um die Beschrnkung auf die gemeinsam zukommenden Prdikatoren, was dem Wortlaut nach darauf hinausluft, daß die Konjunktion dieser gemeinsam zukommenden Prdikatoren terminologisch als ,Baum definiert wird. Fr ,Baum lßt sich im Sinne dieses Interpretationsvorschlages etwa auch ,tree einsetzen, bereinstimmen muß nur die Liste der in der Reflexion gewonnenen Prdikatoren. Auf deren lautgestaltliche Form aber kommt es dann eben auch nicht mehr an, sie sind ebenso wie ,Baum durch terminologisch gleichwertige Prdikatoren ersetzbar. Mit anderen Worten: Es handelt sich bei den zukommenden Gemeinsamkeiten ebenfalls um Begriffe, um ,Teilbegriffe, wie Kant sie ja ausdrcklich nennt, oder eben auch um Merkmale. Verstndlich wird damit aber endgltig, wenn es in der Logikvorlesung heißt: „Die Aggregation koordinierter Merkmale macht die Totalitt des Begriffs aus.“18 Der Begriffstheorie Kants lßt sich also durchaus ein vernnftiger Sinn abgewinnen, wobei hier nicht mehr behauptet werden soll, als daß der gemachte Vorschlag wohl die eigentlichen, von einer psychologistischen Ausdrucksweise nur verdeckten Intentionen Kants zu treffen vermag.19 18 Ebd. 19 Es muß hier offenbleiben, ob sich auch Bemerkungen Kants ber Begriffe, die nicht mehr unmittelbar deren ,logischen Ursprung betreffen, mit diesem Vorschlag in Einklang bringen lassen. So hat etwa J. Vuillemin darauf hingewiesen, daß die Analyse des logischen Ursprungs der Begriffe der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe genau entspreche, die drei logischen Operationen auf die Funktionen der reinen Synthesis zurckgefhrt wrden und schließlich die „analytische Einheit notwendigerweise als ihr Prinzip die synthetische Einheit des transzendentalen Bewußtseins“ erfordere, „der man also die gesamte Logik unterordnen muß“ (Reflexionen ber Kants Logik, Kant-Studien 52 [1960/61], 313). Sicher wird man als Kant-Interpret derartige berlegungen anstellen mssen (vgl. Anm. 17), es wre aber ein Irrtum, zu glauben, daß sich damit ein Vorschlag fr eine Begriffstheorie, wie er hier anhand der „Logik“ gemacht wurde, ersetzen ließe. Wenn die Vermutung zutrifft, daß Kant mit seiner Behandlung des ,logischen Ursprungs der Begriffe die dargestellte Begriffstheorie zumindest intendiert hat, sind jene Fundierungsbemhungen mit Hilfe

234

11. Spontaneitt der Vernunft

Auf jeden Fall wird man sagen drfen, daß Kants Begriffstheorie erst in dieser Form der ihr zugedachten Rolle, nmlich ein charakteristisches Beispiel fr die spontane Handlungsform der Vernunft zu sein, wirklich entspricht. Es ist dabei ganz unnçtig, fragen zu wollen, ob nicht auch eine Folge von Vorstellungsakten, nun in einem psychologischen Sinne verstanden, schließlich zu der Annahme spontaner Handlungen berechtigen wrde. Denn auf die hier gestellte systematische Frage, was wir eigentlich tun, wenn wir von Begriffen sprechen, gibt es nur die eine Antwort: Wir stellen uns nichts vor, sondern wir fhren logische Handlungen aus, indem wir mit Hilfe von Prdikatoren und Regeln, ohne auf etwas Außersprachliches wie eben Vorstellungen angewiesen zu sein, unsere Begriffe konstruieren. Dabei kann auch davon abgesehen werden, wie die Prdikatoren selbst im einzelnen exemplarisch bestimmt sind, d. h., welche Beispiele und Gegenbeispiele in concreto, um mit Kant zu reden, fr ihre Verwendung als maßgebend betrachtet werden. Das weiß auch Kant, oder die folgende Bemerkung lßt sich doch jedenfalls so verstehen: „Die allgemeine Logik hat (…) nicht die Quelle der Begriffe zu untersuchen; nicht wie Begriffe als Vorstellungen entspringen, sondern lediglich, wie gegebene Vorstellungen im Denken zu Begriffen werden.“20 Sieht man hier wieder von der mißverstndlichen Verwendung des Wortes ,Vorstellung ab, so heißt das doch, daß die Logik, in diesem Falle eine Begriffstheorie, nicht dafr verantwortlich ist, welche Unterscheidungen ,in der Wirklichkeit getroffen werden sollen, sondern nur dafr, wie unter Voraussetzung dieser schon getroffenen Unterscheidungen, und d. h. der exemplarischen Bestimmungen, Begriffe abstrahiert werden kçnnen. Im ganzen gesehen handelt es sich hier also um eine rein theoretische Veranstaltung, es ,gibt weder die Begriffe in einem naiven ontologischen Sinne, noch ist man gezwungen, sie zu konstruieren. Ihre tatschliche Konstruktion aber trgt, in einem anspruchsvollen Sinne, ber die durch die Abstraktion aus den Prdikatorensystemen hervorgegangenen Begriffssysteme dazu bei, nichts anderes als Wissenschaft mçglich zu machen. Das Theoretisieren ber die Mçglichkeit von Wissenschaft hat denn auch von Anfang an, und d. h. seit der griechischen Reflexion ber Wissenschaft, eines ,transzendentalen Bewußtseins, sofern sie diese Begriffstheorie selbst betreffen sollen, sogar berflssig. Sie fhren dagegen mitten hinein in all die Schwierigkeiten, die Kants Beitrag zur Logik, hier im weitesten Sinne verstanden, gerade in neuerer Zeit immer wieder als recht zweifelhaft erscheinen lassen. 20 Logik § 5 Anm. 1, Akad.-Ausg. IX, 94 (Werke III, 524).

11.3 Autonomie der Vernunft

235

die Frage, wie man auf eine gesicherte Weise zu Begriffen kommt, immer wieder in den Vordergrund gestellt und von ihrer Beantwortung das Verstndnis von Wissenschaft abhngig gemacht. Und dies gilt historisch gesehen sowohl fr rationalistische als auch fr empiristische Standpunkte; Begriffstheorien sind also keineswegs nur eine ,Erfindung der Rationalisten – was das gemeinsame psychologische Vokabular anbelangt, unterscheiden sich Rationalisten und Empiristen bis hin zu Kant nicht einmal allzusehr voneinander. Bei Kant selbst ist im brigen der Zusammenhang von Begriffstheorie und Wissenschaftstheorie evident. Die Frage nmlich ,wie ist Erfahrung mçglich?21, die ihrerseits berhaupt nur verstndlich ist, wenn man sie als die Frage auffaßt ,wie ist es mçglich, daß die Stze der klassischen Mechanik, also Stze ber unsere Welt, gelten?, diese Frage soll ja gerade ber eine Klrung der Frage ,wie sind Begriffe mçglich? und die anschließende Auszeichnung einer bestimmten Sorte von Begriffen, der so genannten Kategorien, beantwortet werden. „Der Verstand“, so heißt es, ohne daß hier weiter auf diese Wendung eingegangen werden soll, ist „durch diese Begriffe (eben die Kategorien, Verf.) selbst Urheber der Erfahrung.“22

11.3 Autonomie der Vernunft Der enge Zusammenhang von begrifflichem und wissenschaftlichem Sprechen aber erlaubt es nun, zum Schluß noch ein wenig deutlicher zu sagen, was wir eigentlich meinen, wenn wir so pointiert wie Kant von der Spontaneitt der Vernunft reden. Beispiele wissenschaftlichen Sprechens sind natrlich in erster Linie die traditionellen Wissenschaften selbst, ganz gleich ob es sich dabei um die Naturwissenschaften oder um die Geisteswissenschaften handelt. Dieser Unterschied spielt keine Rolle, solange man unter Wissenschaft jeweils nur eine Reihe von Stzen verstehen will, die untereinander in bestimmter geordneter Weise voneinander logisch abhngig sind, sich also im wesentlichen auf die theoretischen Teile einer 21 Fortschritte der Metaphysik, Akad.-Ausg. XX, 275 (Werke III, 607). 22 Kritik der reinen Vernunft B 127; in B 163 drckt dies Kant so aus: „Kategorien sind Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur (…) Gesetze a priori vorschreiben“, wozu Scholz wiederum mit Recht bemerkt, daß folglich „eine Diskussion der Kategorien ersetzt werden kann durch eine Diskussion der durch sie definierten Gesetze“ (a.a.O., 181). Gemeint sind Kants „Grundstze des reinen Verstandes“.

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11. Spontaneitt der Vernunft

Wissenschaft beschrnkt. Die Bereitstellung derartiger Teile betrachtet man zurecht als eine autonome Leistung der Vernunft, was insbesondere schon darin zum Ausdruck kommt, daß auch die Mittel, die hierbei verwendet werden – also Logik, aber im Falle der Mathematik etwa auch gewisse symbolische Konstruktionen –, selbst nur auf eine autonome Weise gewonnen werden kçnnen. Auf eine autonome Weise, das soll heißen: Es wird hierbei ausschließlich auf die Fhigkeit des Menschen zurckgegriffen, bestimmte Handlungen um bestimmter selbstgesetzter Ziele willen ausfhren zu kçnnen, also keinerlei Gebrauch gemacht von etwas, das nicht selbst schon zu unserem Handeln gehçrte. Anders ausgedrckt: Die Bedingung der Mçglichkeit aller Handlungen, die vorgenommen werden, um Wissenschaft zu begrnden, sind wiederum nichts anderes als selbstndige menschliche Handlungen. Wenn aber die theoretischen Teile einer Wissenschaft als Ausdruck einer autonomen Leistung der Vernunft und damit selbst als ,autonom bezeichnet werden kçnnen, insofern sie ausschließlich in selbstndigen Handlungen des Menschen grnden, so steht jetzt nichts mehr im Wege, unter Spontaneitt bzw. spontanen Handlungen gerade diese, die Autonomie zur Darstellung bringenden selbstndigen Handlungen zu verstehen. ,Autonom sind in diesem Sinne Stze, Regeln oder die Theorien selbst, sofern sie spontanen Handlungen, das soll heißen: der Spontaneitt der Vernunft entspringen, und ,spontan jene (Einzel-)Handlungen, in denen sich die Autonomie der Vernunft ausdrckt. Zweifellos kommt deshalb aber auch in jenen Handlungen, die – wie dargestellt – zu den Begriffen fhren, die Autonomie der Vernunft zum Ausdruck: Die Begriffe hatten sich als das Ergebnis sprachlicher Handlungen erwiesen, die man an Prdikatoren vornimmt, wobei diese Prdikatoren ihrerseits durch sprachliche Handlungen, nmlich durch exemplarische Bestimmungen, gewonnen sind. Hinter diese sprachlichen Handlungen wird dabei an keiner Stelle zurckgegriffen, es sind, im vorgeschlagenen Sinne, spontane Handlungen. Die Begriffstheorie, wie sie hier unter Hinzuziehung einiger Bemerkungen Kants kurz skizziert wurde, hat sich damit als ein geeignetes Beispiel zur Verdeutlichung der Redeweise von der Spontaneitt der Vernunft herausgestellt. Sicher lassen sich in diesem Zusammenhang auch noch andere, nicht weniger deutliche Beispiele anfhren – man braucht etwa nur an die Konzeption von Ideen im Sinne Kants zu erinnern23 –, doch 23 Vgl. z. B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt, Akad.-Ausg. IV, 452 (Werke IV, 88).

11.3 Autonomie der Vernunft

237

muß das eine Beispiel hier gengen. Als ein kleiner Beitrag zu einer umfassenderen exemplarischen Bestimmung von Spontaneitt drfte es immerhin gezeigt haben, daß sich die eigentmliche Selbstndigkeit des Menschen, von der zu Beginn die Rede war, in der Spontaneitt der Vernunft auf eine angemessene Weise darstellen und einsichtig machen lßt.

12. Dialektik der Aufklrung Aufklrung bedeutet, sich im Denken und durch das Denken orientieren. Ihre Realisierung findet diese Orientierung im Kontext von Handlungsautonomie und moralischer Autonomie, ihre Fhigkeit, in Entwicklungen zu denken, in einer Genealogie der Vernunft, in der auch der dialektische Zusammenhang von Konstruktion und Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Gegen die Relativierung des Vernunftbegriffs in einer mißverstandenen Dialektik der Aufklrung steht bei Kant die Aufklrung der Dialektik.

12.1 Ambivalenzen Wer auf dem Hintergrund der europischen Geistesgeschichte an Aufklrung denkt, hat auch Kant im Blick. Kants Philosophie ist nach Hegel „theoretisch die methodisch gemachte Aufklrung“1. Wer auf dem gleichen Hintergrund an Dialektik denkt, hat auch im Blick, was in Hegels Denken, einem nach Selbstausweis dialektischen Denken, und in der Geschichte der Hegelschen Dialektik als das Andere der Aufklrung erkennbar wird, nmlich Gegenaufklrung. Nicht in dem Sinne, daß etwa Hegels Denken selbst dieses Andere der Aufklrung wre oder daß Positionen (zumal in der Philosophiegeschichte) ihre Gegenpositionen erzeugen, Widerspruch ein altes philosophisches Element der Wirklichkeit ist, sondern so, daß Aufklrung selbst zur Gegenaufklrung wird, wenn sie, um an Durchsetzungskraft zu gewinnen, sich und die Wirklichkeit ,einfach macht. Das wirkungsvollste Votum in dieser Richtung stammt bekanntlich von Adorno und Horkheimer, die den Menschen unter dem Regiment einer sich selbst berlassenen Aufklrung als das eben durch Aufklrung beherrschte Wesen sehen. In einer Aufklrung, die sich in der modernen Welt, d. h. in der modernen Industriegesellschaft, ihre geschichtlich schließlich dominante Form gibt, schrumpft der Mensch „zum Knoten1

G. W. F. Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, in: ders., Smtliche Werke (Jubilumsausgabe), I–XXVI, ed. H. Glockner, Stuttgart 1927 – 1940, XIX, 554.

12.1 Ambivalenzen

239

punkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden. Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen“2. Oder wiederum strker erkenntnistheoretisch gesprochen: Adorno und Horkheimer deuten „die erkenntnistheoretische Trias von Subjekt, Objekt und Begriff als ein Unterdrckungs- und berwltigungsverhltnis, wobei die unterdrckende Instanz – das Subjekt – zugleich zum berwltigten Opfer wird“3. Objektivationen der Aufklrung werden zu Manifestationen der Gegenaufklrung. So zu reden, macht allerdings nur Sinn, wenn man dem Begriff der Aufklrung einen Begriff der Vernunft unterlegt, der diesen mit dem Begriff der Zweckrationalitt verwechselbar macht. Die Welt, gemeint ist die moderne Welt, als Produkt einer sich gegenber dem Menschen verselbstndigenden Aufklrung zu sehen, bedeutet, ihre Zweckrationalitten von vornherein mit Aufklrung zu identifizieren. Das aber ist schwerlich der ursprngliche Sinn von Aufklrung, wie er in Kants Bestimmungen zum Ausdruck kommt. Diese richten sich auf die Autonomie des Subjekts, des erkenntnistheoretischen wie des gesellschaftlichen Subjekts, nicht auf die Autonomie von Verhltnissen, unter die auch ein autonomes Subjekt – gerade in aufgeklrten Verhltnissen, wie Adorno und Horkheimer sagen wrden – gert. Daß Aufklrung Aufklrung verhindern kann, ist in der Tat ein Element des Werdens der modernen Welt, aber dies eben nur dort, wo Aufklrung ihre Tendenz zur Selbstentfaltung in Zweckrationalitten, Optimierungsstrategien und Methodologien ungehemmt zur Geltung bringen konnte. Whrend ursprnglich, nmlich bei Kant, die Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand ein Resultat sich konkretisierender Aufklrung war, ist es spter gerade die Identifikation von Vernunft und Verstand bzw. der von ihm hervorgebrachten Rationalitten, die den Begriff der Aufklrung in philosophischen Analysen wie der von Adorno und Horkheimer zu verdstern beginnt. In der modernen Welt ist das „Korrelat des einheitlichen Selbst (…) eine objektivierende und systembildende (,totalisierende) Vernunft, die somit als Medium von Herrschaft gedacht ist: einer Herrschaft ber die außermenschliche, die gesellschaftliche und

2 3

Th. W. Adorno/M. Horkheimer, Dialektik der Aufklrung, Amsterdam 1947, 41. A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt 1985, 72.

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12. Dialektik der Aufklrung

die innermenschliche Natur“4. Eben dies aber ist nicht der ursprngliche Vernunftbegriff, der bei Kant ein Aufklrungsprogramm definiert. Daß Aufklrung in Gegenaufklrung umschlagen kann – wobei Gegenaufklrung hier die Etablierung unaufgeklrter Verhltnisse im Namen einer sich selbst berlassenen Aufklrung bedeutet –, gehçrt (gegen die Analysen Adornos und Horkheimers) nicht zum Wesen der Aufklrung, sondern zum Wesen einer Welt, die ber der Identifikation von Vernunft und Verstand und deren Objektivationen ihre aufgeklrten Subjekte verliert.

12.2 Sich im und durch das Denken orientieren Kants Bestimmung der Aufklrung, die von dieser Ambivalenz des Begriffs der Aufklrung noch nicht berhrt wird, ist in einer berhmten Definition zusammengefaßt: „Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermçgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“5 Diese Bestimmung richtet sich an das einzelne Subjekt und fordert es auf, sich im Denken und durch das Denken zu orientieren. Sie besagt, noch einmal mit anderen Worten, „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“6. Sie wendet sich insofern gegen die Berufung auf fremde Autoritten, die nicht durch Vernunft bzw. ,allgemeine Grundstze des Vernunftgebrauchs legitimiert sind, aber auch gegen eine Berufung auf eigene Autoritt, fr die das gleiche gilt. Autonomie im Sinne einer vernnftigen Selbstndigkeit realisiert nach Kant nur ein Denken, das sich weder auf fremde noch auf eigene Autoritt beruft, das das fremde Denken nicht an die Stelle des eigenen Denkens setzt, aber sich auch nicht selbst an die Stelle des anderen setzt, sondern mit 4 5 6

A. Wellmer, a.a.O., 73. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung? (1784), Akad.-Ausg. VIII, 35 (Werke VI, 53). I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), Akad.-Ausg. VIII, 146 f. Anm. (Werke III, 283).

12.3 Metaphysik als Naturanlage

241

diesem gemeinsam die Vernunftstelle zu finden sucht.7 Dies ist nach Kant die eigentliche Aufgabe eines ,aufgeklrten Zeitalters, wobei allerdings die Vermittlung subjektiver vernnftiger Selbstndigkeit mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch unreflektiert bleibt (fr Kant schien diese Vermittlung im aufgeklrten Absolutismus bereits teilweise realisiert).

12.3 Metaphysik als Naturanlage Daß Kant allerdings weder die Schwierigkeiten einer Durchsetzung ,allgemeiner Gesetze des Vernunftgebrauchs noch die Ambivalenz des Vernunft- und Aufklrungsbegriffs bersehen oder unterschtzt hat, kommt z. B. dort zum Ausdruck, wo der Vernunftgebrauch unmittelbar zur Diskussion steht, nmlich als philosophiegenerierendes Vermçgen. Kant fragt, ob Metaphysik als ,Naturanlage mçglich sei8, und meint damit Fragen, die die ,reine Vernunft aufwirft und die eben diese Vernunft „so gut als sie kann, zu beantworten durch ihr eigenes Bedrfnis getrieben wird“9. Das Entscheidende ist hier eine auffallende Unselbstndigkeit der Vernunft. Zu Beginn der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ schreibt Kant: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belstigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie bersteigen alles Vermçgen der menschlichen Vernunft. In diese Verlegenheit gert sie ohne ihre Schuld.“10 Kant konstatiert hier ein metaphysisches Bedrfnis oder Interesse der Vernunft, das diese (zumindest in philosophischen Zusammenhngen) lenkt und bindet, wo es doch eigentlich um die Befreiung der Vernunft von ihren historischen und systematischen Verwicklungen mit der Unvernunft geht. Der historische Charakter der Vernunft wird unter dem Titel ,Me7 Vgl. J. Mittelstraß, Versuch ber den Sokratischen Dialog, in: ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden ber philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universitt, Frankfurt 1982, 148 ff. (hier als Wesen des Sokratischen Dialogs bezeichnet). 8 Kritik der reinen Vernunft B 22. 9 Ebd.. Zum Folgenden vgl. die ausfhrlicheren Analysen in: J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 528 ff.. 10 Kritik der reinen Vernunft A VII.

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12. Dialektik der Aufklrung

taphysik aufgedeckt, aber zugleich zu ihrem systematischen Charakter gemacht. Dem Menschen ginge es, wenn Kant recht hat, hinsichtlich seines Vernunftgebrauchs wie den Hasen, die wie alle anderen Tiere – so Leibniz in ebenfalls erkenntnistheoretischem Zusammenhang11 – den Menschen so leicht ins Netz gehen, weil sie ihre mißlichen Erfahrungen mit dem Menschen in Form begrndeter Beurteilungen nicht weiterzugeben vermçgen. Wie die Hasen ihre Fehler Generation fr Generation wiederholen, so auch der Mensch als vernnftiges Wesen. Prognose in unbersichtlichen Verhltnissen oder Einsicht in die Natur des Menschen? Wie es scheint, hat Kant den ambivalenten Charakter der Vernunft, hier in metaphysischen Dingen, erkannt, zugleich aber aus einem historischen Befund eine ,Naturanlage gemacht. Wo Metaphysik nicht nur ein Mißverstndnis der Vernunft ,mit sich selbst, sondern ,Natur der allgemeinen Menschenvernunft12 ist, wird Aufklrung – oder ihr Ausbleiben – selbst zur Natur. Das ist, so allgemein formuliert, gewiß nicht Kants letztes Wort, auch wenn seine Position in diesem Falle bemerkenswert unentschieden bleibt. Klar ist in jeder Hinsicht die prognostische und die therapeutische Seite: „irgend eine Metaphysik ist immer in der Welt gewesen, und wird auch wohl ferner, mit ihr aber auch eine Dialektik der reinen Vernunft, weil sie ihr natrlich ist, darin anzutreffen sein. Es ist also die erste und wichtigste Angelegenheit der Philosophie, einmal fr allemal ihr dadurch, daß man die Quelle der Irrtmer verstopft, allen nachteiligen Einfluß zu nehmen.“13 Kant arrangiert sein Programm der Aufklrung zwischen Natur und Kritik. Zugleich fllt ein weiteres wichtiges Stichwort: Dialektik. Es ist die Dialektik der (reinen) Vernunft, die diese – nur scheinbar paradox – mit der Eigenschaft, natrlich zu sein, verbindet. Die Vernunft, so Kant, ist ihrer Natur nach dialektisch; zugleich ist Dialektik als transzendentale Dialektik Kritik dieser ,natrlichen Dialektik, Kritik des ,dialektischen Scheins. Dialektik „heißt transzendentale Dialektik, nicht als eine Kunst, dergleichen Schein dogmatisch zu erregen (eine leider sehr gangbare Kunst mannigfaltiger metaphysischer Gaukelwerke), sondern als eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzu-

11 G. W. F. Leibniz, Nouveaux essais sur lentendement humain, Prface, Akad.Ausg. VI/6, 50 f.. 12 Kritik der reinen Vernunft B 22. 13 Kritik der reinen Vernunft B XXXI.

12.4 Geteilte Aufklrung

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decken“14. Dialektik also als Krankheit (in der ,Natur der allgemeinen Menschenvernunft beschlossen), die zu ihrer eigenen Medizin (in Form einer transzendentalen Dialektik) wird. Vernunft und Unvernunft, Aufklrung und Gegenaufklrung liegen in metaphysischen Dingen eng beieinander.

12.4 Geteilte Aufklrung Nicht nur in metaphysischen Dingen. Im Septemberheft 1784 der „Berlinischen Monatsschrift“ hatte Moses Mendelssohn zwischen einer ,Bestimmung des Menschen als Mensch, die Aufklrung erforderlich mache, und einer ,Bestimmung des Menschen als Brger, die Aufklrung nur bedingt zulasse, unterschieden.15 Kant trifft zwei Monate spter an gleicher Stelle, ohne den Beitrag Mendelssohns zu kennen, die gleiche Unterscheidung, nmlich die zwischen einem ,çffentlichen und einem ,privaten Vernunftgebrauch. Aufklrung bedeutet hier die Freiheit, „von seiner Vernunft in allen Stcken çffentlichen Gebrauch zu machen“16 ; gemeint ist der Gebrauch, „den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“17. Dieser Gebrauch muß uneingeschrnkt gewhrleistet sein. Nicht dagegen der ,private Gebrauch der Vernunft, d. h. (abweichend vom heutigen Sprachgebrauch) der Vernunftgebrauch in einem „brgerlichen Posten oder Amte“. Hier ist es nach Kant „nicht erlaubt, zu rsonnieren“18. Mit anderen Worten: das Gebot der çffentlichen Ordnung, das Kant durch einen allzu freien ,Privatgebrauch der Vernunft gefhrdet sah, verschließt der Aufklrung den Mund. Diese spricht (im çffentlichen Gebrauch) nur in Form ,gelehrter Anmerkungen19. Kants Unterscheidung steht quer zu einer Bestimmung der Aufklrung, die sich gegen jede Form der ,Gngelung der Vernunft richtet; zumindest bedeutet sie – gegenber der optimistischen Aufforderung an den Leser am Ende der „Kritik der reinen Vernunft“, den ,kritischen Weg zur 14 Kritik der reinen Vernunft B 88. 15 M. Mendelssohn, ber die Frage: was heißt aufklren?, Berlinische Monatsschrift, September 1784, 196 f.. 16 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, Akad.-Ausg. VIII, 36 (Werke VI, 55). 17 A.a.O., 37 (Werke VI, 55). 18 Ebd. 19 Ebd.

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12. Dialektik der Aufklrung

,Heerstraße zu machen20 – eine erheblich langsamere Gangart. Zugleich konsolidiert diese Unterscheidung eine Situation, die Kant zu Recht beschreibt, wenn er sagt, daß man wohl in einem ,Zeitalter der Aufklrung, nicht aber schon in einem ,aufgeklrten Zeitalter lebe.21 Realistisch ist natrlich in diesem Zusammenhang ferner die Feststellung, daß Aufklrung „zwar in thesi leicht, in hypothesi aber eine schwere und langsam auszufhrende Sache“ sei22. Nur geht es hier eben nicht so sehr um eine realistische Prognose, sondern um ein aufklrerisches Programm, das seine Dynamik zu verlieren droht, wenn mit einer geteilten Aufklrung, einer ,privaten und einer ,çffentlichen, gearbeitet wird. Gegenaufklrung vermag sich in diesem Falle auf Aufklrung selbst zu berufen. Diese schafft die Unterscheidungen, die jene nur zu leicht (und nur zu gern) besetzt. Nun soll es hier nicht so sehr auf Kants politische Philosophie bzw. auf die Konsequenzen ankommen, die Kants Bestimmung von Aufklrung fr eine politische Philosophie hat, ferner nicht auf die zuvor beschriebenen Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage, ob Metaphysik – und damit die bliche Gemengelage von philosophischer Vernunft und Unvernunft – eine Naturanlage sei, sondern auf die Bindung des Begriffs der Aufklrung an den Begriff der Freiheit des vernnftigen Subjekts sowie auf den Versuch, in einer Genealogie der Vernunft Aufklrung als das eigentliche Wesen der Vernunft und der Natur des Menschen aufzuweisen. Hier wie dort liegt fr die systematische Explikation des Begriffs der Aufklrung die eigentliche, philosophisch zentrale Leistung Kants.

12.5 Handlungsautonomie „Aufklrung ist die radikal gewordene, mythische Angst“ – so lautet eine weitere Formel in Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklrung“.23 Ist sie das wirklich? Ist die ,Entzauberung der Welt24, die nach dieser Vorstellung selbst von mythischen ngsten getrieben wird, wirklich ein Programm, das nur Vertrauen durch Herrschaft, Mythen durch Technik – wie Horkheimer und Adorno glauben machen wollen – ersetzt? Kant war 20 Kritik der reinen Vernunft B 884. 21 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, Akad.-Ausg. VIII, 40 (Werke VI, 59). 22 Kritik der Urteilskraft B 158. 23 A.a.O., 27. 24 A.a.O., 13.

12.5 Handlungsautonomie

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anderer Meinung. Er hebt den Begriff der Freiheit des vernnftigen Subjekts nicht von einem mythischen, sondern von einem bereits durch Philosophie und Wissenschaft gebildeten Hintergrund ab. Aufklrung, Vernunft, Freiheit – das sind nach Kant Kategorien, die sich bereits auf eine rationale Geschichte bzw. deren Spuren in der tatschlichen Geschichte beziehen. Der Ort entsprechender Analysen Kants ist wiederum ein erkenntnistheoretischer: die so genannte Freiheitsantinomie. Kant unterscheidet hier zwischen einem autonomistischen und einem deterministischen Verstndnis von Freiheit. Das autonomistische Verstndnis ist in der ,Thesis formuliert: „Die Kausalitt nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden kçnnen. Es ist noch eine Kausalitt durch Freiheit zu Erklrung derselben anzunehmen notwendig.“25 Die deterministische ,Antithesis lautet: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“26 Begrndet wird die Thesis durch Hinweis auf ein zuerst von Aristoteles formuliertes Endlichkeitsprinzip fr Begrndungen, das einen unendlichen Regreß in Begrndungszusammenhngen ausschließen soll. Auf kausale Erklrungen bezogen verlangt dieses Prinzip die Angabe von Ursachen, die selbst nicht verursacht sind (,erste Ursachen). Da derartige Ursachen nicht nachgewiesen werden kçnnen, wenn man sich dabei allein auf eine ,Kausalitt nach Gesetzen der Natur beschrnkt, ist die Annahme einer anderen Kausalitt, einer ,Kausalitt durch Freiheit, unvermeidlich. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer „absolute(n) Spontaneitt der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen luft, von selbst anzufangen“27. Die Begrndung der Antithesis lokalisiert eine derartige ,Spontaneitt der Ursachen in einer Handlung. Dabei wird festgestellt, daß „ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache“ voraussetzt28. Sobald eine Handlung ,anfngt, werden mit ihr Kausalitten gesetzt. Eben das muß aber auch schon fr diesen Anfang selbst gelten, sofern der Zustand vor dem Anfang der Handlung als Ursache des mit dem Anfang gegebenen Zustandes gelten soll. Ohne die Annahme einer kausalen Verknpfung beider Zustnde ist also die Erklrung, daß der erste Zustand den zweiten verursacht, nicht mçglich, woraus folgt, daß Hand25 26 27 28

Kritik der reinen Vernunft B 472. Kritik der reinen Vernunft B 473. Kritik der reinen Vernunft B 474. Ebd.

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12. Dialektik der Aufklrung

lungen nicht als absolute Anfnge von Kausalketten gedacht werden kçnnen und, wie es die Antithesis formuliert, alles „lediglich nach Gesetzen der Natur“ geschieht. Kants Auflçsung der Freiheitsantinomie, aus der ein methodisch geschrftes Verstndnis nicht nur der Freiheit, sondern auch der Autonomie eines vernnftigen Subjekts hervorgeht, besteht in dem Nachweis, daß Thesis und Antithesis sich nur dann widersprechen, wenn (1) Freiheit als ein empirischer Begriff aufgefaßt wird, dem ein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden soll, und, damit unmittelbar zusammenhngend, (2) bersehen wird, daß sich die Thesis auf das intelligible Subjekt einer Handlung, die Antithesis auf dessen Wirkungen (in der Welt der Erscheinungen) bezieht. Um dies deutlich zu machen, unterscheidet Kant zwischen ,Freiheit im kosmologischen Verstande und ,Freiheit im praktischen Verstande. Mit ,Freiheit im kosmologischen Verstande bezeichnet er das „Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen“29, mit ,Freiheit im praktischen Verstande die „Unabhngigkeit der Willkr von der Nçtigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“30. Mit Rcksicht auf die Antithesis wird Freiheit im kosmologischen Verstande als eine ,transzendentale Idee konzipiert31, die ein nicht-naturalistisches Verstndnis von Handlungen gewhrleisten soll. Obgleich damit Handlungen nur der Idee nach und nicht empirisch frei sind, d. h. außerhalb einer ,Kausalitt nach Gesetzen der Natur stehen, ist damit der Thesis insofern genge getan, als eine ,Kausalitt durch Freiheit nicht mehr mit empirischen Argumenten bestritten werden kann. Zugleich sichert diese Interpretation die Unterstellung einer ,Freiheit im praktischen Verstande, die das „Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen“, nherhin als das Vermçgen begreifen lßt, „sich, unabhngig von der Nçtigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“32. Mit dieser Wendung gewinnen die Begriffe Freiheit und Autonomie ihren vollen praktischen und aufklrerischen Sinn. Als Idee im Sinne Kants haben Freiheit und Autonomie im Kontext mçglicher Erfahrung keine konstitutive, und daher auch keine theoretische Bedeutung, sondern eine regulative, und daher eine praktische Bedeutung. Die Grnde, die Kant fr die Annahme einer ,Freiheit im kosmologischen Verstande geltend macht, kçnnen hier im einzelnen nicht ange29 30 31 32

Kritik der reinen Vernunft B 561. Kritik der reinen Vernunft B 562. Kritik der reinen Vernunft B 561. Kritik der reinen Vernunft B 562.

12.6 Moralische Autonomie

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fhrt werden. Resultat der entsprechenden berlegungen Kants ist die Feststellung, daß das Handlungssubjekt „seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfngt“33. Dieses Resultat mag sich im einzelnen auf Argumente sttzen, die kritisierbar bleiben, entscheidend ist, daß es im Kern eine klare begriffliche Bestimmung dessen enthlt, was Kant ,Kausalitt durch Freiheit nennt. Mit dieser Bestimmung wird ein naturalistisches Mißverstndnis abgewehrt und gleichzeitig nher definiert, was unter einer ,Kausalitt nach Gesetzen der Natur zu verstehen ist. Die Antinomie darf daher als systematisch aufgelçst (und nicht dogmatisch entschieden), die begriffliche Konstituierung des Begriffs der Freiheit als abgeschlossen gelten. Sie beruht in der Charakterisierung von Handlungen als autonom. Das ,Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen, wie Kant diese Autonomieeigenschaft formuliert, betrifft die Mçglichkeit, verndernd in den natrlichen Ablauf der Dinge einzugreifen, wobei dieser Eingriff selbst nicht als Wirkung von Naturkausalitten verstanden werden kann.

12.6 Moralische Autonomie Kant bleibt in seiner Analyse des Freiheitsbegriffs nicht bei einer Feststellung von Handlungsautonomie stehen. Der bergang von ,Freiheit im kosmologischen Verstande zu ,Freiheit im praktischen Verstande trgt bereits der Absicht Rechnung, von einer Autonomie im vormoralischen Sinne, festgemacht an der Freiheit von Handlungen, zum Begriff einer moralischen Autonomie weiterzugehen. Das ,Vermçgen, einen Zustand von selbst anzufangen, wird in der „Metaphysik der Sitten“ als das „Vermçgen der reinen Vernunft, fr sich selbst praktisch zu sein“34, gedeutet – die ,negative Formulierung aus der Erçrterung der Freiheitsantinomie lautete: „Unabhngigkeit der Willkr von der Nçtigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“35. Eine ,Kausalitt durch Freiheit, wie sie Kants Analyse der Freiheitsantinomie konstituiert, schließt noch die Mçglichkeit ein, daß ergriffene Handlungen, die gegenber Naturkausalitten im dargestellten Sinne frei sind, lediglich als Mittel zu nicht selbst gesetzten Zielen auftreten und damit hinsichtlich einer Bestimmung von Handlun33 Kritik der reinen Vernunft B 569. 34 Metaphysik der Sitten AB 6. 35 Kritik der reinen Vernunft B 562.

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12. Dialektik der Aufklrung

gen durch Ziele als nicht frei zu gelten haben. In diesem Falle sind die Ziele und die sie realisierenden Handlungen heteronom bestimmt. Es ist also eine Autonomie als Verfgen ber Handlungen, mit denen man selbst in durch Naturkausalitten bestimmte Ablufe eingreift, von einer Autonomie als Verfgen ber Ziele, mit denen man das eigene Handeln selbst bestimmt, zu unterscheiden. Eben dies tut Kant, wenn er davon spricht, daß (1) der ,Wille eines vernnftigen Wesens „nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein (kann)“36, und daß (2) jedes vernnftige Wesen „in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernnftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden (muß)“37. Er zieht damit aus der Forderung nach Selbstbestimmung des Menschen (als eines vernnftigen Subjekts) sofort eine transsubjektive Konsequenz: eine solche Selbstbestimmung, die allein erst moralische Autonomie im engeren Sinne konstituiert, darf nicht die Fremdbestimmung anderer, d. h. ihre Inanspruchnahme als Mittel, zur Wirkung haben. Damit stellt die autonomistische These nicht allein ein subjektives Autonomieprinzip, sondern ein objektives Autonomieprinzip dar.38 Seine Formulierung gewinnt ein solches objektives Autonomieprinzip bekanntlich in Form des Kategorischen Imperativs, hier in der Fassung: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“39 Kants Analyse von Freiheit und Autonomie fhrt damit ber deren methodische Konstituierung im Rahmen einer Auflçsung der so genannten Freiheitsantinomie hinaus zur Formulierung eines Moralprinzips, das vorschreibt, nicht nur die eigene Autonomie, sondern auch die Autonomie der anderen in einem gemeinsamen ,Reich der Freiheit zu verwirklichen. Aufgefaßt als ein ,Postulat der reinen praktischen Vernunft40 bildet Freiheit im Aufbau der Kantischen Ethik die zentrale Voraussetzung sowohl fr die Formulierung eines solchen Prinzips als auch fr seine (unterstellte) Realisierbarkeit. Unter dem Gesichtspunkt des Moralprinzips wird daher auch „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“41. 36 37 38 39 40 41

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 101. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 64 f.. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 66. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 66 f.. Kritik der praktischen Vernunft A 238 f.. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 98.

12.7 Genealogie der Vernunft

249

Diese Formulierung macht deutlich, warum Kants Analyse der Freiheitsantinomie blicherweise unter dem Titel Willensfreiheit abgehandelt wird. Im Blick auf die traditionelle Definition von Freiheit als Wille, der Ursache seiner selbst ist, drckt ,Ursache seiner selbst sein und ,einen Zustand von selbst anfangen, bezogen auf Handlungen und in Absetzung von Naturkausalitten, dasselbe aus. Darber hinaus bedeutet, von willentlichen Handlungen zu reden, dem Begriff der Handlung nichts Neues hinzuzufgen, da Handlungen per definitionem als willentlich hervorgebrachtes Geschehen verstanden werden mssen. Die Ausdrcke ,Freiheit und ,Willensfreiheit sind damit synonym. Die Analyse Kants geht jedoch ber diese mit dem Stichwort Willensfreiheit bezeichnete partielle Problemstellung weit hinaus. Sie sichert im Sinne der Aufklrungsidee Orientierungen im Denken und durch das Denken. Sie sichert das Kçnnen dieser Orientierungen. In diesem Sinne lßt sich dann auch sagen, daß der Gang vom Begriff einer Freiheit von der Natur zum Begriff der Freiheit im moralischen und politischen Sinne, d. h. einer Freiheit von den anderen und einer Freiheit von sich selbst, ein Orientierungsganzes erfaßt, in dessen Rahmen Vernunft und Aufklrung ihre volle praktische Bedeutung gewinnen und auch die erkenntnistheoretische Trias Subjekt, Objekt und Begriff gerade keinen Unterdrckungszusammenhang (wie bei Adorno und Horkheimer), sondern einen Aufklrungszusammenhang markiert. Objektivation der somit ber den Begriff der Freiheit definierten Aufklrung ist das autonome, vernnftige Subjekt, nicht eine Welt, zu deren Autonomie es gehçrt, daß sie ihre autonomen Subjekte verliert bzw. sich diese aneignet.

12.7 Genealogie der Vernunft Blickt man auf die bisherige Darstellung zurck, so kçnnte der Eindruck entstehen, der hier entwickelten Idee der Aufklrung fehle gerade dasjenige Element, auf das sich ihre moderne Kritik richtet: ihre Geschichtlichkeit. Aufklrung, hier im Sinne des Selbstverstndnisses der historischen Aufklrung in der Diktion Kants zu Worte gebracht, erscheint wie ein zeitloser, entwicklungsloser Zustand, der entweder da ist oder nicht, der allenfalls in der Entwicklungsgeschichte des Subjekts, wie sie sich in den einzelnen Stufen der Freiheits- und Autonomieanalyse erkennen ließe, eine historische Dimension hat. Doch dieser Eindruck trgt. Er wird im wesentlichen durch den abstrakten erkenntnistheoretischen Stil hervorgerufen, verdeckt eben darin aber den Umstand, daß die Aufklrung

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12. Dialektik der Aufklrung

durchaus in Entwicklungen dachte. Das gilt auch von Kant, obgleich diesem, etwa aus Hegelscher Optik betrachtet, diese Dimension von Aufklrung gerade zu fehlen scheint. Nun ist Kant gewiß kein Historiker, auch nicht in Aufklrungsdingen. Dennoch ist auch fr ihn Geschichte ein Thema – unter einer Aufklrungsperspektive. Dies sei hier anhand der beiden kleinen geschichtsphilosophischen Abhandlungen „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) und „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht“ (1784) in sieben Thesen dargelegt, und zwar wiederum unter den bisher leitenden Gesichtspunkten Vernunft und Aufklrung. Zunchst zum „Muthmaßlichen Anfang“. Kant beginnt hier eine Genealogie der Vernunft, die im wesentlichen in der Genealogie rationaler Lebensformen beruht, mit einer methodischen Unterscheidung. Es ist die Unterscheidung zwischen einer (zugelassenen) Vermutung ber den Anfang der „Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprnglichen Anlage in der Natur des Menschen“42 und (nicht zugelassenen) Vermutungen ber den tatschlichen Gang dieser Freiheitsgeschichte, sofern diese sich nicht auf ,Nachrichten sttzen kçnnen.43 Eine Konstruktion nimmt die Stelle faktischer Entwicklungen ein, allerdings so, daß diese begreifbar macht, was die Geschichte nicht sagt, und erklrbar macht, was sie sagt. Die leitende Idee dabei ist, konstitutive Momente auch solcher Entwicklungen im Blick auf den jeweils herrschenden gegenwrtigen Zustand anzugeben, die selbst als bezeugte historische Entwicklungen nicht mehr greifbar sind. Solche Momente sind im Rahmen einer unterstellten Freiheits- bzw. Vernunftgeschichte nach Kant: (1) Die Ablçsung des Instinkts durch Vernunft, d. h. durch die Fhigkeit der Vernunft, neue Bedrfnisse, auch ,wider die Natur, zu erzeugen. Dazu gehçrt auch die Ausbildung alternativer Lebensformen.44 (2) Die Kultivierung erster vernunftvariierter Fhigkeiten (z. B. die Kultivierung des Geschlechtstriebes).45 (3) Die Vergegenwrtigung und Planung des Zuknftigen.46 (4) Die Deklaration des Menschen zum ,Zweck der Natur ber die Bildung der Idee der ,Gleichheit mit allen vernnftigen Wesen.47 Dieses letzte Moment oder 42 Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), Akad.-Ausg. VIII, 109 (Werke VI, 85). 43 Ebd. 44 A.a.O., 111 f. (Werke VI, 87 f.). 45 A.a.O., 112 f. (Werke VI, 89 f.). 46 A.a.O., 113 f. (Werke VI, 90). 47 A.a.O., 114 (Werke VI, 91).

12.7 Genealogie der Vernunft

251

dieser vierte Schritt ist zugleich der Schritt in eine moralische Welt, insofern Gleichheit, dieser konstruierten Genealogie der Vernunft entsprechend, selbst nichts Ursprngliches, sondern eine Leistung des Menschen, ein sich Herausarbeiten aus der ,Rohigkeit seiner Naturanlagen48 ist. Darber hinaus tritt der Mensch im Rahmen dieser vier Momente, mit dem Schritt vom Naturzustand in den Stand der Freiheit, in Entwicklungen ein. Hier und nirgendwo anders beginnt der Mensch nach Kant, im scharfen Gegensatz zu Rousseaus Vorstellungen, seinen Weg als Vernunftwesen. Also These 1: Der Schritt vom Naturzustand in den Stand der Freiheit (Rousseau: in den Gesellschaftszustand) ist nicht ein Schritt vom wahren zum verformten Menschen, sondern der Eintritt des Menschen in Entwicklungen. In Entwicklungen verwirklicht oder verfehlt sich der Mensch als Vernunftwesen. Diese Argumentationslinie wird in der Ideenschrift, unter Vorgriff auf entsprechende berlegungen in der „Kritik der Urteilskraft“, mit dem Begriff einer Naturabsicht, die sich in der konstruierten Genealogie der Vernunft zum Ausdruck bringt, aufgenommen und fortgefhrt. Insofern dabei Natur, nach dieser Vorstellung, dem Menschen die Kultur seiner Anlagen, und zwar in Freiheit, zum Zwecke macht49, darf der Mensch nach Kant zugleich als ein Selbstzweckwesen aufgefaßt werden. Mehr noch: da, wiederum nach dieser Vorstellung, derjenige Teil der Natur, der zugleich Selbstzweck ist, als Endzweck der Natur begriffen werden muß, stellt der Mensch einen solchen Endzweck dar. Die Frage ist, ob die Geschichte des Menschen in diesem Sinne als eine Geschichte des ,Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit (Hegel) beschrieben werden kann. Kants Antwort ist von subtiler Raffinesse: er postuliert diese Geschichte in der Argumentationsform eines Faktums. Was sein soll, wird so beschrieben, als wre es bereits wirklich. Die aufklrerische Aufforderung lautet, sich selbst so, in einer solchen Geschichte, zu verstehen, diese zu verwirklichen. Dazu weist Kant darauf hin, daß die Idee des Menschen als eines Vernunftwesens sich nur in der Gattung, nicht im Individuum vollstndig entwickeln kann. Zugleich ist die Entwicklung des Menschen als eines Vernunftwesens an seine Fortschritte (an ein allmhliches Fortschreiten 48 A.a.O., 118 Anm. (Werke VI, 95). 49 Vgl. Kritik der Urteilskraft § 83, Akad.-Ausg. V, 431 (Werke V, 553).

252

12. Dialektik der Aufklrung

,von einer Stufe der Einsicht zur andern50) gebunden. Der Unterschied zwischen Entwicklung und Fortschritt ist hier signifikant. These 2: Fortschritt erfolgt unter beliebigen Zwecken, Entwicklung nur unter einem Zweck. Nur im Menschen (als Gattungswesen) nimmt Fortschritt den Charakter von Entwicklung an. Dem lßt sich, unter dem Gesichtspunkt, daß mit dem Faktum der Vernunft die Natur dem Menschen „eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung“51 gab, gleich These 3 anfgen: Nur im Vernunftgebrauch bleibt der Mensch seiner Natur verbunden. Prgnanter lßt sich die aufklrerische Idee vom Menschen, eingebettet in die Idee vernnftiger Entwicklungen, kaum ausdrcken. Diese Entwicklungen schließen im brigen auch wissenschaftliche Entwicklungen ein. Sind sie es doch, die nach dieser aufklrerischen Vorstellung einen wesentlichen Teil jener Fortschritte ausmachen, an denen sich die Vernunft dieser Entwicklungen zu messen hat.

12.8 Konstruktion und Wirklichkeit Die folgenden berlegungen Kants in der Ideenschrift geben seine gesellschaftstheoretischen Auffassungen wieder – von der Vorstellung eines natrlichen gesellschaftlichen Antagonismus, der die Neigung des Menschen, sich zu vergesellschaften, begleitet (,die ungesellige Geselligkeit des Menschen52), ber die Konzeption einer brgerlichen Gesellschaft als einer ,allgemein das Recht verwaltenden Gesellschaft53 bis hin zum Postulat eines ,weltbrgerlichen Ganzen54 das – in bereinstimmung mit dem Entwicklungsmodell des „Muthmaßlichen Anfangs“ – auch ein ,moralisches Ganzes55 ist. Dabei steht die Kritik an Jean-Jacques Rous50 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht (1784), Akad.Ausg. VIII, 19 (Werke VI, 35). 51 Ebd. (Werke VI, 36). 52 A.a.O., 20 (Werke VI, 37). 53 A.a.O., 22 (Werke VI, 39). 54 A.a.O., 24 ff. (Werke VI, 41 ff.); vgl. Kritik der Urteilskraft § 83, Akad.-Ausg. V, 432 (Werke V, 555). 55 A.a.O., 21 (Werke VI, 38).

12.8 Konstruktion und Wirklichkeit

253

seaus Auffassungen stndig im Hintergrund, z. B. in der folgenden hbschen Bemerkung: „Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswrdige, Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstschtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, wrden in einem arkadischen Schferleben, bei vollkommener Eintracht, Gengsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe die sie weiden, wrden ihrem Dasein kaum einen grçßeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie wrden das Leere der Schçpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernnftige Natur, nicht ausfllen.“56 Dazu zwei weitere Thesen. These 4: Der agonale und der kommunikative Charakter der Vernunft verbieten die Rckkehr in einen Naturzustand, der rousseauistisch ist, und schreiben einen Naturstand vor, der moralisch ist. Und These 5, die sich nunmehr unmittelbar auf Rousseaus Kulturkritik bezieht: Moralitt, die nicht vollkommen ist, ist Kultur nach Rousseau. Die entsprechenden Bemerkungen Kants lauten an dieser Stelle: „Rousseau hatte so Unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, so bald man nmlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, weglßt. Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum berlstigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anstndigkeit. Aber, uns fr schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralitt gehçrt noch zur Kultur.“57 Der Schluß der Ideenschrift (mit dem achten und neunten Satz) greift einerseits mit dem Hinweis auf einen ,verborgenen Plan der Natur, der sich in der Gattungsgeschichte des Menschen geltend mache58, auf die Rede von einer Naturabsicht zu Beginn der gleichen Schrift zurck und wendet andererseits diese Vorstellung auf die eigenen Bemhungen an: die Darstellung eines derartigen ,Planes der Natur in einer, wie Kant sagt, philosophischen Geschichte befçrdert gleichzeitig diesen Plan. Der dia56 Ebd. 57 A.a.O., 26 (Werke VI, 44). 58 A.a.O., 27 (Werke VI, 45).

254

12. Dialektik der Aufklrung

lektische Zusammenhang von Konstruktion und Wirklichkeit ist offenkundig: philosophische Konstruktionen helfen der Wirklichkeit auf die Beine, die ihrerseits als das eigentliche Subjekt dieser Konstruktionen erscheint. Diese Dialektik erfaßt auch die Aufklrung selbst. These 6: Wenn Vernunft als Naturzweck begreifbar ist, dann vollzieht sich in der Aufklrung ein Plan der Natur. Gibt es eine strkere geschichtsphilosophische Legitimation von Aufklrung als diese? Wohl nicht, wobei im brigen die Charakterisierung dieser Legitimation als geschichtsphilosophisch ganz unerheblich ist. Entscheidend ist, daß sich Aufklrung selbst als Teil, und zwar als der zentrale Teil, einer vernnftigen Entwicklung begreifen lßt, die durch sie berhaupt erst ihre eigene Sprache findet. Damit hat Kant der Aufklrung nicht nur zu einem großartigen Selbstverstndnis verholfen, er hat auch, entgegen der vermeintlichen Blindheit der Aufklrung in historischen Dingen, diese mit einem noch heute beherzigenswerten Geschichtsbegriff verbunden. These 7: Philosophische Geschichte ohne empirische Geschichte ist leer, empirische Geschichte ohne philosophische Geschichte ist blind. Konstruktionen, mit anderen Worten, gehçren nicht einfach einer anderen Welt als der Geschichte an, sie bringen vielmehr als eine Vorstellung von vernnftigen Entwicklungen diese Welt zum Sprechen, wie umgekehrt die Geschichte unsere Konstruktionen sinnvoll und realisierbar macht. Daß dies eine Einsicht der Aufklrung, eine Einsicht Kants ist, ist im brigen so berraschend nicht: Sie entspricht der erkenntnistheoretischen Einsicht in die weltkonstituierende Kraft der Vernunft, wie sie der Transzendentalittsgedanke bei Kant zum Ausdruck bringt. Den Verhltnissen, so stellt sich diese Einsicht in historischen Dingen dar, kann man die Vernunft nicht einfach ablesen, man kann ihnen die Vernunft nicht einfach entnehmen. Man muß sie vielmehr herstellen, und sei es auch nur in der Weise eines Spiegels, den man den Verhltnissen entgegenhlt. Die transzendentale Begrndung des Wissens und die Konstruktion der Geschichte in aufklrerischer Absicht sind insofern einander entsprechende Weisen, die Welt mit aufklrerischen Augen zu sehen.

12.9 Aufklrung der Dialektik

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12.9 Aufklrung der Dialektik Eine derartige Sicht der Welt unterliegt weder einer Dialektik der Aufklrung, wie sie Adorno und Horkheimer beschrieben haben, noch fhrt sie in eine solche Dialektik. Dialektik ist zwar auch nach Vorstellungen Kants der (reinen) Vernunft natrlich, doch verschließt sie der Vernunft nicht die Augen, wenn diese sich, statt sich in ihren Objektivationen zu verlieren, im vernnftigen Subjekt realisiert. Kants Analyse der eigentmlichen Freiheit des vernnftigen Subjekts und seine geschichtsphilosophische Legitimation der Aufklrung, wie sie hier in These 6 wiedergegeben ist, legen die Fundamente der Vernunft tiefer, als sie in der dargestellten Kritik zur dialektischen Aufklrung zu liegen scheinen. Der ambivalente Charakter der Vernunft bleibt von diesem Umstand unberhrt. Er ist, wie hervorgehoben, schon Kant selbst klar. In systematischen Dingen macht er sich in einer natrlichen Dialektik geltend, in historischen Dingen im Verlust der Einsicht, daß der Mensch nur im Vernunftgebrauch seiner Natur verbunden bleibt (These 3). Daß sich in der Aufklrung ein Plan der Natur vollziehen kçnnte, besagt an dieser Stelle, daß sich der Mensch, wenn er der Ambivalenz der Vernunft in eine sich selbst berlassene Aufklrung folgt, nicht nur von seiner eigenen Natur, sondern auch von der Idee aufgeklrter Verhltnisse entfernt. Dialektisch ist hier sowohl die Korruption der Aufklrung durch ihre sich verselbstndigenden Objektivationen als auch das Verhltnis von Natur und Vernunft. Nur ist dieses nach Kant selbst ein Element der Aufklrung, whrend jene ein Element des Anderen der Aufklrung, wie es sich in einer ,aufgeklrten Gegenaufklrung ausdrckt, ist. Damit ist ein Punkt erreicht, an dem der Gedanke der Aufklrung nicht nur seine vermeintliche historische und systematische Naivitt verliert, sondern wo er sich auch als strker erweist als seine Deutung im Sinne jener Dialektik der Aufklrung, die diese als ihre eigene Gegenaufklrung und darber hinaus als radikal gewordene mythische Angst denunziert. Wirkungen gehen ihre eigenen Wege. Das gilt auch von den Wirkungen der Aufklrung, zumal dann, wenn man die moderne Welt als ihre eigentliche Wirkung betrachtet und die Aneignung des vernnftigen Subjekts durch die moderne Welt als ihre eigentliche Konsequenz. Gerade dann aber empfiehlt sich nicht nur Kritik, die unter der Formel ,Dialektik der Aufklrung das Kind (die Aufklrung) mit dem Bade (der Gegenaufklrung) auszuschtten droht, sondern auch Vergegenwrtigung dessen, was Aufklrung ihrer ursprnglichen Idee nach ist und was sie kann. Eben dies zu zeigen, ist schon die Bemhung Kants. Noch bevor die moderne Welt ihre

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12. Dialektik der Aufklrung

urwchsige dialektische Kraft entfaltet, setzt Kant einer Dialektik der Aufklrung die Aufklrung der Dialektik entgegen.

13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie Der Zwei-Kulturen-Streit, bezogen auf den wissenschaftlichen Status der Geistes- und Naturwissenschaften, hat eine Vorgeschichte in einem Streit, der um vieles belangvoller ist als der Zwei-Kulturen-Streit selbst. Es geht um die Philosophische Fakultt, die einmal die Naturwissenschaften einschloß, und um ihre Stellung gegenber den so genannten oberen Fakultten – in Kants Worten: es geht um die Vernunftidee der Universitt. Nicht ein Mythos – der Mythos der zwei Kulturen – bestimmt hier die philosophische Tagesordnung, sondern der Wahrheitsbegriff, und mit diesem ein Forschungsbegriff, der sich am Begriff des forschenden Subjekts orientiert. Wo Universitten sind, ist auch Streit. Nicht nur, weil ihr Personal in der Regel beraus streitbar ist, wovon mancher Gelehrtenstreit etwa im Mittelalter und im 19. Jahrhundert, aber auch das bliche kollegiale Hickhack in unseren Universitten zeugt, sondern weil die Universitt offenbar in einem besonderen Maße, nach innen wie nach außen, zum Streit anregt – zum Streit ber Ziele, Zwecke, Organisationsformen, Abhngigkeiten und Unabhngigkeiten, Sinn und Unsinn lehrender und zugleich forschender, erziehender und dabei professorablem Neid, Hochmut und bunten intellektuellen Eitelkeiten freien Lauf lassender wissenschaftlicher Einrichtungen. Auch Kant, einerseits der systematische Kopf par excellence, andererseits ein sorgsamer Beobachter in allen institutionellen Dingen, witterte Streit, allerdings einen Streit besonderer Art, nmlich unter den Fakultten einer Universitt. Und er hielt diesen Streit aus wissenschaftstheoretischen Grnden fr notwendig. Die Universittsentwicklung hat Kant darin recht gegeben, ohne daß die Grnde fr einen derartigen notwendigen Streit, die Kant noch in der Natur der Fakultten selbst beschlossen sah, immer klar gewesen wren und auch heute sind. Humboldts Reform war wenig streitlustig angelegt; der Aufstieg der Akademien und anderer Einrichtungen der außeruniversitren Forschung, etwa der Kaiser-Wilhelm- und spteren Max-PlanckGesellschaft, hat die Aufmerksamkeit in andere Richtungen gelenkt; an die Stelle wissenschaftstheoretischer berlegungen sind zuletzt, jedenfalls in der deutschen Szene, eine oberflchliche Zwei-Kulturen-Debatte und das mit ihr verbundene Wehklagen der Geisteswissenschaften getreten.

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

Warum, so mßte man wohl auch fragen, Anfang oder Ende der universitren Selbstreflexion bei den Fakultten? Und warum berhaupt Streit? Haben die Universitten heute nicht andere Sorgen? Und gehen sie mit ihren Strukturen, auch ihren fakultren Strukturen, nicht um, als handle es sich um reine Organisationsfragen, die sich nach Lust und Laune oder nach flchtigem Bedarf, jedenfalls ohne wissenschaftstheoretischen Tiefgang, regeln lassen? Wissenschaftsrte modernen Zuschnitts haben selten systematische Konzeptionen im Kopf, und Hochschulforschungseinrichtungen, zumal wenn sie mit luftigen Ranking- und Akkreditierungsgeschften zu tun haben, auch nicht. Was also kçnnte uns Kant, der ganz anders dachte und dabei das Stichwort vom Streit der Fakultten in die (Universitts-)Welt setzte, noch zu sagen haben? Im Folgenden zunchst ein analysierender Blick auf Kants Universittskonzeption, dann, auf dem Hintergrund einer von Kant herausgearbeiteten Vernunftidee der Universitt, ein ebensolcher auf idealistische Universittsprogramme, insbesondere die Humboldtsche Universittsreform, und schließlich, mit Kant und Humboldt vor dem systematischen Auge, einige berlegungen zum Aufstieg und Niedergang der Philosophischen Fakultt und zur Beantwortung der bangen Frage, welche Universitt wir heute eigentlich haben, und ob die Universitt, die wir haben, berhaupt noch in wissenschaftstheoretischen Kategorien, seien es philosophische wie bei Kant oder bildungstheoretische wie bei Humboldt, denkt.

13.1 Der Streit Wenn Kants Philosophie, wie das Hegel prgnant formuliert hat, „theoretisch die methodisch gemachte Aufklrung“1 ist, dann ist Kants Darstellung des Streites der Fakultten praktisch die methodisch herausgearbeitete Idee der Universitt, insbesondere in Form einer Theorie der Philosophischen Fakultt. Auf den ersten Blick scheint das allerdings ganz anders zu sein. Wer den „Streit der Fakultten“, kurz (und im doppelten Sinne, nmlich als Schrift ber den Streit und als Schrift zum Streit): die Streitschrift von 1798 liest, glaubt sich in eine Karikatur versetzt, in der entweder die Universitt oder Kant selbst schlecht aussieht. So ist die Rede 1

G. W. F. Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, Smtliche Werke (Jubilumsausgabe), I–XXVI, ed. H. Glockner, Stuttgart 1927 – 1940, XIX, 554.

13.1 Der Streit

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von Gelehrten, Lehrlingen, Literaten und Geschftsleuten. Die Gelehrten sind die Professoren, die Lehrlinge die Studenten, die Literaten die Studierten, als „Instrumente der Regierung, von dieser zu ihrem eigenen Zweck (nicht eben zum Besten der Wissenschaften) mit einem Amte bekleidet“. Diese mssen „zwar auf der Universitt ihre Schule gemacht haben (…), allenfalls aber vieles davon (was die Theorie betrifft) auch kçnnen vergessen haben, wenn ihnen nur so viel, als zu Fhrung eines brgerlichen Amts (…) erforderlich ist, (…) brig behalten haben“2. Die Geschftsleute schließlich sind solche, die „als Werkzeuge der Regierung (Geistliche, Justizbeamte und rzte) aufs Publikum gesetzlichen Einfluß haben“. Sie machen eine besondere Klasse von ,Literaten aus, „die nicht frei sind, aus eigener Weisheit (…) von der Gelehrsamkeit çffentlichen Gebrauch zu machen“, und die, „weil sie sich unmittelbar ans Volk wenden, welches aus Idioten besteht (wie etwa der Klerus an die Laiker), (…) von der Regierung sehr in Ordnung gehalten werden“ mssen.3 Was gemeint ist, ist klar: Studierte haben ihr Wissen, auch wenn dieses darunter leidet, im Beruf, d. h. unter anderen als wissenschaftlichen Zwecken, umzusetzen, Geistliche, Beamte und rzte haben zu gehorchen. Doch wird dies in einem Ton vorgetragen, der fragen lßt, in welcher Welt man sich eigentlich befindet. Schon frher, in einer Anthropologievorlesung im Wintersemester 1775/76, hatte Kant in einem hnlichen Zusammenhang einen Ton angeschlagen, der an Merkwrdigkeit wenig zu wnschen brig lßt, es sei denn, man faßt ihn als ironische berblendung auf: „Der Verstand kann entweder unter der Anleitung anderer, oder auch ohne die Anleitung anderer gebraucht werden. Der erste ist unmndig, der andere ist mndig. (…) So halten die geistlichen die gemeinen Leute fr unmndig in Ansehung der Religions Erkenntniße, und nennen sie Layen, sich selbst aber nennen sie Hirten, welches ein sehr stoltzer Name ist, denn alsdenn ist alles brige Volck als Vieh anzusehen. So nennen sich die Regenten Vter des Volcks, da sie alsdenn die Unterthanen fr unmndige Kinder halten. So werfen sich auch Philosophen zu Vormndern auf, und halten die brigen fr Idioten.“4 Was hier grob erscheint, ist eher hintergrndig, nach zwei Seiten operierend, nmlich gegenber einer, wie es 1783 in Kants Aufklrungs2 3 4

Der Streit der Fakultten (1798), Werke VI, 280. Ebd. Anthropologie – Friedlnder (1775 – 1776), Akad.-Ausg. XXV/1, 541. Vgl. R. Brandt, Universitt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants ,Streit der Fakultten. Mit einem Anhang zu Heideggers ,Rektoratsrede, Berlin 2003, 9.

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

artikel heißt, selbst verschuldeten Unmndigkeit und einer Mndigkeit, die sich versteigt. Das kommt auch in den Anfangsstzen der Streitschrift zum Ausdruck: „Es war kein beler Einfall desjenigen, der zuerst den Gedanken faßte, und ihn zur çffentlichen Ausfhrung vorschlug, den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit (eigentlich die derselben gewidmeten Kçpfe) gleichsam fabrikenmßig, durch Verteilung der Arbeiten, zu behandeln, wo, so viel es Fcher der Wissenschaften gibt, so viel çffentliche Lehrer, Professoren, als Depositçre derselben, angestellt wrden, die zusammen eine Art von gelehrtem gemeinen Wesen, Universitt (auch hohe Schule) genannt, ausmachten, die ihre Autonomie htte (denn ber Gelehrte, als solche, kçnnen nur Gelehrte urteilen); die daher vermittelst ihrer Fakultten (kleiner, nach Verschiedenheit der Hauptfcher der Gelehrsamkeit, in welche sich die Universittsgelehrte teilen, verschiedener Gesellschaften) teils die aus niedern Schulen zu ihr aufstrebende Lehrlinge aufzunehmen, teils auch freie (keine Glieder derselben ausmachende) Lehrer, Doktoren genannt, nach vorhergehender Prfung, aus eigner Macht, mit einem von jedermann anerkannten Rang zu versehen (ihnen einen Grad zu erteilen), d.i. sie zu kreieren berechtigt wre.“5 Die Universitt: ,kein bler Einfall, ihre Arbeit: ,fabrikmßig. Kant nahm den Witz ernst und trug ihn mit ernster Miene vor. Sein Witz war subtil, nie laut, der Ironie nher als dem Humor. Eben davon zeugt auch die Streitschrift. Sie ist durchzogen von einem tiefen philosophischen Ernst – schließlich geht es (wie wir gleich sehen werden) um die Stellung der Vernunft und der Philosophie im Wissenschaftssystem –, aber auch von ironischer Distanz. Kant vertritt (auch das werden wir gleich sehen) mit Nachdruck das Interesse der Philosophischen Fakultt, fr ihn ein Vernunftinteresse, aber er lßt sich nicht in die konstatierten Interessenkonflikte zwischen den Fakultten hineinziehen. Seine Analyse bleibt dem Wesentlichen verbunden, doch nicht in der distanzlosen Nhe des fr seine Sache Werbenden, sondern in der khlen Distanz eines dozierenden Richters, als der hier die Vernunft selbst auftritt. Schon in vorkritischer Zeit hatte Kant diesen Ton angeschlagen, nmlich in der gegen Emanuel Swedenborg gerichtenen Schrift „Trume eines Geistersehers, erlutert durch Trume der Metaphysik“ (1766).

5

Der Streit der Fakultten, Werke VI, 279.

13.1 Der Streit

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Dafr glaubte er sich spter beinahe entschuldigen zu mssen.6 Davon ist in der Streitschrift keine Spur zu finden. Souvern beschreibt Kant die universitre Organisation, spricht von erlaubten und nicht erlaubten Eingriffen des politischen Verstandes und vertritt die Konzeption einer Philosophischen Fakultt, die mit einer Vernunftidee im philosophischen, d. h. systematischen, wie im institutionellen Sinne identisch ist. Worum geht es? Kant bezieht sich auf die bliche Gliederung der Universitt in vier Fakultten, wobei den drei oberen Fakultten der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin mit der Philosophischen Fakultt eine untere Fakultt gegenbersteht. Das Unterscheidungskriterium bilden unterschiedliche Zwecke, die keine reinen Wissenschaftszwecke sind, vielmehr den politischen Willen widerspiegeln: „Man sieht wohl, daß bei dieser Einteilung und Benennung nicht der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist. Denn zu den obern werden nur diejenigen gezhlt, deren Lehren, ob sie so oder anders beschaffen sein, oder çffentlich vorgetragen werden sollen, es die Regierung selbst interessiert; da hingegen diejenige, welche nur das Interesse der Wissenschaft zu besorgen hat, die untere genannt wird, weil diese es mit ihren Stzen halten mag, wie sie es gut findet. Die Regierung aber interessiert das am allermeisten, wodurch sie sich den strksten und daurendsten Einfluß aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstnde der oberen Fakultten. Daher behlt sie sich das Recht vor, die Lehren der oberen selbst zu sanktionieren; die der untern berlßt sie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks.“7 Hier stehen sich Autorittsbindung und Autonomie, Nutzen und Wahrheit gegenber. Whrend die oberen Fakultten der Aufsicht des politischen Willens unterliegen und durch diesen unter einer gesellschaftlichen Nutzenperspektive gelenkt werden, soll dies fr die untere Fakultt nicht gelten, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß hier Wahrheit, der Zweck aller wissenschaftlichen Arbeit, einem nicht-wissenschaftlichen Zweck, nmlich dem gesellschaftlichen Nutzen, damit auch dem politischen Willen, den das ,Volk von den oberen Fakultten auch erwartet8, unterworfen wird. „Es muß“, so Kant, an vielzitierter Stelle, „zum gelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der Universitt noch eine Fakultt 6

7 8

Brief vom 8. April 1766 an M. Mendelssohn, Akad.-Ausg. X, 69. Vgl. M. Khn, Kant: A Biography, Cambridge 2001, 172 (dt. Kant. Eine Biographie, Mnchen 2003, 205 f.). Der Streit der Fakultten, Werke VI, 280 f.. A.a.O., 293 f..

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

geben, die, in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhngig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen, die Freiheit habe, die mit dem wissenschaftlichen Interesse, d.i. mit dem der Wahrheit, zu tun hat, wo die Vernunft çffentlich zu sprechen berechtigt sein muß; weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen wrde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist, und keine Befehle, etwas fr wahr zu halten (kein crede sondern nur ein freies credo), annimmt. – Daß aber eine solche Fakultt, unerachtet dieses großen Vorzugs (der Freiheit) dennoch die untere genannt wird, davon ist die Ursache in der Natur des Menschen anzutreffen: daß nmlich der, welcher befehlen kann, ob er gleich ein demtiger Diener eines andern ist, sich doch vornehmer dnkt, als ein anderer, der zwar frei ist, aber niemanden zu befehlen hat.“9 Mit seinem Eintreten fr die Philosophische Fakultt verfolgt Kant zwei unterschiedliche Ziele: zum einen die Sicherung der Freiheit dieser Fakultt (in Forschung und Lehre) gegenber dem Staat und dessen Zensurmaßnahmen (in diesem Falle besonders intensiv verfolgt durch Friedrich Wilhelm II.), zum andern die systematische, wiederum autonom definierte Rolle dieser Fakultt gegenber den drei anderen Fakultten. Whrend (politische) Fremdbestimmung im Falle der oberen Fakultten zulssig ist – diese bilden fr den Staat, insbesondere den Beamtenstaat, aus –, gilt dies im Falle der unteren Fakultt (untere nur insofern, als sie eben nichts zu ,befehlen hat) nicht, d. h., hier soll Selbstbestimmung sowohl gegenber dem Staat als auch gegenber den anderen Fakultten jederzeit gewhrleistet sein. Das heißt, es geht um die universitre Organisation im Aufklrungssinne, mit einem feinen Gespr fr die unterschiedliche Rolle der Fakultten in diesem System.10 Eben dies aber fhrt auch zum Streit, und zwar in einem zweifachen Sinne. Zum einen gibt es Streit zwischen den Fakultten, weil der Staat das Wissen der oberen Fakultten zwar nutzt (und dafr sowie fr die Bildung und die Vermittlung des Wissens entsprechende Bestimmungen trifft), dessen theoretische Begrndung aber den Fakultten berlßt, womit diese in den kritischen Blick der unteren Fakultt geraten. Dieser Streit wird von Kant als ,gesetzmßig bezeichnet; er kann im Einzelfall nur durch Vernunft beigelegt werden und dauert als wissenschaftstheoretisch angelegter Streit so lange, wie es eine entsprechende Ordnung nach Fa9 A.a.O., 282. 10 Vgl. dazu die detaillierte Darstellung bei R. Brandt, a.a.O., 21 ff..

13.1 Der Streit

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kultten gibt.11 Der Staat und sein Interesse an den oberen Fakultten bleiben davon unberhrt. Anders der Streit, der dann entsteht, wenn sich ein korrupter oder populistischen Absichten folgender politischer Wille der Universitt, d. h. in erster Linie wieder der drei oberen Fakultten, bemchtigt. Hier wird, so Kants angesichts blicher preußischer Zensurmaßnahmen berechtigte Befrchtung12, der ,gesetzmßige Streit (,Antagonismus) „zweier mit einander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien“13 durch einen ,gesetzwidrigen Streit außer Kraft gesetzt, ausgelçst durch einen den Fakultten aufgezwungenen Willen, durch eine ,Theorie, „die nicht aus der reinen Einsicht der Gelehrten derselben entsprungen“ ist14. Das eine, der Streit zwischen den Fakultten, ist ein fçrderlicher Streit, das andere, der Streit einer politisch verbogenen Universitt mit sich selbst, ist ein fr das gesamte politische und wissenschaftliche System verhngnisvoller Streit. Im brigen – so Kants aufgeklrter Optimismus, in seiner Terminologie: ein Optimismus aus Pflicht – hat die Regierung Glck gehabt. Die Ordnung der Universitten entspricht im großen und ganzen einer Ordnung ,nach der Vernunft15, d. h. einer wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch begrndbaren Ordnung. Dabei geht es in der Philosophischen Fakultt um das Wohl der Vernunft und einer vernnftigen Ordnung selbst, in den oberen Fakultten jeweils um das seelische (theologische), das brgerliche (juristische) und das leibliche (medizinische) Wohl, ein Umstand, der aus der Sicht der unteren Fakultt gleich wieder ins Ironische gewendet wird: Der Theologe schçpft „seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine ins Publikum gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen Kçrpers, sondern aus der Medizinalordnung. – So bald eine dieser Fakultten etwas als aus der Vernunft Entlehntes einzumischen wagt: so verletzt sie die Autoritt der durch sie gebietenden Regierung und kommt ins Gehege der philosophischen, die ihr alle glnzende von jener geborgte Federn ohne Verschonen abzieht, und mit ihr nach dem Fuß der Gleichheit und Freiheit verfhrt. – Daher mssen die obern Fakultten am meisten 11 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 296 ff.. 12 R. Brandt verweist in diesem Zusammenhang auf Kants Briefwechsel mit Fichte, in dem es um gegen Fichte verhngte Zensurmaßnahmen geht (Brief Kants vom 2. Februar 1792 an Fichte, Akad.-Ausg. XI, 321 f.). R. Brandt, a.a.O., 63. 13 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 300. 14 A.a.O., 295. 15 A.a.O., 283.

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darauf bedacht sein, sich mit der untern ja nicht in Mißheirat einzulassen, sondern sie fein weit in ehrerbietiger Entfernung von sich abzuhalten, damit das Ansehen ihrer Statute nicht durch die freien Vernnfteleien der letzteren Abbruch leide.“16 Was Wunder, daß Kant mit dem Gedanken spielte, die untere Fakultt zur obersten zu machen.17

13.2 Die Vernunftidee der Universitt Kant gibt dem Streit der Fakultten ein systematisches Fundament, aber er erfindet ihn nicht. Davon zeugt z. B. der Eintrag ,Gelehrsamkeit im ersten Band von Johann Georg Walchs „Philosophischem Lexicon“ (41775). Dort heißt es, daß es Streit auf den ,Academien gibt „wegen unterschiedlichen Wissenschaften, welche bald diese, bald jene Facultt an sich ziehen will. Das natrliche Recht wird von den Herren Juristen und Philosophen; das canonische von den Herren Theologen und Juristen; die natrliche Theologie von den Herren Philosophen und Theologen einander hin und wieder streitig gemacht. Es wird (…) dieser Streit niemals aufhçren, wenn man die Grenze so genau setzen will, und dabey neidisch ist“18. Hier geht es allerdings nicht, wie bei Kant, um einen Statusstreit zwischen der unteren und den oberen Fakultten, sondern um wechselnde wissenschaftliche Zustndigkeiten. Immerhin mag auch dahinter eine Entwicklung im 18. Jahrhundert stehen, die die Universitt unter einander entgegengesetzte Zwecke stellte: dem Staate, d. h. dessen Nutzen, und der (wissenschaftlichen) Wahrheit zu dienen. Der eine Zweck kommt besonders 16 A.a.O., 285. 17 „Die Unterste Facultaet muß einmal die Oberste werden, d.i. alles der Gesetzgebung der Vernunft unterwerfen“; aus einer Vorarbeit zum ersten Teil der Streitschrift stammende, von R. Brandt mitgeteilte Bemerkung (R. Brandt, Zum „Streit der Fakultten“, in: R. Brandt/W. Stark [Eds.], Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg 1987, 31). 18 J. G. Walch, Philosophisches Lexicon, I–II, Leipzig 41775, I, Sp. 1571. Vgl. R. Selbach, Eine bisher unbeachtete Quelle des „Streits der Fakultten“, KantStudien 82 (1991), 96 – 101. R. Brandt verweist in diesem Zusammenhang, einem Hinweis G. Biens (Kants Theorie der Universitt und ihr geschichtlicher Ort, Historische Zeitschrift 219 [1974], 561 f.) folgend, auch auf den Eintrag ,Facultt (J. G. Walch, a.a.O., Sp. 1207 – 1209), der bereits mit Rcksicht auf die dreifache „wesentliche Angelegenheit der Menschen“ (I. Kant, Vorarbeiten zum ersten Abschnitt, Akad.-Ausg. XXIII, 426) das Ntzlichkeitskonzept der drei oberen Fakultten anfhrt (R. Brandt, Universitt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, 33; vgl. ders., Zum „Streit der Fakultten“, a.a.O., 33).

13.2 Die Vernunftidee der Universitt

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drastisch in den Josephinischen Reformen in sterreich zum Ausdruck, der andere in der sich schon in Halle und Gçttingen, dann in Berlin Wirksamkeit verschaffenden universitren Aufklrung.19 Auch Kants berlegungen kommen, auf sein eigenes Werk bezogen, nicht aus dem Nichts: Die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie hat ihre Vorlage in der Vorrede zur „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ (1793), die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft im „Ewigen Frieden“ (1796, Zweiter Zusatz. Geheimer Artikel zum Ewigen Frieden), die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Medizin in Kants Rektoratsrede von 1786.20 Auf vorangegangene berlegungen und Vorlagen verweist auch Kant selbst in der Vorrede, desgleichen darauf, daß hier drei unterschiedliche Abhandlungen zusammengefhrt wurden21: der so genannte „Ur-Streit“ von 1794, die Abhandlung „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im bestndigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ von 1797 (geschrieben 1795) und die Abhandlung „Von der Macht des Gemths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefhle Meister zu sein“ von 1798 (geschrieben 1796/97).22 Das eigentlich Neue gegenber den gegebenen Verhltnissen, auf die Walch anspielt, und gegenber den angefhrten Vorlagen aus anderem Zusammenhang ist, daß Kant nun von einer Vernunftidee spricht, die der Ordnung der vier Fakultten (wie Staat und Regierung selbst23) zugrundeliegt, d. h., diese nicht nur das Produkt einer historischen Entwicklung sind. Nach Kant ist die ,Idee der Universitt (so in den Vorarbeiten zur Streitschrift24) eine philosophische Idee, eben eine Vernunftidee. Von ihr her konstruiert Kant die Universitt. Daß diese Konstruktion zu großen Teilen die Rekonstruktion einer Universitt ist, die bereits existiert, nimmt diesem Konzept nichts von seiner systemati19 Vgl. W. Hçflechner, Bemerkungen zur Differenzierung des Fcherkanons und zur Stellung der philosophischen Fakultten im bergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, in: R. Chr. Schwinges (Ed.), Artisten und Philosophen. Wissenschaftsund Wirkungsgeschichte einer Fakultt vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, 299. 20 Vgl. R. Brandt, Immanuel Kant: „ber die Heilung des Kçrpers, soweit sie Sache der Philosophen ist.“ Und: Woran starb Moses Mendelssohn?, Kant-Studien 90 (1999), 354 – 366. 21 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 274. 22 Vgl. R. Brandt, Universitt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, 16; M. Khn, a.a.O., 394 (dt. 456). 23 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 282. 24 Vgl. Vorarbeiten zum ersten Abschnitt, Akad.-Ausg. XXIII, 430.

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

schen Kraft. Hat doch fr Kant diese Universitt ihre Vernunftidee noch nicht, oder doch nur unzureichend, verwirklicht. Zentraler Ort dieser Idee ist wiederum die untere, die Philosophische Fakultt – weil es hier nach Kant allein um Wahrheit und Selbstdenken geht. Dieses war aparterweise 1770 durch Erlaß des Ministers v. Frst an die preußischen Universitten vorgeschrieben worden und sollte insbesondere in der Philosophischen Fakultt, gegebenenfalls auch gegen die Autoritt der Lehrenden, zur Geltung kommen.25 In den „Methodologischen Anweisungen“, die von 1770 an jeder Kçnigsberger Student bei seiner Einschreibung erhielt, heißt es ber das Studium der Philosophie: „Wer auf Universitaeten die Philosophie studiret, muß vornemlich zur Absicht haben, diejenige Fertigkeit zu dencken zu erlangen, welche der Natur der wahren Philosophie gemß ist, die wahre Philosophie ist eine Fertigkeit, selbst, ohne Vorurtheile und ohne Anhnglichkeit an eine Secte zu dencken, und die Naturen der Dinge, zu untersuchen. Damit er sich nun nicht sclavisch an das Sistem seines Lehrers binde, so muß er die besten Philosophen aus allen Nationen lesen und zu dem Ende fremder Sprachen mchtig seyn, sonderlich Lateinischen, Griechischen, Frantzçsischen und Englndischen, wenigstens einiger derselben.“26 Schon 1765 hatte Kant jenseits aller Reglementierung zum Selbstdenken in seiner „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 – 1766“ betont, daß die Studenten „nicht Gedanken sondern denken lernen“ sollten, nicht Philosophie, sondern das Philosophieren.27 Nun aber hatten es die Studenten amtlich, schwarz auf weiß. Kants aufgeklrte Vorstellung vom universitren Lehren und Lernen hatte fnf Jahre spter ihren Weg in das preußische Erlaßwesen gefunden. Ausgefhrt ist Kants Pldoyer fr das Selbstdenken als Ausdruck von Aufklrung im Aufklrungsartikel von 1783. Aufklrung, so die berhmte Definition, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermçgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung 25 Vgl. H. Bosse, Der geschrfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Frst an die preußischen Universitten im Mai 1770, in: F. A. Kittler/M. Schneider/S. Weber (Eds.), Diskursanalysen 2. Institution Universitt, Opladen 1990, 31 – 62. 26 Zitiert bei H. Bosse, a.a.O., 41. 27 Werke I, 908.

13.2 Die Vernunftidee der Universitt

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eines andern zu bedienen.“28 Diese Bestimmung richtet sich an das Subjekt und fordert es auf, sich im Denken und durch das Denken zu orientieren, und sie besagt, noch einmal mit anderen Worten, „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“29. Sie wendet sich gegen die Berufung auf fremde Autoritten, die nicht durch ,allgemeine Grundstze des Vernunftgebrauchs legitimiert sind, aber auch gegen eine Berufung auf eigene Autoritt, fr die das gleiche gilt. Autonomie im Sinne einer vernnftigen Selbstndigkeit – des Zieles aller philosophischen Aufklrung – realisiert nach Kant nur ein Denken, das sich weder auf fremde noch auf eigene Autoritt beruft, das das fremde Denken nicht an die Stelle des eigenen Denkens setzt, aber sich auch nicht selbst an die Stelle des anderen setzt, sondern mit diesem gemeinsam die Vernunftstelle zu finden sucht. Und dies soll auch fr die Universitt gelten, vor allem in einer Fakultt, der das Philosophische, mit dem Selbstdenken auch die Wahrheit, das eigentliche Wesen ist. Dazu noch einmal die selbstbewußte Deklaration der Rolle der unteren Fakultt im „Streit der Fakultten“, hier insbesondere gegenber der Theologie: „Auf einer Universitt muß (…) eine philosophische Fakultt sein. In Ansehung der drei obern dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch ntzlich zu werden, weil auf Wahrheit (der wesentlichen und ersten Bedingung der Gelehrsamkeit berhaupt) alles ankommt; die Ntzlichkeit aber, welche die oberen Fakultten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment vom zweiten Range ist. – Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultt den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einrumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gndigen Frau die Fackel vortrgt oder die Schleppe nachtrgt); wenn man sie nur nicht verjagt, oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, bloß frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fakultten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdchtig ja als unentbehrlich empfehlen.“30 Im-

28 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, Werke VI, 53. Vgl. Kapitel 12.2 in diesem Band. 29 I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), Werke III, 330. 30 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 290 f..

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merhin hat sich die preußische Regierung zum Selbstdenken bekannt – per Erlaß. Wie stellt sich die Vernunftidee der Philosophischen Fakultt nach Kant konkret dar? Sie ist auf alles Wissen, also auch auf das Wissen der drei anderen Fakultten, bezogen, allerdings nicht inhaltlich, sondern als den Gegenstnden ihrer ,Prfung und Kritik31. Sie selbst ist nach den Gesichtspunkten einer ,historischen Erkenntnis und einer ,reinen Vernunfterkenntnis gegliedert, wobei zur einen „Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehçrt, was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet“; die andere ist der „reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten“ gewidmet.32 Diese Gliederung entspricht Kants Wissenschaftssystematik, wie sie sich vor allem in der „Kritik der reinen Vernunft“ ausgearbeitet findet. In dieser Systematik setzt Kant „das Rationale dem Empirischen entgegen“33 und unterscheidet weiterhin zwischen einer ,Erkenntnis aus reiner Vernunft, deren systematischer Ausdruck die Transzendentalphilosophie selbst ist, und einer ,Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien34 oder ,empirischer Philosophie35. Physik als ,empirische Philosophie ist damit im Sinne Kants rationale Erkenntnis (,cognitio ex principiis), nur eben Erkenntnis aus ,empirischen Prinzipien. Der ,empirischen Philosophie (als Naturwissenschaft) steht wiederum derjenige Teil der Naturlehre gegenber, der nicht Erkenntnis aus (empirischen) Prinzipien, sondern Erkenntnis aus Daten (,cognitio ex datis) ist, nach Kant Naturbeschreibung, in der es um eine systematische Klassifikation von Fakten, etwa dem Vorgehen von Botanik und Zoologie entsprechend, geht, und Naturgeschichte, die mit einem System von Fakten im Rahmen einer Geschichte der physischen Welt und des Lebens befaßt ist. Empirisch im weiteren Sinne ist etwa die Physik, (1) weil sie (als Naturwissenschaft) ,aus empirischen Prinzipien erkennt, (2) weil sie (als historische Naturlehre) ,aus Daten erkennt.36 31 Der Streit der Fakultten, Werke VI, 291. 32 Ebd. 33 Kritik der reinen Vernunft B 863. Vgl. J. Mittelstraß, Experimentalphilosophie, in: ders. (Ed.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Mannheim/ Wien/Zrich 1980, Stuttgart/Weimar 1995, 622 – 624, II, Stuttgart/Weimar 22005, 455 – 457. 34 Kritik der reinen Vernunft B 868. 35 Ebd. 36 Metaphysische Anfangsgrnde der Naturwissenschaft (1786), Werke V, 11 f..

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Historisch schließt Kant mit dieser Systematik an die ursprnglich im griechischen Denken erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch geprgte Unterscheidung zwischen einer Principia-Konzeption (Beispiel: Isaac Newtons „Philosophiae naturalis principia mathematica“, London 1687) und einer Historia-Konzeption (Beispiel: Joseph Priestleys „The History and Present State of Electricity“, London 1767) an. Die Principia-Konzeption in der Naturphilosophie entspricht in dieser Form Kants Begriff der empirischen Philosophie (im engeren Sinne), die Historia-Konzeption Kants Begriffen der Naturgeschichte und der Naturbeschreibung. Im zeitgençssischen Begriff der Experimentalphilosophie werden beide Momente unter methodologischen Gesichtspunkten zusammengefaßt und als neue Formen der Naturphilosophie von der aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie abgegrenzt. Die Beibehaltung der Bezeichnung ,Naturphilosophie dokumentiert im brigen ebenso wie die Bezeichnung ,Experimentalphilosophie, daß eine entsprechende Ausgrenzung der naturwissenschaftlichen Forschung aus der bislang als Einheit rationaler Orientierungsbemhungen aufgefaßten philosophischen Forschung (noch) nicht erfolgt. Naturwissenschaftliche Forschung bleibt denn auch, jedenfalls terminologisch, bis ins 19. Jahrhundert hinein ,empirische Philosophie und damit Teil der Philosophischen Fakultt. Entscheidend ist, daß die Einheit von historischer Erkenntnis im beschriebenen Sinne und reiner Vernunfterkenntnis Ausdruck der Einheit der Philosophischen Fakultt ist, wie sie Kant im Auge hat. Diese spiegelt sich auch in der tatschlichen Fakulttssystematik wider. So bilden in der Kçnigsberger Fakultt Geschichte, Geographie, Philologie und die empirischen Formen der Naturwissenschaften den historischen Teil, reine Mathematik, reine Philosophie, Metaphysik der Natur und der Moral den systematischen Teil.37 Kant selbst las unter anderem ber Logik, Mathematik, Physik, physische Geographie, Metaphysik, Ethik und Naturrecht, d. h., er vereinigte die Philosophische Fakultt in ihren wesentlichen Teilen in einem Kopf, ihr auch auf diese Weise zu einer eindrucksvollen Einheit verhelfend. Diese Einheit kommt auch in der weiteren institutionellen Entwicklung der Universitt zum Ausdruck, allerdings auf eine andere Weise. Kants Vernunftidee der Universitt und deren Ausarbeitung aus der Perspektive der Philosophischen Fakultt zeugen vom Selbstbewußtsein 37 Dazu und zum Lehrprogramm der Kçnigsberger Philosophischen Fakultt zur Zeit Kants vgl. R. Pozzo, Kants Streit der Fakultten and Conditions in Kçnigsberg, History of Universities 16 (2000), 96 – 128, bes. 106 ff..

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der klassischen Universitt – von dieser zuvor niemals in dieser Klarheit und systematischen Strenge vorgetragen –, weniger von einem Reformwillen, der nun die weitere Entwicklung bestimmen wird. Daß dies keinen Gegensatz bedeutet, zeigen die Konzeptionen Fichtes, Schleiermachers und Humboldts, insofern auch diese einer Vernunftidee von Wissenschaft und Universitt folgen, die eben die Kantische Idee ist bzw. deren Philosophie atmet. Dabei scheint der Idealismus, der sich hier mit der Idee der Universitt verbindet, keine Grenzen zu kennen. Nach Fichtes „Deducirtem Plan einer zu Berlin zu errichtenden hçhern Lehranstalt“ (1807) soll Wissenschaft in ihrer in den Akademien und Universitten institutionalisierten Form, unter dem Gesichtspunkt einer „Erziehung der Nation (…) zu Klarheit und Geistesfreiheit“, „die Erneuerung aller menschlichen Verhltnisse vorbereiten und mçglich machen“38. Schleiermacher, der theologische Kollege Fichtes in Berlin, drckt dasselbe, nur schlichter, in der Bemerkung aus, „es solle unter den Menschen nicht nur Kenntnisse aller Art geben, sondern auch eine Wissenschaft“39. Humboldt wiederum ruft den Staat auf, „seine Universitten weder als Gymnasien noch als Specialschulen (zu) behandeln“40, und unterstellt dabei, „daß, wenn sie (die Universitten) ihren Endzweck erreichen, sie auch seine (des Staates) Zwecke und zwar von einem viel hçheren Gesichtspunkte aus erfllen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen lßt und ganz andere Krfte und Hebel angebracht werden kçnnen, als er in Bewegung zu setzen vermag“41. Auch in Sachen Fakulttsordnung kennt Fichte keine falsche Bescheidenheit: „Die drei sogenannten hçhern Fakultten wrden schon frher wohl getan haben, wenn sie sich, in Absicht ihres wahren Wesens, in dem ganzen Zusammenhange des Wissens deutlich erkannt und sich darum nicht, pochend auf ihre praktische Unentbehrlichkeit und ihre Gltigkeit beim Haufen, als ein abgesondertes und vornehmeres Wesen hingestellt, sondern lieber jenem Zusammenhange sich untergeordnet und mit 38 J. G. Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden hçhern Lehranstalt (1807) § 67, in: E. Spranger (Ed.), ber das Wesen der Universitt, Leipzig 21919, 104. 39 Gelegentliche Gedanken ber Universitten in deutschem Sinne. Nebst einem Anhang ber eine neu zu errichtende (1808), in: E. Spranger (Ed.), ber das Wesen der Universitt, 109. 40 ber die innere und ußere Organisation der hçheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften, I–XVII, Berlin 1903 – 1936 (im Folgenden zitiert als Ges. Schriften), X, 255. 41 Ebd.

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schuldiger Demut ihre Abhngigkeit erkannt htten“42, d. h. auch, sich dem Erkenntnisinteresse der unteren Fakultt gebeugt htten. Was Kant noch in ironischem Understatement zum Ausdruck brachte, wird hier in dem Fichte eigenen Przeptorengestus zu einem universittspolitischen Programm, das durch und durch, institutionelle mit moralischen Zwecken verbindend, ein Bildungsprogramm ist. Das kommt auch bei Schleiermacher und Humboldt, wiederum in stndigem Rckgriff auf Kants „Streit der Fakultten“, zum Ausdruck. Nach Schleiermacher ist die Philosophische Fakultt die ,eigentliche Universitt; die oberen Fakultten gelten als ,Spezialschulen43, insofern sie „ihre Einheit nicht in der Erkenntnis unmittelbar, sondern in einem ußeren Geschft“ haben44. Nach Humboldt soll die Verwandlung des ,zerstreuten Wissens in ein ,geschlossenes Wissen, der ,bloßen Gelehrsamkeit in eine ,gelehrte Bildung, des ,unruhigen Strebens in eine ,weise Ttigkeit durch die Wissenschaft selbst erfolgen.45 Dabei ist es gerade die ,reine Wissenschaft46, d. h. Wissenschaft um ihrer selbst willen, die der Praxis unter Bildungsgesichtspunkten produktiv verbunden sein soll: „Sobald man aufhçrt, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie brauche nicht aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen, sondern kçnne durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden, so ist Alles unwiederbringlich und auf ewig verloren; verloren fr die Wissenschaft (…), und verloren fr den Staat. Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um, und dem Staat ist ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun.“47 Bei all dem dominiert in den Entwrfen Fichtes, Schleiermachers und Humboldts 42 Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden hçhern Lehranstalt § 26, a.a.O., 37. 43 F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken ber Universitten in deutschem Sinn (1809), in: E. Spranger (Ed.), ber das Wesen der Universitt, 147. Vgl. F. Paulsen, Die deutschen Universitten und das Universittsstudium, Berlin 1902, 80 f.; R. vom Bruch, Die Grndung der Berliner Universitt, in: R. Chr. Schwinges (Ed.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universittsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, 71. 44 A.a.O., 149. 45 W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstck), Ges. Schriften I, 285. 46 W. v. Humboldt, Der Kçnigsberger und der Litauische Schulplan, Ges. Schriften XIII, 279. 47 W. v. Humboldt, ber die innere und ußere Organisation der hçheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, Ges. Schriften X, 253.

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ein Reformwille; institutioneller Ausdruck dieses Willens ist wiederum die Berliner Universitt.48 Dieser Wille ergreift alsbald auch die oberen Fakultten, nicht nur im Bildungs-, sondern auch im Wissenschaftssinne. Die Theologie entdeckt (mit Schleiermacher) ihr philosophisches Herz neu und hlt sich auf diese Weise in einer skularen universitren Entwicklung. Die Rechtswissenschaften fçrdern (vor allem mit Friedrich Carl v. Savigny), ohnehin eine fhrende Rolle im Wissenschaftssystem beanspruchend, mittelbar ber den Ausbau ihrer Grundlagenfcher, insbesondere Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, die Philosophische Fakultt. Zugleich wchst das Selbstbewußtsein dieser Fakultt, wiederum am deutlichsten erkennbar in der Humboldtschen Universittsreform. Außerdem setzt sich mit Humboldt die Vorstellung durch (bei ihm als Prinzip formuliert), daß die Wissenschaft „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten“ sei, und es darauf ankomme, „unablssig sie als solche zu suchen“49. Aufgabe der Universitt sei es entsprechend, „die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelçstes Problem (zu) behandeln und daher immer im Forschen (zu) bleiben“50. Aus Kants Vernunftidee der Universitt, die die Wahrheitsidee zur obersten Richtschnur machte, wird eine Bildungs- und Forschungsidee.

13.3 Die Philosophische Fakultt, der Forschungsbegriff und die Philosophie Mit der Humboldtschen Reform verbindet sich im nunmehr auch institutionellen Sinne der Aufstieg der Philosophischen Fakultt. Daß deren Theorie bereits Kant formuliert hatte, wird zwar nicht vergessen, doch tritt an die Stelle einer strengen Wissenschaftssystematik, auf die es Kant noch im wesentlichen ankam, das offene Konzept einer Fakultt, deren disziplinre und fachliche Strukturen zu wuchern beginnen. Die Philosophische Fakultt – das ist einerseits die Nachfolgeeinrichtung der alten Artistenfakultt, insbesondere, in Form des so ge48 Vgl. R. vom Bruch, Differenzierung und Professionalisierung. Von der Propdeutik zum Motor der modernen Forschungsuniversitt, in: R. Chr. Schwinges (Ed.), Artisten und Philosophen, 392. 49 W. v. Humboldt, ebd. 50 W. v. Humboldt, a.a.O., 251. Vgl. H. Schndelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt 41991, 41.

13.3 Die Philosophische Fakultt, der Forschungsbegriff und die Philosophie 273

nannten Quadriviums, die exakten Wissenschaften umfassend, andererseits die Entwicklungseinrichtung der Renaissance-Disziplinen der so genannten studia humanitatis, insbesondere der Geschichte, der Literatur und der Sprachen, so des Griechischen und Hebrischen. Diese Entwicklung setzt frh ein. Schon in Philipp Melanchthons Universittskonzeption bestand die Artistenfakultt aus Grammatik, Dialektik und Rhetorik, d. h. den Disziplinen des alten Triviums, aus Mathematik, Physik (im sich entwickelnden Sinne einer philosophia naturalis bzw. experimentalis) und Astronomie, also einem modifizierten Quadrivium, ferner aus Poesie bzw. Poetik, Griechisch und Hebrisch. Aus der Ethik im humanistischen Rahmen der studia humanitatis entwickeln sich spter die

konomie und die Politik und in diesem Sinne die Staatswissenschaften (in Deutschland in der Philosophischen, in sterreich ab 1784 in der Juristischen Fakultt51). Hinzu treten noch die sthetik als Theorie der schçnen Wissenschaften (nach Alexander Gottlieb Baumgarten) und die neueren Sprachen (und mit diesen die neueren Literaturen). Der Aufstieg der Philosophischen Fakultt ist auch der Aufstieg der Geisteswissenschaften und zugleich der Beginn der wachsenden Unbersichtlichkeit und blasser werdender Systematik beider.52 Was fr Kant, durchaus auf dem Hintergrund einer zeitgençssischen Wissenschaftssystematik, noch eine auch systematisch begreifbare Ordnung war, bestimmt durch die Einheit eines (im erluterten Sinne) historischen und eines Vernunftinteresses, lçst sich in eine nur noch historisch verstehbare Entwicklung auf, die schließlich zum Auszug der Naturwissenschaften aus der Philosophischen Fakultt und zur mal glcklich mal schmerzlich empfundenen Einsamkeit der Geisteswissenschaften (in wissenschaftstheoretischer Bedeutung) fhrt. Institutionell nicht weniger bedeutsam ist ein weiterer Umstand, der sich mit dieser Entwicklung – von der Artistenfakultt ber Kants Theorie der Universitt zur Humboldtschen Universittsreform – verbindet. Die mittelalterliche Artistenfakultt war einerseits so etwas wie ein ,univer51 Vgl. W. Hçflechner, Bemerkungen zur Differenzierung des Fcherkanons und zur Stellung der philosophischen Fakultten im bergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, a.a.O., 300 ff.. 52 In der Berliner Philosophischen Fakultt waren 11 Professuren fr die Geisteswissenschaften vorgesehen (vier fr Geschichte, fnf fr die Klassischen Altertumswissenschaften, eine fr Deutsche und eine fr Orientalische Philologie), 12 Professuren fr die Naturwissenschaften (vier fr Mathematik, zwei fr Physik, drei fr Chemie, je eine fr Geologie, Zoologie und Botanik). Nach W. Hçflechner, a.a.O., 316.

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

sittsinternes Gymnasium53, das universittsfhig machen sollte, andererseits besaß sie im wissenschaftstheoretischen Sinne eine propdeutische Funktion, d. h., sie sollte das wissenschaftliche Fundament fr ein Studium in den oberen Fakultten legen. Bei Kant ist das anders. Zwar findet sich auch bei ihm der Hinweis, daß die Philosophische Fakultt fr ,die praeliminarien im Studium der oberen Fakultten zustndig sei54, doch tritt dieser Gedanke, der noch von Christian Wolff nachdrcklich betont worden war55, ganz hinter den der Wahrheitsfunktion, die dieser Fakultt als Vernunftzweck zugeschrieben wird, zurck. Zwar soll die untere Fakultt Einfluß auf die oberen Fakultten nehmen, nur eben nicht im propdeutischen, sondern im Wahrheitssinne. Es geht Kant, mit anderen Worten, in erster Linie um eine Wissenschaftssystematik, nicht – wie Fichte, Schleiermacher und Humboldt – um ein Bildungsprogramm, auch wenn dieses sich als institutionelle Konsequenz aus Kants Theorie der Universitt ergibt. Schleiermachers Bezeichnung der Philosophischen Fakultt als ,eigentlicher Universitt gibt dieser Theorie ihre institutionelle Form – nunmehr unter Gesichtspunkten einer Bildungsreform. Kants Theorie ist kein Glck beschieden. Gerade im Zuge der Transformation dieser Theorie in eine universitre Bildungsreform verndert sich der Charakter der Philosophischen Fakultt. Diese verliert mit wachsender disziplinrer und fachlicher Vielfalt nicht nur ihre bersichtlichkeit und Systematik, auf die es Kant gerade ankam, sie wird alsbald auch zur Ausbildungsfakultt fr Gymnasiallehrer, d. h., sie gleicht sich in einer Ausbildungsperspektive den oberen Fakultten an und verliert damit ihren im systematischen Sinne Kants herausgehobenen Charakter. Aus der

53 A. Seifert, Das hçhere Schulwesen. Universitten und Gymnasien, in: A. Buck (Ed.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte I (15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskmpfe), Mnchen 1996, 205. Vgl. M. Kintzinger, Die Artisten im Streit der Fakultten. Vom Nutzen der Wissenschaft zwischen Mittelalter und Moderne, Jahrbuch fr Universittsgeschichte 4 (2001), 177 – 194. 54 Vorarbeiten zum zweiten Abschnitt, Akad.-Ausg. XXIII, 461. 55 Chr. Wolff, Ausfhrliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, Frankfurt 21733, 533 (§ 193), 540 (§ 193): „Wenn man (…) die Theile der Welt-Weisheit nur berhaupt ansiehet und dabey voraus setzet, daß sie auf gehçrige Weise abgehandelt worden; so kan niemand in Abrede seyn, daß einer in den hçheren Facultten viel besser zu rechte kommen kan, wenn er sich vorher in der Welt-Weisheit umgesehen und durch diese zu den hçheren Facultten zubereitet worden.“

13.3 Die Philosophische Fakultt, der Forschungsbegriff und die Philosophie 275

Wahrheitsidee wird nicht nur eine Bildungs-, sondern auch eine berufliche Ausbildungsidee.56 Das bedeutet auch, daß es um die Philosophie selbst, die der Philosophischen Fakultt ihren Namen gab, einsam wird. Das historische Interesse – nicht in seiner systematischen Form bei Kant, sondern in Form der historischen Wissenschaften und ihrer ,historistischen Wirkung auf andere Wissenschaftsformen – bemchtigt sich auch des Vernunftinteresses (im Sinne Kants), also auch des Interesses der Philosophie im engeren Sinne, das sich am Ende selbst mehr oder weniger in ein historisches Interesse verwandelt. Es entsteht ein Philosophiebegriff, der der Begriff der Philosophiegeschichte bzw. der Philosophiegeschichtsschreibung ist. Philosophie wird zur Geisteswissenschaft. Und noch etwas. Auch der Forschungsbegriff der Philosophie, den Kant in der gesamten Philosophischen Fakultt wirksam sehen wollte, wird blaß. Dieser war eng mit dem Wahrheitsbegriff, nicht mit dem Ntzlichkeitsbegriff der anderen Fakultten, verbunden. Die Geisteswissenschaften, allen voran die historischen und philologischen Wissenschaften, verlieren ihn aus dem Auge, d. h., ihnen geht der systematische Anspruch, der sich bei Kant mit dem Begriff des Philosophischen verband, verloren. Und auch der theoretische Anspruch, der sich in Hegels Begriff des objektiven Geistes und dem Auftrag seiner Erforschung in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck bringt und diesem Auftrag die Kçnigsrolle in einer Philosophischen Fakultt zuspielt, wird nicht wahrgenommen. Die einsetzende Konjunktur und der durchschlagende Erfolg zumal der Altertumswissenschaften, die wiederum auf das Selbstverstndnis der Universitt insgesamt zurckwirken, berspielen alles und lassen Kants Theorie der Philosophischen Fakultt und deren idealistische Programmfassungen bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund treten. Nicht ganz. Das macht in diesem Falle der Forschungsbegriff Humboldts in seiner schon erwhnten charakteristischen Verbindung mit einem Bildungsbegriff, die wiederum der philosophischen Konzeption Kants nahebleibt, deutlich: „Nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden,

56 Vgl. P. Lundgreen, Examina und Ttigkeitsfelder fr Absolventen der Philosophischen Fakultt. Berufskonstruktion und Professionalisierung im 19. Jahrhundert, in: R. Chr. Schwinges (Ed.), Artisten und Philosophen, 319 – 334.

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

sondern um Charakter und Handeln zu thun.“57 Daß mit der Philosophischen Fakultt nunmehr die Geisteswissenschaften in den Vordergrund treten, ist so gesehen kein Zufall. Entspricht doch deren Wissenschaftsauffassung (bis heute) weitgehend einem Forschungsbegriff, der das forschende Subjekt, nach Humboldt auch im praktischen, d. h. im Vernunftsinne, nicht die forschende Einrichtung in den Blick nimmt bzw. mit diesem identifiziert. So verstanden ist denn auch eine Bildungsintention der Wissenschaft nichts Fremdes – Stichwort: Bildung durch Wissenschaft –, sondern im Forschungs- und Wissenschaftsbegriff Kants und Humboldts von vornherein angelegt – nur daß der eine (Kant) dabei den systematischen Primat der Philosophie, der andere (Humboldt) die organisatorische Aufgabe, d. h. die Aufgabe der Institutionalisierung einer ,philosophischen Universitt, betont. Der Streit der Fakultten ist nicht nur ein Streit um den Wahrheitsbegriff, sondern auch ein Streit um den Forschungsbegriff. Auch das wird hufig bersehen, wenn es darum geht, die wissenschaftstheoretischen und die institutionellen Dinge zwischen den Fakultten wieder zurechtzurcken. Doch es geht noch um mehr, nmlich um den Forschungsbegriff selbst. Whrend dieser bei Kant und in der Philosophie des Deutschen Idealismus, wie dargestellt, eng mit dem forschenden Subjekt verbunden ist, lçst sich im Zuge der weiteren Entwicklung eben diese Verbindung zunehmend auf. Aus forschender Wahrheitssuche, die Teil des Selbstverstndnisses des Wissenschaftlers ist und diesen allererst zum Forscher macht, wird Forschung als Betrieb, nmlich zu einem organisierbaren Prozeß, hinter dem der Wissenschaftler selbst verschwindet.58 Aus dem forschenden Subjekt wird ,die Forschung, institutionalisiert und entindividualisiert in ,Forschungseinrichtungen, als die sich immer weniger die Universitten, wegen der Dominanz ihres Lehrauftrags, als vielmehr eigens zu diesem Zweck gegrndete, vor allem naturwissenschaftlich-technologisch ausgerichtete Institutionen darzustellen wissen. Aus Forschung als Lebensform wird Forschung als Betrieb. Insofern ist aber auch der Forschungsbegriff der Geisteswissenschaften nicht nur ein anderer als der der Naturwissenschaften (und unter empirischen Methodenidealen der der Sozialwissen57 W. v. Humboldt, ber die innere und ußere Organisation der hçheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, Ges. Schriften X, 253. 58 Vgl. H. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universitt – Tradition und Ideologie, in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewhlte Beitrge zur Kultursoziologie, Dsseldorf/Kçln 1966, 121 – 142; H. Schndelbach, a.a.O., 41 f..

13.3 Die Philosophische Fakultt, der Forschungsbegriff und die Philosophie 277

schaften), sondern der eigentlich ursprngliche Begriff. Die Geisteswissenschaften haben sich bis heute eine Erinnerung an diesen Forschungsbegriff bewahrt, sie praktizieren ihn in gewisser Weise auch, aber sie haben ihn zugleich historisiert, indem sie ihm seine Wahrheitsidee und damit im Sinne Kants seinen systematischen Kern genommen haben. Deshalb ruht auch der Streit der Fakultten, der doch nach Kant notwendig ist, weil es um Wahrheit geht, und unbeendbar, weil Wahrheit eine unendliche Aufgabe ist. Schlußbemerkung Der Aufstieg der Geisteswissenschaften im Zuge der Humboldtschen Universittsreform und der sie begleitenden idealistischen Bildungsphilosophie ist auf eine paradox anmutende Weise der Anfang ihres Niedergangs. Die interne Konkurrenz mit den Naturwissenschaften in einer Philosophischen Fakultt neuer Art geht schlecht fr sie aus. Die Naturwissenschaften ziehen davon – und der Wissenschaftsbegriff zieht mit ihnen. Auf einmal ist niemand mehr da, der, wie zuvor Kant, beide, die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften, in einem Begriff (und in einem Kopf) zusammenhalten konnte. Oder anders formuliert: Der (nach Fchern und Themen stetig wachsende) Reichtum der Geisteswissenschaften zahlt sich nicht aus; der Preis, den die Geisteswissenschaften mit ihrem unklaren Wissenschaftsbegriff zahlen, ist zu hoch. Er fhrt direkt in die Schwierigkeiten, die die Geisteswissenschaften heute mit dem Wissenschaftssystem und mit sich selbst haben. Am unglcklichsten aber steht die Philosophie da. Ausgerechnet diejenige Disziplin, der Kant mit guten Grnden die fhrende Rolle nicht nur in der nach ihr benannten Fakultt, der Philosophischen, sondern auch in der Universitt allgemein zugedacht hatte, gert an den Rand der Universittsentwicklung. Die heutige Krise der Geisteswissenschaften ist auch eine Krise der Philosophie. Oder, wie schon gesagt: Die Philosophie arrangiert sich, ihnen ohnehin institutionell zugeschlagen, mit den Geisteswissenschaften, bernimmt deren methodische Orientierung, d. h. historische, philologische und hermeneutische Methodenideale, und wird auf diese Weise zum unglcklichen Bewußtsein, d. h. zu einem philosophischen Bewußtsein, das seine ursprngliche Identitt nicht festzuhalten, ja nicht einmal mehr wahrzunehmen vermag. In ihr herrscht nun der Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung; die Universitt wird zur

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13. Der Streit der Fakultten und die Philosophie

Lehr- und Forschungsanstalt ohne oder allenfalls mit einer marginalisierten Philosophie. Die Fackel, die die Philosophie nach Kant nicht nur der Theologie voraustragen sollte, gibt nur noch wenig Licht. Vielleicht sollten wir sie wieder anfachen; nicht um zu herrschen – das sollte die Philosophie auch nach Kant nicht –, sondern um der Orientierung fr Wissenschaft und Universitt willen. Zumindest der derzeitige Ruf nach ethischer Orientierung im professionellen, philosophischen Sinne, in einer Situation, in der die Naturwissenschaften ihre volle Macht in der Gesellschaft entfalten, lßt erkennen, daß die orientierende Aufgabe der Philosophie nicht beendet ist und es mçglicherweise noch immer lohnt, dem Streit der Fakultten, der heute aus wesentlich banaleren, z. B. çkonomischen, Grnden in der Universitt doch nicht ganz erloschen ist, einen systematischen, und das heißt immer auch: einen philosophischen Sinn zu geben. Der alternde Kant, soeben emeritiert, griesgrmig, wenn auch ironisch verbrmt, auf die universitren Verhltnisse zurckblickend? Weit gefehlt.

14. Wenn das Denken nicht mehr will oder: Kant, das Wissen und die Medien Wenn der Verstand mit seiner Unterscheidung zwischen Dingen als Erscheinung und Dingen an sich nicht mehr zurechtkommt und es mit dem begrifflichen und methodischen Denken abwrts geht, schlgt die Stunde der Oberflchenmetaphysik und der Medienphilosophen. Das Virtuelle wird zur Erlçsungsformel, wo das Reale seine Faszination verliert und keine Entdeckungen mehr verspricht. Kants Metaphysikkritik wird auf den Kopf gestellt, indem eine Logik des Scheins zum intellektuellen Selbstzweck und alles Begriffliche und Methodische zur Metaphysik erklrt wird. Eine Medienkritik in Kants Geiste. Das Wissen hat es heute, obgleich alle Welt vom (wnschenswerten) Werden einer Informations- oder gar einer Wissensgesellschaft spricht, schwer. Die Vorstellung, eben diese Stichworte fhrten in eine neue Ernsthaftigkeit, mit der wir uns um begrndetes Wissen, Erkenntnis und belastbare Einsichten bemhten, fhrt selbst in die Irre. Es sind ganz andere Stichworte, auf die die Welt (in bewegten Zeiten) zu hçren scheint. Zum Beispiel Beschleunigung, die alle Prozesse, nicht nur die des Lebens, sondern auch die der Wissensbildung, der Wissensvermittlung und des Wissenskonsums, erfasse. Zum Beispiel Wechsel, von dem gesagt wird, daß er das einzig Bestndige sei. Zum Beispiel Innovation, zu der es, im Wirtschaftlichen wie im Kulturellen, keine Alternativen gebe, auch nicht das Bewhrte. Zum Beispiel Flexibilitt, ein fortwhrendes BumchenBumchen-wechsle-dich, auf das eigene Selbstverstndnis bezogen, und die chamleonartige Sucht, niemals der gleiche zu sein. Schließlich Information selbst, die an die Stelle des Wissens zu treten scheint, immer in beschleunigter Bewegung begriffen, den Wechsel auf Knopfdruck bereitstellend, Innovation ohne Ende versprechend, Flexibilitt in Reinkultur. Wer da noch mit Wissen im alten Sinne daherkommt, auf Demonstration, Ordnung und Begrndung bestehend, erscheint ganz schçn alt, als ein Bewohner Europas, das die Zeit anzuhalten sucht, das sich in vergangenen Strken spiegelt und in dem die Stiere nicht mehr tragen.

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14. Kant, das Wissen und die Medien

Was ist los mit einer Rhetorik, die auf Wissen pocht und es im Meer der Information gefunden zu haben glaubt? Einer Rhetorik, die Erkenntnis dort sucht, wo nichts mehr feststeht, und gerade die Auflçsung alles Erkenntnishaften fr die einzig bleibende Erkenntnis hlt. Einer Rhetorik, die sich wie im Reigen der Moden um sich selber dreht, eitel, selbstverliebt, postmodern, ohne recht zu wissen, was dieses selbstverordnete Verlassen der Moderne eigentlich bedeutet. Einer Rhetorik, die Manager statt in die Universitten in Selbsterfahrungskurse (etwa mit illustren Bergsteigern als neuen Mrchentanten) treibt. Einer Rhetorik, die das Internet, das Netz aller Netze, zum neuen Gçtzen erhebt und den Bibliotheken die Mittel entzieht. Was, so die bange Frage, htte Immanuel Kant dazu gesagt, der Alte aus Kçnigsberg, der mit seiner Kritik der reinen Vernunft dem Wissen und mit diesem der Selbstbestimmung des Menschen eine Bresche schlug, durch die wir immer noch gehen, heute allerdings mit einer ungewissen Zukunft vor Augen – auch in erkenntnistheoretischen und anthropologischen Dingen. Davon soll im Folgenden die Rede sein – von Kant und Kçnigsberg, vom Denken und von Aufklrung, von der unbedachten Lust am Virtuellen und vom Wissensbegriff der Informationsgesellschaft, die auch eine Mediengesellschaft ist.

14.1 Kants Kçnigsberg Kant und das Wissen – das ist im Philosophischen immer ein Volltreffer; Kant und die Medien – da ist, so frchte ich, nicht viel zu erzhlen. Kant kannte nur ein Medium, das Buch, und zum Schatz der Bcher steuerte er, mit seinen großen Kritiken, aber nicht nur mit diesen, Kostbares bei. Vielleicht htte er, wenn er heute leben wrde, die Nachrichten der ARD gesehen – schließlich lehrte er in seinen politischen Schriften die Weltbrgerschaft –, darber hinaus allenfalls noch Arte. Kino wre sicher nicht infrage gekommen – dazu hatte er alles Nçtige in der transzendentalen Dialektik der „Kritik der reinen Vernunft“ gesagt, als er von der ,Logik des Scheins sprach –, und elektronische Medien wren ihm, allein schon wegen der Undurchschaubarkeit dessen, was in Hard- und Software wirklich passiert, ein Greuel gewesen. Auch mit seiner hartnckigen Frage nach Bedingungen der Mçglichkeit wre er hier, gerichtet an die Konstrukteure dieses Mediums, vermutlich nicht sehr weit gekommen. Doch wer weiß, vielleicht htte er tatschlich das Internet benutzt, zumindest der physischen Geographie wegen, ber die er schrieb und ber die er als erster Hochschullehrer in Deutschland las. Trotzdem, Kant surfend – eine bizarre

14.1 Kants Kçnigsberg

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Vorstellung. Und Kant reisend, um auf diese Weise das Fehlen geeigneter, in die Ferne fhrender Medien auszugleichen, auch. Mçglicherweise ist Kant in diesem Punkte der Devise gefolgt: Wohin das Denken reicht, dahin muß man nicht auch noch reisen (heute reist man gelegentlich, wenn es mit dem Denken aus ist). Tatschlich war Kants verwegenster Reiseplan ein solcher nach England, in das Land David Humes, mit dessen Philosophie er sich intensiv befaßte. Hume hat ihn nach eigenem Bekunden aus einem ,dogmatischen Schlummer gerissen.1 Das reichte. Mit den Gedanken war er bei Hume und dem Problem der Kausalitt, mit Kçrper und Sinnen an seinem Stehpult in Kçnigsberg. Der Plan wurde nie ausgefhrt. ber Judtschen, Großarnsdorf, Goldap, Wohnsdorf, Braunsberg und Pillau, allesamt ostpreußische Gemeinden, meist nur wenige Meilen von Kçnigsberg entfernt, kam Kant zeit seines Lebens nicht hinaus.2 Schon eine Reise an das Haff gehçrt, ebenso wie der Englandplan, eher in das Reich der Trume als in das Fahrtenbuch Kants. Daran mçgen im brigen auch die Rufe Kants nach Erlangen (1769) und Jena (1770) gescheitert sein.3 Kant selbst schreibt denn auch in seiner „Anthropologie“ (1798), zugleich die Bedeutung Kçnigsbergs hervorhebend: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universitt (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Lndern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begnstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Kçnigsberg am Pregelflusse, kann schon fr einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; wo 1 2 3

Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (1783), Vorwort, Akad.-Ausg. IV, 260 (Werke III, 118). Kant auf Reisen: http://www.uni-marburg.de/kant/webseiten/bio_reis.htm Als Kant den Ruf nach Erlangen ablehnt, macht er eine ,schwchliche Leibesbeschaffenheit, aber auch ein ,Gemth geltend, „was zu Vernderungen unentschlossen ist“, Brief vom 15. 12. 1796 an S. G. Sckow, Professor der Mathematik und Physik in Erlangen und Promotor der Berufung Kants, Akad.-Ausg. X, 83 (Brief Nr. 47). Vgl. M. Forschner/M. Riedel/Chr. Thiel, Philosophie in Erlangen, in: H. Kçssler (Ed.), 250 Jahre Friedrich-Alexander Universitt ErlangenNrnberg. Festschrift, Erlangen 1993 (Erlanger Forschungen. Sonderreihe 4), 422 ff.. Auch die Leibniz-Akademie in Berlin, die zu Kants Zeit Kçnigliche Akademie der Wissenschaften (seit 1746: Acadmie Royale des Sciences et Belles-Lettres) hieß und deren (auswrtiges) Mitglied er 1786 wurde, hat Kant nie betreten.

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14. Kant, das Wissen und die Medien

diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“4 Welt- und Menschenkenntnis ohne zu reisen – Kant kommt es in aller Bescheidenheit (sicher auch, hinsichtlich seiner nicht sonderlich ausgeprgten Reiselust, in kompensatorischem Interesse) auf das Exemplarische, nicht auf reisende Empirie an, und dies selbst in anthropologischen Dingen (worin sich auch eine philosophische Anthropologie von einer historischen unterscheiden mag). Kant war gewiß ein Reisemuffel; verglichen etwa mit Leibniz, der, wie spter Goethe, stndig unterwegs war, nicht nur in Gedanken, sondern in zugigen und rttelnden Kutschen, stndig an seinem Nachlaß schreibend. Und das macht wohl den Unterschied zwischen diesen beiden, sich im Philosophischen und Wissenschaftlichen so nahestehenden Denkern, zwischen Kant und Leibniz, aus: Seßhaftigkeit fçrdert große Werke, vor allem deren Ausfhrung, Umtriebigkeit fllt die Archive und ernhrt die Herausgeber. Hinzu tritt im Falle Kants die Ordnungsliebe und der Hang zur Pedanterie. Dabei ist der Abstand zwischen Ordnung und Pedanterie keineswegs so groß, wie ihn sich alle Ordentlichen wnschen. Wo aus dem Gedanken eine Ordnung, dann meist nicht nur im Denken, sondern auch im Leben, wird, werden die Spielrume, die das Leben sonstwie bietet, enger, winkt dem Philosophen das System. Soweit ist es bei Kant allerdings nie gekommen. Vielleicht gerade weil er im Leben ein Pedant war, hielt er sich die Spielrume des Denkens offen, dachte er wohl ber die Grenzen der Vernunft nach, doch nicht, um deren Schwche zu beweisen, sondern um vom Vernnftigen das Unvernnftige, das er in allem Spekulativen am Werke sah, fernzuhalten. Tatschlich steht die Spekulation einem Denken in Systemen nher als ein kritisches Denken, dessen eigentliches philosophisches Paradigma noch immer Kants Denken ist. Doch zurck zum Stichwort Wissen und Medien und zu Kants Kçnigsberg. Im 18. Jahrhundert findet nicht nur bezogen auf Philosophie und Wissenschaft eine Revolution statt, insofern sich ein neuer Wissensbegriff und eine neue Form der Naturforschung endgltig an die Stelle lterer Wissensformen setzen und diese Vernderung auch erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisch ratifiziert wird (am eindrucksvollsten wiederum bei Kant), sondern auch eine gesellschaftliche Revolution, unter anderem, neben neuen Rechtsformen, greifbar im Begriff der brgerlichen ffent4

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt, Akad.-Ausg. VII, 120 f. (Anm.) (Werke VI, 400). Vgl. E. Weigl, Schaupltze der deutschen Aufklrung. Ein Stdterundgang, Hamburg 1997, 151 ff..

14.1 Kants Kçnigsberg

283

lichkeit als neuer Dimension gesellschaftlicher Kommunikation.5 Sie ist gekennzeichnet dadurch, „daß sie auf dem ,Richterstuhl der Vernunft Platz nahm, d. h. einen kritisch rsonierenden Diskurs fhrte, der sich auf alle Gegenstnde des Denkens und Handelns erstreckte und auch vor der Sphre der politischen Herrschaft nicht halt machte“6. Und weiter: „Die Parallele zwischen der kommunikativen Verflechtung der ffentlichkeit (durch das Medium des Drucks) und der wirtschaftlichen Verflechtung des Marktes (durch das Medium des Geldes) ist augenscheinlich. Schon die Zeitgenossen haben das zum Ausdruck gebracht, indem sie vom ,marketplace of ideas sprachen: Wie Waren, so wurden nun auch Ideen ausgetauscht, und von dem mçglichst ungehinderten Zirkulieren versprach man sich Wohlfahrt und Fortschritt. ,Marktplatz der Ideen ist aber auch ganz wçrtlich zu verstehen: Ideen wurden nun ihrerseits buchstblich zur Ware, zum Gegenstand des Marktes. Literarische und knstlerische Hervorbringungen – nicht nur Bcher, sondern auch Bilder, Musik- und Theaterauffhrungen – wurden nun in hçherem Maße als je zuvor zu Konsumgtern fr das (vor allem, aber nicht ausschließlich brgerliche) Publikum. Auktionshuser und Gemldegalerien, erste çffentliche Konzerthuser und Theater, Leihbibliotheken und Kunsthandlungen bedienten eine wachsende Nachfrage nach ,Kulturkonsum. Ein neuer sozialer Typus bildete sich heraus: der gebildete Mann (und die Frau) von Geschmack, der ber den notwendigen Wohlstand und hinreichende Bildung verfgte, um die schçnen Knste zu genießen, ohne aber einem bestimmten Stand angehçren zu mssen.“7 Diese frohe Botschaft klingt auch nach Kçnigsberg durch und fhrt dort zu einer Kulturblte, in der sich alle hier genannten Elemente brgerlicher ffentlichkeit wiederfinden. Kçnigsberg war zu Kants Zeiten das kulturelle Zentrum Ostpreußens, zugleich ein Zentrum der deutschen Aufklrung mit großem Einfluß von Riga ber Dorpat bis St. Petersburg und weit nach Rußland hinein, vergleichbar dem Einfluß Danzigs und Thorns in Westpreußen.8 Die Universitt (1544, hervorgehend aus einem Partikular, d. h. einer auf ein Studium vorbereitenden Schule, gegrndet) bildete, obgleich nicht zu den fhrenden deutschen Universitten gehç5 6 7 8

Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der brgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, Frankfurt 82002. B. Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklrung, Stuttgart 2000, 116. Ebd. Vgl. H. Rietz, Die Kultur West- und Ostpreußens in den Jahren 1772 bis 1815, in: H. Ischreyt (Ed.), Kçnigsberg und Riga, Tbingen 1995, 1 – 7.

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14. Kant, das Wissen und die Medien

rend, einen großen Anziehungspunkt – nicht zuletzt dank Kants Wirken –, die Elementar- und hçheren Schulen genossen einen guten Ruf, auch unter reformerischen Gesichtspunkten: 1810 wurde aus dem Collegium Fridericianum das erste staatliche Gymnasium; das Verlagswesen und der Buchhandel, z. B. mit dem Verleger und Buchhndler Johann Jakob Kanter, dem Verleger Kants und zeitweilig dessen Vermieter (1766 – 1777)9, blhten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstrkt sich die Rolle Kçnigsbergs als west- und ostpreußisches Kulturzentrum: „Hier befanden sich die Universitt, die hçheren Schulen, die ,deutsche Gesellschaft (d. h. die „Kçniglich Teutsche Gesellschaft“ zur Pflege der deutschen Sprache und Literatur, Verf.) und die ,Physikalisch-Oekonomische Gesellschaft; hier bildeten die Universittsprofessoren, Gymnasiallehrer, Buchhndler und Knstler ein geistiges Potential, das durch den großen Kreis gebildeter Beamten, Kaufleute und Offiziere, die sich als Laien in Knsten und Wissenschaften versuchten, ergnzt wurde.“10 Teil dieses Potentials war auch das Zeitungswesen, obwohl der Staat Friedrichs des Großen zu den an Zeitungen rmsten Deutschlands gehçrte11, immerhin mit einer Tageszeitung, damals sehr selten, nmlich der „Berlinischen privilegirten Zeitung“ in Berlin. Dagegen blhten auch in Preußen, vor allem von Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkçnig, gefçrdert, die so genannten Intelligenzbltter. Auf Anordnung des Kçnigs (1736) hatten die Professoren an Preußischen Universitten in belehrender und unterhaltender Absicht in diesen Blttern zu schreiben. Die Anordnung verfehlte zwar ihr Ziel, die Bildung des Volkes zu fçrdern – das hielt sich eher an die Nachrichtenpresse –, fhrte aber immerhin zu denkwrdigen Beitrgen Kants in der „Berlinischen Monatsschrift“, unter diesen die Aufstze „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht“ (November 1784) und „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (Januar 1786), vor allem aber der Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?“ (Dezember 1784). 1764 hatte Kant bereits in den im gleichen Jahr gegrndeten „Kçnigsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen“ den „Versuch ber die Krankheiten des Kopfes“ 9 Vgl. W. Stark, Wo lehrte Kant? Recherchen zu Kants Kçnigsberger Wohnungen, in: J. Kohnen (Ed.), Kçnigsberg. Beitrge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt etc. 1994, 81 – 110. 10 H. Rietz, a.a.O., 6 f.. 11 Dazu M. Welke, Das Pressewesen, in: J. Ziechmann (Ed.), Panorama der Fridericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche. Ein Handbuch, Bremen 1985, 424 – 436 (§ 38).

14.2 Aufklrung

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(anonym in vier Teilen) verçffentlicht; 1759 scheint er sich selbst mit dem Gedanken, eine Zeitschrift zu grnden, getragen zu haben.12

14.2 Aufklrung Das Buch, die Zeitschrift – das waren fr Kant die Medien, in denen Erkenntnisse, Produkte des Denkens, nicht nur vorgetragen, sondern auch praktisch werden sollten, praktisch in einem aufklrerischen, das Denken selbst und das Leben orientierenden Sinne. Es geht hier um das Wissen (auf das sich unsere Zeit so viel einbildet) und um das Praktischwerden des Wissens (nicht nur im Anwendungssinne, wie heute im Begriff der Wissensgesellschaft ins Auge gefaßt, sondern auch in einem moralischen Sinne). Eben dies besagt auch Kants großartige, andauernd aktuelle Bestimmung der Aufklrung in der Beantwortung der Frage, was sie sei: „Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermçgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“13 Diese Bestimmung richtet sich an das Subjekt und fordert es auf, sich im Denken und durch das Denken zu orientieren, und sie besagt, noch einmal mit anderen Worten, „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“14. Sie wendet sich gegen die Berufung auf fremde Autoritten, die nicht durch ,allgemeine Grundstze des Vernunftgebrauchs legitimiert sind, aber auch gegen eine Berufung auf eigene Autoritt, fr die das gleiche gilt.

12 Vgl. A. Pupi, Die Anfnge der „Kçnigsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen (Februar – Mai 1764)“, in: J. Kohnen (Ed.), Kçnigsberg (oben Anm. 9), 21 – 54. 13 Akad.-Ausg. VIII, 35 (Werke VI, 53). Vgl. zum Folgenden J. Mittelstraß, Kant und die Dialektik der Aufklrung, in: J. Schmidt (Ed.), Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 341 – 360; in diesem Band Kapitel 12. 14 I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), Akad.-Ausg. VIII, 146 f. (Anm.) (Werke III, 283).

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Autonomie im Sinne einer vernnftigen Selbstndigkeit (des Zieles aller philosophischen Aufklrung) realisiert nach Kant nur ein Denken, das sich weder auf fremde noch auf eigene Autoritt beruft, das das fremde Denken nicht an die Stelle des eigenen Denkens setzt, aber sich auch nicht selbst an die Stelle des anderen setzt, sondern mit diesem gemeinsam die Vernunftstelle zu finden sucht.15 Dies ist nach Kant die eigentliche Aufgabe eines ,aufgeklrten Zeitalters, wobei allerdings die Vermittlung subjektiver vernnftiger Selbstndigkeit mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch unreflektiert bleibt – fr Kant schien diese Vermittlung im aufgeklrten Absolutismus bereits teilweise realisiert. Dafr steht allerdings auch eine andere Unterscheidung, mit der sich Kant selbst und seiner Bestimmung von Aufklrung im Wege steht. Er unterscheidet nmlich – wie vor ihm, in derselben Zeitschrift, Moses Mendelssohn16, ohne dessen Beitrag zu kennen – zwischen einem ,çffentlichen und einem ,privaten Vernunftgebrauch. Mit Aufklrung ist hier die Freiheit gemeint, „von seiner Vernunft in allen Stcken çffentlichen Gebrauch zu machen“17, der Gebrauch „den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der Leserwelt macht“18. Dieser Gebrauch muß nach Kant uneingeschrnkt gewhrleistet sein, nicht dagegen der ,private Gebrauch der Vernunft, d. h. (abweichend vom heutigen Sprachgebrauch) der Vernunftgebrauch in einem ,brgerlichen Posten oder Amte. Hier ist es nach Kant „nicht erlaubt, zu rsonniren“19. Der Obrigkeitsstaat lßt grßen. Das Gebot der çffentlichen Ordnung, das Kant durch einen allzu freien ,Privatgebrauch der Vernunft gefhrdet sieht, verschließt der Aufklrung den Mund. Diese spricht (im çffentlichen Gebrauch) nur in Form ,gelehrter Anmerkungen20. Damit steht aber Kants Unterscheidung quer zu einer Bestimmung der Aufklrung, die sich gegen jede Form der ,Gngelung des Verstandes und der Vernunft richtet. Die Wahrheit, eine Kçnigsberger Wahrheit, macht 15 Vgl. J. Mittelstraß, Versuch ber den Sokratischen Dialog, in: ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden ber philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universitt, Frankfurt 1982, 148 ff.. 16 M. Mendelssohn, ber die Frage: was heißt aufklren?, Berlinische Monatsschrift, September 1784, 196 f. (,Bestimmung des Menschen als Mensch, die Aufklrung erfordere, und ,Bestimmung des Menschen als Brger, die Aufklrung nur bedingt zulasse). 17 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, a.a.O., 36 (Werke VI, 55). 18 A.a.O., 37 (Werke VI, 55). 19 Ebd. 20 Ebd.

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sich auf den Weg, schlgt aber – sei es aus Vorsicht, sei es aus politischer berzeugung, sei es aus realistischen Grnden – eine recht langsame Gangart ein. Realistisch drfte in jedem Falle die Feststellung sein, daß Aufklrung „zwar in thesi leicht, in hypothesi aber eine schwere und langsam auszufhrende Sache“21 sei. Das ist, wie wir gleich sehen werden, auch heute noch so, wenngleich aus anderen Grnden. Die fhren uns zurck zu den Stichworten Denken und Medien und gleich zu einem Zauberwort, von dem Kant noch gar nichts wußte, und das er, wenn er es gewußt htte, entweder dem Transzendenten, dem ,Denken und Dichten22, oder dem Imaginren, der ,leeren Anschauung23, zugeordnet htte, dem Virtuellen.

14.3 Virtuelle Fiebertrume Wo heute vom Erkennen und Begreifen die Rede ist, stellt sich alsbald der Begriff der Virtualitt ein. Aus den Computerwelten der 1980er Jahre sind in der Sprache der Informations- und Medienwissenschaftler Cyberspace und virtuelle Realitt geworden. Virtuelle Realitt nimmt Einzug in revolutionre Konstruktionsverfahren und Trainingsprogramme, ins Bibliothekswesen (,virtuelle Bibliothek) und in die konomie (,virtuelle Mrkte), aber leider auch in die Kçpfe von Medientheoretikern und Modephilosophen, die sich als Erkenntnistheoretiker versuchen. Einer dieser modernen Wahrsager, der in nchterneren Umgebungen den Wunsch nach einem neuen Kant dringlich werden lßt, ist der tschechische Medientheoretiker Vilm Flusser, von den Medienwissenschaftlern schon wie ein Heiliger verehrt. Zitiert wird er meist mit den Stzen: „Es hat doch gar keinen Sinn, die Welt, so wie sie ist, noch einmal zu simulieren. Uns ist es doch schon schlecht von dieser Welt. Wir mssen Welten schaffen, die virtueller sind als die Welt, in der wir leben. Das Begeisternde ist nicht das, was wir sehen, sondern das, was wir hinter dem uns Sichtbaren wittern.“24 Das mag ja so sein, doch geht unser Autor noch einen Schritt weiter und erklrt kurzerhand alles zum Virtuellen: „Auch das Hier und Jetzt ist virtuell. Dieser Stuhl hier ist ein Teil der wahrgenommenen Welt. Fr einen naiven Realisten ist er wirklich, obwohl er doch gelernt hat, daß er ein 21 22 23 24

I. Kant, Kritik der Urteilskraft B 158 Anm. (Akad.-Ausg. V, 294 [Werke V, 390]). Kritik der reinen Vernunft B 497. Kritik der reinen Vernunft B 347 f.. V. Flusser, Vom Virtuellen, in: F. Rçtzer/P. Weibel (Eds.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, Mnchen 1993, 71.

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Haufen schwirrender Teilchen ist. Wieso wird diese Virtualitt fr wahr angenommen?“25 Weil wir, so Flusser, eben doch naive Realisten sind, d. h., weil wir fr real halten, was uns die Sinne zeigen, und fr virtuell, was sie uns nicht zeigen. Doch damit nicht genug: die Realitt ist nicht nur in Wahrheit Virtualitt, sie ist nach Flusser auch noch „schlecht komputiert und nicht besonders gut“26. Kein gutes Zeugnis also fr einen Schçpfer, der hier als ein schwacher Rechner erscheint. Außerdem sind wir ihm, zumindest in Sachen virtuelle Realitt, ebenbrtig: „Kurz und gut, wir sind darauf gekommen, daß der ,Schçpfer nur eine unter vielen Virtualitten des Raums geschaffen hat, und jetzt machen wir es ihm nach und schaffen andere. Dadurch haben wir uns abgesetzt und sind zu unserem eigenen Autor geworden. Gott ist also ein virtueller Raumerzeuger und jetzt kommen andere (Gçtter).“27 Mit dem Gçttlichen und Himmlischen scheinen es unsere Medientheoretiker ohnehin zu haben. Ein weiteres Beispiel: „Die himmlische Welt der Engel (wird) zum Bereich der virtuellen Welten, dank derer sich die Menschen als intelligente Kollektive konstituieren. Der ttige Intellekt wird zum Ausdruck, zum Raum der Navigation, Kommunikation und Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedern einer kollektiven Intelligenz.“28 Und weiter: „Es handelt sich zwar noch immer darum, das Menschliche dem Gçttlichen anzunhern (…), aber diesmal sind es reale, greifbare menschliche Kollektive, die gemeinsam ihre Himmel konstruieren, die ihr Licht aus Gedanken und Schçpfungen beziehen, welche hier unten entstehen. Was theologisch war, wird technologisch.“29 Kein Zweifel, hier gehen dem Autor nicht nur die begrifflichen Gule durch, hier wird auch allem nchternen Nachdenken ber ein mndiges Begreifen der Wirklichkeit, zu der wir auch selbst gehçren, im Namen alles Medialen der Abschied erteilt. Wo der Himmel schon erreicht und die Symbiose mit einer gçttlichen Lebensform nahe scheint, bleiben schließlich nur wenige Wnsche offen, scheint das Leben alles Irdische weit hinter sich gelassen zu haben – allerdings alles Verstndliche wohl auch. Ausgerechnet dort, wo es technisch wird und das Technische in seiner Sprache erklrt sein will, be25 V. Flusser, Cyberspace (Interview), Arch+. Zeitschrift fr Architektur und Stdtebau 111, Heft 3 (Mrz 1992), 34. 26 A.a.O., 36. 27 A.a.O., 35. 28 P. Lvy, Lintelligence collective. Pour une anthropologie du cyberspace, Paris 1995, 101 (dt. Die kollektive Intelligenz. Fr eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim 1997, 106). 29 P. Lvy, a.a.O., 95 – 96 (dt. 100).

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rauscht sich der Verstand an immer neuen, Himmel und Erde beschwçrenden Einfllen. Kant htte wohl, unter Hinweis auf seine Kritik alles Metaphysischen, von neuen Trumen eines Geistersehers gesprochen. Zu diesen Trumen gehçrt heute auch das Mrchen von der Ablçsung der natrlichen durch eine knstliche Intelligenz. Unter Hinweis auf die Fortschritte von Gen- und Informationstechnologie, Robotik und Hirnforschung wird von Medienphilosophen die Ablçsung des Menschen durch die knstliche Intelligenz von Maschinen geweissagt. Der eine meint, der Mensch sei auf dem besten Wege, sich selbst berflssig zu machen30 ; der andere stellt in merkwrdiger Selbstverleugnung fest, daß selbstreproduktive Maschinen ber die erbrmlichen Formen menschlicher Selbstreproduktion und schwcher werdende menschliche Regieformen zu herrschen beginnen31; ein dritter vermutet, daß sich der Mensch nur dadurch gegenber den Robotern wird behaupten kçnnen, daß er selbst zum Roboter wird32. Hier siegt unverdautes Zeug ber jede Differenzierung, ein makabres Feuilleton ber wissenschaftlich informiertes Argumentieren. In Wahrheit sind wir heute, so der Hirnforscher Wolf Singer, „nicht einmal in der Lage, Teile eines Fliegenhirns zu simulieren, geschweige denn die Leistungen einer ganzen Fliege“33. Auch Singer wiederholt in diesem Zusammenhang die ber 200 Jahre alte Frage Kants, ob sich das Bewußtsein, ob sich ein kognitives System berhaupt selbst vollstndig beschreiben kçnne. Unsere Virtualittsfreunde berspringen diese Frage einfach – mit nichts als ihren Phantasien (und gelegentlich handfesten wirtschaftlichen Interessen) in der Hand. Doch auch ohne eine derartige, erkenntnistheoretisch subtile Frage bleibt ein mçgliches KI-Land ein drres Land. Versteht man auch nur ein wenig von einer Turing-Maschine, die das Grundmodell aller programmierbaren Rechner ist, und von deren konstruktiver Einfachheit – sie wurde 1936 von dem Mathematiker und Logiker Alan Mathison Turing zur 30 B. Joy, Warum die Zukunft uns nicht braucht. Die mchtigsten Technologien des 21. Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie – machen den Menschen zur gefhrdeten Art, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 6. 6. 2000, Nr. 130, 49 – 51. 31 R. Kurzweil, Der Code des Goldes, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17. 6. 2000, Nr. 139, 49. 32 R. A. Brooks, Das Fleisch und die Maschine. Wie die neuen Technologien den Menschen verndern werden, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 4. 9. 2000, Nr. 205, 49. 33 W. Singer, Wir bençtigen den neuronalen Code, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 24. 8. 2000, Nr. 196, 51.

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exakten Definition des Begriffes der effektiven Berechenbarkeit entwickelt –, dann kçnnte einem angesichts der anspruchsvollen erkenntnistheoretischen Argumentationen Kants, der kunstvollen Sonette Rilkes oder der scharfsinnigen Aphorismen Lichtenbergs und Nietzsches das Lachen kommen – wenn es einem nicht angesichts der Naivitt, mit der hier ber die Verwandtschaft von Mensch und Maschine bzw. ber die Transformierbarkeit des Menschen in eine Maschine spekuliert wird, im Halse steckenbliebe. Gelegentlich flackert in Sachen Virtualitt selbst in den berlegungen der Medienversessenen so etwas wie Nchternheit, wie die Wahrnehmung einer sich doch aufdrngenden Differenz zwischen Virtualitt und Realitt auf. So heißt es einmal bei Flusser: „Wir kçnnen nicht in ein synthetisches Bild eines Apfels beißen, uns auf ein Hologramm eines Tisches setzen und mit einem synthetischen, bewegten Hologramm eines Menschen kopulieren.“34 Doch die Hoffnung trgt. Im Handumdrehen flchtet sich der Autor, den beschriebenen Umstand bedauernd, ins vermeintlich grenzenlos Machbare: „Technisch ist es – wenn auch nicht unbedingt in naher Zukunft – machbar, eingebildete pfel, in die man hineinbeißen, eingebildete Tische, auf denen man sitzen kann, und eingebildete Menschen, mit denen man kopulieren kann, herzustellen. Und dies um so mehr, als wir ja wissen, daß die angeblich ,gegebene Welt, so wie sie erscheint, eben nicht gegeben ist, sondern auch aus Punktelementen besteht, die unsere Sinne irgendwie zu Wahrnehmbarem komputiert haben.“35 Hier wird es, mit einem auch noch drftigen Aufwand an naturwissenschaftlichen Kenntnissen, philosophisch dnn. Denn daß uns die Welt, erkenntnistheoretisch betrachtet, nicht unmittelbar gegeben ist – wir sehen sie (wie schon bei Kant nachzulesen) durch unsere Unterscheidungen, durch unsere Erfahrungen, durch unsere Theorien –, bedeutet nicht, daß Realitt gleich Virtualitt ist. Das Leben lßt sich nicht in Virtualitt auflçsen, ohne daß man das verlçre, was es ist, nmlich Leben. Erkenntnistheoretisch ist es denn auch so, daß Realitt das ist, was die Welt der Gegenstnde, Zustnde und Ereignisse, auch der durch den Menschen hergestellten Dinge und in Gang gesetzten Entwicklungen ausmacht, im Unterschied zu den ,im Denken oder ,in der Einbildung vorgestellten (,virtuellen) Gegenstnden, Zustnden und Ereignissen. In 34 V. Flusser, Einbildungen, in: ders., Lob der Oberflchlichkeit. Fr eine Phnomenologie der Medien, Bensheim/Dsseldorf 1993 (V. Flusser, Schriften I, ed. St. Bollmann/E. Flusser), 270. 35 Ebd.

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diesem Sinne gilt als Realitt (zugleich erfahrungsnah), was unabhngig von Vorstellungen und Wnschen bzw. den Bedingungen der Wahrnehmung, der Erfahrung und des Denkens besteht bzw. wirklich ist. Damit tritt der Begriff der Realitt in Gegensatz zu dem der Idealitt, der sich auf unsere Konstruktionen (,im Verstande) bezieht. Richtig ist, daß uns die Dinge nie ,an sich gegeben sind, also so, wie sie ohne unsere Unterscheidungen, unsere Erfahrungen, unsere Theorien wren, falsch ist, daß sich deshalb kein Unterschied zwischen Realitt und Idealitt, Realitt und Virtualitt treffen ließe. Doch das sind, wie gesagt, Dinge, die uns, wenn wir sie weiter verfolgten, in schwierige erkenntnistheoretische Probleme – und damit auch wieder zu Kant – fhrten. Das soll hier nicht geschehen (wir befinden uns nicht in einem philosophischen Seminar, und das soll auch virtuell nicht so sein). Aufschlußreich ist an dieser Stelle allein, daß diese Probleme von unseren Virtualittstheoretikern bersehen werden und wohl auch, aufgrund nicht vorhandener Kenntnisse auf diesem Gebiet, gar nicht bedacht werden kçnnen. In diesem Sinne wre der Sachverstand, der hier gleichwohl wortreich beansprucht wird, selbst bloß virtuell. Lßt man hier die neueren Simulationstechniken, auf die sich der (selbst ziemlich unklare) Begriff der virtuellen Realitt bezieht – was soll es, das Virtuelle als real und das Reale als virtuell zu bezeichnen? –, und mit diesem den Begriff Cyberspace, der zu Entdeckungsreisen im Land der virtuellen Realitt einldt, einmal beiseite, so stellen sich die Dinge wiederum eher nchtern dar. Beim Starren auf den Bildschirm stellt sich jedenfalls bei mir keinerlei Virtualitt ein. Im Gegenteil, die Realitt meldet sich aufdringlich zurck: die Augen trnen, der Rcken schmerzt, meist ist ein Fuß eingeschlafen. Und auch mit dem Interaktiven, vermeintlich einem Geschwister des Virtuellen, ist es (noch) nicht weit her. Mhsam verfolgt das Auge einen kleinen Pfeil, der Finger zuckt, im Internet angelangt, und sucht den Pfeil durch aufdringliche Werbung, Kaufangebote, Hinweise auf Sexseiten und anderes Hinderliche zu steuern. Endlich auf der richtigen Seite angelangt, zur Interaktion bereit, strzt einem Plumpes entgegen, Dinge, die das Auge jedes Photographen und Kunstfreundes beleidigen. Kinderkrankheiten, der Preis alles Pionierhaften? Vielleicht, nur wo bleibt auch da die Virtualitt? Die Wirklichkeit, die Realitt beschmt alles Virtuelle, auch hier. Wie die Politik, die nach eigener Aussage den mndigen Brger sucht und meist froh ist, wenn sie ihn nicht findet, jedenfalls nicht in nennenswerter Zahl, so sucht der Bildschirm den Leichtglubigen, einfach Zufriedenzustellenden. Der hat in der Regel seine Antennen auf bloßen Empfang gestellt, hat sein Bewußtsein in zwei, drei Sinne zusam-

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14. Kant, das Wissen und die Medien

mengezogen und fiebert stndig dem, was er schon hat, im bermaße hat, entgegen. Sind wir so arm geworden, daß wir mit so wenig zufriedenzustellen sind? Mit anderen Worten, das, was virtuelle Realitt heißt, befriedigt vor allem den Einugigen, der sich nun in andere Dimensionen trumt, den Bewegungsschwachen, der lieber die Bilder bewegt, als sich selbst zu bewegen, den Grenzgnger zwischen Sinnlichkeit und Analphabetentum. Und diese finden immer wieder ihre Verstrker, ihre Missionare und Propheten unter den Intellektuellen, diese wiederum stndig auf der Flucht vor anstrengenderen Ttigkeiten. Und noch etwas, diesmal zugunsten des Virtuellen, allerdings eines sehr vertrauten: Ist die heute so aufdringliche Liebe zum Virtuellen wirklich so anders, unerhçrter, gegebenenfalls auch besorgniserregender, gefhrlicher, als dies zu anderen Zeiten, unter anderen, vor allem technischen Verhltnissen der Fall war? Was ist mit den Griechen, die mit Gçttern auf gutem (oder schlechtem) Fuß standen, diesen tagtglich zu begegnen glaubten? Etwa in Gestalt von Athene, die kmpft und panischen Schrecken verbreitet, wenn sie ihren Schild mit dem Haupte der Medusa schttelt, oder in Gestalt von Zeus, der Amphitryon wurde, um sich Alkmenes zu bemchtigen, oder, offenkundig auch nur Sex im Sinn habend, zur Abwechslung einmal als Stier Europa entfhrte? Was ist mit „Werthers Leiden“, die eine ganze Generation in ihren Bann zogen und nicht wenige, das virtuelle Leiden mit dem realen verwechselnd, in den Selbstmord trieben? Was ist berhaupt mit der Literatur, z. B. der romantischen, die Generationen in Bann schlug und immer noch schlgt? Ist der Leser nicht von dieser Welt? Ist das Virtuelle nicht ein Teil unserer Kultur? Wie Kultur immer das Reale und das Virtuelle zugleich ist, die Welt, die wir vorfinden und die wir zugleich schaffen – die Welt der Gefhle, der Leidenschaften, aber auch der Ablenkung, des Außersichseins und der tçdlichen Langeweile. Wir mssen das Virtuelle nicht erfinden, um es zu entdecken; es ist immer schon da. Es ist Teil unserer selbst, unserer Erwartungen, Hoffnungen, Selbstwahrnehmungen, Phantasien. Diese fhren uns nicht aus der Welt heraus, sondern in diese hinein, in eine sehr menschliche Welt, die ihre Menschlichkeit gerade verlçre, wenn wir das Virtuelle zugunsten des Realen aus ihr verbannten. Insofern ist denn auch der Idealist, der sich an Ideen orientiert, der wahre Mensch, der Materialist, der nur sieht, was seine Sinne erfassen, dessen rmliche Karikatur. Allerdings kommt es darauf an, das Virtuelle stets mit dem Realen zu verbinden. Wer allein im Virtuellen lebt, kommt darin um. Er verliert alle Bodenhaftung, versteht das Virtuelle, die Welt im Kopf und in den Ideen,

14.4 Informations- und Medienwelten

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nicht als Freund des Realen, sondern als dessen Alternative. Man kann eben auch von eingebildeten Speisen nicht leben, allerdings von Speisen weit besser leben, auf die man einige Phantasie verwendet. Und man liebt auch besser, wenn man die leibhaftige Liebe mit seiner Phantasie verbindet. Wozu auch sonst, wie schon die Alten wußten, eine ars vivendi, eine Kunst zu leben, und eine ars amandi, eine Kunst zu lieben? Das alles ist also nicht lebensfeindlich, sondern im Gegenteil lebensfreundlich, und nicht esoterisch, sondern im Gegenteil hçchst verstndlich und realistisch. Alles Esoterische ist schließlich Ausdruck von Weltflucht und des Unvermçgens, sich mit dem, was ist, kritisch und produktiv auseinanderzusetzen. Die Flucht nach vorne, in Form von science fiction, kçnnte dazu ebenso gehçren wie die Flucht zurck, z. B. in die wiederentdeckten Mysterien des Mittelalters. Allerdings lßt sich hier auch ganz anders, nmlich gutwillig argumentieren: Star Trek, das ist die moderne Welt, wenn sie neugierig trumt, und Harry Potter, das ist der ewige Kampf des Guten gegen das Bçse. Außerdem bleibt die Welt, wie sie ist, immer die Folie, auf der sich andere Welten spiegeln: U.S.S. Enterprise hat stndig Probleme mit dem Antrieb, und in der Welt Harry Potters ist Fußball in der Muggelwelt ebenso beliebt wie Quidditch, der Sport der Zauberwelt, den man auf fliegenden Besen betreibt. Hier geht es nicht, wie in allem Esoterischen und Sektenhaften, um die Flucht aus der eigenen Identitt, sondern um die spielerische, fabulierende Erweiterung einer Welt, in der sich neue Identitten bilden. Das aber ist allemal die Leistung einer sehr weltlichen, diesseitigen Phantasie, einer Virtualitt, die uns nicht vernichtet, sondern die unsere Subjektivitt atmet.

14.4 Informations- und Medienwelten Das Denken bedrngen nicht nur Mythen, die es selbst schafft, z. B. Mythen der Virtualitt, sondern, gewissermaßen von der falschen Seite kommend, auch ein Geschwister des Denkens und allen Wissens: die Information. Dabei gehen die Begriffe des Wissens und der Information hufig (und zunehmend) durcheinander. Begriffliche Arbeit tut Not, und besonders Not tut hier die Arbeit am Begriff der Information.36 36 Ich wiederhole hier einige frhere berlegungen, zuletzt in: J. Mittelstraß, Die Wissensgesellschaft, in: M. Prisching (Ed.), Modelle der Gegenwartsgesellschaft, Wien 2003 (Reihe Sozialethik der sterreichischen Forschungsgemeinschaft 7), 97 – 111.

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14. Kant, das Wissen und die Medien

Information macht dem Wissen und der Gesellschaft Beine, aber sie ist damit noch nicht das bessere Wissen. Das gleiche gilt vom Begriff der Informationsgesellschaft, d. h. von einer Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in der die Erzeugung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Informationen und Wissen in Informationsform einschließlich immer grçßerer technischer Mçglichkeiten der interaktiven Kommunikation eine zunehmend dominante Rolle spielen. Zugleich wird die Welt, die die Informationsgesellschaft besiedelt, zu einer Informationswelt. Diese verspricht heute ein paradiesisches Reich des Wissens ohne mhsame Lernprozesse, auf Kosten der Unterscheidung zwischen Wissen und Information, die in der Symbiose von Bildschirm und Kopf – so recht nach dem Geschmack unserer Virtualittsfreunde – immer blasser wird. So sprechen wir hufig (und unbedacht) von Information, als sei diese schon das ganze Wissen, und bersehen dabei, daß Information nur die Art und Weise ist, wie sich Wissen transportabel macht, also eine Kommunikationsform, keine (selbstndige) Wissensform. Es entsteht der irrefhrende Eindruck, daß sich das Wissen selbst in Informationsform bildet, daß mit dem Informationsbegriff ein neuer Wissensbegriff entstanden ist, und zwar, gegenber lteren Wissensbegriffen, der einzig richtige. Das aber ist semantischer Unsinn. Richtig ist, daß die Information dem Wissen folgt; sie ist weder mit diesem identisch, noch geht sie ihm als eigene Wissensform voraus. Daß Information nicht gleich Wissen ist oder sich problemlos an dessen Stelle setzen kann, wird auch darin deutlich, daß nicht alles Wissen ist, was die Information, auch unter dem Signum des Wissens, transportiert. Ihre Ware ist vielmehr auch der Irrtum, das schlicht Falsche, das Oberflchliche und das Ungeprfte, das Halbgare und das Verdorbene, sogar (immer hufiger) Tuschung und Lge. Das hat sie in diesem Falle mit der Werbung gemein. Denn Werbung verfhrt nicht nur, sie lgt auch. Das wissen (fast) alle. Rauchen ist gesund, suggerieren verwegene Reiter und Karrierefrauen; das Gegenteil ist der Fall. Werbung ist die (gesellschaftliche) Lizenz zum Lgen – weil Trume und Wnsche, die Werbung weckt, nun einmal keinen Wahrheitswert haben. Eine Welt ohne Werbung wre wohl calvinistisch korrekt, aber in ihren Liebschaften steril. Im brigen – und in diesem Falle wiederum vergleichbar mit unserer Informationswelt: Auch das Banale ist nicht fern, wenn das Virtuelle nah ist. Oder anders formuliert: Wir werden uns daran gewçhnen mssen, daß das Informationsnetz (wie die Netze der Werbung) nicht nur der Wahrheit wegen geflochten wird; es ist auch das Kleid, das Dummheit, Ignoranz und vieles andere tragen. In einer Informationswelt treten außerdem an die Stelle eigener

14.4 Informations- und Medienwelten

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Wissensbildungskompetenzen zunehmend Verarbeitungskompetenzen und das Vertrauen darauf, daß die Information ,stimmt. In der Tat macht es wenig Sinn, vor dem Bildschirm den Skeptiker zu spielen (A. Fuhrmann). Informationen muß man glauben, wenn man ihr Wissen, das ber die Information transportierte Wissen, nicht selbst daraufhin prfen kann, ob es wirklich Wissen ist. Eben diese Prfung aber war bisher konstitutiv fr den Begriff der Wissensbildung: Wissen kann man sich nur als Wissender aneignen, Wissen setzt den Wissenden voraus, Wissen heißt lehren kçnnen. Insofern kommt es aber auch darauf an, sehr genau – und sich dabei an Kants Definition der Aufklrung erinnernd – zwischen einem Wissen, das seinen Sitz in einem selbst erworbenen, selbst Wissen produzierenden und sich methodisch und kritisch auf dieses Wissen beziehenden Sachverstand hat, und einem Wissen, das als mitgeteiltes einfach bernommen und weiterverarbeitet wird, zu unterscheiden. Der Nutzer des Mediums Information muß wissen, worauf er sich einlßt, nicht, indem er den modernen Informationstechnologien mißtraut – dies hieße das Kind mit dem Bade ausschtten –, sondern indem er Informationen mit dem eigenen Wissen verbindet. Es sollte eben der richtige Kopf vor dem Bildschirm sitzen, ein Kopf, der auch hier einmal wieder zwischen Sein und Schein zu unterscheiden vermag. Denn eine Logik des Scheins, die Kant noch in den großen Systemen der Metaphysik am Werke sah, hat sich in einer Informationswelt in die Niederungen des menschlichen Frwahrhaltens begeben und ist heute wohlfeil – in Form eines Netzes, das zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden, dem Wahren und dem Falschen nicht zu unterscheiden vermag – allen zugnglich. Welch Paradies fr alle Gaukler, Halbgebildeten, Wissenshabenichtse und kleinen Betrger. Virtualitt als große Gleichmacherin von Sein und Schein, Wissen und Glauben, Tatsachen und Nicht-Tatsachen, Wahrheit und Betrug? Wir werden auf der Hut sein mssen. Es kommt noch etwas hinzu. Der modernen Welt, gleichgltig, wie sie sich selbst benennt, stehen mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien Unmengen von Information zur Verfgung; gleichwohl wird diese Welt immer orientierungsschwcher. Das steht keineswegs im Widerspruch zueinander, insofern auch von Informationen erwartet werden darf, daß sie unter anderem der Orientierung dienen. Es ist eben auch der berfluß, der uns zu Verlierern macht. In den unendlichen Weiten der Information verliert der Suchende nur allzu oft alle Orientierung, und in den unendlichen Weiten transportierten Wissens geht nur allzu oft das schon Gewußte verloren. Indiz dafr ist z. B. der Aufwand, der

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14. Kant, das Wissen und die Medien

heute mit Retrievaltechniken in großen Datenbaten getrieben wird. Dem Aneignen in seinen modernen, digitalen Formen steht offenbar das Vergessen nher als die Erinnerung. Deshalb muß diese auch immer wieder neu inszeniert werden. Die Flchtigkeit der Information verdrngt die andauernde Gegenwart des Wissens, und sie lßt vergessen, was noch fr Kant das Wichtigste in allen Orientierungsdingen war: sich im Denken und durch das Denken zu orientieren. Im brigen erweist sich auch in diesem Punkte die Informationswelt als eine Medienwelt. Die Medienwelt – das wurde auch in ihren karikaturhaften Zgen als virtuelle Welt deutlich – gehçrt zu den modernen, unentrinnbaren Wirklichkeiten, in denen wir uns bewegen; sie schiebt sich zwischen die Dinge und das Bewußtsein und bestimmt beide. Das aber bedeutet: Nicht nur derjenige, der sich auf Informationen verlßt, die er selbst (als Wissender) nicht zu kontrollieren vermag, kçnnte der Dumme sein, sondern auch derjenige, der sich auf die Medien, auf das mediatisierte Wissen verlßt. Das kollektive Man, das nach Martin Heidegger die alltgliche Seinsweise des Menschen ist37 – man denkt, wie man denkt, man fhlt, wie man fhlt, man sieht die Welt, wie man sie sieht –, dieses Man hat in den Medien seine moderne, bermchtige Orientierungsform gefunden. Ihm gegenber scheinen frhere Formen der Inbesitznahme des Menschen fast nur noch ein mdes Lcheln zu verdienen. Dabei machen auch freie Medien das Individuum noch lange nicht frei. Wo sie es nicht schon voraussetzen – wie es das Ideal einer aufgeklrten Gesellschaft besagt –, setzen sie sich vielmehr an seine Stelle, indem sie die Kammern seines Bewußtseins besetzen, seine Wahrnehmungen, seine Vorstellungen und seine Erfahrungen lenken, Einfluß auf das Bild der Welt durch ihre Bilder nehmen. An die Stelle der Weltbilder, in denen sich unsere Altvorderen zu orientieren suchten, sind heute die Bilderwelten der Medien getreten. Dadurch werden auch Herrschaftsstrukturen verndert. Wir herrschen mit unseren Bildern ber die Dinge, und die Bilder herrschen ber uns. Das gilt auch von der Kunst. Der Phantasie sind hier, wo sie zu Hause ist, erst recht keine Grenzen gesetzt; lngst wird im Blick auf die elektronischen Medien eine Kunst ohne Knstler und Werk proklamiert: „Kunstwerke der medialen Netze mßten (…) eine Art von Viren sein, die sich von ihrem Urheber lçsen und nicht vorhersehbare Effekte auslçsen: eine Kunst ohne Knstler und Werk.“38 Das klingt unglaublich modern und 37 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tbingen 141977, 126 ff.. 38 F. Rçtzer 1991, zitiert von K. Dencker, in: Living. Das Kulturmagazin 6 (1993), Nr. 1, 29.

14.4 Informations- und Medienwelten

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innovativ, allerdings auch ein wenig konfus. Ein Intellekt, wie man ihn hufig abseits der Wege des Verstndlichen antrifft, trumt sich wie in Virtualittsdingen in eine Welt, in der er wohl auch selbst berflssig wird. Denn wenn schon Kunst ohne Knstler und Werk eine Alternative zu den bisherigen, vertrauten Kunst- und Gestaltungsbegriffen ist, dann auch Intelligentes ohne Intellekt, Gedanken ohne Kopf, Geist ohne Subjekt. Damit ist, wie immer, wenn sich ein trumender Intellekt der Probleme unserer Welt annimmt, die Grenze zu science fiction oder art fiction berschritten, lçst sich ein Kunstbegriff auf, ohne daß man genauer sagen kçnnte, was sich an seine Stelle setzen ließe. Eine neue Virologie sicher nicht, weder im Falle der Kunst, noch im Falle des Denkens. Sicher ist nur, daß der Adressat hier hoffnungslos berfordert wird, es sei denn, er selbst pflegte in Sachen Kunst und Denken einen neuen Hedonismus, in dem sich nicht nur das produzierende, sondern auch das rezipierende Subjekt auflçst. Es kme nicht darauf an, sich im Denken und durch das Denken zu orientieren, die Welt zu begreifen und sie (zum Guten) zu verndern, sondern nur darauf, in ihr, unter Verzicht auf alles Begreifen, zu leben, sie zu ,genießen. Das aber wre nicht die Zukunft der modernen Welt, sondern eher deren Ende. Die Welt kehrte dorthin zurck, wo sie ihren Anfang nahm: an einen mythischen Anfang, in dem sich der Mensch die Welt mit Gçttern und anderen Wesen, die ihr unergrndliches Spiel mit ihm trieben, zu teilen hatte. Diese Welt neu erfinden oder gar in sie zurckkehren wollen, aber macht weder Sinn, noch lçst ein solcher Schritt unsere Probleme. Sind es doch hufig gerade ihre wissenschaftlichen und technischen Fhigkeiten, die sie in neue Probleme fhren. Diese auf eine mehr oder weniger archaische Weise bewltigen zu wollen, die Welt berhaupt wieder mit archaischen Augen sehen zu wollen, ist denn auch etwas, das wirklich Sorge, vielleicht sogar Angst machen kçnnte. Seine Unschuld verliert man nur einmal, auch die archaische Welt. Wer in sie gleichwohl zurckzukehren sucht, wird bigott, wenn es einigermaßen gut geht, und zum Eiferer, wenn es schlecht geht. So weit, denke ich, ist es mit unserer Liebe zu allem Virtuellen noch nicht. Nicht nur, weil dieses Virtuelle eines gewaltigen technischen Aufwandes bedarf, also selbst mchtiger Ausdruck der modernen Welt ist, die sich in dieser Hinsicht als eine Leonardo-Welt erweist39, als eine Welt, die in einem eminenten Sinne das Werk des Menschen ist, sondern weil es, 39 Zum Begriff und zur Konzeption einer Leonardo-Welt vgl. J. Mittelstraß, Leonardo-Welt. ber Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt 1992, 1996.

298

14. Kant, das Wissen und die Medien

nchtern betrachtet, Teil unseres Menschseins ist, derjenige Teil nmlich, der sich mit der Welt, so wie sie ist, nicht zufriedengibt, der sie ,ergnzt, ,erweitert, Raum schafft fr neue Wahrnehmungen, neue Erfahrungen, neue Vorstellungen, neue Bemhungen – nicht um die Welt mit den gewohnten Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorstellungen und Bemhungen zu verlassen, sondern um sie, wie es alle Kultur wollte und will, bewohnbarer zu machen. Schlußbemerkung Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien in einer Leonardo-Welt geht strmisch voran; da muß es einem, wenn man diesen Fortschritt will, nicht bange sein. Doch was oder wer entwickelt noch einmal, wie Kant, die Kçpfe? Schließlich will auch Information, reale wie virtuelle, wirklich genutzt, verarbeitet, beherrscht, in Wissen (rck-) verwandelt werden. Und schließlich will auch Kommunikation, reale wie virtuelle, Teil der Welt, nicht Ausdruck beliebiger Gegenwelten sein, ohne Kontakt mit und ohne Kontrolle durch eine Welt, in der wir nicht nur trumen, sondern wirklich leben. Was aber, wenn dies die Kçpfe nicht mehr leisten, die Information sich zu Bergen trmt, vor denen der Kopf immer kleiner wird, Kommunikation das monologisierende Ich nicht mehr verlßt? Oder rumen Information und Kommunikation irgendwann einmal die Kçpfe beiseite? Ist die zuknftige Informations- und Kommunikationswelt eine Welt voller Information und Kommunikation, aber ohne Subjekte – so wie, im Blick auf eine virtuelle Welt und ihre technischen Selbstorganisationsmçglichkeiten, eine Kunst ohne Knstler proklamiert wird? Sind die Zukunft von Information und Kommunikation die Information und die Kommunikation selbst, die Informationsgesellschaft, die auch eine Kommunikationsgesellschaft sein will, nur ein bergangsphnomen, bis die Informationswelt am Ende auch die Menschenwelt ersetzt? Hten wir uns davor, daß in unseren eigenen Kçpfen das Virtuelle die Macht ber das Reale gewinnt, das Irrationale, das unsere Trume besetzt, die Macht ber das Rationale, eine Scheinwelt die Macht ber das Leben. Neben dem Wissen wohnt eben nicht nur das Nichtwissen, sondern wohnen auch die Verfhrer; neben dem Kçnnen, der technischen Seite unserer Leonardo-Welt, wohnen auch unsere Alptrume; neben der Phantasie, die es gut mit dem Menschen meint, wohnt auch die Phantasie, die die Zukunft in der Abschaffung des Menschen feiert.

14.4 Informations- und Medienwelten

299

Ein Konstanzer Kollege, Bibliothekar wie Kant, der von 1766 bis 1772 als Subbibliothekar an der Kçniglichen Schloßbibliothek in Kçnigsberg arbeitete, hat anlßlich der großartigen „Sieben Hgel“-Ausstellung in Berlin die moderne Faszination gegenber allem Virtuellen mit der Wiederkehr eines Mythos verglichen. Als „Odysseus an den Sirenen vorberfuhr, da lockte ihr sßer Gesang mit dem Versprechen, alles zu wissen ,was irgend geschieht auf der vielernhrenden Erde. Es waren Todesvçgel, die so sangen; und die List der Vernunft lag darin, ihrer Lockung nicht zu erliegen, und den eigenen Weg fortzusetzen. Man verfehlt zwar dann das ominçse Glck des Allwissens, kommt aber immerhin bis Ithaka“40. Hoffen wir, daß es in Zukunft nicht der mythischen Kraft, der List und der Ausdauer eines Odysseus bedarf, um einer vagabundierenden Phantasie und den falschen Versprechungen des Virtuellen zu widerstehen. Schließlich geht es nach wie vor mit Kant, der im brigen schon als NichtReisender von derartigen mythischen Gefahren verschont blieb, darum, sich, wie mehrfach hervorgehoben, im Denken und durch das Denken zu orientieren. Nicht die Herrschaft der Virtualitt, sondern die Herrschaft des Denkens und der Vernunft ist das, was die Leonardo-Welt, in theoretischen wie in praktischen Dingen, in bewegter Zeit braucht. Und vergessen wir nicht: auch in unseren Werken, den realen wie den virtuellen, steckt nur so viel Vernunft, wie wir in sie hineinstecken.

40 U. Jochum, Die virtuelle Bibliothek, in: E. Sievernich/H. Budde (Eds.), Sieben Hgel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts VI (Wissen, Verarbeiten, Speichern, Weitergeben. Von der Gelehrtenrepublik zur Wissensgesellschaft), Berlin 2000, 40.

III. Leibniz und Kant

15. Leibniz und Kant ber mathematische und philosophische Wissensbildung* Nicht immer sucht die Philosophie, irgendwo und irgendwohin zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, ihre eigenen Wege zu gehen. Manchmal sucht sie auch die Nhe zur Wissenschaft, und wenn sie dabei einem Klarheitsoder Exaktheitspostulat folgt, die Nhe zur exaktesten aller Wissenschaften, der Mathematik. Dies ist sowohl bei Leibniz als auch bei Kant der Fall, wobei Leibniz in konstruktiver Absicht einer Identittsidee folgte und gleichzeitig auf seine Weise spekulativ blieb, Kant in rekonstruktiver Absicht eher auf Distanz bedacht war und gleichzeitig alles Spekulative aus der Philosophie zu verbannen suchte. berkreuz finden das mathematische und das philosophische Denken zueinander, in systematischer Form besiegelt in der philosophischen Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion.

15.1 Analysis und Synthesis Kants Stellungnahmen gegenber Leibniz sind ihrer Form nach hufig marginal, ihrer Substanz nach stets wesentlich. In ihnen erfolgt Kants Abgrenzung von der philosophischen Tradition und die Bestimmung einer Neuorientierung der Philosophie in wesentlichen Elementen. Das gilt auch von der Erwhnung Leibnizens in der (vor-kritischen) „Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und der Moral“ (1764), mit der Kant auf eine Preisfrage der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin geantwortet hatte. Diese Erwhnung hat wis*

In diesem abschließenden Kapitel werden die vorausgegangenen Leibniz- und Kant-Analysen noch einmal unter dem leitenden Gesichtspunkt der mathematischen und der philosophischen Wissensbildung, ihrer Differenz und ihrer mçglichen Einheit, zusammengefaßt. Einzelne Wiederholungen in der Darstellung referierender wie konstruierender Art dienen dem Zweck, den Argumentationszusammenhang (besser und anstelle hufiger Rckverweise) zu wahren. Das Kapitel stellt die wesentlich gekrzte Fassung eines 1985 publizierten englischen Beitrags dar, der in nuce bereits einige der in den vorausgegangenen Kapiteln ausgearbeiteten theoretischen Analyseteile enthlt.

304

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

senschaftstheoretische Bedeutung. Kant bestimmt hier in einer fr die Philosophie programmatischen Form den Unterschied zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung, der spter, in der „Kritik der reinen Vernunft“, in systematisch weiter ausgearbeiteter Form ein wesentliches Stck der transzendentalen Methodenlehre ausmachen wird. Der Kontrahent ist, wie Kant deutlich macht, Leibniz mit einer Identifikation beider Wissensformen. Systematisch gesehen geht es damit – paradigmatisch in den Konzeptionen Leibnizens und Kants gegeben – um unterschiedliche Ideale der Wissensbildung und ihre disziplinenmßigen Konkretisierungen. Kant beginnt, wie zuvor dargestellt1, seinen Beantwortungsversuch auf die Frage, wie Metaphysik mçglich sei, in der „Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und Moral“ mit der Feststellung, daß sie in der Weise der Mathematik nicht mçglich sei. Das mutet auf den ersten Blick, wenn man sich die Geschichte von Mathematik und Philosophie vergegenwrtigt, wie eine Trivialitt an. Trivial ist jedoch nur die materiale Seite dieser Feststellung, nicht die formale. Formal geht es nmlich um eine wesentliche Differenz in der Begriffsbildung, und damit um eine wesentliche Differenz in der Konstitution der Gegenstnde von Mathematik und Metaphysik bzw. Philosophie. Die Mathematik, so die hier noch einmal wiederholte Feststellung Kants, beginnt mit der Konstitution ihrer Gegenstnde, indem sie deren Definitionen bildet („in der Mathematik sind die Definitionen der erste Gedanke“2); die Metaphysik beginnt mit gegebenen Gegenstnden bzw. Begriffen. Ihre Definitionen stehen nicht am Anfang, sondern am Ende. In der Mathematik – gemeint ist die Geometrie; Arithmetik, Analysis und Algebra bleiben außer Betracht – „fange ich mit der Erklrung meines Objekts, z.E. eines Triangels, Zirkels u.s.w. an, in der Metaphysik muß ich niemals damit anfangen, und es ist so weit gefehlt, daß die Definition hier das erste sei, was ich von dem Dinge erkenne, daß es vielmehr fast jederzeit das letzte ist. Nmlich in der Mathematik habe ich ehe gar keinen Begriff von meinem Gegenstande, bis die Definition ihn gibt; in der Metaphysik habe ich einen Begriff, der mir schon gegeben worden, obzwar verworren, ich soll den deutlichen, ausfhrlichen und bestimmten davon aufsuchen“3. 1 2

3

Kapitel 10. Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und der Moral (1764) – blicherweise als ,Preisschrift bezeichnet –, Akad.-Ausg. II, 281 (Werke I, 750). Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 283 (Werke I, 753).

15.1 Analysis und Synthesis

305

Mathematik gelangt „zu allen ihren Definitionen synthetisch, die Philosophie aber analytisch“4 : „Es ist das Geschfte der Weltweisheit, Begriffe, die als verworren gegeben sind, zu zergliedern, ausfhrlich und bestimmt zu machen, der Mathematik aber, gegebene Begriffe von Grçßen, die klar und sicher sind, zu verknpfen und zu vergleichen, um zu sehen, was hieraus gefolgert werden kçnne.“5 Zugleich verbindet Kant die systematische Differenz von Mathematik und Philosophie mit der Unterscheidung zwischen einem synthetischen und einem analytischen Vorgehen: „Diesem (d. h. dem synthetischen Vorgehen, Verf.) zufolge ist das Einfache und Allgemeinste in der Grçßenlehre auch das Leichteste, in der Hauptwissenschaft aber das Schwereste, in jener muß es seiner Natur nach zuerst, in dieser zuletzt vorkommen. In jener fngt man die Doktrin mit den Definitionen an, in dieser endigt man sie mit denselben und so in andern Stcken mehr.“6 Als Beispiel fr das ,analytische Vorgehen der Philosophie dient Kant (in Anspielung auf ein Diktum Augustins7) der Begriff der Zeit, dessen ,synthetische Fassung allenfalls zufllig der analytischen Begriffsbildung entsprche. Eine solche Zuflligkeit ist nach Kant fr einige Philosophen ihrer Behauptung nach Normalitt. Sein Beispiel: „wenn der Philosoph eine Substanz mit dem Vermçgen der Vernunft sich willkrlicher Weise gedenkt, und sie einen Geist nennt“8. Eben dies aber ist bei Leibniz der Fall: „Leibniz dachte sich eine einfache Substanz, die nichts als dunkle Vorstellungen htte, und nannte sie eine schlummernde Monade. Hier hatte er nicht diese Monas erklrt, sondern erdacht; denn der Begriff derselben war ihm nicht gegeben, sondern von ihm erschaffen worden.“9 In den Augen Kants ist Leibniz damit der Prototyp des traditionellen Philosophen, dessen systematischer Irrtum darin besteht, die ,analytische Form der philosophischen Wissensbildung mit der ,synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung verwechselt oder identifiziert zu haben. Hinsichtlich der hier wiedergegebenen Argumentation ist Kants Position systematisch klar; aber sie ist auch problematisch. Ihre Problematik liegt dabei nicht so sehr im Gebrauch, den Kant von der Unterscheidung 4 5 6 7

8 9

Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 276 (Werke I, 744). Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 278 (Werke I, 746). Akad.-Ausg. II, 308 (Werke I, 911). Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 283 (Werke I, 753). A. Augustinus, Confessiones XI, 14 (S. Aurelii Augustini Confessionum libri III, ed. M. Skutella, Leipzig 1934, korrigierte Ausgabe, ed. H. Jrgens/W. Schaub, Stuttgart 1969, 275). Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 277 (Werke I, 745). Ebd.

306

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

zwischen analytischer und synthetischer Methode macht, sondern in der Deutung, die er damit einer begriffsgeschichtlichen Entwicklung gibt. Klar ist das Folgende: Kant identifiziert die Methode der Mathematik mit der synthetischen Methode, deren Charakteristikum die gegenstandskonstituierende Definition von Grundbegriffen ist. Er orientiert sich dabei am Ideal der Euklidischen Geometrie, in der Konstruktionsverfahren das theoretische Mittel fr den Nachweis mathematischer Existenz darstellen. Demgegenber ,hat die Philosophie ihre Gegenstnde nicht durch Konstruktion bzw. Definition, sondern in Form ,verworrener Begriffe, weshalb sie auch ,durchaus analytisch10 verfahren msse. Definitionen, die den Anfang einer mathematischen Methode bilden, wren allenfalls mçgliche Resultate einer solchen Explikation. In Form ,erster materialer Grundstze der menschlichen Vernunft11 sind entsprechende Axiome zwar ,unerweislich (Beispiel: ,ein Kçrper ist zusammengesetzt)12, aber geeignet, andere Stze zu begrnden. Daß Kant dabei wesentliche wissenschaftshistorisch rekonstruierbare Fakten bersieht, die etwas mit der ursprnglichen Beweis- und Konstruktionspraxis und deren Geschichte (in Mathematik und Physik) zu tun haben, wurde zuvor13 ausfhrlich dargelegt. Ergebnis ist, daß Kant den Beweis- und Konstruktionsgedanken der griechischen Mathematik, in dessen Rahmen Analysis und Synthesis zwei wohldefinierte Aspekte ein und derselben Methode waren, nicht mehr kennt. Das wiederum relativiert die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen einer ,analytischen Form der philosophischen Wissensbildung und einer ,synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung. Zumindest fr den mathematischen Fall muß hier mit differenzierteren methodologischen Zusammenhngen gerechnet werden, weshalb auch Kants Kritik an Leibniz, wonach dieser die ,analytische Form der philosophischen Wissensbildung irrtmlich mit der ,synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung identifiziert habe, ihrerseits einer kritischen Beurteilung bedarf.

10 11 12 13

Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 289 (Werke I, 759). Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 295 (Werke I, 766). Ebd. Kapitel 10.2.

15.2 Mathesis universalis

307

15.2 Mathesis universalis Im Gegensatz zu Kant ist Leibniz der ursprngliche methodische Zusammenhang von Analysis und Synthesis bewußt. Er bildet, wie dargestellt, zugleich den systematischen Kern der Idee einer mathesis universalis, die nach Leibniz die methodische Einheit von Philosophie und Wissenschaft zum Ausdruck bringen soll. Ausgangspunkt sind entsprechende Vorstellungen Descartes, die sich ebenfalls an der systematischen Ordnung von Analysis und Synthesis orientieren. So hatte Descartes gefordert, daß alle Gewißheit, auch die philosophische, dem Begriff der arithmetischen und geometrischen Gewißheit nachgebildet werden msse.14 Dabei verweist er auf die Analysis der ,alten Geometer und die (elementare) Algebra15, die sich in Form rein schematischer Rechenoperationen mit Buchstaben fr Zahlenvariable seit Vieta als so genannte algebra speciosa neben der Arithmetik als nunmehr so genannten algebra numerosa zur selbstndigen mathematischen Theorie auszubilden beginnt. Nach Descartes ist es – ganz im Sinne der ursprnglichen geometrisch-konstruktiven Auffassung von Analysis und Synthesis – die Aufgabe dieser mit der Umformung und Lçsung elementarer Gleichungen befaßten Algebra, „das von den Zahlen darzulegen, was die Alten von den Figuren bewiesen“16. Seine Formulierung der Methode einer mathesis universalis lautet wie folgt: „Die ganze Methode besteht in der Ordnung und Disposition dessen, worauf sich der Blick des Geistes richten muß, damit wir eine bestimmte Wahrheit entdecken. Wir werden sie exakt dann befolgen, wenn wir die verwickelten und dunklen Stze stufenweise auf die einfacheren zurckfhren und sodann versuchen, von der Intuition der allereinfachsten aus uns auf denselben Stufen zu der Erkenntnis aller brigen zu erheben.“17 Hinsichtlich der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von Analysis und Synthesis berwiegt auch bei Descartes noch der beweistheoretische Sinn dieser Methodenunterscheidung, und zwar wiederum in der ursprnglichen Bedeutung von Analysis als Analysis von Figuren. Das kommt auch in Descartes Begrndung der analytischen Geometrie, die geometrische Zusammenhnge durch Zuordnung von Koordinaten zu Punkten arithmetisch in Form von Gleichungen behandelt, zum Ausdruck: Wie sich „die 14 Regulae ad directionem ingenii, Regula II, Oeuvres de Descartes, I – XII, ed. Ch. Adam/P. Tannery, Paris 1897 – 1910 (im Folgenden zitiert als Oeuvres), X, 366. 15 Regula IV, Oeuvres X, 373. 16 Ebd. 17 Regula V, Oeuvres X, 379.

308

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

gesamte Arithmetik nur aus vier oder fnf Operationen zusammensetzt, nmlich aus den Operationen der Addition, der Substraktion, der Multiplikation, der Division und des Ausziehens von Wurzeln, (…) so hat man auch in der Geometrie, um die gesuchten Linien so umzuformen, daß sie auf Bekanntes fhren, nichts anderes zu tun, als andere Linien ihnen hinzuzufgen oder von ihnen abzuziehen“18. Auch die Methode der Philosophie macht hier keine Ausnahme. Um seiner eigenen Maxime zu gengen, sich nmlich auch in der Philosophie nur mit solchen Dingen zu beschftigen, die eine den arithmetischen und geometrischen Demonstrationen vergleichbare Gewißheit zulassen, hat Descartes in den Erwiderungen zu den Zweiten Einwnden gegenber den „Meditationes“ sein Vorgehen noch einmal in das in den „Regulae“ explizierte mathematische Verfahren einer mathesis universalis eingeordnet. Die Ordnung dieses Verfahrens, das Descartes in den „Meditationes“ ,ausschließlich befolgt haben will19, besteht in der hier gewhlten Formulierung darin, „daß die zuerst vorgebrachten Gegenstnde ohne Hilfe der folgenden erkannt werden mssen und alles Folgende dann derart anzuordnen ist, daß es allein durch das Vorhergehende bewiesen wird“20. Descartes erinnert dabei erneut explizit an die komplementren Verfahren der geometrischen Analysis und Synthesis: „Die Analysis zeigt den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch und gleichsam a priori gefunden worden ist (…). Die Synthesis dagegen geht den entgegengesetzten Weg und beweist gleichsam a posteriori, wenn auch hufig der

18 La gomtrie, Oeuvres VI, 369; vgl. Regula IV, Oeuvres X, 393. Descartes verchtliche Bemerkung im „Discours“, daß die ,Analysis der Alten und die ,Algebra der Modernen nutzlos seien („die erstere [ist] stets so an die Betrachtung von Figuren gebunden, daß sie den Verstand nicht ben kann, ohne die Einbildungskraft sehr zu ermden – und in der letzteren [hat] man sich so dem Zwang gewisser Regeln und Zeichen unterworfen, daß daraus eine verworrene und dunkle Kunst entstanden ist, die den Geist eher hemmt, und nicht eine Wissenschaft, die ihn bildet“, Discours de la mthode II, Oeuvres VI, 17 f. [dt. nach der bersetzung von L. Gbe, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, Hamburg 1960, 31]), sollte in diesem Zusammenhang nicht ernstgenommen werden. Sie ist Teil eines autobiographischen Stils, der dazu verwendet wird, den Eindruck zu erwecken, daß der Autor andernorts nichts lernen konnte (vgl. W. Kamlah, Der Anfang der Vernunft bei Descartes, autobiographisch und historisch, Archiv fr Geschichte der Philosophie 43 [1961], 70 – 84). 19 Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 156. 20 Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 155.

15.2 Mathesis universalis

309

Beweisgang in ihr noch mehr a priori ist als in der Analysis.“21 Die „Meditationes“ folgen nach Descartes dem ,Weg der Analysis, nicht dem der Synthesis, weil diese „die Art und Weise, wie die Sache gefunden worden ist, nicht lehrt“22. Im Unterschied zur Geometrie passe, wie es weiter mit einer an die sptere Stellungnahme Kants erinnernden Einschrnkung heißt, die Synthesis „fr diese metaphysischen Gegenstnde nicht so recht“23. Als Grund dafr wird angefhrt, daß die Geometrie fr ihre ,ersten Begriffe bereinstimmung mit der sinnlichen Anschauung in Anspruch nehmen drfe, ein Umstand, der im Hinblick auf die ,ersten Begriffe der Metaphysik gerade nicht gelte.24 Derartige Begriffe clare et distincte zu erfassen25, sei vielmehr Aufgabe einer Analyse, die sich auf Konstruktionen in der Sinnlichkeit, wie Kant spter, allerdings in anderem systematischem Zusammenhang, sagen wird, nicht zu sttzen vermag und daher auch auf eine andere Weise, dabei noch ohne die gewohnte Synthesis philosophischer Disputationen und Systeme, vorzugehen habe.26 Tatschlich lßt sich Descartes Vorgehen in den „Meditationes“ durchaus als ,analytisch bezeichnen. Entsprechend dem analytischen Ausgang vom Unbekannten in der geometrisch-konstruktiven und in der propositionalen Auffassung von Analysis und Synthesis werden die distinctio von Seele und Kçrper27 und die Verlßlichkeit der Außenwelt zusammen mit der Annahme, daß jede Gewißheit auf falschen Voraussetzungen beruhe, unterstellt. Versucht wird, das Gesuchte, nmlich die Gewißheit des bisher nur vermeintlich Gewußten, argumentativ in den Griff zu bekommen. In der Durchfhrung stellen sich daher auch, von Descartes nachtrglich konstatiert, die Demonstration des cogito ergo sum und die Demonstration der Existenz Gottes – mit dem Ziel, die Geltung der an der Demonstration des cogito ergo sum abgelesenen regula generalis der Wahrheit (als clara et distincta perceptio 28) allgemein zu sichern – als Resultate eines ,analytischen Vorgehens dar, der Wiederaufbau der sinnlichen Gewißheit und der materiellen Welt in der 6. Meditation als die

21 22 23 24 25 26 27 28

Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 155 f.. Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 156. Ebd. Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 156 f.. Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 157. Ebd. Vgl. Secundae Responsiones, Oeuvres VII, 155. Vgl. Meditationes de prima philosophia III, Oeuvres VII, 35.

310

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

,synthetische Entsprechung dieser Analysis.29 Damit entspricht aber der argumentative Aufbau der „Meditationes“ genau derjenigen Darstellung, die Kant als Methode der philosophischen Wissensbildung als ungeeignet bezeichnet. Allerdings eben, im Unterschied zu Kants Konzeption von ,analytisch und ,synthetisch an der zitierten Stelle, unter Bercksichtigung der ursprnglichen methodischen Komplementaritt von Analysis und Synthesis. Das gleiche gilt fr Leibniz, wobei dieser nun der Analysis/SynthesisUnterscheidung insbesondere eine begriffstheoretische Bedeutung gibt. Das sei kurz noch einmal in Erinnerung gerufen. Ziel der Leibnizschen Bemhungen im konzeptionellen Rahmen einer mathesis universalis ist weniger, wie noch bei Descartes, dessen ,analytische Orientierung Leibniz hervorhebt30, eine allgemeine philosophische Methodenlehre, sondern ein Formalismus zur Darstellung und Erzeugung jeden Wissens. Dabei sollen in einer ars combinatoria aus gewissen, analytisch gewonnenen ,einfachen Grundbegriffen alle wahren Stze nach synthetischer Methode erzeugt werden. Der Aufbau einer Universalsprache (lingua universalis), der dieser Absicht dient, folgt, wie dargestellt, der Idee, die Relation der Wçrter (Begriffe) dieser Sprache zu ihren Basisbegriffen in der gleichen Weise zu organisieren, wie sich die natrlichen Zahlen zu den Primzahlen verhalten. Die eindeutige Rckfhrbarkeit aller Begriffe dieser Sprache auf ,einfache Grundbegriffe soll der eindeutigen Primzahlzerlegung nachgebildet sein. Das heißt: auch bei Leibniz wird die Mathematik zum Vorbild jeder, also auch der philosophischen Wissensbildung: „Wenn man Charaktere oder Zeichen finden kçnnte, die geeignet wren, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudrcken, wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdrckt, kçnnte man offenbar bei allen Gegenstnden, soweit sie dem vernnftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut.“31 Die Kenntnis der mathematischen Methodologie und der Einfluß Descartes hinsichtlich des paradigmatischen Charakters dieser Metho29 Zur Erluterung der analytischen Struktur der „Meditationes“ kçnnte die Rekonstruktion der argumentativen Struktur des cogito ergo sum ntzlich sein, die ich andernorts vorgelegt habe (J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 382 – 388. Vgl. ferner, im Hinblick auf die Analysis-Synthesis-Unterscheidung, J. Mittelstraß, The Philosophers Conception of Mathesis Universalis from Descartes to Leibniz, Annals of Science 36 (1979), 593 – 610. 30 C. 170. 31 C. 155.

15.2 Mathesis universalis

311

dologie fr die Wissensbildung allgemein machen sich auch bei Leibniz in einer starken Betonung von Analysis und Synthesis in ihrer ursprnglichen geometrisch-konstruktiven und propositionalen Auffassung geltend. In einem um 1675 entstandenen Fragment heißt es: „Die Methode zur Lçsung einer Aufgabe ist entweder synthetisch oder analytisch (…). Synthetisch oder kombinatorisch ist sie, wenn wir andere Aufgaben durchgehen und schließlich auf unsere kommen; und dahin gehçrt auch die Methode des Fortgangs von einfachen zu zusammengesetzten Aufgaben. Analytisch ist sie, wenn wir, ausgehend von unserer Aufgabe, so weit zurckgehen, bis wir zu den Bedingungen gelangen, die zu ihrer Lçsung ausreichen.“32 Gleichzeitig gewinnen, im Anschluß an Aristotelische Traditionen von Topik und Analytik bei Descartes und in der so genannten ,Logik von Port Royal, Gesichtspunkte an Bedeutung, die sich mit der Unterscheidung zwischen einer ,Methode der Entdeckung (mthode dinvention) und einer ,Methode der Darstellung (mthode ddoctrine)33 verbinden. So identifiziert Leibniz einerseits, wie etwa die ,Logik von Port Royal, analytische Verfahren mit der Konzeption einer ars iudicandi und synthetische Verfahren mit der Konzeption einer ars inveniendi 34, hebt aber andererseits an anderer Stelle den ,inventiven Charakter beider systematisch einander zugeordneten Verfahren hervor.35 In einer derartigen, den ,inventiven Charakter beider Verfahren betonenden Gliederung tritt der Begriff der ars inveniendi als Oberbegriff der Begriffe ars combinatoria oder Synthesis und ars analytica oder Analysis auf, whrend der Begriff der ars iudicandi dieser Gliederung entsprechend synonym ist mit dem Begriff der ars demonstrandi, d. h. der Logik im engeren Sinne. Als ars combinatoria bzw. Synthesis wird die ars inveniendi als Kunst des Auffindens ,richtiger Fragen, als ars analytica bzw. Analysis als Kunst 32 Elementa nova matheseos universalis, C. 350 f.. Vgl. Brief vom 19. Mrz 1678 an H. Conring, Philos. Schr. I, 194 f. (Synthesis autem est quando a principiis incipiendo componimus theoremata ac problemata […]; Analysis vero est, quando conclusione aliqua data aut problemate proposito, quaerimus ejus principia quibus eam demonstremus aut solvamus). 33 Vgl. A. Arnauld/P. Nicole, La logique, ou lart de penser (…), Paris 1662, Nachdruck unter dem Titel: Lart de penser, ed. B. v. Freytag-Lçringhoff/H. E. Brekle, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 303 – 308. 34 Zur hufig wechselnden Terminologie bei Leibniz und zur Klassifikation der analytischen und der synthetischen Methode innerhalb der Struktur einer mathesis universalis vgl. R. Kauppi, ber die Leibnizsche Logik. Mit besonderer Bercksichtigung des Problems der Intension und der Extension, Helsinki 1960 (Acta Philosophica Fennica, Fasc. XII), 14 ff.. 35 C. 557.

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15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

des Auffindens ,richtiger Antworten definiert.36 Wo die Analysis hingegen mit der ars iudicandi identifiziert erscheint – und das drfte die ursprngliche, spter zugunsten der anderen Gliederung wieder aufgegebene Konzeption gewesen sein37 –, wird sie durch zwei Regeln, nmlich (1) „kein Wort ohne Erklrung“ und (2) „keine Aussage ohne Beweis“, definiert.38 Auch in dieser Form, nmlich als Methode der Darstellung, bleibt die Analysis jedoch auf einen ,entdeckenden Teil, d. h. auf eine ars inveniendi, methodisch angewiesen. Daß beide artes sowohl historisch, im Sinne der ursprnglichen geometrisch-konstruktiven und propositionalen Auffassung von Analysis und Synthesis, als auch systematisch, als zwei fr jede Wissensbildung konstitutive Elemente, zusammengehçren, steht fr Leibniz jedenfalls nie in Frage.39 Ergnzt man die hier dargestellte Leibnizsche Konzeption noch um den Gedanken einer ,vollstndigen Enzyklopdie des Wissens40 und weist man diese Enzyklopdie als den materialen, die mathesis universalis als den formalen Teil einer scientia generalis (oder scientia universalis) aus, so ergibt sich folgende Gliederung:

36 „Duas partes invenio Artis inveniendi, Combinatoriam et Analyticam; Combinatoria consistit in arte inveniendi quaestiones; Analytica in arte inveniendi quaestionum solutiones. Saepe tamen fit ut quaestionum quarundam solutiones, plus habeant Combinatoriae quam analyticae“ (C. 167 [ca. 1669]). 37 Vgl. L. Couturat, La logique de Leibniz, Paris 1901, 177 ff.. 38 „Analytica seu ars judicandi, mihi quidem videtur duabus fere regulis tota absolvi: (1.) Ut nulla vox admittatur, nisi explicata, (2.) ut nulla propositio, nisi probata“ (Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae [1667], Akad.-Ausg. VI/ 1, 279). 39 Discours touchant la mthode de la certitude et de lart dinventer pour finir les disputes et pour faire en peu de temps des grands progrs, Philos. Schr. VII, 180, 183. 40 Vgl. Die Leibniz-Handschriften der Kçniglichen çffentlichen Bibliothek zu Hannover, ed. E. Bodeman, Hannover 1889, 97. Zur begrifflichen Unklarheit hinsichtlich des Verhltnisses zwischen mathesis universalis und der geplanten Enzyklopdie vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung, 435 – 440.

15.2 Mathesis universalis

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Nach dieser Gliederung, die ber den ad-hoc-Charakter der meisten Gliederungsvorschlge Leibnizens in diesem Bereich nicht hinwegtuschen soll, sind der mathesis universalis die begriffstheoretischen Konzeptionen einer characteristica universalis bzw. einer lingua universalis zuzuordnen; die ars iudicandi stellt die Logik im engeren Sinne (mit einem als calculus ratiocinator, calculus univeralis etc. bezeichneten Begriffskalkl), die ars inveniendi die Logik im weiteren Sinne dar. Ausgearbeitete Teile des mit dieser Gliederung formulierten Programms sind (als Paradigmen einer characteristica universalis) der Differentialkalkl41 in einem mathematischen Rahmen und verschiedene Logikkalkle42, wobei es insbesondere der Gedanke der Kalklisierung ist, mit dessen Realisierung Leibniz die methodische Einheit alles Wissens, darunter auch des philosophischen Wissens, herzustellen hoffte. Als einen Kalkl definiert Leibniz die „Herstellung von Beziehungen, welche durch Umwandlung von Formeln bewerkstelligt wird, wobei die Umwandlungen entsprechend gewissen vorgeschriebenen Gesetzen vollzogen werden“43. Die fr den Kalklbegriff konstitutiven Teilbegriffe der Grundfigur und der Grundregel, die die Herstellung besonderer Systeme von Figuren bestimmen, sind hier bereits przise gebildet; die Elemente des Kalkls, aus denen die Figuren des Kalkls zusammengesetzt werden, stellen das gesuchte ,Alphabet des Denkens (alphabetum cogitationum humanarum) dar.44 Klar ist damit, daß Logikkalkle, die der formalen Beherrschung logischer Schlußregeln dienen, selbst als Teile einer ebenfalls kalklmßig aufgebauten Universalsprache, eben der characteristica universalis, aufgefaßt werden sollen. Ferner ist klar, daß in einer solchen Konzeption, die auf eine formale methodische Einheit von Philosophie und Wissenschaft im Begriff der mathesis universalis zielt, berlegungen Kants zum Un41 Nova methodus pro maximis et minimis, Acta Eruditorum 3 (1684), 467 – 473 (Math. Schr. V, 220 – 226). Integrale wurden zwei Jahre spter eingefhrt: De geometria recondita et analysi indivisibilium atque infinitorum, Acta Eruditorum 5 (1686), 292 – 300 (Math. Schr. V, 226 – 233). 42 Zum arithmetischen Kalkl und zu unterschiedlichen Versionen eines algebraischen Kalkls vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklrung, 440 – 448; ferner K. Drr, Die mathematische Logik von Leibniz, Studia Philosophica 7 (1947), 87 – 102; N. Rescher, Leibnizs Interpretation of His Logical Calculi, The Journal of Symbolic Logic 19 (1954), 1 – 13. Die einschlgigen Texte sind zusammengestellt in der ausgezeichneten Edition von G. H. R. Parkinson: Leibniz. Logical Papers: A Selection, Oxford 1966. 43 Philos. Schr. VII, 206. 44 De organo sive arte magna cogitandi, C. 430, vgl. C. 220, 435, ferner Philos. Schr. VII, 185, 199.

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15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

terschied zwischen philosophischer und mathematischer Wissensbildung nur schwer realisierbar wren. Die Idee wissenschaftlicher Rationalitt, die hinter dieser Konzeption steht, erlaubt keine Trennung in eine philosophische und eine mathematische Rationalitt. Deshalb ist es aber ferner richtig, daß Leibniz im Unterschied zu Kant gerade die Differenz zwischen Philosophie und Mathematik aufzuheben sucht. Nur geschieht dies eben nicht in dem von Kant kritisierten Sinne, nmlich als Verwechslung bzw. Identifikation von analytischen und synthetischen Formen der Wissensbildung, sondern gerade in einer historisch und systematisch einleuchtenden Differenzierung der Begriffe Analysis und Synthesis. Diese Differenzierung, in der sich, wie dargestellt, die auch von Descartes noch gesehene Idee der griechischen Mathematik und – mit der propositionalen Auffassung der Analysis/Synthesis-Unterscheidung in Aristotelischer Tradition – die Idee der griechischen Wissenschaftstheorie geltend machen, ist selbst methodologischer Art, d. h., mit ihr werden hnliche Intentionen wie bei Kant verfolgt, nur mit anderen Unterscheidungen und anderen Resultaten. Allerdings macht Kant mit seiner Unterscheidung deutlich, daß es ihm auf spezifische Formen der philosophischen Wissensbildung ankommt, whrend Leibniz mit seiner im Kalklgedanken in Teilen realisierten Idee einer mathesis universalis gerade diejenige Form der Wissensbildung unterstreicht, die Kant als mathematische bezeichnet. Kants Kritik an Leibniz betrifft daher auch nicht zufllig Begriffsbildungen der Monadenlehre, nicht etwa die Leibnizsche Logik. Tatschlich gengt es daher auch nicht, gegen Kants Leibnizkritik Unterscheidungen im konzeptionellen Rahmen der mathesis universalis zur Geltung zu bringen. Die Frage ist vielmehr, ob auch inhaltliche Teile der Leibnizschen Philosophie wie die formalen Teile der mathesis universalis so verstanden werden kçnnen, d. h. konkret, in der Begrifflichkeit Kants: ob die Monadenlehre als philosophische Konstruktion mçglich ist.

15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion Kant wirft Leibniz, im Sinne einer Verwechslung bzw. Identifikation von mathematischer und philosophischer Wissensbildung, vor, daß dieser die Monade nicht ,erklrt, sondern ,erdacht habe, „denn der Begriff derselben war ihm nicht gegeben, sondern von ihm erschaffen worden“45. Das 45 Preisschrift, Akad.-Ausg. II, 277 (Werke I, 745).

15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion

315

scheint, zumindest auf einen ersten Blick hin, in der Tat so zu sein. Wer etwa den Anfang der so genannten „Monadologie“ liest, glaubt sich unversehens in die unwirkliche Welt eines Metaphysikers versetzt, der, gemß den Standards des gesunden Menschenverstandes, etwas sieht, wo nichts ist. Doch dieser Eindruck tuscht. Er ist das Resultat einer bestimmten Darstellungsform, nicht des besonderen Ganges der philosophischen Forschung, der in diesem Falle zur Monadenlehre fhrt. Dieser Gang ist durch unterschiedliche systematische Anstze bestimmt. Einer dieser Anstze ist ein physikalischer, nmlich eine Kritik am physikalischen Atomismus. Leibniz hatte zunchst selbst, im Anschluß an die zeitgençssischen Korpuskulartheorien, die Ansicht vertreten, daß es elementare Bausteine der Materie, Korpuskeln oder Atome, gibt und daß sich diese Bausteine allein durch Grçße, Gestalt und Bewegungszustand voneinander unterscheiden.46 Kontinuumsbetrachtungen, die seit 1673 durch die Einfhrung infinitesimaler Methoden ein exaktes Fundament erhalten, fhren zur Abkehr von dieser Ansicht. Die Analogisierung der Bestimmung der differentiellen nderungen einer Funktion bzw. der Bildung der Summe differentieller Grçßen mit Betrachtungen ber den Aufbau der (physikalischen) Welt resultiert in einer neuen Begriffsbildung: der Ausdruck ,(materielles) Atom wird durch die Ausdrcke ,substantielles Atom, ,formales Atom oder ,metaphysischer Punkt ersetzt.47 Im physikalischen Kontext ist damit der Begriff des Massenpunktes ins Auge gefaßt (Kçrper treten, z. B. bei der Berechnung der Bahnkurve eines im Schwerefeld der Erde auf einen gegebenen Punkt hin fallenden Kçrpers, nur in Idealisierungen, d. h. als Punkte im geometrischen Raum, auf 48), im philosophischen Kontext der Begriff der Individuation bzw. der Gesichtspunkt, daß sich ,wirkliche Einheiten (reale Gegenstnde) nur ber ,begriffliche Einheiten bestimmen lassen: „nur die metaphysischen oder substantiellen Punkte (…) sind exakt und real, ohne sie wrde es nichts Reales geben, da ohne die wahren Einheiten eine Vielheit nicht mçglich wre.“49 Derartige Einheiten werden im „Discours de metaphy-

46 Vgl. Confessio naturae contra atheistas (1669), Akad.-Ausg. VI/1, 490. 47 Systme nouveau de la nature et de la communication des substances, Philos. Schr. IV, 482. 48 Vgl. De linea Isochrona, in qua grave sine acceleratione descendent, et de controversia cum Dn. Abbate de Conti, Acta Eruditorum 8 (1689), 198 (Math. Schr. V, 237). 49 Systme nouveau (…), Philos. Schr. IV, 483.

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15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

sique“ (1686) als individuelle Substanzen (substances individuelles), seit 1696 auch als Monaden bezeichnet.50 Ein weiterer Ansatz, der zur Monadenlehre fhrt, ist mit der Bestimmung der (individuellen) Substanz als ,ttiger Entitt (res agens) gegeben.51 Leibniz bezieht sich hierbei sowohl auf eine Charakterisierung elementarer physikalischer Einheiten durch den Begriff der lebendigen Kraft (vis viva oder vis activa)52, die aus der Auseinandersetzung mit Descartes Begriff der Bewegungsgrçße ðmvÞ hervorgeht und in der Formulierung mv2 dem modernen Begriff der kinetischen Energie (Energiesatz) entspricht, als auch auf die Empfehlung, zum besseren Verstndnis des Begriffs individueller Einheiten denjenigen Begriff zugrundezulegen, „den ich von mir selbst habe“53. Hier wird zwar der Begriff der individuellen Substanz nicht durch den Begriff der ttigen Entitt und umgekehrt 50 Der Ausdruck ,Monade, wie ihn Leibniz verwendet, stammt hçchstwahrscheinlich aus der Leibniz bekannten „Kabbala denudata“ (I–II, Sulzbach 1677/1684) von C. Knorr von Rosenroth. Klar ist auch, daß er diesen Ausdruck zuerst von F. M. van Helmont oder Anne Conway kennengelernt hatte (vgl. Nouveaux essais sur lentendement humain I 1, Akad.-Ausg. VI/6, 72; Brief vom 24. August 1697 an Th. Burnet, Philos. Schr. III, 217); vgl. ferner die Eintrge von van Helmont (Ad fundamenta Cabbalae […] Dialogus, I/2, 309 f.) und H. More (Fundamenta philosophiae 12, I/2, 294). Leibniz fhrte im Frhjahr und Sommer 1696 zahlreiche Gesprche mit van Helmont in Hannover, den er seit 1671 kannte. In diesen Gesprchen erfuhr er von den philosophischen und kabbalistischen Studien Anne Conways. 1690 publizierte van Helmont deren „Principia philosophiae“ (Opuscula philosophica, quibus continentur Principia philosophiae antiquissimae & recentissimae. Ac Philosophia vulgaris refutata, Amsterdam 1690). Dieses Werk erschien zwei Jahre spter, rckbersetzt ins Englische, unter dem Titel: The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy Concerning God, Christ, and the Creatures, London 1692. Vgl. C. Merchant, The Vitalism of Anne Conway: Its Impact on Leibnizs Concept of the Monad, Journal of the History of Philosophy 17 (1979), 255 – 269, und: The Vitalism of Francis Mercury van Helmont: Its Influence on Leibniz, Ambix 26 (1979), 170 – 183; R. E. Butts, Leibniz Monads: A Heritage of Gnosticism and a Source of Rational Science, Canadian Journal of Philosophy 10 (1980), 47 – 62. 51 Principes de la nature et de la grace, fonds en raison § 1, Philos. Schr. VI, 598; vgl. De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque (1698), Philos. Schr. IV, 509, und Essais de thodice sur la bont de Dieu, la libert de lhomme et lorigine du mal (1710), Philos. Schr. VI, 350. 52 Vgl. De primae philosophiae emendatione, et de notione substantiae, Acta Eruditorum 13 (1694), 11 f. (Philos. Schr. IV, 469); Systme nouveau (…), Philos. Schr. IV, 478. 53 Brief vom 14. Juli 1686 an A. Arnauld, Philos. Schr. II, 52.

15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion

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der Begriff der ttigen Entitt nicht durch den Begriff der individuellen Substanz definiert, aber erlutert. Zugleich werden durch diese Erluterungen weitere Grnde angegeben, entsprechende Begriffe im Blick auf gegebene (physikalische und pragmatische) Umstnde zu bilden. Die Bildung des Begriffs der individuellen Substanz bzw. der Monade erfolgt denn auch unabhngig von den erwhnten Charakterisierungen in Form einer logischen Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffs mit den Mitteln einer im konzeptionellen Rahmen der mathesis universalis entwickelten Begriffstheorie. 54 Entsprechend dieser Begriffstheorie, die auch die Basis der so genannten ,analytischen Urteilstheorie Leibnizens bildet55 und in Kapitel 2.2 nher dargestellt wurde, werden individuelle Substanzen bzw. Monaden ber individuelle Begriffe (notions individuelles)56 gekennzeichnet, konstruiert als vollstndige Begriffe, d. h. als (unendliche) Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prdikate, die ihrerseits die Aristotelischen57 Bedingungen fr spezielle Subjektbegriffe (nmlich nicht als Prdikatbegriffe auftreten zu kçnnen) erfllen. Ein vollstndiger Begriff ist demnach ein komplexer Prdikator, der im modernen Sinne die Bedingungen einer (vollstndigen) Kennzeichnung erfllt: er ist nicht leer und es gibt genau ein Individuum, das unter ihn fllt. Dabei ist die geforderte Eindeutigkeit wiederum durch die Eigenschaft der Vollstndigkeit gegeben58, whrend fr die Erfllung der ersten Bedingung ein Existenzbeweis fr einen mçglichen Begriff, d. h. einen Begriff, der keinen logischen Widerspruch impliziert, erforderlich ist. Schwierigkeiten angesichts der Funktion vollstndiger Begriffe, individuelle Substanzen zu kennzeichnen, entstehen natrlich dadurch, daß ein vollstndiger Begriff faktisch nicht analysierbar ist. Seine Elemente, darunter z. B. auch Prdi54 Vgl. J. Mittelstraß, Substance and Its Concept in Leibniz, in: G. H. R. Parkinson (Ed.), Truth, Knowledge and Reality. Inquiries into the Foundations of Seventeenth Century Rationalism (A Symposium of the Leibniz-Gesellschaft Reading 27 – 30 July 1979), Wiesbaden 1981 (Studia Leibnitiana Sonderheft 9), 147 – 158. 55 Vgl. Philos. Schr. VII, 300. 56 Discours de mtaphysique § 8, Philos. Schr. IV, 432 f.. 57 Cat. 5.2a11 – 13. 58 Nach Leibnizens Prinzip der Identitt des Ununterscheidbaren (principium identitatis indiscernibilium) kann es keine zwei Individuen geben, die in allen ihren Eigenschaften gleich sind. Vgl. K. Lorenz, Die Begrndung des principium identitatis indiscernibilium, in: Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14 – 19 November 1966, III (Erkenntnistheorie – Logik – Sprachphilosophie – Editionsberichte), Wiesbaden 1969 (Studia Leibnitiana Supplementa III), 149 – 159.

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15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

kate fr die rumlichen und zeitlichen Beziehungen der durch ihren vollstndigen Begriff gekennzeichneten Substanz gegenber anderen Substanzen, sind unendlich59, die Individualitt „schließt die Unendlichkeit ein“60. Allerdings ist nach Leibniz eine ,infinitesimale Annherung an einen vollstndigen Begriff, d. h. eine beliebig genaue Formulierung des komplexen Prdikators einer individuellen Substanz, mçglich.61 Gemeint ist das Folgende: Ist S der vollstndige Begriff einer individuellen Substanz bzw. eines Individuums s und P ein konstitutiver Bestandteil von S, so wird S mit der Aussage PðSÞ gewissermaßen in zwei Teile, einen bekannten Teil P und einen unbekannten Restteil So zerlegt: PððSo PÞs Þ. Die Analyse von S ist zwar auch hier, wenn es sich bei s um einen konkreten Gegenstand (oder ein konkretes Ereignis) handelt, eine unendliche Aufgabe (resolutio procedit in infinitum 62), doch lßt sich eine derartige Zerlegung mit dem Resultat einer immer genaueren Kenntnis von S beliebig weiterfhren, was im Rahmen der ,analytischen Urteilstheorie bei Leibniz zugleich eine vollstndige Rckfhrung kontingenter Stze auf identische Stze (Stze der Form A est A bzw., nach Substitution von A durch AB im ,virtuell identischen Falle A est B, AB est B63) und damit notwendige Stze bedeutet. Soviel noch einmal zum Begriff der individuellen Substanz bzw. zum Begriff der Monade und seiner Explikation im Rahmen der Leibnizschen Begriffstheorie. Im Rahmen dieser Begriffstheorie erhlt der Monadenbegriff einen logischen Sinn, nmlich als eindeutige Charakterisierung von Individuen (vollstndige Darstellung eines Individuums durch seinen vollstndigen Begriff, wobei, weil eine derartige Darstellung, weil unendlich, aktual nicht zur Verfgung steht, endliche Darstellungen, d. h. Kennzeichnungen, hinreichen). Die Stze der Monadentheorie, z. B. der Satz, daß jede Monade das Universum reprsentiert (,spiegelt)64, oder der

59 Vgl. Brief vom 14. Februar 1706 an B. Des Bosses, Philos. Schr. II, 300. 60 Nouveaux essais (…) III 3, § 6, Akad.-Ausg. VI/6, 289. 61 Vgl. Generales inquisitiones de analysi notionum et veritatum § 74, C. 376 f.. Vgl. zur folgenden logischen Rekonstruktion Kapitel 1.1. 62 Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, Philos. Schr. VII, 309. 63 Vgl. Introductio ad Encyclopaediam arcanam, C. 513; Primae veritates, C. 519. 64 Vgl. Discours de mtaphysique § 14, Philos. Schr. IV, 440; Monadologie § 63, Philos. Schr. VI, 618.

15.3 Die Monadenlehre als philosophische Konstruktion

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Satz, daß zwischen den Monaden eine prstabilierte Harmonie besteht65, stellen dann wiederum zum Teil begriffliche Konsequenzen, zum Teil (auch spekulative) Erweiterungen der Monadenkonzeption dar. So ist logisch gesehen mit der Reprsentanz des Universums in jeder Monade gemeint, daß sich hinsichtlich der Darstellung von Monaden durch vollstndige Begriffe Aussagen ber beliebige Gegenstnde als Aussagen ber ein und denselben Gegenstand darstellen lassen, mit der These von der prstabilierten Harmonie die Anwendung dieser Mçglichkeit auf die (problematische) Annahme eines durch einen vollstndigen Begriff darstellbaren unendlichen Gesamtsystems (der Satz, daß es keine Wechselwirkungen zwischen Monaden gebe, jede Monade daher eine Welt fr sich, ,fensterlos sei66, ist lediglich die dazu komplementre These). Selbst die so spekulativ anmutenden ersten Paragraphen der „Monadologie“ (ber den Begriff der Zusammensetzung in der Monadenlehre) werden sachlich verstndlich, wenn man erkennt, daß im Begriff der individuellen Substanz bzw. der Monade an die Stelle des empirischen Subjekts ein logisches Subjekt tritt. Das ist berzeugend von Kuno Lorenz unter Hinweis auf die ebenfalls in der „Monadologie“67 formulierte Reprsentanz des Einfachen, d.i. die Monade, durch das Zusammengesetzte, d.i. der Kçrper, herausgearbeitet worden68 : „weil der vollstndige Begriff eines Gegenstandes im allgemeinen nicht zur Verfgung steht, muß der zugehçrige Kçrper, ein Dies-da, ihn symbolisch ersetzen. Alexander, der empirische Mensch Alexander, muß die fehlende vollstndige Kennzeichnung (und a fortiori den Begriff von Alexander, seine Seele also, ersetzen – symbolisch reprsentieren, sagt Leibniz“69. Umgekehrt lßt sich die Zusammensetzung der Kçrper aus Monaden, ,das Eingehen der Monade in die Zusammengesetzten70, gerade nicht als eine Teilbeziehung deuten; die Monade muß vielmehr „als begriffliche Artikulation des Zusammengesetzten, als ,einheitsstiftendes Prinzip primr ihres Kçrpers“71, 65 Vgl. Discours de mtaphysique § 33, Philos. Schr. IV, 458 f.; Mondaologie § 78, Philos. Schr. VI, 620. 66 Vgl. Monadologie § 7, Philos. Schr. VI, 607. 67 Die Monadologie als Entwurf einer Hermeneutik, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17 – 22 Juli 1972, III (Metaphysik – Ethik – sthetik – Monadenlehre), Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa XIV), 317 – 325. 68 §§ 61 ff., Philos. Schr. VI, 617 ff.. 69 K. Lorenz, a.a.O., 323. 70 Monadologie § 1, Philos. Schr. VI, 607. 71 K. Lorenz, ebd.

320

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

aufgefaßt werden. Damit ist klar, „daß der Zusammenhang einfacher und zusammengesetzter Substanzen, also der Monaden und der Kçrper, gerade nicht durch ein synthetisches oder konstruktives Verfahren auf der Gegenstandsebene gegeben ist, sondern den Zusammenhang eines Gegenstandes mit seiner sprachlichen, genauer: begrifflichen, Reprsentation – mit dem Hilfsmittel des aus einer vollstndigen Kennzeichnung bestehenden Namens – betrifft“72. Man sieht, wie sich in der Monadenlehre Gesichtspunkte systematisch miteinander verbinden, die nach Kant wohl einerseits als mathematische, andererseits als philosophische Gesichtspunkte zu gelten haben. Trotzdem stellt die Monadenlehre (auch in Teilen) keine synthetische Konstruktion dar, die sie nach Kants Unterscheidung zwischen einer philosophischen und einer mathematischen Form der Wissensbildung und der Identifikation der mathematischen Form mit der synthetischen Methode sein mßte. Dagegen steht (1) der Umstand, daß Leibniz mit dem Begriff der Monade den klassischen Substanzbegriff (logisch) rekonstruiert, der zumindest in seiner begriffsgeschichtlich dominanten Aristotelischen Form der Unterscheidung Kants entsprechend weit eher analytisch als synthetisch gebildet wurde, und (2) der Umstand, daß die Bildung des Monadenbegriffs der Lçsung des Problems der Einheit des Individuums in seiner phnomenalen Mannigfaltigkeit dient – und auch dieses Problem ist ebenso wie der Begriff des Individuums nicht synthetisch ,erdacht, sondern analytisch (und gewiß auch ,verworren) ,gegeben. Mit anderen Worten: Wenn der Begriff der Monade und wenn die Monadenlehre eine Konstruktion darstellen, dann gewiß in einem philosophischen, der Klrung unklarer begrifflicher Verhltnisse dienenden Sinne. Daß dabei mathematische Elemente, darunter auch die wieder in ihr systematisches Recht gesetzte ltere Unterscheidung zwischen Analysis und Synthesis, eine wichtige Rolle spielen, ist zwar evident und befçrdert auch sonst in der philosophischen Interpretation nicht gerade bliche Versuche, die Struktur der Leibnizschen Monadenlehre in Form eines axiomatischen Aufbaus darzustellen73, bedeutet aber noch keinen methodisch unerlaubten, das Feld der philosophischen Analyse wieder verlassenden Schritt. Noch einmal: Der Begriff der Konstruktion ist der Leibnizschen Philosophie nicht fremd, aber doch nicht so, daß hier Begriffe 72 K. Lorenz, a.a.O., 322. 73 Vgl. z. B. B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. With an Appendix of Leading Passages, London 1900, 21937, 1975, 1 ff., und G. H. R. Parkinson, Logic and Reality in Leibnizs Metaphysics, 182 ff..

15.4 Konstruktion und reine Anschauung

321

einfach ,erdacht oder ,erschaffen wrden. Sie gehen vielmehr aus einer systematischen Bemhung hervor, die durchaus analytische Elemente und damit das, was Kant als das ,Gegebensein der Gegenstnde philosophischer Reflexion bezeichnet, einschließt.

15.4 Konstruktion und reine Anschauung Im Rahmen der „Transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant, wie in Kapitel 10.3 ausfhrlich dargestellt, seine Konzeption von mathematischer und philosophischer Wissensbildung weiter ausgearbeitet. Nunmehr wird der Begriff der (mathematischen) Konstruktion mit einer transzendentalen Analyse des Begriffs der (mathematischen) Anschauung verbunden, wobei die mathematische Begriffsbildung als Konstruktion in der reinen Anschauung bestimmt wird und eine handlungstheoretische Fundierung erfhrt. Philosophisches Wissen wird jetzt als eine Vernunfterkenntnis aus Begriffen, mathematisches Wissen als eine Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe dargestellt.74 Einen Begriff konstruieren, heißt, „die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen“75. Gleichzeitig muß, weil es sich hier um keine empirische Anschauung handelt, „dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten“76. Dies stimmt mit der ursprnglichen geometrisch-konstruktiven Auffassung der komplementren Methoden der Analysis und Synthesis berein, wird nun aber im Sinne der transzendentalen Systematik Kants handlungstheoretisch rekonstruiert: bei der Bildung mathematischer Begriffe wird „immer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs (…) gesehen“77; empirische (,hingezeichnete) Figuren dienen lediglich dazu, den Begriff ,auszudrcken, und zwar ,unbeschadet seiner Allgemeinheit78. Es geht generell um Verfahren der Herstellung mathematischer Begriffe79 in der (reinen) Anschauung.

74 75 76 77 78 79

Kritik der reinen Vernunft B 741. Ebd. Kritik der reinen Vernunft B 744. Kritik der reinen Vernunft B 742. Ebd. „Die Mathematik aber konstruiert nicht bloß Grçßen (quanta), wie in der Geometrie, sondern auch die bloße Grçße (quantitatem), wie in der Buchstabenrechnung, wobei sie von der Beschaffenheit des Gegenstandes, der nach einem

322

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

Grundlage dieser handlungstheoretischen Definition mathematischer Begriffe ist wiederum die Schematismuskonzeption Kants. Das Verfahren, ,einem Begriff sein Bild zu verschaffen, heißt nach dieser Konzeption ,das Schema zu diesem Begriffe80. Mathematische Konstruktionsverfahren oder Regeln stellen demnach Schemata dar, und zwar transzendentale Schemata, insofern ein (transzendentales) Schema (in einer schwierigen Definition Kants) etwas ist, „was in gar kein Bild gebracht werden kann“, es ist „nur die reine Synthesis, gemß einer Regel der Einheit nach Begriffen berhaupt, die die Kategorie ausdrckt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes berhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemß a priori in einem Begriff zusammenhngen sollen“81. Anhand des Beispiels (des Schemas) der Zahl bzw. eines arithmetischen Kalkls in moderner Darstellung, der hier bereits zur Erluterung des Begriffs eines nicht-begrifflichen Apriori herangezogen wurde82, lßt sich dem ein methodischer, wiederum handlungstheoretisch begrndeter Sinn geben. Schemata wie das Schema der Zahl stellen demnach Handlungscharaktere 83 dar – wie auch die Elemente der Leibnizschen Charakteristik.84 Die transzendentale Rekonstruktion des Begriffs der Anschauung bzw. des Begriffs der Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung besttigt einerseits Kants ursprngliche Auffassung einer fundamentalen Differenz zwischen der mathematischen und der philosophischen Wissensform, schafft aber gleichzeitig zusammen mit einer neuartigen handlungstheoretischen Perspektive die Mçglichkeit, mathematische Verfahren, etwa auch das geometrisch-konstruktive Verfahren in seinem ursprnglichen griechischen Sinne, in den Formen einer transzendentalen

80 81 82 83 84

solchen Grçßenbegriff gedacht werden soll, gnzlich abstrahiert“ (Kritik der reinen Vernunft B 745). Kritik der reinen Vernunft B 179 f.. Kritik der reinen Vernunft B 181. Vgl. Kapitel 8.5. Vgl. F. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt 1968, 1976, 114. Dies ist im Detail von F. Kambartel ausgearbeitet worden (a.a.O., 115 ff.), desgleichen von F. Kaulbach (Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des Kantischen Denkens, Studium Generale 18 [1965], 464 – 479; Philosophie der Beschreibung, Kçln/Graz 1968, 228 ff., 291 ff.).

15.4 Konstruktion und reine Anschauung

323

Pragmatik philosophisch zu begrnden.85 Erst damit gewinnt der Konstruktionsbegriff seine volle wissenschaftstheoretische Bedeutung. Gleichwohl hlt Kant an der These von der prinzipiellen Differenz zwischen mathematischer und philosophischer Wissensbildung fest und verstrkt diese noch durch seine Bestimmung der ,Grenzen der reinen Vernunft im transzendentalen Gebrauche86. Bei dem Versuch, Grenzen der Erfahrung zu verlassen, schaffe auch „die Befolgung der mathematischen Methode (…) nicht den mindesten Vorteil (…), es mßte denn der sein, die Blçßen eben selbst desto deutlicher aufzudecken, daß Meßkunst und Philosophie zwei ganz verschiedene Dinge sein“87. Noch einmal betont Kant in diesem Zusammenhang – und sei auch hier noch einmal wiederholt –, daß die ,Grndlichkeit der Mathematik auf ,Definitionen, Axiomen, Demonstrationen beruhe und „keines dieser Stcke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie kçnne geleistet, noch nachgeahmet werden. Daß der Meßknstler, nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebude zu Stande bringe, der Philosoph nach der seinigen in dem Anteil der Mathematik nur ein Geschwtz erregen kçnne, wiewohl eben darin Philosophie besteht, seine Grenzen zu kennen“88. Leibniz und das Programm einer ,Versçhnung von Geometrie 85 Zur Begrndung vgl. J. Mittelstraß, ber ,transzendental, in: E. Schaper/W. Vossenkuhl (Eds.), Bedingungen der Mçglichkeit. ,Transcendental Arguments und transzendentales Denken, Stuttgart 1984 (Deutscher Idealismus IX), 158 – 182 (engl. On ,transcendental, in: R. E. Butts/J. R. Brown [Eds.], Constructivism and Science. Essays in Recent German Philosophy, Dordrecht/Boston/London 1989 [The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science 44], 77 – 102); in diesem Band Kapitel 8. Kant hebt ausdrcklich den konstruktivistischen Charakter der mathematischen Vorstellung hervor: „Wir kçnnen uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die ußerlich figrliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in demselben, Acht haben. Bewegung, als Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung eines Objekts), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemß bestimmen, bringt so gar den Begriff der Sukzession zuerst hervor“ (Kritik der reinen Vernunft B 154 f.). 86 Kritik der reinen Vernunft B 754. 87 Ebd. 88 Kritik der reinen Vernunft B 754 f..

324

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

und Metaphysik89 werden endgltig jenseits derartiger, nunmehr durch die Transzendentalphilosophie gesetzter Grenzen angesiedelt.

15.5 Die Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion (ein systematischer Ausblick) Eine wissenschaftstheoretische Konsequenz der Explikation des Konstruktionsbegriffs ist die Unterscheidung zwischen Mathematik als konstruktiver und Philosophie als analytischer Disziplin. Dagegen spricht nicht nur der Konstruktionsbegriff in seinem erluterten pragmatischen Sinne, sondern auch der Gebrauch, den Kant selbst von der in seinen Augen disziplinenbildenden Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Methode90 gemacht hat, indem er den Aufbau der „Kritik der reinen Vernunft“ als synthetisch, den der „Prolegomena“ als analytisch bezeichnet91. Hier ist es die propositionale Auffassung der ursprnglichen, geometrisch-konstruktiven Unterscheidung von Analysis und Synthesis, die nunmehr von Kant selbst auf philosophische Darstellungsformen bertragen wird. Ein derartiger philosophischer Gebrauch einer mathematischen Unterscheidung mag in einem gewissen Sinne der so gekennzeichneten philosophischen Konzeption ußerlich sein. Es gibt jedoch, wie bereits ebenfalls dargestellt92, auch mathematische Grnde, die einen Gegensatz von philosophischer und mathematischer Wissensbildung als einen selbst reichlich konstruierten erscheinen lassen. Wenn nmlich die Form der philosophischen (und wissenschaftstheoretischen) Analyse die Rekon-

89 Vgl. F. Kaulbach, Immanuel Kant, Berlin 1969, 59. 90 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 758. 91 Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (1783), §§ 4f., Akad.-Ausg. IV, 274 ff. (Werke III, 134 ff.). Fr eine klare methodologische Unterscheidung zwischen Analysis und Synthesis bei Kant vgl. § 111 seiner „Logik“: „Die analytische Methode ist der synthetischen entgegengesetzt. Jene fngt von dem Bedingten und Begrndeten an und geht zu den Prinzipien fort (a principiatis ad principia), diese hingegen geht von den Prinzipien zu den Folgen oder vom Einfachen zum Zusammengesetzten. Die erstere kçnnte man auch die regressive, so wie die letztere die progressive nennen“ (Akad.-Ausg. IX, 149 [Werke III, 581]). 92 Vgl. Kapitel 10.4.

15.5 Die Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion

325

struktion ist93, dann spricht systematisch nichts dagegen – und wurde so auch dargestellt –, Konstruktionen, die nach Kant die Mathematik definieren, als Rekonstruktionen, die nach Kant im Sinne einer philosophischen Analyse gegebener Begriffe die Philosophie definieren, zu verstehen, also mathematische Konstruktionen unter Fundierungsgesichtspunkten als pragmatische Rekonstruktionen aufzufassen.94 Nach Kants eigenen Analysen im Rahmen der Schematismuskonzeption besitzen mathematische Konstruktionen ein pragmatisches Fundament, und dieses liegt in Handlungsstrukturen beschlossen. Theoretische Gegenstnde, in Kants Beispiel die natrlichen Zahlen, werden in Form von Rekonstruktionen einer vortheoretischen (pragmatischen) Praxis, zu der auch Handlungsfolgen wie Anfang, Aufeinanderfolge und Wiederholung gehçren, erzeugt. In diesem Sinne war gesagt worden, daß mathematische Verfahren bereits bei Kant in einer transzendentalen Pragmatik begrndet sind. Mathematik und Philosophie htten, wenn ihre Methode die Rekonstruktion ist, ein gemeinsames Fundament. Leibnizens Argumente zugunsten der Idee philosophischer Konstruktionen sind also noch nicht erschçpft, auch wenn sie im strengen Sinne wiederum nur in der Terminologie der Einsichten Kants formulierbar sind. Die konzeptionellen Strken und Schwchen sind gut verteilt. Kants Unterscheidung zwischen einer synthetischen Form der mathematischen Wissensbildung und einer analytischen Form der philosophischen Wissensbildung reflektiert einen Standpunkt, der unter methodologischen Gesichtspunkten der Mathematik Leibnizens Orientierungen unterlegen, unter methodologischen Gesichtspunkten der Philosophie Leibnizens Orientierungen berlegen ist. Letzteres wiederum nicht aus Grnden, die in der von Kant getroffenen Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Wissensformen liegen. Sie betreffen vielmehr einen Rekonstruktionsgedanken, der sich nicht auf die Ebene der Stze und Begriffsexplikationen beschrnkt, sondern eine pragmatische Ebene einschließt. Das macht diesen Gedanken sowohl fr die Philosophie bzw. fr die philosophischen Analyse als auch fr die Mathematik bzw. fr die mathematische Konstruktion zu einem konstitutiven Gedanken. Ein Unterschied zwischen philosophischer Analyse und mathematischer Kon93 Vgl. Kapitel 8.5, ferner J. Mittelstraß, Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, in: P. Janich (Ed.), Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Mnchen 1981, 89 – 111, 137 – 148. 94 Vgl. F. Kambartel, Pragmatic Reconstruction as Exemplified by an Understanding of Arithmetics, Communication & Cognition 13 (1980), 173 – 182.

326

15. ber mathematische und philosophische Wissensbildung

struktion bestnde dann lediglich in der Bindung des Konstruktionsbegriffs an Bedingungen der reinen Anschauung. Diese Bindung besteht fr die philosophische Analyse nicht, auch wenn sie es gerade ist, die deutlich macht, was Bedingungen der reinen Anschauung sind. Mit anderen Worten: Die Positionen Kants und Leibnizens liegen, wenn man die systematische Einheit von Konstruktion und Analyse im Begriff der Rekonstruktion betont, entgegen der ursprnglichen Ansicht Kants nicht allzu weit auseinander. Auf dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von Analysis und Synthesis gilt dies brigens auch von der Leibnizschen Unterscheidung zwischen einer ars inveniendi und einer ars iudicandi, die bei Kant der Unterscheidung zwischen einem konstitutiven und einem begrndungstheoretischen Sinn des synthetischen Apriori und in der modernen Wissenschaftstheorie der Unterscheidung zwischen Wissenschaft im Aspekt der Forschung und Wissenschaft im Aspekt der Darstellung entspricht.95 Doch das ist ein weiteres, wichtiges und lehrreiches Kapitel in der modernen Geschichte Kants und Leibnizens. Die Lehre aus dem hier geschriebenen Kapitel – Kants wissenschaftssystematische Unterscheidung zwischen einer synthetischen Form der mathematischen und einer analytischen Form der philosophischen Wissensbildung sowie seine transzendentale Ausarbeitung des Begriffs der mathematischen Konstruktion und Leibnizens methodologische Unterscheidung zwischen einer ars inveniendi und einer ars iudicandi sowie seine begriffstheoretischen und monadentheoretischen Konstruktionen – ist unter anderem die philosophische Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion.

95 Vgl. K. Lorenz, The Concept of Science. Some Remarks on the Methodological Issue ,Construction versus ,Description in the Philosophy of Science, in: P. Bieri/ R.-P. Horstmann/L. Krger (Eds.), Transcendental Arguments and Science. Essays in Epistemology, Dordrecht/Boston/London 1979, 177 – 190.

Abkrzungen Leibniz Akad.-Ausg. Smtliche Schriften und Briefe, ed. Kçniglich Preußische Akademie der Wissenschaften (heute: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Berlin]), ab 1996 mit Akademie der Wissenschaften zu Gçttingen, Darmstadt (spter: Leipzig, heute: Berlin) 1923 ff. (erschienen Reihe I [Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel]: I/1 – 20, 1 Supplementband; Reihe II [Philosophischer Briefwechsel]: II/1 – 2; Reihe III [Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel]: III/1 – 6; Reihe IV [Politische Schriften]: IV/1 – 6 [IV/4 in 4 Teilen]; Reihe VI [Philosophische Schriften]: VI/1 – 4 [VI/4 in 4 Teilen], VI/6 [Nouveaux essais] und 1 Verzeichnisband; Reihe VII [Mathematische Schriften]: VII/1 – 5; Reihe VIII [Naturwissenschaftliche, medizinische und technische Schriften]: VIII/1) Philos. Schr. Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, I–VII, ed. C. I. Gerhardt, Berlin/Leipzig 1875 – 1890 (repr. Hildesheim 1960 – 1961, Hildesheim/New York/Zrich 1996, 2008) Math. Schr. Mathematische Schriften, I–VII, ed. C. I. Gerhardt, Berlin/ Halle 1849 – 1863 (repr. Hildesheim 1962, Hildesheim/New York 1971, 1 Registerband, ed. J. E. Hofmann, 1977) C. Opuscules et fragments indits de Leibniz. Extraits des manuscrits de la Bibliothque royale de Hanovre, ed. L. Couturat, Paris 1903 (repr. Hildesheim 1961, 1966, Hildesheim/New York/Zrich 1988)

Kant Akad.-Ausg. Gesammelte Schriften, ed. Kçniglich Preußische Akademie der Wissenschaften (heute: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Berlin]), Berlin (heute: Berlin/ New York) 1920 ff. (erschienen Abt. 1 [Werke]: I–IX; Abt. 2 [Briefwechsel]: X–XIII; Abt. 3 [Handschriftlicher Nachlaß]:

328

Werke

Abkrzungen

XIV–XXIII; Abt. 4 [Vorlesungen]: XXIV/1 – 2, XXV/1 – 2, XXVI/1, XXVII/1, XXVII/2.1 – 2.2, XXVIII/1, XXVIII/ 2.1 – 2.2, XXIX/1 – 2) Werke in sechs Bnden (mit Originalpaginierung), ed. W. Weischedel, Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt 1956 – 1964 (repr. Darmstadt 1966, 2005; seitenidentische Taschenbuchausgaben: I–X, Darmstadt 1956 – 1968, 1975, I–XII, Frankfurt 1968, 2009 [Register in XII]

Nachweise (Titel zum Teil leicht gendert) Die Begrndung des principium rationis sufficientis, in: Akten des (I.) Internationalen Leibniz-Kongresses (Hannover, 14.–19. November 1966) III (Erkenntnislehre, Logik, Sprachphilosophie, Editionsberichte), Wiesbaden (Franz Steiner Verlag) 1969 (Studia Leibnitiana Supplementa III), 136 – 148. Monade und Begriff. Leibnizens Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffs und der Perzeptionensatz der Monadentheorie, Studia Leibnitiana 2 (1970), 171 – 200. Zeichen, Kalkl, Wahrscheinlichkeit. Elemente einer Mathesis universalis bei Leibniz (mit Peter Schroeder-Heister), in: H. Stachowiak (Ed.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens I (Pragmatisches Denken von den Ursprngen bis zum 18. Jahrhundert), Hamburg (Felix Meiner Verlag) 1986, 392 – 414. Philosophie in einer Leibniz-Welt, in: I. Marchlewitz/A. Heinekamp (Eds.), Leibniz Auseinandersetzung mit Vorgngern und Zeitgenossen, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 1990 (Studia Leibnitiana Supplementa XXVII), 1 – 17. Leibniz und der Akademiegedanke, in: K. Nowak/H. Poser (Eds.), Wissenschaft und Weltgestaltung (Internationales Symposion zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April 1996 in Leipzig. Schsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig), Hildesheim/Zrich/New York (Georg Olms Verlag) 1999, 47 – 58. Leibnizs World: Calculation and Integration, in: sterreichische Akademie der Wissenschaften. Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse 142 (2007), 129 – 135.

330

Nachweise

Der Philosoph und die Kçnigin – Leibniz und Sophie Charlotte, in: H. Poser/A. Heinekamp (Eds.), Leibniz in Berlin, Wiesbaden (Franz Steiner Verlag) 1990 (Studia Leibnitiana Sonderheft 16), 9 – 27. ber ,transzendental, in: E. Schaper/W. Vossenkuhl (Eds.), Bedingungen der Mçglichkeit. ,Transcendental Arguments und transzendentales Denken, Stuttgart (Klett-Cotta) 1984 (Deutscher Idealismus IX), 158 – 182. Ding als Erscheinung und Ding an sich. Zur Kritik einer spekulativen Unterscheidung, in: J. Mittelstraß/M. Riedel (Eds.), Vernnftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1978, 107 – 123. Konstruktion und Rekonstruktion in der theoretischen Philosophie Kants, in: P. Bernhard/V. Peckhaus (Eds.), Methodisches Denken im Kontext, Paderborn (mentis) 2008, 55 – 71. Spontaneitt. Ein Beitrag im Blick auf Kant, Kant-Studien 56 (1966), 474 – 484. Kant und die Dialektik der Aufklrung, in: J. Schmidt (Ed.), Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1989, 341 – 360. Der Streit der Fakultten und die Philosophie, in: V. Gerhardt/Th. Meyer (Eds.), Kant im Streit der Fakultten, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 2005, 39 – 60. Kant, das Wissen und die Medien, in: B. Recki/S. Meyer/I. Ahl (Eds.), Kant lebt. Sieben Reden und ein Kolloquium zum 200. Todestag des Aufklrers, Paderborn (mentis) 2006, 33 – 56. Leibniz and Kant on Mathematical and Philosophical Knowledge, in: K. Okruhlik/J. R. Brown (Eds.), The Natural Philosophy of Leibniz, Dordrecht/Boston (D. Reidel Publishing Company) 1985 (The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science 29), 227 – 261.

Personenregister Adam, Ch. 61, 307 Adorno, Th. W. 238–240, 244, 249, 255 Agazzi, E. 79 Ahl, I. 330 Alewyn, R. 155 Alexander von Aphrodisias 212 Angelelli, I. 164 Apel, K.-O. 182 Aristoteles 38, 62, 64, 78, 112, 133, 173–174, 212, 224, 245, 311, 314, 317, 320 Arnauld, A. 1, 8, 32, 39, 41, 45, 51, 311, 316 Arndt, H. W. 61, 71 Aschenberg, R. 160 Augustinus, A. 209, 305 Bacon, F. 30 Baum, M. 160 Baumgarten, A. G. 273 Baumgartner, H. M. 175 Bayle, P. 56, 97, 144–145 Beck, L. W. 1–2, 162, 178, 197 Beeckman, I. 64 Bennett, J. 160 Berkeley, G. 189 Berlinger, R. 62 Bernhard, P. 330 Bernoulli, Jak. 83 Berthier, L.-A. 205 Bien, G. 264 Bieri, P. 160, 183, 185, 326 Biermann, K.-R. 78, 80–82 Biesterfeld, H. 103 Bird, G. 8 Blank, A. 7 Bodemann, E. 68, 89, 135 Bçhme, G. 177 Bçhme, J. 55

Bollmann, St. 290 Bolzano, B. 76 Bonaparte, N. 205 Bopp, K. 59 Bosse, H. 266 Bothmer, H. C. v. 139 Bourguet, L. 83 Boyle, R. 30 Brandt, R. 259, 262–265 Brather, H.-St. 109–111, 113–116 Brekle, H. E. 311 Brooks, R. A. 289 Brouwer, L. E. J. 205 Brown, J. R. 208, 218, 323, 330 Bruch, R. vom 271–272 Bubner, R. 183 Buchdahl, G. 61, 164, 197 Buchenau, A. 53, 61, 142 Buchholtz, S. 156 Buck, A. 274 Buck, R. C. 207 Budde, H. 299 Buddensieg, T. 109 Burckhardt, H. 73, 76, 78, 80 Burnet, Th. 144–145, 316 Busche, H. 3 Butts, R. E. 169, 178, 212, 218, 316, 323 Campe, J. H. 111–112 Carl Joseph Maximilian, Freiherr von Frst (und Kupferberg) 266 Carnap, R. 78–80, 181, 186, 206 Caroline von Ansbach 134 Carrier, M. 10, 219 Cassirer, E. 7, 53, 142 Christine, Kçnigin von Schweden 134 Chuno, J. J. 109–110 Cicovacki, P. 8

332

Personenregister

Clarke, S. 18, 134 Cohen, I. B. 213 Cohen, R. S. 207 Colbert, J.-B. 110 Conring, H. 311 Conti, A. 4 Conway, A. 316 Couturat, L. 7, 54, 76, 82, 312, 327 Crawford, P. A. 160 Cristin, R. 9 Crusius, Chr. A. 2 Cudworth, R. 154 Dalgarno, G. 66 Danckelman, D. L. v. 109 Danckelman, E. v. 109, 137, 149 Dangicourt, P. 31 Dencker, K. 296 Des Bosses, B. 8, 219, 318 Descartes, R. 1, 7, 33, 60–67, 88, 134, 307–311, 314, 316 Doebner, R. 139 Drr, K. 313 Dwell, K. 109 Eichner, H. 206 Einstein, A. 94, 118 Elisabeth Charlotte (Lieselotte) von der Pfalz, Herzogin von Orleans 134–135 Elisabeth Stuart (Prinzessin von England, Kurfrstin von der Pfalz) 135 Engelhardt, W. v. 96, 119 Erdmann, J. E. 31 Erman, J. P. 148 Ernst August, Herzog von Braunschweig-Lneburg 135 Euklid 15, 173, 210, 213–215, 217–218, 306 Euler, L. 213 Faak, M. 80, 82 Fnelon 55 Fermat, P. de 20, 82 Fichte, I. H. 222 Fichte, J. G. 134, 206, 222, 263, 270–271, 274

Finster, R. 5 Fischer, K. 7, 54, 97 Flusser, E. 290 Flusser, V. 287–288, 290 Forschner, M. 281 Foucher, S. 34 Franck, S. 55 Frege, G. 77 Freytag-Lçringhoff, B. v. 311 Friedrich der Große 152, 154, 156, 284 Friedrich III von Brandenburg, (als Friedrich I) Kçnig von Preußen 109–111, 114, 149, 156 Friedrich V, Kurfrst von der Pfalz 135 Friedrich Wilhelm I (Kçnig in Preußen) 284 Friedrich Wilhelm II 262 Friedrich, Erbprinz von HessenKassel 137 Fuhrmann, A. 295 Funke, G. 11 Gabriel, G. 4 Gbe, L. 308 Galenos 212 Galilei, G. 212–213 Garber, D. 8–9, 79 Gassendi, P. 30 Georg II, Kçnig von England 134 Georg Ludwig, Kurfrst von Hannover (Braunschweig-Lneburg), Kçnig von England 137 Georg von Sachsen-Meiningen, Prinzeß 148 Gerhardt, C. I. 4, 327 Gerhardt, V. 330 Gethmann, C. F. 182, 205 Gliwitzky, H. 206 Glockner, H. 238, 258 Gçdel, K. 70 Gçrtz, W. v. 153 Goethe, J. W. v. 282 Gottschalk, J. 128 Gram, M. S. 160 Grau, C. 109–111 Graunt, J. 82

333

Personenregister

Greiffencrantz, Chr. J. N. v. 145 Greve, H. J. 127 Griffiths, A. P. 160 Grua, G. 18 Gruender, D. 79 Grunert, F. 1 Guhrauer, G. E. 103, 111, 128, 151 Gurwitsch, A. 7, 96, 129

Hbner, K. 29, 171 Hultsch, F. 61, 211 Humboldt, W. v. 121, 257–258, 270–277 Hume, D. 281 Husserl, E. 117 Huygens, Chr. 30, 81 Ischreyt, H.

Habermas, J. 182, 283 Hacking, I. 78–79, 81–83 Hahmann, A. 12 Harnack, A. 121, 132, 137, 150 Hartley, H. 110 Hegel, G. W. F. 95, 100, 117, 127, 133, 140, 146, 238, 250–251, 258, 275 Hegselmann, R. 182, 205 Heidegger, M. 296 Heidemann, I. 226 Heimsoeth, H. 165 Hein, I. 116 Heinekamp, A. 5, 65, 69, 109, 116, 127–128, 329–330 Helmont, F. M. van 316 Henrich, D. 183 Henry, C. 82 Hermes, H. 228 Herring, H. 96, 99, 146 Heuvel, G. van den 145 Heyting, A. 205 Higgins, K. M. 1 Hilbert, D. 206 Hildebrandt, G. 109 Hinske, N. 164 Hintikka, J. 61, 79, 161–162, 168–169, 178, 211–212 Hobbes, Th. 1, 65–66 Hochkeppel, W. 187 Hçflechner, W. 265, 273 Hofmann, J. E. 327 Hogrebe, W. 222 Horkheimer, M. 238–240, 244, 249, 255 Horstmann, R.-P. 160, 183, 185, 326 Hudde, J. 53, 82 Hbener, W. 65, 100

283

Jablonski, D. E. 103, 109–110, 113, 149, 151 Jacobi, F. H. 200–201 Jacobi, K. 79 Jger, M. 207 Jsche, G. B. 226 Janich, P. 175, 177, 181, 220, 325 Jauernig, A. 8–9 Jochum, U. 299 Johann Friedrich, Herzog zu Braunschweig und Lneburg 115, 124 Joy, B. 289 Jrgens, H. 305 Kabitz, W. 54 Kaehler, K. E. 9, 11 Kambartel, F. 62, 166, 171, 175, 178, 182, 216, 221, 228, 322, 325 Kamlah, W. 173, 308 Kant, I. IX–X, 1–6, 8–12, 17–18, 29, 53–54, 58–59, 90, 94, 102, 117, 124, 126, 133, 142, 147, 159–211, 213–228, 231–236, 238–287, 289, 291, 295, 298–299, 303–307, 309–310, 313–314, 320–326 Kanter, J. J. 284 Kanthak, G. 150 Kaulbach, F. 102, 147, 219, 322, 324 Kauppi, R. 66, 311 Kintzinger, M. 274 Kircher, A. 65 Kittler, F. A. 266 Klopp, O. 109–110, 135, 138–139, 143–144, 149–150, 153–154 Knobloch, E. 109, 127 Knorr von Rosenroth, C. 316

334

Personenregister

Koch, C. D. 78 Kçppen, F. 200 Kçrner, St. 162, 183 Kçssler, H. 281 Kohnen, J. 284–285 Kopernikus, N. 126 Koyr, A. 97 Krauske, O. 136 Krings, H. 175 Krçnert, G. 138 Krger, G. 97 Krger, L. 41, 73, 79, 83, 160, 183, 185, 326 Khn, M. 261, 265 Kulstad, M. 7 Kurzweil, R. 289 Lakatos, I. 206–207 Lambert, J. H. 2, 59, 171 Lauth, R. 206 Leibniz, G. W. IX–X, 1–12, 15–59, 63–156, 208, 210, 214, 219–220, 242, 282, 303–307, 310–320, 322, 325–326 Leonardo da Vinci 87 Lvy, P. 288 Lewendoski, A. 3 Lichtenberg, G. Chr. 290 Lieselotte von der Pfalz 134–135 Locke, J. 1, 45–46, 50, 142–144 Lodge, P. 2 Loemker, L. E. 103 Longuenesse, B. 8–9 Loos, W. 155–156 Lorenz, K. 39, 41, 57, 90, 92–93, 175, 177, 185, 216, 229, 317, 319–320, 326 Lorenzen, P. 173, 182, 229 Ludwig XIV, Kçnig von Frankreich 134, 156 Luhmann, N. 182 Luise Dorothea Sophie von Brandenburg 137 Łukasiewicz, J. 69, 76 Lullus, R. 64–65 Lundgreen, P. 275 Mahnke, D.

55

Mahoney, M. S. 61 Malebranche, N. 1 Marchlewitz, I. 116, 329 Marshall, D. 76 Martin, G. 32 Masham, D. 154 Maxwell, J. C. 94, 118 McKie, D. 110 McWalter, T. 4 Meijering, Th. 78 Melanchthon, Ph. 273 Mendelssohn, M. 243, 261, 286 Menne, A. 29, 171 Merchant, C. 316 Mersenne, M. 63 Meyer, S. 330 Meyer, Th. 330 Micraelius, J. 60 Mittelstraß, J. IX, 4, 15, 29, 37, 57, 62, 66, 68, 79, 88, 90–91, 102, 109, 116, 120, 123, 147, 166, 169, 175–176, 181, 203, 207–208, 212–213, 216, 218–220, 222, 229, 241, 268, 285–286, 293, 297, 310, 312–313, 317, 323, 325, 330 Mocek, R. 147 Molesworth, W. 65–66 Mondadori, F. 7 More, H. 316 Mller, K. 138 Mnzenmayer, H. P. 128 Newton, I. 9, 67, 134, 165, 211–214, 218, 269 Nicole, P. 311 Nietzsche, F. 190, 194, 290 Nowak, K. 129, 329 Okruhlik, K.

208, 330

Pappos von Alexandreia 61–62, 211–212 Parkinson, G. H. R. 3, 5, 47, 313, 317, 320 Pascal, B. 82 Passmore, J. 160 Paton, H. J. 226 Paulsen, F. 112, 271

Personenregister

Peckhaus, V. 330 Pflaumer, R. 32 Platon 37, 57, 133, 136, 198, 225 Plessner, H. 276 Pçllnitz, H. Ch. v. 138, 148, 153, 155 Pomberger, G. 127 Popper, K. R. 83, 182, 207 Poser, H. 12, 69, 72, 109, 129, 329–330 Pozzo, R. 269 Prauss, G. 197, 201 Priestley, J. 269 Prisching, M. 293 Pufendorf, S. v. 137 Pupi, A. 285 Ramus, P. 60 Ranke, L. v. 138–139, 148 Rechenberg, P. 127 Recki, B. 330 Reichenbach, H. 181 Remes, U. 61, 211 Remond, N. 56, 98 Rescher, N. 12, 197, 313 Riedel, M. 281, 330 Rietz, H. 283–284 Rilke, R. M. 290 Ritter, J. 228–229 Robinet, A. 35, 39, 44, 46–48, 51, 55–56 Rçdeken, C. 67, 88, 124 Rçtzer, F. 287, 296 Roller, D. H. D. 213 Rorty, R. 160, 183 Rosefeldt, T. 11 Rosenberg, J. F. 160 Ross, G. M. 4 Roth, F. 200 Rousseau, J.-J. 251–253 Roy, G. le 32, 36, 38, 40, 45, 51–52 Ruf, H. L. 160 Russell, B. 7, 56, 72, 320 Rutherford, D. 2 Salzinger, I. 64 Salzmann, Chr. G. 111 Savigny, F. C. v. 206, 272

335

Schaper, E. 168, 218, 323, 330 Schaub, W. 305 Schelsky, H. 111 Schepers, H. 79 Schlechta, K. 190 Schlegel, F. 206 Schleiermacher, F. D. E. 270–272, 274 Schmidt, F. 21, 39, 69 Schmidt, J. 102, 285, 330 Schndelbach, H. 207, 272, 276 Schneider, I. 79 Schneider, M. 3, 6, 266 Schneiders, W. 1 Scholz, H. 228, 235 Schooten, F. van 81 Schroeder-Heister, P. 59, 79, 88, 329 Schulenburg, J. M. v. 153 Schupp, F. 69 Schwemmer, O. 173, 182 Schwinges, R. Chr. 265, 271–272, 275 Seifert, A. 274 Selbach, R. 264 Sembach, K.-J. 109 Sievernich, E. 299 Singer, W. 289 Skutella, M. 305 Solomon, R. C. 1 Sophie, Kurfrstin von Hannover 134, 140, 150 Sophie Charlotte, Kçnigin in Preußen 108–109, 133–141, 143–146, 148–150, 152–156 Spinoza, B. de 1 Spranger, E. 270–271 Stachowiak, H. 88, 329 Stark, W. 264, 284 Stegmller, W. 162, 165, 181, 206 Stein, E. 127–128 Stein, L. 32, 34, 36 Stollberg-Rilinger, B. 283 Strawson, B. F. 163 Suden, H. 141 Sckow, S. G. 281 Swedenborg, E. 260

336

Personenregister

Tannery, P. 61, 82, 307 Tarski, A. 76 Tauler, J. 55 Thiel, Chr. 68, 75–76, 89, 281 Toland, J. 139, 145 Totok, W. 116 Trendelenburg, A. 108, 114–115, 131–132, 152 Treue, W. 109 Turing, A. M. 289 Varignon, P. 11, 53, 155 Varnhagen von Ense, K. A. 136 Vieta, F. 61, 213, 307 Volder, B. de 4, 8, 32, 127 Voltaire 99–100, 146 Vossenkuhl, W. 218, 323, 330 Vuillemin, J. 233 Waard, C. de 64 Walch, J. G. 264–265 Wallies, M. 212 Warburton, W. 210 Watkins, E. 10 Weber, C. J. 205

Weber, S. 266 Weibel, P. 287 Weigel, V. 55 Weigl, E. 282 Weischedel, W. 328 Weiss, B. 109 Welke, M. 284 Wellmer, A. 239–240 Wesenberg, G. 206 Wild, Chr. 175 Wilkins, J. 66 Wilson, C. 4 Wilson, M. D. 79 Winterbourne, A. T. 178 Witt, J. de 82 Wittgenstein, L. 56, 159, 177 Wolff, Chr. 2, 8, 60, 274 Wolters, G. 2, 60, 62, 171 Wotton, W. 154 Wright, G. H. v. 166 Wußing, H. 129 Zabell, S. 79 Ziechmann, J. 284

Sachregister Abbildtheorie 56, 159, 177 Abstraktion 226–227, 231, 233–234 Abstraktionstheorie 231 sthetik, transzendentale 184 ther 94 Akademie 103, 108–121, 124–125, 131–132, 137, 149–153 Akzidenz 42 Algebra 62, 66–67, 88, 123, 307 algebra numerosa 307 algebra speciosa 61, 307 Alphabet des Denkens 57, 68, 89, 313 Amphibolie (der Reflexionsbegriffe) 3, 6, 11 Analyse (s. auch: Analysis) 56–57, 61, 66, 88, 309 Analyse, logische 181 Analyse, transzendentale 321 Analysis 61–63, 66, 88, 123, 211–215, 220, 306–312, 314, 320–321, 324, 326 Aneignung 86–87, 94, 117–118, 120 Anfang 167, 177, 181, 184 Anschauung 3, 11, 167, 169, 174, 179–180, 191, 195, 214–219, 222, 226–227, 231–232, 321–322 Anschauung, intellektuelle 222 Anschauung, reine 166, 172, 174–175, 178, 214–219, 221, 321, 326 Anschauungsraum 174–175, 178, 218 Antagonismus 252, 263 a posteriori 23, 45, 83, 169–170 Apperzeption 51, 167–168, 322

a priori 23–24, 45, 59–60, 77, 83, 163–172, 177–178, 185, 213, 215, 228, 309 Apriori, beweistheoretisches 171 Apriori, gestuftes 175, 183 Apriori, lebensweltliches 164, 175–176, 178, 184, 186 Apriori, meßtheoretisches 175, 177 Apriori, nicht-begriffliches 174–175, 178, 185, 218, 322 Apriori, synthetisches 164, 167–170, 172–173, 175, 178, 180, 183, 228, 326 Apriori, transzendentales 172 Apriori, vor-theoretisches 175–176, 180 Apriorismus 90 Argument, transzendentales 160, 162, 184 Aristotelismus 112 Aristotelismus, Paduaner 212 Arithmetisierung 67 ars analytica 311–312 ars characteristica 64, 68, 87, 89, 123 ars combinatoria 64, 87, 310–312 ars demonstrandi 311–312 ars inveniendi 64, 66, 87–88, 123, 311–313, 326 ars iudicandi 64, 66, 87–88, 123, 311–313, 326 ars magna 64 ars symbolica 64, 87 Atom, formales 10, 31, 43, 315 Atom, materielles 31 Atom, substantielles 33, 125, 315 Atomismus, logischer 56–58, 125 Atomismus, physikalischer 30–32, 55–56, 58, 125, 315

338

Sachregister

Aufklrung 107, 238–245, 249–250, 254–256, 258, 266–267, 285–286 Ausgangswahrscheinlichkeit 81 Aussagenwahrscheinlichkeit 79–80, 83 Außenwelt 92, 309 Autonomie 194, 224, 236, 239, 246–249, 261, 267, 286 Autonomie, moralische 247–248 Autonomieprinzip 248 Autoritt 240, 261, 267, 286 Axiom, Euklidisches 15 Basisbegriff 310 Basisprdikator 57 Bedingung (innere/ußere) 43–44 Begriff 226–236 Begriff, einfacher 37 Begriff, individueller 38, 40, 42, 54, 91, 317 Begriff, vollstndiger (vollkommener) 12, 21–25, 38–55, 91–92, 317–319 Begriffskalkl 66 Begriffslogik 69, 73 Begriffsnetz 37 Begriffstheorie, analytische 36, 317–318 Begrndungshandlung 176 Bestimmung (innere/ußere) 24, 39, 47, 50, 92 Bestimmung, exemplarische 186, 192, 231–232, 236 Beweis, unendlicher 78 Bewußtsein, empirisches 167 Bewußtsein, transzendentales 167, 234 Bewußtsein berhaupt 167 Bildung 275–277 Buridans Esel 17 calculus ratiocinator calculus universalis causa efficiens 20 causa finalis 20

313 71, 313

characteristica universalis 37, 64, 67–70, 73, 78, 80–82, 87, 89, 124, 313 cogito ergo sum 309–310 compositio 212 Darstellung 94–95, 98, 106–107, 117–118, 326 Deduktion, transzendentale 162, 169, 184, 233 Definitionstheorie 64 Deismus 139 Dekonstruktivismus 223 demonstratio propter quid 212 demonstratio quia 212 Determinantentheorie 127 Deutlichkeit, sthetische 231 Deutlichkeit, logische 231 Deutung, philosophische 93–95, 106, 117–118 Dialektik 238, 242–243, 254–256 Dialektik, transzendentale 242–243 Dialog, sokratischer 241 Differential 31 Differentialkalkl 125, 313 Ding an sich 3–6, 187–203, 279 Dreieck, charakteristisches 67 Dualismus, metaphysischer 187 Dyadik 127, 138 Ebene, Euklidische 173 Eindeutigkeit 39 Einfache, das 10, 92, 319 Einheit(en) 12, 33–34, 56–57, 91, 125–126 Einheit (der Welt) 59, 84, 98, 122, 125, 128–129 Einheit (des Wissens/der Wissenschaft) 6, 59, 84, 122, 124–125, 128 Einheit, begriffliche 91, 125 Elementarsatz (Elementaraussage) 21, 23, 176 Empfindung 192 Empirismus 2, 189, 235 Endlichkeitsprinzip 245 Energiesatz 316

Sachregister

ens rationis 199 Entelechie 91 Entwicklung 250–252 Enzyklopdie 59, 64, 312 Erfahrung 6, 41, 45, 166, 168–169, 171, 173, 175, 185, 193, 196–197, 235 Erfahrung, Einheit der 12 Erfahrung, philosophische 140 Erfahrungsurteil 197 Erlanger Schule 206 Erscheinung 3–6, 10, 179, 187, 190–203, 217, 246, 279 esse est percipi 189 Existenz, mathematische 306 Experimentalphilosophie 269 Expertenwelt 131 Extremalprinzipien 19, 26, 100, 129, 146 Feld, elektromagnetisches 94 Fermatsches Prinzip 20 Finalprinzip 19 Fluxionsrechnung 67 Form, substantielle 8, 33–35, 43, 91 formal-analytisch 172 Formalismus 59, 69, 88, 123, 206, 310 formal-synthetisch 173, 180 Forschung 175–176, 326 Forschung, philosophische 269 Forschungsform 90, 124 Fortschritt 251–252 Freiheit 245–249 Freiheitsantinomie 167, 245–249 Fundierung 167, 185 Gegenstand, einfacher 56 Geist, objektiver 275 Geometrie, analytische 62 Geometrie, Euklidische 210, 213–215, 217–218, 306 Gesamtsystem 44, 91, 126, 319 Geschichte, philosophische 254 Geschichtlichkeit 249 Gesetz der großen Zahlen 83 Gott 17–18, 36, 77, 96–98, 100, 102, 129, 142, 145–146

339

Gravitationsgesetz 59 Grenzwert 31 Grund, absoluter 222 Grund, Satz vom (zureichenden) 15–20, 24, 27, 84, 100, 197 Grundfigur 67, 179, 216, 313 Grundregel 67, 313 haecceitas 40 Handlung (Handeln) 17–20, 25, 27, 35–36, 222, 224–225, 227, 245–249 Handlungsautonomie 238, 247 Handlungsschema 183–184 Harmonie, prstabilierte 12, 44, 46, 52, 58, 84, 91, 98, 126, 129–130, 144–145, 319 Hermeneutik, logische 85, 92 Herstellungsapriori 177 Hypothese 63, 79, 81 Hypothesenwahrscheinlichkeit 79 Ich 32, 142, 222 Ich, absolutes 222 Ich, logisches 224, 226 Idealismus, deutscher 276 Idealismus, dogmatischer 189 Idealismus, empirischer 163 Idealismus, formaler 162 Idealismus, kritischer 162 Idealismus, transzendentaler 162–163, 165 Idee 195, 197–199, 202 Idee, transzendentale 246 Ideenlehre 198 Identitt 39 Imperativ, kategorischer 194, 248 Imperativ, methodischer 203 Indifferenzprinzip 82 Individualitt 41 Individuation 33–34, 90, 140, 315 Individuum 38–41, 47–50, 90, 318, 320 Infinitesimalkalkl 67–68, 88–89, 124 Information 293–298 Informationsgesellschaft 279, 294, 298

340

Sachregister

Informationswelt 294 Intelligenz, knstliche 289 Interdisziplinaritt 131 Interpretation, konstruktive 207 Intuitionismus 77 Invarianzforderung 230–231 ius conditionatum 80 ius nullum 80 ius purum 80 Kabbala 64 Kalkl 67, 69, 71, 73, 76, 88, 313 Kalkl, algebraischer 313 Kalkl, arithmetischer 179–180, 216, 313, 322 Kalklisierung 67, 71, 88, 123–124, 313 Kalkltheorie 63, 77–78, 84 Kategorie 169, 179, 184, 217–218, 222, 235 Kausalitt 16–17, 245–247 Kausalittsprinzip (Kausalprinzip) 17, 19, 170 Kennzeichnung 21, 24, 39–41, 43, 47, 52, 92, 317 Kennzeichnung, vollstndige 39–42, 50, 53, 92 Klassenlogik 69 Klassifikationslehre 64–65 Kolumbus-Welt 85–86 Kombinatorik 37, 64, 66, 81, 88, 123 Komparation 226, 231–232 Komplementarittsprinzip 94 Komplementbegriff 72 Konklusion 74–75, 77 Konstante, logische 74 Konstitution 304 Konstitutionssystem 206 Konstitutionstheorie 167, 172–173 Konstruktion (logische, rationale etc.) 4–6, 11, 52, 54, 61–62, 93, 117, 127, 130, 170, 174–175, 180, 204–208, 214–218, 221–223, 231, 234, 254, 303, 320–326 Konstruktivismus 77, 206–207 Konstruktivismus, methodischer 206–207

Konstruktivismus, radikaler 223 Kontinuittsprinzip 31, 125 Kontinuum, Labyrinth des 90 Kopernikanische Wende 163, 168 Korpuskularphysik (Korpuskularphilosophie) 8 Kraft 9–10, 31, 35, 125 Kritik 54 Kritik, transzendentale 161, 164 Kultur 253 Kunstsprache 64–65, 71, 87, 89, 123 Leibniz-Philosophie 106 Leibnizprogramm X, 2, 63, 66, 87, 89–91, 93, 123–124 Leibniz-Welt 85–87, 90, 92–96, 98, 100, 102, 104, 106–108, 111, 116–118, 120–121, 124, 126–127 Leibniz-Wolffsche Philosophie 2, 4, 8 Leonardo-Welt 85–87, 96, 105–107, 120, 297–299 lingua universalis 310, 313 Logik, deduktive 63, 80 Logik, formale 84 Logik, induktive 78–80 Logik, Leibnizsche 36 Logik, mathematische 70 Logik, transzendentale 159 Logik des Kontingenten 78 Logik des Notwendigen 78 Logik des Scheins 279–280, 295 Logik des Wahrscheinlichen 80 Logikkalkl 63, 68, 89, 124 Logikkalkl, algebraischer 68–69, 76 Logikkalkl, arithmetischer 68–69, 72–76, 313 Logik von Port Royal 311 Logisierung 63 Logizismus 56, 66 Lullismus 64–65 Massenpunkt 31, 43, 125, 315 material-analytisch 172 material-synthetisch 173, 180 Materie (Materietheorie) 9–10

Sachregister

Mathematik, synthetische 215 Mathematisierung 63 mathesis 60 mathesis universalis 60–63, 65, 67–68, 78, 82–84, 89, 115, 123–124, 129, 307–308, 310–314, 317 Mediengesellschaft 280 Medienwelt 296 Metaphysik 2, 7, 11, 17, 29–32, 53–55, 58, 62, 98, 129, 148, 209–210, 220, 241–242, 244, 279, 295, 304, 309 Metaphysikkritik 279 Metatheorie 162, 165 Methode, analytische 66, 78, 88, 123, 212–214, 220, 305, 311, 324 Methode, analytisch-regressive 165–166, 185 Methode, synthetische 66, 88, 123, 210, 212–214, 217–218, 220, 305–306, 310–311, 320, 324 Methode, synthetisch-progressive 165–166, 185–186 Methode, transzendentale 160–163, 184 Methodenlehre 62, 65 Methodenlehre, transzendentale 161, 304 Methodenpostulat 202–203 Mittelbegriff 74–75 Modell 77 Modellsprache 80 Monade 5, 7–10, 12, 31–33, 46–48, 51–53, 91–93, 98, 125–127, 131, 155, 210, 305, 314, 316–320 Monadenlehre (Monadologie) 2, 7, 9–10, 12, 29–32, 44, 46, 51–55, 90–92, 125, 141–142, 220, 314–316, 318, 320 Monadenwelt 92 Moralitt 253 Moralprinzip 248 Name, einfacher 56 Natur, Plan der 253–255 Naturabsicht 251 Naturbeschreibung 268

341

Naturgeschichte 268 Naturkausalitt 196, 245–249 Naturwissenschaft 268 Naturzustand 253 Nominalismus 33, 56, 202 Non-Standard-Analysis 127 notio completa 41 notio composita 36 notio irresolubilis 36–37 notio plena 41 notio primitiva 36–37 Noumenon 4–5, 190, 196–197 Objekt, transzendentales 190, 196 Orientierung 95, 107, 119, 174–177, 249, 296 Orientierungshandlung 176–177 Orientierungswelt 87, 106 Orientierungswissen 105, 108, 119, 131, 176 w-Regel 78 Paralogismus (der Substantialitt) 12 Partikularisierung (des Wissens) 131 Person 194–195 Perspektivismus 126 Perspektivitt (der Welt) 85, 94–95, 98, 117, 155 Perzeption (perceptio) 44–51, 91–92 Perzeptionensatz 44, 46, 48–49, 51, 55, 91 phaenomena bene fundata 4, 11, 126–127 Phaenomenon 4–5, 196–197 philosophia perennis 96 Philosophie, empirische 268–269 Plus-Kalkl 69 Plus-Minus-Kalkl 69 Postulat, Archimedisches 17 praedicatum inest subiecto 22 Prdikatbegriff 24, 36, 38, 71, 317 Prdikation 50, 176–178, 185 Prdikationspraxis 176 Prdikator 228–234 Prdikator, complexer 42, 57

342

Sachregister

Prdikatorenregel 229 Prmisse 74–75, 77 Prsupposition 160–162, 166, 177, 185 Pragmatik, transzendentale 159, 180, 183, 204, 218, 221, 322–323, 325 principium identitatis indiscernibilium (s. auch: Ununterscheidbarkeitssatz) 38, 317 principium melioris 26 principium nobilissimum 15 principium perfectionis 26 principium rationis sufficientis (s. auch: Grund, Satz vom (zureichenden)) 26 principium reddendae rationis 28 Prinzip, Fermatsches 20 Prinzip der kleinsten Wirkung 100, 129, 146 Protophysik 173 Punkt, metaphysischer 10, 31, 33–34, 43, 125, 315 Quadrat, logisches 75 Quantenmechanik (Quantentheorie) 94 Quantifikation 76 Rationalismus 2, 41, 90, 117, 124, 235 Rationalittskriterium 80, 94 Raum 9–11, 94, 169, 174–175, 218–219 Raum, absoluter 218–219 Raumtheorie, relationale 94 Realismus 33, 56, 202, 223 reductio ad absurdum 76 Reflexion 226, 231–233 Regel, ideative 173 regula generalis 309 Reiz (berschwelliger/unterschwelliger) 45 Rekonstruierbarkeit, methodologische 206–207 Rekonstruktion IX, 5, 7, 94, 159, 164, 180–183, 185–186, 204,

206–208, 220–223, 303, 317, 322, 324–326 Rekonstruktion, Imperativ der 159, 186 Rekonstruktion, pragmatische 182–186, 204, 221, 223, 325 Rekonstruktion, transzendentale 217, 322 Relationalismus 94 Relativismus 95, 118 Relativittstheorie, allgemeine 94 repraesentatio discursiva 227 Reprsentation (Reprsentanz) 93, 98, 126, 129 repraesentatio singularis 227 Repulsion 9, 11 res cogitans 33 res extensa 33 resolutio 212 Rezeptionsprinzip 94 salva veritate 39 Satz, analytischer 37, 169, 172 Satz, identischer 22–24, 36, 38, 41, 318 Satz, kontingenter 21–23, 37, 41–42, 318 Satz, notwendiger 22–24, 37, 41–42, 318 Satz, praktischer 18–19, 25–27 Satz, theoretischer 19, 24, 26–27 Schema, transzendentales 167, 178–180, 216–217, 322 Schematismus 169, 181–182, 184, 216, 218, 220–221, 322, 325 Schematismus, transzendentaler 184, 218 Schließen, induktives 80 Schließen, natrliches 61 scientia generalis (s. auch: Universalwissenschaft) 60, 115, 312 scientia universalis (s. auch: Universalwissenschaft) 60, 312 Selbstbestimmung 248 Selbstverwirklichung 203 Semantik 76–77, 84, 90 Semiotik 76 Sensualismus 2

Sachregister

Sinnlichkeit 3–4, 190–193, 196, 200, 202, 246, 309 Spielraum, logischer 81 Spontaneitt 194, 224–228, 232, 234–237, 245 Sprache, formale 70, 84, 90, 124 Sprache, natrliche 84, 90 Sprachkritik 54 Sprachpragmatik, transzendentale 182 Stetigkeit 31 studia humanitatis 273 Subjekt, absolutes 12 Subjekt, intelligibles 142, 246 Subjekt, logisches 92, 319 Subjekt, moralisches 203 Subjektbegriff 24, 36–38, 71, 317 Subjektivitt 173, 178, 182, 184, 222 Subjektphilosophie 9 Subjunktion 166 Substanz 5, 7, 9, 11–12, 29, 32–33, 35–36, 42–43, 54–55, 91–93, 98, 126, 210, 317–320 Substanz, einfache 46, 56, 90 Substanz, individuelle 7, 12, 32–33, 35–36, 38, 43–48, 51–52, 91–92, 129, 142, 316–319 Syllogismus 74–77 Syllogistik 22, 64, 71–74, 77 Syntax 76, 84, 90 Synthese (s. auch: Synthesis) 56–57, 61 Synthesis 66, 88, 123, 211–212, 214–215, 220, 232–233, 306–312, 314, 320–322, 324, 326 Synthesis, figrliche 218–219 System 59, 61, 64 System, intellektuelles 5 System, physikalisches 43 Tatsachenwahrheit 77, 143 Theodizee 102 Theologie (des Wissens) 96, 129 theoria cum praxi 103, 111, 113, 121, 128, 130, 150 Theorieform 90, 124 Theoriendynamik 90, 124

343

Theorienexplikation 90, 124 Theorienstruktur 90, 124 Transdisziplinaritt 131 transzendental 4–5, 9, 11, 159–169, 172–173, 177, 180–186, 196–197, 204, 224, 254, 321, 326 Transzendentalphilosophie 6, 160, 163, 174, 223, 228, 324 Transzendentalphilosophie, analytische 163 Transzendentalpragmatik 182 tu-quoque-Argument 160–161, 181, 184 Turing-Maschine 289–290 Unendlichkeit 41 Universalmathematik 60 Universalpragmatik 182 Universalsprache 68–69, 310, 313 Universalwissenschaft 59–60, 62, 64, 84 Unterscheidungsapriori 177, 180, 185–186 Unterscheidungshandlung 176–177 Unterscheidungswissen 176 Ununterscheidbarkeitssatz 38–39, 44, 317 Urteil, kategorisches 71 Urteilstheorie, analytische 12, 36–38, 78, 317–318 Verfgungswissen 105, 108, 119 Vernnftigkeit (der Welt/der Tatsachen) 100–102, 120, 129, 146–147 Vernunft 3, 18, 57, 65, 101–102, 147, 234–255 Vernunft, Faktum der 252 Vernunft, Genealogie der 238, 244, 250–251 Vernunft, natrliche 143 Vernunft, praktische 101, 147–148 Vernunft, Regel der 25, 147 Vernunft, theoretische 101, 147 Vernunftethik 101 Vernunftgeschichte 250 Vernunftidee 265–266, 268

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Sachregister

Vernunftoptimismus 101–102, 146–148 Vernunftwahrheit 77 Verstand 190–192, 235, 239–240, 242 Verstandesbegriff (s. auch: Kategorie) 169, 179 Verstandesobjekt 5 Virtualitt 287–293, 297–299 vis activa 316 vis viva 35, 316 Vollkommenheit 26 Vollstndigkeit 76, 317 Vorstellung 227, 234 Wahrheit 36, 41, 77 Wahrheit, kontingente 78 Wahrnehmungsurteil 197 Wahrscheinlichkeit 78–83 Wahrscheinlichkeitslogik 59, 78, 80, 83 Wahrscheinlichkeitstheorie 78, 83–84 Wahrscheinlichkeitswert 80 Welt, beste 26, 99–101, 120, 129, 140, 145–147, 149 Welt, mçgliche 26, 81, 99–101, 120, 129, 140, 145–147, 149

Welt, moralische 101, 251 Welt, philosophische 86–87, 90, 106 Wertethik 101 Widerspruch, Satz vom 16, 24, 27 Wille 18, 26, 101 Willensfreiheit 249 Wissen, absolutes 222 Wissenschaft, formale 60, 62, 89, 124 Wissenschaftsanalyse 181 Wissenschaftslogik 206 Wissenschaftssprache 59–60, 63–64, 87, 89, 115, 123, 207 Wissensgesellschaft 279 Zeichensprache 70 Zeichentheorie 64, 68, 84, 87, 89, 123 Zeit 11, 94, 169, 174–175, 209, 218–219 Zusammengesetzte, das 10, 92–93, 319 Zweck (an sich selbst) 194 Zweckrationalitt 239 Zweiweltentheorie 34