Religion als Phänomen: Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt [Reprint 2012 ed.] 3110168529, 9783110168525, 9783110879797

Dieser interdisziplinär angelegte Sammelband erkundet die Relevanz wissenschaftlicher Erhellungen der Lebenswelt für Sys

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Religion als Phänomen: Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt [Reprint 2012 ed.]
 3110168529, 9783110168525, 9783110879797

Table of contents :
Einführung
Teil I: Das Interesse der Praktischen Theologie an der Phänomenologie
Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion. Problemhorizonte und Leitbegriffe
Die Bedeutung der Phänomenologie für die Konstitution Praktischer Theologie
Teil II: Phänomenologie als Gesprächspartnerin
Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie
Die Phänomene der Phänomenologie
Teil III: Phänomenologie und Religion
Instinkt und Symbol. Semiotische Phänomenologie der Religiosität
Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen, lebensweltlichen und kommunikativen Kontext
Teil IV: Erkundungen zu Leitbegriffen der Praktischen Theologie
Bewegte Blicke. Erfahrungen mit dem Sehen in Film und Glaube
Zeichen
Das Heilige
Die Autoren dieses Bandes
Personenregister

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Religion als Phänomen

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle · H.-P. Müller

Band 111

W DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Religion als Phänomen Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt

Herausgegeben von Wolf-Eckart Failing, Hans-Günter Heimbrock und Thomas A. Lötz

W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York

2001

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Religion als Phänomen : sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt / hrsg. von WolfEckart Failing - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 111) ISBN 3-11-016852-9

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Inhaltsverzeichnis Wolf-Eckart Failing / Thomas Α. Lötz: Einführung

1

Teil I: Das Interesse der Praktischen Theologie an der Phänomenologie Wolf-Eckart Failing / Hans-Günter Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion. Problemhorizonte und Leitbegriffe

15

Henning Schwer: Die Bedeutung der Phänomenologie für die Konstitution Praktischer Theologie

46

Teil II: Phänomenologie als Gesprächspartnerin Bernhard Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie Michael Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

63 85

Teil III: Phänomenologie und Religion Hermann Deusen Instinkt und Symbol. Semiotische Phänomenologie der Religiosität Wolf-Dietrich Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen, lebensweltlichen und kommunikativen Kontext

99

121

VI

Inhaltsverzeichnis

Teil IV: Erkundungen zu Leitbegriffen der Praktischen Theologie Werner Schneider-Quindeau: Bewegte Blicke. Erfahrungen mit dem Sehen in Film und Glaube

147

Thomas A. Lotr. Zeichen

159

Wolf-Eckart Failing / Hans Günter Heimbrock. Das Heilige

192

Die Autoren dieses Bandes

208

Personenregister

211

Wolf-Eckart Failing / Thomas Α. Lötz

Einführung 1. Der Ausgangspunkt Dieses Buch verdankt sich einer Frankfurter Konsultation, einem wissenschaftlichen mutuum colloquium fratrum. Man nennt das sinnvollerweise nur so, wenn echter Beratungsbedarf vorliegt. Wir bekennen uns dazu und hatten Menschen eingeladen, von denen wir wußten oder denen wir zumindest begründet unterstellen konnten, daß sie noch nicht fertig sind mit der Bemühung, Gegenstand und Wirkung von Religion zu erkunden, das Interesse von Theologie am Leben kenntlich zu machen und zur Aufhellung einer Lebenspraxis beizutragen, die von beidem, Religion wie Theologie, mitbestimmt ist. Die Herausgeber und ihr Umfeld arbeiten an der Programmatik einer „Hermeneutik der religiösen Lebenswelt"1, einer „alltagsorientierten Praktischen Theologie"2 bzw. einer „lebensweltorientierten Praktischen Theologie"3. Dieser Programmatik korrespondiert der variierte Anschluß an neuere Entwicklungen in der Psychoanalyse, der ethnologisch orientierten Kulturanthropologie sowie der nachhusserlschen Phänomenologie bzw. Wissenschaftsansätzen, die stark von der Phänomenologie beeinflußt sind, wie etwa die Gestalttheorie, oder Theorien, die Entsprechungen aufweisen wie der Pragmatismus, vielleicht auch der Konstruktivismus. Im Hintergrund steht die Tatsache, daß in dem Moment, in dem die Praktische Theologie sich nicht mehr als Anwendung dogmatischer Vorgaben versteht, sie sich alle grundlagentheoretischen Probleme selbst ins Haus holt und damit Beratungsbedarf grundlegender Art entsteht. Wir haben in der gegenwärtigen Arbeitsphase den Akzent auf die Phänomenologie gelegt. Wir fragen also nach Bedeutung wie Belastbarkeit der

1 H.-G. Heimbrock, Frömmigkeit als Problem der Praktischen Theologie, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 71 (1983), 18-32. 2 H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992. 3 Vgl. R. Degen/W.-E. Failing/K. Foitzik (Hg.), Mitten in der Lebenswelt, Münster 1992; H. Streib, Alltagsreligion oder: Wie religiös ist der Alltag? Zur lebensweltlichen Verortung von Religion in praktisch-theologischem Interesse, in: International Journal of Practical Theology 2 (1998), 23-51.

2

Failing/Lotz: Einführung

Phänomenologie für Konstitution, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweise und Forschungsstrategien der Praktischen Theologie.4 Sie erscheint uns nicht nur deshalb für Theologie interessant, weil - wie Hermann Lübbe es sah - die husserlsche Phänomenologie „zu den in der Philosophiegeschichte seltenen Theorien gehört, in denen, ohne Vermeidung, jene Probleme nicht vorkommen, die sie der Gefahr einer Konkurrenz oder Kollision mit der Theologie ausgesetzt hätten".5 Die Phänomenologie stellt für uns aber nicht eine Regionalontologie für die Praktische Theologie dar. Wir schließen auch weder an das frühe, interessante Programm einer „phänomenologischen Theologie" an, das Theobald Süß 1961 vorlegte6, noch an die 1994 vorgelegte Programmatik einer „phänomenologischen Dogmatik" (Meckenstock, Deuser, Track, Herms) 7 , noch direkt an die Bemühungen von H. Timm.8 Vielmehr sprechen wir vorsichtiger von der Fruchtbarkeit einer phänomenologischen Orientierung in der Praktischen Theologie, nicht von einer phänomenologischen Praktischen Theologie.9

4

5

6

7 8 9

Vgl. inzwischen W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998; H.-G. Heimbrock (Hg.), Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wende zur Lebenswelt, Weinheim 1998; Th. A. Lötz, Ein Körper verschwindet. Zur Wahrnehmung der kirchlichen Bestattung, in: Pastoraltheologie 86 (1997), 392-410; ders., Hochzeit feiern. Die kirchliche Trauung und das Heilige, in: E. Hauschildt u.a. (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums (FS W. Steck), Rheinbach 2000, 131-151; H.-G. Heimbrock, Öffnung zum Leben. Ein Forschungsbericht zur Phänomenologie in der neueren Praktischen Theologie, in: International Journal of Practical Theology 4 (2000), No. 2. H. Lübbe, Die geschichtliche Bedeutung der Subjektivitätstheorie E. Husserls, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 2 (1960), 319. Schon Heidegger hatte das anders gesehen, vgl. M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie (1927), Frankfurt/M. 1970, 13 ff. Th. Süß, Phänomenologische Theologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 5 (1963), 34ff. Vgl. ferner E. Farley, Phenomenology in catholic and protestant Thought, in: ders., Ecclesial Man. A Social Phenomenology of Faith and Reality, Philadelphia 1975, 235ff.; neuerdings H. Ott, Das Projekt einer Phänomenologie des Glaubens, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 41 (1999), 78ff. W. Härle/R. Preul (Hg.), Phänomenologie (Marburger Jahrbuch Theologie VI), Marburg 1994. H. Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des Alltags, Gütersloh 1983. Nach Abschluß der Manuskripte dieses Bandes hat Wolfgang Steck den ersten Band seiner Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie vorgelegt (W. Steck, Praktische Theologie. Horizonte der Religion - Konturen des neuzeitlichen Christentums - Strukturen der religiösen Lebenswelt, Band I, Stuttgart u.a. 2000). Stecks Theoriekonstruktion „bedient sich zur Erstellung der zugleich mehrschichtigen wie mehrdimensionalen Topographie der religiösen Lebenswelt durchgängig einer mehrstufigen phänomenologischen Methodik." (33) Die Debatte darüber, wie sich dieser Ansatz zu den hier vorgestellten Überlegungen verhält, muß an anderer Stelle geführt werden.

Der Ausgangspunkt

3

Welchen Ausgangsimpulsen verdankt sich das Zugehen auf Begriff und Sache der Phänomenologie? 1.1

Die konstitutive Bedeutung vortheoretischer Erfahrung

Es bleibt für die Praktische Theologie die Aufgabe vorgegeben, Bedingungen und Möglichkeiten gelebter Religion in der Lebenswelt zu erkunden, kritisch im Sinne christlicher Wahrheitssuche zu begleiten und behutsame Anregungen zu geben für ihre Kultivierung wie Gestaltung. Praktisch-theologisch intendiertes Handeln ist ein Wechselwirkungsprozeß, der in dem Maße, in dem er in der Lebenswelt erfolgt, durch die unmittelbare und vorprädikative Herausbildung von Subjektivität charakterisiert ist. Diese entsteht ihrerseits auf signifikante Weise und entsprechend des sozialen Handelns mit anderen Subjekten, mit denen sie ineinandergreift, denn die Lebenswelt ist die gemeinsam geteilte Welt. Dabei kann die alte Streitfrage zunächst einmal suspendiert werden, ob wir es hier mit einem subjektiven oder einem sozialen Apriori zu tun haben, denn die konstitutive Bedeutung von Intersubjektivität und Geschichte ist generell vorausgesetzt. Nur aus der Sicht der Lebenswelt kann die praktisch-theologische Wechselwirkung nicht als intellektualistische, rationale und technologische, sondern als vitale und leidenschaftliche Wechselwirkung enthüllt werden. Was erbringt dazu die Phänomenologie? Phänomenologie nach unserem Verständnis betont eine Reflexionsweise, die nicht bloß auch alltägliche Erfahrungs- und Erlebnisvollzüge zur Sprache bringt, sondern die als „Hermeneutik der Erfahrung" lebensweltliche Strukturen des Handelns, leiblichen Verhaltens, Wahrnehmens und Denkens als Fundament sowohl alltäglicher als auch wissenschaftlicher Sichtweisen menschlicher Existenz und der Wirklichkeit aufzuweisen bemüht ist. Das Husserlsche „Zurück zu den Sachen selbst" heißt zurückkehren auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich derer alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt. Phänomenologische Thematisierung ist fur uns weder naiver Realismus noch idealistischer Reduktionismus. Paradoxerweise zeigen sich die Phänomene, die „Sache selbst", nicht als das, was sozusagen auf der Hand liegt. Sie sind vielmehr verstellt und verschüttet durch alltägliche wie wissenschaftliche Weisen des Betrachtens und Handelns, die bis zur Kritiklosigkeit eingefahren sind. Um diese Routine zu durchbrechen, ist ein Einstellungswechsel notwendig, der die Aufmerksamkeit auf die ihr zugrundeliegende Erfahrung umleitet.

4

Failing/Lotz: Einführung

Die Folge einer Einbettung in die Lebenswelt berührt und verändert sowohl den Charakter von Vernunft (Husserl) als auch die Bestimmung des Charakters von Religion und christlichem Glauben - so unsere Vermutung stärker als Husserl vorausgesehen und Theologen zu denken unternommen haben. Und das gilt selbst dann, wenn sich näher belegen ließe, daß die eine Lebenswelt (singularisch) keineswegs für alle alltägliche Sinnbildung ein einheitliches und eindeutiges Fundament abgibt, und falls sich erhärten sollte, daß es keine durchgängige Vernunftteleologie gibt - so die These von Bernhard Waidenfels10 und anderen. Die Lebenswelt im strikt phänomenologischen Sinne ist ja nicht ein anderes Wort für Konkretion, sondern die Rede von der Lebenswelt verweist auch die Praktische Theologie vor allem auf die Welt des beginnenden Auseinanders, der Augenblicke des Übergangs von der Einheit zur Zweiheit, wo Handeln, Erkennen, Anschauung und Begriff, Bedeutung und Zeichen alles noch ineinander und doch schon dabei ist - dort, wo es sich voneinander löst. Es muß für die Praktische Theologie mit Interesse an gelebter Religion bedeutsam sein, den unbemerkten Hintergrund, vor dem sich thematisch so etwas wie Geist, neues Leben abhebt, selbst sich als Thema zu stellen. Sie würde dann den umgebenden Horizont des Glaubens, in dessen Kontext sich erst Dinge zu zeigen vermögen, auch selber ins Auge fassen können, und in der Lage sein, das syntaktische Gerüst, dank dessen sinnvolle Rede über Gott erst möglich wird, nun eigens zum Ausdruck zu bringen. 1.2

Die Bedeutung der Zwischenräume

Die phänomenologische Orientierung weist die Alternativen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Privatem und Öffentlichem, von Innen (dem Subjektiv-Psychischen und Mentalen) und Außen (dem Objektiven und Physischen) ab und ist statt dessen imstande, zwischen diesen Polen zu vermitteln. Daher kann sie als Korrektiv sowohl zur naturwissenschaftlich orientierten reduktionistischen bzw. behavioristischen Verhaltenstheorie als auch zur (philosophischen) Erlebnis- und Bewußtseinstheorie angesehen werden. Noch einen Schritt weiter geht Bernhard Waldenfels, der dies nicht nur als „Vermittlung" versteht, sondern als die Wahrnehmung von vermittelnden Zwischenräumen. Und was wäre, wenn Religion wie christlicher Glaube gerade in diesen Zwischenräumen, an und auf den Schwellen und Übergängen, ihren produktiven Ort hätten?

10 Vgl. B. Waidenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 21994.

Der Ausgangspunkt

1.3

5

Ein reformulierter Praxis- und Handlungsbegriff

Wir erwarten uns von der Phänomenologie eine Präzisierung praktischtheologischer Grundfragen, z.B. eine Klärung des Praxisbegriffs.11 „Praxis" bedeutet, phänomenologisch gedacht, eben nicht das Handeln nach Regeln und das Anwenden von Wissen, sondern meint zunächst die ganz ursprüngliche Situiertheit des Menschen in seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Das der Phänomenologie verbundene Praxisverständnis definiert Praxis grundsätzlich als „offene Spielräume". Husserl reklamierte die Unabgeschlossenheit unserer Bewußtseinshorizonte.12 Das muß keineswegs eine idealistische Überspringung weltlicher und sozialer Begrenzungen bedeuten. Daß es sie gibt, ist vorausgesetzt; strittig ist allerdings, ob sie objektivierend verhärtet werden als Abgeschlossenheit. Oder ob auch Entfremdung, so gesehen, noch Spielräume enthält, die nicht von vorneherein minderen Rangs sind. Ein solches Praxisverständnis würde aber auch ein neuartiges PraxisTheorie-Praxis-Modell nahelegen und einsichtig machen, welche Bedeutung das Verständnis von Praxis als „theoriegeladene Praxis gegenwärtiger Situationen"13 hätte. Das würde beispielsweise erlauben, das Verhältnis von Theologie zu gelebter Religion, von Lehre und alltagsweltlich praktiziertem Glauben ungleich schärfer zu erfassen. Das hätte ferner Konsequenzen für die Gestaltung von Praxis als kritischer Nachvollzug grundlegender Strukturen. Praktische Theologie wäre dann nicht Anwendung von Theorie auf Praxis, sondern erhebt sich aus der Erfahrung der Praxis selbst. So wie Husserl sein Philosophieren als „saure Arbeit" verstand, die auf eine „Philosophie von unten" setzt14, prüfen wir die Möglichkeit einer „Praktischen Theologie von unten", hier anders verstanden als die ethischbefreiungstheologische „Theologie von unten"15. Ihre Devise lautet, die Erfahrung zum Leitfaden der Praktischen Theologie zu machen, nicht das Handeln allein. Phänomenologie - so betrachtet - greift in die Konstitutionsproblematik von Praktischer Theologie als ganzer ein und reduziert sich nicht auf eine Vorstufe sensibler Erkundung im Dickicht des Alltags, um sodann in einem 11 Vgl. W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, in: B. Beuscher u.a. (Hg.), Prozesse postmoderner Wahrnehmung (FS D. Zilleßen), Wien 1996, 159-181. 12 Husserliana VIII, 149. 13 D. S. Browning, A Fundamental Practical Theology, Philadelphia 1991,41. 14 Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/1911), in: Aufsätze und Vortrage (19111921), Husserliana XXV, 41. 15 Bereits vor 30 Jahren hatte Th. Süß die Möglichkeit einer „Theologie von unten", die sich in Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie weiß, energisch behauptet. Vgl. Th. Süß, Heilsgewißheit. Eine dogmatische Meditation im phänomenologischen Stil, in: O. Michel/U. Mann (Hg.), Die Leibhaftigkeit des Wortes (FS A. Köberle), Hamburg 1958, 306ff.

6

Failing/Lotz: Einführung

oder mehreren Schritten andere und neue Methodologien einzuführen bzw. vermeintlich „theologisch" zu werden. Man kann also nicht so aufteilen, daß das Sehen als Wahrnehmen mittels Phänomenologie geleistet wird, das Urteilen mittels der Dogmatik und das Handeln mittels einer funktionalen Praxologie. Wenn nicht auf allen Ebenen, also im Blick auf Wahrnehmen-Verstehen-Deuten-Verhalten-Handeln, phänomenologische Reflexionen eine fundierte Rolle spielen, kann von einer phänomenologischen Orientierung der Praktischen Theologie im Grunde nicht gesprochen werden. Es gilt also zu unterscheiden, wo lediglich phänomenologische Begrifflichkeit aufgenommen wird 16 und wo tatsächlich ein durchgängiges phänomenologisches Grundverständnis von Wissenschaft, Wirklichkeit und Wahrheit im Blick ist. Nur im letzteren Fall sollte von Rezeption der Phänomenologie die Rede sein. Wohlgemerkt: es geht dabei nicht um das Aufweisen oder Einfordern puristischer Schülerschaften und Schulbildungen. Wohl aber geht es darum zu prüfen, ob die Phänomenologie • eine andere Struktur von Praktischer Theologie erlaubt und ermöglicht • eine andere Bezüglichkeit zu den unausgesprochenen Vorbedingungen religiöser Lebenswelt eröffnet • eine Hilfe ist, zwischen einem funktional-instrumentellen Handlungsbegriff, einem letztlich bedürfhisorientierten oder behavioristisch reduzierten Verhaltensbegriff und theologischen Implikationen von Weltverstehen und Anthropologie kritisch-weiterführend zu vermitteln. Kurz: Unsere Frage ist, ob durch Phänomenologie als heuristisches Moment aller praktisch-theologischer Reflexion ein Mehr an theologischer Wahrnehmung, Verstehen und letztlich theologisch angemessenem Handeln gewonnen werden kann.

2. Zu diesem Band Je für sich genommen, sind die Beiträge in diesem Band nicht durchgängig fixiert auf die zuvor skizzierte engere Fragestellung einer phänomenologischen Reformulierung der Praktischen Theologie. Vielmehr ließ es uns die noch wenig fortgeschrittene Diskussionslage ratsam erscheinen, philosophische, sozialwissenschaftliche und systematisch-theologische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die Religion als Phänomen in den Blick nehmen, auch ohne dabei direkt das spezielle Interesse praktisch-theologischer Theoriebildung zu verfolgen. In der Summe der Beiträge und ihrer Bezugnahme 16 Neuerdings etwa in W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, bes. 168ff.

Zu diesem Band

7

aufeinander entsteht dann aber doch so etwas wie eine Landkarte, die für die Debatte innerhalb der Praktischen Theologie von Nutzen sein dürfte. Die spezifisch praktisch-theologische Frage nach der Phänomenologie artikuliert sich zunächst - erheblich ausführlicher und tiefgründiger als das in dieser Einleitung möglich ist - in dem ersten Beitrag von Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock. Hier wird eine Kombination von problemund forschungsgeschichtlichem Vorgehen als Einstieg gewählt: Zu problematisieren ist die seit den 70er Jahren beliebte Bestimmung der Praktischen Theologie als 'Handlungstheorie' (ob vom funktionalen oder vom kritischen Typ), die sich aus den Sozialwissenschaften einen wenig reflektierten Handlungsbegriff ausleiht, der wesentliche Aspekte der Phänomene religiöser Praxis zu verfehlen droht. Im nächsten Schritt wird gezeigt, wie die Diskussion über Grundorientierung und Methodologie der Praktischen Theologie in den letzten zwanzig Jahren sich an diesem Handlungsbegriff abarbeitet. 'Subjekt', 'Alltag' und 'Verhalten' sind dabei Leitbegriffe, die die Handlungsorientierung nicht einfach hinter sich lassen wollen, aber zu einer Revision des überkommenen Theorie-Praxis-Verständnisses drängen. Daraus folgt auch eine Erweiterung des Spektrums von Bezugsdisziplinen, etwa um Kulturwissenschaften, Religionswissenschaften, und eben die Phänomenologie philosophischer, aber auch human- und sozialwissenschaftlicher Herkunft. Für eine von dorther erneuerte Praktische Theologie ist der Bezug von Religion zur Lebenswelt zentral. Als 'gelebte Religion1 ist diese wiederum in ein theologisch qualifiziertes Verständnis von 'Leben' einzubetten. Im Beitrag von Henning Schröer rückt, ausgehend von einer Kontroverse um Theologie und Phänomenologie in den 60er Jahren, die Entstehungsphase der phänomenologischen Bewegung in Deutschland stärker in den Blick. Schröer läßt Korrespondenzen und Abgrenzungsversuche zwischen diesen beiden schon in den 20er Jahren lebendig werden, wobei er die Fixierung der theologischen Debatte auf Heidegger auflöst und die Ergiebigkeit des Rückgangs zu Husserl demonstriert. Das gegenwärtige und zukünftige Potential des phänomenologischen Denkens für die Praktische Theologie wird über die Präsentation und Diskussion neuerer Versuche vorgeführt und abschließend in sieben Punkten zusammengefaßt. Schröer möchte so zeigen, wie es zu „einer phänomenologisch relevanten Konstitution der Praktischen Theologie als integraler Erfahrungswissenschaft mit Wahrnehmung, Erörterung und Erwartung als Forschungshorizonten" kommen kann. Der zweite Teil läßt das phänomenologische Denken von außerhalb der Theologie zu Wort kommen, was angesichts der ebenso vielfältigen wie unscharfen, häufig sehr oberflächlichen und nicht selten pejorativen Rede von Phänomenologie unter Theologinnen und Theologen dringend angebracht scheint. Bernhard Waidenfels, führender Vertreter phänomenologischer Philosophie in der Gegenwart und engagierter Vermittler zwischen deren deutschen und französischen Entwicklungslinien, zeigt das zentrale

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Failing/Lotz: Einführung

Anliegen dieses Denkens am Erfahrungsbegriff auf. Was heißt es, wenn die Phänomenologie die Rückkehr zu „den Sachen selbst" anmahnt? Was meint sie mit Intentionalität und Reduktion? Kann man phänomenologisch der Gefahr entgehen, Erfahrung auf Bewußtsein zu reduzieren, und worin liegt ihr Antwortcharakter? Warum trifft man in der Erfahrung auf ein Paradox, das nur um den Preis des Verfehlens der Erfahrung aufgelöst werden kann? Und inwiefern ergibt sich daraus für das phänomenologische Reden von religiöser Erfahrung ein spezifisches Dilemma, das die Phänomenologie nicht etwa theologisch unbrauchbar werden läßt, sondern im Gegenteil gerade der Eigenart religiöser Praxis gerecht werden kann - wenn man den Versuchungen einer intuitionistisch-deskriptiven 'Religionsphänomenologie' zu widerstehen vermag? Waidenfels zeigt hier nicht nur Entwicklungsmöglichkeiten für einen Schlüsselbegriff der Praktischen Theologie und der Religionspädagogik auf, die weit über gängige Verlegenheitsformeln wie 'Erfahrung mit der Erfahrung' hinausführen. Er deutet auch die Möglichkeit an, über eine „indirekte Zugangsweise" sich den Phänomenen religiöser Praxis zu nähern, ohne sie durch das Zielen auf Eindeutigkeit in ihrem Eigensinn als Umgang mit dem Fremden par excellence zu zerstören. Entfaltet Waidenfels das phänomenologische Denken von innen her, so setzt der Beitrag von Michael Moxter zunächst mit kritischen Fragen konkurrierender philosophischer Entwürfe an die Phänomenologie ein. Moxters These lautet: Zur applikativen Inanspruchnahme als eine schulbildende Sorte von Philosophie des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich die Phänomenologie keineswegs. Hingegen bilden die charakteristische Methode und die typische Einstellung des phänomenologischen Denkens eine nicht zu unterschätzende Gegenströmung zu einem Wissenschaftsbetrieb, der die Phänomene nur als Anhaltspunkte für etwas jenseits des Phänomenalen Liegendes versteht und sich damit von der Lebenswelt systematisch distanziert. Die „präzise Ungenauigkeit", mit der demgegenüber die Phänomenologie sich beschreibend der Wirklichkeit öffnet, ist kein Intuitionismus und kein naiver Realismus, sondern im Gegenteil eine hochreflektierte Form des ständig variierten, nie abschließbaren Umgangs mit der Phänomenalität der Phänomene. „Die Tugenden des Phänomenologen sind die Beschreibungsnotstände des Theoretikers" - und deshalb sollte auch theologische Theoriebildung das phänomenologische Denken einüben. Der dritte Teil läßt - nun in expliziter Relation zu Begriff und Phänomen der Religion - zwei Spielarten von Phänomenologie zu Wort kommen, die von der von Husserl ausgehenden Denkbewegung ein Stück weit entfernt sind, aber doch erheblich mehr als nur das Adjektiv 'phänomenologisch' mit ihm teilen. Hermann Deuser plädiert fur eine „semiotische Phänomenologie", wie sie Anfang dieses Jahrhunderts, also fast zeitgleich mit Husserl, in den USA von Charles S. Peirce entworfen und neuerdings u.a. von Robert C. Neville für die Religionsphilosophie fruchtbar gemacht wurde. Ihre Leistung

Zu diesem Band

9

besteht in einer Bestimmung von Religiosität, die von religiöser Praxis ausgeht, bei ihr bleibt und die ihr eigenen Wirklichkeitsbezüge und Wahrheitsansprüche ernst nimmt, ohne sie objektivistisch oder subjektivistisch zu überformen. Der Ort religiöser Einsichten ist keine separate Sonderwelt, sondern die menschliche Erfahrung mit ihrem lebensweltlichem Charakter, die von sich aus auf kosmologische und metaphysische Aspekte verweist. Die Frage nach den Herkunftsbedingungen solcher Phänomene hat weniger mit transzendentalen Argumenten, sondern vor allem mit der instinktiven Überzeugungskraft sich aufdrängender Hypothesen zu tun, die sich in der Lebenspraxis bewähren können und bewähren müssen. Dabei bleibt Religiosität immer auf Darstellung angewiesen, so daß Symbolisierung der zentrale Modus religiöser Erfahrung ist. Der Lebensweltbegriff der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz, der darunter eine von Alltagsvollzügen geprägte Region menschlichen Daseins verstand, liegt dem Beitrag von Wolf-Dietrich Bukow zugrunde. Während der Mainstream sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und empirischer Forschung immer noch Religion allenfalls als relikthaftes Randphänomen nachmoderner Gesellschaften einstuft, will Bukow zeigen, daß die Leitreligion Christentum, traditionell als Kirche institutionell verankert, gegenwärtig einer Transformation unterliegt. Religion wird dabei in dreifacher Gestalt reaktiviert und bei Anwendung einer angemessenen soziologischen Methodologie wieder sichtbar: als System fur die Bereitstellung bestimmter Leistungen, als Deutungsinstanz in der Lebenswelt, die eine religiös orientierte Identität für die individuelle Lebensführung zu tragen vermag, und in kultureller Kommunikation, die von alltäglichen Situationen bis zu einer die Gesamtgesellschaft umgreifenden Öffentlichkeit reicht - wie etwa Politik oder Werbung. Der vierte und letzte Teil hat experimentellen Charakter. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, daß der Durchgang durch das phänomenologische Denken der Praktischen Theologie zu neuartigen LeitbegrifFen verhelfen dürfte. Wir verfugen zwar gegenwärtig über keine umfassende Liste solcher Leitbegriffe und über keine Systematik ihrer Erzeugung und Anordnung. Der Phänomenologie gemäßer ist jedoch zunächst auch eher die Form von Erkundungen, in denen potentiell religionshaltige Phänomene probeweise mit Begriffen zusammengebracht werden und der Versuch gemacht wird, die Wechselwirkung beider offenzulegen. So enthält der Beitrag von Werner SchneiderQuindeau nicht nur den Versuch, möglichst genau und phänomennah zu beschreiben, was passiert, wenn Menschen sich im Kino einen Film ansehen; er entfaltet auch jene Verschränkung von Bildhaftigkeit und Bewegung, die dem Film eigentümlich ist. Im Film öffnet sich gleichnishaft ein Wirklichkeits- und Möglichkeitsraum, der eine phänomenale Erweiterung natürlicher Seherfahrungen bewirkt. Das Kino kann als ein Ort des 'Anderssehens' aufgefaßt werden - ein Ort, an dem durch das Anderswoher von Kamera und Pro-

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Failing/Lotz: Einführung

jektor Licht auf das Unsichtbare und Verborgene fällt und gleichzeitig Sichtbares ausgeblendet wird. So tritt der Film dem Betrachter - bei aller mitreißenden narrativen und visuellen Kraft - als etwas Fremdes gegenüber und erweitert so das Wirklichkeitsverständnis. In dem Beitrag von Thomas A. Lötz geht es - ähnlich wie bei H. Deuser, aber hier praktisch-theologisch gewendet - um den Nachweis, daß der Zeichenbegriff von zentraler phänomenologischer Bedeutung ist. Die Grundidee der Semiotik, daß Wirklichkeit nur im konkreten Zusammenhang des Prozesses beschreibbar ist, in dem sich etwas als ein Etwas darstellt, erweist sich nämlich als geeignet, die zentralen erkenntnistheoretischen Pointen der Phänomenologie zu explizieren. Allerdings kann nicht jede Zeichentheorie gleichermaßen als Hauptverbündeter phänomenologischen Denkens gelten. Denn auch in der Semiotik besteht eine starke Tendenz zu lebensweltvergessener Loslösung der Zeichenpraxis von ihrem Realitäts- und Lebensbezug, als wäre sie ein bloßes Spiel mit Bedeutungen. Phänomenologie wie Praktische Theologie haben den Zeichenbegriff bisher allzu stark von solchen zeitweise populären Zeichentheorien her verstanden. Mit einer elementaren Skizze der Semiotik von Charles S. Peirce zeigt Lötz Alternativen auf; dessen 'Critical Common Sense' erweist sich dabei als pragmatistische Variation des Husserlschen Lebensweltkonzepts. Dies läßt sich fur eine lebensweltlich orientierte Praktische Theologie nutzbar machen, auch innerhalb ihrer traditionellen Teildisziplinen. Der abschließende Text von Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock möchte einen phänomenologischen Beitrag zur in den letzten Jahren in der Praktischen Theologie auch im Protestantismus wieder häufigeren Rede vom 'Heiligen' leisten. Das Bedürfnis vieler Menschen nach Segen, die Debatten um die Nutzung von Kirchenräumen oder die Höchstrelevanz bestimmter Erfahrungsbereiche für Jugendliche verweisen auf atmosphärische Phänomene mit Tabu-Charakter. Hier ist fur die Praktische Theologie das kritische Gespräch mit den Religionswissenschaften angebracht, die schon länger nach adäquaten Methoden und Beschreibungsmöglichkeiten fur Widerfahrnisse suchen, die zwar zutiefst in subjektive Vollzüge eingebettet sind, aber gleichzeitig der Subjektivität als fundamental Fremdes und Befremdliches gegenübertreten. Die Beiträge in diesem Band gehen zwar auf eine Frankfurter Konsultation zurück, dennoch ist er kein Tagungsband im herkömmlichen Sinne. Vielmehr gaben die Fragestellung der Konsultation und das gemeinsame Gespräch einen thematischen und methodologischen Rahmen vor, der als Initialzündung fungierte. Die Mehrzahl der Beiträge entstand daher erst nach der Konsultation, einige auch ohne direkte Berührung mit ihr; bereits dort präsentierte Texte wurden stark umgearbeitet und erweitert. In ähnlicher Weise möchte nun auch der vorliegende Band nicht Abschluß und Bilanz für die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Phänomenologie bil-

Zu diesem Band

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den, sondern eine Diskussion erst in Gang setzen und fundieren, von der wir uns für die Praktische Theologie wie fur die anderen beteiligten Disziplinen einiges versprechen.

*

Neben unabwendbaren Erschwernissen wie Krankheit und hochschulpolitisch unruhigen Arbeitsbedingungen waren auch etliche technische Hindernisse zu überwinden, bis die Druckvorlage zu diesem Band fertiggestellt werden konnte. Martin Leonhardt und Susanne Frensel haben durch Vereinheitlichung und Formatierung maßgeblich dazu beigetragen, daß aus zehn einzelnen Beiträgen allmählich ein Buch wurde. Dr. Inken Mädler hat das Personenregister am Ende des Bandes vorbereitet; Andreas Engelschalk hat die Fertigstellung des letzten Aufsatzes vorangetrieben. Herr Wolfram Burckhardt (Berlin) verhalf uns zur Lösung eines Problems mit der Textverarbeitung. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Frankfurt/Main, am 1. Advent 2000 Die Herausgeber

Teil I: Das Interesse der Praktischen Theologie an der Phänomenologie

Wolf-Eckart Failing / Hans-Günter Heimbrock

Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion Problemhorizonte und Leitbegriffe

1. Handeln 1.0

Auf der Suche nach einer Praxistheorie

Mit der Abwendung vom alten pastoraltheologischen Modell und der sozialwissenschaftlichen Wende der modernen Praktischen Theologie hat die programmatische Formel einer „empirischen Theologie" (W. Gruen) bereits seit Anfang der 70er Jahre neuen Zuspruch bekommen. Die Optionen zur Einlösung der Forderung waren unterschiedlich. Zunächst wurde ein stärkerer Praxis- und Wirklichkeitsbezug der Disziplin auf dem Wege über handlungswissenschaftliche Situationsanalyse und in einer gewissen Konkurrenz zu textorientierter Hermeneutik eingefordert. Indem die Praktische Theologie nicht das Verstehen überlieferter Texte, sondern gegenwärtiges christlichkirchliches Handeln zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt macht, organisiert sie sich methodologisch in Analogie zu den modernen Handlungswissenschaften. Hier besteht aber inzwischen angesichts der Vielfalt der in die Theologie importierten sozialwissenschaftlichen Ansätze weiterer Klärungsbedarf. Situations- und Handlungsbegriff sind unpräzise. Zu sichten ist das jeweilige Strukturprinzip unterschiedlich ausgerichteter methodischer Verfahren in den herangezogenen Sozialwissenschaften. Bei der notwendigen theologischen Verträglichkeitsprüfung scheint die Frage zentral, wie Wirklichkeit im Blickwinkel von 'Handeln', von 'Praxis', von 'Empirie' usw. wahrgenommen wird, und ob dies theologisch sachgemäß ist. Dabei ergeben sich methodologische, inhaltliche und forschungsstrategische Probleme. Die überkommene sektorale Aufteilung der Praktischen Theologie (Lehre von Predigt, Seelsorge, Unterricht, Gemeindeaufbau usw.) ist nicht nur theoretisch in ihrer Fruchtbarkeit begrenzt, sondern bereits in ihrem Bezug auf (traditionelle) Felder pfarramtlichen Handelns ekklesiologisch unangemessen, weil pastoral zentriert. Zudem droht sie zunehmend an den Veränderungen von Religion in der Lebenswelt vorbeizugehen, bietet auch wenig Inno-

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vationspotential für neue Gestaltung religiöser Praxis und für Kirchenreform. Deshalb besteht Bedarf fur Neuvermessung des Forschungsfeldes Praktischer Theologie. 1.1

Theorie der Praxis als Handlungstheorie

Die behauptete Konvergenz Praktischer Theologie im Versuch einer handlungswissenschaftlichen Begründung hat sich als recht vage und schillernd erwiesen. Das von R. Zerfaß entwickelte kybernetische Reflexionsmodell handlungsorientierter Praktischer Theologie führt über herkömmliche intuitive oder traditionale Praxisorientierung wirksam hinaus, indem es den Regelkreis von gestörtem Ablauf kirchlichen Handelns, Situationsanalyse und Formulierung adäquater Handlungsimpulse in methodisch formalisierter Weise und unter Zuhilfenahme empirischer Sozialforschung abschreitet.1 Der Handlungsbegriff, wie ihn Zerfaß einbrachte, basierte auf der Darstellung eines idealtypischen Modells mit der Grundstruktur eines korrigierenden Eingriffs in das Handlungsgefüge christlich-kirchlicher Praxis. Dabei wird vor allem die funktionale Handlungstheorie aufgegriffen. Aufgrund genauerer empirischer Daten über die Handlungsbedingungen ist man bestrebt, zu effektiverem kirchlichen Handeln anzuleiten. Der genauere Blick auf die Wirklichkeit steht im Interesse der Steigerung der Wirkungen des eigenen Handelns. Die von Zerfaß vorgeschlagene Methodologie machte kirchliches Handeln prinzipiell revidierbar, eröffnete Differenzierungsmöglichkeiten zwischen Absicht und Wirkung, nahm die Adressaten nicht nur als „Herde" zur Kenntnis, sondern zumindestens indirekt - über „Störungen" - als Mit-Wirkende wahr, forderte die Ernstnahme gestaltender Planung und geplanter Gestaltung anstelle des dogmatischen Diktats von „Richtigkeiten" oder Intuition. Insofern wurde Handeln einerseits bewußter, andererseits offener. Während also ein solcher handlungswissenschaftlicher Zugang zur Wirklichkeit unbestreitbar die Möglichkeit planbarer und kontrollierbarer Wirkungen eröffnet, bleiben sowohl das Verständnis von Wirklichkeit wie auch der Handlungsbegriff in theologischer Hinsicht problematisch. Denn zum einen folgt das Modell grundsätzlich einer eindimensionalen Rationalität im Sinne von Ursache und Wirkung. Zu wehren ist hier - im Sinne von H. Peukerts Kritik - der „machtfÖrmigen" Wahrnehmung von Wirklichkeit strenger empirischer Wissenschaften. Und solange die „Wie-Frage"2 im Sinne der Verbesserung kirchlichen Handelns als axiomatischer Punkt gilt, bleibt die

1 R. Zerfaß, Praktische Theologie als Handlungswissenschaft, in: F. Klostermann/R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974,164ff. 2 Ebd. 165.

Handeln

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Reflexionsperspektive eingeschränkt zugunsten einer pastoral-theologischen Orientierung der Wahrnehmung.3 Zwar konnte der Zerfaßsche Ansatz von Praktischer Theologie den Ausgangspunkt klarlegen: das konkrete christliche und kirchliche Handeln in seiner Eigenwertigkeit gegenüber dogmatisch-theologischer Theorie. Aber andere Aspekte erscheinen an diesem Regelkreis-Modell problematisch: so die letztlich immer noch lineare Vorstellung von Intention-HandlungWirkung, bei der fraglich ist, ob sie der Komplexität des Geschehens Rechnung trägt, zumal unter der theologischen Prämisse der Unverfügbarkeit des Handelns Gottes im menschlichen Handeln. Das Modell setzt also einen einheitlichen Sinn und damit auch eine einheitliche Handlungslogik voraus, ohne dies begründen bzw. aufweisen zu können. Und schließlich: Wenn Irritation nur Ausgangspunkt von Revision und Reform ist, dann droht das Befremdliche bagatellisiert und abgespalten zu werden als grundsätzlich zu behebende Störung. Was aber, wenn das Befremdliche, Irrationale, Störende, Disparate auch theologisch zur Sache selbst gehört? Zerfaß selbst hat die Begrenzung dieses letztlich funktionalen und systemisch-formalen Ansatzes als problematisch empfunden und durch eine Orientierung an der Kommunikationstheorie J. Habermas' und der Fundamentaltheologie Peukerts im Sinne einer kritischen Handlungstheorie zu kompensieren versucht: Die Richtung und Tendenz menschlicher Praxis insgesamt wird unter die regulative Idee der idealen herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft und unter die Norm einer nichtbemächtigenden Wissensproduktion gestellt. Das ermöglicht es ihm, auch die Praktische Theologie an die übergeordneten Kriterien Universalität und Solidarität anzubinden4. Doch blieb gerade in der theologischen Habermas-Rezeption nicht nur die Frage nach der Religion (und damit nach dem Wirklichkeitsverständnis) offen; auch gerade dort, wo der Zerfaßsche Ansatz ohnehin keine hinreichende Begründung erfuhr, nämlich nach Genese und Struktur des Subjekts, konnte die Theorie kommunikativen Handelns auch nicht widerspruchslos akzeptiert werden: die Bindung der Subjektwerdung an Intersubjektivität als zureichende Bedingung vermag nicht zu befriedigen. Zerfaß' Versuch, die funktionale Handlungstheorie mit der Theorie kommunikativen Handelns zu versöhnen, läßt Fragen offen. Die Verbindung ist jedenfalls dann besonders naheliegend, wenn letztlich das ekklesiologische Paradigma der Praktischen Theologie nicht verlassen wird: Kirche wird im Ideal herrschaftsfreier Kommunikation, weitgehend sprachlich konstitutiert

3

Diese Adaption einer funktionalen Handlungstheorie läßt sich noch deutlicher an K.W. Dahm, Beruf Pfarrer. Empirische Aspekte zur Funktion von Kirche und Religion in unserer Gesellschaft, München 1971 ablesen. 4 Vgl. Ders., Gottesdienstliches Handeln, in: E. Arens (Hg.), Gottesrede und Glaubenspraxis. Perspektiven theologischer Handlungstheorie, Darmstadt 1994, 1 lOff.

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formuliert und als reformerisch-handelnde Kirche als Handlungssubjekt im Sinne eines Selbstvollzugs gedacht. Was aber, wenn die Vermittlung im Raum von Kirche sich als zu eng erweist? Und was, wenn Kirche als Subjekt und Kirche der Subjekte, Person und Institution in einer unauflösbaren Spannung zueinander stehen? 1.2

Perspektivische Orientierung im Horizont „kritischer Theorie"

Ein demgegenüber offeneres Modell, bei welchem Praxis durch neue Problemstellungen und Themen aufgeschlüsselt wird und der pastoraltheologische und binnenkirchliche Blickwinkel erweitert werden, hat G. Otto in die Diskussion gebracht5. Überwindung einer auf Handlungsfelder pastoraler Aktivitäten zugeschnittenen sektoralen Aufteilung der Praktischen Theologie geschieht dabei zugunsten eines perspektivisch angelegten Orientierungsrahmens. Logik wie Gegenstandsbereich Praktischer Theologie sollen neu erschlossen werden im mehrdimensionalen Schnittfeld von „Reflexionsperspektiven" (wie 'Hermeneutik', 'Rhetorik' und 'Didaktik'), institutionalisiertem Handeln (wie 'Recht', 'Ideologiekritik' oder 'Symbolik') und grundlegenden „Handlungsdimensionen" (wie 'Lernen', Helfen', 'Deuten' oder 'Feiern'). Der Zugewinn an Realitätsbezug dieses bewußt auf eine geschlossene Systematik verzichtenden Modells scheint evident. Denn wie insbesondere die Entfaltungen der Handlungsfelder belegen, wird hier Aufmerksamkeit auf eine ganze Reihe von bislang übersehenen Themen gelenkt, (etwa Antirassismus, politische Kulte, religiöse Sprache im Kabarett), können darüber hinaus aber auch im Fach eingebürgerte Themen durch Verknüpfungen mit anderen bekannten sowie durch Entfaltung ihrer außerkirchlichen Horizonte neu erschlossen werden. Dabei kommt über Pfarrerinnen hinaus eine breite Palette von professionell und ehrenamtlich Handelnden in den Blick. Und Wirklichkeitsbezug wird nicht allein im Blick auf aktuelles kirchliches Handeln, sondern auf Lebenspraxis im umfassenderen Sinn gesucht. Praktische Theologie wird in der Tat mit sehr weitem Horizont betrieben, nicht als kirchliche Theorie aufgefaßt, sondern als „kritische Theorie religiös vermittelter Praxis"6 bestimmt, deren Bemühungen keineswegs allein auf Effektivierung von Handlungszielen gerichtet ist, die andere theologische Disziplinen vorgeben. Allerdings bleibt beim Zuschnitt dieses offenen und deshalb anregenden Modells manches ungeklärt. Das gilt nicht nur für den Religionsbegriff, der im Gefolge der „kritischen Theorie" religiöse Phänomene wie Dank und Lob, Zustimmung zur Schöpfung, Tröstung und Vergewisserung immer schon

5 6

G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986. G. Otto, Grundlegung, 69.

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unter Ideologie-Verdacht sehen muß. Es gilt auch für die Frage, mit welchen methodischen Verfahren die Themenerschließung vollzogen werden kann. Unklar bleibt, wie weit die perspektivische Orientierung und also Überwindung pastoralen Denkens reicht, da jene letztendlich doch an Handlungsfelder7 zurückgebunden wird. In unserem Zusammenhang besonders auffallig ist aber schließlich der Umstand, daß in diesem Modell der Terminus 'Handeln' zur Bestimmung seiner Grundbausteine ('Handlungsdimensionen', 'Handlungsformen') mannigfaltig benutzt, aber an keiner Stelle problematisiert oder präzisiert wird. Er ist in aller Regel gleichgesetzt mit zielgerichteter Aktivität von Menschen, was nicht immer gegen die Gefahr des Aktionismus gefeit ist. Die von Otto favorisierte Handlungstheorie als Praxis-Theorie mit emanzipatorischem Interesse übersteigt sicherlich qualitativ ein sozialtechnisches Verständnis Praktischer Theologie mit rein instrumentellem Handlungsbegriff. Aber wichtige Fragen bleiben offen. Die theologisch nicht unerhebliche Frage nach den Grenzen eines sozialwissenschaftlichen Handlungsverständnisses wird nicht gestellt, erst Recht nicht die Frage nach dem Verhältnis menschlicher Praxis zum Handeln Gottes und die nach Dimensionen religiöser Praxis einer „vita passiva". Der Ansatz bleibt nicht nur klärungsbedürftig hinsichtlich der systematisch-theologischen Basis der Kritik als seiner Grundkategorie, sondern ebenso hinsichtlich der theologischen Basis und Grenzen menschlicher Aktivität als Veränderungspraxis. Das den Ansatz leitende Theorie-Praxis-Verständnis wird zwar subjekttheoretisch gewendet und soll durch Anleihe bei ästhetischer Theorie vor binnenkirchlicher Beschränkung bewahrt werden. Was aber den Subjekten an alltagsbezogener Selbstwahrnehmung zugetraut wird, ist - nicht zuletzt mit Blick auf die Materialien zu den einzelnen Handlungsfeldern - durchaus sehr begrenzt. Von daher gewinnt man auch den Eindruck, daß über die Praxis von Menschen immer schon entschieden ist, bevor diese überhaupt in den Blick kommen.

2. Alltag 2.1

Subjektorientierte Theologie und das Praktischwerden der Religion

War bei Zerfaß die kirchenreformerische Intention maßgebend, Kirche als handelndes Subjekt zu begreifen, so stellte im Gegenzug H. Luther in den

7

Vgl. Ders., Handlungsfelder der Praktischen Theologie (Praktische Theologie Bd. 2), München 1988.

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Mittelpunkt praktisch-theologischer Theoriebildung die Frage, ob und welche Rolle der Einzelne vor und in allen institutionell-organisatorischen Bezügen, als religiöses Subjekt in (und außerhalb) der Kirche spielt. Damit wies er der Praktischen Theologie die Aufgabe zu, sich nicht allein mit der kirchlich verfallen Religion zu beschäftigen; lebensweltlich präsente Religion und subjektiv angeeignete werden gleichermaßen von entscheidender Bedeutung. Denn nicht Vergegenwärtigung von Kirche, sondern die Gegenwart von Religion im Subjekt ist das eigentliche Thema der Praktischen Theologie8. Gegen gängige Funktionalisierung von Religion als Lieferant von Urvertrauen leistet hier Religion die Ermöglichung von Grenzerfahrung, von Übergängen, das Aushalten von Identitätsbrüchen in der Weise fragmentarischer Existenz: Praktische Theologie als kritische „Schwellenkunde" (W. Benjamin) und „Reflexion aus dem beschädigten Leben" (Th. W. Adorno). Ort der Religion sind die alltäglichen Irritationen wie Transzendenzen, kurz: der Alltag. Sinn macht diese Sichtweise nur dann, wenn Alltag nicht fixiert wird als ideologischer Panzer, Verstellung und Verdrängung durch Routine. Theologisch gehaltvoll wird diese Ortsanweisung erst, wenn Alltag nicht als Anwendung von Sonntag verstanden wird, sich diese beiden nicht wie Frage und Antwort zueinander verhalten, sondern auch in den alltäglichen Transzendenzen Entdeckungen, religiöse Erschließungen und auch WiederAneignung von Tradition sich ereignen können - in der Qualität sonntäglicher Unterbrechung.9 Damit werden freilich Handlungen, wird Praktischwerden von Religion aus der Verengung eines institutionell-professionellen Handlungsmodells ebenso herausgeführt wie aus einem Handlungsverständnis als Herstellung, als funktionalistische Instrumentierung oder bemächtigende Intervention. Denn Praxis schließt auch zweckunabhängiges Sehen, Denken und Verhalten, emphatische Bereiche wie Erleben und Erleiden, Sehnsucht und Schmerz mit ein. Auf diese Weise verschiebt sich nicht nur der Handlungsbegriff, sondern auch das Methodenrepertoire fur Praxis-Wahrnehmung und Aufmerksamkeitssteuerung: Erfahrungen von Brüchigkeit, gesellschaftliche Bedingungen von Lebenschancen, unabgegoltene Hoffnungen in Sehnsucht und Grenzerfahrungen im Schmerz markieren Räume und Orte aufgegebener und bedrohter Subjektwerdung. Dieses kreuzestheologisch verankerte Praxisver8

Vgl. H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992; Grundzüge der angesprochenen Orientierung sind bereits in seiner Habilitationsschrift zu Niebergall angelegt, vgl. ders., Religion, Subjekt, Erziehung, München 1984. 9 Allerdings ließe sich bei H. Luther ein durchaus spannungsreicher Suchprozeß zwischen den Polen eines Heideggerschen restriktiven Alltagsbegriffs einerseits und eines an Waidenfels angelehnten produktiv offenen Alltagsbegriff andererseits rekonstruieren, vgl. ders., Alltagssorge und Seelsorge, in: ders, Religion und Alltag, 224ff.

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ständnis eröffnet eher Handlungsperspetóven als daß es direkt Handiungsanweisungen (auch nicht im kybernetischen Regelkreis) geben könnte. Die dominante Handlungs/orm einer sich darauf besinnenden Kirche wäre dann Begleitung, in Diakonie, Seelsorge und Bildung, als reflexive Denkunterstützung und als Motor des Gedächtnisses (sowohl des Kreuzes wie der Toten). Die Pointe dieser aus einem qualifizierten Praxisbegriff gewonnenen Kritik an einer handlungstheoretischen Praktischen Theologie liegt dann gerade nicht in einer unbegrenzten Diffamierung instrumenteilen Handelns gegenüber kommunikativem Handeln, sondern in der kritischen Konfrontation aller (gelingenden wie mißlingenden) Praxisvollzüge mit einer empathischen Theologie, die sich des Fragmentarischen theologisch-anthropologisch wie gesellschaftstheoretisch als Prozeß bewußt ist.10 Und dennoch bleibt im Dunkeln, welche unhintergehbare Bedeutung Institutionen und institutionelles Handeln für Subjektwerdung und -bleiben anthropologisch haben. Gerade wenn Religion als Weltabstand und Weltdistanz eine konstruktiv-kritisch wie kreative Funktion immer wieder gewinnen soll, bedarf es institutionell aufgehobener Zugänglichkeit und „Abrufbarkeit", bedarf es der Rituale und Riten, Räume und Orte, Organisation, professionellen Handelns und Strukturen. Offen bleibt, wie die distanzgewinnenden und unterbrechenden Akte vermittelbar sind, und welche Medien dies erfordert. Mit der Klärung des Handlungsbegriffs hat sich die Praktische Theologie schwer getan. Und R. Zerfaß hat (selbst-) kritisch vermerkt, daß noch „zu prüfen (ist), ob der damit ins Zentrum rückende Handlungsbegriff nicht ein trojanisches Pferd ist, ein Einfallstor fur Mentalitäten und Haltungen, die die Substanz gläubiger Praxis gefährden."11 Und dennoch konnten erhebliche Fortschritte im Problembewußtsein erreicht werden: der Versuch einer Ernstnahme der Empirie war unübersehbar; ein reformorientierter Handlungsbegriff wurde verschränkt mit sozialphilosophischen normativen Geltungsansprüchen universal-solidarischer Praxis. Aber damit - das zeigt G. Ottos Ansatz deutlich - ist die Frage nach dem in den Theorien oft mitgesetzten spezifischen Profil von Handeln theologisch nicht erledigt. Was wahrhaft menschlich-mitgeschöpfliches Handeln ist, kann praktisch-theologisch freilich nicht an der christlichen Überlieferung vorbei beantwortet werden. Daher kann nach einer spezifischen religiösen Profilierung des Handlungsbegriffs gefragt werden, wenn man denn - wie H. Luther das tut Religion als Weltabstand faßt und einen erinnernden, eher emphatisch profi-

10 Luther verschränkt die „negative Dialektik" Adornos mit der kritischen Kommunikationstheorie (Apel/Habermas), kann aber die Lebenswelt (den Alltag) in seiner phänomenalen Tiefenstruktur nur mit Hilfe der radikalisierten Phänomenologie, besonders von Waidenfels und Lévinas, erschließen. 11 Zerfaß, Gottesdienstliches Handeln, a.a.O., 117.

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Herten Handlungsbegriff anvisiert, der Alltag nicht nur formal als ambivalent beschreibt, sondern kreuzestheologisch, als von Schmerz und Sehnsucht gezeichnet, zum Ort einer Passionsgeschichte macht. Mit der Entwicklung eines differenzierten, mehrdimensionalen Konzepts des Alltags sollte auch eine präzisere Erfassung des Handlungsraumes geleistet werden - und damit auch von praktisch-theologischer Handlungstheorie. Gerade hier aber zeigte sich, daß H. Luther sich nicht auf die kritische Theorie kommunikativen Handelns (Apel/Habermas) als Rahmen praktischtheologischer Theoriebildung beschränken konnte. Mit seinem Rückgriff auf Adorno einerseits und die radikale Phänomenologie andererseits markierte er eine Fehlstelle: Die kritischen Handlungstheorien bieten bisher aber fur Theoretiker wie Praktiker wenig Hilfen für konkrete Analysen. Das liegt nicht nur an dem unterentwickelten methodologischen „Unterbau", sondern hängt wohl auch mit ihrer Fixierung auf die tendenziell intersubjektive Grundsituation kommunikativen Handelns zusammen. Es ist noch nicht ausgemacht, ob nicht auch ein emphatischer Praxis-Begriff mangels lebensweltlicher Bezüge und präziser Alltags-Beschreibungen nur wenig Erschließungsund noch weniger Konstruktions-Ergebnisse zeitigt. Die skizzierte Diskussion um eine praktisch-theologische Handlungstheorie hat also eine beachtliche Intensität und systematische Vertiefung erfahren, die es wert ist festgehalten und fortgeschrieben zu werden. 2.2

Volkskirche als terra incognita oder: das Interesse an einer „Ethnographie der Volkskirche"

Was bei H. Luther als Religion des Subjekts thematisiert wird, ist allerdings freischwebend von dem qualifizierten Mitbedenken einer Organisationsform christlicher Religion konzipiert, nämlich der Kirche. Die Frage, wie Praktische Theologie religiöses Subjektsein nicht nur frei von oder gegen Kirche (als Chiffre für institutionalisierte christliche Religion) wahrzunehmen in der Lage sei, bleibt bei H. Luther offen ebenso wie die, wie man kirchlicherseits das Subjektsein der Kirchenmitglieder wahrnehmen kann in der Vielschichtigkeit dieses Wortes. Nun zeigten aber gerade die Groß-Befragungen der letzten Jahrzehnte, daß der Alltag der Volkskirche quantitativ eindeutig von jenen geprägt wird, die als kirchlich Distanzierte den kirchlich-professionellen Handlungsträgern immer suspekt waren. Die praktisch-theologischen Ortungs- und Interpretationsprobleme derjenigen volkskirchlichen Mitgliedschaft, die man konventionell als Gewohnheitschristen oder Privatchristentum bezeichnete, waren beträchtlich. Das Phänomen des Auswahlchristentums mit Teilidentifikationen und das Phänomen selektiver Glaubenspraxis im Rahmen praktischer Lebensorientierung rückten unübersehbar deutlich ins Blickfeld, ohne daß über allgemeine Begrifflichkeiten wie Säkularisierung, Pluralismus etc. hinaus ein

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Verfahren der Wahrnehmung solcher Phänomene entwickelt worden wäre. Die Frage, was ihr religiöses Subjektsein ausmacht, blieb weitgehend ungeklärt und ungeschützt gegen Behauptungen und Etikettierungen. In dieser Hinsicht ging insbesondere von J. Matthes eine Herausforderung der Praktischen Theologie aus12. Er insistierte darauf, nicht allgemein nach Konstitutionsproblemen von religiösem Bewußtsein und religiöser Subjektbildüng zu fragen, sondern sie unter den historischen Bedingungen von Volkskirchlichkeit zu durchdenken, ohne die Fragestellung kirchensoziologisch zu verengen. Daher hat er die Wahrnehmung der Eigenperspektive der Kirchenmitglieder emphatisch gerade fur jene Gruppe der kirchlich Distanzierten, also der dominanten Form kirchlicher Mitgliedschaft, reklamiert. Das dort kulminierende Problem wechselseitiger Fremdheit von Subjekt und Institution, von Mitgliedern und professionell Handelnden möchte er methodisch durch Kombination von Betrachtungsweisen der interaktionistischen und ethnographischen Methodologie weiterfuhren, also durch Methodologien, die die Aspekte von Wechselseitigkeit und Fremdheit betont aufgreifen. In ethnographischer Hinsicht geht es um die Berücksichtigung der Eigenperspektive der Kirchenmitglieder in doppelter Weise: zunächst die Welt so zu verstehen, wie sie von Menschen im Alltagsleben gesehen und ausgelegt wird, und sodann die Wahrnehmung der Konstruktionsweisen religiösen Alltagswissens und religiöser Praxen in der Alltagswelt aus sich heraus zu begreifen. Dabei ist vorrangig von einer prinzipiellen Differenz auszugehen, die sich in mannigfaltigen Differenzphänomenen zwischen institutionell-professioneller und Laien-Nutzer-Sicht niederschlägt. Gefordert ist also die Fähigkeit zur praktisch-theologisch qualifizierten Alterierung, zum dynamischen Perspektivwechsel zwischen institutioneller Angebotslogik und der lebensweltlichen Logik der Nutzer, für die Kirche weitgehend als Umwelt fungiert.13 „Die Praktische Theologie muß (wieder?) praktisch werden in dem Sinne, daß in ihrer Praxis die Praxis der anderen, auf die sie sich richtet, wahrnehmbar und nachvollziehbar wird - als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der praktisch-theologisch angeleitete Pfarrer in seinem tagtäglichen Handeln den anderen auch da trifft, wo er ist."14 Lebenswelt- und Alltagsorientierung fungiert hier als Vorbereitung der Konfrontation mit fremdem Eigensinn in den alltäglichen beruflichen Feldern der Pfarrerinnen.

12 Vgl. J. Matthes, Wie praktisch ist die Praktische Theologie ? in: Theologia Practica 20 (1985), 149-155. 13 Vgl. W.-E. Failing, Gemeinde als Umwelt - Gemeinde mit Szenen? Die Gemeindepädagogik vor dem Konkreten und die Frage nach einer Kulturpädagogik der Gemeinde, in: R. Degen/W.-E. Failing/K. Foitzik (Hg.), Mitten in der Lebenswelt, Münster 1992, 146175. 14 Matthes, a.a.O., 155

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Diese asymmetrische Perspektivität15 wird solange kommunikations(zer)störend sein, solange nicht im praktischen Handeln der Kirche die einrichtungszentrierte Wahrnehmung aufgegeben wird: Zwischen der institutionsbezogenen Seite seines Auftrages und der Lebenswelt-Wahrnehmung hinsichtlich der Kirchenmitglieder muß der Handelnde wohl unterscheiden und beides in Beziehung zueinander setzen können. Eine Überwindung des Differenzphänomens wäre demnach nicht durch eine einfache Ergänzung möglich, sondern lediglich durch eine ausdrückliche und deutliche Korrektur: eingelöst würde sie als eine Hinwendung zur Rekonstruktion der vernachlässigten Seite der Doppelstruktur des pfarramtlichen Handelns (und nun in bezeichnender Weise) aus sich selbst heraus. „Erst wenn es der Praktischen Theologie gelingt, sich selber den Blick zu öffnen für die inhärenten Bestimmungen jener Lebenswelten, an die sich das pfarramtliche Handeln richtet"16, wäre sie theoretisch angemessen und zugleich in die Lage versetzt, praktisch zu werden. Matthes radikalisiert damit das praktisch-theologische Verstehensproblem dahingehend, daß es als Fremdverstehen im strikten Sinne ausgelegt wird: Daß es hier mit traditionellen empirisch-quantitativen Methoden nicht getan ist, steht für Matthes außer Zweifel. Erforderlich ist eine andere methodologische Grundhaltung: Die Praktische Theologie hätte sich in dieser Lage dem schwierigen Habitus des Kulturanthropologen zu stellen: die Kirchenmitglieder als different wahrzunehmen, als eine christliche Wirklichkeit eigenen Rechts, deren Fremdheit es nicht zu beurteilen, sondern vorab zu erkunden und auszumachen gilt.17 Matthes' methodologische Überlegungen sind in der Praktischen Theologie bislang kaum aufgenommen und weitergeführt worden. Ihr Ertrag für eine lebensweit- und alltagsorientierte Praktische Theologie ist bislang noch nicht ausgearbeitet. Auch nicht sein profunder Beitrag für die Konstitution einer subjektorientierten Pastoraltheologie, die um die prekären und dennoch unersetzbaren institutionellen Bedingungen religiöser Genese durch Institutionen und mit Hilfe von Professionen weiß. Über die Qualität der Herausforderung war sich Matthes durchaus bewußt: Die Doppelstruktur pfarramtlichen Handelns ins rechte Licht zu rücken, ihrer Kirchenzentriertheit zu wehren und den Erwartungshorizont der Adressaten kirchlichen Handelns ins Gleichgewicht zur Kirchenorientiertheit zu rücken, - das erfordert mehr, ja:

15 J. Matthes, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.), Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance? Berlin/Gelnhausen 1975, 85. 16 Ders. Wie praktisch, a.a.O., 152. - Für nicht minder bedeutsam halten wir seinen anderen Hinweis von 1975: An der Problematik der Veralltäglichungsfähigkeit des kirchlichen Teilnahmeverhaltens bildet sich offensichtlich eine Scheidelinie durch die kirchliche Mitgliedschaft (1975, 107). 17 Ders. Wie praktisch, a.a.O., 153.

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anderes als die Adaptation von Techniken des Umgangs mit Menschen, wie sie von manchen angewandten Humanwissenschaften entlehnbar sind.18 Der Soziologe Matthes weiß allerdings auch, daß in der Praktischen Theologie es einer allgemeinen theologischen Vorgabe bedürfen wird, nämlich der Anerkennung und theologischen Reflexion, daß es nicht nur eine kirchliche, sondern auch eine gesellschaftliche Wirklichkeit von christlicher Religion (oder, wer das Wort Religion in diesem Zusammenhang nicht mag, von Christentum) gibt. Diese andere Wirklichkeit christlicher Religion als solche wahrzunehmen, haben sich die Theologen (und in ihrem Gefolge manche prominenten Religions- und Kirchensoziologen und -psychologen) dadurch unmöglich gemacht, daß sie sie aufzuspüren versucht haben nach den Indikatoren, die ihnen die kirchliche Wirklichkeit christlicher Religion an die Hand gab.19 Breit aufgenommen, weil scheinbar handlicher, wurde lediglich Matthes' Plädoyer für eine integrale Amtshandlungspraxis, freilich auch hier wieder in Abblendung der Reichweite seines Versuchs, über grobe fiinktionalistische Analysen hinaus die inhaltliche Seite der Erfahrungen in den Kasualien zu beschreiben und in ihrer Zeiterfahrungsstruktur zu rekonstruieren. Und es ist leicht nachzuvollziehen, wie mit Kategorien der phänomenologischen und anthropologischen Soziologie eine Vertiefung der Wahrnehmung dessen bewirkt wird, was die Amtshandlungen darstellen: Lebensgeschichte, Lebenszyklus, Jahreszyklus, Ereigniszeit, Alltagszeit, Generation und Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Hier also wird die (vermutlich über Schütz vermittelte) phänomenologische Zeitanalyse Heideggers eingespielt - mit Gewinn. Die innere Dynamik des Erlebens ungegliederter Zeit und des Wunsches nach Rhythmisierung, die komplexe Überlagerung generationsdifferenter Zeiterlebnisse in ein und derselben Veranstaltung, das brüchige Geflecht von Alltagszeit und Ereigniszeit werden ansichtig und zu einer Herausforderung an Wahrnehmung, religiös-kulturelle Kommunikation und symbolischer Gestaltung gemacht, demgegenüber manche pastoraltheologische Beschreibung von Kasualien in einem schlechten Sinne als naiv eingestuft werden muß.

2.3

Religion als Verhaltenssequenz?

M. Josuttis wendet sich ebenfalls gegen eine naive Deskription religiöser Erfahrung und einen eingeengten Handlungsbegriff, der möglicherweise wie auch Zerfaß argwöhnte - direkt oder indirekt die Substanz gläubiger Praxis (zu) gefährden scheint (s.o.). Seine Kritik trägt allerdings spezifische Zü-

18 Ders., Wie praktisch, a.a.O., 152. 19 Ders., Wie praktisch, a.a.O., 153.

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ge und ergibt sich aus zentralen Bestimmungen des Gegenstands von Praktischer Theologie: Religion ist im Kern als Kontingenzbewältigung nicht hinreichend erfaßt, sondern Begegnung mit dem Heiligen. Kirchliches Handeln ist durch diese religiöse Qualität charakterisiert. Nimmt man die Religion in ihrer kräftigen Ursprünglichkeit, mit all ihren Absonderlichkeiten, mit ihrer elementaren Gewalt und ihrer ungebrochenen Kraft der Phantasie, mit der schroffen Abkehr von Welt und Kultur nicht wahr, verfehlt man den Gegenstand. Insistierte Matthes auf der Befremdlichkeit jener Alltagsreligiosität, so pocht Josuttis auf die Fremdartigkeit gelebter Religion, gerade gegenüber funktionalistischen Reduktionen20, die Religion ihrer schreckenerregenden, abgründigen und irrationalen Aspekte zu berauben drohen. Die Praktische Theologie sieht sich dann vor die Aufgabe gestellt, das Thema der Religion bei ihrer Selbstdefinition aufzugreifen und sich nicht mit genetischen und funktionalen Aspekten zu bescheiden. Sie bedarf daher neben diesen beiden Zugriffen der phänomenologischen Präzisierung ihres Gegenstandsbereichs, was durch Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie einerseits und phänomenologische Philosophie andererseits zu leisten ist. Das Heilige - oder auch das Göttliche - begegnet zwar in sozialen Strukturen, in psychischen Prozessen, in sprachlichen Symbolen, aber es ist in all seinen Erscheinungsformen nicht reduzierbar auf diesen sozialen oder psychischen oder sprachlichen Kontext, sondern eine Wirklichkeit sui generis von atmosphärischer und d.h. transpersonaler Qualität.21 Kritisiert werden Theorien, die sich mit einer Rekonstruktion der Herkunft oder der Leistung begnügen22, letztlich „aber über dessen (sc. darstellenden Handelns) Wirklichkeitsgehalt buchstäblich kein Wort verlieren"23. Mit der Phänomenologie soll eine „Alternative zur genetischen und funktionalistischen Perspektive"24 gewonnen werden. Für das Handeln bedeutet dies, wie Josuttis bislang vor allem für den Gottesdienst herausgearbeitet hat, „menschliche Arbeit im Umfeld des Heiligen".25 20 Wie er sie auch bei D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, ausmacht. 21 Hier greift er auf die Religionsphilosophie von H. Schmitz zurück. Zum Atmosphärebegriff vgl. auch R. Kxiodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum, Stuttgart 1994, 39ff. 22 Für die praktisch-theologische Diskussion ist nicht unerheblich, daß Josuttis auch P. Biehls (über Ricoeur gewonnenes) Symbolverständnis letztlich als funktionalistisch reduziert beurteilt. (30). 23 M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einfuhrung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh 1993, 32 (Kursivierung hinzugefugt). 24 A.a.O., 43 (Kursivierung hinzugefügt). 25 A.a.O. 274. Zur Seelsorge vgl. ders., Gespräche in Atmosphären, in: Michael Großheim/Hans-Joachim Waschkies (Hg.), Rehabilitierung des Subjektiven (FS H. Schmitz), Bonn 1993, 267-279, und ders., Segenskräfte: Potentiale einer energetischen Seelsorge,

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Dann freilich zeigt sich auch eine grundlegendes Paradox praktischtheologischer Reflexion wie Handlungskonzeption: Wie ist menschliche Praxis möglich in einem Bereich, der die Wirkungsmöglichkeiten menschlicher Praxis grundsätzlich transzendiert? Das Interesse am Verhalten stellt auch eine implizite Kritik an einem Handlungsbegriff dar. Wenn Josuttis davon spricht, daß der Gottesdienst menschliches Verhalten an der Grenze des Handelns ist, also einen Bereich darstellt, wo nicht eigentlich gehandelt werden kann, dann bleibt doch die Frage, wie etwa das Erleben und Erleiden (des Handelns) Gottes begreifbar und aussagbar wird. Aber kann man das überhaupt angemessen mit der Kategorie des Handelns erfassen oder wäre nicht mehr gesagt, wenn man festhält: der Mensch verhält sich zu Gott, weil Gott sich zu ihm verhält. „In ihrem Gottesdienst gestaltet eine Menschengemeinschaft die grundlegende Erfahrung, daß die Gestaltungsmöglichkeiten der menschlichen Praxis begrenzt sind. Die Tendenz zur Transzendenz schließt die Möglichkeit zur Selbstbegrenzung ein, und die Tendenz zur Selbstbegrenzung äußert sich als Versuch der Transzendierung. Spätestens im liturgiewissenschaftlichen Kontext zeigt sich also, daß ein Verständnis der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft einen instrumenteilen Begriff des menschlichen Handelns hinter sich lassen muß."26 Mit dem Problem an Grenzen des Handelns handeln zu sollen, gibt Josuttis aber nicht den einzigen bedenkenswerten, kritischen Hinweis auf eine allzu eindimensionale handlungstheoretische Grundlegung der Praktischen Theologie. Wenn das Göttliche vorrangig als Atmosphäre begriffen werden kann, Religion als Verhalten aus „Betroffensein vom Göttlichen"27 bestimmbar ist, dann gewinnt der Handlungsbegriff eine anderes Profil: er wird begrenzt wie erweitert durch den Verhaltensbegriff. Damit nimmt Josuttis einerseits eine Fragestellung auf, die H. Schröer schon 1974 benannt hatte, Handlungen im Verhältnis zu zweckrationalem Handeln, Verhalten und Erleben näher zu bestimmen28, und fuhrt dies in spezifischer Weise durch, um zu klären, wie sich in diesem Miteinander von Handeln, Verhalten und Erleben die intra-mentalen und die extra-mentalen, die individuellen und die sozialen

Gütersloh 2000; zur Religionspädagogik ist vor allem auf seine Rezension von Fraas zu verweisen: ders., „Glauben heißt Lernen", in: Jahrbuch der Religionspädagogik Bd. 1, 1984, Neukirchen-Vluyn 1985,223-232. 26 M. Josuttis, Zu einigen handlungstheoretischen Anfragen an die Liturgiewissenschaft, in: H.-U. von Brachel/N. Mette (Hg.), Kommunikation und Solidarität, Freiburg/Münster 1985, 231-239, hier 231 f. Josuttis vermerkt auch eine wechselseitige Zurückhaltung zwischen liturgiewissenschaftlichen und handlungswissenschaftlichen Konzeptionen in der Praktischen Theologie. 27 Vgl. H. Schmitz, System der Philosophie III, 4, XIII. 28 H. Schröer, Forschungsmethoden in der Praktischen Theologie, in: F. Klostermann/R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 209.

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Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

sowie die rezeptiven und die methodisch-aktiven Aspekte zueinander verhalten. Andererseits veranschlagt er, daß die Verhaltensmöglichkeiten des Menschen keinesfalls mit dem Handlungsbegriff angemessen zu umfassen sind. Ein nicht behavioristisch verengter Verhaltensbegriff würde dann hier - obwohl häufig synonym mit Handeln verwendet - als der umfassendere und allgemeinere Begriff gebraucht: Verhalten ist jede Reaktion, jedes Sprechen, Denken, Fühlen usw., gleichgültig ob das Individuum damit einen subjektiv gemeinten Sinn, eine Absicht, einen Zweck verbindet oder nicht.29 Woher gewinnt die Praktische Theologie Josuttis' den Verhaltensbegriff als zentral, obwohl er weder in Theologie noch in Philosophie eine nennenswerte Rolle gespielt hat? Und was wird damit gewonnen? Den Vorteil dieses Begriffs als Leitbegriff kann man prägnant so umschreiben: „Geht man vom Verhalten aus, so gewinnt man einen Vermittlungsraum, der den alten Dualismen von Innen und Außen, von Privatem und Öffentlichem entrückt ist."30 Ein aussichtsreiches Unternehmen wäre, eine Verhaltenskonzeption zu entwickeln, in der Innen- und Außensicht sich verschränken und der Rückzug auf eine reine Bewußtseinssphäre ebenso vermieden wird wie der Rückgang auf bloße Körpermechanismen, sowie der latente Dualismus von aktiv und passiv konstruktiv unterlaufen wird. Schon H. Luther hatte darauf hingewiesen: „der Praxisbegriff müßte daraufhin überprüft werden, ob er sich statt auf ein im Kern aktives Subjekt primär auf die sich vom Anderen anrührenlassende Empfänglichkeit gründet, die ein Werk beginnt, das nicht dem Erwerb von Verdiensten, nicht die Hervorbringung funktionaler Leistungen, sondern einzig dem Anderen dient."31 Und nicht zuletzt: Weil Handeln sich von Verhalten durch Sprach- und Bewußtseinsorientierungen unterscheidet, werden mit dem Verhaltensbegriff elementare menschliche Seinsweisen angesprochen, die leicht in logozentrischer Sicht verstellt oder unterbewertet bleiben. Worin liegt der Gewinn? Gegen alle Tendenzen zur lebenspraktischen Abstraktion in der Theologie verweisen die Verhaltenswissenschaften darauf, daß auch der christliche Glaube in die Gesetze und Konflikte, die alles Lebendige prägen, eingespannt ist. Gegen alle Tendenzen zur kirchlichen Isolierung machen sie darauf aufmerksam, daß auch der christliche Gottesdienst in die Religions-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte eingebettet abläuft. Und gegen alle Tendenzen zur Rationalisierung, die den theologischen Dogma-

29 Lexikon zur Soziologie, 725. 30 B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980, 7. 31 H. Luther, „Ich ist ein Anderer", in: D. Zilleßen u.a. (Hg.), Praktisch-theologische Hermeneutik, Rheinbach-Merzbach 1991, 233 ff., hier 253. Lévinas nennt diesen Vorgang Liturgie; vgl. auch Tillichs Kategorie des Empfangens, in: ders., Systematische Theologie I, Stuttgart 1958, 57.

Alltag

29

tismus bestimmen, legen sie frei, daß gerade in den religiösen Ritualen scheinbar Absurdes und Absonderliches, Erfreuliches, aber auch Schreckliches abläuft. So bilden gerade die Verhaltenswissenschaften fur eine ideophile Theologie ein notwendiges Korrektiv, ein Realitätsprinzip, deswegen unverzichtbar, weil der Glaube in jeder Hinsicht einen Sitz im Leben hat.32 Exemplarisch hat Josuttis die praktisch-theologische Orientierung am Verhaltensbegriff fur den Bereich des Gottesdienstes durchgeführt: Gottesdienst ist so verstanden „zunächst (als) nichts anderes als eine Verhaltenssequenz."33 Ziel einer wissenschaftlichen Betrachtung dieser Verhaltenssequenz kann nur sein, der inneren Logik ihres Ablaufs auf die Spur zu kommen. Eine „realitätsgerechte Liturgik" muß also Material zur Genese, zur Funktion und zur Phänomenologie dieser Verhaltenssequenzen und -repertoires zusammentragen, um Einsicht in die bisher übersehene Tiefenstruktur eines rituellen Verhaltens zu gewinnen. Im Kult geht es aber nicht nur um „individuelle und kollektive Psychohygiene", sondern um „die Begegnung mit einer spezifischen Macht"34. Rituelles Verhalten im Gottesdienst ist als methodisch reflektierter Versuch zu verstehen, sich der Wirklichkeit des Göttlichen auf angemessene Weise zu nähern. Es ist ein Versuch, weil diese Atmosphäre sich weder in den menschlichen Interessenhorizont noch von den menschlichen Handlungsmöglichkeiten einfach einfangen läßt. Damit deutet sich das religiöse Paradox an: Es geht um rituelle Erschließung der Wirklichkeit des Heiligen; diese aber „entzieht sich allem menschlichen Bemächtigungs- und Verwertungsbestreben". Wer Religion und gelebte Religiosität zunächst so deutlich in ihrer Andersartigkeit, Abständigkeit und möglichen Fremdheit darstellt, kann die Frage nach dem Alltagsbezug, der lebensweltlichen Einbettung von Religion und damit ihrer Zugänglichkeit nicht übergehen. In auffalligem Kontrast zu phänomenologischen Leitbegriffen wie Lebenswelt und Alltag orientiert sich Josuttis in Anlehnung an die religionsgeschichtliche Schule an einem lebensphilosophisch aufgeladenen Lebensbegriff. Es „ist unbedingt festzuhalten, daß im Gottesdienst keine abseitigen Sonderprobleme traktiert werden, daß hier vielmehr die grundlegenden Lebenskonflikte der Triebe, der IchIdentität, des Selbstwertgefühls zur Darstellung kommen".35 Es wird nach dem „Beitrag (des Kultes) zur Lebensbewältigung" im Zeitalter der Lebensgefahrdung gesucht. Der kann aber nur dann angenommen werden, wenn zwischen der religiösen und der allgemein-kulturellen Vorstellungs- und Verhaltenswelt dem Bewußtsein zugängliche Verbindungslini32 33 34 35

Der Weg in das Leben, a.a.O. 47. A.a.O., 11. A.a.O. 41. A.a.O. 29.

30

Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

en bestehen. „Religiöses Verhalten im Kult verläuft separiert, aber nicht abgespalten und kann seine kreative Potenz nur freisetzen, wenn es nicht in Alltagsverhalten aufgelöst, aber auch nicht streng vom Alltagsverhalten getrennt wird. Damit stellt sich die Frage nach der Realität, die sich im Kult konstituiert."36 Mit dem Rekurs auf Basiselemente menschlichen Verhaltens will Josuttis offensichtlich die Betrachtung des Kultes auf eine entschränkend-universale Basis stellen, die den Kult aus seiner Isolierung herausnimmt und allgemeinmenschlich zugänglich sowie verstehbar macht. Er möchte damit die „Ansätze zu einer Ausweitung der binnenkirchlichen bzw. binnentheologischen Betrachtung versuchsweise weiterfuhren"37. Diese grenzüberschreitende Relationierung sieht Josuttis auch als Kern der biologischen und ethnologischen Verhaltensforschung in ihrer Wirkung auf Praktische Theologie: Damit gewinnt er einen „transinstitutionellen, einen transkirchlichen Horizont". Ob eine solche universalistische Verankerung heute noch möglich ist, ist bekanntlich strittig. Unstrittig erscheint dagegen die Nützlichkeit des Versuchs, nach den fundierenden Basiselementen menschlicher Existenz in all ihren plastischen und historisch kontingenten Formen zu fahnden. Denn wenn es gelänge, solche Basisfiguren menschlichen Seins aufzuspüren, wäre auch die Identifikation von Basisregeln gelebter Religion gerade auch in den Bereichen erleichtert, die Josuttis nicht erhebt, nämlich den außerkultischen alltäglichen, lebensweltlich verankerten Weisen. Kultisches Handeln wird als Besonderheit gegenüber den Alltagsverrichtungen behauptet, das Abendmahlsritual beispielsweise als wirksam behauptet, „weil und insofern das Ritual alle Anwesenden in eine spezifische, dem Alltagsbewußtsein unzugängliche Wirklichkeitsdimension hineingeführt hat".38 Das von Josuttis selbst notierte Grundproblem der systematischen ig Zuordnung von profanem Alltags- und religiösen Kultverhalten kann allerdings auch durch den Aufweis von elementarem Basisverhalten nicht gelöst werden. Deshalb stellt eine Hermeneutik des Abendmahls die umfassende Frage: „Wie müßte eine Theologie als Wissenschaft angelegt sein, die den Lebensbezug im Glaubensgeheimnis nicht verdrängen und auch nicht durchschauen, sondern schonsam erfassen will? Worüber und wann darf man reden, worüber und wann muß man schweigen, um verstehen zu können?"40

36 A.a.O. 29f. 37 A.a.O. 37. 38 M. Josuttis, Zur Hermeneutik des Abendmahls, in: D. Zilleßen u.a. (Hg.), Praktischtheologische Hermeneutik, Rheinbach-Merzbach 1991,411-422, hier 421. 39 Ders., Der Weg in das Leben, a.a.O., 40. 40 Ders., Zur Hermeneutik des Abendmahls, 422.

Alltag

2.4

31

Zwischenbilanz

Gegenüber einer oft naiv unreflektierten Proklamierung von naiver „Handlungsorientierung" in pädagogischen und religionspädagogischen Konzepten kann eine im kritischen Handlungsbegriff zentrierte Praktische Theologie den Theorie-Praxis-Zusammenhang theoretisch konsistenter formulieren. Aber in der Fassung einer funktionalen und stark kirchenbezogenen Handlungstheorie droht der Praktischen Theologie in der Delegation dieser Aufgabe an sozialwissenschaftliche Methodologie regelhaften Verhaltens zunehmend eine Verkürzung von Religion zu einem scheinbar eindeutig zuhandenen Gegenstand wie auch eine Restriktion der anthropologischen Grundlage. Nicht zuletzt auch mit Blick auf Entwicklungen der Abkoppelung von lebensweltlichen Zusammenhängen in anderen theologischen Disziplinen scheint es notwendig, ältere und jüngere handlungs- und gesellschaftstheoretische Orientierungen wohl in ihrer Leistungsfähigkeit zur Situationsanalyse und Praxisgestaltung zu beerben, zugleich aber zurück und voraus zu einem neuen Grundverständnis Praktischer Theologie als Wahrnehmungswissenschaft41 zu gelangen. Notwendig ist es deshalb, über handlungswissenschaftliche und empirische Forschung hinaus zu einer integralen Wahrnehmung christlicher Lebenspraxis im Kontext von Gesellschaft, Kultur und Alltag zu kommen. Was das methodologische Fundament, die Entfaltung einer theologischen Kriteriologie von Wahrnehmung anbelangt, so sind hier, wie bei Luther, Matthes und Josuttis ablesbar, interessante Suchprozesse durch Erweiterung des Spektrums von Bezugsdisziplinen in Gang gekommen. Neuere Ansätze philosophischer und soziologischer Phänomenologie und zeitgenössische Kulturtheorien bieten nach bisherigen Tastversuchen größte Aussicht auf Innovation. Neue Aufmerksamkeit auf kulturelle Phänomene wie auch kulturtheoretische Ansätze sind in der neueren Praktischen Theologie bereits thematisiert worden.42 Über solche Ansätze hinaus bedarf es aber der Konzentration auf alltagskulturelle Phänomene, ebenso notwendig allerdings auch gerade der Aufmerksamkeit auf Phänomene am Rande des Alltäglichen. Während die skizzierte sozialwissenschaftliche Expertise in Praktischer Theologie benutzt wurde, um durch bessere Kenntnis von Handlungsbedingungen zur Wiederherstellung der Funktionsabläufe kirchlichen Handelns

41 Freilich in anderem Sinne als A. Grözingers im wesentlichen an Kant orientierter Wahrnehmungsbegriff, vgl. ders., Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995. 42 Vgl. zur grundsätzlichen Debatte K.E. Nipkow/D. Rössler/F. Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991; zur kulturtheoretischen Wende der neueren Poimenik vgl. L.-L. Herkenrath-PUschel, Kulturelle Faktoren im seelsorgerlichen Dialog, Wege zum Menschen 40 (1988), 50ff. sowie das Themaheft „Seelsorge interkulturell" Wege zum Menschen 3/1990.

32

Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

Störungen geregelter Abläufe zu beseitigen, geht phänomenologischer Zugang gerade von Wahrnehmungsirritationen aus. Das Leitinteresse richtet sich nicht auf bekannte und verfügbare Kenntnisse über Adressaten pastoraler Handlungsexperten. Ausgangspunkt ist hier vielmehr die Lebenspraxis von Subjekten zwischen Selbst-Verständlichkeit und Nicht-Verständlichkeit. Gewahrt werden soll im Interesse größerer Offenheit als bleibendes Moment deren konstitutive Fremdheit.

3. Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie 3.0

Ausgangsfragen

Ein Versuch methodologischer Neuorientierung Praktischer Theologie muß Auskunft darüber geben, welche Gegenstände und Methoden für eine nicht eingeschränkte handlungstheoretische Perspektive von Bedeutung sind. Wirklichkeitshaltige Praktische Theologie, so hat sich gezeigt, lebt nicht von der Anwendung systematisierter Wissensbestände und Normen (aus Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik) auf den Fall, sondern bedarf des Lebensweltbezugs, ist zur Hinwendung auf den Alltag genötigt. Darauf haben hellsichtige Gesprächspartner bereits in Zeiten der Hochkonjunktur des handlungstheoretischen Paradigmas aufmerksam gemacht43. Zur Debatte steht dabei allerdings nicht vorrangig pragmatische Orientierung von Handeln an der Wirklichkeit, sondern Handeln in der Wirklichkeit, ohne jedoch Wirklichkeit zum Kontextphänomen degenerieren zu lassen. Es ist genauer zu erkunden, was dabei die Rolle der bereits mehrfach in Anspruch genommenen Phänomenologie - in ihren unterschiedlichen Schattierungen - sein könnte. Liefert sie der Praktischen Theologie neue Prolegomena, auf die aber im Hauptteil eigentlich nicht mehr rekurriert wird, wo dann munter empirisch, hermeneutisch oder auch instrumentell-pragmatisch gearbeitet wird? Hat sie eine Scharnier-, Gelenk- oder Fundierungsfunktion? Ist sie eine mitlaufende methodische Grundhaltung? Oder besteht ihre Hilfe darin, mit Bezugnahme auf Alltag und Lebenswelt neue, bislang übersehene Gegenstände für (praktisch-)theologische Reflexion zu erschließen? Oder ist sie gar eine neue theologische Meta-Theorie, der weit über ein Fach hinaus Bedeutsamkeit zukommt44? 43 H. Schröer, Forschungsmethoden in der Praktischen Theologie, in: F. Klostermann/R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, nennt als primäre Maxime zukünftiger Forschungsorganisation bereits: „Eine Wieder- und Neugewinnung der phänomenologischen Methode ist praktisch-theologisch notwendig" (ebd. 119). 44 Vgl. entsprechende phänomenologisch orientierte systematisch-theologische Beiträge bei Deuser, Härle, Moxter u.a.

Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie

3.1

33

Kultur

Eine erste notwendige Perspektiwerschiebung von handlungstheoretischer zu kulturtheoretischer Orientierung ist auch von Praktischer Theologie vorzunehmen.45 Erst langsam und mühsam hat sich die jüngere Protestantische Theologie insgesamt von dem Reflex befreit, kulturelle Phänomene einseitig mit älterer Polemik gegen den Kulturprotestantismus des 19.Jahrhunderts abzuwerten. Anzuknüpfen ist heute insbesondere an kulturtheoretisch begründete theologische Versuche, Kultur als Lebenswelt zu denken46. Eine die Umbrüche gegenwärtiger Situation angemessen aufnehmende Theologie erfordert insgesamt einen doppelten - deskriptiven und normativen - Kulturbegriff. Kultur ist einerseits - vor allen Bewertungen - als Ensemble vorfindlicher Gestaltungen zu begreifen, in die wir immer schon hineingeboren bzw. sozialisiert werden, deren wir uns unabweisbar im Leben bedienen müssen, andererseits als eine der menschlichen Spezies aufgegebene Möglichkeit zur Entfaltung von humanen Lebensformen, die an Kriterien auszuweisen ist. Beides kann schöpfungstheologisch als Vorgabe menschlichen Lebens interpretiert werden. Daher ist zunächst die kulturtheologisch zu füllende Einsicht in die Unausweichlichkeit von Inkulturation zu unterstreichen. Alle kirchliche Praxis nimmt wie alle Lebenspraxis insgesamt unausweichlich auf - historisch kontingente - kulturelle Gestaltungsformen Bezug. Mit dem neuen Kulturbericht der EKD ist Kirche deshalb nicht im Gegenüber zur Kultur zu begreifen, „sondern sie ist selbst ein Teil (oder Teilsystem) der Kultur der Gegenwart. Was sie ist und was sie kulturell leistet, ist nicht ein Beitrag zu einem ihr gegenüber grundsätzlich anderen Bereich, sondern das, was sie als Teil der Kultur in die Gesamtkultur einbringt."47 Daraus resultiert mindestens zweierlei, nämlich erstens, daß auch der von manchen in der Kirche vermißte „Gegenton zum Geräusch der Welt", nur kulturell markiert werden kann48. Und es folgt zweitens die entlastende Einsicht, daß Kirche als Teilsystem der Kultur der Gegenwart einen ihr fälschlicherweise zugeschriebenen Absolutheitsanspruch verliert. Das aber kann die befreiende Einsicht zeitigen: pneumatologisch gesprochen ist immer noch mit Fremdprophetie und Geist Gottes außerhalb von Kirche zu rechnen.

45 Vgl. Ansätze dazu bereits bei K.E. Nipkow/D. Rössler/Fr. Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991. 46 Vgl. zu dessen gründlicher Explikation M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. 47 H. Schröer u. H. Donner, Kirche und Kultur - alte Spuren und neue Wege, in: H. Donner (Hg.), Kirche und Kultur der Gegenwart, Hannover 1996,12. 48 K.-H. Bieritz, Erlebnis Gottesdienst. Zwischen 'Verbiederung' und Gegenspiel: Liturgisches Handeln im Erlebnishorizont, in: Wege zum Menschen 48 (1996), 497.

34

Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

Der der Kirche aufgegebene Auftrag zur Verlautbarung des Evangeliums kann jedenfalls nicht im Ausstieg aus der Kultur, sondern immer nur als Konterkulturation gedacht und praktiziert werden. Die Antwort des christlichen Kults auf das 'Projekt des schönen Lebens' wird zwar nicht in der unkritischen Verdoppelung einer säkularen 'Kultreligion' liegen dürfen. Aber kulturelle Phänomene bedürfen im Sinne einer „Dialektik von Inkulturation und Konter-Kulturation"49 differenzierter theologischer Erschließung, nicht kategorischer Ausschließung im Fahrwasser nostalgischer Polemik gegen einen neuen/alten Kulturprotestantismus. Der entscheidende Prüfstein im kritisch-produktiven Zugang zur Kultur für den zumindest in Deutschland wesentlich aus bildungsbürgerlichen Traditionen rekrutierten Protestantismus bleibt ein produktiver Zugang zur Alltagskultur. Davon hängt die Kulturfähigkeit von Kirche im ganzen ab.

3.2

Alltag und Lebenswelt

Erfolgversprechend dazu scheint vor allem eine Orientierung Praktischer Theologie am Alltagsbegriff. Obwohl dieser auf dem Umweg über die Soziologie erst relativ neu in die theologische Forschung importiert wurde, ist bekannt, daß sich ein weltzugewandter Protestantismus auf bestimmte Weise immer schon am Alltag orientiert hat. Lange Zeit über wurde im theologischen Verständnis dem Alltag allerdings ein eher beschränkter Platz angewiesen. Denn er wurde zum ethischen Anwendungsfeld der sonntäglichen Botschaft, wurde reduziert im Sinne einer applikativen Theologie. In der jüngeren praktisch-theologischen Reformdebatte ist demgegenüber Alltagsbezug im Sinne von Wirklichkeitshaltigkeit und größerer Lebensnähe eingefordert worden. Dahinter steht die Erfahrung, daß selbstgenügsame Theologie und kirchliche Predigt, die nur um sich selber kreisen, Menschen in ihrem Leben nicht mehr erreichen, daß Wiederholung abstrakt formulierter Glaubenslehre und eine auf Tradition konzentrierte Bibelauslegung Menschen der Gegenwart nicht mehr plausibel zu vermitteln sei, stattdessen gespenstisch anmutende Selbstgespräche führe. Hinter der Konjunktur des Begriffs Alltag steht aber nicht nur Erfahrung von Hilflosigkeit und Mangelhaftigkeit überkommener theologischer Instrumente, sondern auch Sensibilität für neue religiös-kulturelle Entwicklungen. Produktiver fur eine ernsthaft wirklichkeitshaltige Entfaltung von Theologie scheint uns in Weiterführung solcher Überlegungen eine Blickrichtung, die dem Alltag nicht nur das Gewicht unkritischer Faktizität attestiert, sondern die im Sinne des

49 Bieritz, 497; vgl. ferner G.M. Martin, Ausverkauf oder armes Theater. Unser Kultus im Kontext gegenwärtiger Kultur, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 8 (1990), Heft 6, 3Iff.

Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie

35

Lebensweltbegriffs zugleich mit produktiven Valenzen rechnet. Diese zeigen sich nicht im Jenseits des Alltags, sondern eher an seinen Rändern. Als einer der ersten hat der Theologe und Ökumeniker E. Lange einen erneuerten, kontextuellen Alltagsbezug eingefordert. Es war dann H. Luther, der das Verständnis von Religion unter Bezugnahme auf den Alltag neu durchdacht hat. Uns scheint es aus mancherlei Gründen sinnvoll, sich über H. Luthers oben erörterten Ansatz hinaus, dem Alltag aus phänomenologischer Perspektive her zu nähern. Benutzt man den Begriff 'Alltag' nicht einfach als Allerweltsbegriff, sondern prüft unter Zuhilfenahme moderner Sozialphänomenologie mögliche Varianten der Bedeutung, so zeigen sich unterschiedliche Bedeutungslagen. Je nach Perspektive wechselt die Bewertung von Alltag dabei aber schon erheblich. „Alltag" kann Unterschiedliches meinen: das fraglos Gegebene, Unorganisierte, das Banale, Unspektakuläre, das immer Wiederkehrende, Routinehafte, den Bereich vorwissenschaftlichen Handelns, Denkens und Sprechens, das Unaufgeklärte, unkritisch Hingenommene. Der Begriff „Alltag" wird in bestimmter Theorieperspektive dagegen im Sinne einer stärker regional gedachten eigenständigen Handlungssphäre oder Sonderwelt verstanden, als räumlich abgrenzbares Gebilde und als „Sinnprovinz" (A. Schütz): die U-Bahn; die Sprache der Gosse, der Techno-freaks. Auf diesen Alltag schauen wir von außen - auch von der Kanzel. Dieser Alltag ist Gegenstand von Reflexion, Soziologie oder Theologie des Alltags (neben einer Theologie des Spiels, der Frauen oder der Wirtschaft). Und dieser Alltag wird von außen aufgeklärt, durch Experten, durch Wissenschaft erforscht, durch Theologie kritisiert, diesem Alltag wird nicht viel Leben, keine gelebte Religion und schon gar keine produktive Erkenntnis zugetraut. Um solcher Verengung zu entgehen, ist die weit verzweigte Debatte um Alltagswelt und Lebenswelt in Phänomenologie, Soziologie und Sozialphänomenologie differenzierter aufzunehmen. Zu unterscheiden sind dabei Alltag und Lebenswelt 50 . Zu erinnern ist dazu auch der Diskussionsstrang, in welchem der Lebenswelt-Begriff thematisiert wurde. Auch er hat eine wechselvolle Geschichte, erfuhr bereits bei Husserl und noch mehr bei MerleauPonty eine Erweiterung des Bedeutungsfeldes. Und diese sind für weitere theologische Überlegungen zu beachten. Denn hier zeigt sich Alltägliches in mehrdeutiger, schillernder Weise: Alltagswelten können Menschen einerseits verdummen, aber im Alltag erleben Menschen nicht nur banale und dumpfe Routine, sondern auch Widerfahrnisse des Außeralltäglichen. Der Alltag kann neben dem immer Gleichen zuweilen auch Irritierendes entbergen,

50 Vgl. W. Bergmann, Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? Ein grundbegriffliches Problem „alltagstheoretischer" Ansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33 (1981), 50-72; M. Sommer, Der Alltagsbegriff in der Phänomenologie und seine gegenwärtige Rezeption in den Sozialwissenschaften, in: D. Lenzen (Hg.), Pädagogik und Alltag, Stuttgart 1980, 27-43.

36

Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

Chaotisches, Abgründiges, Heiliges. Alltag in dieser Perspektive umfaßt nicht nur Oberflächliches, Unaufgeklärtes, sondern auch Spuren neuen Lebens, Ansätze der Überschreitung des Faktischen. Während Alltagssoziologie vor allem auf regionale Bestimmung ihres Gegenstandes im Sinne einer „Sinnprovinz" unter anderen abhebt, meint der von Husserl abkünftige Begriff der Lebenswelt mehr, insofern er gegenüber wissenschaftlicher Wirklichkeitsanalyse die Momente vortheoretischer Anschauung und vorprädikativer Wahrnehmung enthält.51 Lebens weit wird hier gedacht als umgreifender Horizont im doppelten Sinne: einerseits als fundierende Basis aller Sonderwelten in der natürlichen Einstellung, welche als Horizont aktueller Welt stets unthematisch mitgegeben ist, zum anderen als transzendentaler Letzthorizont. Lebenswelt in der Vorvertrautheit natürlicher Einstellung ist nicht durch Bezugnahme auf eine als Sonderwelt gedachte soziokulturelle Alltagswelt erreichbar, sondern kann als solche nur bewußt gemacht werden in und durch abstrahierende Reflexion. Der phänomenologische Lebensweltbegriff bezeichnet mithin keine Regionen des Alltags, sondern ist ein Suchbegriff, genauer gesagt ein transzendalphilosophischer Reflexionsbegriff. Lebenswelt in diesem Sinne ist zwar vielfaltig Gegenstand von Kritik, zugleich aber immer auch kritische Instanz gegen machtförmige Wissenschaft wie gegen praktische Überfremdung des Subjekts durch Institutionen. Indem „das Unalltägliche dem Alltag selbst eingraviert ist... als das Unvertraute im Vertrauten"5 , ist Lebenswelt auch theologisch ernstzunehmen als Boden, von dem Sinnfindung ausgeht und als Horizont, auf den sich Sinnverweisungen hinbewegen. 3.3

Gelebte Religion

In unserem Ansatz rangiert nicht der Alltagsbegriff, sondern die Formel „gelebte Religion" als Leitbegrifflichkeit. Mit anderen zeitgenössischen Autoren möchten wir akzentuieren, wie damit über spezielle Gegenstände hinaus „die inhaltliche Einheit der Praktischen Theologie als Wissenschaft"53 neu zu bestimmen ist. Angesichts eines wahrhaft inflationären Sprachgebrauchs bedarf die Formel jedoch dringend der näheren Bestimmung. Denn ähnlich wie der Alltagsbegriff hat auch diese Formel mittlerweile Hochkonjunktur, wenn in diesem Falle auch der Terminus bereits seit den 70er Jahren häufig verwendet 51 Diese Doppeldeutigkeit im Husserlschen Lebensweltbegriff zwischen Einstellung und Ontologie nahm A. Schütz auf mit dem Begriff einer „alltäglichen Lebens welt". 52 B. Waidenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 2 1994, 154. 53 So A. Grözinger/J. Lott (Hg.), Gelebte Religion: Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, Rheinbach-Merzbach 1997, in ihrem Vorwort zur Skizzierung der Bedeutung des Themas auf dem Hintergrund von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen neuzeitlicher Gesellschaft, ebd. 12.

Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie

37

wurde und nachweislich sogar bis auf E. Troeltsch zurückgeht54. „Gelebte Religion" tritt mittlerweile als Suggestivformel einer jeden sich lebensnah gebenden Theologie mit quasi eindeutigen Polarisierungen auf, die jedoch nur auf den ersten Blick schlüssig erscheinen. In seiner vielfach ohne jede Näherbestimmung erscheinenden Verwendung verheißt der Sprachgebrauch eher faktisch ausbleibende Deutlichkeit oder unterstellt gar Eindeutigkeit, wo über implizit getroffene Gegenstandsbestimmungen und methodische Optionen erst weitere Explikation Auskunft geben müßte. Praktische Theologie wird zunächst - ohne puristische Attitüde - für eine theoretisch belastbare Gegenstandbestimmung darauf achten müssen, „gelebte Religion" nicht als simples Pseudonym für „gelebten Glauben"55 zu verwenden. Wenn dort zwar auch das Praxismoment von Glauben im Gegenüber zu theologischer Theorie zuweilen akzentuiert wird56, bleibt doch nicht nur die methodische Orientierung unbestimmt, sondern es besteht vor allem Unklarheit darüber, inwieweit eine solche Praxis normativ und im vorhinein von extern erhobener Glaubenstheorie her gedacht wird, wie dies etwa mit der Leitformel „gelebte Glaubenspraxis"57 gemeint sein kann. Solche eher praxisferne Intention schränkt die Perspektive auf eine spezifische „'Lebenswelt' des Glaubens"58 ein oder betrachtet 'Lebenswelt' allein als Bewährungskontext des Glaubens59. Von theologischer Seite dagegen bislang noch kaum rezipiert worden ist ein vitalistisch oder naturalistisch zu nennender Ansatz „gelebter Religion". Auf profilierte Weise ist dieser Ansatz vor allem vom niederländischen Religionstheoretiker J. Waardenburg im Interesse einer Erneuerung der empirischen Religionswissenschaft ausgearbeitet worden.60 Auf der Suche nach einem empirisch-wissenschaftlichen Zugang zu Religion, der offen genug ist 54 E. Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift fiir Theologie und Kirche 5 (1895), 361-436, insbes. 393. 55 W. Trillhaas, Religionsphilosophie, Berlin 1972, 19, verwendet „gelebte Religion" sogar synonym für „geglaubte Religion". 56 Etwa bei D. Sölle, Gott denken. Einführung in die Theologie, Stuttgart 1990, 15; vgl. zur älteren Verwendung femer L. Mohaupt (Hg.), Modelle gelebten Glaubens - Gespräche der Lutherischen Bischofskonferenz über Kommunitäten und charismatische Bewegungen, Hamburg 1976. 57 S. Heine, Leibhaftiger Glaube. Ein Beitrag zum Verständnis der theologischen Konzeption des Paulus, Wien 1976. 58 Vgl. etwa W. Sparn, „Die Religion aber ist Leben". Welchen theologischen Gebrauch kann und sollte man vom „Leben überhaupt" machen?, in: W. Härle/R. Preul (Hg.), Leben (Marburger Jahrbuch Theologie IX), Marburg 1997, 15-39, insbes. 37. 59 W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 168ff. 60 J. Waardenburg, Reflections on the Study of Religion. Including an Essay on the Work of Gerardus van der Leeuw, Den Haag 1978 (Religion and Reason 15); vgl. ferner ders., Über die Religion der Religionswissenschaft, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 26 (1984), 238-255.

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Failing/Heimbrock: Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion

auch für neue Formen von Religion, gleichwohl nicht in methodologisch unkritischer Weise ethnozentristische Verabsolutierung älterer europäisch religionswissenschaftlicher Kategorisierung wiederholt und zugleich Anschlußfahigkeit fur neues Gespräch mit Religionsphilosophie und Theologie eröffnet, beginnt die Forschung hier mit der Suche danach, „wie die Menschen ihre jeweilige Religion oder Religion im allgemeinen deuten, anwenden und gebrauchen..."61 Ein solches, gegenüber älterer Religionsphänomenologie kritisches Vorgehen kann sich im Blick auf das Offenhalten der Wahrnehmungsperspektiven zu Recht auf den ur-phänomenologischen Impuls berufen: „Was nun die Religionsphänomenologie und ihre Anschauung der Religion anbelangt, so ist es bezeichnend, daß sie sich immer geweigert hat, am Anfang ihrer Forschung die Religion explizit zu definieren, und dabei von der Annahme ausging, daß das Religiöse sich als solches selbst zur Geltung bringen muß."62 Am Anfang steht bei Waardenburg eine bewußte Suspendierung aller vorschnellen kategorialen Einengungen der eigenen Perspektive durch Begriffsbildungen über den Gegenstand. „In der Forschung ist es nicht notwendig so, daß wir zuerst bestimmen müssen was Religion ist, um sie dann in gegebenen Materialien aufdecken zu können ... Fruchtbarer ist aber gerade das umgekehrte Verfahren. Wir setzen dabei voraus, daß wir noch nicht genau wissen, was Religion an und für sich ist, falls es überhaupt als ein „etwas" zu fassen wäre... Wir gehen dann an die Forschung im geschichtlichen, sozialen und kulturellen Bereich heran mit einem speziellen Interesse für diejenigen Sinngehalte und Wirkungen, die für die betreffenden Menschen im gegebenen Kontext als 'religiös' anzusehen sind."63 Gerade angesichts der o.g. Identifizierungsversuche „gelebter Religion" mit „gelebtem Glauben" scheint uns das Insistieren auf solchem Offenhalten des Gegenstandes auch für die Theologie durchaus ratsam. Doch es ist zu fragen, ob Waardenburg den damit gewonnenen Raum eines erweiterten Zugangs in seinem Verständnis von „gelebter Religion" durchzuhalten vermag. Charakteristisch für seinen Ansatz ist die Frage: „Wie können wir gelebte Religion, wenn diese einmal als 'Religion' identifiziert worden ist, so adäquat wie möglich darstellen?"64 Gefaßt werden soll damit hier eine ungekünstelte, nicht konstruierte, quasi natürliche Form von Religion, die noch nicht von gesellschaftlichen Institutionen (einschließlich Kirche und theoretischer Analytik seitens der Wissenschaften) entfremdet, überformt oder verzerrt sei. Gebräuchlich ist hier die Polarisierung von gelebter versus „gelehr-

61 Ders., Über die Religion..., 239. 62 Ders., Grundsätzliches zur Religionsphänomenologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 14 (1972), 324. 63 Ders., Über die Religion..., 240. 64 Ebd. 246.

Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie

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ter" oder auch „offizieller" Religion, wobei generell Lebensferne von Theorie ebenso unterstellt wird wie Lehrlosigkeit von Leben. Im Prozeß der Religionsanalyse allerdings verliert sich die anfanglich emphatisch reklamierte Offenheit der Perspektive zusehends zugunsten einer kontextuell-hermeneutischen Zugangsweise. Seiner Theorie ist dort zu folgen, wo sie sich mit Recht gegen einen imperialen Zugriff der Wissenschaft auf die Lebenswelt und also gegen einen normativ präokkupierten Religionsbegriff zur Wehr setzt. Als inkonsistent muß sie aber insofern gelten, daß sie abblendet, wo ein jeder theoretischer Umgang mit religiöser Praxis notwendig immer ein Element des konstruktiven Zugriffs und nicht einfach naive Abbildung von Wirklichkeit mit sich bringen muß. Bei Waardenburg rückt nämlich eine bestimmte Zeichentheorie bzw. Hermeneutik in diese Leerstelle ein. Seine Konzeption „gelebter Religion" erscheint in näherer Betrachtung deshalb als Mischung zwischen naiv gedachter Deskription65 und emphatisch postulierter Befreiung des Gegenstands aus normativen Überfremdungen. Von solcher eher naiven Bestimmung zu unterscheiden ist ein weitaus tragfähigerer Begriff, der „gelebte Religion" modernitätstheoretisch mit soziologischen Kategorien entwirft. Dieser in der Praktischen Theologie seit den 70er Jahren auftauchende Ansatz geht von der Beobachtung aus, daß die religiöse Praxis des Einzelnen im Zuge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse nicht länger deckungsgleich mit der von religiösen Großinstitutionen wie Kirchen vorgeschriebenen Praxis übereinstimmt. „Gelebte Religion" meint hier vornehmlich private, subjektive, unreflektierte Gesinnung und Praxis oder auch die persönliche Aneignung institutioneller Religion. Damit wird zunächst fur eine Erweiterung der Gegenstandsbestimmung von Religion über Traditionsbestände hinaus plädiert und wird individueller Frömmigkeit als Gegenstand von Theologie stärkeres Eigengewicht zugemessen: „Religion als gelebte Religion, als Akt, als Erfahrung, als wirksame Überzeugung, als Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen im Ereignis und im Geschehen dieser Beziehung ist keineswegs identisch mit der Religion als Überlieferung, als Text, als theoretischem Zusammenhang, als Lehre, als Theologie."66 Freilich gilt mit der Lebendigkeit sogleich auch der Mangel dieser Form von Religion. Sie bleibt „unbestimmt, vage, unüberschaubar und schwer einzugrenzen."67 Individuelle Religion bleibt unbegrif65 Vgl. ders., Religionen und Religion. Systematische Einfllhrung in die Religionswissenschaft, Berlin 1986. Dort wird die Aufmerksamkeit des Forschers auf „gelebte Religion" und sogar auf „tatsächlich gelebte Religion" (252) gerichtet. "Gelebte Religion" wird auch konnotiert mit der Betonung der Bedeutung „gelebter Alltagswelt" (236), „gelebter Wahrheit" (232) und „gelebter Wirklichkeit" (247). 66 D. Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976, 68. Vgl. zum Ansatz ferner J. Hanselmann/D. Rössler, Gelebte Religion. Fragen an wissenschaftliche Theologie und kirchenleitendes Handeln, München 1978. 67 Rössler, a.a.O., 67.

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fen, dumpf und wenig produktiv, sie bedarf der Sichtbarmachung, Klärung und Deutung durch gelehrte Religion. „Was gelebte Religion ist, läßt sich allein im Kontext der Deutungen von Religion ausdrücklich machen"68. Indem ein solches Konzept „gelebte Religion" des Individuums immer schon von Prävalenz religiöser Institutionen und theologischer Auslegungsmonopole wie von einer bestimmten Einlinigkeit historischer Prozesse der Modernisierung her denkt und beurteilt69, wird latent ein historisch überkommenes kirchlich zentriertes Konzept von Religion favorisiert. Zu lernen ist hier vom US-amerikanischen Theologen H. Cox. Seine Ausgangsfrage richtet sich darauf, wie Theologie angesichts des deutlichen Endes der Moderne, aber auch angesichts einer „zweideutigen Macht der Volksfrömmigkeit"70 und einer wachsenden Pluralität der Religionen zu treiben ist. Dieser theologischen Herausforderung kann man begegnen, wenn es gelingt, das ungebrochene Verhaftetsein theologisch-hermeneutischer Muster und Wahrnehmungsstrategien mit dem „Projekt Moderne" zu lockern. Nur so sei es möglich, die anti- und nach-modernistischen Impulse angemessen zu verstehen: als radikale Infragestellung jener angenommenen Homogenität der Moderne und der Verengung auf theologisch bevorzugte Gruppen und Gesprächspartner. Neue Aufmerksamkeit schenkt die Theologie bei Cox denen, die schon immer am Rande der Modernität lebten: den Schwarzen, den Frauen, den Menschen an der Peripherie kapitalistischer Zentren. Die hermeneutisch interessante Frage ist dann: „Was geschieht, wenn das soziale und institutionelle Milieu, in dem die Theologie betrieben wird, sich ändert, wenn die unausgesprochenen Voraussetzungen über das Publikum und die Beweggründe (sc. von Theologietreiben) in Frage gestellt werden?"71 Hier ergeben sich nicht nur ethische Aufgaben, sondern primär spannende Denkaufgaben fur Theologie. So formuliert Cox: „Das bedeutet, daß wir das Evangelium im Lichte der Erfahrungen jener, die von der modernen Welt ausgeschlossen sind oder von ihr überfahren werden, neu überdenken müssen."72 Für das Cox'sehe Projekt einer entmodernisierten Theologie sind also jene konstitutiv, die eine „Synthese zwischen Modernität und Christentum,

68 Ebd. 68f. Zur Kritik an Rössler aus anderer Perspektive vgl. auch F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 441ff. (3. Kap. Zur Innenansicht: Theologischer Umgang mit der Religionsthematik). 69 So auch K.-F. Daiber/I. Lukatis, Bibelfrömmigkeit als Gestalt gelebter Religion, Bielefeld 1991, die mit Verweis auf Hanselmann/Rössler „gelebte Religion" als „Gesamtkomplex individuell angeeigneter und praktizierter Sinnsysteme von Religion" bezeichnen, ebd. 20. 70 H. Cox, Theologien für eine postmoderne Welt, in: Reformatio 35 (1986), 183-190; hier: 184. 71 A.a.O., 186. 72 A.a.O., 187.

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die der Inhalt der modernen liberalen Theologie ist, nie internalisiert" haben. Hermeneutisch hoch bedeutsam sind in dieser Übergangszeit jene, „die in der modernen Welt leben, aber nie ein Teil ihrer geworden sind"; sie stellen eine Art „Schlüssel" dar. Die Spur einer „Volksreligion" fuhrt in solcher Betrachtung, die sicher gegen naive Romantik abzusichern wäre, an neue Orte und neue Perspektiven von Theologie. Dominierte traditionell das Gespräch mit den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion", so wechseln nun die Gesprächspartner. Zugleich verschiebt sich das Interesse von der Denkbarkeit der Religion hin zur Lebbarkeit oder zur Ermöglichung von Leben. Genau dies ist ja ein Manko auch bester und unaufgebbarer theologischer Religionskritik, daß sie von sich aus kein Potential zur Gestaltung von religiösem Leben freizusetzen vermochte. Im Versuch der Zentrierung Praktischer Theologie auf „gelebte Religion" bleibt angesichts dieser Ausgangslage zu fragen, ob es ein tertium gibt zwischen einerseits naivem unmittelbaren Rekurs der Wissenschaft auf unhaltbare Tatsächlichkeit von religiöser Wirklichkeit und andererseits immer schon von institutioneller Logik her gedachter aufklärungsbedürftiger Konzeption individueller Religiosität, die den Subjekten aber nur bedingt gerecht werden kann. Hier fuhrt u.E. ein stärker am Begriff der Lebenswelt im Sinne neuerer Phänomenologie orientiertes Verständnis „gelebter Religion" qualitativ weiter. Dabei ergibt sich ein neues Verhältnis von Religion, Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit. Diese Betrachtung ist fur Theologie produktiv: Sie fuhrt an die Frage, ob und inwiefern im Alltäglichen selbst Erfahrungen von gelebter Religion gemacht werden können. Religion also nicht im Sinne der Aneignung von theologischem Fachwissen, von kirchlichen Traditionsbeständen, auch nicht im Sinne fertiger Produkte, die in pastoralen Strategien von Amtsträgern an den Mann und an die Frau zu bringen wären. Gegenüber einer einseitig von der Institution vorgedachten Religionspraxis rechnet ein solches Konzept nicht allein oder vorrangig mit Prozessen von Säkularisierung, Pluralisierung und Diffundierung ehemals eindeutiger Vollzüge, sondern auch mit der Möglichkeit der Entfremdung 'gelehrter' Religion von der Religiosität der Subjekte. Ansatzpunkt ist hier die Beobachtung, daß Menschen im Alltag zunehmend religiös qualifizierbare Suchbewegungen vollfuhren, sich dabei mit Religion außerhalb von sonntäglicher, kirchlich normierter Religion abgeben, eine Bewegung, die sich in der Moderne und Postmoderne vielleicht zuspitzt, aber bei offenerer Betrachtung auch schon für frühere Epochen aufzeigbar wäre. Von der inzwischen auch in der Theo-

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logie intensiv geführten Magiedebatte 73 her wäre hier das Verständnis von „Synkretismus" jenseits älterer Gegenüberstellungen von Orthodoxie und Häresie und unter neuer Wertschätzung der Heterodoxie zu reformulieren. Der Eruierung des Abweichenden als Exotischem wäre kein heuristischer Wert zuzusprechen, wenn sie nicht die Chance eröffnete, über das „Fremde" das Eigene wahrzunehmen, also nicht jene Abständigkeit verhärtend zu perpetuieren, sondern rückzuwenden auf die mehrheitsfähigen religiösen Praxen. Dennoch wird das kritische Potential solcher Untersuchungsansätze verspielt, wenn man bei bloßer Gegenüberstellungen bliebe, und das Fremde lediglich als Folie für das verbesserungsfähiges Eigene, nicht aber auch als gleichsam demaskierendes Offenbarwerden unterdrückter und abgespaltener eigener Praxis zuläßt. Es geht darum, in - gegenwärtigen wie vergangenen - alltäglichen Begegnungen von Menschen mit der Wirklichkeit nicht nur mit dem Gewohnten, dem Bekannten und auch Banalen zu rechnen, sondern immer wieder auch mit dem Unerwarteten, dem Befremdlichen, mit der Abgründigkeit des alltäglichen Lebens. Solche Suchbewegungen müssen mit Husserl als organischer Bestand der vortheoretischen Lebenswirklichkeit gelten, denn sie verkörpern nicht immer nur krude unaufgeklärtes, religiöses Meinen, dem theoretische Vernunft der wissenschaftlichen Theologie sich klärend anzunehmend hätte. Ein phänomenologisch orientiertes Konzept „gelebter Religion" hat Teil an der Ambivalenz alltäglicher Vollzüge zwischen Verschlossenheit und Gewahrwerden der Fremdheit, ist aber gerade nicht nur auf begriffliche Rekonstruktion hin gedacht, sondern rechnet bereits mit anfanglich produktiven Verständigungsprozessen und Entwürfen von Ordnungsstrukturen und vor allem mit produktiven Irritationen, Störungen und mit Außerkraftsetzung von vorgegebenen Ordnungsstrukturen inmitten der Lebenswelt. Allerdings sind gerade für einen Ansatz „gelebter Religion", der phänomenologische Impuls aufnimmt, damit zwei Besonderheiten zu gewärtigen: Vom Ruf „zu den Sachen selbst!", vom Primat der Wahrnehmung her, wird eine phänomenologische Annäherung gegenüber jeder Bemächtigung systematisierender Fest-Stellungen des Gegenstandes in Begriffen stets auf dem Offenhalten der Erfahrung des Religiösen, des Unsagbaren oder auch des Heiligen74 insistieren. Darin liegt die unvermeidliche Vagheit des Konzeptes gegenüber (etwas) klarerer sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit von sub-

73 Vgl. H.-G. Heimbrock/H. Streib (Hg.), Magie - Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens. Eine theologische und religionstheoretische Kontroverse um die Kraft des Wortes, Kampen 1994. 74 Vgl. C. Colpe, Die wissenschaftliche Beschäftigung mit „dem Heiligen" und „das Heilige" heute, in: D. Kamper/Chr. Wulf (Hg.), Das Heilige: Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/M. 1987, 33-61.

Ansatzpunkte, Perspektiven und Leitbegriffe erneuerter Praktischer Theologie

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stantiellem versus funktionalem Religionsbegriff wie auch gegenüber systematisch-theologisch verfahrender Analyse von Religion. Gegenüber naiver religionswissenschaftlicher Phänomenologie, welche Religion (gelebte wie gelehrte) als „Tatsache" zu verorten können meint, insistieren wir in unserem Ansatz - gegen falsche Unmittelbarkeit - zweitens in methodischer Hinsicht darauf, daß „gelebte Religion" analog zu einem gehaltvollen Begriff der Lebenswelt eher als Such- oder Reflexionsbegriff zu verstehen ist. „'Religion' und 'Religiöses' als diskursive Tatbestände zu betrachten"75 zielt also nicht auf den Versuch der eindeutigen Identifizierung von religiös zu qualifizierenden Dinglichkeiten in der Wirklichkeit, verhindert es gerade, Religion zu vergegenständlichen, sondern zielt auf ein kulturelles Konzept, operiert unvermeidlicherweise mit „Religion" und „religiös" als Fremdzuschreibungen und als eine besondere Eigenart eines gesellschaftlichen Diskurses76. In dieser Vagheit und offenen Annäherung von Suchprozessen liegt allerdings gerade auch eine Stärke und Fruchtbarkeit des Konzeptes „gelebter Religion" fur die Theologie. Dort, wo Religion als Fremdheitserfahrung zugelassen werden kann, wo sie weder gegenstandstheoretisch noch methodologisch pränormiert ist oder im Reflexionsprozeß letztlich ausgeschaltet werden soll 1 , kann gerade die Spannung von Religion zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die Spannung zwischen erfahrbaren Unbestimmtheiten in der Lebenswelt einerseits und theologisch zentraler und rational nicht aufklärbarer Unbestimmbarkeit Gottes als „Geheimnis" des Lebens (E. Jüngel) andererseits produktiv aufgenommen werden. 3.4

Leben

Mit der sozialwissenschaftlichen Wende der modernen Praktischen Theologie wurde bereits seit Anfang der 70er Jahre unter der programmatischen Formel einer „empirischen Theologie" die Abwendung vom alten pastoraltheologischen Modell eingefordert. In Konkurrenz zu textorientierter Hermeneutik wurde stärkerer Praxis- und Wirklichkeitsbezug der Disziplin auf dem Wege über handlungswissenschaftliche Situationsanalyse angestrebt. Indem die Praktische Theologie nicht das Verstehen überlieferter Texte, sondern gegenwärtiges christlich-kirchliches Handeln zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt macht, organisierte sie sich methodologisch in Analogie zu den modernen Handlungswissenschaften. 75 J. Matthes, Auf der Suche nach dem „Religiösen". Reflexionen zur Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis 30 (1992), 129. 76 B. Waidenfels, Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie, in diesem Band, spricht analog zu solchen Überlegungen von „indirekter Zugangsweise". 77 So etwa auch bei Waardenburg.

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Eine am phänomenologischen Lebensweltbegriff orientierte Praktische Theologie, die „gelebte Religion" in der skizzierten Weise aufzuspüren versucht, modifiziert nicht nur ein zunächst aus den Sozialwissenschaften importiertes Handlungsverständnis über Fokussierungen auf instrumenteile wie kommunikative Handlungsebenen. Sie fragt in prinzipieller Absicht vielmehr auch nach begrifflich unfassenderen Auslegungshorizonten über institutionell verfaßte Religiosität hinaus. M. Josuttis hat in dieser Richtung vorgearbeitet mit der Erprobung des Begriffs 'Verhalten'. Gegen alle Tendenzen zur lebenspraktischen Abstraktion in der Theologie verweisen die Verhaltenswissenschaften darauf, daß auch der christliche Glaube in die Gesetze und Konflikte, die alles Lebendige prägen, eingespannt ist. Gegen alle Tendenzen zur kirchlichen Isolierung machen nicht behavioristisch verengte Verhaltenswissenschaften darauf aufmerksam, daß auch der christliche Gottesdienst in die Religions-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte eingebettet abläuft. In unserem Konzept nehmen wir nun gegenüber der Zentrierung im Handlungsbegriff einen signifikanten Wechsel des zentralen Leitbegriffs vor. Thematisierung gelebter Religion kann sich nicht mehr nur auf das 'Handeln' mehr oder weniger autonomer Subjekte beschränken, sondern muß von 'Verhalten' und 'Erleben', von nicht verfügbaren Einbezogenheiten ausgehen. Wir rechnen daher zusätzlich mit der Relationiertheit menschlicher Existenz in außermenschliche und gegenständliche Welt als kosmologische Einbezogenheit, als Existenz in Natur und Geist. Um diese doppelte Verwobenheit als Konstitutionsbedingung zu sichern und auch perspektivisch in einem Leitbegriff zu fassen, greifen wir auf den Lebensbegriff zurück. Mit dem Lebensbegriff als Leitkategorie kann heute der fiinktionalistischen Reduktion von Religion auf Krisenbearbeitung im Lebenszyklus gewehrt werden, ohne daß ihr Beitrag zur Lebensbewältigung im Alltag aus dem Blick geraten soll. Aber auch der Alltagsbegriff gewinnt seine Bedeutung und Komplexität erst durch Bezogenheit auf den Lebensbegriff. Er wird nicht sozialphänomenologisch gefaßt als umfassende Institution, sondern erfahrt eine Vitalisierung und damit eine Öffnung hin auch zum Sinnlosen, Sinnwidrigen, Unordentlichen. Während der Alltagsbegriff der Sozialphänomenologie geeignet ist, die Prozesse der Institutionalisierung, der regelhaften Routinisierung des Lebens, seinen sozialen Zwang zum Aufbau von Plausibilitäten und Konventionen erkennbarer zu machen, sichert der Lebensbegriff in einer praktischen Religionsforschung das Elementare wie das Ambivalente und das IrRationale. Gegen den Verlust an Lebensbedeutsamkeit von Theorie richtete sich der Einspruch der frühen Phänomenologie am Beginn dieses Jahrhunderts. Eine gegenüber weltabgehobener Forschung periodisch wiederholte Forderung nach Lebensnähe kann gerade im kulturellen Kontext einer Er-Leb-nisGesellschaft nicht ohne Bemühung der Theologie um kritisch-produktiven Zugang zum Leben auskommen. Jüngere systematisch-theologische Bemü-

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hungen um Neubestimmung des Lebensbegriffs operieren vor allem mit der neutestamentlich akzentuierten, normativen Differenz zwischen „Leben" und „wahrem Leben" und fragen dabei nur mehr nach dem Ort des Glaubens im Leben bzw. umgekehrt78. Demgegenüber läßt sich ein praktisch-theologisch brauchbarer, nicht-hypertropher und nicht mystifizierender Lebensbegriff durch die alltagsnahe Strenge und herbe Nüchternheit anderer biblischer Rede vom Leben gewinnen und sichern. Hier ergeben sich fur die praktischtheologische Theoriebildung wesentliche Entsprechungen zwischen phänomenologischer und biblischer Anthropologie, insbesondere im Blick auf weisheitliche Traditionen im Alten Testament: die Untrennbarkeit von Sinn und Sinnlichkeit, die Verankerung der Sozialität in der Mitgeschöpflichkeit als Inkorporiertheit, die bleibende Anbindung der Wahrheits- und Evidenzfrage an Leiblichkeit, die Fragilität des Verhältnisses von Fremd- und Selbsterfahrung.

78 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I, Tübingen 1979, 79f.

Henning Schröer

Die Bedeutung der Phänomenologie für die Konstitution Praktischer Theologie1 1. Erinnerung Die Frage nach der Bedeutung der Phänomenologie fur die Konstitution Praktischer Theologie ist nicht völlig neu, wenn auch auf jeden Fall neu zu stellen und auf tragfahige Antworten hin neu zu durchdenken. 1968 hielt ich als Probevorlesung im Rahmen des Habilitationsverfahrens vor der Heidelberger Theologischen Fakultät einen Vortrag mit eben diesem Thema: „Die Bedeutung der Phänomenologie für die Praktische Theologie". Ich bedaure heute, daß ich ihn seinerzeit wegen mir damals noch ungeklärter Probleme nicht veröffentlicht habe. Als Signal wäre er brauchbar gewesen. Ein gewisser Anlaß zu diesem Thema war die damals aktuelle Studie von Klaus Schwarzwäller Theologie oder Phänomenologie. Erwägungen zur Methodik theologischen Verstehens 2. Schwarzwäller hatte versucht, die damals aktuellen Fragen „nach Methodik und Kriterien theologischer Hermeneutik" grundsätzlich aufzugreifen und zwar „im Gegenüber zur phänomenologisch geprägten oder doch zumindest beeinflußten Theologie".3 Damit waren zuerst „Methodik der Psalmenexegese", sodann „die Theologie Rudolf Bultmanns" und schließlich „der geschichtstheologische Entwurf Wolfhart Pannenbergs" direktes Thema, aber in ebenso konträrer Position auch Theologen wie „Ebeling, Fuchs, Braun, Ott und andere". Diese hermeneutische Frontstellung führte zu der Konzentration auf die Philosophie Martin Heideggers, ohne die Unterschiede zu Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, dabei für relevant anzusehen: „Mit 'Phänomenologie' bzw. 'phänomenologisch' ist hier die Philosophie Martin Heideggers gemeint"4. Schwarzwäller waren Differenzen zwischen Husserl und Heidegger durchaus bewußt, die er teilweise auch benannte, er meinte aber, behaupten zu können: „Doch diese wie auch alle übrigen Differenzen beeinträchtigen die methodi1 2 3 4

Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags zur Konsultation am 7./8. 10 1996 in Frankfurt/Main. München 1966 (BevTh 42). Schwarzwäller, Theologie oder Phänomenologie, 7. Schwarzwäller, ebd.

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sehen Gemeinsamkeiten m.E. nicht wirklich entscheidend."5 Diese Prämisse stellte ich damals als erstes in Frage. Ich hielt und halte es für notwendig, auf Husserl selbst noch einmal zurückzugehen. Dies ist insbesondere notwendig, weil Husserls in seiner Spätzeit vollzogene Diagnose der „Krisis der europäischen Wissenschaft" 6 mit dem Rekurs auf den Begriff der „Lebenswelt" 1 erhebliche, neben der Beschäftigung mit Heidegger einhergehende Nachwirkungen in Soziologie und Philosophie hatte, die sich in den sechziger Jahren schon kund taten, etwa in der beginnenden Rezeption des Werks von Alfred Schütz8 oder von Ludwig Landgrebe.9 Die Inflation des Lebensweltbegriffs, der bei Heidegger terminologisch keine Rolle spielt - sachlich ist er allerdings in der existentialen Daseinsanalyse von „Sein und Zeit" durchaus vorhanden - , bereitete zwar den Weg, erschwert ihn aber auch durch die dauernd nötige Abweisung von Mißverständnissen, was meistens nur dazu führte klarzustellen, was denn Phänomenologie nun gerade nicht sei. In der damaligen Probevorlesung war zum zweiten Schwarzwällers grundsätzliches Nein zur Phänomenologie bzw.zur „theologischen Hermeneutik, die durch Heidegger beeinflußt oder bestimmt ist", Gegenstand meiner Kritik. Schwarzwäller versuchte zwar, in dem Schlußabschnitt seines Buches „Der Ort phänomenaler Arbeit"10 etwas von der Wahrheit der Phänomenologie durch polemische Differenzierung zu retten, seine Position schien und scheint mir aber gerade darin sowohl philosophisch als theologisch verhängnisvoll dogmatisch zu werden: „Das Wort 'phänomenal' ist hier in polemischer Frontstellung gegen 'Phänomenologie' eingebracht. Wie ich in diesem Abschnitt deutlich zu machen versuche, soll damit jene Methodik gekennzeichnet sein, die das Phänomen 'sich an ihm selbst zeigen' läßt, ohne jedoch phänomenologisch zu reduzieren; konkret: die die Texte das jeweils Ihre aus ihnen selbst sagen läßt, ohne unter dem Diktat des Dogmas der exklusiven Immanenz, der Fiktion des Zirkels und dem Zwang zur Geschichtslosigkeit nach dem - wie immer denn auch jeweils genannten - Eigentlichen, also der durch die Reduktion erzeugten Struktur, zu fragen."

5 6

Schwarzwäller, ebd. E. Husserl, GW VI. Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie (1936), posthum hg. 1954 von W. Biemel. 7 Vgl. den vorzüglichen Artikel „Lebenswelt" von Kl. Held, Theologische Realenzyklopädie 20 (1990), 594-600. 8 A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932), Frankfurt/M. 1974. 9 L. Landgrebe, Das Problem der transzendentalen Wissenschaft vom lebensweltlichen Apriori, in: Ders., Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1967, 148-186. 10 Schwarzwäller, a.a.O., 267-272.

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Schröer: Die Bedeutung der Phänomenologie

Ist solche Phänomenalität ohne -logie, ohne Struktur, nicht naiv? Ist Reduktion notwendig eine Minderung? Was heißt Dogmatik der exklusiven Immanenz, wenn Verstehen auf einen offenen Horizont als Voraussetzung aller Hermeneutik gerichtet ist? Wenn Schwarzwäller in seiner Polemik gegen die Korrelation von Situation und Botschaft als „'Drittes' und Entscheidendes" die „Königsherrschaft Jesu Christi" einbringt, dann will er das zwar theologisch dialektisch - sogar in Anknüpfimg an den von mir gebildeten Terminus „supplementäres Paradox"11 - tun, aber das Verhältnis von Dogmatik und Hermeneutik bleibt dogmatisch, nicht hermeneutisch. In diesem Fall kommt hier nur Glaube zu Wort und nicht Glaube in seiner offenen Selbstreflexion als Theologie mit hermeneutischer Offenheit. So ist auch Schwarzwällers Aufforderung zu einem „sacrificium intellectus"12 so nicht statthaft. Das Paradox ist als sacramentum, nicht als sacrificium intellectus zu verstehen. In jener Probevorlesung erinnerte ich auch, wegen des Interesses, an Husserl direkt anzuknüpfen, an Notizen Karl Barths aus seiner Zeit in Göttingen. Er schrieb in einem Rundbrief vom 7.6.1925: „Daß ich einen schönen Teil der Göttinger akadem. Jugend erfreue und mitnehme, ist wirklich auch nicht das Siegel der Richtigkeit; sie würden eben jeden energischen Versuch aus dem Sumpf herauszukommen, mit Freuden begrüßen, und dann habe ich wieder einmal das merkwürdige Glück, daß mein Vorgehen den Leuten (obwohl ich nie Husserl etc. gelesen habe) von der Phänomenologie her einleuchtend vorkommt."13

Schon am 13.2.1925 hatte Barth in einem Brief nach einer Begegnung mit dem Philosophen Moritz Geiger geschrieben: „Die Phänomenologie ist mir unheimlich, aber es scheint, daß manche von da aus Zugang zu meiner Lehre haben."14

In der „Kirchlichen Dogmatik" wird später nur einmal Husserl zusammen mit Scheler erwähnt: mit der These, daß „doch auch hinter der formgeschichtlichen Exegese von heute die Voraussetzungen der Phänomenologie Husserls und Schelers nicht zu verkennen sein werden".15 Der Hinweis dient Barth zur Begründung für sein Verständnis des zweiten Moments der Schrifterklärung, des Akts des Nachdenkens - nach dem Akt der Beobachtung - :

11 H. Schröer, Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem, Göttingen 1960, 30 u.ö. (Schwarzwäller, a.a.O., 255). 12 Schwarzwäller, a.a.O., 266. 13 K. Barth/E. Thurneysen, Ein Briefwechsel, Siebenstern TB 71, München/Hamburg 1966, 197. 14 K. Barth a.a.O., 182. 15 K. Barth, Kirchl. Dogmatik, I, 2, 817.

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„Über dem beobachteten erhebt sich unvermeidlich - darauf bezogen, davon abhängig, aber doch davon zu unterscheiden wie der zweite Regenbogen vom ersten - das nachgedachte Bild des Textes, in welchem sich der Leser oder Hörer jenes sozusagen zu assimilieren versucht."

Ein bemerkenswerter hermeneutischer Grundsatz, den manche vielleicht gar nicht bei Barth vermuten. Dementsprechend stellt er fest: „Irgendeine Philosophie, d.h. irgendeine selbstgeformte Konzeption hinsichtlich dessen, wie alles im Grunde sei und sich verhalten möchte - und wäre es auch eine sehr populäre, aphoristische, krause und eklektisch schwankende Philosophie - hat jeder, auch der einfachste Bibelleser (und dieser vielleicht gerade mit besonderer Sicherheit und Zähigkeit), hat aber bestimmt auch der scheinbar und seinem Programm nach völlig der Beobachtung hingegebene gelehrte Bibelleser."16

Barth hat also durchaus die Rezeptionsprobleme „zwischen sensus und usus, zwischen explicatio und applicatio"17 in Blick. Deswegen findet sich bei ihm auch kein sacrificium intellectus'8. Er fragt rhetorisch ganz modern: „Wie können wir den Text objektiv verstehen, ohne subjektiv, d.h. aber mit unserem Denken, dabei zu sein?" Barth hat sich nicht intensiv mit der Phänomenologie beschäftigt. Aber es gibt Entsprechungen. Er teilte doch auf jeden Fall den Ordnungsruf der Phänomenologie: „Zu den Sachen selbst!", wie ihn auch in seiner Weise Heidegger in „Sein und Zeit" bejahte.19 Barths oft ausgesprochenes Interesse, daß die Methode dem Gegenstand zu folgen habe, daß die Rede samt Begriffen der Sache unterworfen sei und nicht umgekehrt, ist analog.. Deswegen zitierte er gern Hilarius von Poitiers: ,Jntelligentia dictorum ex causis est assumendo dicendi, quia non sermoni res, sed rei sermo subjectus est'' (De trin.4).20 Zum anderen gibt es auch eine sachliche Nähe im Blick auf das Verständnis von Offenbarung, weil die Fassung des Phänomenbegriffs bei Heidegger - intentional nicht von Husserl unterschieden - „das Sich-an-selbst-zeigende, das Offenbare"21 - deutliche Affinität zur Theologie besitzt. Die Wahrheit als Unverborgenheit, das ist doch auch eine Pointe johanneischer Theologie. Heideggers Position läßt sich aus seinem Vortrag „Phänomenologie und Theologie" (1927) erschließen, der erst 1970 erschien. Er sieht den Unterschied, Gegensatz, darin, daß die Theologie als eine bewußt den Glauben

16 17 18 19 20 21

K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, 816. K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, 815. K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, 816. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 5 1941, 27.34. K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1, 374. M. Heidegger, Sein und Zeit, 28.

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Schröer: Die Bedeutung der Phänomenologie

vorausetzende positive Wissenschaft nicht den universellen Ansatz einer existentialphänomenologischen Ontologie teilen könne.22 Die Diskussion über die Bedeutung der Phänomenologie war in jener Zeit weitgehend auf Exegese und Systematische Theologie beschränkt. Am stärksten griff Paul Tillich die Gedanken Husserls auf, wenn er ihr auch den Rang einer Grundwissenschaft nicht zuerkannte. In seinem System der Wissenschaften (1923) schrieb er bereits: „Wir haben es in der Phänomenologie nicht mit einer neuen Wissenschaft, sondern mit einer neuen Geisteshaltung zu tun. Das Gebiet der reinen Denkwissenschaft aber bleibt mit Logik und Mathematik abgeschlossen." Damit ist das Problem angedeutet, ob Phänomenologie nur eine Methode ist, die in vielen Wissenschaften Bedeutung gewinnen kann, oder selbst auch Theorie, ja sogar „Erste Philosophie" mit universalen Konstitutionsanalysen, wie das Husserl selbst jedenfalls anstrebte. Tillich bleibt hier damals noch dem Neukantianismus näher. Daß er die Phänomenologie für die Theologie weiterhin für unverzichtbar gehalten hat, zeigt jedoch sein bilanzierender Satz von 1951: „Die kritische Phänomenologie ist die Methode, die sich am besten dazu eignet, geistige und geistliche Sinninhalte gültig zu beschreiben. Bei der Untersuchung ihrer Grundbegriffe muß die Theologie sie anwenden".23 Interessant scheint mir die Frage, wie Husserl selbst das Verhältnis seiner Philosophie zur Theologie gesehen hat. Walter Biemel stellt fest: „In Husserls riesigem Gedankenwerk ist die Gottesfrage, so weit die Editionslage bisher sehen läßt, nirgendwo zusammenhängend untersucht. Gleichwohl lassen sich synoptisch die Ausschaltung der naiven Einstellung der positiven Religion und ein phänomenologischer Neuansatz der Frage nach dem theolo-

22 Eine nähere Analyse wäre hier dringend notwendig. Heideggers Kritik an einem objektivierenden Denken kann die Theologie doch durchaus übernehmen, insofern sie auch existentiale Hermeneutik ist. In „Sein und Zeit" hatte er ihr eine solche Tendenz im Anschluß an Luther immerhin konzediert (10). Aufschlußreich ist Heideggers Verständnis von „praktischer Theologie" mit den hervorgehobenen Thesen: "Systematisch ist die Theologie nur, wenn sie historisch-praktisch ist. Historisch ist die Theologie nur, wenn sie systematisch-praktisch ist. Praktisch ist die Theologie nur, wenn sie systematischhistorisch ist." (Vortrag, 24). Als Integrations-Prinzip kann man doch die Phänomenologie vermuten. Noch ein bemerkenswertes Zitat zur Kooperation von Phänomenologie und Theologie, insbesondere im Blick auf H. Deusers Terminologie vom „Instinkt": „Diese Kommunikation gewinnt und behält ihre Echtheit, Lebendigkeit und Fruchtbarkeit nur dann, wenn das gegenseitige, jeweils sich aussprechende positiv-ontische und transzendental-ontologische Fragen geleitet ist vom Instinkt für die Sache und von der Sicherheit des wissenschaftlichen Taktes, und wenn alle Fragen der Herrschaft und des Vorrangs und der Geltung zurücktreten hinter den inneren Notwendigkeiten des wissenschaftlichen Problems selbst" (33). 23 P. Tillich, Systematic Theology, Volume I, Chicago 1951, in dt. Übersetzung Systematische Theologie I, Stuttgart (1958) 5 1977, 131.

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gischen Prinzip markieren."24 Biemel weist auf den Titel von § 58 in Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1930)25 hin: „Die Transzendenz Gottes ausgeschaltet." und die Bemerkung.: „Auch Gott ist für mich, was er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung"26. Husserl will damit sicherstellen, daß auch Gott in dieser Welt nur als Erscheinendes vom Menschen thematisiert werden kann. Das bedeutet nicht die Leugnung Gottes in seinem Ganz-anders-sein, sondern die Klarstellung der Möglichkeiten, von ihm zu reden oder zu denken. Biemel deutet an, daß in solcher Epoché vom Naiven durchaus ein tragfahiger theologischer Ansatz liegen kann: „Eben diese 'wunderbare Teleologie' des konstitutiven Lebens gibt 'Anlaß zur Frage nach dem Grund dieser Ordnung', nach einem 'theologischen Prinzip'(Ideen I,139.121)"27 Ich fuge den Hinweis an, daß der Kirchenhistoriker Martin Schmidt bei meiner Probevorlesung in der Aussprache berichtete, daß ihm Friedrich Delekat von einem Gespräch mit Husserl erzählt habe, in dem Husserl, gefragt, welche theologische Konzeption er bejahen könne, auf Rudolf Otto, den Autor von Das Heilige, hingewiesen habe. Für mich ist das auch deshalb wichtig, weil in der phänomenologischen Religionswissenschaft - ich denke hier an Friedrich Heiler28 und vor allem an Gerardus van der Leeuw29 - besser Verbindung zur Phänomenologie als in der Theologie gehalten wurde, mochte auch die Sinntiefe transzendentalen und existentialhermeneutischen Denkens dabei nicht immer erreicht werden. Schließlich möchte ich anregen, auch die Verbindung mit dem Denken von Max Scheler, der in den frühen Zeiten der Phänomenologie der andere Hauptvertreter des neuen Ansatzes neben Husserl war, nicht abreißen zu lassen. Gerade praktisch-theologisch ist er außerordentlich ergiebig, wie z.B. seine Abhandlung über die Reue30 zeigt, weil dort eine die einzelnen Humanwissenschaften übergreifende Sichtweise erkennbar ist, mag manchen auch die damals noch katholische Verankerung seiner Weltsicht etwas Schwierigkeiten bereiten.

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W. Biemel, Art. Husserl, Theologische Realenzyklopädie 15 (1986), 739. Husserl, GW. Den Haag, 1950, Neuaufl. 1976. Husserl, Formale und transzendentale Logik, GW XVII (1974) 221. W. Biemel, Husserl, 740. Fr. Heiler (1892-1967). Sein letztes großes, leider zu wenig beachtetes Werk ist eine Religionsphänomenologie: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961, 2 1979. 29 G.v.d. Leeuw (1890-1950), Phänomenologie der Religion (1933), Tübingen 1956. Ich erinnere auch an seine ebenfalls theologisch wichtige Schrift, Sakramentales Denken, Kassel 1959. 30 M. Scheler, Reue und Wiedergeburt urspr.: Zur Apologetik der Reue (1919): Ders., Vom Ewigen im Menschen, GW V, Bern 41954, 27-59. Vgl. meinen Art. Reue III/IV, Theologische Realenzyklopädie 29, 105-109.

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Schröer: Die Bedeutung der Phänomenologie

2. Gegenwart Die derzeitige Forschungslage ist wohl so zu bestimmen: Exegetisch erkenne ich keine ausdrückliche Bezugnahme, es sei denn über die Fragen nach dem Verhältnis von Psychoanalyse und Hermeneutik im Anschluß an Paul Ricoeur oder in gewisser Weise auch in der Position von Hans Weder31. Anders in der Systematischen Theologie, wo Ellert Herms und Wilfried Härle stark die Phänomenologie im Blick haben. Der Sammelband Phänomenologie. Über den Gegenstandsbezug der Dogmatilc32 ist instruktiv. Christoph Schwöbel hat eine überzeugende Lagebestimmung in seinem TRE-Artikel Phänomenologie II. Theologisch gegeben33. Die Frage ist, was sich daraus fur die Konstitution Praktischer Theologie ergibt. In der Praktischen Theologie haben Wolf Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock das Verdienst, mit ihren Studien Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis34 die „Option: Phänomenologisch orientierte Praktische Theologie"35 umsichtig und eindrücklich als Neuland erschlossen zu haben. Die Autoren verstehen diese „methodologische Option" nicht als Anwendung einer phänomenologischen Schule, sondern als Sammelbegriff einer „phänomenologischen Methode bzw. Einstellung". Kernsatz scheint mir zu sein: „Diese Option findet ihre Rechtfertigung in der Subjektivität des Gegenstandes der Praktischen Theologie: die gelebte Religion, wie sie sich als subjektive christliche Religion manifestiert."36 Es handelt sich dabei um eine „Weiterfuhrung älterer erfahrungshermeneutischer Ansätze in der Praktischen Theologie". Dieser Hinweis ist für die Einzeichnung in die allgemeine Entwicklung ganz wichtig. In der Tat ist mit dem erneuten Rekurs der Theologie auf Erfahrung als Schlüsselbegriff - ein wesentliches Signal war Gerhard Ebelings Vortrag von 1974: Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache3 - notwendig eine erneute Hinwendung zur Phänomenologie programmiert. Diese epochale Tendenz, das Verhältnis von Offenbarung und Erfahrung neu zu

31 Vgl. seine Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986 und seinen Vortrag: Die Energie des Evangeliums, Zeitschrift für Theologie und Kirche Beiheft 9, 94-119. 32 Marburg 1994. 33 Chr. Schwöbel, Theologische Realenzyklopädie 28 (1996) 465-469. 34 Stuttgart u.a. 1998. 35 Failing/Heimbrock, a.a.O., 292-294. 36 Failing/Heimbrock, a.a.O., 293. 37 G. Ebeling, Wort und Glaube III, 3-28.

Gegenwart

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erörtern,38 und zwar so, daß die ganze Problematik von Theologie und Empirie dabei zu ihrem Recht kam, ergab ein neues Aufgabenfeld. Dabei wüßte ich nicht, daß Anknüpfungen an praktisch-theologische Konzeptionen in der Zeit vor der Dialektischen Theologie, die dann bei Eduard Thurneysen und anderen Kontakt zur Phänomenologie vermied, existiert haben: Bei Friedrich Niebergall z.B. findet sich in seiner sehr lesenswerten Übersicht Im Kampf um den Geist. Von Weltanschaungen und Religionen39 kein Hinweis auf die Phänomenologie. Das von Martin Schian herausgegebene Handbuch für das kirchliche Amt enthält einen kurzen Artikel zum Stichwort Phänomenologie, verfaßt von K. Kesseler, der u.a. außer auf Husserl auf Nicolai Hartmann, Max Scheler, Eduard Spranger und Georg Wobbermin verweist, ohne daß die Relevanz fur die kirchliche Praxistheorie besonders hervortritt.40 Die „Herausarbeitung des Gegenständlichen in der Religion" wird als Wesenszug hervorgehoben. Die derzeitig anhebende Konjunktur der Phänomenologie im Gefolge des Erfahrungs- bzw. Empiriebegriffs zeigt sich besonders deutlich bei der neuen Fassung der Pastoraltheologie durch Manfred Josuttis, die er in seiner neuen Grundlegung „zwischen Phänomenologie und Spiritualität" ansiedelt41. Wirksam und wertvoll sind sicher auch Hermann Timms Arbeiten, die auf eine phänomenologische Lehre vom Heiligen Geist hinzielen. 42 Überhaupt ist m.E. das Verhältnis von Phänomenologie und theologischer Pneumatologie der enzyklopädische Standort, um das theologische Profil erfahrungsnah auszuarbeiten. Da die Praktische Theologie zunehmend auch von der Pneumatologie her entworfen wird, ist also dieser „Sitz im Leben" des theologischen Denkens maßgeblich. Ich erhoffe mir dabei auch neue Aufschlüsse

38 Bekanntlich hat K. Barth den Erfahrungsbegriff nicht völlig destruiert, vgl. z. B. Kirchliche Dogmatik I, 1, 190 („Glaube ist freilich auch eine menschliche Erfahrung") und den dritten Abschnitt von § 6 Die Erkennbarkeit des Wortes Gottes: Das Wort Gottes und die Erfahrung , Kirchliche Dogmatik I, 1206-239. 39 München 1927. 40 Handbuch filr das kirchliche Amt, Leipzig 1928,472. 41 M. Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. Seine methodologische Kennzeichnung bleibt recht karg: „Die jetzt vorgelegte Pastoraltheologie arbeitet insofern phänomenologisch, als sie mit der eigenständigen Wirklichkeit und der selbsttätigen Macht des Heiligen rechnet".^). 42 Das gilt schon filr seine Studie ZwischenfMlle. Die religóse Grundierung des All-Tags, Gütersloh 1983. Hochkarätig ist sein Satz: „Wie das Phänomen in den Logos, so geht das Heilige in den Geist über, in die Formwelt von Wort und Bild, von Mythos und Ritus, von Dogma und Institution: Heilig-Geist." aus dem ersten Band seiner dreibändigen Phänomenologie des Heiligen Geistes (Das Weltquadrat, Gütersloh 1985, 13.). Dort findet sich auch eine methodologische Besinnung, die leider die Praktische Theologie, zumindest expressis verbis, ausspart (15-17).

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Schröer: Die Bedeutung der Phänomenologie

über die leider fast verdrängte Verhältnisbestimmung von gelebter Religion und gelebtem christlichen Glauben.43 In meinem erst nach der Konsultation in Frankfurt erschienenen TREArtikel Praktische Theologie44 habe ich formuliert: „Eine interkulturelle, medienbewußte praktisch-theologische Hermeneutik ist nötig. Sie arbeitet vorwiegend phänomenologisch (vgl. Heimbrock/Failing; Zilleßen/Beuscher)"45. Diese These soll im dritten und letzten Teil meines Statements entfaltet werden.

3. Erwartung Wenn ich als Überschrift dieses Schlußteils das Stichwort Erwartung gesetzt habe, so soll damit nicht nur den beiden anderen Teilen mit den Stichworten Erinnerung und Gegenwart entsprochen werden, sondern es soll eine Dimension als elementar herausgestellt werden, die phänomenologisch orientierter Theologie eigen sein soll. Sie trennt sie von Positionen, die nur Fakten, Tatsachen, das was ist, die res gesta thematisieren wollen, um sich von jeder Spekulation frei zu halten. Aber das verkennt den Erwartungshorizont aller Erfahrung mit der Geschichte. Es geht nicht um Orakel und auch nicht nur um Prognosen, sondern eher um Prophetie, so wie Luther Schriftauslegung mit Weissagung in einen Horizont rückte. Das ist nicht nur philosophisch, sondern erst recht theologisch bedeutsam, weil christliche Theologie eschatologisch ausgerichtet ist. Unübertrefflich hat Karl Barth in seiner Definition der Predigt sie „als Ankündigung dessen, was sie (sei. die Hörer) von Gott selbst zu hören haben"46 gekennzeichnet. Es geht darum, was geht, wenn Gott kommt. So ist Prinzip auch prineipium, und Phänomenologie erweist sich nicht nur als Methode, sondern auch als Theorie. In der Unverfügbarkeit der Verheißung als auf den Glauben gerichteter Mit-teilung ergibt sich Erwartung als Horizont der Orientierung in der Wirklichkeit: Was wird geschehen, wenn die Erfahrung gilt? Das entspricht durchaus dem phänomenologischen Verständnis von Lebenswelt, denn sie ist, mit Husserl gesprochen, „konkrete Universalität"47. Dies ist die elementa-

43 Die Differenz von Religion und Glauben bleibt als Spannungsfeld theologisch unverzichtbar. Sie verhalten sich noetisch wie Hermeneutik und Dogmatik. Das hat besonders Bedeutung für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, wie schon Gerhard Bohne erkannte. 44 Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), 190-220. 45 Schröer, a.a.O., 214. Der Hinweis auf Zilleßen/Beuscher bezieht sich auf ihre gemeinsame Studie, Religion und Profanität, Kampen 1997. 46 K. Barth, Homiletik, Zürich 1970, 30. 47 Vgl. K. Held, Art. Lebenswelt, Theologische Realenzyklopädie 20, 597.

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re „Fundamentalschicht jeglicher Erfahrung"48. Mag auch die Schichtenvorstellung Husserls nach Klaus Heids Urteil als nicht voll geeignet gelten, so ist doch seine Auslegung der Intention Husserls zutreffend: „Die Universalität der einen Lebenswelt läßt sich nur aus dem für die natürliche Einstellung konstitutiven 'Weltglauben' erklären: In welcher der vielen Lebenswelten ein Mensch geschichtlich und kulturell seine Heimat haben mag, immer setzt seine Erfahrung die Gewißheit voraus, daß der unendliche Zusammenhang horizonthafter Verweisung nicht abreißen kann."49. Theologisch ist eben dies der Ort der Klärung über den Glauben, bei dem er die phänomenologische Reduktion solchen Weltglaubens im Dialog begleitet. Ich habe schon früher vorgeschlagen, nicht nur den Begriff der Reduktion, sondern auch der Perduktion aufzugreifen, weil es um eine sich performant entwickelnde Erkenntnis handelt. Erst im Wie, Wo und Wohin realisiert sich das Was. Diese Erkenntnis als etwas ist als sinnhafte Re-Vision zugleich auf Erinnerung und Hoffnung hin gerichtet. Solch eine eschatologische Ausrichtung der Erfahrung - gültig unter eschatologischem Vorbehalt - auf Erwartung, damit auch auf Ent-täuschung und Kritik, ist phänomenologisch orientierter christlicher Theologie unverzichtbar. Das entspricht vor allem ihrem Charakter als biblisch orientierter praktisch theologischer Hermeneutik, die durch Verheißung konstitutiert wird. Dieser Ansatz braucht die Klärung des Verhältnisses von Geist als der eschatologischen Vor-Gabe samt Beweggrund (Motivation) und vernehmender Vernunft, pneuma und nous. Immer noch scheint mir dafür Günther Bornkamms Aufsatz Glaube und Vernunft bei Paulus50 eine vorzügliche exegetische Basis zu bieten. Eine kategorische Ablehnung der Vernunft in Glaubensdingen kann sich nicht auf Paulus stützen. „Die Paradoxie des göttlichen Handelns soll also verstanden werden."51 Bornkamm unterscheidet die Funktion der Vernunft beim „unerlösten Menschen" - hier wird die Unvernunft des sündigen Menschen in der Anwendung seiner Vernunft auf die Gottesfrage erkannt - und beim „Selbstverständnis des Christen und für alle Bereiche seines Lebens". Die Abgrenzung der Argumentation des Paulus von dem Stil der gnostischen Offenbarungsrede ist eindrücklich, denn Paulus legt die Schrift im Stil der Diatribe argumentativ aus. Die Unbegreiflichkeit als solche soll verstanden werden, womit auch falsche Ärgernisse abgewiesen werden. Diesen Stil wendet Paulus gerade gegen die Pneumatiker an und mit ihm tritt er auch in die Situation der Angeredeten. Dem entspricht das berühmte Kapitel 14 des 1. Korintherbriefs, wo Paulus die Entsprechung von

48 49 50 51

Held, a.a.O., 597. Held, ebd. G. Bornkamm, Studien zu Antike und Christentum, München 1959, 119-137. G. Bornkamm, a.a.O., 121.

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nous und pneuma verteidigt - „Ich will beten mit dem Geist und will auch beten mit der Vernunft" (14,15) - und damit sogar das prophetische Reden nicht zu einer ekstatischen, sondern zu einer Äußerung des vernehmenden Verstehens macht. Das Verstehen ist allerdings ein Überfuhrtwerden, wie es sich gerade bei dem „Ungläubigen oder Unkundigen" (14,24) mit seinem verständlichen Eindruck „Ihr seid von Sinnen!" bei vernünftiger Erinnerung an den Geist und Sinn der Rede von Gott ereignet, wenn, „was in seinem Herz verborgen ist" (14,25), offenbar wird. Herz und vernehmende Vernunft sind dabei als anthropologische Begriffe Synonyme (Rö 1,21)52. Das Verhältnis von Phänomenologie und Theologie entspricht dem von Vernunft und Geist in ihrem möglichen Zusammenwirken. Die Vernunft kann über den Geist nicht verfugen, aber sie kann für ihn argumentieren, indem sie die offenen Grenzen wahrnimmt. Phänomenologie kann als die Bemühung um die Vernunft des Vernehmens verstanden werden, während Theologie der Vernunft im Sinne des Geistes das Wort gibt. Es ergibt sich eine Art parallelismus membrorum. Das in der Phänomenologie (insbesondere von Maurice Merleau-Ponty)53 neu entdeckte Interesse an Leiblichkeit entspricht biblischer Anthropologie vom ganzen Menschen. Die Phänomenologie der sinnlich-leiblichen Erfahrung, die zu Recht inzwischen fast überall ins Spiel gebracht wird54, ist hier Sachwalterin einer integralen Anthropologie. Heimbrocks Überlegungen: 'Modo religioso '. Klang und religiöse Bedürfnisse sind hier ebeno relevant wie seine Ausführungen zu Gott im Auge. Über Ansehen und Sehen."55 Hier ist auch auf die Dissertation von Gotthard Fermor: EKSTASIS, Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung für die Kirche56 hinzuweisen, in der Phänomenologie als Wahrnehmungswissenschaft mit Praktischer Theologie dialogisch verbunden wird. Freilich wird sich die Theologie Erweiterungen in den möglichen Perspektiven gefallen lassen müssen, weshalb ich z. B. für die Theologie der Musik einen solchen Grundbegriff wie den von mir gebildeten der Theophonie57 bejahe. An Konsequenzen für die Konstitution Praktischer Theologie nenne ich folgende sieben Punkte. 52 Vgl. G. Bomkamm, a.a.O., 125. 53 Vgl. die vorzügliche Darstellung der Gegenwartslage der philosophischen Existentialphänomenologie durch B. Waidenfels, Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 461465, mit Hinweis auf J.P. Sartre, M. Merleau-Ponty, E. Lévinas und P. Ricoeur. 54 Praktisch theologisch sehr ergiebig ist hier W. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit, München 1979. 55 Failing/Heimbrock, a.a.O., 69-90 bzw.123-144. 56 Stuttgart 1999. 57 Vgl. meinen Beitrag Wie musikalisch kann Theologie werden? in G. Fermor, H.-M. Gutmann, H. Schroeter, Theophonie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie, Rheinbach 2000,299 ff.

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1. Leitbegriff kann weder Handeln, noch Verhalten, sondern nur Leben als ars vivendi et moriendi sein. Hier ist ein theologisch pointierter Begriff von Leben mit sinnvoller Verhältnisbestimmung von bios und zoé notwendig. Daraus ergibt sich eine Wahrnehmung der globalen Lebenswelt in den verschiedenen regionalen Lebenswelten.5 2. Phänomenologie ermöglicht eine kulturtheologische Sicht der Praktischen Theologie, die den Zusammenhang von Kultus und Kultur wahrnimmt59. Kultur ist Lebensform des Glaubens. Als eine wesentliche Untersuchung in dieser Richtung sehe ich die Studie von Hans-Martin Gutmann an: Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen.60 3. Ob Wahrnehmung der methodologische Hauptbegriff der Praktischen Theologie sein kann61, möchte ich gerne noch nicht für völlig entschieden halten. Es kann fur mich nur gelten, wenn der integrative auf Erfahrung und Erwartung gerichtete Charakter der Bemühungen, Sinn im Anschluß an die Verheißung zu gewinnen, damit gesichert ist. Die Abgrenzung gegen die moralistische Ethik und die rezeptionspragmatische Einheit von Wahrnehmen als Rezeption und Handeln - z. B. eine Aufgabe wahrnehmen - bleibt das deutliche Plus dieser Kategorie. 4. In gewisser Weise ist „Erörtern" eine Grundkategorie62, weil die Fragen nach dem Wo?63 und dem Wohin? konstitutiv sind und das alte, oft sterile Spiel von Inhalt und Form, Was und Wie, situativ pragmatisch aufheben. Mit diesen Fragen nach den Praxissituationen, die eine Theologie in actu erfordern, wird das theologische Profil als Re-Vision der reformatio ecclesiae

58 Zu diesem Thema vgl. E. Hauschildt, Die Globalisierung und Regionalisierung der Praktischen Theologie, Praktische Theologie 29 (1994) 175-193. 59 Vgl.meinen Beitrag „Der Kult mit der Kultur" in der Festschrift für Peter Cornehl: Kulte, Kulturen, Gottesdienste, hg. von P. Stolt, W. Grünberg, U.Suhr, Göttingen 1996, 15-25. 60 Gütersloh 1998. 61 Vgl. Albrecht Grözinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995, mit dem Hinweis nach elf durchaus phänomenologisch zu nennenden Analysen auf den Standort der Praktischen Theologie „am Nullpunkt zwischen wissenschaftlicher Objektsprache und künstlerischer Performanz (158)." 62 H. Timm schlägt „Darstellung" vor (Weltquadrat, 17), ein nicht nur wegen Schleiermacher sehr beachtenswerter Vorschlag, weil er Praktische Theologie auch als Inszenierungstheorie und Dramaturgie verstehen lehren kann. 63 Die Wofrage hatte schon E. Fuchs 1958 als entscheidenden Fortschritt bezeichnet (Hermeneutik, Ergänzungsheft 1963, 3). Vgl. seine dortige Schlußvorlesung über das Johannesevangelium, wo es heißt: „Seinsfrage ist Wofrage. Wir fragen dorthin, wo sich uns die Möglichkeit zum Gehen erschließt."(12) - "Es gilt sich durch das Evangelium dorthin zurückholen zu lassen, wo sich Raum und Zeit aus einer Bewegung von Weg und Gang als Raum für andere und Zeit für uns verstehen lassen." (13). Ich halte die Weiterführung zur Wohin-Frage gerade praktisch-theologisch für geboten, bei der die Phänomenologie unerläßlich ist.

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wahrgenommen. Praktische Theologie ist nicht nur Informations-, sondern Reformationswissenschaft. 5. Biblischer Rückhalt ist hier alles, was über Theophanie und Epiphanie mitgeteilt wird. Jürgen Moltmanns Polemik gegen „Epiphanienreligion"64 für Verheißungsglaube bedarf der Korrektur. Es ist an die paradoxen Evidenzen zu erinnern, die den Menschen von Gott her ermächtigen, der Liebe Raum und Zeit zu geben, den Spielraum der Kreativität für die Schöpfung zu nutzen. Hier wird Spiritualität erfahrbar. 6. Einübung in die Einbildungskraft des Glaubens, Imagination und Phantasie wird damit eröffnet. Die Phantasie ist die Spielkraft und -freude der Wahrnehmung von Möglichkeiten angesichts eines sonst existierenden Fatalismus oder tragischen Heroismus. Hier sind die Brücken zur Theopoesie, die mit Psalm, Gleichnis und Bekenntnis zur Namengebung als Übersetzung65 sich ans Werk der energeia des Evangeliums macht.66 7. Schließlich wird das auch eine Re-konkretisierung erfordern, die sich in Durchführung (Perduktion), Überwindung der Naivität, Wahrnehmung der Strukturen auf Lebenserwartung hin und Re-Vision als alltägliche Orientierung vollzieht. Sie hat in der sakramentalen Praxis ihre phänomenlogische Entsprechung, weil Taufe und Abendmahl, die leibhaftigen Feiern der Teilhabe des lebendigen Jesus Christus, als Phänomene des lebendigen Wortes die Epiphanie eröffnen. Wort und Sakrament stehen hier in keiner Differenz, denn auch die Predigt hat Anteil an der sakramentalen Bedeutsamkeit des Wortes, die derzeit unter dem Begriff des Heiligen und der Heiligung wieder akut erörtert wird. Ich wiederhole eine Schluß-These meines TRE-Artikels Praktische Theologie·. „Die Heiligung fußt auf der Rechtfertigung, die gewiß die exzentrische Mitte der Praktischen Theologie ist (Gräb/Korsch), aber in der Heiligung geglaubt sein will."67 Damit sollen erste Stichworte einer phänomenologisch relevanten Konstitution der Praktischen Theologie als integraler Erfahrungswissenschaft mit Wahrnehmung, Erörterung und Erwartung als Forschungshorizonten genannt sein. Sie werden die Biblizität bzw. Schriftgemäßheit der Praktischen Theologie stärken können, die - um zwei besonders aktuelle Aufgaben zu nennen in Praxis und Theorie des Bibliodramas z. B. neue Akzente erhält und sich medientheoretisch in Auseinandersetzung um Bild, Imago und Bildung neu zu bewähren hat. Es hat Sinn, hoffnungsvolle Erwartungen an diese Erwar-

64 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 31965, 85-91. 65 Vgl. meinen Beitrag in H. Schröer, G. Fermor, H. Schroeter (Hg.), Theopoesie, Rheinbach 1998, 129-149. 66 Schon E. Fuchs, nicht erst H. Weder verwendete den Energiebegriff im Zusammenhang mit dem Evangelium (Ergänzungsheft 11). 67 Schröer, Theologische Realenzyklopädie 27, 215f.

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tungswissenschaft nicht aufzugeben, sondern sie freimütig zu entdecken und zu entwickeln.

Teil II: Phänomenologie als Gesprächspartnerin

Bernhard Waidenfels

Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie Man behauptet nicht zuviel, wenn man feststellt, daß sich in der Phänomenologie alles um die Erfahrung dreht. Dieses alte wie auch neue Motiv der Erfahrung ist sowohl Vorzugsthema wie Bewährungsort des phänomenologischen Denkens, von dem zunächst ganz allgemein die Rede sein soll. Die spezielle Form einer religiösen Erfahrung, die in einer abschließenden Skizze zur Sprache kommt, wäre dann ein Erprobungsfeld besonderer Art, das sich am ehesten mit dem singulären Aufgabenfeld einer Kunstphänomenologie vergleichen läßt. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht Husserl als der Begründer der Phänomenologie. Der Begründer? Die Phänomenologie hat selbst dazu beigetragen, den Mythos einer reinen Erfindung zu zerstören. Husserl hat, wie so manch anderer Erfinder, etwas gefunden, was er gar nicht gesucht hatte und so auch nicht suchen konnte. Erst nachträglich wurde der Fund auf den Namen 'Phänomenologie' getauft. Dieser Name ist schon seit dem 18. Jahrhundert bekannt, doch zu Husserls Zeiten erfreute er sich vor allem in der Physik einer besonderen Beliebtheit. Kann man die Phänomenologie als ein einheitliches Produkt betrachten? Hier gilt es auf innere Spannungen und Zweideutigkeiten zu achten und Ungedachtes mit in Rechnung zu stellen. Nur so erklärt sich, wie es zu einer phänomenologischen Bewegung kam, bei Husserl selbst und dann nach ihm. Zur phänomenologischen Bewegung, die Herbert Spiegelberg in seinem gleichnamigen großen Werk aufgezeichnet hat, gehören neben Husserl Leitfiguren wie Heidegger und Scheler. Hinzu kommt der große Reigen der französischen Phänomenologie, der von Sartre und Merleau-Ponty, von Lévinas, Ricoeur und Derrida bis in die Gegenwart reicht. Schließlich sind osteuropäische Phänomenologenkreise zu erwähnen, die sich um Ingarden, Spet und PatoGka gebildet haben, sowie schließlich das, was in den USA von dem Litauer Aron Gurwitch und dem Wiener Alfred Schütz auf den Weg gebracht wurde. Von all dem wird hier nur andeutend die Rede sein.1 In meinen Überlegungen geht es weniger um die Ge1

Zur weiteren Orientierung vgl. meine Einführung in die Phänomenologie, München 1992 bzw. Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983. Speziell zu Husserls Begriff der Erfahrung verweise ich auf mein Nachwort zu: E. Husserl, Arbeit an den Phänomenen, Frankfurt/M. 1993: „Husserls Verstrickung in die Erfahrung" sowie auf: Deutsch-

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Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung

schichte der Phänomenologie als vielmehr um ihre Möglichkeiten heute, die sich im Konzert verschiedenartiger Denkweisen zu behaupten haben und auf keine Schulgrenzen festzulegen sind. Heidegger schrieb bereits im Jahre 1925: „Das Große der Entdeckung der Phänomenologie liegt nicht in den faktisch gewonnenen, abschätzbaren und kritisierbaren Resultaten [...], sondern darin, daß sie die Entdeckung der Möglichkeit des Forschens in der Philosophie ist." (GA 20, 184)

1. Rückkehr zur Erfahrung: die Sache selbst Die berühmte Parole „Zurück zu den Sachen!" bleibt eine alltägliche Selbstverständlichkeit, wenn nicht der Status der 'Sachen selbst' mit zur Sprache kommt. Das 'Zurück' kündigt eine Rückwärtsbewegung an. Wir tun einen Schritt zurück, wie auch Heidegger es empfiehlt, wenn wir bei der Betrachtung eines Bildes Abstand nehmen, so daß eine Sicht sich entfalten kann. Husserl spricht in der Einleitung zu den Logischen Untersuchungen auch von einer Zickzackbewegung (Hua XIX/1, S. 22 f.)2, und zwar deshalb, weil der Phänomenologe nicht auf feste Worte und Begriffe bauen kann, ohne die 'Sachen selbst' sachfremden Gesetzen zu unterwerfen. In den Ideen I formuliert er schließlich sein berühmtes „Prinzip aller Prinzipien", das lautet: „Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der 'Intuition' originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen." (Hua III, 52) Das Wort 'Prinzip' ist in diesem Fall griechisch zu lesen, als άρχή, als Anfang, nicht als Grundsatz. Der Rückgang zu den 'Sachen selbst', der somit gefordert wird, weist einen destruktiven und einen konstruktiven Aspekt auf. 1.1

Abbau

Der destruktive Aspekt besagt, daß Vorurteile 'abgebaut' werden, daß alle Vormeinungen und Vorbegriffe, die nicht aus dem Anblick der Sachen selbst gewonnen wurden, suspendiert und an den Sachen selbst überprüft werden. Heideggers 'Destruktion' der abendländischen Metaphysik, die deren Fundamente freizulegen verspricht, sowie Derridas 'Dekonstruktion', die in den klassischen Texten eine uneindeutige Sprachbewegung freizusetzen sucht,

2

Französische Gedankengänge, Frankfurt/M. 1995, Kap. 3: „Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie". Eine vertiefte Analyse der phänomenologischen Methodik findet sich schließlich in: Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/M. 1998, Kap. 1: „Phänomenologie unter eidetischen, transzendentalen und strukturalen Gesichtspunkten". Wir zitieren Husserl nach den Husserliana, Den Haag/Dordrecht 1950 ff.

Rückkehr zur Erfahrung: die Sache selbst

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folgen dieser Linie. Es geht darum, gegenüber den Verstellungen des Blicks und den Verführungen der Sprache der Sache selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Widerstand, der hierbei zu überwinden ist, kam und kommt bis heute aus verschiedenen Richtungen. An erster Stelle ist der Naturalismus zu nennen, den man als philosophische Deformation der Naturwissenschaften bezeichnen kann. In Husserls Zeiten besagte dies, daß man sich auf bloße Tatsachen und Tatsachenverknüpfungen beschränkte, so etwa, wenn man zur Erklärung des Sehens von umgekehrten Netzhautbildern ausging und dann fragte, wie der Mensch es fertigbringe, die Dinge dennoch 'richtig herum' zu sehen, oder wenn John Stuart Mill logische Widersprüche auf mental states zurückführte, die einander ausschlössen. Was Husserl hieran kritisiert, sind nicht nur faktische Irrtümer, sondern es ist der Verlust an Lebensbedeutsamkeit, mit dem die Wissenschaften ihre Reduktion auf bloße Tatsachenwissenschaften bezahlen. Hier fand Husserl im übrigen Bundesgenossen in Ernst Mach und Ludwig Wittgenstein, die ihre Erfahrung in positivistischen Zirkeln gesammelt hatten. Verwandt mit dem Naturalismus ist der Technizismus, der heute mehr und mehr die Form einer Techno-Science angenommen hat. Husserl bemängelt in diesem Falle, daß Bedeutungen sich in bloße „Spielbedeutungen" verwandeln (Hua XIX/1, 75), das heißt, daß sie sich auf rein syntaktische Regeln und Logikkalküle reduzieren; damit nähern sich die Formeln der Wissenschaft bloßen Figuren und Zügen im Schachspiel an, die über ihre korrekte Verwendung hinaus nichts bedeuten. Husserl, dem die formale Logik alles andere als fremd war, beharrte ähnlich wie Gottlieb Frege darauf, daß es sich bei ihr immer noch um Gesetze möglicher Wahrheit handle und nicht um bloße Spielregeln (vgl. Hua XVII). Heute haben die Debatten sich verlagert auf das Gebiet der Künstlichen Intelligenz; es gibt Konstruktivisten, die die Frage „Wie funktioniert etwas?" über alles stellen. Weiterhin ist der Historismus zu nennen, den man als philosophische Deformation der Geisteswissenschaften ansehen kann. Hier werden die Sachen selbst ersetzt durch historische Gestalten. Gedanken bilden den bloßen Ausdruck einer Zeit, und bei Oswald Spengler wird daraus gar eine Biologie der Kulturen. Schon Nietzsche wendet sich in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen" gegen die Gefahr, daß die lebendige Kultur von historischer Gelehrsamkeit überwuchert und erstickt wird. Allerdings hatten die Historisten, gegen die Nietzsche und Husserl ankämpften, noch einen historischen Sinn, der uns heute im Zuge einer technologischen Globalisierung mehr und mehr abhanden zu kommen droht. Schließlich bleibt als weiterer Kontrahent ein Systemdenken, das zu Husserls Zeiten vor allem durch die Schulen des Neukantianismus gefördert wurde. Ähnlich wie sein Lehrer Brentano wendet Husserl sich gegen eine 'Philosophie von oben'. Er spricht sich dagegen aus, daß man Perspektiven

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Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung

und Gesichtspunkten folgt, die nicht aus der Erfahrung selbst geschöpft werden. Schon Nietzsche sah im Willen zum System ein Mangel an Redlichkeit, und Kierkegaard bemerkte spöttisch, daß die philosophischen Systembauer schöne Gedankenpaläste errichten, aber es vorziehen, in der Hütte nebenan zu wohnen. Husserl vertritt demgegenüber eine 'Philosophie von unten'. Die Kantische Frage: „Wie sind Erfahrungsurteile möglich?" verlagert sich auf die Ebene der Erfahrung selbst, wo allererst etwas auftritt, das zu begreifen und zu beurteilen ist. Wenn Husserl sich auf eine „Philosophie als strenge Wissenschaft" beruft, so orientiert er sich nicht an bestehenden Wissenschaften, sondern er denkt an die sachliche Strenge, die der wissenschaftlichen Forschung innewohnt. So gelangt er zu der Maxime: „Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen selbst muß der Antrieb der Forschung ausgehen." (Hua XXV, 61) 1.2

Aufbau

Die Kehrseite des Abbaus bildet der Aufbau, die 'Konstitution' der Erfahrung, wie es in der Fachsprache heißt. Die Phänomenologie geht aus von den Sachen selbst, von den άυτά τά πράγματα, die schon Platon ins Auge faßt (Gorgias 459 b-c). Im Bereich der bildenden Kunst spricht man zu Husserls Zeiten bekanntlich von einer neuen Sachlichkeit, die sich gegen ein Übermaß an literarischen Symbolen, historischen Zitaten und üppig wuchernden Ornamenten richtet. Die Erfahrung, die hierbei in Anspruch genommen wird, bedeutet zunächst nicht mehr und nicht weniger als den Prozeß, in dem die Sachen selbst auftreten. Schon Dilthey fordert: „Empirie, nicht Empirismus" (Ges. Sehr. XIX, 17). Empirie ist nicht zu verwechseln mit dem bloßen Haben oder dem Vorhandensein von Daten, auf die der Empirismus sich stützt. Sie verweist vielmehr auf jene £μπειρία, die Aristoteles der momentanen αίσθησις aber auch der auf allgemeine Gesetze dringenden έπιστήμη entgegensetzt (vgl. Metaphysik I; Nikomachische Ethik VI). Eine solche Empirie bedeutet einen allmählich sich anreichernden Umgang mit der Sache, der es erlaubt, daß wir 'Erfahrungen machen' und immer auch durch Leiden lernen, gemäß dem sprichwörtlichen πάθος μάθος. Heidegger spricht später in Sein und Zeit von einer Umsicht, das heißt, von einer Sicht, die in den Umgang mit der Sache eingebettet ist. Husserl wendet sich allerdings nicht nur gegen den Empirismus, der sich auf vorgegebene Daten, auf Empfindungen oder Sinnesdaten verläßt, sondern er wehrt sich ebenso gegen einen Rationalismus, der von vorentworfenen Kategorien wie Substanz oder Ursache ausgeht. Erfahrung bildet jenen Prozeß, in dem Sinn sich bildet und artikuliert, in dem Gestalten auftreten und sich zu Dingen kristallisieren. Es gibt, wie Merleau-Ponty es nennt, einen Sinn in statu nascendi; so heißt es im Vorwort zur Phänomeno-

Grundstruktur der Erfahrung: Intentionalität

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logie der Wahrnehmung: „Die Rationalität bemißt sich genau nach den Erfahrungen, in denen sie sich enthüllt."3 Die Vorgehensweise, die dem lebendigen Erfahrungsprozeß entspricht, ist die Beschreibung, und zwar nicht verstanden als bloße Bestandsaufnahme, als Inventarisierung der 'Tatsachen des Bewußtseins', sondern als Entfaltung von Sinn. Eine gelungene Beschreibung macht sichtbar mit Worten, sie läßt uns sehen, was wir ohne sie nicht sehen würden.4 Darin gleicht die Phänomenologie der Literatur und der Dichtung, wie vor allem Merleau-Ponty immer wieder betont. Das Gegenstück zur Beschreibung ist die Erklärung, die bei aller Bedeutung, die ihr zukommt, doch stets etwas voraussetzt, das zu erklären ist. So versteht sich die schroffe Formulierung, die sich in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (§ 109) findet: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten." Dieser methodische Impuls wirkt fort, etwa bei Clifford Geertz, der fur die Ethnologie eine dichte Beschreibung, eine thick description fordert. Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen stellt sich die Frage, wie die Sachen selbst Gestalt annehmen und worin die entscheidende Weichenstellung der Phänomenologie liegt.

2. Grundstruktur der Erfahrung: Intentionalität Die Idee der Intentionalität, deren sprachliche und gedankliche Vorgeschichte bis auf Augustinus und die mittelalterliche Philosophie zurückreicht, übernimmt Husserl von Brentano, doch tut er es auf seine besondere Art. Es kommt ihm darauf an, den neuzeitlichen Dualismus von innerer, psychischer und äußerer, physischer Realität zu überwinden. Für ihn gibt es nur eine einzige Wirklichkeit; doch diese ist auf vielerlei Weise gegeben bzw. wird von uns auf vielerlei Weise gemeint. Das aristotelische πολλαχώς λέγεται, nämlich die vielfaltige Sagbarkeit des Seins, wird bei Husserl in eine Vielfalt der Erfahrung überfuhrt. Wir sehen uns verschiedenen Variationsreihen gegenüber. Etwas wird wahrgenommen oder erinnert und erwartet (Aspekt der Zeit); etwas wird als wirklich wahrgenommen oder als möglich imaginiert (Modalitäten); etwas wird wahrgenommen oder beurteilt, erstrebt oder geplant (theoretische und praktische Qualitäten); Wahrgenommenes wird von dieser oder jener Seite, aus der Nähe oder aus der Ferne erfaßt (Perspektivi-

3

4

Phénoménologie de la perception. Paris 1945, S. XV: „La rationalité est exactement mesurée aux expériences dans lesquelles elle se revèle." Dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt von G. Boehm, Berlin 1966, 17. Vgl. M. Merleau-Ponty, Le visible et l'invisible, Paris 1964, 319: „Elle (sc. la philosophie) fait voir par des mots." Dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von R. Giuliani und B. Waidenfels, München 1986, 334.

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

tat). Hierbei fungiert die Wahrnehmung für Husserl als Urmodus, der in den verschiedenen Modifikationen als Ausgangspunkt vorausgesetzt ist. Diese Annahme eines reinen Urmodus, der allen anderen Modis vorausgeht, fuhrt allerdings zu Problemen, wie sich später vor allem in der Zeitlehre zeigt. Generell kommt es auf folgenden Gesichtspunkt an. Was gemeint oder gegeben ist, ist stets in einem bestimmten Wie oder als etwas (in einem bestimmten Sinn, in einer bestimmten Gestalt, unter einem bestimmten Gesichtspunkt) gemeint oder gegeben. Die hier auftretende Differenz nenne ich signifikative Differenz. Diese tritt auch in dem zitierten Prinzip aller Prinzipien zutage, demzufolge „alles, was sich gibt", hinzunehmen ist „als was es sich gibt" und „in den Schranken", in denen es sich gibt. Mit einem schlichten Intuitionismus hat dies nicht das geringste zu tun. Schon bei Aristoteles begegnet uns dieses signifikative Als, wenn er der Metaphysik die Aufgabe zuweist, „das Seiende als Seiendes (6v fi δν)" zu erforschen. Heidegger, der in Sein und Zeit zwischen hermeneutischem und apophantischem Als unterscheidet, hat ähnliches im Auge, wenn er die Aufgabe der phänomenologischen Ontologie folgendermaßen bestimmt: „Das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen." (Sein und Zeit, § 7) Intentionalität besagt, daß wir immer schon und immerzu mit etwas beschäftigt sind, selbst wenn wir uns den Pegasus vorstellen, wenn wir halluzinatorische Stimmen hören, wenn wir den Widersinn eines runden Vierecks zu denken versuchen oder den grammatischen Unsinn eines 'grünen Oders' formulieren - wobei letzteres als gezielte Abweichung von bestimmten Regeln durchaus einen Sinn haben kann, so in den sprachlichen Verballhornungen der Surrealisten und Dadaisten. Die Erfahrung der Dinge zurückgewinnen heißt also gleichzeitig, die Vielfalt der Erfahrung beachten. Die Intentionalität, mit der Husserl operierte, war eine zündende Idee, die mannigfachen Widerhall weckte und alle möglichen Variationen durchlief. So begrüßt Sartre, daß die Intentionalität uns geradewegs unter die Dinge versetzt und uns von der fragwürdigen Innerlichkeit bloßer psychischer Zustände und Vorgänge befreit. Merleau-Ponty forscht nach einer 'fungierenden Intentionalität', einem leiblichen Erfahrungsgeschehen, das sich unterhalb der Schwelle diskreter und expliziter Bewußtseinsakte abspielt, während fìir Lévinas die traditionelle Vorstellung, die ihren Gegenstand beherrscht, in der Horizonthafitigkeit der Intentionalität ihren Untergang findet. Aufs Ganze gesehen läßt sich feststellen, daß die Phänomenologie ihrer Aufgabe nur gerecht wird, wenn sie diese Differenz zwischen Was und Wie ständig mit bedenkt. Sachgehalt und Zugangsart gehören unzertrennlich zusammen. Damit setzt die Phänomenologie sich ab von allen Spielarten des Subjektivismus und Objektivismus, die durch Überbetonung des einen oder des anderen Aspekts die Spannung lockern. „Anders Wahrnehmen ist Anderes wahrneh-

Wege zur Erfahrung

69

men", heißt es lapidar bei Lévinas.5 Es geht in der Phänomenologie also nicht bloß um neue Erfahrungsgehalte, sondern um eine neuartige Einstellung zu den Dingen.

3. Wege zur Erfahrung Ich spreche, wie Husserl es mitunter tut und Heidegger es ausdrücklich empfiehlt, von 'Wegen', um dem griechischen Wort μέθοδος seine anfangliche Bedeutung zurückzugeben. Es bedarf eines Weges in die Erfahrung, weil die Erfahrung etwas ist, das wir zwar kennen, aber nicht in seiner Eigenbedeutung verstehen. Dies gilt etwa fur das allen vertraute Ereignis der Geburt, das seine Schlichtheit verliert, wenn wir es ausdrücklich befragen. Wir entdecken darin eine eigentümliche Vorzeitigkeit, keimendes Leben, die Zutaten anderer Personen, frühe Traumatisierungen, die Annahme als natürliches oder adoptiertes Kind, narrative Verkleidungen, und in allem entdecken wir ein Ich, das stets Züge eines Es behält. Das Verfahren, die 'natürliche', immer schon spontan ablaufende Erfahrung als solche in den Blick zu heben, bezeichnet Husserl als durchaus künstlich und 'widernatürlich' (vgl. Hua XIX/1, 16). Vom bloßen Fungieren der Erfahrung, das nicht ohne unser Zutun, aber dennoch nicht durch unser Tun zustande kommt, gehen wir über zur Thematisierung, die sich gegebenenfalls in einer Problematisierung fortsetzt. Husserl nennt dieses Verfahren Reduktion. Das bedeutet wörtlich ein Zurückfuhren auf...., was nichts zu tun hat mit einem Reduktionismus im Sinne von Ockham 's razor. Husserl unterscheidet des weiteren zwischen zwei Formen der Reduktion. 3.1

Eidetische Reduktion

In dieser ersten Form der Reduktion geht es um die Differenz von Erfahrungseinstellung und Einstellung auf das Allgemeine in der Erfahrung. Innerhalb der signifikativen Differenz des 'etwas als etwas' wird nun das 'als etwas', also die allgemeine Gestalt, Struktur, Regel oder Auffassung thematisiert. Allgemeines ist immer schon im Spiel, etwa dann, wenn wir ein hohes c hören, einen runden Gegenstand bemerken, ein Gesicht wiedererkennen, einen Namen verwenden oder eine bestimmte Automarke ausmachen. Diese Allgemeinheit ist in die Erfahrung eingelassen wie Figuren in eine Intarsienarbeit, sie gibt den Dingen eine bestimmte Physiognomie. In Anlehnung an die Sprache der Kunst und der natürlichen Morphologie spricht

5

E. Lévinas, En découvrant l'existence avec Husserl et Heidegger, Paris 2 1967, 146: „Percevoir 'autrement', c'est percevoir autre chose." Dt.: Die Spur des Anderen, übersetzt von W. Ν. Krewani, Freiburg/Mtlnchen 1983, 156.

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Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung

Husserl vielfach von 'Stil' oder 'Typus'; Alfred Schütz und Merleau-Ponty sind ihm darin gefolgt. Der Ausdruck 'eidetische Reduktion' verweist uns auf das platonische Eidos, eine erfahrbare Grundgestalt, die sich durch Variation faktischer Erfahrungstexte als Invariante herausfiltern läßt. Invariant ist eine Struktur, die alle möglichen Variationen überdauert. Das Verfahren der Variation hat Husserl der Mathematik nachgebildet, mit deren Variationsverfahren Husserl sich schon frühzeitig befaßt hat. Die Methode der eidetischen Reduktion zeigt eine Nachbarschaft zum Strukturalismus, wie er von Lévi-Strauss praktiziert wird, er hat aber auch eine Verwandtschaft mit den Sprach- und Verhaltensregeln, die im Gefolge von Wittgenstein untersucht werden. Bei näherem Hinsehen erweist sich das Verfahren, das Husserl hier durchführt, als nicht unproblematisch. Es fragt sich, ob es einen einzigen invarianten Gesichtspunkt gibt oder ob nicht jeder Gesichtspunkt auf einer Selektion beruht und mit einer entsprechenden Kontingenz behaftet ist. Im letzteren Falle haben wir es stets mit einer Variation von Strukturen zu tun, die auf relativen, aber unüberwindlichen Differenzen beruhen wie schon die Differenz von Figur und Grund, die von den Gestalttheoretikern zum elementaren Bestand der Erfahrung gezählt wird. Der späte Merleau-Ponty spricht demgemäß von einem „Polymorphismus des Seins". Dem entspricht eine Historisierung des Strukturgeschehens, das nicht auf die eindeutige und einheitliche Bahn einer Teleologie gelenkt werden kann. Husserl hat selbst noch von einem „historischen Apriori" gesprochen (vgl. Hua VI, 380), das in den Epistemai von Foucault weitaus radikalere Formen annimmt. 3.2

Transzendental-phänomenologische Reduktion

Auch diese zweite Art von Reduktion läßt sich aus der signifikativen Differenz des 'etwas als etwas' begreifen. In diesem Falle wird das Daß, also das faktische Auftreten dieser Differenz als solches thematisiert. Es geht dabei um das Grundfaktum oder Grundereignis der Erfahrung selbst: es gibt Sinn, Welt, Sein oder Ordnung. Dieses Grundereignis verbirgt sich zunächst in einem Weltglauben. Die Welt, auf die sich dieser Glaube richtet, ist nicht zu verwechseln mit einer Ansammlung aller Dinge (omnitudo realitatis), vielmehr ist die Welt von der Intentionalität her zu verstehen als Inbegriff aller Sinnverweisungen. Die Welt ist kein Etwas, sie fungiert als Boden, von dem alle Sinnbewegungen ausgehen, und sie fungiert als offener Horizont, auf den sie sich zubewegen. Die Differenz, die hier zutage tritt, zieht also keine Trennungslinie zwischen Innenwelt und Außenwelt. Der Phänomenologie geht es keineswegs um die bei aller Skepsis reichlich naive Frage, ob es die Dinge und die Welt als All der Dinge überhaupt gibt. Ein solch erkenntnistheoretischer Streit, der sich auf den Bahnen des neuzeitlichen Cartesianismus bewegt, wird von

Dimensionen der Erfahrung

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Husserl ebenso wie von Heidegger ad acta gelegt. Wer fragt, ob dieses oder jenes oder überhaupt etwas existiert, setzt schon etwas voraus, das er befragt. In diesem Sinne erweist jede Skepsis sich als relativ. Bei der phänomenologischen Reduktion geht es also nicht um einen Gegensatz von Innen- und Außenwelt, sondern vielmehr um die Differenz zwischen natürlicher Einstellung, die sich auf etwas in der Welt richtet, und transzendentaler Einstellung, die auf das Erfahrungsgeschehen und die Weltvorgegebenheit als solche gerichtet ist. Auf gewisse Weise wiederholt sich hier der Anfang der Philosophie, der laut Piaton und Aristoteles mit dem Staunen einsetzt, mit dem Staunen darüber, daß die Dinge so sind wie sie sind. Für den modernen Frager steht dahinter allerdings die Vermutung, die Dinge könnten auch anders sein, als sie sind - was wir Kontingenz nennen. Die phänomenologische Reduktion bedeutet demgemäß keine bloße Methode, die man nach Belieben verwendet. Sie läßt sich verstehen als Ausbruch einer Fragebewegung und als Einbruch eines Neuen, als eine dem philosophischen Fragen innewohnende Verfremdung. Diese erinnert an das Verfremdungsverfahren, das die russischen Formalisten in den Innovationen von Sprache und Kunst am Werk sehen.

4. Dimensionen der Erfahrung Im folgenden ist die Rede von verschiedenen Richtungen, die in der Erfahrung auszumachen sind. Dies fuhrt zur Verschärfung jener Probleme, die mit dem Selbstsein der Sachen, mit der Ursprünglichkeit der Erfahrung und ihren Anfangen und Zielen zusammenhängen. 4.1

Horizonte und Genese von Sinn in der Welterfahrung

Welthorizonte der Erfahrung, die über die bloße Dingerfahrung hinausfuhren, machen deutlich, wie sehr Erfahrung und Auffassung von etwas als etwas über sich selbst hinausweisen. Die Erfahrung entfaltet eine ungeheure Dynamik, die Husserl in Form einer genetischen Phänomenologie der anfänglich statischen Form der Phänomenologie gegenüberstellt. Die Sinnbewegung geht von keiner bloßen Differenz aus, sondern von einem Überschuß. In den Cartesianischen Meditationen gelangt Husserl zu der Einsicht, daß jeweils mehr gemeint ist als gegeben und mehr gegeben ist als gemeint ist. Jede Meinung steigert sich zu einer „Mehrmeinung" (Hua I, 86). Nehmen wir das einfache Beispiel der Wahrnehmung eines Hauses, das ich betrete oder bewohne. In dieser Erfahrung gibt es nicht nur die simultanen Horizontverweise, etwa von der Außenfassade auf die Rückseite oder auf die Anordnung des Hausinneren, jede Synthesis, so auch die Hauswahrnehmung, hat vielmehr

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

„ihre sich in ihr selbst bekundende Geschichte" (Hua I, 112).6 Dazu gehört die Geschichte der Herstellung, des Gebrauchs, des Besitzes, die persönliche Geschichte, die im Falle eines Geburts- oder Elternhauses eine besondere Prägung annimmt, dazu gehört das weitere Umfeld von Stadt und Land und vieles mehr. In diesem Sinne verweist alles, was uns in der Erfahrung begegnet, auf einen Welthintergrund und eine Weltgeschichte. Die Phänomenologie berührt sich hier mit den Schöpfungen der Gegenwartsliteratur, so wenn Proust aus dem Geschmack einer Madeleine die gesamte Kindheitswelt von Combray aufsteigen sieht, oder wenn Joyce in seinem Dubliner „Weltalltag" eine Geschichte wiederfindet, die bis auf unsere jüdischen Herkünfte zurückgeht. Prousts spontane Erinnerungen setzen ebenso wie die Epiphanien von Joyce eine Art von Erfahrung voraus, die im Einzelnen ein horizonthaftes, offenes Ganzes aufscheinen läßt. Dieses Ganze bleibt immer fragmentarisch, da unsere Erfahrung aufgrund ihrer faktischen Ausgangspunkte mit einer 'bestimmten Unbestimmtheit' behaftet ist (vgl. Hua I, 83). 4.2

Leibliche Erfahrung

Die leibliche Erfahrung versetzt uns an einen Zeit-Ort, von dem aus wir die Welt und uns selbst inmitten der Welt erfahren. Der Leib wird, wie Sartre bemerkt, zunächst und zumeist „mit Schweigen übergangen".7 Er meldet sich indirekt zu Wort, in der begrenzten Perspektive der Dinge, die auf unseren leiblichen Standort verweist, in der wechselnden Nähe und Ferne der Dinge und Personen, in der sich die begrenzte Reichweite meiner leiblichen Eigenbewegung bekundet, schließlich in den sinnlichen Affektionen, in der Fremdund Selbstaffektion ineinanderspielen. Im Glanz der Dinge spiegelt sich unsere eigene Helligkeit, in der Dunkelheit der Dinge unsere eigene Finsternis. Der Leib, der weder rechts noch links, weder oben noch unten, weder vorn noch hinten piaziert ist, der sich weder als reines Tun noch als reines Leiden darstellt, bildet den „Nullpunkt", das Hier und Jetzt, an dem unsere leibliche Orientierung in der Welt hängt (vgl. Ideen II). Gleichzeitig ist dieser Nullpunkt auch in der Sprache gegenwärtig als der Zeit-Ort, an dem der Sprecher

6

Die von C. Colpe zu Recht erhobene Forderung nach einer „historischen Phänomenologie" (vgl. „Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem 'Heiligen' und 'das Heilige' heute", in: D. Kamper u. Ch. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Bodenheim 1997, 33-61), findet in dieser inneren Historizität ihren Rückhalt, vorausgesetzt, sie wird von den Fesseln einer Vemunftteleologie befreit. Es versteht sich, daß eine Phänomenologie, die der Historisierung ihrer Gegenstände und ihrer selbst entgegenkommt, historische Forschung in keiner Weise ersetzen kann; doch umgekehrt gilt das Gleiche. 7 L'être et le néant, Paris 1943, 395. Dt.: Das Sein und das Nichts, übersetzt von T. König, Reinbek 1991, 583.

Dimensionen der Erfahrung

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sich befindet und auf den er mit okkasionellen oder indexikalischen Ausdrücken hinweist.8 Gleichzeitig verdoppelt sich der Leib in einen fungierenden Leib, der mir eine Welt erschließt, und in ein Körperding, das selbst in der Welt vorkommt. Husserl und Scheler sprechen deshalb vielfach von einem Leibkörper. Zur Leiblichkeit gehört auch eine sinnliche Rückbezüglichkeit, denn sehend, hörend, tastend, hantierend und fühlend ist der Leib „auf sich selbst zurückbezogen" (Hua I, 128). Der Leib gehört selbst der Wirklichkeit an, die er mit ermöglicht und mit erschließt, dennoch ist er mehr als ein bloßer Teil der Welt. Die Doppelheit eines Wesens, das zugleich sehend und sichtbar ist und sich zugleich hier und anderswo befindet, verleiht diesem eine eigentümliche Seinsweise, im Gegensatz zur res cogitans, die sehend ist, doch nicht sichtbar, und im Gegensatz zu res extensa, die sichtbar ist, aber nicht sehend. Diese singulare Selbstverdoppelung und Selbstdistanzierung des Leibes bildet ein zentrales Motiv, das sich vor allem in den phänomenologischen Leibanalysen von Maurice Merleau-Ponty und Helmut Plessner ausgewirkt hat. Es ergeben sich auch Beziehungen zur symptomatischen Körpersprache der Psychoanalyse, die in Jacques Lacans Sprache des Unbewußten eine besondere Form gefunden hat. 4.3

Fremderfahrung

Die Fremderfahrung verleiht der Welt soziale Horizonte und erweitert die Leiblichkeit um eine soziale Dimension. Es gehört zu den Vorzügen der Husserlschen Phänomenologie der Erfahrung, daß sie Unbestimmtheit, Ferne, Abwesenheit und Fremdheit ständig mit in Betracht zieht, und zwar nicht als Mangelerscheinungen, sondern als konstitutive Bestandteile der Erfahrung. Den Charakter des Fremden bestimmt Husserl auf paradoxe Weise als „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen" (Hua I, 144). Diese Unzugänglichkeit schließt nicht aus, daß Eigenes und Fremdes in Form einer wechselseitigen Verflechtung ineinander spielen, so etwa im Wechselblick, in der geschlechtlichen Vereinigung oder in der Wechselrede, in der laut Michail Bachtin das eigene Wort ein „halbfremdes Wort" bildet, da es ständig mit fremden Intentionen besetzt ist und sich „auf der Grenze zwischen dem Eige-

8

Im zeigenden Sprechen und im symbolischen Akt des Zeigens liegt eine Nahtstelle, wo Sprechen und Sehen, Sinn und Sinne sich verschränken. Dies war Karl Btlhler, der dem Symbolfeld ein Zeigfeld gegenüberstellt, und dem frühen Wittgenstein, der im Traktatus das, was sich zeigt, keineswegs im Sagbaren aufgehen läßt, durchaus bewußt, und dies zu einer Zeit, als die Sprachphilosophie ihre Kompetenzen noch nicht lingualistisch überzog. Daß der 'Lingualismus' (vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. II, Stuttgart 6 1979, 343) auf das Konto einer gewissen Sprachphilosophie und nicht auf das der Sprachwissenschaften geht, läßt sich leicht nachweisen.

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Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung

nen und Fremden bewegt".9 Dennoch hinterläßt Husserls Einstellung zum Fremden einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits beharrt Husserl auf einem originären Kern oder einer Grundschicht des Eigenen, andererseits spricht er von einer ursprünglichen Urscheidung zwischen Ich und Anderen (so etwa Hua VI, 260). Hätten wir es mit einer Urscheidung zu tun, so wären Eigenes und Fremdes gleichursprünglich, ähnlich wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Husserls Nachfolger haben seine Idee in radikalerer Form fortgesetzt, so Sartre in seiner Dialektik des Blicks, Merleau-Ponty in seiner Theorie der Zwischenleiblichkeit und Lévinas in seiner Ethik des Anderen, die von der Ferne des fremden Antlitzes ausgeht. Entscheidend ist bei all dem, daß die Fremdheit nicht einer bereits bestehenden institutionellen oder sprachlichen Gemeinsamkeit geopfert wird. Diese Achtung vor der Fremdheit und der Verzicht auf ihre gewaltsame Eingemeindung bietet auch einen Widerstand gegen totalitäre Versuchungen in der Politik, ohne daß deswegen die Gesellschaft auf eine bloße „Gesellschaft von Individuen" reduziert würde.10 4.4

Selbsterfahrung als Zeiterfahrung

Husserl betrachtet zwar, wie schon angedeutet, die Selbsterfahrung als Urerfahrung, doch vor allem in den Zeitanalysen entdeckt er eine innere Fremdheit, eine Distanz meiner selbst zu mir selbst. Schon die Reflexion entpuppt sich als ein „Nachgewahren" (Hua VIII, 89), das heißt als eine Erfahrung, die von einer unwiderruflichen Nachträglichkeit gezeichnet ist. Doch diese Nachträglichkeit betrifft nicht nur die Reflexion, sie wohnt auch den präreflexiven Erlebnissen inne. Das Jetzt, das in Form einer reinen Gegenwart der Nachträglichkeit Einhalt gebieten würde, läßt sich überhaupt nur fassen als eine „ideale Grenze" (Hua X, 40). Denn das jetzt Gegebene verweist in sich selbst auf soeben und sogleich Gegebenes, und dies in einer Form von Retention und Protention, die keine eigenständige Intention darstellt, sondern zur konkreten Wahrnehmung und zur konkreten Gegenwart gehört. Ohne solche Vor- und Rückverweise würden wir keine Melodie hören, sondern nur Einzeltöne, wir würden keine Rede vernehmen, sondern bloße Einzelwörter, ja es gäbe im strengen Sinne überhaupt kein Etwas, da dieses sich nur im Durchgang durch die Mannigfaltigkeit der Erfahrung als das Selbe erweist. Das Selbe ist das, auf das ich immer wieder zurückkommen kann und zurückkommen muß. Das gilt für die Dinge genauso wie für mich selbst und fur Andere. Die Abwesenheit durchzieht also von Anfang an jede Anwesenheit, auch die Anwesenheit meiner selbst für mich selbst in der 9

Vgl. M. M. Bachtin, „Das Wort im Roman", in: Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von R. Grübel. Frankfurt/M. 1979, 185. 10 Vgl. dazu die Analysen des Soziologen Norbert Elias, der noch bei Husserl studiert hat: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt/M. 1987.

Das Paradox des Ausdrucks der Erfahrung

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Selbstgegenwart. Reine Gegenwart erscheint dann als bloße Chimäre. Dieser Gedanke erfährt eine weitere Vertiefung, wenn Merleau-Ponty die Geburt als „Urvergangenheit" bezeichnet, als „eine Vergangenheit die nie Gegenwart war"11, wenn Lévinas diese Urvergangenheit mit der unvordenklichen Inanspruchnahme durch den Anderen erklärt12 und wenn Derrida den Prozeß der Sinnbildung als eine zeitliche Verschiebung, als différance begreift. Wie wir zusammenfassend feststellen können, zeigen diese Grunddimensionen der Erfahrung, daß die Sachen selbst immer schon mit Andersheit, Fremdheit und Differenzen durchsetzt sind. Bei der Sache selbst sein heißt immer auch, woanders sein, nämlich bei dem, was sich im Sichzeigen der Sache nicht zeigt, was sich dem Blick entzieht. Die Phänomenologie stößt hier auf eigene Grenzen, und das Bedenken dieser Grenzen bildet ein entscheidendes Movens der nachhusserlschen Phänomenologie.

5. Das Paradox des Ausdrucks der Erfahrung Abschließend komme ich nochmals zurück auf die Phänomenologie als Verfahren, als Analyse und Aufhellung der Erfahrung, die nach einem entsprechenden Ausdruck verlangt. Ein viel zitierter und viel kommentierter Satz aus Husserls Cartesianischen Meditationen lautet: „Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist." (Hua I, 77). Hier kündigt sich ein Paradox an, das insbesondere Merleau-Ponty auf fruchtbare Weise verschärft hat und das auch bei Foucault, in seiner Kritik an einer empirischtranszendentalen Verdoppelung des Menschen, eine deutliche Rolle spielt. Das erwähnte Paradox löst sich auf, wenn man sich entweder einseitig auf die Seite der Erfahrung oder ebenso einseitig auf die Seite des Ausdrucks schlägt. Im ersten Extremfalle behandelt man den Ausdruck als bloße Wiedergabe, als reine Reproduktion dessen, was an sich schon gesagt ist. Der Ausdruck wäre rein, weil sich in ihm die Sache selbst und nichts anderes als die Sache selbst unverblümt ausspricht. Von einer Stummheit der Erfahrung könnte nicht mehr die Rede sein. Doch diese einseitige Sichtweise verkennt oder bagatellisiert den Vorgang des Zur-Sprache-bringens. Dieser Vorgang ist nie ganz frei von Gewaltsamkeit. So erinnert Heidegger an die unausbleibliche Gewaltsamkeit jeder Interpretation, die in dem, was im Text steht,

11 Phénoménologie de la perception, a.a.O., 280: „... un passé originel, un passé qui n'a jamais été présent", dt. 283. 12 Vgl. Autrement qu'être ou au-delà de l'essence, Den Haag 1974, 113, dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Th. Wiemer, Freiburg/München 1992, 200.

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

niemals ein zureichendes Fundament findet.13 Aus ähnlichen Gründen spricht Merleau-Ponty im Falle von Wahrnehmung, Liebe oder Kommunikation von einem gewaltsamen Akt, einem acte violent.14 Diese Sichtweise untergräbt jede Form von Fundamentalismus. Es gibt stets Gründe fur das, was wir sagen, tun und fühlen, doch gibt es niemals zureichende Gründe. Umgekehrt verschwindet das Paradox ebenfalls, wenn der Ausdruck als reine Schöpfung, als reine Produktion verstanden wird, hinter der nichts stünde, was zur Aussprache seines eigenen Sinnes gebracht werden könnte. Der Fundamentalismus schlägt hier um in einen ebenso radikalen Konstruktivismus oder Fiktionalismus. Die Wirklichkeit wäre ein bloßes Produkt der Erfindung, ein Konstrukt; das Abbildverhältnis würde ersetzt durch Kopien ohne Original. Die Diagnosen von Jean Baudrillard lassen erkennen, wie sehr diese Sichtweise in unsere westliche Gesellschaftstechnologie eingebaut ist. Während im ersten Extremfalle die Gesichtspunkte der Erfahrung mit der Sache selbst verschmelzen, würden sie im zweiten Extremfalle von außen an die Erfahrung herangetragen. Wie könnte jener mittlere Weg aussehen, der sich in Husserls paradoxer Formulierung andeutet? Eine mittlere Möglichkeit bietet die schöpferische Antwort, die den nie endenden und nie endgültig gelingenden Versuch macht, „eine Erfahrung zu übersetzen, die doch erst zum Text wird durch das Wort, das sie wachruft".15 Die Erfahrung findet ihren Ausdruck also in einem Zur-Sprache-bringen, einem Eingreifen in die Erfahrung. Doch auf diese Weise liefert die Erfahrung nicht bloßes Material für unsere Konstruktion, sondern sie läßt zu, daß die Dinge selbst etwas besagen und daß sie selbst als etwas erscheinen.

6. Antwortende Erfahrung Ein schöpferischer Ausdruck, der Erfahrung zu ihrem eigenen Ausdruck bringt, setzt voraus, daß die Erfahrung selbst eine Art dialogische Struktur aufweist. Die Erfahrung beschränkt sich nicht darauf, etwas zu meinen und anzuzielen, sondern sie antwortet auf etwas, sie greift zurück auf etwas, das ihr entgegenkommt. Eine solche Erfahrung wird geweckt, ohne daß die Differenz zwischen eigener Antwort und fremdem Anspruch je getilgt würde. Diese Differenz zwischen dem Was der eigenen Antwort und dem Worauf

13 Sein und Zeit, Tübingen 7 1953, 311. 14 Vgl. hierzu meine Erörterung dieser Probleme in: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, Kap. 2, insbesondere 114. 15 Merleau-Ponty. Résumés de Cours. Collège de France 1952-1960, 41: „... parler ou écrire, c'est bien traduire une expérience mais qui ne devient texte que par la parole qu'elle suscite." Der Autor bezieht sich mit dieser Äußerung auf das „innere Buch der Zeichen" in Marcel Prousts Recherche.

Religiöse Erfahrung?

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des fremden Anspruchs nenne ich responsive Differenz.16 Erfahrung bedeutet somit einen Übergang vom Fremden zum Eigenen über eine Schwelle hinweg. Der Hiatus zwischen Eigenem und Fremdem bewirkt, daß die Sachen selbst nie völlig zur Sprache kommen, daß stets mehr und anderes zu sagen bleibt als das, was faktisch gesagt wird oder generell gesagt werden kann. Das Sichzeigen geht Hand in Hand mit einem Sichnichtzeigen. Vieles, was heute im Bereich der Phänomenologie weiterwirkt, bewegt sich auf der Grenze zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Ein solches Denken an der Grenze und ein solches Verweilen auf der Grenze bietet die Möglichkeit, daß der Ruf nach den 'Sachen selbst' fortklingt, nicht indem er ein Bestreben auslöst, vom Eigenen aus das Ganze zu finden, sondern indem er den Anspruch des Fremden im jeweils Eigenen laut werden läßt.

7. Religiöse Erfahrung? Religiöse Erfahrung bedeutet eine bestimmte Weise der Erfahrung, in der Unsagbares sagbar wird. Sie gleicht darin der Kunst, die gerade in ihren modernen Varianten darum bemüht ist, Unsichtbares sichtbar, Unhörbares hörbar zu machen, ohne die Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit aufzuheben und ohne das sinnliche Auge und das sinnliche Ohr durch 'Augen und Ohren des Geistes' zu ersetzen. Dennoch stellt die religiöse Erfahrung Philosophen und speziell Phänomenologen, die an der Kontingenz von Erfahrung festhalten, vor besondere Schwierigkeiten. Einzig von ihnen soll im folgenden in pointierter Form die Rede sein. Es geht dabei um die Möglichkeit einer Religionsphänomenologie, nicht um eine Ausmessung ihres Aufgabenfeldes.17 7.1

Neuzeitliche Entgöttlichung des Kosmos

Eine knappe historische Skizze mag uns an die aktuelle Problemlage heranführen. Wenn wir uns die Kosmo-theologie der klassischen Griechen vor Augen führen, so können wir trotz der bereits bei Piaton einsetzenden Abkehr von den Mythen der Volksreligion eine alles durchdringende Göttlichkeit des

16 Zur Responsivität der Erfahrung verweise ich auf mein Buch Antwortregister, Frankfurt/M. 1994, insbesondere 242 und 330-332. 17 Was dieses Aufgabenfeld angeht, so verweise ich auf den methodisch subtilen und differenzierten Einfuhrungsbeitrag von Peter Biehl, „Der phänomenologische Ansatz in der Religionspädagogik", in: H.-G. Heimbrock (Hg.), Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim 1998, 15-46, in dem eine Menge von Literaturangaben zu finden ist.

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

Kosmos statuieren.18 Der Satz von Thaies: „Alles ist voll Göttern (παυτα πλήρη θέων)" klingt in der rationalen Welt- und Lebensbetrachtung wie ein religiöser Widerhall nach. Sofern Gott die Züge einer menschenähnlichen, olympischen Götterwelt ablegt, wird er zur Personifikation der kosmischen Ordnung, die sich in Gott sozusagen selbst denkt. Die vielfach verwendete adjektivische Form des 'Göttlichen' verweist darauf, daß dieser Gott den Menschen weder als Gebieter, noch als Adressat von Gebeten, noch als Gesprächspartner gegenübertritt, da er sich nirgends zeigt als in der Geordnetheit der Welt selbst. Die mit der beginnenden Neuzeit einsetzende Entzauberung der Welt zieht unweigerlich eine entsprechende Entgöttlichung nach sich, die auf gewisse Weise schon in dem von Plutarch überlieferten Satz „Der große Pan ist tot" anklingt. Die neuzeitliche Entzauberung ist allerdings gekennzeichnet durch ein Motiv der Kontingenz, das die alte umfassende Ordnung mit deutlichen Fragezeichen versieht: alles könnte auch anders sein. Darauf kann der Mensch auf zweierlei Weise reagieren, einmal mit einer Vergöttlichung des Menschen bzw. einer Vermenschlichung Gottes, also mit einer auf- und absteigenden Bewegung, die in Feuerbachs Theo-anthropologie noch nahezu ununterscheidbar ineinandergreift. Die Überwindung der Grenzen fuhrt zur Aufhebung der Religion: Religion wäre auf gewisse Weise alles. Diese Aufhebung tendiert allerdings zur schlichten Abschaffung hin, je mehr das Erbe des Deutschen Idealismus und seine Inanspruchnahme eines absoluten Geistes seine Überzeugungskraft verliert. Die andere Möglichkeit liegt in der Betonung einer unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen. Hier handelt es sich um Grenzen der Verfügungsgewalt, um Grenzen des Könnens, die einen Rest an Unverfugbarem zurücklassen. Diesen Rest kann man unter Verzicht auf jederlei Trost akzeptieren („Men must endure. Their going hence, even as their coming hither: Ripeness is all", heißt es im King Lear), oder man nimmt eben seine Zuflucht zum Trost der Religion, was die einen als Ausdruck kindlicher Ohnmacht und als Wunschdenken abtun und andere als lebensfordernde „Kontingenzbewältigung" empfehlen. Inzwischen ist an diesen Grenzzonen des Lebens einiges in Bewegung geraten.19

18 Natürlich droht hier, ähnlich wie im Falle der platonischen Eros-Lehre, die Gefahr, daß der alltägliche Humus mitsamt seinen Alltagsriten durch die klassischen Schriftzeugnisse überdeckt wird, trotz gegenläufiger Andeutungen, an denen es gerade in den platonischen Dialogen nicht fehlt. 19 Vgl. dazu den in Anm. 6 erwähnten Aufsatzband und speziell den Beitrag von Colpe, der das „Heilige heute" betont, aber gleichzeitig mit der Warnung vor einer schlichten „Restauration" schließt.

Religiöse Erfahrung?

7.2

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Das Dilemma einer Religionsphänomenologie

Fragen wir uns also, was eine Religionsphänomenologie in dieser Hinsicht anzubieten hat. Das erwähnte „Prinzip aller Prinzipien" verpflichtet sie darauf, alles, was sich zeigt, als solches hinzunehmen und zur Sprache zu bringen, und dies unter Beachtung der Vielfalt und der inneren Grenzen der Phänomene. In diesem Sinne wäre die Phänomenologie, die selbst noch dem Wahn eine eigene Sprache zubilligt, auch im Falle religiöser Phänomene antireduktionistisch eingestellt, und ähnlich wie Wittgenstein würden Religionsphänomenologen darauf bestehen, das jede Erklärung, also auch jede reduktive Erklärung schon voraussetzt, was sie erklärt oder eliminiert. Das Sehen kann man uns weder einreden noch ausreden. Carsten Colpe geht gar so weit zu behaupten, auf das „Phänomen des Heiligen" stoße man überhaupt nur, „wenn man sich irgendwie phänomenologisch einstellt" (a.a.O., 53). Dennoch sehen wir uns als Phänomenologen mit einem Dilemma konfrontiert, bei dem sich - wie in der Phänomenologie überhaupt - Sachgehalt und Zugangsart vereinen. Die eine Möglichkeit besteht darin, daß man sich mit einer Phänomenologie des Religiösen zufrieden gibt. Das Religiöse gäbe lediglich eine spezifische Thematik ab, die zu einer Inventarisierung und Kategorisierung einlädt. Die Phänomene, die in dieser Thematisierung beschrieben werden, würden wie alle Phänomene bestimmte Sinnstrukturen, Sinnhorizonte und Regelungen voraussetzen, kurz gesagt, auch religiöse Phänomene wären bedingte Phänomene - obwohl mit dem traditionellen Namen 'Gott' oder mit dem 'Göttlichen' oder dem 'Heiligen' eine Art Autooder Hyperphänomen angezeigt scheint, das - ähnlich wie das menschliche Antlitz im Sinne von Lévinas - den Anspruch erhebt, gleichsam sich selbst ins Licht und ins Wort zu setzen, bevor es in das Raster der Ermöglichungsbedingungen fallt. Um es in einer traditionellen Begriffssprache zu sagen: ein bedingter Gott wäre kein Gott, eine ermöglichte Offenbarung wäre keine Selbstoffenbarung, und ein konstituiertes Heiliges würde die numinose Kraft und die faszinierende Wirkung einbüßen, die ihm von Rudolf Otto, einem von Husserl und Heidegger sehr beachteten Pionier der Religionsphänomenologie, zugeschrieben wird. Die neutrale Betrachtung scheint also im Falle der Religionsphänomenologie ihr Thema schlechterdings zu verfehlen. So erklärt sich die Versuchung, die Sache umzukehren und statt von bedingten Gegebenheiten von einer „unbedingten Gebung", von einem „reinen" oder „unsichtbaren Appell" auszugehen. So Jean-Luc Marion, der in seiner jüngst erschienenen „Phänomenologie der Gebung" eine Kehre (renversement) zu vollziehen verspricht, die dazu führt, daß die Intentionalität sich umkehrt in eine „Gegen-Intentionalität" und daß weiterhin das Ich oder das sogenannte Subjekt sich in einen reinen Geschenkempfanger, einen „Hingegebenen

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Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung

{adonne)" verwandelt.20 Dieses Umschlagen der Metaphysik in Antimetaphysik endet unweigerlich bei einer religiösen Phänomenologie, deren Logos am Ende nur noch zu Eingeweihten und Mitgläubigen spräche. Solch ein religionsphänomenologischer Fundamentalismus, der einer Funktionalisierung des Religiösen diametral gegenübersteht, resultiert daraus, daß der Ort des Sagens in einem Meer des Gesagten, in einer Art „Über-Sein" versinkt. Die Metaphysik wird wie bei Plotin auf die Spitze getrieben. Bei Michel Henry, dem Marion wichtige Anregungen verdankt und der von einer religiösen Selbstgebung des Lebens ausgeht, hört sich dies folgendermaßen an: „Jede Rede (Parole) ist Rede des Lebens. Es ist das Leben selbst, das in dieser Rede aufweist, offenbar macht; es ist die pathische SelbstofFenbarung der absoluten Subjektivität, welche das Sagen {Dire) ist. Was sie sagt, ist sie selbst t·..]".21 Deus sive vita, das klingt nicht unvertraut. Ob Gott oder Leben, worauf es ankommt, das ist die Denkbewegung, die diese „Phänomenologie des Unsichtbaren" dazu verfuhrt, ihre eigenen Voraussetzungen ebenfalls unsichtbar zu machen, um auf diese Weise eine Unmittelbarkeit zu erschleichen. Ich erwähne diese beiden Autoren, weil sie so nachdrücklich versuchen, mit der Phänomenologie ernst zu machen, wenngleich auf eine äußerst fragwürdige Weise. Wie aber könnte eine Alternative aussehen, die dem Faszinosum des Anderen und Fremden Raum läßt, ohne sich selbst aufzugeben? 7.3

Phänomenologie der Responsivität

Eine Alternative bietet sich an in Gestalt einer Phänomenologie, die das Unendliche als Un-endliches denkt, als Überschuß, als Außer-ordentliches, das nicht ablösbar ist von der Endlichkeit der Ordnung, die es überschreitet. Das Un-endliche bedeutet infolgedessen keine Negation des Endlichen, noch ein positiv Unendliches, das dem Endlichen jedes Wort aus dem Mund nähme. Das Un-endliche ist mit einem Trennungsstrich zu lesen, der eine Bruchstelle markiert, an der jede Ordnung an ihre eigenen Grenzen stößt. Der immer wieder neu ansetzende Überstieg wird angeregt durch einen fremden Anspruch, der weder innen beheimatet ist in einer Immanenz des Bewußtseins, noch geradewegs von außen eindringt wie ein „Bewußtseinsfremdes" (vgl. 20 Vgl. J.-L. Marion, Étant donné. Essai d'une phénoménologie de la donation, Paris 1997, speziell zur erwähnten Umkehrbewegung vgl. 302, 367, 441. Der frühere, ins Deutsche übersetzte Entwurf „Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung" (erschienen in: Religionsphilosophie heute, hrsg. von A. Halder, Düsseldorf 1988) wird hier systematisch weitergeführt. Der Gedankenreichtum dieses religionsphänomenologischen Versuchs kann über elementare Schwächen nicht hinwegtäuschen. Vgl. zu diesen neueren Entwicklungen innerhalb der französischen Phänomenologie die Kritik von D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991 und neuerdings: La phénoménologié éclatée, Combas 1998. 21 Phénoménologie matérielle, Paris 1990, S. 131, dt. in: Radikale Lebensphänomenologie, übersetzt und herausgegeben von R. Kühn, Freiburg/München 1992, 179.

Religiöse Erfahrung?

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Hua XVII, 239 f.), der weder sichtbar ist noch unsichtbar, sondern der als das Worauf unseres Antwortens uns selbst außerhalb unserer selbst beginnen läßt. Eine verwandte Formel von Foucault aufgreifend können wir sagen: Antworten ist ein parler du dehors. Ich spreche hier, als leiblich situiertes Wesen, doch spreche ich von anderswoher. Ein leibliches Wesen, das sich selbst entgleitet, vollzieht ein Sehen, in das die Unsichtbarkeit als blinder Fleck eingetragen ist. Was sich auf diese Weise unserem Blick entzieht, ist kein bloß faktisch Unsichtbares, auch kein absolut Unsichtbares, sondern ein „Unsichtbares dieser Welt".22 Der fremde Anspruch der sich unserem Blick und Zugriff entzieht, beginnt bereits in der schlichten Wahrnehmung, in der uns etwas auffallt, im Denken, in dem uns etwas einfallt, im Begehren, das uns umtreibt. Der fremde Anspruch macht sich störend und beunruhigend bemerkbar, das Fremde kann man als Störenfried par excellence bezeich23

nen. Es steht quer zu unseren Intentionen und durchkreuzt die Ordnungen, die sich in bestimmten Sinnvorgaben und Regelungen bekunden. Gegenüber der Alternative von Allmacht und Ohnmacht, die das religiöse Denken weitgehend in ihren Bann schlägt und die stets eine gemeinsame Bilanz zuläßt, bedeutet der fremde Anspruch, daß unsere Verfügungsgewalt als solche durchbrochen wird. Radikale Fremdheit, die Lévinas in der Epiphanie des menschlichen Angesichts hervortreten sieht und die sich in der Weisung ausspricht: „Du wirst mich nicht töten", besagt, daß sich mir etwas entzieht, das eben im Entzug da ist.24 7.4

Aspekte einer Antwortlogik

Abschließend möchte ich einige Aspekte einer Antwortlogik ausbreiten, die eine religiöse Erfahrung denkbar machen, ohne daß diese sich durch ein solches Denken herbeifuhren ließe.25 22 Le visible et l'invisible, a.a.O., frz. und dt. 198. 23 Autrement qu'être ..., a.a.O., 128, dt. 224. Die produktive Rolle der Wahrnehmung und entsprechender Wahrnehmungsirritationen, die von W.-E. Failing und H.-G. Heimbrock einer einseitigen Handlungsorientierung entgegengesetzt wird (vgl. „Gelebte Religion wahrnehmen. Auf dem Wege zu einer methodologischen Neuorientierung Praktischer Theologie", in: B. Beuscher / H. Schroeter / H. Sistermann (Hg.), Prozesse postmoderner Wahrnehmung (FS D. Zilleßen), Wien 1996, 159-181), kann ich nur unterstreichen. 24 Die Entzugsfigur, die bei allen Vertretern einer radikalisierten Phänomenologie des Fremden anzutreffen ist, bedürfte einer detaillierteren Erörterung. Ob und wieweit sich solch eine Entzugsbewegung schon von Schleiermacher her denken läßt (vgl. die Hinweise bei P. Biehl, a.a.O., 31), wage ich nicht zu entscheiden. Es hinge davon ab, wie man das Gefühl denkt, ob als Af-fektion, die als Selbst-affektion nach innen schlägt und also den Raum des Selbst seinerseits aufspaltet und aufreißt, oder als subjektiv undifferenzierten Zustand, der sich eher ins 'Ozeanische' verläuft. 25 Colpe, der in einem Exkurs eine entsprechende Phänomenologie einfordert, äußert sich behutsam über ihre Möglichkeiten: „Sie muß logisch so angelegt sein, daß sie Aussagen über das 'Sein des Heiligen' nicht ausschließt, wenn sie auch selbst solche Aussagen

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

Im fremden Anspruch verkörpert sich ein Außer-ordentliches, das nur im Antworten auftritt, und zwar als ein Worauf, das jede definierende Bestimmung im Sinne eines Wer oder Was übersteigt. Darin gleicht der Anspruch fremden Stimmen oder fremden Blicken, derer wir nie völlig habhaft werden können. Wie Sartre, Merleau-Ponty und Lacan auf verschiedene Weise betonen, bist du niemals gänzlich dort, wo ich dich sehe und von wo ich dich sprechen höre, und dies nicht etwa, weil dein Blick oder deine Stimme einem Reich des Unsichtbaren oder Unhörbaren angehören, sondern weil der Ort, von dem aus sich eine Welt des Sichtbaren und Hörbaren öffnet, der Lokalisierung und Datierung entgeht, ähnlich wie der schon erwähnte Nullpunkt eines Koordinatenkreuzes, der im strengen Sinne nirgendwo ist. Ein Anspruch, der eine bestehende Ordnung in Unruhe versetzt, läßt stets verschiedene Antworten zu, es gibt keine schlechthin richtige Antwort. Damit unterscheidet sich das Antworten nicht nur von einer Beliebigkeit, die selbst das, worauf jemand antwortet, dem Belieben anheimstellt, es unterscheidet sich auch von einer Hörigkeit, die selbst das, was einer zur Antwort gibt, dem fremden Anspruch zu entnehmen hofft. Der fremde Anspruch erfordert ein wiederholtes Antworten, ein Wiedersagen (redire), wie es bei Lévinas heißt.26 Fremde Ansprüche haben den Charakter von Überschuß und Überfluß; sie sind nicht zu verwechseln mit Wünschen und Rechtsansprüchen, die sich mehr oder weniger erfüllen lassen. Die Zusage, die in einem Versprechen liegt, läßt sich nie völlig in ein Gesagtes verwandeln, in ein Resultat, das man 'getrost nach Hause trägt'. Eben deshalb haben Eros, Tod und eben auch die Religionen ihre Riten, die Unwiederholbares wiederholbar machen. Sie entarten zum Wiederholungszwang, wenn der inspirierende Funken aus ihnen weicht. Eine harmlose oder doch nicht so harmlose Form der Wiederholung bildet die tötende Langeweile, die schon so manchen Hör- und Betsaal geleert hat. Fremder Anspruch erfordert ein namhaftes Antworten, eine Singularität, die sich den Ordnungsfiguren von Urbild und Abbild, von Regel und Regelfall entzieht. Aus diesem Grunde ist die Rede von 'der Religion' oder 'dem Heiligen', die durch eine „philologia perennis" abgestützt wird (vgl. Colpe, a.a.O., S. 36, 39), ebenso schemenhaft wie die Rede von 'der Kunst'. Es genügt, wenn es hier 'Familienverwandtschaften' gibt. Dies bedeutet nicht, daß die Namhaftigkeit dem Doppelereignis von Anspruch und Antwort vorausgeht wie bei den Brett- oder Kartenfiguren eines Spiels. Die Namen stehen selbst auf dem Spiel und treten nie völlig aus dem Schatten der Namenlosigkeit heraus. Auf den Unterschied zwischen Ruffall und Nennfall, zwischen nicht machen kann." (a.a.O., 49) Für das Religiöse würde ähnliches gelten wie für das weiter zu fassende Heilige. 26 Totalité et Infini, Den Haag 1961, VIII. Dt.: Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von W. N. Krewani, Freiburg/München 1987, 34.

Religiöse Erfahrung?

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Vokativ und Nominativ haben Dialogphilosophen immer wieder aufmerksam gemacht. Die Namensscheu ist dem Bildverbot ebenso verwandt wie der Namenszauber dem Bildzauber, und mitunter fallt es schwer zu sagen, wann und wo das Verbot sich von seiner Schutzfimktion ablöst und sich zu blinden Tabus verfestigt. Die Religionen verwalten auch hier ethnologisch zu erforschende Bereiche, die unter dem Identifizierungs- und Klassifizierungszwang auszutrocknen drohen.27 Schließlich liegt im fremden Anspruch, sobald er sich aus funktionalen Zusammenhängen und deren Äquivalenten herauslöst, etwas Unausweichliches, eine eigentümliche ne-cessitudo, die nicht mit der epistemischen Notwendigkeit strikter Gesetze zu verwechseln ist. Der Blick, der uns trifft, und die Bitte, die sich an uns richtet, bringen uns in die Verlegenheit, nicht nicht antworten zu können, selbst wenn alsbald Abwehrmaßnahmen und Selektionsfilter in Kraft treten lassen oder das fahle Licht der Gleichgültigkeit sich ausbreitet. Der fremde Anspruch hat etwas Fatales, das sich nicht durch Rationalisierung eliminieren läßt. Wir stoßen hier auf die alte Antithese von Freiheit und Vorherbestimmung, die als Alternative allerdings haltlos ist. Wir wählen, was wir antworten, nicht aber, worauf wir antworten. Natürlich bedarf es wiederum nur einer kleinen Wendung, um die Fremdheit in blinde Naturgewalt zu verwandeln, so daß jede Antwort gegenstandslos wäre. 7.5

Indirekte Zugangsweise

Es stellt sich am Ende die Frage, wie wir über solche Ansprüche sprechen können, ohne daß wir sie den Gesetzen der eigenen Rede unterwerfen, aber auch ohne daß wir uns zum Bauchredner einer fremden Stimme machen und so tun, als könnten wir einen Blick hinter den Spiegel des fremden Blicks tun. Ein erstes semantisches Gegenmittel gegen jede anmaßende Rede wäre die Unterscheidung zwischen Fremddefinition und Selbstdefinition der entsprechenden Phänomene.28 Die Gefahr des Fundamentalismus, von dessen Versuchung keine Religion und kein Glaube verschont bleibt, beginnt aber erst dort, wo jemand, statt von Gott zu reden, Gott selbst reden läßt - oder das Heilige, den Geist, das Leben, das Volk, die Zeit... Da religiöse Phänomene wie die des Heiligen durch eine spezifische Differenz bestimmt sind, die man als die von Außer-ordentlichem und Ordentlichem, von Außergewöhnlichem und Gewöhnlichem oder von Außeralltäglichem und Alltäglichem bezeichnen kann, gerät man in einen religiösen Exotismus, sobald man das Heilige direkt angeht und glaubt, alles Profane hinter sich lassen zu können. Der Exotismus ist ein Funktionalismus à rebours. Carsten Colpe weist daraufhin, wie sehr im Bereich des 'Heiligen' Regelhaftigkeit und Regelwid-

27 Zur Herkunftgeschichte der „Heiligkeitsterminologie" vgl. Colpe, a.a.O., 36 ff. 28 Dies ist eine Maßnahme, die Colpe dringend empfiehlt (a.a.O., 48-55).

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Waidenfels: Phänomenologie der Erfahrung

rigkeit zusammengehören (a.a.O., 35, 40), und zwar so, daß die Schwelle zum Fremden, zum Außer-ordentlichen, immer nur in einer einzigen Richtung überquert, also nie überwunden wird. Die von Lévinas so nachhaltig betonte Asymmetrie zwischen uns und dem Anderen muß nicht religiös gedacht werden, doch umgekehrt läßt sich Religiöses - wenn es etwas bedeutet - nur nach diesem Muster denken. Wenn Anblick, Anrede und Anspruch des Fremden uns also mit etwas konfrontieren, das nur da ist, indem es sich entzieht, so steht uns nichts anderes zur Verfügung als eine indirekte Sicht- und Redeweise. In ähnlichen Zusammenhängen empfiehlt der späte Merleau-Ponty eine indirekte Ontologie, die jede direkte Tuchfühlung mit dem Sein vermeidet.29 Auf andere Weise nimmt Lévinas den alten Gedanken der phänomenologischen Reduktion auf, indem er einer Reduktion des Gesagten auf das Sagen das Wort redet.30 Es ist das Sagen als Anspruchs- und Antwortereignis, das niemals in dem Gesagten aufgeht. Ähnlich könnte man eine Reduktion des Gesehenen auf das Sehen ins Auge fassen. Eine indirekte Rede- und Sichtweise, die Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden aufscheinen läßt, würde vom Fremden zeugen, ohne sich zu ereifern und zu wähnen, jeder, der „der Andere, der Andere" sagt, gehe in ein moralisches oder religiöses Himmelreich ein. Das Sagen und Sehen ist unablässig in jenes Gesagte und Gesehene verstrickt, das es übersteigt und verfremdet. In diesem Sinne gleicht die Tätigkeit der Phänomenologie dem Werk der Penelope, und es ist nicht einzusehen, warum Religionsphänomenologen es besser haben sollten. Es gibt Dilemmata und Paradoxien, deren Auflösung fataler ist als diese selbst.

29 Merleau-Ponty, Résumé de Cours, Collège de France 1952-1960, Paris 1968, 156, dt. in: Vorlesungen I, übersetzt und herausgegeben von A. Métraux, Berlin 1973,117. 30 Autrement qu'être..., a.a.O., S. 56, dt. 106 ff.

Michael Moxter

Die Phänomene der Phänomenologie ,Das Absolute - ein oft mißbrauchtes Wort kann vielleicht nur in der Phänomenologie oder dem Bruch mit ihr ... wirklich Platz und Sinn erhalten." E. Lévinas, Zwischen uns, 204.

I. Ganz falsch wäre es nicht, wenn man die Frage, was Phänomenologie eigentlich ist, mit der Antwort versehen würde: eine Richtung, ja eine Schulbildung, innerhalb der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, die von Husserl ausgehend zu internationaler Breitenwirkung kam und dabei die unterschiedlichsten Wissenschaftsfelder beeinflußte, im Kern aber auf ein Thema bezogen und zugespitzt war: auf Intentionalität. So von Phänomenologie zu sprechen, hieße: sie als Bewußtseinsphilosophie zu beschreiben und damit an ein Reformprogramm zu denken, das Philosophie als strenge Wissenschaft fassen will. Es ließe sich ergänzen, daß Husserl in ihr eine radikale, von Descartes zuerst begonnene Selbstbesinnung durchführen will, die als programmatische Erneuerung einer transzendentalphilosophischen Subjektivitätstheorie auch transzendentale Egologie genannt wird. Der weitere Gang dieser Schultradition war schon im Übergang von Husserl zu Heidegger, dann aber in den unterschiedlichen Varianten polnischer, tschechischer, deutscher und französischer Rezeptionen durch Verwerfungen und Brüche gekennzeichnet, die in der Perspektive Husserls gleichsam als Häresien1 erscheinen. Fragt man sich, wie ihr ursprünglicher, durch den Titel Intentionalität markierter Sinn heute gewahrt werden soll, würde man auf eine Philosophy of Mind verwiesen, die verwandte Probleme bearbeitet. Einer solchen Antwort würde man in Umrissen entnehmen, was sich hinter dem Leitgedanken einer theologischen Phänomenologierezeption verberI

Die Phänomenologie sei „in weitem Maße die Geschichte der Husserlschen Häresien" notiert P. Ricoeur (zit. n. Chr. v. Wolzogen, Nachwort zu J.-F. Lyotard, Die Phänomenologie, Hamburg, 1993, 169).

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Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

gen könnte: beispielsweise eine Analyse des Akts des Glaubens, seines intentionalen Objektes und seiner Funktion im Aufbau eines subjektiven Lebens. Nun ist unverkennbar, daß gerade dieser Schulbegriff der Phänomenologie den Antiquiertheitsvorwurf auf sich zieht, der mit dem Ort dieser Konsultation eng verbunden ist: Die in den siebziger Jahren in Frankfurt geleistete Rezeption sprachanalytischer Philosophie (Apel, Schnädelbach und Habermas) vollzog sich als Abwicklung der phänomenologischen Bewußtseinsphilosophie. Linguistic turn nannte sich in Anschluß an Rorty und unter kräftiger Beschwörung von Wittgensteins Privatsprachenargument jenes neue Methodenrepertoire, das den phänomenologischen Grundbegriff der Intentionalität dem Gespött auslieferte. Die Argumente, die den annoncierten Paradigmenwechsel der Ersten Philosophie motivierten, lassen sich wie folgt umreißen. Husserls Beschreibung des Bewußtseins ist mit dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes bewußt nicht vermittelt und fuhrt den philosophischen Diskurs in Scheinprobleme. Denn sein Dauervotum, Bewußtsein sei immer „Bewußtsein von etwas", beruht auf einer Beziehung, die sich am Paradigma des Sehens, also der Gesichtswahrnehmung orientiert, so daß Husserls Bewußtseinsphilosophie eine „Paratheorie des Sehens" (Tugendhat) darstellt. Mit dem Wechsel vom Bewußtsein zur Sprache zeigt sich die spezifische Sprachvergessenheit des cartesisch-husserlischen Ansatzes, sei es daß Husserl der Transitivität bestimmter sprachlicher Ausdrücke aufsitzt und also verkennt, daß Wissen propositional strukturiert ist (wiederum Tugendhat), sei es, daß er mit Descartes durch die Sprache schaut wie durch Glas (so eine Lieblingsformulierung Apels). Beide Kritikpunkte seien kurz erläutert. a) Husserls Intentionalitätsbegriff, so der erste Vorwurf, analysiert Wissen, Erkennen, Denken im Modell Aktvollzug (Sehen, Wahrnehmen, Denken: noesis) und Aktgegenstand (Gesehenes, Wahrgenommenes, Gedachtes: noema) und interpretiert Erkenntnis folglich nach dem Modell einer Übereinstimmung von Subjekt und Objekt. Damit ist verkannt, daß wir zwar ein X sehen, aber kein X wissen oder denken können. Nur in Sätzen, nur auf der Urteilsebene, nur in Gestalt eines Wissens „daß p", eben nur propositional, gibt es die Beziehung auf einen Gegenstand, um deren Aufklärung es Husserl (vergeblich) ging. Einen Gegenstand intendieren, ihn meinen, ist eine Funktion singulärer Termini, die klassifizieren, wovon oder woraufhin wir etwas prädiziert werden soll. Das Zusammenspiel von Prädikation und Klassifikation wird nicht von der Phänomenologie, sondern nur von der Semantik erhellt. Eine Variante dieses Argumentes liest sich so: Die Bedeutung eines Wortes ist allein durch die in Lebensformen eingebetteten Weisen seines Gebrauchs aufzuklären, nicht aber durch bedeutungsverleihende Bewußtseinsakte. Husserl dagegen unterstellt eine nicht-prädikative Beziehung, die, als Gewahren eines Gegenstandes, so etwas wie das Vorschweben eines Ge-

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meinten vor einem das Gemeinte meinenden Bewußtseins ist. Daß er fälschlich Bedeutung auf Anschauung gegründet, wirft ihn zurück auf eine platonische Bedeutungstheorie, die das Reich universal-identischer Bestimmungen in einer Wesensschau eröffnet. Husserls Leitmetapher des Sich-Richtens-Auf veräußerlicht die intentionale Beziehung zu einem Intentionalitätsstrahl, so daß das Bewußtsein als ein inneres Auge gedeutet wird, das äußere Gegenstände auf einer privaten Bühne repräsentiert und zuguterletzt auch über die Gabe verfugt, sich selbst introspektiv zu betrachten. Dieses mentalistische Paradigma bringt alle Probleme erst hervor, die bei Husserl mit ihm gelöst werden sollen. b) Das zweite Argument richtet sich gegen den methodischen Solipsismus Husserls, der aufgrund der Verkennung des Vorrangs der Sprache am Problem der angemessenen Rekonstruktion des Fremdbewußtseins (other minds) scheitert. Die mit der Sprache immer schon verbürgte Intersubjektivität wird als Problem ausgegeben, das mit den Mitteln der Phänomenologie bearbeitet werden soll, aber eben durch diese Mittel zu einem Dauerrätsel werden muß. Wie Descartes das Sprachspiel des Zweifeins verkennt und überstrapaziert, so sitzt auch Husserl einer selbst gestellten Aufgabe auf, die nur deshalb entsteht, weil er Bewußtsein und nicht sprachliche Kommunikation zum Ausgangspunkt wählt. Und schließlich: auch wahrheitstheoretisch etabliert die Phänomenologie einen Begriff, der in Aporien fuhrt, orientiert sie sich doch an Evidenz, die auch darum gänzlich untauglich ist, weil das bloße Evidenzerlebnis keine kriteriellen Funktionen erfüllen kann: auch der Irrtum ist evident. Mit einem Wort: Einen Fortschritt stellt die kommunikationstheoretische und sprachpragmatische bzw. sprachanalytische Neuorientierung der Philosophie gerade insoweit dar, als sie die Phänomenologie für erledigt erklärt. Auch die zentrale Stellung des Lebensweltbegriffs in der ausgearbeiteten Theorie des kommunikativen Handelns ändert an dieser Gesamteinschätzung übrigens nichts, zumal Habermas bei dem Versuch, den rationalen Kern der Moderne zu verteidigen, eine weitere Front aufmacht: die Westfront gegen alle Einflüsse, die aus dem Übergang der französischen Phänomenologie ins postmoderne Denken resultieren. Wie anfechtbar auch immer das Gesamtbild sein mag, das durch diese Polemiken erzeugt wird - über den argumentativen Gehalt der hier nur abgekürzt in Erinnerung gerufenen Kritik wird man sich nicht einfach hinwegsetzen dürfen. Eine theologische Inanspruchnahme von Phänomenologie, die sich von den philosophischen Sachproblemen meint entlasten zu können, würde die Phänomenologie bloß applikativ gebrauchen, sie also bereits im ersten Schritt mißbrauchen. Doch vielleicht ist die Antwort, die nicht ganz falsch wäre, gleichwohl eine unzureichende.

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Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

II. Die zweite Antwort, die gegeben werden kann, orientiert sich nicht am Lehrbestand einer philosophischen Schule, sondern an einer charakteristischen Methode bzw. an einer typischen Einstellung, die die Arbeit des Phänomenologen kennzeichnet. Eine solche Antwort müßte beispielsweise daran erinnern, daß Husserl 1897 auf einen drei Jahre zuvor von Ernst Mach vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte gehaltenen Vortrag stößt, in dem der programmatische Titel einer physikalischen Phänomenologie1 erläutert wird. Eine solche Erinnerung setzt an einer Stelle ein, an der die Aufgabe einer genauen Beschreibung nicht nur als notwendige, sondern als hinreichende Bedingung physikalischer Arbeit dargestellt wird. Machs Plädoyer fur eine deskriptive Einstellung kehrt sich gegen eine Erklärungsart, die durch Rückgang auf transeunte Ursachen das Gegebene zugunsten des NichtGegebenen verläßt. Phänomenologie meint hier und in verwandten Kontexten: eine Methode strikter Beschreibung des Gegebenen, insofern es sich zeigt. „Die wichtigste, um nicht zu sagen einzige Regel für die echte Naturforschung ist die: eingedenk zu bleiben, daß es unsere Aufgabe ist, die Erscheinungen kennen zu lernen, bevor wir nach Erklärungen suchen oder nach höheren Ursachen fragen mögen".3 Um diesen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund des Phänomenologiebegriffs weiß noch Sartre, wenn er in Das Sein und das Nichts seine Klärung des Begriffs Phänomen mit dem Hinweis auf physikalische Einsichten eröffnet. Die Überwindung des Dualismus zwischen einer verborgenen Natur der Sache und dem erscheinenden Gegenstand markiere einen „beachtlichen Fortschritt" der modernen Wissenschaft, die als Sache gerade die Reihe der sie manifestierenden Erscheinungen begreift. So habe „der elektrische Strom keine geheime Kehrseite: er ist nichts als die Gesamtheit der physikalisch-chemischen Wirkungen (Elektrolysen, Glühen eines Kohlefadens, Bewegung der Galvanometernadel usw.), die ihn manifestieren. Keine dieser Wirkungen genügt, ihn zu offenbaren. Aber sie zeigt nichts an, was hinter ihr wäre: sie zeigt sich selbst an und die totale Reihe"4. Die Kritik einer Erklärungsart, die das Offensichtliche auf das Unbekannte zurückfuhrt, kulminiert hier in einer nachmetaphysischen Bestimmung des Phänomenbegriffs, demzufolge das Sein eines Existierenden genau das ist, als was es erscheint, - ohne freilich allein eine Einzelerscheinung zu sein. Dieser diskriminatorische Anspruch, zwischen Methodenalternativen auszuwählen, gehörte schon länger zur Verwendung des Phänomenbegriffs, wie

2 3 4

H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M., 1986, 34. R. Mayer, zit. n. E. Cassirer, Funktionsbegriff und Substanzbegriff, 184. Das Sein und das Nichts, Neuausgabe, hg. v. T. König, Hamburg, 1991, 9f.

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die Losung Goethes zeigt: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre"5. Erst dieser wissenschaftsgeschichliche Hintergrund macht die Brisanz der sonst nur trivial anmutenden Maxime aus, die Phänomene zu beschreiben. In ihr lag immer und liegt bis auf weiteres ein Abgrenzungspotential gegenüber jeder auf Kosten des Konkreten vollzogenen Erklärungsart: „Den Inhalt der Physik bilden vielmehr einzig und allein die Phänomene selbst in der Form, in der sie uns unmittelbar zugänglich sind".6 Die Physik rekapituliert in einem neuen Kontext die spätantike Forderung, die im endlosen Streit der philosophischen Schulen entstandene Paralysierung dadurch zu überwinden, daß zu allererst auf die Rettung der Phänomene zu achten sei. Im Kontrast zwischen Theorie und phänomenalem Bestand zeigt sich so eine Familienähnlichkeit inhaltlich höchst unterschiedlicher Reformprogramme. Das Anliegen, aus einer festgefahrenen Theorieformendebatte auszubrechen, verbindet wiederum die antike Losung: σωζειν τα φαινόμενα mit dem Husserlschen „Ordnungsruf 7 : „Zu den Sachen selbst!" Was beide Imperative gemeinsam haben, führt bereits auf die zentrale Überzeugung des Phänomenologen, daß fur die deskriptive Einstellung das Phänomen in der Weise seines Erscheinens die ganze Sache darstellt. Der phänomenologische Begriff der Erscheinung meint nicht Schein im Kontrast zur Sache selbst, sondern begreift das Phänomenale als einzige Gegebenheitsweise. Die Geschichte des Phänomenologiebegriffs könnte als eine allmähliche Genese dieser Überzeugung geschrieben werden. Der bei Lambert zuerst gebildete und von Kant übernommene Titel Phänomenologie bezeichnet zunächst denjenigen Teil einer umfassenden Wissenschafts- und Erkenntnislehre, der als „Theorie des Scheins" (so Lambert)8 bzw. als „negative Wissenschaft" (so Kant) der wahren Erkenntnis in Gestalt der Metaphysik

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Joh. W. Goethe, zit. n. Cassirer, Leben und Geist, 216. Cf. auch Maximen 261: „Vom Absoluten in theoretischem Sinne wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich, daß, wer es in der Erscheinung anerkennt und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird" (zit. n. Ernst Cassirer Nachlaß, Bd. 1, hg. v. J. M. Krois, Hamburg, 1995, 339f). Cassirer will denn auch Goethe als „Wünschelrute brauchen, die zu dem verborgenen Schatz dieser Urphänomene hinleitet" (ECN 1, 126). Allerdings besagt dies gerade nicht, daß es philosophisch um etwas anderes gehen könnte als um eine kritische Phänomenologie. „Wie können wir der Goethischen Forderung der >Urphaenomene< und der Cartesisch-Kantischen Forderung der >Reflexion< im Aufbau der Philosophie Genüge leisten ... Ist hier noch irgend eine Synthese möglich?- Oder muß es bei einem unversöhnlichen Widerstreit bleiben?" (ECN 1, 130). Dies ist in der Tat die Frage. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff 151. Blumenberg, a.a.O., 33. Cf. Historisches Wörterbuch der Philosophie, VII, 486.

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Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

vorangeht: die „phaenomenologia generalis"9 hat dabei insbesondere die Gültigkeit und die Grenzen der Prinzipien der Sinnlichkeit zu skizzieren. Phänomenologie als Wissenschaft von den Erscheinungen ist insofern Sinnlichkeitswissenschaft („Quaecunque ad sensus nostras referuntur ut objecta, sunt Phaenomena"10). Sinnlichkeit kommt hier allerdings vor allem als Quelle möglicher Täuschungen in den Blick, so daß Phänomenologie im Grunde als Lehre vom Schein der Sinnestäuschung beginnt. Die weitere Entwicklung des Disziplinentitels erfolgt dann unter dem Einfluß einer Umwertung dieser metaphysischen Einschätzung der Sinnlichkeit. Sinn schon in der Sinnlichkeit zu unterstellen, ist die Eigenart gegenwärtiger Phänomenologie. Zwischen der älteren Kantischen und der umrissenen aktuellen Verwendung steht Hegels Verwendung des Phänomenologiebegriffs. Wie Hegel den kantischen Begriff der Dialektik als einer Logik des Scheins aufnimmt und zugleich gänzlich umdeutet (die Dialektik wird nun gerade als Theorie bzw. als Logik der Wahrheit verstanden, die das Herzstück der Kantischen Philosophie, die transzendentale und metaphysische Deduktion der Kategorien, als Selbstbewegung des Begriffs entfaltet), so transformiert er auch den Begriff der Phänomenologie. Die „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins", die Hegel unter dem Titel einer Phänomenologie des Geistes veröffentlicht, stellt eine Geschichte der Erscheinungsformen des Bewußtseins dar, in der dieses sein Wesen zeigt. Es ist auch hier noch immer eine Geschichte aufeinander folgender Irrtümer, aber nun in der besonderen Form, daß die Darstellung dieser Geschichte zugleich die Wahrheit des Bewußtseins auslotet bzw. dieses in seine Wahrheit überfuhrt. Die Phänomenologie des Geistes hat es mit den Phänomenen zu tun als den Fällen, wie es dem Bewußtsein zu sein scheint. Doch gerade die Gewißheit des Bewußtseins, alles sei so, wie es ihm zu sein scheint, zwingt es zu der Stufe um Stufe konkreter werdenden Einsicht, daß es sich in Wahrheit immer schon anders verhält, ja daß das Bewußtsein selbst etwas anderes ist, als es zu sein vermeint. Jede Vorstellung, die sich das Bewußtsein von seinem jeweiligen Gegenstand und von sich selbst macht, ist immer auch Verstellung. Doch gerade an der Rastlosigkeit, mit der das Bewußtsein sich zu korrigieren gezwungen ist, erfahrt es, was es selbst in Wahrheit ist. Negativität wird zu einem positiven Charakteristikum. Damit ist die Bearbeitung der platonischen Unterscheidung zwischen δόξα, Schein, und όντως ov, wahrem Sein, an einem Punkt angekommen, an dem ihr hierarchischer Sinn in ihr Gegenteil umschlagen kann. Obwohl Hegel die Phänomenologie als eine bloße Vorstufe zum Systém bzw. zur Wissenschaft der Logik begreift, die die Wahrheit an ihr selbst darstellt, und obwohl damit die Phänomenologie ihre Schuldigkeit getan hat und nur noch als 9

Kant, Brief an Lambert vom 2. Sept. 1770; zit.n. R. Theis, Gott, (= FMDA II/8), Stuttgart-Bad Cannstatt, 1994, 226. 10 Kant, Dissertation, § 12.

Phänomenologie als Methode

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eine didaktische Vorübung erscheint (als eine Hinfiihrung, die dem Standpunkt des Bewußtseins eine Leiter reicht, auf der dieses über sich hinaussteigt11), so artikuliert Hegel doch einen Begriff des Phänomens, der sich dem traditionellen Gegensatz von Schein und Sein entzieht.12 Diese Pointe wird in der Sprache Husserls später unter dem Titel Epoché zur Geltung gebracht: die Sphäre der Phänomene konstituiert sich in der Einklammerung derjenigen Seinsproblematik, die den Schein ausschließlich in Affinität zum Nichtsein denkt. Husserls Phänomenologie beginnt mit der methodischen Sistierung der Rede vom Wirklichen, nämlich damit, daß „ich mich jedes Vollzuges irgendeines Seinsglaubens [enthalte], der geradehin Welt als seiend nimmt"13. Dieser Schritt konstituiert in eins (das Sein der) Phänomene und die Aufgabe der Beschreibung. Phänomenologische Beschreibungen werden in Angriff genommen, weil sich der Wunsch der Wissenschaft, Wissenschaft von der Wirklichkeit zu sein, nicht unmittelbar erfüllen läßt. Zu den Sachen selbst! ist also eine Devise, die auf die Beschreibung von Phänomenen zielt. Das Motto besagt: „keine Hypothesen zu bilden, weder über die Beziehung, die das Phänomen mit dem Sein der Sache verbindet, deren Phänomen es ist, noch über die Beziehung, die es an das Ich bindet, für das es Phänomen ist. Man muß nicht über das Stück Wachs hinausgehen, um eine Philosophie der ausgedehnten Substanz zu schaffen ... man muß voraussetzungslos bei dem Wachsstück bleiben, es nur so beschreiben, wie es sich gibt"14. Die Beschreibungsdevise steht insofern in Kontrast nicht nur zum Erklären, sondern auch zum abstrakten Typisieren und Klassifizieren.15 Das phänomenologische Leitmotiv lautet also: „Nicht nur zu den Sachen selbst, sondern auch nie von den Sachen weg"16, und es erweist seine bewegende Kraft gerade in der Beschreibung dessen, was sich zeigt. Die Phänomenologie beginnt jenseits von Realismus und Idealismus (wie Lévinas sagen würde), von Sache selbst und subjektiver Setzung. Genau insofern setzt sie einen veränderten Begriff von Wirklichkeit bzw. Gegenständlichkeit in Kraft. Darüber vor allem muß man sich im klaren sein, wenn man Phänomenologie als Wirklichkeitswissenschaft verstehen will (Heimbrock) oder unter dem Titel Phänomenologie über den Gegenstandsbezug der Dog11 Für das System stellt der Titel Phänomenologie nur noch den Rahmenbegriff für regionalontologische Themen auf, wie man an Hegels Enzyklopädie sehen kann. 12 Blumenberg notiert (a.a.O., 27f) im Blick auf Husserls Phänomenologie, es sei die Erstaunlichkeit ihrer Anfänge, daß eine dem Piatonismus verfallene Philosophie sich gerade das zum Titel ihrer ausschließlichen Gegenstände wählt, was für Plato das der Theorie Unwürdige war: die Phänomene als das wirklich Wirkliche. 13 Husserl, zit. n. Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., 491. 14 Lyotard, a.a.O., 10. 15 Cf. GS 5 /Anhang: 144. 16 E. Lévinas, Die Spur des Anderen, 1983, 55.

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Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

matik (Herms) oder der Praktischen Theologie (Failing/Heimbrock) nachdenken will. Eine theologische Auseinandersetzung mit der Phänomenologie braucht nicht, so lautet die Folgerung, an dem (umstrittenen) Themenbestand ihres Schulbegriffs orientiert sein. Sie kann (in Abwandlung eines Wortes von Lyotard) die Bewußtseinstheorie als eine Kinderkrankheit der Phänomenologie begreifen und ihr Grundproblem an der Frage aufwerfen, welchen Status Beschreibungen dessen, was sich zeigt, im wissenschaftlichen Diskurs haben können oder sollen. Die Tugenden des Phänomenologen sind die Beschreibungsnotstände des Theoretikers. Es soll dem dritten und abschließenden Teil vorbehalten sein, in Erinnerung zu rufen, daß dieser Sachverhalt gerade auch in deijenigen Formierungsphase der Phänomenologie wirksam war, in der sie sich als Bewußtseinsphilosophie präsentierte.

III. Präzise Ungenauigkeit habe ich an anderer Stelle denjenigen Adäquatheitsstandard genannt, der zur phänomenologischen Beschreibung gehört.17 Diese wird versuchsweise vollzogen, gleichsam als philosophische Essayistik, die dort nötig wird, wo sich dem Seienden noch nicht auf den Kopf zusagen läßt, unter welchen Begriff es fällt, in Fällen also, in denen Unbestimmtheit zur Gegebenheitsweise selbst gehört. Solche Beschreibungen enthalten daher kein Gegenprogramm zur kategorialen Arbeit oder zur Darstellung von Prinzipien. Das kann schon deshalb nicht anders sein, weil phänomenologische Beschreibungen selbstverständlich durch Begriffe erfolgen. Aber die unendliche Präzisierungsbedürftigkeit jeder Beschreibung wahrt immerhin jene Offenheit, die das Besondere gegenüber dem Allgemeinen auszeichnet. Es ist in diesem Sinne eben kein Zufall, daß die Entdeckung der Existenz inexakter Begriffe18 gerade dem Phänomenologen zu verdanken ist, der einen strikten Philosophiebegriff unter Eindeutigkeitsgeboten entwirft.19 Exaktheit ist nicht der einzig mögliche Präzisierungsgrad der Erfahrung, die vielmehr gutartige

17 Cf. M. Moxter, Die schönen Ungenauigkeiten, in: Neue Rundschau, 109/1, Frankfurt/M. 1997, 83-93. 18 Cf. Wolzogen, a.a.O., 167. In Ideen zu einer reinen Phänomenologie verweist Husserl auf den mit den Idealbegriffen der Mathematik bzw. Geometrie unvereinbaren Gebrauch, den die deskriptive Naturwissenschaft von solchen Begriffen wie „linsenförmig" oder „gezackt" macht, die vage bleiben und nur in fließenden Grenzen angewendet werden können und dennoch die einzig berechtigten in einem gegebenen Kontext sind (GS 5, 154£f.). 19 Blumenberg, a.a.O., 16.

Die präzise Ungenauigkeit der Phänomenologie

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Nichteindeutigkeiten zuläßt, wie sie auch von einer Metaphorologie bearbeitet werden. Beschreibungen trotz ihrer Ungenauigkeit zu riskieren, zeichnet die methodische Einstellung der Phänomenologie aus. „Die Phänomenologie gibt sich in unseren Darstellungen als anfangende Wissenschaft. Wieviel von den Ergebnissen der hier versuchten Analysen endgültig ist, kann erst die Zukunft lehren. Sicherlich wird manches von dem, was wir beschrieben haben, sub specie aeterni anders zu beschreiben sein. Aber eines dürfen und müssen wir anstreben, daß wir in jedem Schritte getreu beschreiben, was wir von unserem Augenpunkte aus und nach ernstestem Studium wirklich sehen. Unser Verfahren ist das eines Forschungsreisenden in einem unbekannten Weltteile, der sorgsam beschreibt, was sich ihm auf seinen ungebahnten Wegen, die nicht immer die kürzesten sein werden, darbietet. Ihn darf das sichere Bewußtsein erfüllen, zur Aussage zu bringen, was nach Zeit und Umständen ausgesagt werden mußte und was, weil es treuer Ausdruck von Gesehenem ist, immerfort seinen Wert behält - wenn auch neue Forschungen neue Beschreibungen mit vielfachen Besserungen erfordern werden"20. Die Tugend dieser Devise liegt in der Offenheit der erneuten Rückfrage, ob die Phänomene sich wirklich so zeigen, wie bisher gemeint. Die kürzeste Antwort mag lauten: natürlich nicht! Aber das Eingeständnis, daß die Beschreibung alsbald revoziert werden muß, fuhrt eben nicht in die Resignation, solange „das sichere Bewußtsein" leitend bleibt, dem Gesehenen treu geblieben zu sein. Die Phänomenologie geht den Umweg, der Beschreibungen versucht, obwohl sie nicht definitiv sein können. Eine solche methodische Einstellung vertraut dem Schein, in dessen Begriff zwar nicht der Kontrast zur Sache selbst, wohl aber ein Auch-andersscheinen-Können liegt. Die Phänomene der Phänomenologie sind alles, was gegeben sein kann, aber unter der Bedingung des Anders-sein-Könnens. Husserl zeigt dies zunächst im Ausgang von der Wahrnehmung, die ein Verhältnis von Gegebenem und Nichtgegebenem (Entzogenem) bleibt. Schon der einfache Fall einer Würfelwahrnehmung gilt und interessiert als der Einheitsfall von Präsentischem und Appräsentischem. Den Würfel sehen heißt: seine Rückseite als das, was uns entgeht, hinzuzuziehen. Die angebliche Okularobsession ist so naiv nicht, geht es Husserl doch beim Sehen gerade um die Präsenz dessen, was nicht zu sehen ist, beispielsweise um die Perspektive, aus der das Gesichtsfeld sich organisiert, oder um den blinden Fleck, der das Sehen konstituiert. Von den Abschattungsfallen des Sehens zu sprechen, meint immer auch: einsehen, daß das vermeintlich treu abgebildete Ding nur als Resultat unendlicher Überarbeitungen („retouches sans fini"21) zu haben ist. 20 Ideen zu einer reinen Phänomenologie, GS 5, 224. 21 Lyotard, zit. n. Wolzogen, a.a.O., 171.

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Moxter: Die Phänomene der Phänomenologie

Das Verhältnis von Gegebenem und Entzogenem wiederholt sich auf der Ebene der Konstitution der Gegenstände. Konstituiert sich Sehen als etwas als etwas Sehen, so ist die Möglichkeit des Etwas-anders-Sehens immer schon mitgesetzt. Jede Sichtweise ist darin prägnant, daß sie andere, alternative Weisen neben sich hat. Auch darin erweist sich die Beziehung von phänomenologischer Beschreibung und Anderssein. Daß die Phänomenologie sich nicht an einen Intuitionismus anschließt, der die Sachen für unmittelbar gegeben hält, bestätigt sich auch an dem spezifischen Fall phänomenologischer Beschreibungen, den man Horizontanalyse nennen kann. Schon der einfache Fall der Wahrnehmung hebt einen Gegenstand aus seiner Umgebung heraus bzw. vor einem Hintergrund ab, der im Modus des Nicht-Fokussierbaren in die Betrachtung eingeht. Die Schärfe der Hinsicht ist daher nicht nur begleitet von dem Abschattungsschweif einzelner Wahrnehmungsphasen, sondern auch von der Mitanwesenheit deqenigen Unscharfe, von der sich der Gegenstand als Gegenstand erst abhebt. Dieses Horizontthema konkretisiert sich in der Analyse von Sinnhorizonten, die für die Phänomenologie typisch ist. Sinnhorizonte zu erhellen, ist die Aufgabe, die sich aus der zentralen These der Verschränkung von noesis und noema ergibt. Intentionalität ist ein Ausdruck, der deshalb gänzlich mißverstanden wird, wenn er durch den Gedanken einer Beziehung zwischen Subjekt und Objekt interpretiert wird. Gegenüber einer solchen äußerlichen Auslegung des Themas ist daran zu erinnern, daß die vielbeschworene Rückkehr zu den Sachen in eins Rückkehr zu den sie konstituierenden Aktvollzügen ist. In diesem Sinne kann der Begriff der Intentionalität durch die These erläutert werden: „Der Zugang zum Objekt ist Teil des Seins des Objekts".22 Husserls Intentionalitätsanalyse ist vor allem Analyse eines mitgesetzten Horizonts, der als Überschuß erscheint. Darin kulminiert alles, was Husserl über Intentionalität zu sagen hat. Die oben in Erinnerung gerufene Kritik seines Begriffs des Meinens stößt zur phänomenologischen Pointe gar nicht erst vor, die darin besteht, „daß dieses Vermeinte in jedem Moment mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt ... Dieses in jedem Bewußtsein liegende Über-sich-hinausMeinen muß als Wesensmoment desselben betrachtet werden".23 Intentionalität wäre daher ein Titel fur eine Transzendenz, die zur Immanenz des Bewußtseins gehört. Eben deshalb verbindet sich dieser Grundbegriff der Phänomenologie mit ihrer Methode einer Beschreibung, die prinzipiell unvollständig bleibt. Weil in keinem Denken alles Implizite explizierbar ist, gilt von jedem Denken: „es denkt mehr als es denkt".24

22 Lévinas, a.a.O., 88. 23 Husserl, Cartesianische Meditationen, § 20, GS 8, 48. 24 Lévinas, a.a.O. 137.

Die präzise Ungenauigkeit der Phänomenologie

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Es wäre daher ein Mißverständnis, wollte man die phänomenologische Einstellung mit der realistischen Unterstellung verwechseln, man müsse nur hinsehen, um die Dinge unmittelbar und als solche zu entdecken. Das Gegenteil ist richtig: „Phänomenologie betreiben heißt, die direkte Sicht des Gegenstandes als naiv denunzieren".25 Phänomene als die Sachen, um die es allein gehen kann, sind Grenzfalle zwischen Gegebenem und Entzogenem, die es ausschließen, daß Beschreibung bloße Abbildung des Gegebenen sein kann. Immer schon über den naiven Status bloßer Abbildung hinaus zu sein und dennoch beschreiben zu müssen, konstituiert insofern die phänomenologische Methode. Mit einem Wort: „Die Phänomenologie geht vom Phänomen aus. Aber die >Phänomenalität des Phänomens ist nie selbst eine phänomenale Gegebenheit^'.26 Die Kehrseite dieses Eingeständnisses ist eine kaum übersehbare Argumentationsabstinenz. Der Phänomenologe weiß von keiner anderen Begründung als der, die Phänomene zeigten sich nun einmal so, wie er sie zu beschreiben sucht. Daß sie sich auch anders zeigen, ist ihm nicht unbekannt. Aber der Hinweis darauf kann nur ein Anlaß zu erneuter Beschreibung sein, kein Gegenargument gegen seine Arbeit. Es wird also wohl so sein, daß phänomenologische Beschreibungen nur beginnen können, wenn ihnen eine Lizenz gewährt, wenn ein Sachverhalt zugestanden wird. Weder für die Notwendigkeit phänomenologischer Zugänge, noch fur eine erste Beschreibung gibt es ein hinreichendes Argument. Wer Kriterien verlangt, etwa weil er einen Ideologieverdacht gegen das bloße Beschreiben hegt, wird durch kein durchschlagendes Argument zu überzeugen sein. Es muß dem Theoretiker erst langweilig geworden sein, bevor er sich auf Phänomene einläßt. Weil die Beschreibungsdevise in diesem Sinne quer zum argumentativen Diskurs steht, ist die Geschichte der Phänomenologie reich an Variationen, an Umkehrungen und an Abweichlern, aber arm an Widerlegungen. Damit sie überhaupt Philosophie und nicht nur Essayistik ist, kann sie freilich nur eine methodische Einstellung innerhalb traditioneller Problembestände, nicht eine eigene Schule sein. In diesem Sinne mag es dann seine Richtigkeit haben, daß auch die theologische Arbeit auf eine phänomenologische Orientierung nicht verzichten kann.

25 Lévinas, a.a.O. 87. 26 Cf. Lyotard, unter Verwendung eines Zitates von Eugen Fink, a.a.O. 160.

Teil III: Phänomenologie und Religion

Hermann Deuser

Instinkt und Symbol Semiotische Phänomenologie der Religiosität Die Konzentration der Ahnung vergißt man nie. S. Kierkegaard1

Das Thema enthält zumindest drei Begriffe, die in ungewöhnlicher Verbindung auftreten: Linguistische oder religionswissenschaftliche Sywòo/theorien haben in der Regel mit Verhaltensforschung und dem heute biologisch festgelegten Instinktbegciff nichts zu tun; Phänomenologie als Schul- oder Methodenbegriff der Philosophie des 19./20. Jahrhunderts kennt die Näherbestimmung durch konsequente Zeichentheorien bisher kaum. Ich möchte im folgenden zeigen, daß um einer heute tragfahigen Bestimmung von Religiosität willen Phänomenologie in bestimmter Weise semiotisch konzipiert werden muß. Dann nämlich läßt sich der für die Religionstheorie und christliche Theologie unentbehrliche Grundbegriff des Symbols realistisch bestimmen, und religiöse Symbole können in ihrer unersetzbaren Leistungsfähigkeit fur Gefühl, Denken und Handeln wieder entdeckt werden. Auf dieser Basis ist die theoretische und praktische Bedeutung von Religiosität in der akademischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit überzeugend zu vertreten, ohne daß die bekannten religionskritischen Mißverständnisse der europäischen Neuzeit kultiviert werden müssen.

1. Phänomenologie Daß menschliches Denken sich seinen Gegenständen rückhaltlos überlassen muß, um sie begrifflich zu erfassen, ist - in dieser extremen Gegenspannung von Denken und Sein, die zugleich in methodischer Absicht vorgebracht wird - ein Programm des 19./20. Jahrhunderts. Jenseits der künstlich gezogenen Linien zwischen Moderne und Postmoderne ist Phänomenologie zu verstehen 1 S. Kierkegaards Skrifter, hg. v. S. Kierkegaard Forschungszentrum, Bd. 4, Kopenhagen 1997, 23, 13f. (Die Wiederholung).

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Deuser: Instinkt und Symbol

aufgrund der Erfahrung, daß die Wirklichkeit und Wahrheit der Dinge sich weder rein substanziell über ihr Wesen noch rein konstruktiv über Verstandesleistungen binden läßt. Die Unterscheidung von Objektwelt und Subjektivität bleibt als vorläufige Orientierung zwar bestehen, kann aber den Verweisungszusammenhang beider gerade nicht angemessen zum Ausdruck bringen. Daß diese Einsicht zugleich fur die Theologie gilt, ist über die bekannten Schulen der Religionsphänomenologie2 längst deutlich gewesen, hat die Einstellung der dogmatischen Arbeit aber nicht in gleicher Weise erreicht. Erst die Gegenwart gleicht diesen Rückstand aus, indem Phänomenologie als fiindamentaltheologische Disziplin begriffen wird.3 Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Konzepte von Phänomenologie, doch bleiben sie trotz jeweils eigenständiger Prägungen miteinander verwandt. Drei Hauptformen lassen sich, zunächst philosophiegeschichtlich betrachtet, voneinander abheben: 1. Seit Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) kann der Begriff der Phänomenologie im prinzipiellen Sinne einer Wissenschaftseinstellung verwandt werden. Die gleichzeitige Bewegung des Gegenstandsbewußtseins am Gegenstand und bei sich selbst gilt als Königsweg der Wahrheitserkenntnis, und ihre Entfaltung und Prozessualität ist eben die Phänomenologie, d.h. die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins".4 Wer z.B. ein anderer Mensch fur mich ist, hält sich zunächst im glatten Unterschied eines Gegenübers, sagen wir eines chinesischen zu einem deutschen; dieses Gegenüber wird dann, bei genauerer Betrachtung, in die Beziehung integriert gefunden, die den anderen als anderen im eigenen Bewußtsein festhält; um schließlich in der Verhältnisbildung selbst den Begriff der menschlichen Person zu erkennen: daß und wie sie aus solchen Selbstunterscheidungen hervorgeht. 2. Im 20. Jahrhundert wird Phänomenologie konzentriert auf die Konstitutionsleistungen des menschlichen Bewußtseins (Husserl) und des menschli-

2

Vgl. die für die systematische Theologie konstruktive und notwendige Einbeziehung der Religionsphänomenologie bei R. C. Neville, God the Creator. On the Transcendence and Presence of God (1968), Albany 1992 (Part Three), 183ff. - Zur Forschungsgeschichte vgl. J. Waardenburg, Religionsphänomenologie, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), 731-749. 3 Vgl. Marburger Jahrbuch Theologie VI: Phänomenologie, hg. v. W. Härle/R. Preul, Marburg 1994; C. Schwöbel, Phänomenologie II. Theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 465-469; W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1998, 292ff. 4 Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoflmeister, Hamburg 1952, 577 (Wortlaut des ursprünglichen Buchtitels, hier mitgeteilt im Anhang des Hg.); vgl. in Hegels Einleitung, 73: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird."

Phänomenologie

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chen Daseins (Heidegger u.a.).5 Die (transzendentalen) Möglichkeitsbedingungen der Zugänglichkeit von Welt- und Subjekterfahrung werden damit zur Basiswissenschaft vor allen anderen wissenschaftlichen Erklärungen und Anwendungen. Mit einer ebenso grundlegenden wie knappen These von E. Herms formuliert: „'Phänomenologie' ist die Erkenntnis und sprachliche Darstellung der Erkenntnis von Erscheinendem (Offenbarem) als solchem, d.h. in seinem Erscheinen."6 Das menschliche Ich (im schon genannten Beispiel) nimmt sich selbst hin, wird sich selbst evident (hier: entweder deutsch oder chinesisch zu sein) und entdeckt - oder der phänomenologische Beobachter entdeckt - in der Auslegung von anderem die konstituierende Rolle des immer vorausgehenden Ich-Ausgangspunktes oder eigenen Daseins. Vermittelt über anderes erscheint das eigene Selbst, das diesem Vorgang wiederum schon zugrunde lag. 3. Von semiotischer Phänomenologie ist dann zu sprechen, wenn im Unterschied zu Nr. 1 nicht mehr die Orientierung an den Gestalten des Bewußtseins dominiert und im Unterschied zu Nr. 2 nicht mehr primär nach Konstitutionsbedingungen gefragt wird, sondern wenn der universale (erkenntnistheoretische) Tatbestand ernst genommen wird, daß Wahrnehmen, Erkennen und Denken in Zeichenprozessen geschieht.7 Substanz und Subjekt, Gegenstand und Bewußtsein sind vorrangig vermittelt über das Auftreten von Phänomenen, deren angemessene Darstellung in eben diesem Vorgang ihrer Repräsentation geschieht: in Zeichen, und diese bleiben immer bezogen auf die allgemein zugängliche Erfahrungswelt und die Struktur dieser ihrer (semiotischen) Zugänglichkeit. C.S. Peirce nannte diese Erfahrungswelt das Phaneron, die ihm korrespondierende Grundwissenschaft Phaneroskopie*. Der Begriff der semiotischen Phänomenologie besagt dasselbe. Die zeichentheoretische Anwendung des eingeführten Beispiels läßt sich dann nach Art der auftretenden Zeichen gliedern: in die erste ikonische (qualitative) 5

Vgl. die präzisen Darstellungen des (differenten) Ansatzes von E. Husserl und M. Heidegger bei K. Held/H. Hüni, Phänomenologie I. Philosophisch, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 454-461. Von Husserls „Transzendentalphänomenologie" und Heideggers „Ontophänomenologie" wird dann drittens noch die „Existentialphänomenologie" unterschieden, vgl. B. Waidenfels, a.a.O. 461-465. 6 E. Herms, "Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens". Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie, in: Marburger Jahrbuch Theologie VI, a.a.O. (s.o. Anm. 3), 70. 7 Zur Begründung dieser Zeichentheorie vgl. G. Schönrich, Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Frankfurt/M. 1990; H. Deuser, Ch. Sanders Peirce. Kategoriale Semiotik und Pragmatismus, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts. Ein Einführung, hg. v. M. Fleischer/J. Hennigfeld, Darmstadt 1998,220-240; H. Pape, Peirce and his followers, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. v. R. Posner u.a., Tlbd. 2, Berlin/New York 1998, 2016-2040. 8 Vgl. H. Deuser, Phaneroskopie, Phaneron, in: HWP 7 (1989), 460f.

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Deuser: Instinkt und Symbol

Gegenstandswahrnehmung (der chinesischen „Gestalt" sozusagen), solange sie noch namen- und bestimmungslos erscheint; in die zweite indexikalische Gegenüberstellung unter den gegebenen empirischen Bedingungen; und in die dritte symbolische, d.h. verhaltensbestimmende Ausdruckgabe derselben Relation (in der Chinesisch- bzw. Deutsch-Sein zuvor als Ikon und Index aufgetreten sind). In einer semiotisch analogen Gliederung läßt sich die dabei gültige Selbsterfahrung darstellen: ikonisch als Ahnung oder Gefühl; indexikalisch als Differenz zwischen Nicht-Ich und Ich; schließlich symbolisch als Selbst oder Person in kontrollierten Verhaltensbildungen, Handlungs-, Modal- und Zeitdimensionen. Im Vergleich der drei Konzepte von Phänomenologie ist eine Ausgangsdifferenz sofort erkennbar: Während die beiden erstgenannten versuchen, Welterfahrung und Wahrheit über Bewußtseinsgestalten (Nr. 1) und Ichbzw. Daseinskonstitutionen (Nr. 2) herzuleiten, bleibt die semiotische Phänomenologie beim Darstellungsvorgang selbst und seiner Struktur. Wirklichkeit und Wahrheit gehen nicht auf in einem umfassend oder abschließend bestimmbaren geistigen Prozeß, gehen auch nicht als konstitutierte bloß zurück auf ein alles andere aufbauendes, allererstes Ich bzw. Selbst, sondern die Auslegung dessen, was auftritt und geschieht, bleibt wesentlich gebunden an das sich kreativ und veränderlich Darstellende selbst. Das Geheimnis solcher Erfahrung auf der Basis von Kreativität liegt im Nachgeben und Nachgehen gegenüber dem, was sich präsentiert: Chinesisch-Sein zum Beispiel! An den Begriffen Instinkt und Symbol ist dann genauer zu bestimmen, wie nichtkonstruierbare Vorgaben und vernünftige Regelwirkungen zusammenstimmen können. Es leuchtet unmittelbar ein, daß eine so gefaßte semiotische Phänomenologie fur Fragen religiöser Repräsentationen nicht nur offen ist, sondern diese als höchsten Prüffall ihrer Leistungsfähigkeit betrachten muß. Denn die Zugänglichkeit von Kreativität, von Neuem und Unerwartetem betrifft immer den Grenzfall dessen, was sonst unter dem wissenschaftlichen Sinn von Erfahrung verstanden wird: Wie es universal und evolutionistisch gesprochen denn zu Erfahrungen überhaupt kommen kann. - Poesie, religiöser Glaube und Gott sind die kultur- wie wissenschaftsgeschichtlich bekannten Instanzen, auf diese unabweisbare Thematik angemessen reagieren zu können.9 9

Es ist zu beachten, daß dabei nicht vorausgesetzt wird, Religiosität verlange immer den Glauben an einen theistisch (personal) vorgestellten Gott, wie es in bestimmten historischen Religionen der Fall ist - in anderen aber nicht. Bezüglich der semiotisch vorauszusetzenden und notwendigen Vagheit aller Grundbegriffe mit (höchstem) allgemeinem Orientierungswert gilt diese Offenheit für kontextuelle Interpretationen erst recht für die unterschiedlichen Religionen bzw. ihre Theologien. D.h. der Instanz der Gottesfrage im Kontext der christlichen Theologie entspricht z.B. das Tao, das dunkle, formlose Mysterium, im chinesischen Taoismus. Vgl. zu diesem Beispiel fllr die Vagheit von religiösen Begriffen M. Raposa, The Fuzzy Logic of Religious Discourse, in: The American Journal

Instinkt

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2. Instinkt Kant hatte festgelegt (und damit die anders gelagerten Traditionen der englischen Common-Sense-Philosophie negiert ), der „Instinkt" sei bloß eine tierische Naturursache11, der der Mensch - als „der Schöpfung Endzweck"12 - im Moralisch-Praktischen nicht unterliege; umgekehrt ist das MoralischPraktische, die Kausalität der Freiheit, gerade durch Naturunabhängigkeit und Beherrschung der Natur definiert: „Von dem Menschen nun ..., als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwieder er sich keinem Einflüsse der Natur unterworfen halten darf."13

Während so der „Endzweck" ein moralisch-praktischer ist, der „aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beurteilung der Natur gefolgert" werden kann14, ist umgekehrt von der theoretischen Vernunft her gesehen die Naturteleologie in keiner Weise in der Natur selbst irgendwie festzumachen. Das ist letztlich der Einwand auch gegen die „Physikotheologie" (modern gesprochen: den Zusammenhang von Schöpfung und Evolution): Daß bei aller Sympathie fur den Aufweis höherer Ursachen und Zwecke, als sie in einer rein mechanistischen Betrachtung der Natur gefunden werden können, dies doch keinen Anlaß und Grund abgibt, die Realität eines Gottes für nachweisbar zu halten. Die Sperre liegt wiederum im Fehlen „empirische(r) Data"15, worauf die Leistungsfähigkeit der theoretischen Verstandesbegriffe für Kant nun einmal festgelegt ist. Während die praktische Philosophie sich also an der Natur keine Stütze holen darf, ist die theoretische Philosophie an die Möglichkeit von Erfahrung der physischen Natur gebunden. Beides zusam-

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of Semiotics 10 (1993), 101-114, 107; und zum Vergleich östlicher und westlicher Religionen in diesem Beispielfeld R.C. Neville, The Tao and the Daimon. Segments of a Religious Inquiry, Albany 1982, 118ff. Vgl. die Übersicht zum Instinktbegriff von G. Funke/K. Rohde, in: HWP 4 (1976), 408417; den im Gegensatz zum (rationalen) freien Willen eingesetzten Begriff des instinctus naturalis bei Th. v. Aquin, ST 1, q. 83, a.lc; und demgegenüber die englische Tradition repräsentierend D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Vernunft, Buch I, übers, v. Th. Lipps, hg. v. R. Brandt, Hamburg 1989, 240: "In der Tat ist aber, wenn wir die Sache recht betrachten, auch die Vernunft gar nichts als ein wunderbarer und unfaßbarer Instinkt unserer Seele". I. Kant, Kritik der Urteilskraft [KU], A xiii; H 16. KU, A 394. KU, A 393/394. KU, A 427. KU, A 399.

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Deuser: Instinkt und Symbol

men verhindert einen eigentlichen Begriff Gottes.16 Für die semiotische Phänomenologie und unter dem Aspekt des Instinkts ergibt sich folgendes Gegenbild: 1. Die evolutionäre Auffassung von Natur und Geist, von Dingwelt und Denkwelt, also auch: von theoretischer und praktischer Philosophie ist gar nicht mehr daran interessiert, Erfahrungsbegriffe zu limitieren und Kausalität (der Natur und der Freiheit) in zwei gegenläufigen Systemen anzuordnen. Phänomenologisch geht es um das Herausarbeiten der unbeschnittenen Implikationen von Erfahrung überhaupt (während es in den Einzelwissenschaften um die Explikation und Überprüfung bestimmter Erfahrungen geht), und dabei steht im Vordergrund der Neugewinn von Erkenntnissen, orientiert am Auftreten und ersten Wahrnehmen von Dingen und Ereignissen. Peirce" Entdeckung unter diesem forschungslogischen Aspekt ist die Schlußform der Abduktion, die im Gottesargument dann auch die entscheidende Rolle im Namen religiöser Erfahrung spielt. Während die Deduktion als logische „Explikation", die Induktion als überprüfender Erkenntnisgewinn durch Erfahrung aufzufassen ist17, sieht Peirce in der Abduktion (auch „Retroduktion" oder „Hypothese") den für die Evolution des Wissens entscheidenden Schritt der Neuentdeckung, der produktiven, überraschenden Erklärung sonst dunkel bleibender Erfahrungen. Die Abduktion ist die Schlußform der Hypothesenbildung, und zwar der Hypothesen, die Vertrauen verdienen und sich als überraschend praktikabel und zutreffend erweisen werden. Jeder Fortschritt in der Geschichte der Menschheit verdankt sich folglich an seiner Basis der Abduktion: den ,,spontane[n] Konjekturen der instinktiven Vernunft."18 Der ausschlaggebende Grund für das Ineinander von Natur und Vernunft im Begriff des Instinkts ist damit gerade der wissenschaftliche Fortschritt, der

16 Vgl. KU, A 402/403, „Die physische Teleologie treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen; aber kann keine hervorbringen, so weit wir auch der Natur durch Erfahrung nachspüren, und der in ihr entdeckten Zweckverbindung, durch Vernunftideen (die zu physischen Aufgaben theoretisch sein müssen), zu Hülfe kommen mögen. Was hilft's, wird man mit Recht klagen: daß wir allen diesen Einrichtungen einen großen, einen ftlr uns unermeßlichen Verstand zum Grunde legen, und ihn diese Welt nach Absichten anordnen lassen? wenn uns die Natur von der Endabsicht nichts sagt, noch jemals sagen kann, ohne welche wir uns doch keinen gemeinschaftlichen Beziehungspunkt aller dieser Naturzwecke, kein hinreichendes teleologisches Prinzip machen können, teils die Zwecke insgesamt in einem System zu erkennen, teils uns von dem obersten Verstände, als Ursache einer solchen Natur, einen Begriff zu machen, der unserer über sie teleologisch reflektierenden Urteilskraft zum Richtmaße dienen könnte." 17 Vgl. die knappe Erläuterung der Schlußformen im Zusammenhang des Gottesarguments, in: Charles S. Peirce, Religionsphilosophische Schriften [RS], hg. v. H. Deuser, Hamburg 1995,346f. (Text III.6). 18 RS, 347.

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anders gar nicht zu erklären wäre. 19 Analog zu den bewundernswerten Instinktleistungen in der Tierwelt hat der Mensch offensichtlich in der Produktivität seiner Ideen, im Auffinden von Hypothesen, in der Rezeptivität für das Auftreten von neuen Erfahrungen und ihrer erklärenden Verarbeitung eine dermaßen glückliche Hand, daß diese Begabung nicht anders als immer schon von der menschlichen Natur her mitgegeben angenommen werden muß: „Seinem eigenen Bewußtsein die Divination bezüglich der Phänomengründe absprechen zu wollen, das wäre für den Menschen so töricht wie für einen eben flügge gewordenen Vogel, nicht auf seine Flügel zu vertrauen und sein Nest zu verlassen, weil das arme kleine Ding Babinet gelesen und das Schweben in der Luft aus hydrodynamischen Gründen als unmöglich beurteilt hätte. Ja, wir sind gezwungen zu erklären: Wenn wir wüßten, daß unser Impuls, eine Hypothese der anderen vorzuziehen, wirklich zu den Instinkten von Vögeln und Wespen analog wäre, dann wäre es töricht ihm keinen Spielraum innerhalb der Grenzen der Vernunft einzuräumen".20 In diesem Sinne einer primären Schlußform, die Entdeckungen und Erkenntnisgewinn erst ermöglicht und nicht willentlich hergestellt werden kann, spricht Peirce von Instinkt oder der „divinatorischen Kraft" der Menschen. 21 2. Wenn dieser Begründungszusammenhang sogar so weit reicht, daß Peirce die unwiderstehliche Aufdringlichkeit der Gott-Hypothese im medita19 Vgl. RS, 349: „Es gibt einen vernünftigen Grund, eine Interpretation, eine Logik in der Entwicklung der Wissenschaft, und sie beweist für jeden, der vernünftige und bedeutsame Relationen wahrzunehmen vermag, ganz unbestreitbar, daß der menschliche Geist auf die Wahrheit der Dinge eingestimmt worden ist, um zu entdeken, was er entdeckt hat. Das ist das wirkliche Fundament logischer Wahrheit." 20 RS, 348; vgl. entsprechend RS, 287 (Text III.2); RS 366 (Text III.7). - Diese für Peirce' Logik typischen Zusammenhänge zwischen Natürlichem und Geistigem dürften mit den Untersuchungen heutiger Verhaltensforschung (Ethologie) übereinstimmen. Vgl. bereits A. Portmanns Versuche zur Definition des Instinkts, die zuletzt einen „religiösen Instinkt" beim Menschen einschließt (Portmann, Das Tier als soziales Wesen, Zürich [1953] 1962, 138-143); G. Tembrock spricht im Anschluß an Tinbergen, Lorenz und v. Uexküll von einem auslösenden Schema im Organismus, das auf bestimmte Reize „instinktiv" zu reagieren vermag (Tembrock, Verhaltensforschung. Eine Einführung in die Tier-Ethologie, Jena 1961, 44); und auch der von H. Mohr gebrauchte Begriff der inclusive fitness, d.h. der Fähigkeiten, die eigene Gattung zu fördern, weist wohl in diese Richtung (Mohr, Evolutionäre Erkenntnistheorie, in: Horizonte der Biologie, hg. v. P. Sitte, Weinheim 1993, 147-152; 147). (Für entsprechende Literaturhinweise habe ich Frau Cornelia Ullrich, Technische Universität Darmstadt, herzlich zu danken.) - Vgl. auch F. M. Wuketits, Zeichenkonzeptionen in der Biologie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Semiotik. Ein Handbuch, a.a.O., Tlbd. 2, 1723-1732; 1729: „Die Zeichen der Umwelt müssen so gedeutet werden können, daß dem Lebewesen ein Überleben möglich ist." 21 RS, 350.

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tiven Akt der Versonnenheit22 behauptet, so handelt es sich doch nicht um eine verspätete Variante eines der neuzeitlichen Gottesbeweise. Denn „die religiöse Meditation" geschieht „spontan", aus „purem Spiel" und fugt sich nur dem „Gesetz der Freiheit". Die Besonderheit dieses von Peirce vorgelegten „bescheidenen Arguments"23 besteht darin, daß in einem intentionslosspielerischen, anschauenden Sich-Versenken in die eigentümliche Natur unserer Erfahrungen sich die Gott-Hypothese wie von selbst einstellen wird. Dieses Wie-von-selbst aber ist kein theoretischer Beweis, sondern ein instinktiver Vorgang, in dem die Phänomene selbst zum Sprechen kommen. In einer uneindeutigen Verschränkung von Aktivität und Passivität, von Hinschauen und Wahrnehmen, von Dialog und Monolog, von Wirkenlassen und Entwerfen prägt sich die Idee Gottes als des schöpferischen Grundes und Zusammenhanges der Erfahrungen aus.24 Zwei Dinge sind daran fur das Phänomen selbst wie für Peirce' phänomenologisches Vorgehen hervorzuheben: (1) Die Idee Gottes zeichnet sich aus durch ihre Überzeugungskraft, d.h. sie gehört zu den gattungsgeschichtlichen Basis-Überzeugungen („beliefs") der Menschheit, die „weit vertrauenswürdiger [sind] als die am besten gesicherten Ergebnisse der Wissenschaft".25 Das liegt einfach daran, daß mit zunehmender wissenschaftlichen Präzision zwar die Überprüfbarkeit unter bestimmten Rahmenbedingungen optimiert werden kann, daß damit aber die lebensorientierende allgemeine Überzeugungskraft zurückgeht. Instinkte haben auf der Ebene der Basis-Überzeugungen etwas von „Irrtumslosigkeit" (obwohl ihre Resultate der Überprüfung und Kontrolle unterliegen werden), und deshalb sind sie „die große innere Quelle aller Weisheit und allen Wissens"!26 Daß hier zunächst zwischen religiösen und wissenschaftlichen Hypothesen nicht unterschieden werden muß, zeigt zudem die Universalität dieser Phänomenologie der instinktiven Hypothesenbildung. Ursprüngliche 22 RS, 333; vgl. im folgenden den Textzusammenhang RS, 332-339, und auch RS 391 (Text III. 10): „wer wirklich über Gottes Realität nachdenkt ..., der wird tatsächlich an sich selbst entdecken, daß er gänzlich unfähig ist, die Hypothese in Zweifel zu ziehen; und das ist ftlr ihn mehr als ein Beweis - es ist ein rationaler Zwang ... Diese Zeugnisse sollten als Nachweis dafür akzeptiert werden, daß der Glaube an Gott ein natürlicher Instinkt ist, vergleichbar mit dem Instinkt, der die verschiedenen Insekten dazu anleitet, ihre Eier dort abzulegen, wo die Larven Futter im Überfluß finden werden ." 23 Vgl. RS, 355 u. 360. 24 Vgl. RS, 359 (Text III.7); vgl. auch die Darstellung des Gottesarguments bei D.R. Anderson, Strands of System. The Philosophy of Charles Peirce, West Lafayette (Indiana), 1995, 135-184; auch Anderson spricht zur Erläuterung der Versonnenheit ("musement") von einem "phenomenological act", a.a.O. 146. - Vgl. als Kurzdarstellung des Gottesarguments im Zusammenhang von Peirce' Religionsphilosophie H. Deuser, Peirce II, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 170-176. 25 RS, 289 (Text III.2); vgl. RS, 199. 26 RS, 292f.

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Überzeugungskraft eignet eben dem unverstellten Erfahrungszugang überhaupt, darin ist menschliche Erfahrung - in ihrem ursprünglichen Zusammenhang von Natur und Geist - einheitlich. (2) Andererseits ist selbstverständlich zwischen wissenschaftlichen und religiösen Hypothesen ein Unterschied zu machen, das zeichnet gerade den gegenwärtigen Entwicklungsstand der menschlichen Kultur und ihres dadurch bestimmten Naturverhältnisses aus. Die religiöse Erfahrung ist von den kurzlebigeren und auf permanente Revision angelegten (natur-) wissenschaftlichen Hypothesen dadurch abzuheben, daß ihr erstens der in einem tiefen Sinne des Wortes ästhetische Charakter des imaginativen Spiels27 der Versonnenheit anhaftet (wie er den Wissenschaften zwar nicht fremd, aber fur ihre Forschungspraxis doch nicht mehr in diesem Ausmaß bestimmend ist) und zweitens ein „tiefes Gefühl der Verehrung", das die gesamte Lebensorientierung bestimmen wird.28 Semiotisch gesprochen besteht die religiöse Erfahrung aus der natürlichen/geistigen Wirksamkeit ikonischer Qualitäten der Wahrnehmung, deren Ursprünglichkeit und Einheitlichkeit in den evolutionären Zusammenhängen (z.B. Lebendigkeit und Wachstum) wiedererkannt und in religiösen Symbolen zum Ausdruck gebracht wird. Diese Grundlagen religiöser Erfahrung sind phänomenologisch zu erheben, ihre konsequente Ausarbeitung ist Sache der Theosemiotik,29 3. Daß Phänomenologie und Theosemiotik in einer Wissenschaftssystematik Bestand haben, setzt schließlich voraus, daß in der für alle Erfahrungen geltenden Logik die Phänomene des Ursprünglichen und Kreativen überhaupt einen Platz erhalten. Peirce' Arbeiten zur Logik haben u.a. gerade die Absicht zu zeigen, daß eine zweistellige (wahr/falsch) Logik zugunsten einer dreistelligen überarbeitet werden muß und kann30, in der der Fall der Ungenauigkeit, d.h. der (noch) nicht treffbaren Entscheidung (über eindeutig wahr oder falsch) nicht ausgeschlossen werden muß. Es ist diese Logik der Vagheit*1, in der die unvermeidliche, aber produktive Unbestimmtheit von Angaben gera-

27 Vgl. M. Raposa, Peirce and Modern Religious Thought, in: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 27 (1991), 341-369; 355. 28 Vgl. RS, 359f. 29 Diesen Disziplinbegriff hat M. Raposa eingeführt, vgl. Theology as Theosemiotic, in: Semiotics 1992, 104-111; bes. 105; bzw. ders., Peirce's Philosophy of Religion, Bloomington/Indianapolis 1989 (chap. VI). 30 Darin liegt zugleich der genuine Zusammenhang von Peirce' Phänomenologie und Semiotik, vgl. zur Übersicht H. Pape, Peirce I, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 164-170; hier: 165ff. 31 Vgl. zur Darstellung und zu Belegen M. Raposa, The Fuzzy Logik of Religious Discourse, a.a.O., lOlff. - Vgl. RS, 289: "Kein Begriff, auch kein mathematischer, ist absolut präzise; und manche der allerwichtigsten Begriffe, die wir täglich gebrauchen, sind extrem vage."

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de deren Wert ausmacht. Daß dies selbstverständlich auch und gerade für alltägliche Begriffe des Common Sense und ebenso fur die Sprachsymbole der Ästhetik, Ethik und Religiosität gilt, schaltet diese Erfahrungen und ihre wissenschaftlichen Darstellungen nicht etwa aus dem Wissenschaftssystem aus, sondern gibt ihnen die phänomenologische Sonderstellung von Begriffen höchster Orientierungs- und instinktiver Überzeugungskraft. Für den Gottesbegriff heißt das: „Damit bleibt der Gott-Hypothese nur ein Weg, wie sie selbst zu verstehen ist, nämlich der, vage und doch genauso wahr zu sein, wieweit sie bestimmt ist und wieweit sie kontinuierlich dazu tendiert, sich selbst immer mehr - und das ohne Grenzen - zu bestimmen."32

So wie „hier" und „dort", „groß" und „klein", „schön" und „gut", „Liebe" und „Person" etc. vage Begriffe darstellen, die als solche in Gebrauch sind, so sind sie selbst zugleich Zeichenprozesse, die ihre eigene Bestimmungsfahigkeit mittragen; und die Wirkung derselben Begriffe vollzieht sich ebenfalls als kreative Zeicheninterpretation.33 Weil diese Zusammenhänge sich immer zugleich als natürliche und geistige darstellen, folgert Peirce, daß die instinktive, anthropomorphe „Sentimentalität" zum Phänomen der Zeichenprozesse selbst gehört: „It is the instincts, the sentiments, that make the substance of the soul. Cognition is only its surface, its locus of contact with what is external to it... If I allow the supremacy of sentiment in human affairs, I do so at the dictation of reason itself; and equally at the dictation of sentiment, in theoretical matters I refuse to allow sentiment any weight whatever."34

3. Symbol In diesem Jahrhundert war fur die theologische Diskussion, jedenfalls in der protestantischen Theologie, der von P. Tillich bereits in der ersten Jahrhunderthälfte auf religionsphilosophische Grundlage entwickelte Symbolbegriff maßgeblich geworden - sofern überhaupt auf die Zeichenvermittlung von Religiosität geachtet wurde. Das Denksystem Tillichs bringt allerdings zwei Schwierigkeiten mit sich, die in der semiotischen Diskussion inzwischen 32 RS, 339. 33 Vgl. M. Raposa, a.a.O. 110, "On my view, the powerful feelings sometimes evoked by religious symbols are not, with respect to the process of interpreting such symbols, to be regarded as epiphenomenal. Religious experience is itself semiosis, itself a mode of interpretation, part of the vague meaning of vague religious symbols and utterances." 34 C.S. Peirce, Reasoning and the Logic of Things, ed. by K.L. Ketner/H. Putnam, Cambridge (Massachusetts) 1992, 110/112. Vgl. RS (Einleitung), XXVII.

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auch klar markiert worden sind35: (1) Tillich trennt zwischen „Zeichen" und „Symbol" in der Weise, daß Zeichen auf äußerliche Verweisfiinktionen reduziert erscheinen, während allein Symbole in einem ontologischen Sinn an der „Tiefe" des Seins partizipieren lassen - und in dieser Funktion unersetzbar sind. (2) Theologisch kommt es dadurch zu der Spannung, daß um der existentiellen Konkretion religiöser Sprache willen alle Gottesaussagen symbolisch sein müssen - bis auf diese ontologische bzw. religionsphilosophische Theoriebildung selbst; sie bestimmt quasi formal, d.h. nicht-symbolisch, über Gott als Grund des Seins überhaupt. Da dieser Seinsgrund menschlich aber immer nur symbolisch zugänglich sein kann, zeigt Tillichs Symbollehre eine spezifische „Gebrochenheit", die er theologisch gesehen als Notwendigkeit der Vermittlung des Unbedingtem im Bedingten auslegt und in der Begriffsbildung vom „gebrochenen Mythos" auch treffend markiert hat.36 Es ist die zeitgenössische Theologie R.C. Nevilles, die semiotisch belehrt und in der Tradition amerikanischer Religionsphilosophie genau an diesem Motiv der Gebrochenheit anknüpft37 und in eigener Konstruktivität eine - in bestimmtem Sinne wiederum phänomenologische - Lehre vom religiösen Symbol entwirft. Deren Grundzüge sollen im folgenden helfen, die Forderungen und Leistungen einer semiotischen Phänomenologie genauer fassen zu können. 3.1

Symbolbegriff

Neville arbeitet, so das Vorwort des Buches, mit einem „allgemeinen" Symbolbegriff, der alle Arten „religiöser Zeichen des Göttlichen" umfaßt.38 Darin liegt einerseits eine deutliche Differenz zum formal einheitlichen und inso39

fern enger gefaßten, strukturuniversalen Symbolbegriff von Peirce , andererseits aber konzipiert Neville die Symbolfiinktionen ganz analog zur kategorialen Dreistelligkeit der Peirceschen Semiotik (vgl. XVIII, 19): Ein Zeichen bedeutet etwas (zugänglich durch „meaning-analysis"), indem es sich auf 35 Vgl. H. Deuser, Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Semiotik. Ein Handbuch, a.a.O., Tlbd. 2, 1743-1760; hier: 1751ff.; vgl. auch: ders., Trinität und Relation, in: Marburger Jahrbuch Theologie X, hg. v. W. Härle/R. Preul, Marburg 1998, 95-128; hier: 124-128. 36 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 3 1956, 259. 37 R.C. Neville, The Truth of Broken Symbols, Albany 1996; vgl. zur ausdrücklichen Aufnahme Tillichs durch Neville, a.a.O. Xf. 38 Neville (1996), XXII. Damit soll an den Symbolbegriff E. Cassirers angeknüpft werden, ohne daß dies vom theoretischen Konzept her diskutiert würde. Zu Cassirers Ableitung und Fassung des Symbolbegriffs vgl. H. Paetzold, Cassirer und seine Nachfolger, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Tlbd. 2, Berlin/New York 1998,2191-2198. 39 So von Neville selbst ausdrücklich hervorgehoben, vgl. a.a.O. XIXf. (n. 15). - Im folgenden werden Nachweise, die sich auf diesen Band beziehen, direkt in Klammem im Text gegeben.

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etwas bezieht („refer to"), und dieser Vorgang steht im Kontext von Interpretationen. Neben diesen drei Grundmerkmalen des Symbols nennt Neville aber noch drei weitere Symbolfiinktionen, die sich - orientiert am Peirceschen Zeichenbegriff - allerdings allesamt als Spezifizierungen der Interpretantenrelation auffassen ließen (20f.): Verpflichtung („engagement"), Wahrheit und Konsequenzen. Mit diesen drei Funktionen ist Neville wiederum Tillich sehr nahe, der u.a. von der „Selbstmächtigkeit" und „Anerkanntheit" religiöser Symbole gesprochen hatte.40 Auch die notwendige Unterscheidung zwischen wahr und falsch, daß Symbole ideologisch vergötzt oder dämonisch mißbraucht werden können (20), schließt an Tillich an und vor allem der Referenzbezug des religiösen Symbols: daß es auf etwas verweist, wird als ontologisches Problem - ganz ähnlich wie bei Tillich - festgehalten. Anders allerdings ist die Betonung des hier neu und umfassend reflektierten zeichentheoretischen Zugangs, des „semiotic approach" (28). Theologische Inhalte sind Repräsentationen - dies semiotisch zu durchdenken und im ganzen gelten zu lassen, ist das Neue der hier vorgelegten Symboltheorie (29). Wenn die ontologische Frage darin aber bestehen bleiben soll, wenn ausdrücklich abgewiesen wird, religiöse Symbole könnten unabhängig von der Referenzfrage, d.h. bloß funktional (in soziologischer, psychologischer, religionswissenschaftlicher Beschreibung) je ausreichend erfaßt werden, dann entsteht hier die offenbar alles entscheidende Schnittstelle: Worauf verweisen denn religiöse Zeichen? Diese Frage beschäftigt jedenfalls Religionsphilosophie, Religionskritik und Theologie in der westlichen Tradition (vgl. 261), und auch wenn Neville bemüht ist, diesen kritischen Punkt sozusagen einzupakken in die Fülle religionsphänomenologischer und religionsgeschichtlicher Vergleichsmaterialien, er suspendiert die Frage der semiotischen Referenz nicht. Religiöse Symbole verweisen auf das Göttliche („the divine", 40), die Repräsentation „überträgt" („carry over") die Wahrheit des Repräsentierten (vgl. 264ff.); aber - und darin liegt nun die ausschlaggebende Nähe und Differenz zu Tillichs existenz-ontologischem Denken: Religiöse Symbole verweisen auf Grenzzustände des Endlichen/Unendlichen, „boundary conditions" (XVIII), „borderline or worldmaking things" (11). D.h. das religiöse Objekt ist weder gegenständlich direkt (z.B. der Gott) noch ontologisch allgemein der Verweisungsbezug (z.B. mit Tillich die ontologische Tiefendimension überhaupt, vgl. 12), sondern das Göttliche ist die Grenzlinie, an der repräsentiert wird, was die Welt zur Welt macht: „The logic of the borderline contingency conditions ... is that they mark the boundary between the finite and the infinite ... The finite condition is disclosively referred to as actual; its infinite contrast is transcendent ... the boundary conditions are imaged as

40 Vgl. H. Deuser (1998), 175Iff. 41 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 3 1956, 20f., 160f.

Symbol

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finite/infinite contrasts ... I propose to use finite/infinite contrast as a technical term for the primary direct or indirect referent of religious symbols. Finite/infinite contrasts are what I mean by the divine. They deserve that meaning ... because they mark what is experienced as a special condition defining worldliness or world construction" (58).

Die Repräsentation repräsentiert diesen Kontrast, diese Gebrochenheit, sie ist immer eine Vermittlungsleistung, und sie ist darin - in allen Phänomenbereichen - durchgängig semiotisch zu erfassen. Im Unterschied zu Tillich, der durchaus dieselbe Gebrochenheit durch Angewiesenheit auf Vermittlung vor Augen hatte, geht es hier nicht allein und alles andere fundierend um existentielle Unbedingtheit, die durch religiöse Symbole vermittelbar erscheint, sondern um die kosmologische Bedeutung der Religiosität: „worldconstruction elements" (54) werden religiös symbolisiert, und diese Unbedingtheit als Grenzbedingung ist durchgängig semiotisch vermittelt und also bestimmbar. 3.2

Imagination

Wenn ontologische Referenz des religiösen Symbols behauptet wird, so muß diese in ein religionsphilosophisches Gesamtkonzept der Wirklichkeit einzubeziehen sein. Denn sobald es um Wirklichkeitskonstitution im ganzen geht, kann diese nicht nur peripher, psychologisch-funktional, religionsgeschichtlich vereinzelt oder als soziologischer Tatbestand, der nun einmal vorkommt, festgehalten werden. Nevilles Religionsphilosophie ruht auf einer Basis, die er als Gesamtentwurf einer „Axiology of Thinking" vorgelegt hat42, d.h. einer Wertlehre des Denkens überhaupt, nach der menschliches Verhalten bezüglich Wirklichkeit und Wahrheit immer auf Wertimplikationen beruht: Auswahlen, Bevorzugungen, Normierungen. Und nicht nur das. Die evolutionäre, die natürliche Entwicklung des Kosmos selbst ist - darin schließt sich Neville Peirce ebenso an wie Whitehead - überhaupt nur verständlich, wenn selektive Entscheidungsprozesse unterstellt werden, an denen menschliches Verhalten - in gewissem Sinne dadurch naturalistisch erklärt - schließlich partizipiert. Diese Wertlehre steht selbstverständlich auch hinter der semiotischen Theorie religiöser Symbole, aber nur punktuell wird diese Voraussetzung explizit; so vor allem da, wo der ontologische Rang und Vorrang der Religiosität zum Thema wird: im Begriff der Imagination. Was Nevilles Wertlehre des Denkens von ihrer Strukturanlage her auszeichnet, ist eine immer vierfache Perspektive, die er philosophisch aus Piatons Liniengleichnis entwickelt43, und die durchgehend als kosmologische Hypothese Anwendung findet: (1) Die ursprüngliche Weltzugänglichkeit 42 Vgl. R.C. Neville, Reconstruction of Thinking, Albany 1981; Recovery of the Measure, Albany 1989; Normative Cultures, Albany 1995. 43 Neville (1981), 50ff.

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- gerade einschließlich des uns Menschen Vorbewußten - geschieht über Imagination. - (2) Das so Entdeckte steht in Verstehenskontexten vielfaltiger Art, die als Interpretation systematisiert werden. - (3) Die theoretische Kontrolle solcher Interpretationsvorgänge geschieht nach bewußten Modellen und Strukturen, das Aufgabenfeld der Theorie. - (4) Dies alles mündet schließlich in die Praxis von Denken und Verhalten: Verantwortung. In dieser Übersicht ist zunächst sicher nur eine Gesamtgliederung unter vager inhaltlicher Perspektivierung erkennbar. Die zugrundeliegende kosmologische Hypothese aber wird deutlicher dadurch, daß das argumentative Vorgehen in allen Teilen nach dieser Vierteilung ablaufen kann, sofern diese nicht einfach ein bloß theoretisches Muster abgibt, sondern das tatsächliche Klarwerden von Theorie-Praxis-Feldern in Szene zu setzen vermag: (1) Auf entstehende und vorliegende Bilder folgt (2) deren Diskussion im Verständigungszusammenhang; (3) die dafür notigen 77zeon'ebildungen werden angeschlossen und (4) die durchlaufende Wertproblematik im Feld der Verantwortung krönt den jeweiligen thematischen Durchgang.44 Für die Religionsphilosophie nun im engeren Sinne ist bei diesem Vorgehen natürlich die erste Perspektive der Imagination fundamental. Denn die endlich/unendlich-Grenze entsteht in ihrer ursprünglichen Überzeugungsbildung eben nicht in der Theorie, sondern in der menschlichen Situationsgebundenheit - die dann über Interpretationen, Theorie und Verantwortlichkeiten weitergeführt wird. Nevilles Vorgehen ist insofern typisch fur den amerikanischen Pragmatismus, weil die Theoriebildung in die immer schon vorliegenden Glaubens- und Handlungsformen eingebettet vorgetragen wird. Mit der Imagination ist die Basis all dessen ins Bild gerückt, und genau so erscheint in der Ausführung der Theorie religiöser Symbole auch deren stärkster Begründungszusammenhang: Die Referenz-Problematik des religiösen Symbols ist zuerst eine Frage nach der Bedeutung der Imagination. Weil jene mit dieser unmittelbar verknüpft ist, ist Religiosität fundamental: als bildkräftig-emotionaler Einstieg in jeden nur denkbaren Erfahrungszusammenhang. Das Kapitel Symbols Break on the Infinite (35ff.) widmet sich dem s e m i tischen Referenzproblem, beginnt mit einer Aufnahme der dreistelligen Objektbeziehung des Zeichens (nach Peirce) als Ikon, Index und Symbol, und wendet diese dann in den zwei folgenden Abschnitten in die Diskussion der Imagination. Gemäß dem oben beschriebenen Verfahren entspräche hier die Analyse der Zeichenformen an erster Stelle dem (1) bildhaften Einstieg, die „religiöse Imagination" an zweiter Stelle dem (2) Interpretationskontext, die „Imagination als Verpflichtung" dem (3) Theoriekontext und schließlich die erreichte Referenzbestimmung der (4) Verantwortung. Ohne dieser Abfolge hier weiter nachgehen zu wollen, soll im folgenden allein die Verbindung 44 Vgl. Neville (1981), 31.

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von Imagination und Religiosität hervorgehoben werden, wie sie sich im wesentlichen im Abschnitt 2: „Imagination as Religious" findet (47-58). 3.2.1 Die ersten vier Aspekte, die Neville in diesem Zusammenhang nennt, sind allgemein semiotischer Art, und im Rahmen von Nevilles axiologischer Theorie bedeutet das, sie sind deskriptiv und normativ zugleich. Deskriptiv, sofern das Auftreten von Ereignissen im Erfahrungsfeld „naturalistisch" (52) verstanden wird, d.h. die Frage nach dem, was erfahren wird, geht nicht von der Trennung zwischen Geist und Natur aus, sondern fundiert diese spätere Unterscheidung eben im Phänomen des Auftretens von etwas. Normativ, sofern in diesem Auftreten bereits durch die Bezugnahme, d.h. das Hervortreten aus einem Hintergrund, der nicht in derselben Weise bewertet wird, Wertentscheidungen impliziert sind (52). Diese beiden semiotischen Hinsichten erläutert Neville jeweils dreifach: a.a) Imagination ist - in dem hier zur Debatte stehenden prinzipiellen Sinn - nicht Phantasiefahigkeit (obwohl diese anthropologische Seite selbstverständlich auch von Bedeutung ist), sondern Einbildungskraft. In diesem Sinne knüpft Neville an Kants Begriffsbestimmung an, die die ursprüngliche Synthesisleistung der menschlichen „Vorstellung" braucht, um überhaupt Erfahrungserkenntnis plausibel machen zu können.45 Neville meint diese allererste Vorstellung aber weder bloß „transzendental" (im Sinne Kants) noch nur raumzeitlich determiniert, sondern weit umfassend (insofern wiederum: „naturalistisch") in einem phänomenologisch-lebensweltlichen Sinn (49): Erfahrung stellt sich als erstes immer schon wie eine „Welt" ein, in Bildern (48), die raumzeitlich, wertend, intentional, verpflichtend etc. auftreten. Diese ursprüngliche Einheit von Welt und Imagination ist nicht mehr zu hintergehen, jede kritische Bezugnahme muß sich wiederum auf dieselbe Einbildungskraft stützen. Imagination ist in diesem Sinne ein allererstes46, sie ist im Blick auf den Objektbezug und mit Peirce' Klassifikation der Zeichen gesprochen - ikonisch (50). a.b) Das imaginative Heraustreten von etwas hebt sich ursprünglich von anderem ab, im ikonischen Rahmen gedacht aber noch nicht bezogen auf 45 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 152: „so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen ... muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein". Vgl. A 99-110 zu den drei Synthesis-Formen der „Apprehension", der „Reproduktion" und der „Rekognition". Vgl. auch ausführlicher Neville (1981), 139ff. 46 Mit Peirce' Kategorienlehre gesagt: ein bzw. das Phänomen von Firstness; und semiotisch gesehen differenzieren die drei ersten Aspekte Nevilles (a.a bis a.c) innerhalb dieser Stufe gemäß den Zeichenformen des Quali-, Sin- und Legizeichens.

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andere Wahrnehmungsgegenstände, sondern vom dann unspezifischen, aber doch stillschweigend mit-präsenten „Hintergrund" (51). Damit ist, wie gesagt, Wertung impliziert. a.c) Was damit erscheint („appearance") ist die Realität (51 f.), d.h. hier greift keine Trennung von Innen- gegen Außenwelt, und das ist der Fußpunkt aller Erfahrung. b.a) Die Bedeutung solcher Imagination liegt nun in ihren Bewertungen, die sie mitbringt. Im Auftreten von etwas selbst liegt dann sein „intrinsischer Wert" (52). b.b) Wird auf das Zusammenwirken mit anderem geachtet, z.B. auf kausale Verknüpfungen, so ist entsprechend und an zweiter Stelle vom „konditionalen Wert" zu sprechen (53). b.c) Daß das Auftreten von etwas in bestimmter Perspektive geschieht und diese die jeweilige Basisrealität ausmacht, ist an dritter Stelle wiederum der entscheidende phänomenologische Befund. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, erst menschliche Wahrnehmungsperspektiven projizierten sozusagen die Wertungen in die Phänomene (die ansonsten neutral seien), sondern kosmologisch-naturalistisch geht hier das Auftreten von erster Erfahrung genau diesen Unterscheidungen (wie innen/außen, wertend/neutral) voraus. Auf der hier eingenommenen Ebene der Imagination gilt deshalb: „the world is as it appears to be" (53). Zusammengefaßt: Im Rahmen von Imagination läßt sich sagen, daß „Bilder" konstitutiv sind für die „ikonische Erschließung" der Welt (53). Damit sind die eher formal-philosophischen Grundlagen vorgelegt, die im folgenden zur Klärung der anfanglichen Behauptung fuhren sollen, daß die ursprüngliche Verfassung menschlicher Erfahrung als solche „religiös" ist (48). Dies ist nun ausdrücklich religionsphilosophisch bzw. theologisch noch zu zeigen. 3.2.2 Es sind zwei voneinander unabhängige Gründe, die zur Stützung der These angeführt werden, Religion erkläre sich aus Imagination und sei insofern in gleicher Weise ontologisch bzw. kosmologisch fundamental wie diese. a) Jetzt ist die schon im Zusammenhang der Referenz des religiösen Symbols genannte Begründung der „world-construction elements" (54) zu wiederholen: Unter den im Rahmen von Imagination auftretenden Bildern sind solche, die sich auf die Weltentstehung überhaupt beziehen, „boundary images defining the dimensions of worldliness itself (54). Was Religion bzw. Religiosität ausmacht, ist also begründet in der Notwendigkeit von Imagination, zu der die Weltentstehungsbilder ebenso notwendig hinzugehören. Religionsgeschichtlich geht es dabei um Mythen der Weltentstehung, schöpfungstheologisch gesprochen um die Unterscheidung von Gott und Welt im Anfang aller Dinge. In der Moderne macht der Konflikt zwischen Naturwis-

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senschaften und Theologie insofern keine Ausnahme, als die Bilder auf astronomischer und physikalischer Basis nichts anderes versuchen, als das, was in den alten Religionen mit technisch gesehen einfacheren Mitteln und aus unserer Sicht - vorwissenschaftlich imaginiert wurde. Es handelt sich also so oder so um Grenzbilder, die beständig wechseln, wie es die Religionen ebenso zeigen wie die Wissenschaften. Der Konflikt zwischen Religion genauer: dem biblisch gebundenen Christentum der Neuzeit - und dem sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbild ergab sich nur deshalb, weil die Unterschiede nicht auf derselben Ebene der Imagination, sondern als Gegeneinander von Objektivität und Illusion erscheinen mußten (54, n. 25). Bei selbstverständlich gültiger Differenz der Weltbilder gemessen an den mathematisch-technischen Bedingungen ist heute aber auch klar, daß bezüglich ihres Erklärungswertes fur das Weltsein der Welt zwischen Schöpfungsmythen und Urknall-Hypothese ein fließender Übergang besteht. Der entscheidende Unterschied zwischen Mythologie und wissenschaftlicher Abstraktion liegt nicht in der Imagination der Grenzbedingungen, die zu beschreiben versucht werden, sondern eben in der Abstraktionsfahigkeit. Die Religionen und persönliche Religiosität bis heute sehen in Bildern ihrer kulturellen Tradition „the real world-important elements" (54). Dies läßt sich heute übersetzen in die Ermöglichung von „Bestimmtheit" (55, n. 27), und diese Abstraktion negiert nicht die Bilder, sondern zeigt ihre Funktion an. An dieser Stelle ist auf Nevilles metaphysische bzw. schöpfungstheologische These zu verweisen, wie er sie seit 1968 in God the Creator vertritt: daß fur die christliche Theologie der Schöpfungsakt eben die Unterscheidung von Unbestimmtheit des ursprünglich Schöpferischen und Bestimmtheit des Geschaffenen ausmacht.47 Läßt sich dadurch die Spannung zwischen Wissenschaft und Religion in gewissem Sinne aufheben, so wird die These um so klarer, daß Religion genau dort ihr Funktion hat, wo auf der Basis von Imagination „Bilder" bezüglich der „Grenzbedingungen fur die Welt als solche" auftreten.48 Die Pflege dieser Grenzbedingungen geschieht in der Religion aber nicht allein in abstrakter Ausformung (das wäre u.a. die Aufgabe der Theologie), sondern in Ritualen und Praxisformen (55). Hier liegt die eigentliche Stärke der Religiosität. Selbst dann, wenn in modernen Kulturen, in denen Wissenschaften, Kunst und Religion getrennt auftreten, Grenzbedingungen gar nicht mehr ausschließlich von der traditionellen Religion formuliert werden, gilt deshalb, daß die religiöse „Funktion" dieser Grenzbedingungen keineswegs verschwunden ist (55). Um diese Funktion wirklich wieder zur Geltung zu brin-

47 Vgl. H. Deuser, Neville's Theology of Creation, Covenant, and Trinity, in: American Journal of Theology & Philosophy 18 (1997), 217-229. 48 Neville, a.a.O. 55, „Imagination cannot frame its experiential elements in a human way without the orienting importance of certain pervasively or seasonally appearing images that function as boundary conditions for worldliness."

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gen, muß nur umgekehrt gesehen werden, daß heute die Religionen in engster Verbindung mit „Wissenschaft, der Kunst und normativen Praxisformen" stehen müssen (55). Wo Grenzbedingungen des Weltlichen überhaupt auf der Basis von Imagination auftreten und angemessen gepflegt werden sollen, da ist Religion. b) Auch der zweite Grund für die innere Bindung von Religion und Imagination verweist auf Nevilles Metaphysik in God the Creator, nämlich auf den Begriff der Kontingenz (56). Es ist zunächst sicher einfach ein religionsgeschichtliches, aber heute auch allgemein philosophisches Faktum, daß Symbolisierungen der „Grenzbedingungen von Welt überhaupt" sich um das Kontingenzproblem sammeln, in Nevilles Formulierung: „That ... the world itself is experienced as dependent on those boundary conditions" (56). Mit anderen Worten: Es geht um die Endlichkeitserfahrung, die Nichtnotwendigkeit dessen, was Menschen erfahren, das Andersseinkönnen, und - vor allem auf das konzentriert, was Menschen zufällig zustößt, ohne daß sie es ändern könnten - das, was O. Marquardt das „Schicksalszufällige" genannt hat.49 Neville räsonniert nun nicht über Endlichkeitserfahrung und Schicksal, sondern die den Menschen erfahrbaren und theoretisierbaren kosmologischen „Bestimmtheiten" zeigen sich in ihrer Kontingenz als „Abhängigkeit".50 Dann aber ist, was ist, herkünftig vom schöpferischen Akt Gottes, der als Unbestimmtheit {ex nihilo) dem vorliegenden Bestimmten (dem Geschaffenen) vorausgeht. Neville trägt hier dieses Gottesargument nicht explizit vor, wohl aber die dazu gehörenden Grundkategorien von „essential features", „conditional features" und „harmony" (57), ein Dreischritt, der sich wiederum mit Peirce' kategorialer Semiotik interpretieren ließe (was Neville selbst an dieser Stelle nicht tut). Ich versuche hier eine entsprechende Paraphrase von Nevilles Gedankengang, auf dessen Basis nämlich erst klar wird, warum die Grenzbedingungen, wie sie im religiösen Symbol gefaßt sind, gerade als Grenze von Endlichkeit/ Unendlichkeit formuliert werden müssen. Das erste Element - so wie alles, was in irgendeiner Weise bestimmt ist, ein wesentliches Merkmal („essential! feature") für sich selbst haben muß ist folglich das der Einheit bzw. der individuellen Einzigartigkeit („uniqueness", 57). Gerade diese ist kontingent und insofern religiös symbolisiert; schöpfungstheologisch z.B. im Gedanken der imago Dei oder der Erwählung. Das zweite Element ist die Relation zu anderem, die ebenfalls jede Bestimmtheit mit sich bringt („conditional feature"). Der Zusammenhang der Dinge ist - gegenüber dem Chaos - auf diese Weise zum Ausdruck gebracht; schöpfungstheologisch z.B. in der Anordnung der Werke Gottes am Anfang 49 O. Marquardt, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart (1986) 1996, 128. 50 Zu Nevilles kosmologischem Argument, gestützt auf Kontingenz als Abhängigkeit, s.o. Anm. 47.

Symbol

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symbolisiert. Das dritte Element ergibt sich aus dem faktisch ausbalancierten Dasein von Bestimmtheit, die Neville als „Harmonie" bezeichnet: daß etwas überhaupt so bestehen kann, wie es ist. Schöpfung und Erhaltung symbolisieren diese ausbalancierte Harmonie des kontingent Bestehenden. Weil nun Kontingenz; in dieser Dreigliedrigkeit gedacht; als Abhängigkeit vom Unbestimmten (dem Unendlichen) nur erfaßt werden kann - deshalb ist metaphysisch gesehen das Unendliche die Bedingimg des Endlichen (creatio ex nihilo); kosmologisch läßt sich dies am Endlichen als kontingent verfaßt selbst zeigen („essential" bzw. „conditional features" und Harmonie), und religiös symbolisiert tritt diese schöpferische Voraussetzung als Grenzbedingung auf, die dann konsequent nur als „gebrochene" repräsentiert werden kann: an der Linie von endlich/unendlich. Im Kontext der Imagination muß deshalb keine Definition des Unendlichen oder des Göttlichen vorgelegt werden, es soll aber deutlich werden, daß der schöpferische Übergang von NichtWelt zu Welt gemeint ist, wenn von Grenzbedingungen des Endlichen/Unendlichen gesprochen wird. Das Endlich-Kontingente ist jedenfalls nicht einfach das Endlich-Kontingente und nichts sonst, sondern es fragt in Gestalt von Imagination nach seinen Bedingungen, wie es zu Kontingentem kommt. Hier liegt die unaufgebbare Bedeutung der religiösen Symbolisierung (vgl. 58). 3.3

Die Wahrheit des religiösen Symbols

Von religiösen Symbolen - als semiotisch analysierbaren Repräsentationen wird verlangt, daß sie nicht nichts, sondern etwas repräsentieren. Ihre ObjektReferenz ist aber als das Göttliche im Sinne der Grenzbedingungen alles Welthaften bestimmt worden, d.h. in einer „Indirektheit" (56) des Verweisens, die eine Kontrolle bezüglich der wahren oder falschen Repräsentation schwierig macht. Nun liegt auch in diesem Punkt eine allgemeine philosophische Wahrheitstheorie Nevilles vor (240), nach der Wahrheit gefaßt wird als „Wertübertragung vom Objekt eines Zeichens auf den Interpretationszusammenhang".51 Diese Definition verdankt sich einerseits wiederum Peirce' dreigliedrigem Zeichenbegriff, andererseits nennt Neville ausdrücklich Zusätze im Interpretantenbereich, die die jeweilige Wertübertragung in bestimmte Perspektiven einordnen, so daß es zu einer Verdoppleung auch der Zeichenstruktur kommt: das Zeichenereignis selbst (in seiner Dreistelligkeit von Objekt, Zeichen, Interprétant) wird noch einmal in Perspektiven von bestimmten Kontexten aus, darunter „semiotische", piaziert. Dies einmal vorausgesetzt bleibt es aber dabei, daß religiöse Symbole nach diesem Muster 51 Vgl. a.a.O. 240, „Truth is the carryover of value from the object into the interpreters' experience by means of signs, as qualified by biological, cultural, semiotic, and purposive contexts of the interpreters." - Vgl. auch Neville (1989) 65ff.

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Deuser: Instinkt und Symbol

von Wahrheit als Wertübertragung zu behandeln sind, und die dazu wesentlichen Zusatzbedingungen sind diese: Erstens gilt, wie gezeigt, daß „religiöse Objekte" Endlichkeit als Bestimmtheit „transzendieren" (242), also die Grenzbedingungen des Welthaften betreffen; zweitens gilt deswegen, daß als „wahr" nur solche religiösen Symbole inirage kommen, die diese spezifisch „gebrochene" Grenzbedingungsstruktur mitbringen (243). Auf dieser Basis wird es für Neville möglich, eine ganze Reihe von gesellschaftlichen, historischen, psychologischen, religionsgeschichtlichen etc. Kontexten in Betracht zu ziehen, in deren Rahmenbedeutung die Wahrheitsfrage jeweils eingeordnet werden muß. Man kann dies eine „pragmatische Interpretation" (243) nennen, religiös spezifischer sind aber die konkreten Formen solcher Pragmatik, nämlich die jeweiligen religiösen Lebenssituationen, wie sie traditionell geprägt und damit symbolisch in bestimmten Grenzen auch festgelegt sind (244ff.); und die jeweilige Frömmigkeit („religious devotion", 252ff.), in deren traditionellen, kultischen, lebensorientierenden Praxisformen der Symbolgebrauch überhaupt erst richtig verstanden werden kann. Die Richtigkeit dieser Plazierungen und Phänomenbereiche ebenfalls vorausgesetzt stellt sich die Wahrheitsfrage pur eigentlich erst dort, wo Theologien vorliegen, wie sie in westlicher Tradition über philosophische Metaphysik und Erkenntnistheorie, aber auch über die Religionskritik der Neuzeit eigenes theoretisches Profil gewonnen haben (259ff.). Neville möchte ausdrücklich nicht - das zeigt die Anlage des ganzen Buches - diese Ebene allen anderen vorziehen, so als wäre ein theoretischer Gottesbeweis ausreichend, um lebendige Religiosität in der Vielfalt ihrer Formen zu verstehen, sondern er ordnet die theologische Theorie der religiösen Erfahrung pragmatisch zu. Wahrheit hat in diesem Sinne mit Treue („faithfullness") zu tun, deshalb kann die theologische Wahrheitsbestimmung nicht von den praktischen Kontexten der Frömmigkeit (267) absehen. Die religiöse Symbolisierung muß weder erst erfunden werden, noch ist sie als subjektiv dann an einer quasi objektiven Hintergrundfolie zu messen. Dieser Prüfansatz geht an der geschichtlichen bzw. pragmatistisch verstandenen Realität vorbei. Neville kann sich in diesem Punkt auf Peirce ebenso wie auf Hegel berufen (266). Auch dies nun vorausgesetzt, wie ist die theologische Wahrheit zu bestimmen? (1) Die religiöse Gegenständlichkeit der Grenzbedingungen endlich/unendlich, das „Göttliche" wird interpretativ - kraft religiöser Symbole „übertragen" (264). (2) Diese Übertragung geschieht in den genannten Interpretationskontexten, und diese sind nicht allein die Philosophie, sondern etwa Traditionsbildungen und ihre „grand narratives" oder Frömmigkeitsformen und ihre Entwicklungen (265). Z.B. wird die Wahrheitsfrage bezüglich der Jungfrauen-

Phänomenologie und Religiosität

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geburt nur im Rahmen solcher Traditionen sinnvoll zu piazieren und zu beantworten sein. (3) Eine bestimmte Wahrheitsbehauptung der Theologie ist - wie alle anderen Wahrheitsbehauptungen auch - eine Hypothese (265), die, fallibel im Sinne von Peirce' Wissenschaftsauffassung, zur Überprüfung ansteht; die also korrekturfahig ist und einer „theologischen Öffentlichkeit" bedarf, die diesen Korrekturprozeß trägt (265f.). (4) Für den besonderen Fall der theologischen Wahrheit gilt eine zusätzliche Spezifikation, daß sie das Göttliche, „its religious object ... the appropriate finite/infinite contrasts" (266), nicht nur „versteht", wie die Einzelwissenschaften sonst sich den Zusammenhang von Phänomenen plausibel machen, sondern so, daß das „religiöse Objekt selbst" verstanden (266, vgl. 565), d.h. als wahr in aktuelle Interpretationsvollzüge übertragen wird. In diesem Sinne bleibt auch die Wahrheitsbestimmung religiöser Symbole sozusagen in den Phänomenen selbst, obwohl diese sich durchaus in ganz unterschiedlichen Kontexten interpretieren lassen.

4. Phänomenologie und Religiosität Was leistet semiotische Phänomenologie zur Begründung, Beschreibung und Bestimmung von Religiosität? Entsprechend den zu Beginn genannten drei Hauptformen von Phänomenologie läßt sich sagen, daß systematisch gesehen und in semiotischer Sicht der Dinge jetzt in neuer Weise dreifach unterschieden werden kann. 1. Begründende Phänomenologie 52 liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung nach deren Herkunftsbedingungen gefragt bzw. auf diese geschlossen wird. Ob Peirce' Denkprinzipien fur ein solches „transzendentales Argument" überhaupt noch in Betracht kommen können, ist eine Frage für sich.53 Wenn Begründungen gesucht werden, so sind sie auf dieser Ebene des Auftretens von Phänomenen instinktiv überzeugend, im Rahmen der Wissenschaftssystematik zugleich fallibel und insofern hypothetisch. Religiöse Überzeugungen entsprechen diesem Status in hervorragender Weise und betonen selbstverständlich in religiösen Symbolen gerade die Gewißheit (faith) des Glaubens, sie schließen

52 Philosophiegeschichtlich gesehen im Muster der Konstitutionsanalysen Husserls, s.o. Anm. 5. 53 Entgegen der Tendenz von S. Pihlströms Studie muß wohl Peirce' Realismus gerade nicht transzendental interpretiert werden, vgl. Pihlström, Peircean Scholastic Realism and Transcendental Arguments, in: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 34 (1998), 382-413. - Vgl. auch Nevilles Kritik an Kant, Husserl und Heidegger, in: Neville (1981), 152ff.

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Deuser: Instinkt und Symbol

aber die Korrekturfähigkeit im geschichtlichen Zusammenhang gerade nicht aus - jedenfalls nicht im Christentum und bezüglich der Gebrochenheit religiöser Symbolisierungen. 2. Beschreibende Phänomenologie liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung nach deren existentialen54, lebensweltlichen, kosmologischen Implikationen gefragt wird. Dieses Verfahren ist weniger begründend als vielmehr entdeckend, und es schließt Wertentscheidungen von vornherein ein. Am Beispiel von Nevilles Beschreibungsformen religiöser Symbole wird darüberhinaus deutlich, daß lebensweltlich orientierte Beschreibungen metaphysische bzw. kosmologische Argumente gerade nicht ausschließen. 3. Semiotische Phänomenologie liegt dann vor, wenn im Erscheinen von etwas, im Auftreten und in der Präsenz von Erfahrung diese so versucht wird (strukturell) zu analysieren, wie sie auftritt, nämlich als Repräsentation, d.h. in Zeichenprozessen. Die pragmatische Einbindung in die Geschichtlichkeit von Natur und Geist55 schließt kategoriale Theoriebildung und semiotische Strukturwissenschaft nicht aus. Daß gerade Religionsphilosophie und Theologie in dieser Gestalt von Phänomenologie am besten zu Hause sind, liegt einfach an deren umfassendem und offenem Charakter. An keiner Stelle muß aus wissenschaftstheoretischen Gründen Erfahrung reduziert werden, was gerade in der neuzeitlich und europäisch dominierenden Erkenntnistheorie objektivistischer Prägung der Fall war. Nevilles Analysen der religiösen Symbole56 zeigen in der Breite des religionsgeschichtlichen Materials und der religionsphilosophischen Perspektiven, was zeichentheoretisch bezüglich Religiosität im Lebenskontext möglich ist. Begründungen, Beschreibungen und Wahrheitsbestimmungen sind ohne Vorbehalte durchfuhrbar. Religiosität erschließt Wirklichkeit; ein Erfahrungsbegriff, der Religiosität ausdrücklich nicht berücksichtigen würde, wäre fehlerhaft.

54 Philosophiegeschichtlich gesehen gehört hierzu vor allem Heideggers Analytik des menschlichen Daseins, aber auch alle anderen Formen von „Existentialphänomenologie", s.o. Anm. 5. 55 Insofern steht die zu Beginn genannte erste Hauptform, Hegels Phänomenologie des Geistes (s.o. Anm. 4), Peirce' kategorialer Semiotik sehr nahe. Zu Peirce' kritischer Anknüpfung an Hegel vgl. die erste der Pragmatismus-Vorlesungen (1903), in: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2 (1893-1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington/Indianapolis 1998, 143f. 56 Sofern Neville aber Peirce' Semiotik nicht durchgängig (vor allem nicht kosmologisch!) verwendet und ihren strukturuniversalen Anspruch nicht übernimmt, wird nach den hier zuletzt genannten drei Typen von Phänomenologie Nevilles Verfahren wohl zwischen der beschreibenden und der semiotischen am besten zu piazieren sein.

Wolf-Dietrich Bukow

Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen, lebensweltlichen und kommunikativen Kontext 1. Die Religion muß neu überdacht werden Gibt es heute überhaupt noch das, was man einst unter Religion verstanden haben mag? Hat sich die Religion nicht unter dem Druck der Postmoderne längst verflüchtigt oder den modernen säkularen, ja „hybriden" Kulturen assimiliert? Tatsächlich halten viele die Religion für ein weitgehend bedeutungslos gewordenes Phänomen und sprechen in diesem Zusammenhang von einer religionslos gewordenen Gesellschaft. Manche allerdings behaupten, Religion habe sich im Gegenteil neu konstituiert, man könne sogar von einer fundamentalistischen Wende sprechen. Sie habe unverkennbar an Gewicht gewonnen.1 Wer hat recht - was stimmt? Generell gibt es hier keine Antwort, schon weil je nach Kontext unter Religion etwas ganz Unterschiedliches verstanden wird. Allenfalls könnte man sagen, dass unter dem Vorzeichen einer zunehmenden „formalen" Vernetzung und Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften der Einzelne gewissermaßen kompensatorisch mehr Interesse an Deutungsmustern gewinnt, die ihm einen neuen sinnhaft gefällten Zusammenhang vermitteln. Das würde in die Richtung der zweiten Antwort zielen. Es ist sicherlich notwendig, Religion genauer einzugrenzen, bevor man eine angemessene Antwort zu geben vermag. Ein Vorschlag wäre hier, nur solche Religionsformen zu betrachten, die sich in Zusammenhang mit traditionellen Hochreligionen bringen lassen, sei es, dass sie sich auf sie beziehen, sei es, dass sie in deren Wirkungsgeschichte stehen. Unter diesen Voraussetzungen fallt das Bild schon differenzierter aus und bestätigt erneut eher die zweite als die erste Antwort. Aber im Grunde geht es um etwas anderes. Meine These wäre: Vieles spricht dafür, daß sich die religiösen Vorstellungen heute zwar lockern, aber dabei auch neu konstituieren, sich also einerseits zunehmend

1

Vgl. Y. Karaka o lu-Adyin, "Kopftuchstudentinnen" türkischer Herkunft. In: H. Bielefeld, H. Heitmeyer (Hg.), Politisierte Religion. Frankfurt/M. 1998, 450ff.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

von traditionellen Formen institutionalisierter wie damit korrespondierender alltäglicher Religion entfernen, aber anderseits innerhalb formaler Spezialsysteme wie im Lebenszusammenhang und damit auch in der kulturellen Auseinandersetzung der Gesellschaften neue Bedeutung erlangen, also für gesellschaftliche Dienstleistungen, Lebensführung des Einzelnen und neuerdings auch innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzungen zunehmend bedeutsam werden. Wie läßt sich diese These begründen? Sie impliziert, dass sich die Religion wie die Gesellschaft insgesamt ausdifferenziert hat. Religion verfestigt sich zu einem Teil systemisch und erscheint damit insoweit noch traditionell vermittelt, nämlich kirchengebunden. Dank der Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird nun aber auch wieder mehr sichtbar, was Religion überall dort, wo keine hoch ausdifferenzierten Kirchen existieren, wohl schon immer bedeutete, ein mehr oder weniger effektiver lebensweltlicher Entwurf. Dieses alltagsreligiöse Phänomen tritt heute wieder mehr in den Vordergrund und nimmt gegenwärtig sogar deutlich fundamentalistische Züge an, verbleibt aber oft auch auf der Ebene zeitlich und räumlich beschränkter religiöser Bewegungen2. Wie alltagsreligiöse Phänomene heute im Alltag wieder deutlicher erkennbar werden und angesichts der Spezialisierung der lebensweltlichen Dimension des Alltags auf die Markierung von Sinnentwürfen zu neuer Aktualität geraten, so sieht es auch bei der Religion im Kontext öffentlicher Kommunikation aus. Auch hier scheint die Religion vor der allgemein Ausdifferenzierung der Gesellschaft zumindest in spezialisierter Form neue Akzente zu gewinnen.3 Neu ist vielleicht nur, dass die Religion im Alltag ihre althergebrachte Rolle für die Pflege der individuellen Lebensführung wieder reaktiviert und dass sie schon fast pointiert in den kulturellen Diskurs eingreift und im gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang Sinn zu sichern versucht. Damit rücken religiöse Entwürfe im Kontext der Kirche in den Hintergrund, in den Vordergrund treten wieder religiöse Entwürfe im Kontext der Lebenswelt (die Dimension der Lebensführung) und des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhanges (die Dimension kultureller Metakommunikation4).

2

Vgl. dazu die Arbeiten von H. Streib zu den neuen religiösen Bewegungen und ihre Resonanz bei den Jugendlichen. H. Streib, Transformation of Religion in the Context of Fundamentalist Milieus (Paper for the World Congress of Sociology, Juli 1997 in Köln, veröffentlicht unter http://www.tgkrn.uni-bielefeld.de/hstreib/Literatur/k0ln.htm). 3 Vgl. z.B. die öffentliche Kontroverse um die Rückführung von Flüchtlingen in Berlin im Sommer 1998 (DER SPIEGEL 39 vom 21.9.98, S.96ff.) 4 Zum Begriff vgl. E. Leach, Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt/M. 1978.

Ein anderes Religionsverständnis

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2. Um der aktuellen Lage gerecht zu werden, ist ein anderes Religionsverständnis erforderlich Beginnen wir noch einmal mit den eben bereits angedeuteten skeptischen Bemerkungen, die Religion sei heute einfach nicht mehr das, was sie einstmals gewesen sein mag: „Religion und fortgeschrittene Industriegesellschaften passen nicht zusammen". „Religion und Kirche verlieren an Bedeutung". So und anders lauten ja die Urteile, die man überall zu hören bekommt. Und nicht zuletzt der Rückzug der Menschen aus den großen Kirchen (nach den beiden Weltkriegen und seit den 60-er Jahren) legt eine solche Aussage tatsächlich auch nahe. Eigentlich nur aus Ehrfurcht gegenüber einer althergebrachten Erscheinung wie der Religion hat man ihr seitens der Wissenschaft dennoch weiterhin eine erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet.5 Und begründet wurde das mit der These, sie spiele eben im Alltagsleben nach wie vor eine erhebliche Rolle. Dies war beispielsweise der Kerngehalt jenes nach den Kriegen entstandenen Konzeptes von der „unsichtbaren Religion". Ähnlich kann man die Thesen zur „civil religion" hier einordnen. Sie wurden kurz darauf formuliert.6 Wenn hier gewissermaßen nur aus Respekt vor der einstigen Größe Religion, vielleicht auch nur aus einem gewissen Mitleid mit dem Verfall der Hochkirchen so etwas von der Religion behauptet wurde, so war damit dennoch eine richtige Einsicht formuliert worden. Religion hat sich verändert ohne wirklich zu verschwinden. Die ganze Entwicklung hat eine ironische Dimension: • Auf eine recht unwissenschaftliche Weise wurde - gewissermaßen aus Respekt - an der Religion festgehalten, wobei sogar eine Perspektive eröffnet wurde, die sich im nachhinein trotz aller Skepsis7 als theoretisch wie praktisch ertragreich erwiesen hat. • Dabei richtete sich das Augenmerk auf Erscheinungsformen von Religion, die unterhalb bzw. jenseits von institutionell verfasster Religion, unterhalb bzw. jenseits der großen Kirchen eigentlich schon immer bedeutsam gewesen sein dürften.8 • So hat die Religionsforschung im Grunde unbewusst bereits mit einer Theorie gearbeitet, die erst heute als Theorie der Postmoderne Konturen

5

Daneben gibt es auch institutionelle Gründe, das Gewicht der Institution Kirche, die Existenz theologischer Fakultäten u.a.m. 6 H. Kleger, A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa. München 1986. 7 J. Matthes, Was ist anders an anderen Religionen?. In: J. Bergmann, A. Hahn, Th. Luckmann (Hg.), Religion und Kultur. Opladen 1993, 16 ff. 8 Vgl. H.-G. Soeffner, Der Geist des Überlebens. In: J. Bergmann u.a. op. cit, 191 ff.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

entwickelt. Sie verwies nämlich damals schon auf alltagskulturelle Konstruktionen, die die Menschen zu entwerfen begonnen haben, weil sie sich nicht länger „behandeln" und „entsorgen" lassen wollen.9 Die Religionsforschung hatte also durchaus ein Gespür fur die aktuellen Entwicklungen gezeigt, hat jedoch diese Entwicklungen nur vage konstatiert und deshalb nicht systematisch eingearbeitet. Das ist der Punkt, an dem es noch einmal sorgfaltiger anzusetzen gilt: Religion ist ein gesellschaftlich nach wie vor relevantes Phänomen. Die Wahrnehmung und insbesondere eine adäquate Deutung religiöser Phänomene hängt allerdings ganz entscheidend davon ab, ob und inwieweit es gelingt, die solche Phänomene einbettenden, ja bestimmenden allgemeinen gesellschaftlichen Kontexte mit zu erfassen. Und hier verbirgt sich ein Problem, das erhebliche Schwierigkeiten bereitet, weil dies eigentlich einen Rückgriff auf eine gesamtgesellschaftliche Theorie erforderlich machte. Die Schwierigkeiten vergrößern sich sogar noch, wenn man sich den aktuellen Stand der einschlägigen Theoriediskussion anschaut. Man wird nämlich schnell feststellen, dass der Rückgriff auf eine solche Theorie nicht bloß schwierig, sondern zum Teil auch erfolglos wäre, weil nach dem weitgehenden Zerfall der großen Gesellschaftstheorien im Augenblick jedenfalls noch keine neuen und überzeugenden gesellschaftlichen Konzeptionen zur Hand sind. Wenn man sich vor diesem Hintergrund nicht erneut damit begnügen will, mehr oder weniger fragmentarische Positionen über die Religion zu postulieren, dann muß man sich erst einmal auf eher minimale, allenfalls richtungsweisende und zumindest im Kern angemessene gesellschaftstheoretische Perspektiven verständigen. Auf einen gesellschaftstheoretischen Gesamtentwurf zu verzichten, bedeutet danach noch nicht, gänzlich auf eine reflektierte und systematisch durchdachte Ausgangsposition zu verzichten. Mein Vorschlag wäre, an dieser Stelle von folgendem auszugehen: • Ein so ausgeprägt gesellschaftliches Phänomen wie die Religion muß im Anschluss an diejenigen gesellschaftlichen Grundentwicklungen diskutiert werden, die sich in den letzten Jahrzehnten als fundamental herausgebildet haben, nämlich - so würde ich sagen - die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in institutioneller bzw. systemischer, in lebensweltlicher und in kommunikativer Hinsicht.10 • Und wenn Religion nur in Relation zu sozialem Handeln rekonstruierbar erscheint, so muß diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft als eine Bezugsperspektive ausgearbeitet werden, unter der eine jeweils unterschied-

9

D. Diederichsen, Wie aus Bewegungen Kulturen und aus Kulturen Communities werden. In: G. Fuchs u.a. (Hg.), Mythos Metropole. Frankfurt/M. 1995,126ff, 131. 10 Zum Kontext vergleiche A. Giddens, Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M. 1995, 2. Aufl., Kap. II.

Ein anderes Religionsverständnis

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liehe Ausarbeitung sozialen Handelns im Alltag erkennbar und rekonstruierbar wird. Als erstes Grundmuster ergibt sich damit: Religion ist stets gleichzeitig unter drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten: unter einer systemischen, einer lebensweltlichen und einer (meta-)kommunikativen. Der nächste Schritt wäre jetzt, diese drei Perspektiven zunächst unabhängig von der religiösen Thematik weiter auszufuhren und anschließend Folgerungen fur die Einschätzung religiöser Phänomene zu entwickeln.11 Das hieße, • autopoietische Systeme (wie sie zuletzt der radikale Konstruktivismus unter Rückgriff auf die Systemtheorie erarbeitet hat12) als möglichen Hintergrund fur Religion in der Ausgestaltung als Institution Kirche zu begreifen, • lebensweltliche Entwürfe (wobei ich an die aktuelle Lebensstil- bzw. Lebensfuhrungsdiskussion und die Biographieforschung genauso denke wie an die Theorie der Individualisierung1 ) als möglichen Hintergrund für Religion in der Form von privater Überzeugungen zu deuten und • kulturelle (Meta-)Kommunikation (womit ich auf die Diskussion zwischen Kommunitarismus und Liberalismus, auf den Postmoderne-Diskurs und allgemein auf das, was Jürgen Habermas unter zivilgesellschaftlichem Kommunikationszusammenhang thematisiert, abheben möchte14) als möglichen Hintergrund von Religion im Sinn öffentlicher religiöser Kundgaben zu verstehen. Wenn die Religion überhaupt ein gesellschaftliches Phänomen ist, sollte sie eigentlich unter allen drei Gesichtspunkten zugleich betrachtet werden. Dies ist bislang nur bruchstückhaft geschehen. Ich habe schon auf den Stand der hier einschlägigen religionssoziologischen Theorien hingewiesen. Neuere Untersuchungen thematisieren zunehmend die Bedeutung der Religion in der Lebenswelt und insbesondere der Biographie. Dabei wird allerdings Religion 11 Eine systematische Begründung kann ich für diese polykontextuelle dreidimensionale Konzeptionalisierung des gesellschaftlichen Rahmens sozialen Handelns und eine darin eingebettete Religion an dieser Stelle nicht geben. Ich weise auf die Systemtheorie, die Lebenswelt- und Identitätsforschung sowie auf die einschlägigen Untersuchungen zur Medienöffentlichkeit bzw. zur Zivilgesellschaft. M. E. läßt sich damit gut begründen, warum gesellschaftliche Vorgänge stets unter drei Kontexten betrachtet werden können und so auch im Alltag realisiert werden. Vgl. dazu auch meine Arbeit über "Kritik der Alltagsreligion", Frankfiirt/M. 1984, wo ich versucht habe, die metakommunikative Bedeutung von religiösen und anderen Praktiken aus dem alltäglichen sozialen Handeln heraus zu bestimmen. 12 So S. J. Schmidt, Radikaler Konstruktivismus. In: Ders (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. 1992, 7ff. 13 K.H. Höring, M. Michailow, Lebensstile als Vergesellschafhingsform. In: P.A. Berger, S. Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Göttingen 1990, 50Iff. 14 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Frankfiirt/M. 1992, 443fF.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

oft auf eine rein subjektive Konstruktion reduziert und recht zufallig zu einem einheitlichen Phänomen verdichtet („new-age"). Die soziale Konstitution des Religiösen (etwa innerhalb magischer Rituale) wird dagegen eher ausgeblendet. Es bleibt zu ergänzen, dass die diejenigen Untersuchungen, die sich empirisch verstehen, noch nicht einmal diese lebensweltliche Wende mitgemacht haben, und sich infolgedessen weiter auf die Kirchen konzentrieren - die institutionelle Seite der Religion (Mitgliedschaftsuntersuchungen usw.). Insbesondere wird die vielfältige Relevanz der Religion innerhalb der kulturellen Kommunikation nach wie vor ausgeblendet, obwohl es dazu einige erfolgversprechende Ansätze innerhalb der Civil-Religion-Forschung und etwa in den Arbeiten von Andreas Feige über die Kirchentage oder Heinz Streib über Jugendokkultismus gibt.15 Offenbar haben viele Forscher große Vorbehalte gegen religiöse Feststellungen und Behauptungen, wenn sie sich nicht mehr in den Kirchen, sondern im lebensweltlichen oder gar kommunikativen politischen und kulturellen Kontext etwa von Öffentlichkeit manifestieren. Ist es ihnen unangenehm, wenn „ihre Religion" plötzlich wieder in der Öffentlichkeit auftritt, dabei aber ggf. hochrituell und oft genug auch noch magisch verdichtet erscheint und damit gewissermaßen die Gewinne „religiöser Zivilisierung" (durch eine intensive theologische Professionalisierung) fraglich werden? Ist es ihnen peinlich, die Religion plötzlich als Grundsubstrate von Wahlkämpfen und Werbeaktionen wiederzufinden? Freilich taucht die Religion im metakommunikativen Kontext nicht nur in dieser Form auf. Sie wird beispielsweise auch in den Auseinandersetzungen um die Begründung der Menschenrechte wichtig.16 Diese zivilgesellschaftlich zentrierte Religion ist mehr als nur ein im Rahmen der AusdifFerenzierung der Gesellschaft angefallener religiöser Rest. Manche sprechen hier sogar schon von einer „Öffentlichen Theologie".17 Bleibt die Frage, wie man am einfachsten verfahren kann, zumal wenn hier vorwiegend Religion im Kontext lebensweltlicher Entwürfe oder im Kontext (meta-)kommunikativen Handelns in den Mittelpunkt gestellt werden soll - und wenn man davon ausgeht, dass wir hier auf Prozesse stoßen, die für die Entstehung und Ausgestaltung von Religion schon immer und heute insbesondere zentral sind. Grundsätzlich sehe ich nur zwei Wege. Entweder könnte man die Entwicklung der Kirchen (im Systemkontext), des Religiösen (in der Lebenswelt) und der Religion (im Zusammenhang der kulturellen Kommunikation) historisch entwickeln und alle drei Felder ihrer mehr oder weniger synchronen Ausdifferenzierung bzw. Entfaltung schrittweise rekonstruieren. Im Rahmen einer solchen Rekonstruktion würden die 15 H. Streib, Entzauberung der Okkultfaszination. Kampen/NL 1996. 16 H. Bielefeld, Menschenrechte - universaler Normenkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus. In: M. Brocker, H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Darmstadt 1997, 256ff. 17 W. Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland. Gütersloh 1994, 421 f.

Vom System Kirche zur lebensweltlichen Deutungspraxis

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religiösen Phänomene - vielleicht allerdings auch nur dank einer historisch möglicherweise eher fraglichen synchronisierenden Betrachtungsweise plastische Konturen gewinnen. Ein solches gesellschaftsgeschichtliches Unterfangen steht hier naturgemäß nicht zur Debatte. Es würde jeden Rahmen sprengen. Oder man könnte pragmatischer vorgehen. Das bedeutet, die Thematik im Blick auf die drei genannten Zusammenhänge in ihrer aktuellen Ausgestaltung zu skizzieren und dabei zu überlegen, welche aktuellen Trends sich hier abzeichnen und insbesondere, welche Schwerpunkte erkennbar werden. Damit erhält man zwar weniger umfassende Aussagen, aber vielleicht kommt man auf diese Weise an die Thematik auch heran. Das funktioniert jedoch nur, wenn die gewählten drei Perspektiven tatsächlich adäquat sind und wenn es gelingt, jeweils erstens intern, zweitens perspektivenübergreifend und drittens im Blick auf religiöse Elemente angemessene Deutungsmuster einzusetzen. Es spricht viel fur einen pragmatischen Weg.

3. Die Religion entfaltete sich zunächst funktional eingebettet im System Kirche und verlagert nun ihr Gewicht auf die lebensweltliche Deutungspraxis Vergewissern wir uns, um einen vertrauten Ausgangspunkt zu gewinnen, der Religion im systemischen Kontext. Hier wird sofort deutlich, dass sich Religion lange vorwiegend in diesem Kontext als Kirche entfaltet hat. Das läßt sich zunächst rückblickend an zwei Beispielen festmachen, die augenblicklich immer wieder hervorgehoben werden und auch im Prinzip zutreffen dürften: Mitgliederschwund und Aktivitätsverlust. Sie sollen - freilich neu bewertet - zunächst einmal dazu dienen, den Stellenwert der Religion im Systemkontext und deren Veränderungen auf dem Weg zu einer religiösen Dienstleistung deutlich zu machen. Zugleich eröffnen sie den Blick auf die heutige Verlagerung der religiösen Aktivitäten in Richtung Lebenswelt dorthin, wo die religiösen Bemühungen „abgeblieben" sind. Die neue Gewichtung der Religion im Kontext der Lebenswelt läßt sich dann an einem weiteren Beispiel, nämlich Gebetstexten an kirchlichen Anschlagbrettern herausarbeiten. 3.1

Die funktionale Ausdifferenzierung der Religion als Kirche

Unter systemischer Perspektive erscheint die Religion in der Form, in der man sie in den westlichen Industriegesellschaften immer schon erwartet, als Kirche. Dennoch lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen, weil in diesen Erwartungen kaum genauere Vorstellungen über die Religion als

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

System enthalten sind. Vielmehr sind sie noch von überkommenen Vorstellungen aus gemeindlichen Traditionen geprägt.18 Die funktionale Einbettung der Religion als Kirche ist also nicht einfach im Rückgriff auf traditionelle Vorstellungen zu klären. Es bedarf systemtheoretischer Überlegungen, die sich vielleicht am einfachsten am Fall des „Mitgliederschwunds" entwickeln lassen. Die großen Kirchen verlieren seit Jahren deutlich an Mitgliedern. Nun zeigt sich allerdings, dass dieser immer wieder beklagte Mitgliederschwund nicht kontinuierlich verläuft, also nicht unmittelbar mit einer wie auch immer gearteten allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung voranschreitet, sondern ähnlich wie kulturelle Moden wellenweise verläuft. Es gibt auch Phasen, in denen sich die Mitgliederzahlen konsolidieren. Deshalb wäre es zu oberflächlich, wollte man den Mitgliederschwund unmittelbar mit einer langfristigen gesellschaftlichen Entwicklung (z.B. der Säkularisierung) oder auch speziell der heute diskutierten Modernisierung bzw. Individualisierung von Gesellschaft in Zusammenhang bringen oder gar von dort her monokausal erklären. Wer über Mitgliederschwund redet, der muß bedenken, dass gegenwärtig alle großen Institutionen einen solchen Mitgliederschwund erleben. Man blicke nur auf die politischen Parteien oder die vielen Vereine. Sie alle beklagen heute den gleichen Mitgliederschwund. Hier zeigt sich ein ganz spezifischer Problemrahmen. Mitgliederschwund hat mit der Lage von Institutionen in modernen Gesellschaften zu tun. Wenn man sieht, dass die modernen Institutionen zur Zeit Mitglieder verlieren, muß man auch sehen, dass „am Anfang" keineswegs die großen Institutionen mit einem entsprechenden Mitgliederstand waren, sondern dass diese Verbände und Einrichtungen bis hin zur Volkskirche, wie man sich das heute eben so vorstellen mag, überhaupt erst vor dem Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstanden sind und hier gegenwärtig vielleicht in mancher Hinsicht nur eine gewisse „Normalisierung" eintritt. Mit anderen Worten: es gibt einen Mitgliederschwund, aber er sollte nicht überbewertet werden, weil er mehr über einen Wandel gesellschaftlicher Erwartungen über Institutionen als über die Religion, die diese Institution definiert, aussagt. Halten wir fest, es gibt zwar den aktuellen Trend „heraus aus den großen Einrichtungen und hin zu mehr Vielfalt". Dies ist eine Situation, die in der Soziologie gerne mit Begriffen wie z.B. „Postmoderne" umschrieben wird. Damit wird aber den großen Institutionen nicht a priori jegliche Existenzgrundlage abgesprochen. Sie haben ja bislang tatsächlich auch überlebt. Was 18 Bevor die Verlagerung der religiösen Deutungsmuster usw. in Richtung Lebenswelt diskutiert werden kann, muß erst einmal ein gewisses Verständnis über die systemisch ausdifferenzierte Religion gewonnen werden, obwohl deren Bedeutung zur Zeit bereits zu schwinden scheint.

Vom System Kirche zur lebensweltlichen Deutungspraxis

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geschieht, ist etwas anderes. Der Mitgliederschwund ist kein Ausdruck für das Ende dieser Institutionen, sondern markiert nur deren nachhaltigen Wandel. Die Institutionen erfahren einen Wandel bzw. eine zunehmend klarere Ausprägung. Der Mitgliederschwund macht nur deutlich, was Religion als System heute darstellt. Für die modernen Institutionen gilt: • Institutionen verändern sich teils aus eigenen Stücken, teils auch einfach im Kontext globaler gesellschaftlicher Umbauprozesse zu Systemen, zu sozialen, ökonomischen, kulturellen und anderen Systemen mit bestimmten Leistungen. • Dabei nehmen sie schrittweise eine sich selbstaussteuernde („autopoietische") Struktur an, an der man unter bestimmten Bedingungen teilnehmen kann (Inklusion). • Sie bilden auf dieser Grundlage eine formal-rationale Grundeinstellung (analog z.B. der kognitiven Organisation lebender Systeme) aus. Was fur die Institutionen generell gilt, gilt auch fur die Kirchen. Sie sind diesem Trend genauso unterworfen: • Sie arbeiten zunehmend formal-rational. Dabei entstehen bürokratische Organisationsformen mit entsprechenden Eigenschaften. Diese Eigenschaften entwickeln sich, und das ist wichtig, nicht nur von innen her, sondern eben auch unter dem Eindruck äußerer Erwartungen. • Kirchen konzentrieren sich vor diesem Hintergrund zunehmend darauf, ein System fur die Bereitstellung bestimmter Leistungen zu werden. Dabei mögen sie es etwas schwerer haben als andere Institutionen, weil ihre Leistungen in einer besonderen Weise mit Deutungen und Wertsetzungen verknüpft sind - etwas, was auf den ersten Blick einer solchen systemischen Einbettung widersprechen mag. • Mit dem Wandel zu einem dienstleistungsorientierten System sind notwendig Veränderungen im Blick auf die jeweilige Beteiligung oder Einbindung (Inklusion) der Gesellschaftsmitglieder verbunden. In Systemen ist man nicht mehr direkt und unverrückbar Mitglied. Vielmehr koppelt man sich an Systeme unter bestimmten Bedingungen und im Blick auf bestimmte Interessen zeitlich-räumlich limitiert an, d.h. man nimmt je nach Bedarf und Möglichkeiten Leistungen von Systemen für sich in Anspruch. Kirche als System hat sich also keineswegs als eine Art Gemeinschaft, sondern in der Form eines ganz konventionellen Deutungs- und Dienstleistungssystems ausgearbeitet. Wer an einer Kirche interessiert ist, ist entweder Mitarbeiter einer ihrer Einrichtungen (wie man an einer Firma mitarbeitet) oder Kunde ihrer Leistungen (wie man auch sonst ein Produkt einer Firma erwirbt). In jedem Fall erscheinen die Verbindungen zwischen dem Einzelnen und dem System zeitlich, räumlich und in der Sache limitiert und umfassend.

130 3.2

Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

Von der funktionalen Ausdifferenzierung als System Kirche zur lebensweltlichen Deutungspraxis als religiöse Identität

Der Rückgang der Mitgliederzahlen hat dazu gedient, die moderne systemische Ausarbeitung der Religion deutlich zu machen. Das Phänomen des Aktivitätenschwunds soll nun dazu verhelfen, die Bedeutungsverlagerung der Religion in Richtung auf lebensweltliche Zusammenhänge plastisch werden zu lassen. Kirchliche Veranstaltungen, jedenfalls die allsonntäglichen Praktiken, auch die besonderen Angebote fur Jugendliche usw. werden deutlich weniger genutzt. Gleichzeitig verzichten auch die verbliebenen Teilnehmer zunehmend darauf, selbst Einfluß auf den Ablauf der Veranstaltungen zu nehmen. Unklar ist dabei zunächst, ob dieser Rückzug aus den Aktivitäten einfach mit dem allgemeinen Mitgliederschwund korrespondiert (weniger Mitglieder bedeuten weniger Aktivitäten), oder ob hier eine zusätzliche Auszehrung der Kirche bzw. sogar umgekehrt eine Aktivierung des Restes - wenn auch auf quantitativ niedrigerem Niveau - stattfindet. Bei genauer Betrachtung werden einige bemerkenswerte Akzente erkennbar: • Der Auszug aus der Kirche gilt nicht durchgängig, sondern betrifft eher solche Veranstaltungen, die ohne eindeutig rituellen Rahmen ablaufen. • Der Auszug aus der Kirche gilt, insoweit Kirche ohne lebensweltliche Verweise arbeitet (eine Kultveranstaltung auf das längst vergessene Kirchenjahr statt z.B. auf im Alltag Verankertes wie Weihnachten bezogen). Das bedeutet: Der Aktivitätsverlust tritt keineswegs durchgängig ein. Hier zeigt sich ein beträchtlicher Wandel in den Mitgliedererwartungen gegenüber der Kirche als einer Großinstitution. Oder anders herum formuliert könnte man sagen: Insoweit bei kirchlichen Aktivitäten einer entsprechenden lebensweltlichen Verankerung Rechnung getragen wird und die angedeuteten Erwartungen mit berücksichtigt werden, kommen die Menschen nach wie vor und es kommen nicht nur die Kirchenmitglieder - sondern ganz verschieden orientierte und ganz unterschiedlich angebundene „Konsumenten". Worum geht es? Offenbar haben sich die Vorstellungen von Religion und Kirche erheblich verändert. Man versteht die Kirchen heute immer weniger als eine soziale Großgruppe oder als eine „Gemeinde" im Sinn einer Wertegemeinschaft von Gläubigen, in der man Mitglied sein muß oder doch kann, um sein „Heil zu beweisen". Vielmehr sieht man in ihr immer mehr schlicht eine Dienstleistungseinrichtung, deren „Produkte" bei Bedarf abgerufen werden können, um „sein Heil" von Fall zu Fall zu organisieren. Es handelt sich also nicht einfach um einen zunehmend gemeinschaftsunfähigen und damit automatisch auch konfessionslosen Menschen in einer entkirchlichten Welt, sondern um einen Wandel einerseits der Institution Kirche und anderseits der religiösen Erwartungen und Vorstellungen gegenüber der Kirche als Religi-

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onsanbieter. Dieser Wandel auf institutioneller wie lebensweltlicher Ebene korrespondiert mit dem, was eben schon im Blick auf die Kirche aus systemischer Perspektive ausgemacht wurde. Insofern sind die Menschen hier gewissermaßen kirchlicher19 als manche Kirchenvertreter selbst, die noch immer von einem längst nicht mehr realen Kirchenbild ausgehen mögen. Die Kirche wird heute fur den Einzelnen ganz offenkundig zum Dienstleistungsanbieter für • spezifische Rituale (Hochzeit...), • soziale Fragestellungen (Notlagen), • moralisch-ethische Positionen (Statements zu bestimmten Lagen), • sowie globale Belange (Hunger in der Welt, Menschenrechte, Umwelt...). Wenn die Kirche so zur Dienstleistungseinrichtung wird und damit zum Deutungsanbieter fur Angelegenheiten, die die eigene Lebensführung - aber zugleich die je individuelle Lebensführung als Lebensführung in der konkreten Gesellschaft - betreffen, dann wirft das auch ein Licht auf den Einzelnen und seine Alltagsreligiösität: Die Dienstleistungen werden vom Einzelnen aus seiner individuellen Sicht der Dinge heraus abgefragt und werden insofern für seine religiöse Identität wichtig.20 An dieser Stelle wird auch schon deutlich, dass die religiösen Dienstleistungen also nicht nur für einen selbst, sondern letzten Endes auch für die Gesellschaft insgesamt für wichtig erachtet werden. Man schreibt den Kirchen eine das eigene Leben wie die Gesamtgesellschaft insgesamt „überwölbende" dienstleistende Funktion zu. Dies gilt, insoweit die Dinge einen tatsächlich berühren. Von einem Aktivitätenverlust wäre also allenfalls in einem sehr eingeschränkten oder traditionellen Sinn zu sprechen. An die Stelle der alten Aktivitätsbereitschaft tritt eine neue lebensweltzentrierte Aktivierbarkeitsbereitschaft. 3.3 Unter lebensweltlicher Perspektive gewinnt Religion an Deutungskapazität und fundiert eine besondere „religiöse" Identität Mitgliederschwund und Aktivitätenverlust können beleuchten, wie sich die Institution Kirche umstellt und wie sich die Erwartungen der Einzelnen neu zentrieren. Aber es geschieht noch mehr, die Gewichte verlagern sich: Unter lebensweltlicher Perspektive gewinnt Religion an Deutungskapazität21 und

19 In einem modernen systemischen Sinn. 20 Zum Begriff der Identität vgl. J. Straub, Personale und kollektive Identität. In: A. Assmann, H. Friese (Hg.), Identitäten. Frankfurt/M. 1998, 73ff. 21 An dieser Stelle soll die Religion nicht weiter im lebensweltlichen Zusammenhang ausgearbeitet werden. Ich begnüge mich mit Hinweisen, wie sie sich aus dem bisherigen Duktus System-Lebenswelt ergeben. Zum Hintergrund vgl. meine Arbeiten: Kritik der Alltagsreligion, op. cit.; Ders., Religiöse Sozialisation und Entwicklung des religiösen Urteils. In: A.A. Bucher, K.H. Reich (Hg.), Entwicklung von Religiosität. Freiburg/Ch.

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fundiert eine besondere, nämlich eine durchaus religiöse Identität. Die Gesellschaftsmitglieder sind nicht nur nach wie vor religiös interessiert, wenn auch nicht mehr generell, sondern nur noch von Fall zu Fall, dennoch aber nachhaltiger denn je. Das kann man gut an Zetteln belegen, die von Kirchenbesuchern an Schwarzen Brettern in manchen Kirchen angeheftet werden. Ich beziehe mich dabei auf eine eigene Untersuchung.22 Zunächst einmal ist es wichtig festzustellen, dass tatsächlich bei so gut wie allen Zetteln ein religiöser Diskurs vorliegt. Fast alle Aussagen folgen einem spezifischen „Skript", einem Briefformular ähnlich: Es wird eine Aussage gemacht, die mit einer Anrede, und zwar einem Ultimatenbezug, eingeleitet wird und die mit einer Schlussformel, einer Danksagung, einem Gruß oder doch einer Unterschrift endet. Wenn der Text ohne Anrede mit Ultimatenbezug beginnt, dann wird er in der Schlussformel nachgeholt. Der Kerntext ist jeweils kurz und beschränkt sich auf eine oder zwei Zeilen, die in der Regel appellativ gestaltet sind. Gelegentlich werden die Einleitungs- und Schlussformel mit dem eigentlichen Text zu einem einzigen Satz verdichtet. Sodann ist es wichtig hervorzuheben, dass die Thematik in der Regel tatsächlich auf Alltägliches zielt (keine religiöse Selbstreflexion). Und was die in den Zetteln angesprochene Szenerie betrifft, so sind erstaunlich klare Strukturen erkennbar. Man sieht sofort fünf verschiedene Figurationen (nach Häufigkeit): • Ein Alltagsphänomen, das einen einzelnen betrifft • Ereignisse zwischen einem einzelnen und einem anderen • Ereignisse zwischen Vater, Mutter und Kind • Aspekte der Gesellschaft insgesamt. • Thematisierung eines Ultimatenbezugs Meist dreht es sich um den einzelnen in seiner Alltagswelt, als Schüler, als Freund, als Familienangehöriger, als Urlauber, als von Umweltschäden oder Kriegsgefahren beunruhigter Mensch. Was schließlich die im Diskurs gemeinten Modalitäten betrifft, der reli•yi giöse Diskurs argumentiert streng binär : 1989, 65ff; Ders., Magie und fremdes Denken. Bemerkungen zum Stand der neueren Magieforschung seit Evans-Pritchard. In: H.-G. Heimbrock, H. Streib (Hg.,) Magie Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens, Kampen/NL 1994, 6Iff; Ders., Okkultismus als symbolische Kommunikation. In: W.H. Ritter, H. Streib (Hg.), Okkulte Faszination. Neukirchen-Vluyn, 1997,49ff. 22 Die folgenden Überlegungen basieren auf einer empirischen Untersuchung über Gebetsformulare am Schwarzen Brett des Ulmer Münsters von 1988. Die Grundlage bilden 500 transkribierte Zettel (zufällig von 1 500 Zetteln ausgewählt) aus einem Zeitraum von ca. vier Monaten. Eine Vergleichsuntersuchung zehn Jahre später von 1998 bietet kaum Unterschiede. Man hätte hier auch genauso gut die Texte der Kölner Klagemauer aufgreifen können. Sie unterscheiden sich trotz des politischen Rahmens nicht von den hier vorliegenden Texten, die innerhalb der Kirche gesammelt wurden. 23 Hier werden Gesundheit und Krankheit, Erfolg und Misserfolg, Streit und Liebe, Kinder und Kinderlosigkeit, falsches und richtiges Alltagshandeln angesprochen - also entweder

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Es soll etwas sein, ein positiver Rück- oder Ausblick (Gesundheit, Schul-, Examens- oder Berufserfolg, Freundschaft, Liebe, Kinderwunsch, Anerkennung, Beständigkeit, Glück, Frieden usw.) • Es soll etwas verhindert werden bzw. ungeschehen gemacht werden, ein negativer Rück- oder Ausblick (Krankheit, Streit, Kränkung, Erfolglosigkeit, Unfriede, Trennung usw.) Der religiöse Diskurs greift sehr intensiv und mit aller Macht in den Alltag ein. Und überhaupt, religiöse Deutungen sind wieder relativ stark. Die Frage ist allerdings, was sie angesichts der zunehmenden Indifferenz des Alltags, die hier erhebliche Spielräume signalisiert, evozieren. Dies erst ist der Punkt, an dem eine intensive Auseinandersetzung geboten ist. Man wird überlegen müssen, ob die religiösen Deutungen der Situation des einzelnen, der sich als Individuum wie als Gesellschaftsmitglied neu orientieren muß, gerecht werden. Eröffnen sie Wege, auch neue Formen des alltagsweltlichen Arrangements zu verfestigen, geben sie neuen Formen des Arrangements die erforderliche Formalität und Bekräftigung oder fixieren sie bloß, was sich heute räumlich-zeitlich von der Individualisierung zur Privatisierung einspielt, oder aktivieren und transformieren sie sogar bloß althergebrachte, ansonsten längst abgeschmolzene „natürliche" Alltagseinstellung (E. Husserl)?24 Damit ist recht deutlich geworden, dass hier eine neue, nämlich religiös orientierte Identität entsteht, die sich nicht nur sehr eng an die Erfahrungswelt des einzelnen anschmiegt, sondern offenbar sehr wesentlich die individuelle Lebensführung verknotet oder doch zumindest kittet. Eine derartige rituelle Praxis (etwa in der Form von Gebetsformularen oder auch komplexen Kulthandlungen) ist nicht nur weiter gefragt, sondern sogar vermehrt gefragt. Dies alles geht durchaus nicht gänzlich an den Kirchen vorbei, sondern bleibt je nach der Sensibilität des Systems Kirche an die Kirche gekoppelt. Das belegen nicht nur die analysierten Zettel, die ja in der Kirche aufgehängt wereindeutig positiv oder eindeutig negativ. Allenfalls werden negative und positive Moralitäten im Blick auf verschiedene Situationen aneinander gereiht. Ausgangspunkt des Diskurses ist offenbar eine potentielle oder tatsächliche Gefährdung einer Alltagslage, einer Normalsituation, sei dieses eine Ehe, eine Freundschaft, eine glückliche Reise, eine Schulkarriere. Der Diskurs setzt mithin eine alltagsverankerte Normalbiographie voraus, die jetzt bloß „überarbeitet" wird. Im Diskurs werden die Eckpunkte dieser Biographie aufgegriffen und zielgerichtet entweder unter einem positiven Vorzeichen („weiter so") oder unter einem negativen Vorzeichen („so nicht") durchformuliert. Die Biographie wird abgerundet, verlässlicher gemacht. Die gesamte Aussage wird in ein Formular eingebettet, das die Absicht des Diskurses, eine Situation zu bereinigen oder zu verfestigen, unterstreichen soll. Man könnte fast davon sprechen, dass dem Diskurs, hierin ein klassisches rituelles Verfahren, eine kathartische Qualität zugewiesen wird. S. Diamond: Kritik der Zivilisation. Frankfurt/M., New York 1976, 107. Er meint freilich das Ritual der „Primitiven". 24 I. Kern (Hg.), E. Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität Teil 3, 1929-1935. Den Haag 1973, 144.

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den, sondern auch kirchliche Großveranstaltungen wie Kirchentage auf der evangelischen Seite oder Wallfahrten u.a.m. auf der katholischen Seite. Weil und insoweit Kirchen keine Heimat mehr stellen und auch keine Gemeinschaft mehr darstellen, Kirchen nicht mehr »Gemeinden« sind, vermittelt eine kirchlich mediatisierte Religion Vertrauen und Geborgenheit für den einzelnen in seinem je individuellen Alltag. Das schließt im Übrigen nicht aus, dass sich die Menschen von Fall zu Fall in besonderen z.B. religiösen „Wir-Gruppen" zusammenschließen, zu Kreisen, die in bestimmten Bereichen dem gleichen Lebensstil huldigen mögen. Aber der Status solcher Kreise oder Gruppen entspricht nicht mehr dem der alten Gemeinde, sondern ist analog zu dem Status zu verstehen, den heute eine lokale Kultur oder ein Sportverein oder ein Freundeskreis im privaten Lebenszusammenhang des einzelnen einnimmt. Solche Gruppen spielen sich im privaten Kontext des Alltags ab, bleiben zeitlich und räumlich limitiert und erheben dementsprechend auch keinen Exklusivanspruch mehr. Man pflegt hier seine religiöse, dort seine politische und wieder an anderer Stelle seine kulturelle Identität.

4. Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang Die mediatisierte und lebensweltlich vereinnahmte Religion motiviert die Gesellschaftsmitglieder nicht nur zur privaten religiösen Deutungsarbeit, sondern auch zur Intervention in alltäglichen Auseinandersetzungen. Dann wird sie zum Ausgangspunkt für die Formulierung „richtiger" Beschreibungen innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Religiöse Momente avancieren insoweit zu Bausteinen, um sich innerhalb' der Gesellschaft zu behaupten, um nicht nur seine private Lebensführung zu optimieren, sondern vor allem auch, um in der allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzung seine Position entsprechend zu komponieren. Damit öffnet sich der Blick fur einen weiteren Zusammenhang, in dem heute Religion zunehmend bedeutsam wird, dem gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang, angefangen bei alltäglicher Situationspolitik bis hin zur einer die Gesamtgesellschaft umspannenden Öffentlichkeit, an der das einzelne Gesellschaftsmitglied von Fall zu Fall partizipieren wird. Bevor ich die eben angedeutete Linie fortsetze, möchte ich zunächst einmal skizzieren, in welcher Weise Religion im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund läßt sich schnell zeigen, wie aus der lebensweltlichen Perspektive heraus auch die vertrauten Formen von Religion hier relevant werden mögen.

Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang

4.1

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Religiöse Elemente finden sich längst im Kontext des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs

Die Politik und die Werbung sind die beiden klassischen Orte, wo sich kulturelle (Meta-)Kommunikation25 am einfachsten auffinden läßt. In beiden Fällen geht es um den Versuch, „richtige" Beschreibungen durchzusetzen. Und hier läßt sich auch die postulierte dritte Form der Religion aufspüren. Worum geht es genauer? Es geht um den Versuch, im Rahmen eines gesonderten Diskurses, also im Kontext wohl abgegrenzter Argumentationsanstrengungen deutlich zu machen, dass etwas so und nicht anders richtig ist. Ein Politiker stellt sich hin und sagt, „ich sage euch, ich bin der richtige Mann zur richtigen Zeit". Und der Verkaufschef einer Firma erklärt, „wir verkaufen mehr als nur Autos". In beiden Fällen wird versucht, sich Zustimmung zu verschaffen. Der Versuch besteht darin, seine Aussage mit gezielten Verweisen in einen besonderen Kontext zu stellen, als Teil kultureller Metakommunikation auszuweisen. Damit wird gewissermaßen eine besondere Weihung des Angebots erzeugt. Der Politiker ist nicht mehr einfach ein Politiker, sondern reiht sich in die Tradition heiliger Männer ein. Das Auto ist nicht mehr ein reines Fortbewegungsmittel, sondern ein Element, das einem Sicherheit im Kosmos vermittelt. Das Angebot wird - womit es sich als ein metakommunikativer, hier sogar religiöser Akt erweist - in einen besonderen, in einen außeralltäglichen, und damit gewissermaßen in einen alternativen Kontext gerückt. Zum Hintergrund verweise ich auf die Studie von J. Reichertz.26 Wie sich die Politiker in der Öffentlichkeit zu religiösen Konnotationen „versteigen", so umgekehrt auch Religionsvertreter zu politischen Konnotationen. Das bekannteste Beispiel dürfte hier der Talkmaster Jürgen Fliege sein, der vor einiger Zeit sehr präzise unter dem Titel „Die wundersame Speisung der Bildschirmgemeinde" kommentiert wurde. Der evangelische Pfarrer produziert im Gewand des Theologischen ununterbrochen Deutungen und bringt sie treffsicher ins Ziel, d.h. ins Zentrum der Betroffenheit eines TalkShow-Teilnehmers. Er kommentiert das so:27 „Zeige Deine Wunde!" und: „Das ist genau das, was ich mache. Ich weiß einfach keinen anderen Weg, um lieb zu haben - und um geliebt zu werden." Hier reiht sich der Theologe in die Reihe der Medienproduzenten ein, um seine religiösen Deutungen zu veralltäglichen und so zu trivialisieren, dass sie ankommen. Beide Beispiele belegen, dass religiöse Deutungen in der Metakommunikation oder allgemeiner in der Öffentlichkeit eine gewichtige Rolle spielen. 25 Mit dem Begriff der "kulturellen Metakommunikation" soll der reflexive Charakter des "zivilgesellschaflichen Kommunikationszusammenhanges" (J. Habermas) unterstrichen werden. Er stammt von E. Leach, Kultur und Kommunikation, Frankfurt/M. 1978. 26 J. Reichertz, „Wir kümmern uns um mehr als Autos". In: Soziale Welt 1995/4,46,9ff. 27 Süddeutsche Zeitung vom 11/12.1.1997.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

Sie zielen jedoch eher auf Grenzfalle, weil sie Deutungsmuster repräsentieren, die nicht im Kern von religiösen Verweisen leben, sondern sie eher nur fiinktionalisieren. Sie können jedoch die Ränder dessen markieren, worum es nun gehen soll, um metakommunikative Verfahren, die ins Zentrum ihrer Argumentation religiöse Verweise stellen. Solche sehr deutlich religiös ausgearbeiteten Formen kultureller Metakommunikation lassen sich im Kontext des zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhanges auf den verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit rekonstruieren. Dahinter steht die These: Wenn die kulturelle Metakommunikation sowohl in der globalen Öffentlichkeit einer Gesellschaft wie auch auf „niederen" Ebenen präsent ist, ist zu erwarten, dass auch religiös ausgewiesene Verfahren analog zu erwarten sind. Öffentliche Religion wie die einleitend bereits angedeuteten Diskussionen über die Menschenrechte wäre dann ein sehr weit „oben" anzusiedelndes Beispiel. Kirchentage, die sicherlich ebenfalls im vorliegenden Zusammenhang anzuführen wären, dürften ein Beispiel sein, das immer noch relativ „hoch" anzusiedeln wäre. Magische Praktiken unter Jugendlichen dagegen sind sicherlich „sehr niedrig" einzuordnen, sie betreffen dann „nur" so etwas wie eine lokale und partielle Öffentlichkeit. 4.2

Das Religiöse in der Metakommunikation gewinnt in dem Maß an Bedeutung, in dem hier grundsätzliche Weichenstellungen in den Vordergrund treten

Diese Beobachtungen stehen scheinbar im Widerspruch zu den Klagen über den Bedeutungsverlust der Religion in der Gesellschaft und auch deren theoretische Ausformulierung unter dem Begriff der Säkularisierung der Moderne. Sicherlich: Die zentralen gesellschaftlichen Handlungen vom Arbeiten über das Einkaufen und Konsumieren bis hin zur Gesundheitsfürsorge und zu kulturellen Tätigkeiten, von der Ausbildung bis hin zur Freizeit sind heute tendenziell religionsfrei. Der gesellschaftliche Alltag vollzieht sich in fortgeschrittenen Industriegesellschaften offensichtlich unter formal-rationalem Vorzeichen, weil er sich unter der Obhut von diversen Systemen abspielt, in die man sich je nach Lage der Dinge und Möglichkeiten von Fall zu Fall einschaltet, ankoppelt, um seine Absichten realisieren zu können (Arbeitsplatz, Wirtschaft, Mobilitätssysteme...). Die Vorstellung von der säkularen Gesellschaft bleibt jedoch vordergründig. Sie setzt einer religionslosen oder doch zumindest entkonfessionalisierten Gegenwart eine Vergangenheit entgegen, in der die Gesellschaft einst durch und durch religiös „imprägniert" gewesen sei. Ob ein solches Denken innerhalb der Geschichte jemals berechtigt war, mag dahingestellt bleiben, es taugt jedoch nicht für eine differenzierte Sicht der Dinge, so wie sie heute vorliegen.

Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang

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Die oben angeführten Beobachtungen zeigen, dass man nicht einfach undifferenziert in der Gesellschaft Religion aufsuchen kann, sondern jetzt, wo es um den Gesamtzusammenhang geht, kulturelle Metakommunikation untersuchen muß. Kulturelle wie speziell auch religiöse Metakommunikation, „religiöse Verständigung" wird erst bei genauerem Hinschauen erkennbar, weil sie gerade kein Bestandteil eines konventionellen, des Dauerablaufs, des immer schon gehandhabten Alltags ist (sei dieser systemisch oder lebensweltlich gerahmt), sondern der „kulturellen Verständigung" (Kommunikation) über den Alltag dient. Selbst wenn die Kirche im Ablauf des Alltags allenfalls als Dienstleistung oder Anker für religiöse Gesinnung hervortritt und die Religion im Alltag selbst eher nur noch der Verknotung der individuellen Lebensführung dient, gewinnen religiöse Entwürfe, Erklärungen oder Statements (wer auch immer sie zur Verfügung stellt!) in der Öffentlichkeit an Bedeutung. Vergewissern wir uns noch einmal der Punkte, wo religiöse Entwürfe, Deutungen oder Statements im Kontext der Lebensführung gefragt waren. Analog müssen die religiösen Deutungen hier gesehen werden. Dort handelte es sich um Orte, wo der Dauerablauf des individuellen Alltags in seiner Fraglosigkeit fraglich wurde, hier dürfte es sich darum handeln, das die Gesellschaft in ihrer Fortentwicklung fraglich wird.

Im lebensweltlichen Kontext des einzelnen

Im metakommunikativen Kontext der Gesellschaft

An den Schnittstellen des Alltagslebens, wo Grenzen überschritten oder eine neue Lebensphase begonnen wird, an aktuellen Brüchen in der Lebensführung (Arbeitslosigkeit, Krankheit usw.), angesichts plötzlich auftretender Risiken, besonderer Anforderungen, Zuschreibungen, Trennungen, Leiden, Unrechtserfahrungen.

wo kulturelle Verständigung / Kommunikation über den Alltag gezielt inszeniert wird, weil die öffentliche Meinung hier einen generellen Verständigungsbedarf ausmacht und insoweit die Fortentwicklung der Gesellschaft gefährdet erscheint.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

Man kann diesen Zusammenhang zumindest sozialwissenschaftlich betrachtet noch genauer formulieren: Immer dann, wenn die sich selbst stabilisierende, sich selbst austarierende („autopoietische") Kraft eines sozialen Zusammenhanges oder gesellschaftlichen Teilsystems nachlässt und es auch nicht mehr ausreicht, die Dinge bloß für sich selbst zurechtzulegen, wird nach Verfahren, Praktiken oder allgemeinen Ritualen, wird nach öffentlicher kultureller Verständigung gefragt. Und an dieser Stelle denkt jeder vielleicht nicht unbedingt zuerst, aber eben auch an religiöse Statements, gegebenenfalls sogar kirchliche Positionen, wenn und insoweit die Kirche mit ihren Dienstleistungen überhaupt bis zu diesem Punkt noch präsent ist.28 4.3 Die in den gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang eingebrachte religiöse Metakommunikation gerinnt zu einem spezialisierten Deutungsbetrag unter anderen Angeboten Sicherlich handelt es sich bei den Prozessen, die wir hier unter „kultureller Kommunikation" summieren wollen, nicht um wirklich neue Erscheinungen. Mit Sicherheit ist dies auch schon immer ein Ort, an dem religiöse Deutungsmuster aufgenommen, angewendet und fortentwickelt werden. Aber in fortgeschrittenen Industriegesellschaften gewinnen Prozesse an dieser Stelle an Bedeutung. Damit erhält auch die religiöse Metakommunikation, die primär an dieser Schnittstelle zwischen Alltagsleben und kultureller Kommunikation über den Alltag zu lokalisieren ist, neues Gewicht. Von hier aus erfahrt die Religion gewissermaßen von unten eine neue Ausrichtung, als Problem-, als Risikound Beratungsinstanz. In der folgenden Übersicht sollen einige wichtige Formen der Metakommunikation charakterisiert und dabei konventionelle und religiöse Praktiken nebeneinander gestellt werden. Daneben wird zwischen einfachen Formen, rituell verdichteten und magisch überhöhten Praktiken unterschieden. Die Übersicht soll daraufhinweisen, das es nicht nur sehr unterschiedliche Varianten gibt, sondern jede Variante im Grunde auch in säkularer und religiöser Form nachweisbar ist:

28 Vgl. H. G. Soefftier, Das "Ebenbild" in der Bilderwelt. Religiosität und die Religion. In: W. M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Frankfurt/M. 1994, 29Iff, hier 296.

Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang

Grundformen

Varianten

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Merkmale

Besonders wichtig

Konventionelle Fassung

ΤΥΡΑ: Allgemeine Metakommunikation

kommunikatives Handeln in reflexiver Form als • Diskurs, • Behauptung • Orientierung an Konventionen...

Distanziert, reflexiv, betont kommunikativ, Verweis auf Einstellungen und Erfahrungen (individualisierte Indexikalität)

Distanz zur Lebenswelt • in der konkreten Sache überzeugen • persönliche Aspekte ausblendend

TYP B: im Fall rituell verdichteter Metakommunikation

• öffentliche Erklärungen, • Feiern, •Begrüßungen, • gesellschaftliche „Anlässe"...

Betont kommunikativexpressives Handeln, klarer, geschlossener szenischer Aufbau, die Handlung muß sich „sozial reimen"

• wohlorganisierte Distanz • abgesicherte Indexikalität (sich von selbst ergebend = ,,selbst"-explikativ)

TYP C: Inszenierte magische Rituale

• Eingrenzungs-, • Ausgrenzungs•Testrituale

Geltungsansprüche des Rituals werden in den Vordergrund gerückt

fraglos gesichert

Verdoppelte Distanz: Ich gehe auf den Alltag ein, wie religiöse Faktoren mich bestimmen (als Gläubiger verwiesen auf unverfiigbare Tradition...)

• alles wird verdichtet, abgeschüttet, immunisiert • artikuliert durch szenische Dichte und hohe gestalterische Treue

Religiöse Fassung

Analog zu TYPA-C

Unterstrichen durch ein Bekenntnis zu bestimmten Werten und Überzeugungen

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

Man kann also durchaus von einer Neuausrichtung dieser Formen der Religion sprechen. Dies hat nichts mit den oben knapp angedeuteten Formen zu tun, in denen religiöse Metakommunikation auftritt. Diese Formen sind alt. Religiöse und insbesondere religiös-magische Rituale sind sogar älter als die Kirchen. Was hier neu erscheint, das resultiert ganz eindeutig aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung. Sie betrifft die Gesellschaftskonstellationen, die die Nachfrage nach kultureller Verständigung hervorrufen, und sie betrifft auch die aktuelle Gestaltungsweise, in der dann die kulturelle Kommunikation stattfindet. Im Rahmen der Entwicklung der modernen Gesellschaften zu fortgeschrittenen Industriegesellschaften („Postmoderne") findet eine zunehmende Ausarbeitung und gleichzeitige Aufgliederung („Ausdifferenzierung") der Gesellschaft statt. Wir sprechen von einer „multikulturellen" Wirklichkeit. Und das bedeutet dann aber auch sehr schnell, dass die Menschen im Verlauf der Bewältigung des Alltags zunehmend dazu genötigt sind, • Brücken zu schlagen, • Brüche, Risiken, Verwerfungen innerhalb der und Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen zu überwinden und • den Alltag zu bewältigen. Der genannte Prozeß der Ausarbeitung und Aufgliederung des Alltags fuhrt automatisch auch zu einem Abschmelzen traditioneller Orientierungen und Deutungsmuster. Werden Situationen zunehmend neu gemischt, passen die alten Deutungen einfach nicht mehr unbesehen. Insofern wird vom einzelnen bereits dort Engagement und Aktivität verlangt, wo die Dinge zu anderen Zeiten noch unproblematisch liefen. Dies berührt auch und entscheidend den Umgang mit Verwerfungen und Risiken usw. Hier deutet sich eine Paradoxie an: Einem Mehr an gesellschaftlichen Verwerfungen und Überschneidungen steht ein Weniger an zumindest öffentlich bewährten Praktiken der Überwindung („Passagenriten", „Testrituale", „Begrenzungspraktiken", „Erklärungen", „Magie" usw.) gegenüber. Diese Paradoxie stellt eine massive Herausforderung für alle dar, die sich mit Deutungen befassen. Alle drei Momente stellen eine Herausforderung insbesondere fur die Kirchen genauso wie fur den modernen Deutungsmarkt (von Jugendkulturen über religiöse Bewegungen bis hin zu Sekten und fundamentalistischen Angeboten) dar. Man sollte diese Herausforderung nicht irgendwelchen religiösen Bewegungen oder neuen Heilsbringern überlassen.

Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang

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4.4 Die „öffentliche Religion" verliert im Verlauf der gesellschaftlichen Kommunikation ihre wirkungsgeschichtliche Eindeutigkeit und gewinnt eine neue Vielfalt, in der sich religiöse Traditionen aus Kirchen, aus Lebensstilen und Zivilreligion amalgamieren Bleibt eine letzte Folgerung anzusprechen. In der skizzierten Situation entsteht zwar eine erhebliche Nachfrage an einschlägigen öffentlichen Deutungen, es ist aber keineswegs ausgemacht, ob hier auch etwas „Vernünftiges" passiert. Es gibt an dieser Stelle eine Fülle von Möglichkeiten, wie sich die kulturelle Verständigung ausarbeitet, d.h. wie die Ausgangsposition gefasst wird, wie die Nachfragen artikuliert werden, wie die Angebote wahrgenommen werden und wie sich die traditionellen Träger kultureller Kommunikation an dieser Stelle einfügen usw. Nimmt man diese Aspekte alle zusammen, könnte man einmal versuchen, typische Konstellationen von „Ausgangsposition-Nachfrage-Angebot" zu markieren. Versuchsweise möchte ich einmal die folgende, sicherlich sehr vereinfachende Typologie aufstellen: 1. Die Strategie der Verdrängung Die einfachste Möglichkeit ist ja immer, die Dinge zunächst einmal auf sich beruhen zu lassen. Bei Konflikten oder Problemen wäre eine Strategie, sich einfach nicht zu rühren, „business as usual" bzw. in Neudeutsch, „die Dinge einfach aussitzen". „Abwarten, vielleicht erledigen sich die Dinge alleine". 2. Die Strategie des Abtauchens Viele Gesellschaftsmitglieder sind damit beschäftigt, die offenkundig anwachsende und mitunter bedrohlich zunehmende Bedeutung jedes Problem·, Risiko- und was-alles-möglich-ist-Managements zumindest niedrig zu halten. „Man kann sich nicht den ganzen Tag damit beschäftigen... Die Alltagsdinge gehen vor..." Mag sein, dass man fürchtet, die hier zuhandenen Praktiken („Religiöse Metakommunikation") seien zu wenig tragfähig, mag sein, man hält diese Praktiken einfach für zu wenig rational oder sonstwie bewährt. 3. Die Strategie der Selbstinszenierung Manche Leute beginnen schließlich mit einer mehr oder weniger virtuosen Neuinszenierung von Verfahren oder Praktiken, um den Alltag sozusagen auf privatem Wege zu glätten. Sie inszenieren eine mehr oder weniger selbstbewußte kulturelle Kommunikation über die Alltagswelt und entwickeln eine persönliche Sicht der Dinge, die man natürlich anschließend auch anderen anbieten kann.

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Bukow: Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen

4. Die Strategie des Nachfragens Eine andere Möglichkeit besteht darin, nach auf dem Markt natürlich längst vorhandenen Angeboten nachzufragen, sich also in der Regenbogenpresse oder je nach sozialer Schicht auch bei irgendeiner therapeutischen Richtung oder Sektengemeinschaft zu bedienen. 5. Die Strategie der Erinnerung Die meisten werden sich früher oder später der traditionellen Verfahrensquelle, der Religiösen Metakommunikation, zuwenden. Im Rahmen der alltäglich zur Verfugung stehenden Wissensbestände werden nach wie vor eine ganze Fülle entsprechender Praktiken aufbewahrt, die sich mehr oder weniger gut für eine Reaktivierung eignen. Dem kommt entgegen, daß auch viele soziale Systeme solche Praktiken in ihrem Kontext (z.B. „Test"- und „Übergangsrituale" u. v. m.) fest verankert haben. 6. Die Strategie der Veralltäglichung von Deutungen Es ist immer verführerisch, die in mühsamer Deutungsarbeit erreichten Einsichten herzunehmen, um aus ihnen eine neue Welt zu basteln. Hier werden Gemeinschaften geboren, die an die Stelle der mühsam bearbeiteten alten Welt treten sollen. Dies ist die Geburtsstunde eines Fundamentalismus. Gemeinschaftsbildung wird hier zum Zentrum einer neuen imaginären Wirklichkeit. Die entscheidende Frage ist jetzt, wie sich die religiösen Traditionen in diesem Chor der verschiedenen möglichen Konstellationen verhalten. Nehmen sie diese neu ausgearbeiteten Erwartungen im Sinn einer Nachfrage oder Erinnerung wirklich auf? Man kann hier den Eindruck gewinnen, dass, während die alten Kirchen noch damit beschäftigt sind, sich in diesem neuen Zusammenhang zurechtzufinden, und - wo sie sich bereits zurechtfinden - noch damit beschäftigt sind, eine kritische Position zu entwickeln, andere bereits damit beginnen, das Rennen zu machen. Die in den letzten Jahren aufgekommenen Jugendreligionen sind in diesem Kontext genauso aussagekräftig wie die neuen religiösen Bewegungen, in welcher spezifischen Mischung auch immer sie auftreten. Mehr therapeutisch, mehr materiell, mehr sinnlich oder auch mehr fundamentalistisch orientiert zielen sie kurzentschlossen und häufig wohl auch radikal anpasserisch auf die Vermittlung möglichst glatter und eingängiger alltagsüberwölbender Deutungspraktiken. Man kann allerdings auch sehen, dass es im öffentlichen Kontext längst sogar seitens der alten Kirchen interessante Versuche gibt, religiöse Formen kultureller Metakommunikation zu praktizieren. Dies wird allerdings noch wenig gewürdigt. Ich verweise an dieser Stelle nur noch einmal auf die Arbeit von Andreas Feige über „Religion" auf dem Kirchentag.

Zusammenfassung

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5. Zusammenfassung Religion in der Interkulturellen Kommunikation Deutungsangebote sind Angebote zur symbolischen Organisation von gesellschaftlicher wie individueller Wirklichkeit, sind genauer gesehen Beiträge zur konstruktiven Vernetzung zuhandener Konstruktionen. So eindeutig also der Ort dieser Deutungen ist, so vieldeutig mag ihre Ausgestaltung sein. Religiöse Deutungen können wie andere Varianten kultureller Kommunikation in unterschiedlichster Form realisiert werden. Grundsätzlich haben sie eine eher theoretische und eine eher praktische Seite: • Theoretisch zielen sie auf die Bereicherung der kulturellen Kommunikation im Sinn eines Diskurses. • Praktisch zielen sie auf Deutungsangebote in der Form von Ritualen, Zuschreibungen, Erklärungen, in der Form von Betreuung und Engagement. Die Deutungen bewähren sich in diesem Rahmen einer neuen, einer doppelt offenen Struktur. Sie sind dann offen in Bezug auf die Form, insofern sie theoretisch und praktisch organisiert werden. Und sie sind dann offen in Bezug auf ihre Wertigkeit, insofern sie als ein mögliches Angebot zu betrachten sind, ein Angebot, über dessen Relevanz nur insoweit entschieden werden kann, als es um Zustimmung (wird es für „richtig" gehalten), nicht jedoch um Wahrheit geht. Die Interkulturelle Kommunikation erstreckt sich also nur auf die Präsentation von Deutungen und auf deren Mehrheitsfähigkeit. Solche Angebote können vom einzelnen „gelesen", übernommen, integriert und ggf. als sich reimend mit der eigenen Lage und damit als bewährt integriert werden. Sie können aber auch zurückgewiesen werden. Ob das Angebot das Prädikat „wahr" verdient, kann dagegen im Deutungsprozess nicht entschieden werden. Das ist die Angelegenheit des einzelnen. Nur der Fundamentalismus sieht das anders. Nur für ihn verbindet sich mit der öffentlichen Zustimmung auch eine öffentliche Wahrheitsfrage. Damit wäre jedoch nicht nur die interkulturelle Kommunikation, sondern überhaupt jeder Deutungsprozess schnell am Ende.

Teil IV: Erkundungen zu Leitbegriffen der Praktischen Theologie

Werner Schneider-Quindeau

Bewegte Blicke Erfahrungen mit dem Sehen in Film und Glaube Was macht die Faszination und die Attraktivität eines Kinobesuchs für Milliarden von Menschen rund um die Welt aus? Die erzählten Geschichten sind meist vertraut und die Erwartungen der Besucherinnen und Besucher an den Unterhaltungswert der Filme eher konventionell. Liebesgeschichte und Abenteuer, der Sieg des Guten über das Böse, verführerische Erotik und spektakuläre Gewalt, Schaulust und Nervenkitzel - die Versprechen der Filme entspringen den Träumen und dem Begehren des Menschen. Diese Herkunft aus der Welt psychischer Wirklichkeit teilt der Film mit anderen Künsten und Ausdrucksformen menschlicher Weltwahrnehmung. Narrative und Motive wie sie z.B. auch für die Untersuchung religiöser Themen im Film leitend sein können,1 bilden keinen Bezugsrahmen, um die spezifische visuelle Erfahrung im Unterschied etwa zur literarischen Darstellung hinreichend zur Kenntnis zu nehmen. Sowohl semiotisch als auch phänomenologisch ist die Filmwahrnehmung eine Erfahrung sui generis, die zwar die Dimensionen des Sehens und Hörens einschließt, diese jedoch durch ein präzises Arrangement der Blicke überbietet. In einem gewissen Sinne vergeht uns im Kino gerade Hören und Sehen, damit ein neues Bild entstehen kann. Der Film hat im Verlauf der letzten hundert Jahre durch technische Entwicklungen, ökonomische Verwertung, öffentliche Wirkung und ästhetische Gestaltung ein System von Codes aufgebaut, die eine eigenständige Erfahrung mit dem Sehen und Hören darstellen. Weder ist der Film Abbild von Wirklichkeit noch reines Phantasieprodukt. Das Fiktionale und das Dokumentarische, das Reale und das Imaginäre, das Mythische und das Geschichtliche verschwistern sich in der filmischen Organisation der Wahrnehmung. In den folgenden Überlegungen geht es mir um diese spezifische Seherfahrung, die sich dem Film verdankt. Inspiriert durch die semiotisch

1

Vgl. I. Kirsner, Erlösung im Film, Stuttgart 1996; G. Langenhorst, Jesus ging nach Hollywood, Düsseldorf 1998; Hinter den Augen ein eigenes Bild, Hrsg. v. M. Kuhn, J.G. Hahn, H. Hoekstra, Zürich 1991, Aus Leidenschaft zum Leben, Hrsg. v. Z. Cavigelli, J. G. Hahn, T. Henke, M. Kuhn, Zürich 1993.

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orientierte Filmtheorie von G. Deleuze2 und die phänomenologischen Studien von B. Waidenfels3 versuche ich den Film als eine spezifische Erfahrung mit dem Sehen zu verstehen. Was sich im Film zeigt, unterliegt einer Organisation und Inszenierung der Blicke, die zwar den natürlichen Blick der Augen in den Dienst nehmen, jedoch durch die Filmtechnik (Kamera, Schnitt, Montage, Licht, Einstellungen, Kinoraum) eine phänomenale Erweiterung dieser natürlichen Seherfahrungen ermöglichen. Im Vergleich zur Beweglichkeit der Filmwahrnehmung erscheinen unsere Augen stillgestellt. Der konzentrierte und gebannte Blick auf die Leinwand eröffnet einen Sehraum intensiver und extensiver Mobilität. Wirklichkeit wird im Gleichnis sichtbar, das Wiedersehen und neues Sehen zugleich verspricht. Jede Leinwand im Kino ist das Versprechen, daß der dunkle geschlossene Raum sich öffnen möge, um bisher Nichtgesehenes, Verborgenes und Unsichtbares sichtbar zu machen. Bei aller Unähnlichkeit mit der Wirklichkeit verlangt die Struktur des Gleichnisses nach Ähnlichkeit. In den vertrauten Narrativen und der scheinbaren Wiederholung bekannter Seherfahrungen, vor allem aber in der Erzeugung eines affektiv besetzten Raumes, wird ein Bündnis mit den Zuschauenden geschlossen, das nur um den Preis des Ausschlusses hintergehbar ist. Gleichnisse entwickeln einen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, der auf anderes und neues Sehen verweist, weil sie keine Abbildungen von Realität sind. Wirklichkeit wird multiperspektivisch, wird durchsichtig auf Unsichtbares und entwirft die Möglichkeit ihres Transzendierens. Daher kann der christliche Glaube auf solche Gleichnisse der Wirklichkeit so wenig verzichten wie Jesus es bei seiner Ankündigung des Reiches Gottes konnte. Denn im Gleichnis kommt eine Erfahrung mit dem Sehen zur Sprache und ins Bild, die sich dem Vertrauen verdankt, das für Gott und seine Geschichte mit uns offen ist. Filme als Gleichnisse zu verstehen bedeutet, sie in der Erwartung und Hoffnung zu sehen, daß Offenheit entsteht für das Wechselspiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Vertrautem und Fremdem, Bekanntem und Unbekanntem. Im Unterschied zur literarischen Form des Gleichnisses, das durch bestimmte Irritationen und ungewöhnliche Anordnungen realer Erfahrungen Aufmerksamkeit und veränderte Perspektiven erzeugt, springt der Film ins Auge. In Idealisierungen und Typisierungen, im Klischee und im Kitsch, in verstörenden Großaufnahmen und in beruhigenden Totalen zielt der Film auf die Bewegung der Affekte. Lachen und Weinen, Freude und Trauer, Lust und Ekel, sexuelles Begehren und haßerfüllte Gewalt: Filme

2 3

G. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, und Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt/M. 1989 und 1990. B. Waidenfels, Sinnesschwellen, Studien zur Phänomenologie des Fremden Bd. 3, Frankfurt/M. 1999.

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zeigen uns Gleichnisse der „condition humaine", die uns nicht unberührt lassen. Deleuze hat in seiner Filmtheorie den Versuch unternommen, das Bewegungs-Bild und seine Metamorphosen Wahrnehmungsbild, Aktionsbild und Affektbild zu klassifizieren, um ein System der elementaren Bilder des Films zu rekonstruieren. Diese Bilder können in allen Filmen wiederentdeckt werden und bilden eine Art Zeichenlogik des Films. Demgegenüber betont Waldenfels in seinen Studien zur Phänomenologie des Fremden, daß Seherfahrungen auch Fremdheitserfahrungen sind. Jeder Blick ist beunruhigt durch das Verborgene und Unsichtbare, das mit jeglicher Erfahrung von Sichtbarwerden und Sichtbarmachen immer schon mitthematisiert wird. Die Technik des Films, seiner Produktion wie Rezeption, besteht gerade in der Kunst, Verborgenes sichtbar zu machen und gleichzeitig Sichtbares zu verbergen. Was sich im Film zeigt, ist fur die bestimmte Dauer einer Bewegung wirklich und zugleich unwirklich als feststellbare Tatsache. Die augenscheinliche Wirklichkeit bekommt Fenster, und diese Fenster ermöglichen Ausblicke, die Alltag und Welt in neuer Beleuchtung wahrnehmbar machen. Gleichnisse formen literarisch oder filmisch ein Erschließungsgeschehen fur verändertes Sehen und Hören. Das Kino ist ein Ort der Offenbarung neuen Sehen und Hörens, bei der uns immer wieder auch Sehen und Hören vergeht. Dieser Bewegung vom Ende des Sehens zu neuem Sehen im Kino versuche ich im folgenden nachzugehen.

1. „Bewegungs-Bild" (Deleuze) und „beunruhigter Blick" (Waldenfels) Vor der Beweglichkeit der Bilder steht die Bewegung des Zuschauenden. Die Wahrnehmung eines Films bildet eine Sozialerfahrung, die mit einer individuellen Wahl und einem öffentlichen Weg verbunden ist. Vor den Blicken liegt ein Weg, der voller Erwartungen ist. Diesen Weg zu einem öffentlichen Ort als Voraussetzung der Wahrnehmung teilt das Kino mit dem Theater, der Oper, dem Museum, dem Kaufhaus, der Kirche und dem Rathaus. Das Kino gehört zum Marktplatz und nicht zum privaten Wohnzimmer. Diese unhintergehbare soziale Dimension der Filmwahrnehmung ist für das Verständnis von Filmproduktion und Filmrezeption bedeutsam. Das Bewegungs-Bild des Films ist ein massenwirksames Phänomen; Wahrnehmung, Aktion und Affekt sind zugleich individuell und gemeinschaftlich vermittelt. Mit dem Betreten des geschlossenen Kinoraumes wird es für die Augen dunkel. Seherfahrungen in Höhle und Nacht werden assoziiert. Piatons Höhlengleichnis wie die Lichtmetaphorik der Aufklärung lassen sich kulturhistorisch mit dieser Sehordnung verbinden. Der natürliche Blick erfährt durch

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diese Verdunklung eine Metamorphose, damit ein anderer Blick Raum gewinnen kann. Durch die Anordnung und Ausrichtung der Sitze wird der Blick auf die Leinwand eingestellt. Ein Blickfeld und ein Sehraum ist organisiert, der im Verhältnis zum natürlichen Blick und seiner Beweglichkeit eine Art künstlicher Stillstellung des Blicks bedeutet. Mit dem Eintritt ins Kino wird auch die Schwelle vom natürlichen zum künstlichen Blick überschritten. Das Auge überläßt sich in diesem Raum einer spezifischen Organisation der Blikke. Indem das Auge in relativer Unbeweglichkeit dem Bewegungs-Bild folgt, wird es bewegt und die natürliche Wahrnehmung bricht an der inszenierten Wahrnehmung der bewegten Bilder. Diese Unterbrechung und Störung der natürlichen Wahrnehmung macht ein Faszinosum des Kinos aus: es wird anders und es gibt Anderes zu sehen. „Anderssehen bedeutet stets auch von anderswo sehen. Die Erkundimg der Geschichte des Sehens erfordert demgemäß einen Doppelblick, der inmitten aller Ordnungen, Praktiken und Techniken des Sehens dem Unsichtbaren Beachtung schenkt."4 Das Kino ist ein solcher Ort des Anderssehens, an dem durch das Anderswoher von Kamera und Projektor Licht auf das Unsichtbare und Verborgene fallt. Das Begehren, sich beim Sehen selber zuzusehen, wird durch die Verfremdung des eigenen Blicks in der cinematografischen Organisation der Blicke befriedigt. Das Fremde mit eigenen Augen wahrzunehmen, indem es für eine bestimmte Dauer bedrohliche Spannung und affektive Wirkung erzeugt, macht den populären Reiz des Kinos aus. Durch Schnitt und Montage, Beleuchtung und Kulisse, Großaufnahme und Totale, Kamerafahrt und -einstellung wird aus den Teilen eines Films ein Ganzes, das keiner natürlichen Wahrnehmung mehr entspricht. Im Kino können wir zurück- und nach vorne sehen, von oben und von unten wahrnehmen und im Kreis uns um uns selber drehen wie es kein Auge je vermag. Dabei entsteht eine Bewegung, der wir dauerhaft folgen müssen und die einen spezifischen Eindruck hinterläßt. Mit Deleuze definieren wir „also den Film als ein System, das die Bewegung reproduziert, indem es sie auf den beliebigen Moment bezieht."5 In einer Klassifikation von Bildern entfaltet Deleuze dieses System, indem er das Bewegungs-Bild unter den Aspekten von Bildfeld und Einstellung, Kadrierung und Szenenaufgliederung, Montage und Komposition beschreibt. Als Wahrnehmungs-, Affekt- und Aktionsbild entwickelt Deleuze die Formen des BewegungsBildes und die ihnen entsprechenden Transformationen. Der Film bildet ein System hochbeweglicher Zeichen, die selber Bewegungen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Fremdem und Eigenem auslösen. Im Gespräch mit Bergson findet Deleuze die Bedeutung der Bewegung für jegliche Wahrnehmung. Wahrnehmung ist ein komplexer äußerlicher wie 4 5

Waldenfels, Anderssehen, in: a.a.O., 178. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 19.

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innerlicher Bewegungsvorgang, bei dem unterschiedliche Momente von Sinneseindrücken zu einem Ganzen zusammengefugt werden. Erst in solch differenzierter Bewegung entsteht ein Bild oder mit Deleuze: „Tatsächlich befinden wir uns vor der Exposition einer Welt, in der BILD = BEWEGUNG ist."6 Nach Bergson hat diese Identität von Bild und Bewegung ihren Grund in der Identität von Materie und Licht.7 Daß das Bild selber Bewegung ist, löst einen Blickwechsel aus, der sowohl im Bild selber als auch zwischen Bild und Zuschauenden stattfindet. Filmwahrnehmung ist eine wechselseitige Bewegung von innen und außen, in der die Blicke vielschichtig aufeinander antworten. Und es sind diese „Blickbewegungen", die das Bewegungs-Bild entwirft, die zu einer höchst reizvollen Beunruhigung des Blicks fuhren. „Neuartiges Sehen, das vom gewohnten Sehen abweicht, läßt sich jedoch keineswegs als Akt denken, der sich auf etwas richtet, was schon da ist. Es beginnt damit, daß uns etwas auffallt, einfallt, zufallt, zustößt. Blick- oder Gedankeneinfalle, die mir kommen, sind keine Akte, die ich vollziehe: Es fallt mir ein, es fällt mir auf, es springt ins Auge."8 Was hier als Erscheinung des Sehens beschrieben wird, ist die Intention des Bewegungs-Bilds: es soll einfallen, auffallen und ins Auge springen. Die Irritationen und Störungen des natürlichen Sehens sind Filmprogramm, sofern es unsere Blicke bewegen will. Das Versprechen des Kinos liegt in der Beunruhigung der Blicke. Und jeder Kinobesuch kann die Erfüllung des Versprechens bedeuten, sofern die Bewegung der Bilder mich bewegt. Dabei überlassen wir in einer eigentümlichen Passivität unsere Körper und unsere Augen einem Abenteuer des Sehens, bei dem wir zu finden hoffen, was wir nicht suchen konnten, weil es uns unsichtbar und verborgen ist. „Im aktiven Sinne suchen kann ich nur das, was ich schon kenne. Ein Finden, das mehr bedeutet als bloßes Wiederfinden, überschreitet eine Schwelle. Es stößt auf 6 7

Deleuze, a.a.O., 86. Vgl. die Interpretation von Bergson, Materie und Gedächtnis durch Deleuze, 89. In seinem zweiten Bergson-Kommentar geht Deleuze kurz auf das Verhältnis zur Phänomenologie Merleau-Pontys ein, wenn er schreibt: „Merleau-Ponty versucht bei Gelegenheit eine Gegenüberstellung Film-Phänomenologie, sieht aber -...- im Film nur einen zweifelhaften Verbündeten. ... Was die Phänomenologie zur Norm erhebt, sind die "natürliche Wahrnehmung" und ihre Bedingungen." (a.a.O., 85) Wahrgenommene oder vollzogene Bewegung wird hier als eine Empfindungsform (Gestalt) verstanden, "die das perzeptive Feld in Abhängigkeit von einem intentionalen Bewutßsein in einer Situation organisiert." Nach Deleuze befreit der Film das Subjekt jedoch aus seiner Verankerung in der Welt, „indem er die Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung durch ein implizites Wissen und eine zweite Intentionalität ersetzt. ... mit dem Film wird die Welt ihr eigenes Bild und nicht ein Bild, das zur Welt wird." (a.a.O., 85) Semiotische und phänomenologische Betrachtungen wollen meine Überlegungen zusammenführen, weil ich denke, daß es genau dieses System von Bewegungs-Bildern ist, das die Wahrnehmung von Fremdem und Eigenem, von Sichtbarem und Unsichtbarem verstehbar macht. 8 Waidenfels, Der beunruhigte Blick, in: a.a.O., 125/126.

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etwas, das uns überfällt und überrascht, das sowohl Erschrecken wie Erstaunen auslöst und Züge vom tremendum und fascinosum an sich hat."9 Wenn jeder Kinobesuch das Überschreiten einer Wahrnehmungsschwelle einschließt, dann sind in einem allgemeinen Sinne Kinoerfahrungen auch Transzendenzerfahrungen mit einem religiösen Horizont. „Der Blick, der immer schon außer sich ist, hat es mit Abwesendem zu tun, das ängstigt oder verlockt, anzieht oder abstößt und uns eben deshalb nicht zur Ruhe kommen läßt."10 Exakt dieses Abwesende wird in der Blickorganisation des Kinos zu einem Anwesenden, indem der Zuschauer gleichzeitig ganz außer sich und ganz bei sich ist. In Wahrnehmung, Handlung und Affekt erkennen wir uns selbst, sehen uns wieder und sehen uns neu. Dabei spielt das Bewußtsein, mit dem wir sehen, nur eine sekundäre Rolle. Wir überlassen unseren Blick den Einstellungen der Kamera, die ein ausgewähltes Blickfeld entwirft. Unser Blick wird durch die Kamera fortbewegt. „Man könnte sich eine Reihe von Fortbewegungsmitteln (Eisenbahn, Auto, Flugzeug ...) und parallel dazu eine Reihe von Ausdrucksmitteln (Graphik, Foto, Film ...) vorstellen: die Kamera erschiene dann als eine Art Relais oder besser noch als ein verallgemeinertes Äquivalent der Fortbewegungen."11 Die Kamera ist Fortbewegung im Apparat: sie läßt die Bilder laufen, indem sie sie im gleichen Abstand von Momentaufnahme zu Momentaufnahme transportiert, 24 mal pro Sekunde. Durch Schnitt und Montage, durch Kamerafahrten und Einstellungsvielfalt wird das Bild als Bewegungsvorgang intensiviert und extensiviert. Die Bewegung unserer Blicke vollzieht sich durch die ungeheure Beweglichkeit der Bilder, die unser natürliches Sehvermögen transzendiert. In Großaufnahmen und Panoramen, in Rückblenden und Vorausschau, in Überblendungen, Ab- und Aufblendungen und in der Variation von Geschwindigkeit und Zeit wird ein imaginärer Sehraum geschaffen, der die Begrenztheit der Augen aufhebt. Durch technische und ästhetische Verfremdung wird unser Sehen selbst dramatisiert. Es gewinnt Tiefenschärfe und Hellsichtigkeit genauso wie es getäuscht, manipuliert und belogen werden kann. Das Kino ist kein Ort des „wahren Sehens", sondern ein Ort der Doppel- und Mehrfachblicke, an dem die Vieldeutigkeiten lebendiger Wirklichkeit wie in einem Gleichnis des Sehens erscheinen. Hier werden wir mit der Ungewißheit unserer natürlichen Wahrnehmung in einer Weise konfrontiert, die den Film zu einer signifikanten Darstellungsform modernen Bewußtseins macht. Nirgends wird die immer schon naive Behauptung „ich glaube nur, was ich sehe", so sehr in Frage gestellt wie im Kino. Es ist die inszenierte Fremde im Vertrauten, die den Reiz der Filmwahrnehmung ausmacht.

9 Waidenfels, Der beunruhigte Blick, in: a.a.O., 126. 10 Waldenfels, Der beunruhigte Blick, in: a.a.O., 130. 11 Deleuze, a.a.O., 17.

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„Blickstörungen sind es, die den normalen Blick in Unruhe versetzen, und eventuell zu einer Blickrevolution, zu einem Anderssehen fuhren." 12 Wie Einstellungen durch die Filmeinstellung verändert werden und ein anderes Sehen ermöglicht wird, verdeutlicht das Verständnis des Films als Bewegungs-Bild. „Die Einstellung ist das Bewegungs-Bild. Insofern sie die Bewegung auf ein sich veränderndes Ganzes bezieht, ist sie der bewegliche Schnitt einer Dauer. Bei der Beschreibung des Bildes einer Demonstration erklärt Pudovkin: Das ist, als stiege man aufs Dach, um sie sich anzusehen, stiege dann hinab zu einem Fenster im ersten Stock, um die Losungen auf den Tragetafeln zu lesen und mischte sich dann unter die Menge ... Es ist nur ,als ob': denn die natürliche Wahrnehmung bringt Unterbrechungen, Stockungen, Fixpunkte und gesonderte Gesichtspunkte, ganz unterschiedliche Träger, wenn nicht Beförderungsmittel, mit sich, wohingegen die kinematographische Wahrnehmung kontinuierlich verfährt, in einer einzigen Bewegung, in der die Unterbrechungen - die nur Vibration in sich sind - als integrale Bestandteile dazugehören." 13 Was der Phänomenologe als „abweichendes Sehen" vom normalen Blick unterscheidet, das wird dem Filmtheoretiker zur prinzipiellen Einstellung, die die Filmwahrnehmung ausmacht. „Anderssehen" ist für das Kino Programm. Zu einer Phänomenologie des Fremden, die den Formen und Ordnungen des Sichtbaren nachgeht, gehört das Kino als inszenierter Blickraum mit spezifischer Seherfahrung. Filme sind Gleichnisse des Sichtbaren, indem der Zuschauer einer Bewegung der Blicke folgt, die seine Verankerung in der Welt partiell aufhebt, um neues und anderes Sehen zu ermöglichen. Im Kino gerät das Sehen in eine Bewegung, die sich dem Visionären wie dem Imaginären, dem Illusionären wie dem Realen verdankt. Als Gleichnisse sind Filme Verfremdungen der Wirklichkeit, die das Fremde und das Ferne als Eigenes und Nähe ins Spiel bringen. „Das Blickgeschehen mitsamt dessen, was wir als Blickstörung, Blendung, fremder Anblick, Blickbegehren und Blickantwort namhaft gemacht haben, muß mit dem Bildaufbau und dem Blickgeschehen interferieren. Das 'sehende Sehen' wäre ... ein Geschehen, das sich im Sehen des Gesehenen ständig selbst entgleitet. Es stünde für eine Fremdheit, die sich dem eigenen Blick einschreibt."14 Durch die Struktur des Bewegungs-Bildes wird das Sehen im Kino zu einer Erfahrung der Fremdheit, die anzieht und bedroht, die Neugier weckt und Schrecken verbreitet. Nicht was, sondern wie die Dinge im Bewegungs-Bild gezeigt werden, erzeugt die Erfahrung des fremden und 'beunruhigten Blicks'. Bereits das Bildfeld (cadre), in dem aus einer Fülle von

12 Waidenfels, Anderssehen, a.a.O., S. 163. 13 Deleuze, a.a.O., 40/41. 14 Waidenfels, a.a.O., 140. Waldenfels spricht zwar nicht vom Film und der Kinoerfahrung, aber exakt diese Erfahrung könnte er mit dieser Beschreibung sehr dicht erfassen.

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Teilen bestimmte ausgewählte Elemente ein Ensemble bilden, verfremdet den Blick durch ungewohnte Eingrenzung und überraschende Perspektive. „Kadrierung ist die Kunst, Teile aller Art fur ein Ensemble auszuwählen."15 Erst wo die Kadrierung der Ensembles und die Montage des Ganzen miteinander vermittelt sind, kann ganz allgemein von einer filmischen Einstellung gesprochen werden. Diese Vermittlung von Kadrierung und Montage zu einem Ganzen geschieht als Bewegungs-Bild. Daher sind die Anschlüsse der einzelnen Bilder fur das Verständnis des Films entscheidend, denn durch sie wird der Film zu einer neuen und anderen Wahrnehmungserfahrung. Daher spielen auch 'falsche Anschlüsse', die durch die Montage entstehen, für das Verständnis der Filme eine wesentliche Rolle. Denn 'falsche Anschlüsse' bringen zusammen, was der natürlichen und bewußten Wahrnehmung verborgen ist und machen Unsichtbares sichtbar. Einem Assoziationsverfahren vergleichbar kann der Film in Raum und Zeit,springen', kann Parallelen montieren, Wahrnehmung be- und entschleunigen und durch Beleuchtung den Blick ins Unbekannte lenken, so daß das Fremde im Eigenen der Wahrnehmung, des Handelns und des Affektes erkennbar und erlebbar wird. Das Kino bietet einen bequemen und geschützten Raum des Fremdsehens. Für die Dauer der Filmvorführung werden wir in einen Zustand gleichnishaften Sehens versetzt, der uns der Wirklichkeit enthebt und zugleich einen stabilen Rahmen der Wahrnehmung bietet. Der ruhiggestellte Körper wird auf den 'beunruhigten Blick' konzentriert, der durch die Bewegung der Bilder ausgelöst und gelenkt wird. Der Film überschreitet die menschliche Wahrnehmung auf eine andere Wahrnehmung hin und differenziert damit die Wahrnehmung in Richtung auf ihre unabschließbaren und offenen Möglichkeiten. Jenseits der Wirklichkeit nehmen wir im Kino uns selber als Fremde wahr, die ungeahnte Möglichkeiten entdecken und erkunden. Dabei folgen diese Möglichkeiten einer bestimmten Klassifikation von Bildern, die sich als Metamorphosen des Bewegungs-Bildes darstellen lassen, und die räumlich festgelegten Einstellungen zugeordnet werden können: „die Totale wäre vor allem ein Wahrnehmungsbild, die Halbaufnahme ein Aktionsbild und die Großaufnahme ein Affektbild."16 Die Organisation der Blicke und die Erfahrung des Sehens entspricht einem Zeichensystem, aus dem das Substrat des Films gewonnen wird. Filmwahrnehmung wird zu einem Gleichnis des Sehens, indem wir dem „Sehen" der Kamera und dem „Sehen" der Akteure zusehen. Es ist ein Sehen, als ob wir selber sehen würden. Jedoch sind unsere Blicke gefuhrt und bewegt durch das Leinwandbild, wobei ihre Bewegung durch Beunruhigung und Irritation, durch Begehren und durch Hingabe erzeugt wird. Im Gleichnis des Sehens verwandelt sich die 15 Deleuze, a.a.O., 35. 16 Deleuze, a.a.O., 102.

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Wirklichkeit unserer Wahrnehmung, indem ein Spiel mit den Möglichkeiten des Sicht- und Darstellbaren begonnen wird. Ein kleiner Kameraschwenk, die Großaufnahme eines Gesichts oder der überraschende Schnitt: das bisher Wahrgenommene und Wiedergesehene gewinnt Mehrdeutigkeit und Tiefenschärfe, die den Reiz des Neuen und Fremden besitzen. Dies kann wie im populären und vor allem kommerziell orientierten Film als gezieltes Kalkül eingesetzt oder wie in der Filmkunst als eigene künstlerische Ausdrucksform entwickelt werden. Dabei sind die Grenzen zwischen populärem Kino und Filmkunst ausgesprochen durchlässig und nur an der Gestaltung des einzelnen Films auszumachen. Zum Gleichnis wird die Filmwahrnehmung, weil sie wie jedes Gleichnis die festgestellte Wirklichkeit in ein Spiel von Möglichkeit transformiert. Daß es schlechte und langweilige Spiele gibt, ändert nichts an ihrem Gleichnischarakter. Gelungene Gleichnisse zu entdecken, die der Wirklichkeit eine Melodie vorspielen, die die Verhältnisse zum Tanzen bringt, wäre die Aufgabe einer kritischen Unterscheidung innerhalb der Filmwahrnehmung als Gleichnis. Filmanalyse und Filmkritik rekonstruieren das Verhältnis von Gleichnis und Wirklichkeit, um die angemessenen kreativen und offenen Möglichkeiten oder die ideologischen und affirmativen Entwürfe zu benennen. Dabei wird die Richtung, in welche die Blicke im Kino bewegt werden, fur die Beurteilung der Filme ermittelt. Zielt der Blick auf die Humanisierung der Lebensverhältnisse oder wird bestehendes Unrecht und existierende Inhumanität legitimiert und überhöht? Gleichnisse überschreiten das Sichtbare, um Unsichtbares und Verborgenes erscheinen zu lassen. Das Spiel mit den visualisierbaren Möglichkeiten trägt auch dann gleichnishafte Züge, wenn es die Augen blendet, bannt und überwältigt. Noch der sentimentalste Kitsch kann uns zu Tränen rühren, weil er Unbewußtes und Unbekanntes thematisiert, dem wir uns in seiner affektiven Wirkung nicht zu entziehen vermögen. „'Vielleicht aber ist das Bild auch eine Repräsentationsform fìir etwas anderes, nämlich das Anschauungsmodell für eine jedem unmittelbaren Zugriff sich entziehende Wirklichkeit überhaupt, auf die es als ein Sichtbares hindeutet und die selbst kein Aussehen hat.' Diese Möglichkeit eines Wirklichkeitsentzugs im Sehen selbst fuhrt uns auf die Spuren eines fremden Blicks, der kein Aussehen hat, sondern uns stets das Nachsehen gibt."17 Was hier vom gemalten Bild ausgesagt wird, gilt vom Bewegungs-Bild des Films in gesteigertem Maße. Im Gleichnis der Filmwahrnehmung entzieht sich die Wirklichkeit dem Sehen, um in der Inszenierung als fremd und anders wieder zu erscheinen. In jedem Wiedersehen, im Deja-vu, steckt immer auch ein neu und anders sehen. Unmerklich oft haben sich die Perspektiven der Wahrnehmung im Laufe der Zeit verschoben und ein neuer Anblick und Einblick wird möglich. Was uns einmal 17 Waldenfels, Der beunruhigte Blick, in: a.a.O., S. 139.

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wie ein treffendes Bild der Realität vorgekommen ist, erscheint nun in geradezu surrealen Formen und Farben und in einem neuen Licht. Wo der Glaube von Gott redet, da wird die Wirklichkeit noch einmal anders in ihrer Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit erkennbar.

2. Vom Sehen im Glauben: ein Blickwechsel „Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren." (Jes. 64,3) Da der Glaube im Blick auf Gott immer das Nachsehen hat, kann von Gott und seinem Reich nur in der Form des Gleichnisses geredet und erzählt werden. Im Verzicht auf eine bestimmte Anschauung von Wirklichkeit gewinnt der Glaube einen neuen und anderen Blick auf die Wirklichkeit, indem er im Blick auf Gott unser Sehen verändert. Gott kommt im Gleichnis so zur Sprache, daß beziehungsreich die Distanz zu ihm gewahrt bleibt und er deutlich in bestimmter Zeit und konkretem Raum vernehmbar ist. Das Sehen der Wirklichkeit wird für den Glauben an Gott zu einer Gleichnishandlung. Wirklichkeit wird durchsichtig in ihrer eigenen Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit. Nicht so sehr die literarische Form des Gleichnisses und deren Hermeneutik ist fur den Film von Interesse, sondern die Organisation von Perspektiven und der entworfene Blickwechsel. Der Spätform ihrer schriftlichen Fassung liegt eine Sicht der Wirklichkeit zugrunde, die einen verfremdeten und beunruhigten Blick erzeugt. Durch die Ähnlichkeit zwischen dem Augenschein und der verheißenen Welt Gottes wird eine konstitutive Differenz der Wahrnehmung festgehalten, ohne daß diese beiden Perspektiven in der Wahrnehmung auseinanderfallen. Gleichnisse als spezifische Sehweisen des Verhältnisses von Gott und Mensch sind als „dichte Beschreibungen" dieses Verhältnisses für die theologische Reflexion und die Begrenzungen ihrer Begriffsbildungen als Korrektiv unverzichtbar. Der literarischen Form geht die eigentümliche Wahrnehmungsform des Gleichnisses voraus. Wie die biblischen Gleichnisse in alltäglichen Geschichten, ihrer szenischen und dramatischen Gestaltung, das Reich Gottes darzustellen vermögen, so eröffnet der Film als inszeniertes Bewegungsbild immer wieder neue Perspektiven, die alltägliche Erfahrungen überschreiten und bisher Verborgenes sichtbar und erkennbar machen. Gleichnisse wollen wie Filme die Blicke in neue und überraschende Richtungen lenken, damit die unverfügbare und unbekannte Wahrheit des Lebens und der Welt in Erscheinung zu treten vermag. Wenn Jesus vom Sämann, vom verlorenen Sohn, vom Weinbergbesitzer oder von den anvertrauten Talenten erzählt, dann widerfahrt der alltäglichen Geschichte durch ihre Gestaltung als Gleichnis eine Metamorphose, die ein

Vom Sehen im Glauben: ein Blickwechsel

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anderes Sehen konstituiert. Der Blick auf die Geschichte und ihre Bilder weitet sich und bildet einen neuen Horizont aus. Als narrative Fiktion gewinnt die Parabel ihre Attraktivität dadurch, „daß sie das Geläufige in einer eigenwilligen und problematischen Verschränkung mit dem ganz und gar nicht Geläufigen vor Augen fuhrt."18 In der Unterscheidung von Geläufigem und Nichtgeläufigen wiederholt sich die phänomenologische Differenzierung von Eigenem und Fremden, Vertrautem und Unbekanntem. Gleichnisse lehren anders auf die Wirklichkeit zu sehen, weil sie sich auf eine andere Wirklichkeit beziehen, die nur im Gleichnis darstellbar ist. Dabei werden Lebenswelt und Alltag nicht enthusiastisch oder esoterisch übersprungen, sondern exakt im Alltäglichen kann das Gleichnis geformt und anschaulich werden. Als literarische Formen bewegen Gleichnisse die Blicke von der einen Wirklichkeit in eine andere, so daß sie durchaus als literarisches Äquivalent der Kinoerfahrung verstanden werden können. Im Glauben an eine andere zukünftige Wirklichkeit werden Möglichkeiten der existierenden Wirklichkeit sichtbar, die sich dem Auge unmittelbar verbergen würden. Veränderungen dieser Wirklichkeit beginnen mit einer veränderten Wahrnehmung, die durch den Blick auf eine andere Wirklichkeit ein phantasievolles Spiel mit den erkennbaren Möglichkeiten eröffnet. Sehen im Glauben macht das Sehen selbst zu einer Gleichnishandlung: Durch-, Weit- und Einblick gewinnt das Sehen, wenn es im Vertrauen auf Gott seine Spuren in den Gleichnissen entdeckt. „Christlicher Glaube bedeutet nämlich auch Einladung in eine Sehschule, in der Menschen die Augen zur Wahrnehmung des Lebendigen geöffnet werden."19 Auch das Kino lädt zu dieser Wahrnehmung des Lebendigen ein, gerade in seinen ästhetisch und technisch avanciertesten Werken. In der Gleichnishafitigkeit des Sehens entsprechen sich die Wahrnehmungsformen in Kino und christlichem Glauben. Beide bewegen die Blicke in doppelter Hinsicht: indem sie den Kopf und das Herz, den Verstand und das Gefühl ausrichten auf neue andere Horizonte. Nicht jeder Film ist ein Gleichnis, sondern zum Gleichnis wird der Film dort, wo er ein Sehen des

18 W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 1990 (2. Aufl.), 306, der sich in seiner Hermeneutik der Gleichnisse auf F. Kafka bezieht, der als passionierter Kinobesucher auf höchst subtile Weise unser Verhältnis zur Wirklichkeit selbst als gleichnishaft beschreibt. (Vgl. F. Kafka, Erzählungen, Frankfurt/M. 1961, darin: Von den Gleichnissen, 328). Und wenn Hämisch im Blick auf das NT formuliert: „Nicht der abgedroschenen Geschichte des Wirklichen, sondern der unverbrauchten Geschichte eines Möglichen redet Jesu Parabel das Wort" (a.a.O., 307), dann besitzt die Möglichkeit einen Vorrang vor der Wirklichkeit, die mit einem neuen, anderen und fremden Wahrnehmen und Sehen einhergeht. Das Entwerfen von Gleichnissen als Praxis des Glaubens wäre für Kirche, Theologie und Kultur noch zu entdecken. 19 H.-G. Heimbrock, Gott im Auge. Über Ansehen und Sehen, in: W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, Stuttgart u.a. 1998, 144.

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Schneider-Quindeau: Bewegte Blicke

Sehens ermöglicht und den Blick für den mitmenschlichen Sinn des Auges öffnet. Indem Menschen sich ansehen und im Ansehen Anerkennung finden, wird das Sehen zum Gleichnis für Gottes Blick auf uns Menschen, gleich wie „sein Angesicht leuchtet über uns". „Großer, feierlicher, unvergleichlicher Augenblick, wo es zwischen Mensch und Mensch nun vielleicht zum Augenblick', nämlich dazu kommt, daß sie sich in die Augen blicken, sich gegenseitig entdecken! Dieser Augenblick ist gewissermaßen die Wurzelbildung aller Humanität, ohne die alles Weitere unmöglich wäre."20 Diesen humanen Sinn des Auges vermag das Kino in den gelungenen Augenblicken bewegend zu inszenieren. Eine Phänomenologie des Kinos und das Verständnis der filmischen Codes könnten der Kirche helfen, sich als Gleichnis des Himmelreichs in Augenhöhe und im wechselseitigen Anblikken zu verstehen. V. Flusser hat darauf aufmerksam gemacht, „daß das Kino innerhalb der gegenwärtigen kodifizierten Welt eine der mittelalterlichen Kirche vergleichbare Stelle einnnimmt."21 Wofür steht die Kirche als Raum und als lebendige Gemeinschaft, wenn sie Gleichnis des Gottesreiches sein will? Sie wird aus ihren Mauern und Strukturen aufbrechen müssen, um im Sehen der Geschichten, die kulturell und religiös, politisch und sozial im Alltag und der Lebenswelt der Menschen spielen, Gleichnisse zu suchen, die in Phantasie und Imagination Befreiung von den vielfaltigen Zwängen der Wirklichkeit entwerfen. Und dabei wird geweint und gelacht, Spannungen erzeugt und Entspannung herbeigeführt werden - zutiefst werden wir von diesen gefundenen Gleichnissen bewegt werden: eben genau wie im Kino.

20 K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/2, Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1959 (2. Aufl.), 301. 21 V. Flusser, Medienkultur, hrsg. v. S. Bollmann, Frankfurt a.M. 1997, 95, wo Flusser auf den Zusammenhang zwischen Kinosaal und Basilika verweist. „Übrigens ist der Kinosaal kein Enkel des klassischen Theaters, sondern der Basilika, und dieser Umstand will bedacht sein. Die klassische Basilika,..., war ursprünglich eine Art Supermarkt, die später zu Tempel und Kirche umfunktioniert wurde. In unserer kodifizierten Welt dient die Basilika beiden, aber jetzt voneinander räumlich getrennten Funktionen: als Supermarkt und als Kino." In den modernen Shopping Centers wachsen beide wieder räumlich zusammen, wobei zu überlegen wäre, was dies für die Präsenz der Kirche auf den modernen Marktplätzen bedeutet. Auf jeden Fall wird sie ins Kino gehen müssen.

Thomas Α. Lötz

Zeichen 1. Zeichen - Phänomenologie - Praktische Theologie Die Unterstellung, daß Phänomenologie und Praktische Theologie sich etwas zu sagen haben, teilt die nachfolgende Skizze mit den anderen Beiträgen in diesem Band. Aber warum soll dabei vom Zeichen die Rede sein? Gehört das nicht in einen ganz anderen Theoriezusammenhang, in Denkbewegungen, die bestenfalls neben der Phänomenologie koexistieren, wenn nicht gar ihr feindlich entgegentreten? Und was soll die Praktische Theologie damit anfangen? In einer solchen prekären Diskussionslage könnte es zur Lockerung theoriestrategischer Verspannungen beitragen, wenn man die Relationen zwischen >ZeichenPhänomenologie< und >Praktische Theologie< mit einer gewissen Unbefangenheit näher zu bestimmen beginnt. Das nachfolgend gewählte Verfahren setzt darauf, daß sich diese drei - je für sich genommen recht vagen - Begriffe gegenseitig zu einem gewissen Grad von Bestimmtheit verhelfen, wenn sie in Relationen zueinander treten. Zweistellige Relationierungen sind bereits erprobt worden: zwischen Phänomenologie und Praktischer Theologie [1], aber auch zwischen Semiotik (als Theorie der Zeichen und Zeichenprozesse) und Praktischer Theologie [2]. Setzt man [1] und [2] nebeneinander, läßt sich fragen: Kann Praktische Theologie zugleich phänomenologisch und semiotisch inspiriert sein? Kriterien dafiir wären in der dritten Dyade zu finden - der Relation von Phänomenologie und Zeichenbegriff [3], An ihr, die die am spärlichsten bearbeitete ist, wird hier zuerst angesetzt - skizzenhaft, aber doch als Enfaltung der These: Die Phänomenologie ist nicht nur für den Zeichenbegriff offen und vermag ihn produktiv zu integrieren, sie benötigt ihn vielmehr, um ihr fundamentales erkenntnistheoretisches Anliegen prägnant zu formulieren.1 Daß sie dies kaum realisiert hat, liegt an dem berechtigten Verdacht, der Zeichenbegriff sei seitens bestimmter Zeichentheorien mit verdeckten Prämissen belastet, die dem phänomenologischen Denken entgegenstehen. Der Zeichenbegriff muß also selbst phänomenologisch gefaßt werden.

1 Vgl. den Übergang von der beschreibenden zur semiotischen Phänomenologie im Beitrag von H. Deuser in diesem Band.

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Der zweite Schritt problematisiert vorhandene Relationierungen von Semiotik und Praktischer Theologie. Der Zeichenbegriff, wie ihn Praktische Theologen bisher aufgenommen haben, fuhrt zu einem reduktionistischen oder einem dezisionistischen Verständnis religiöser Praxis, was systematischtheologisch, aber gerade auch für eine Phänomenologie gelebter Religion2 fatal ist. Das Problem liegt also auch hier im Zeichenbegriff selbst, und es stellt sich die Frage nach Alternativen. - Daher greift der dritte Schritt Konvergenzen von kontinentaler Phänomenologie und pragmatistischer Phänomenologie amerikanischer Herkunft auf und entwirft einen Zeichenbegriff, der den von Husserl und Merleau-Ponty gesetzten Standards phänomenologischen Denkens zu entsprechen vermag. Es kann dann skizziert werden, wie eine phänomenologisch inspirierte Praktische Theologie sich zugleich als semiotisch inspiriert verstehen kann.

2. Das Zeichen: eine Leerstelle im phänomenologischen Denken? >Zeichen< ist offensichtlich kein Grundbegriff der Phänomenologie. Ein Blick in die Sachregister der Husserliana oder der Werke von MerleauPonty, Schapp, Fink, Ströker, Bernet, Sommer, Waldenfels und der vielen anderen, die im Umkreis dieser Denkbewegung zu Hause sind, genügt fur diesen Befund. Auch der Titel des Sammelbands Signes von Merleau-Ponty, kurz vor seinem Tod erschienen, sollte nicht täuschen.3 Innerhalb dieses Bandes verarbeiten nur zwei inhaltlich parallele Aufsätze den Zeichenbegriff explizit; und in diesen findet sich weniger eine Verschränkung von Phänomenologie und Semiotik als vielmehr prägnantes Anschauungsmaterial für die Schwierigkeiten der Phänomenologie mit dem Zeichenbegriff. Dabei scheint der erste Satz von Le Langage indirect et les Voix du Silence (1951)4 noch unproblematisch an die im französischen Sprachraum bis heute dominierende linguistische Zeichentheorie anzuknüpfen: „Bei Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen sich selbst und den anderen Zeichen angibt."5

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Im Sinne des Beitrags Praktische Theologie als Theorie gelebter Religion von Failing/Heimbrock in diesem Band. M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960. A.a.O., 49-104; dt. Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, 69-114. Der zweite Aufsatz heißt Sur la Phénoménologie du Langage (1951), in: Signes, 105-122; die Argumentation verläuft in den hier entscheidenden Punkten parallel. A.a.O., 69.

Das Zeichen: eine Leerstelle im phänomenologischen Denken?

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Die Pointe des Zeichenbegriffs sieht Merleau-Ponty also zunächst in der Idee des Zeichenprozesses, der nicht bloße Abfolge und Verknüpfung einzelner bedeutungsgebender Zeichen ist, sondern in seiner Struktur- und Prozeßhaftigkeit Bedeutung überhaupt erst konstituiert. Für die Fragestellung dieses Textes bedeutet das, daß Sprache „die laterale Beziehung von Zeichen zu Zeichen ist".6 Damit wendet Merleau-Ponty sich gegen die naheliegende, aber unstimmige und durch Beobachtung des kindlichen Spracherwerbs auch empirisch widerlegbare Vorstellung von Sprache als „System positiver Ideen", also von Zuordnungen eines bestimmten Ausdrucks zu einem ihm je zugehörigen Sinn.7 Vielmehr schlägt Sprache im Prozeß des Sprechens in Sinn um - der damit erst „im Schnittpunkt und gleichsam im Intervall der Wörter" auftaucht: „Sprechen heißt nicht, jedem Gedanken ein Wort unterschieben; wenn wir es täten, würde niemals etwas gesagt werden, und wir hätten nicht das Gefühl, in der Sprache zu leben, wir würden im Schweigen verharren, weil das Zeichen sofort vor einem Sinn verlöschen würde, der der seine wäre ... Die Sprache bedeutet, wenn sie, anstatt den Gedanken zu kopieren, sich durch diesen auflösen und wieder herstellen läßt. Sie trägt ihren Sinn, so wie die Spur eines Schrittes die Bewegung und die Anstrengung eines Körpers bedeutet."8

Um diese Pointe auszudrücken, mit der sich Merleau-Ponty in die Nähe des zeitgenössischen Strukturalismus begibt, erscheint der Zeichenbegriff der 'allgemeinen Linguistik' von de Saussure 9 zunächst auch phänomenologisch brauchbar. Das ändert sich allerdings durch den anschließenden Vergleich der Tätigkeiten des Malers und des Schriftstellers; am Ende muß der Zeichenbegriff, von dem zwischendurch fast nie die Rede ist, problematisiert werden. Denn nun tritt ein Charakteristikum der Sprache in den Vordergrund, das den linguistischen Zeichenbegriff als einseitig und unzulänglich erscheinen läßt: Das Sprechen nämlich erschöpft sich nicht in Verweisungen, es zielt auf „eine kumulative Vollständigkeit des Ausdrucks" : 10 „Der Wortlaut will die Sache selbst enthüllen, er weist über sich hinaus auf das, was er bedeutet. Jedes Wort kann einen Sinn noch so sehr aus allen anderen schöpfen, wie Saussure erklärt - in dem Augenblick, wo es auftritt, wird die Aufgabe des Zum-Ausdruck-

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A.a.O., 71. Eine Art Philosophie der Entwicklungspsychologie findet sich vor allem in M. MerleauPonty, Merleau-Ponty à la Sorbonne. Resumé de cours 1949-1952, Dijon 1988, dt. Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949-1952, München 1994. 8 A.a.O., 73 f. 9 F. de Saussure, Cours de linguistique generale, Paris 1915, dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin J 1967. 10 Merleau-Ponty, Mittelbares Sprechen, 112.

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bringens nicht weiter aufgeschoben, auf andere Wörter verwiesen: sie wird ausgeführt und wir verstehen etwas."11

Was die linguistische Zeichentheorie also verdeckt, ist, daß Zeichen sich auf Wirklichkeit beziehen, indem sie hypothetisch Wirkliches darstellen - „das Problem jener provisorischen Inbesitznahme, die provisorisch, aber nicht nichtig ist."12 Eine Konvergenz solcher Bezugnahme auf Wirkliches muß immer schon vorgreifend unterstellt werden, damit Zeichenprozesse überhaupt Sinn machen können: „Die Zeichen bringen uns nicht nur andere Zeichen zum Bewußtsein,... weil im Schnittpunkt aller sprachlichen Gesten schließlich das erscheint, was sie sagen wollen, und zu dem sie uns einen so vollkommenen Zugang gewähren, daß wir meinen, ihrer nicht mehr zu bedürfen, um uns darauf zu beziehen."13

Letzteres ist natürlich eine Selbsttäuschung, die von der Sprachphilosophie aufgedeckt wird. Doch entfernt sich dieser reflexive Zugriff auf Sprache dabei vom Selbstverständnis der Sprechenden in actu und damit vom Phänomen des Sprechens: „Saussure kann noch so sehr darauf hinweisen, daß jede Ausdruckshandlung nur als Modulation eines allgemeinen Ausdruckssystems signifikant wird, und insofern sie sich von anderen sprachlichen Gesten unterscheidet - das Wunder bleibt, daß wir vor ihm nichts davon wußten und es auch jedesmal wieder vergessen, wenn wir sprechen ,.."14

Mit solch systematischer Distanzierung von der Lebenswelt betätigt sich die Zeichentheorie in den Augen von Merleau-Ponty als Variante des wissenschaftlichen Weltzugriffs mit seinen bestimmten Rationalitätsstandards; sie entfernt sich damit vom Vollzug von Zeichenprozessen durch konkrete menschliche Subjekte. Aus dem Blick gerät ihr dabei vor allem auch der von jedem Sprechenden provisorisch geltend gemachte Realitätsbezug des Sprechens. Er wird überspielt von einem nominalistischen Wirklichkeitsverständnis, das den Sprechenden, der etwas zum Ausdruck bringen will, darauf verweist, daß damit noch gar nicht etwas gesagt sei, außer daß etwas gesagt sei. Demgegenüber verweist Merleau-Ponty darauf, daß das Rekurrieren auf ein 'Etwas', das sich im Sprechen von selbst versteht, die Differenz zwischen 11 A.a.O., 111. 12 A.a.O., 112. 13 A.a.O., 111 f. - Dies gilt auch nach rückwärts: „Der sprachliche Ausdruck hingegen, nicht zufrieden damit, über die Vergangenheit hinauszugehen, will diese wiederholen, zurückgewinnen, sie in ihrer Substanz erhalten, und da er sie uns nicht in ihrer Gegenwart geben kann, außer wenn er sie buchstäblich wiederholt, unterzieht er sie einer Aufbereitung, die das Wesen der Sprache ist: er bietet uns ihre Wahrheit". (110) 14 A.a.O., 111.

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jeweiligem Ausdruck und Sinn, zwischen Gesagtem und Gemeintem, in sich selbst bewahrt. Die Praxis des Sprechens muß nicht erst durch eine wissenschaftliche Semiotik über ihre vermeintliche ontologische Naivität aufgeklärt werden. Enthält doch das lebensweltliche Sprechen schon in sich das Ringen um angemessenen Ausdruck, das Sich-Selbst-Korrigieren, aber auch das Wissen, daß zwischen Gesagtem und Gemeintem eine Abweichung bestehen bleibt: „Wenn die Sprache und der Zusammenhang der Wahrheit uns aus unserem Ruhepunkte werfen, indem sie uns den Anstoß liefern, ein Zum-Ausdruck-bringen an dem anderen zu überprüfen, so daß alle ineinander enthalten sind und von den jeweiligen Formulierungen, die wir zunächst gefunden haben, unabhängig werden - wenn sie eben dadurch die anderen Ausdrucksweisen als 'stumm' und untergeordnet erscheinen lassen, so ist das Gemeinte doch nicht mit dem Gesagten identisch, und der Sinn ist im Gebäude der Wörter eher impliziert, als daß er durch sie bezeichnet würde."15

Der Zeichenbegriff gerät damit ins Zwielicht. Steht er doch - so wie Merleau-Ponty ihn kennt - für die lebensweltvergessene Ablösung der Sprache vom Sinn, und damit für die Unterdrückung der Frage nach dem von Sprecher implizierten intentionalen Richtungssinn des Sprechens. Er ist deshalb nicht wirklich phänomenologisch brauchbar, denn mit ihm läßt sich jenes ebenso mühselige wie unumgängliche hypothetische Bezugnehmen des Sprechens auf etwas über die Sprache hinaus nicht fassen. Für das, was MerleauPonty hierzu sagen will, muß er den Zeichenbegriff einziehen - um den Preis, nun gar keinen Begriff dafür zu haben: „Was wir sagen wollen, haben wir nicht außerhalb des Wortes als reine Bedeutung vor uns. Es ist nur der Überschuß dessen, was wir gerade erleben, gegenüber dem, was schon gesagt worden ist. Wir versetzen uns mit unserem Ausdrucksapparat in eine Situation, auf die er anspricht, konfrontieren ihn mit ihr, und unsere Äußerungen sind nur die schließliche Bilanz dieser Konfrontation. ... Das persönliche Leben, das Zum-Ausdruck-bringen, die Erkenntnis und die Geschichte kommen nur auf Umwegen und indirekt zu Zielen oder Begriffen." 16

Es tritt die Schwierigkeit zutage, den dynamischen Schwebezustand zwischen Wort, Äußerung, Bedeutung und Situation zu beschreiben, ohne ihn begrifflich erschließen zu können. Die Gefahr des Abgleitens in bewußtseinsphilosophische oder psychologistische Muster zeichnet sich ab. Was wäre aber, wenn man vom Zeichen auch noch anders denken und sprechen könnte? 15 A.a.O., 113. 16 A.a.O., 114. Vgl. das Weiterdenken dieser Überlegungen in M. Merleau-Ponty, Le Visible et l'Invisible, Paris 1964; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 200203 und 258 f.

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3. Das Zeichen - auf Abwegen in der Praktischen Theologie Das grundsätzliche Problem, das das phänomenologische Denken - für das hier Merleau-Ponty steht - mit dem Zeichenbegriff hat, ist das gleiche Problem, das auch die Praktische Theologie hat, wenn sie vom Zeichen spricht. Diese These erscheint zunächst einigermaßen abwegig; zu dünn sind die sichtbaren Verbindungsstränge zwischen beidem. Dabei liegt die Verbindung eigentlich auf der Hand: Es ist der Zeichenbegriff, den beide von auswärts importieren, und der dann ein Eigenleben in Sachen Wirklichkeitsverständnis entwickelt, das ganz ähnliche Rückfragen provoziert. Im Unterschied zur Phänomenologie hat die Praktische Theologie diesen Zeichenbegriff jedoch nicht suspendiert, sie arbeitet vielmehr mit ihm, ohne seine Tragfähigkeit gründlich geprüft zu haben.17 Das Ausgangsinteresse für die Annäherung an die Semiotik war das Bedürfnis nach einer stärker empirischen Orientierung der Liturgik seit den 70er Jahren, womit die konstatierte Krise des Gottesdienstes konstruktiv, vor allem mit dem Ziel stärkerer Teilnehmerorientierung, bearbeitet werden sollte. Der Zeichenbegriff bot sich dazu als Integrationsbegriff an, dem zugetraut wurde, die Komplexität des gottesdienstlichen Geschehens einzufangen und als Leit- und Strukturierungskategorie umfassende Beschreibungen anzuleiten. Es zeigt sich allerdings, daß es hier primär gar nicht um die Frage nach zeichenhaft verfaßter Wirklichkeit ging, sondern eher um eine Präzisierung der mit informationstheoretisch-technologischer Begrifflichkeit operierenden zeitgenössischen Kommunikationswissenschaft. Für diese Absicht bot sich, wie es in einer wegweisenden Veröffentlichung von 1976 heißt, „die Semiotik an, welche die Kommunikation als Zeichenprozeß auffaßt und analysiert."18

17 Die Semiotik-Rezeption ist allerdings bis heute in der Praktischen Theologie und ihren Teildisziplinen eine Randerscheinung geblieben, trotz erheblicher Anstrengungen. Eine semiotisch orientierte Praktische Theologie als Ganzes liegt bisher gar nicht vor. Von den traditionellen Teildisziplinen bietet die Liturgik die zahlreichsten Versuche; Homiletik und Religionspädagogik folgten später. In der Poimenik ist mir nur ein vereinzelter Anlaufbekannt (K.-H. Bieritz, Kommunikative Grundlagen der Seelsorge, in: Handbuch der Seelsorge, Berlin 41990, 95-113). Vgl. auch die - in der Bewertung völlig abweichende Sichtung bei M. Meyer-Blanck, Der Ertrag semiotischer Theorien für die Praktische Theologie, Berliner Theologische Zeitschrift 14 (1997), 190-219. 18 G. Schiwy u.a., Zeichen im Gottesdienst. Ein Arbeitsbuch, München 1976, 7 (meine Hervorhebung). Vgl. die Entfaltung: „Kommunikation ist ein so komplizierter Vorgang, daß die Fehlerquellen fast unzählig sind ... In Wirklichkeit leben wir in einem Universum der Zeichen, so umfassend und dauernd auf uns einredend, daß es unmöglich ist, es unter Kontrolle zu halten. ... Die bewußt gegebenen und empfangenen Zeichenketten führen nicht selten gerade deshalb zu Mißverständnissen, weil ihre Einbettung in den 'unsichtbaren' Zeichenhorizont übersehen wird, der ihnen eine Bedeutung gibt, die von den Spre-

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Der Kommunikationsbegriff fuhrt hier nun unvermeidlich eine Richtung von einem Sender zu einem Empfanger mit sich, und ebenso eine Beschreibung des Zeichenprozesses als menschliches Handeln nach dem Produktionsparadigma - was dem fur die Praktische Theologie zu dieser Zeit leitenden Selbstverständnis als 'Handlungswissenschaft' entgegengekommen sein dürfte. Folglich wird davon ausgegangen, „daß Zeichen von jemand, vom Produzenten, gesetzt werden"19 - „für Empfanger (Rezipienten), von denen er erwartet, daß sie sein Zeichen dekodieren (ihm die gemeinte Bedeutung entnehmen)." Zwischen beiden liegt eine via Zeichen transportierte Botschaft: „Produzent und Rezipient kommunizieren in der Regel 'über etwas', das Zeichen steht 'fur etwas', fur einen Sachverhalt, einen Gegenstand, für ein Objekt, das es 'darstellt.'"20 Für den Gottesdienst heißt das, „daß Zeichen gesetzt und wahrgenommen werden, weil Veranstalter etwas mitteilen wollen und Besucher gerade wegen dieser Mitteilungen der Einladung Folge leisten."21 Die Leitfrage lautet, „welchen Dienst der einzelne Programmpunkt... fur den Kommunikationsablauf... leistet" - es geht also um „die Frage nach der Funktion des Zeichens."22 Nur an wenigen Stellen legen die Autoren explizit dar, daß ihr Verständnis von Zeichentheorie sich von der Linguistik leiten läßt, ohne deren Zeichenbegriff noch einmal theologisch zu problematisieren.23 Sie gehen vielmehr davon aus, „daß es beim augenblicklichen Stand dieser noch jungen Disziplin geraten erscheint, sehr pragmatisch mit Teiltheorien und entsprechenden Methoden zu arbeiten und die Ergebnisse darüber entscheiden zu lassen, ob sich die Ansätze bewähren."24 Die postulierte Offenheit fur „Teiltheorien" führt letztlich aber nur dazu, daß ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis, nämlich das der Sprach- und Kommunikationswissenschaft, ungeprüft in die Liturgik Einzug hält,25 weil sich die Autoren die fundamentale Auseinandersetzung damit ersparen.26

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ehern gar nicht intendiert wurde." (A.a.O., 11-13.) - Zum Hintergrund vgl. auch H.-D. Bastian, Kommunikation. Wie christlicher Glaube funktioniert, Stuttgart/Berlin 1972. Schiwy u.a., 37; Hervorhebung original. Schiwy u.a., 38. Schiwy u.a., 29. Schiwy u.a., 37. Hervorhebung original. In den informationstheoretischen Passagen fallen sie dahinter noch zurück, insofern eine schlichte Irl-Zuordnung von Sache und Zeichen (als deren Transportmittel) unterstellt wird, bei der es nur durch 'Kodierung' zu Verschiebungen komme. Den theoretischen Nebel um den aus der Informationstheorie mitgeschleppten, semiotisch überflüssigen 'Kode'-Begriflf beleuchtet unfreiwillig Meyer-Blanck (1997), 215-218. Schiwy u.a., 141. Wo das Zeichen - wie hier - als funktionaler Bestandteil eines Prozesses von Informationsübertragung aufgefaßt wird, ist es nicht verwunderlich, daß trotz aller bemerkenswerten Anstrengungen, Phänomene wie Klang, Raum oder Bewegung in die Gottesdienstanalyse einzubeziehen, das verdeckte Leitmodell doch immer die Kommunikation

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Ein vergleichbarer Zugang zum Zeichenbegriff findet sich neuerdings in der Religionspädagogik, als unter der Devise 'vom Symbol zum Zeichen' vorgebrachte Kritik an der sogenannten Symboldidaktik.27 Interessant ist hier, wie - im Unterschied zum schlichten Überspielen der Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis in den frühen empirisch-liturgischen Ansätzen deren Ausklammerung aus der Reflexion des Zeichenbegriffs zum Programm erhoben wird. Kronzeuge dafür ist die frühe Semiotik von Umberto Eco. Im Rahmen einer Festlegung von „Grenzen der Semiotik"28 zielte Eco darauf, die Semiotik als interne Analyse von Zeichensystemen zu betreiben, ohne den Objektbezug des Zeichens zu thematisieren. Die Frage nach dem 'Referent'29 eines Zeichens sei als nichtsemiotisch aus der Zeichentheorie auszuschließen, denn damit werde „die Auffassung perpetuiert (...), die Bedeutung eines Ausdrucks hätte etwas mit der Sache zu tun, auf die der Ausdruck sich

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zweier Menschen mittels Verbalsprache bleibt (oft noch enger: das Verhältnis von Autor und Leser eines geschriebenen Textes). So heißt es im Kleingedruckten: „Im Unterschied zur Linguistik beschäftigt sich die Semiotik nicht nur mit Sprechzeichen, sondern mit allen Zeichenprozessen und ihren Funktionen; sie operiert dabei mit und über sprachanaloge Terminologie, z.B. Minimalgrammatik, Verknüpfiingsregeln, überschüssige Bedeutung, Text usw." (Schiwy u.a., 143.) Die sprach- und literaturwissenschaftlich etablierten Begriffe und Muster werden für alle Phänomene von Darstellung als angemessen unterstellt („Sprache", „Text", „Lektüre", „Botschaft"). Dabei wird Sprache auf ihre Mitteilungsfunktion reduziert; vgl. dagegen Merleau-Pontys Thesen zur Sprache als Ausdruck (expression). Zugrunde liegt hier ganz offensichtlich die - für theologische Rezeption von Human- und Sozialwissenschaften ohnehin populäre - Vorstellung, die Semiotik sei so etwas wie eine neutrale Analysetechnik, die sich daher in Bereiche mit einem geprägten Wirklichkeitsverständnis (etwa den christlichen Gottesdienst) folgenlos implementieren lasse. Vgl. Schiwy u.a., 11 : „Jenseits philosophischer (ästhetischer, soziologischer, psychologischer) und theologischer (kirchlich-dogmatischer) Positionen, die oft schon gar nicht mehr miteinander ins Gespräch kommen, ergibt sich hier die Möglichkeit, über etwas allen, die mit Liturgie zu tun haben, Gemeinsames zu sprechen: über die kommunikativen Vorgänge, ohne die Liturgien nicht möglich sind." M. Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen: Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995. Vgl. auch die Kurzfassung: Vom Symbol zum Zeichen: Plädoyer für eine semiotische Revision der Symboldidaktik, Evangelische Theologie 55 (1995), 337-351. Alle nachfolgenden Zitate beziehen sich auf das Buch. U. Eco, La struttura Assente, Milano 1968; dt. Einführung in die Semiotik, München 1972, 61988, 28 ff. Der italienische Titel läßt noch gut die ursprünglich poststrukturalistische Intention erkennen - wobei Ecos frühe Semiotik mit dem Strukturalismus mehr gemeinsam hat als seine Kritik vermuten läßt. Dieser Terminus stammt nicht von Peirce oder aus der älteren Semiotik, sondern von Ogden/Richards. Dort meint er die „Sache" oder den „Gegenstand", auf den sich das Signifikat bezieht bzw. den es abbildet. Vgl. Ch. Κ. Ogden/I. Α. Richards, The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language upon Thought and the Science of Symbolism (1923), Reprint San Diego u.a. 1989.

Das Zeichen - auf Abwegen in der Praktischen Theologie

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bezieht."30 Gegen dieses „Mißverständnis" setzt Eco ein kurioses Beispiel, das nebenbei den Abstand dieser Semiotik von jeglichem phänomenologischen Denken gut illustriert: „Wer die Botschaft Idein Haus ist abgebrannt/ erhält, denkt wahrscheinlich an sein Haus (das Haus, in dem er wohnt) und versucht, wenn er klug ist, herauszufinden, ob die Aussage wahr ist, auch wenn er ein Professor der Semiotik ist, der unser Mißtrauen gegenüber dem Referens teilt. Aber für diese beiden Tatsachen ist die Semiotik nicht zuständig, die nur die Bedingungen der Mitteilbarkeit und Verstehbarkeit der Botschaft (der Codierung und der Decodierung) untersuchen soll. Die Gründe, warum die Botschaft Sinn bekommt, sind unabhängig von der Tatsache, daß der Empfänger ein Haus hat und daß dieses wirklich brennt. Das semiotische Problem ist das eines Signalaustausches, der unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit der Behauptung Verhaltensweisen erzeugt..."31

Daher unterscheidet Eco „faktische" und „semiotische Urteile",32 wobei letztere nichts mit der Frage nach der Realität des Dargestellten zu tun hätten. Die Frage nach dem Gegenstand eines Zeichens sei zwar nicht sinnlos, müsse aber aus der Semiotik ausgeschlossen bleiben: „Ein Zeichen steht niemals für einen Gegenstand oder Referenten. ... Die Bezugnahme auf einen Referenten erhellt niemals das Signifikat des Zeichens ... Das Signifikat eines Zeichens läßt sich nur klären durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen weiteren Interpretanten verweist, und so fort bis ins Unendliche, was einen Prozeß unbegrenzter Semiose in Gang setzt, in dessen Verlauf der Empfänger das ursprüngliche Zeichen so weit dekodifiziert, wie er das für die Zwecke der betreffenden Kommunikation ... braucht."33

Diese Idee hat auf die Semiotik-Rezeption in der Praktischen Theologie erhebliche Ausstrahlung gehabt. Sie macht es nämlich scheinbar möglich, religiöse Praxis unter dem Kommunikationsparadigma zu analysieren, ohne dabei Geltungsansprüche überhaupt nur theoretisch thematisieren oder praktisch festhalten zu müssen. Michael Meyer-Blanck formuliert in Abgrenzung zur Symboldidaktik, der er vorwirft, sie vermische über die 'Teilhabemetapher' von Tillich Aussagen über die Wirklichkeit mit bildlich-sinnlichen Gegenständen und überschreite damit die Grenzen einer Didaktik, ein solches Verständnis von Zeichentheorie:

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Eco, Einführung, 69. Eco, Einführung, 72; zustimmend (!) zitiert bei Meyer-Blanck, Symbol, 75 f. Eco, Einführung, 140 ff. U. Eco, Segno, Milano 1973, dt.: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1977, 172 f.

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„Die semiotische Frage nach der Kommunikation und die außersemiotische Frage nach der Wahrheit mtlßten (der Semiotik Ecos entsprechend) klar unterschieden und nicht in einer Hermeneutik der Teilhabemetapher miteinander vermischt werden."34

Und Wilfried Engemann weist eine in der Tat problematische 'referentielle' Homiletik zurück, die Predigt als Wiedergabe einer von der Kommunikationssituation prinzipiell unabhängigen 'Sache' ansieht, und setzt eine 'semiotische Homiletik' mit folgender Abgrenzung dagegen: „Zur Praxis menschlicher Verständigung gehören Signifikanten, Signifikate und Referente. Will man jedoch untersuchen, wie menschliche Verständigung funktioniert, befaßt man sich ausschließlich mit Signifikanten und Signifikaten."35

Hier herrscht also die Vorstellung vor, Zeichen seien deskriptiv-analytische Minimaleinheiten menschlicher Kommunikation und als solche neutral gegenüber dem Wirklichkeitsverständnis und damit verbundenen etwaigen Wahrheitsansprüchen, wie sie in religiöser Praxis vorzukommen pflegen. Diesen Befund kann man allerdings theologisch verschieden interpretieren. Es lassen sich zwei gegensätzliche Optionen beobachten, die in manchen Entwürfen eher unentschieden nebeneinander stehen, in anderen aber durchaus deutlich zutagetreten - wobei ihre Widersprüchlichkeit bisher kaum thematisiert worden ist. Ich nenne die eine die reduktionistische, die andere die dezisionistische Option. Erstere löst Theologie in Semiotik auf, letztere setzt Theologie als extrasemiotisches Sonderterrain unverbunden neben Semiotik. Für die erste Option steht hier exemplarisch ein ausdrücklich von Eco inspirierter Aufsatz von Karl-Heinrich Bieritz.36 Er geht davon aus, daß die Semiotik ein theologisch adäquates Modell fur die erkenntnistheoretische Grundsituation des Menschen überhaupt sei, und daß deshalb die Ontologieund Metaphysikabstinenz der Ecoschen Semiotik und ihre Beschränkung auf Kommunikation und Konvention auch die Grenzen des theologisch Sinnvollen und Sagbaren angesichts eines in dieser Welt nicht vorfindlichen Referents 'Gott' markieren: „Gott - wortgeworden, an Zeichen verhaftet, eingebunden in den Prozeß unbegrenzter Semiose, durch immer neue ausdrucksfähige Signifikate interpretiert - muß schließlich

34 Meyer-Blanck, Symbol, 90. Vgl. auch das Diktum: „Die Frage nach den realen Gegenständen, nach dem Referenten, ist nach Eco zwar nicht als solche belanglos, aber sie gehört nicht in die Semiotik." (a.a.O., 75) 35 W. Engemann, Semiotische Homiletik. Prämissen - Analysen - Konsequenzen, Tübingen/Basel 1993, 52. Vgl. auch: Ders., Semiotik und Theologie - Szenen einer Ehe, in: Ders./R. Volp (Hg.), Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle, Berlin/New York 1992, 3-28. 36 K.-H. Bieritz, Umberto Eco: Umrisse einer atheistischen Theologie, in: Engemann/Volp (1992), 63-71.

Das Zeichen - auf Abwegen in der Praktischen Theologie

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zu einer Wesenheit verblassen, die 'ganz aus Möglichkeiten besteht'; denn wer wird hier ernsthaft je den Abbruch des Interpretationsprozesses in Erwägung ziehen wollen: das war's? Wird der Prozeß aber tatsächlich ins Unendliche prolongiert, kann /Gott/ alles und nichts (und damit das Chaos selber) bedeuten..."37

Als theologische Denkmöglichkeit bleibt dann übrig, sich als Teil des kommunikativen Systems von Kulturen zu verstehen, in denen Zeichenprozesse stattfinden: „Gewinnt das Chaos der Interpretationen auch nicht unter der ordnenden Hand eines Gottes Gestalt, so wird ihm doch durch die Kultur ... Richtung und Kontur vermittelt; sie segmentiert nämlich das einer Gesellschaft zuhandene Wissen über Gott und die Welt in 'kulturelle Einheiten', kulturell definierte semantische Entitäten ... So verweisen die in einer Kultur kommunizierten (und kommunizierbaren) Signifikanten eben nicht auf kultur- und kommunikationsunabhängige Referente, sondern auf das, was jeweils 'kulturell als Entität definiert und unterschieden wird.'" 38

Bieritz schreibt dieser „atheistischen Theologie" ausdrücklich „exemplarische Bedeutung auch für das Dilemma gegenwärtiger Theologie - insbesondere da, wo sie praktisch wird" zu.39 Er verschreibt sich damit ganz offen jenem radikalen Nominalismus, dem Eco in der Figur des William von Baskerville in seinem Rosenroman ein Denkmal gesetzt hat.40 Bieritz ist damit insofern konsequent, als er den verdeckten erkenntnistheoretischen Anspruch von Ecos früher Semiotik klar erkennt und ausformuliert. Die dort vorgesehene disziplinare Separierung der Frage nach Wahrheit von der Frage nach den Zeichen ist nämlich in Wirklichkeit gar nicht durchzuhalten, weil die konsequente Durchführung des semiotischen Programms zu einem nicht nur partiellen semiotisch-methodischen, sondern zu einem generellen erkenntnistheoretischen Nominalismus führt - und zwar fuhren muß, weil die einzig sinnvolle Verwendung des Zeichenbegriffs darauf hinausläuft, daß alles zum

37 Bieritz, Umberto Eco, 66. 38 ebd. 39 Die Begründung lautet: „Die überlieferten theologischen Codes, die die Rede von Gott auf feste Bedeutungen fixierten, ... scheinen heute filr viele ihre kommunikative Kraft verloren zu haben. ... Gott hat sich aus ihnen entfernt. Gegenläufig tauchen jedoch allenthalben neue Gottesnamen auf, wird Gott unter neuen Bildern neu gefunden. ... Die theologische Semiose scheint neu in Gang zu kommen." (a.a.O., 71.) 40 Bieritz' Schüler Engemann argumentiert vorsichtiger, aber doch in die gleiche Richtung: „Der bewußte Verzicht der Theologie auf den Anspruch der Abbildbarkeit des Wirklichkeitsverhältnisses zwischen den 'Dingen des Glaubens' und dem Menschen, zwischen Gott und Welt, könnte Kapazitäten daftlr freisetzen, in der unausweichlichen Diskontinuität zwischen (einst) wahrgenommenen Ereignissen und notwendigen Interpretationen nach Zeichen zu suchen und Zeichen zu geben, mit denen andere Gott und die Welt verstehen und sich über Gott und die Welt verständigen können." (Engemann, Semiotik und Theologie, 10.)

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Zeichen werden kann, sofern es interpretiert wird. Wahrheitstheorien sind dann selbst Zeichenprozesse, die ein kommunikatives Interesse verfolgen und nichts anderes, denn sonst würde wieder der 'Referentenfehler' begangen. Die Konsequenz daraus hat Eco später selbst formuliert: „Der moderne poetische Symbolismus ist ein säkularisierter Symbolismus, in dem Sprachen von ihren Möglichkeiten sprechen. Auf jeden Fall gibt es hinter jeder Strategie des symbolischen Modus, sei sie religiös oder ästhetisch, eine legitimierende Theologie, selbst wenn es die atheistische Theologie der unbegrenzten Semiose oder der Hermeneutik als Dekonstruktion ist."41

Man kann nicht beides gleichzeitig haben: Den Eco zufolge vormodernen religiösen symbolischen Modus und den modernen ästhetischen. Wer letzteren anzielt, kommt an der Konsequenz eines verdeckt ontologischen Atheismus nicht vorbei. Eco ist in seinem späteren Werk zu der Einsicht gelangt, daß jede Beschreibung von Zeichenprozessen irgendein grundlegendes Wirklichkeitsverständnis impliziert, und daß sich deshalb Zeichen- und Wahrheitstheorie nicht so auseinanderhalten lassen, wie dies seine frühe Semiotik angezielt hatte. Genau dies versucht jedoch auf der anderen Seite ein Zugang, der die massiven impliziten erkenntnistheoretischen Geltungsansprüche bei Eco überspielt und stattdessen die Vorstellung eines schiedlich-friedlichen Nebeneinander von deskriptiver Zeichentheorie auf der einen Seite und normativer Theologie (Dogmatik) auf der anderen Seite pflegt: „Die Semiotik versteht sich als deskriptive Wissenschaft, und ihre Ergebnisse dürfen nicht normativ kurzgeschlossen werden. ... Semiotisch geht es für Eco lediglich um die Mitteilbarkeit und Verstehbarkeit der Botschaft. (Religionspädagogisch ist dabei selbstverständlich zu bedenken, daß es um eine ganz bestimmte Botschaft geht, die zwar mitteilbar und verstehbar ist, aber allem Mitteilen und Verstehen vorausliegt und niemals im Mitteilen und Verstehen aufgeht.)" 42

Dies ist ein ausgesprochen inkonsequenter Umgang mit Ecos Semiotik. Die abgrenzende Behauptung, „das Evangelium" ziele ,ja nicht auf die unendliche Semiose, sondern auf die Durchsetzung der in der Geschichte Jesu Christi realisierten Gottesherrschaft", weshalb „Formulierung einer semiotischen Theologie im dogmatischen Sinne" „ein theologischer Selbstwiderspruch" und „ein Mißverständnis Ecoscher Semiotik" sei 43, kann nicht überzeugen. So kann nur reden, wer zwei Ebenen voneinander abhebt, die dann aber 41 U. Eco, Semiotica e filosofia del linguaggio, Torino 1984; dt. Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, 240f. Bieritz scheint der einzige unter den praktischtheologischen Eco-Rezipienten zu sein, der sich mit dieser Passage auseinandersetzt. 42 Meyer-Blanck, Symbol, 78 f. Hervorhebungen original. 43 Meyer-Blanck, Symbol, 79.

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nichts mehr miteinander zu tun bekommen: Zum einen die Ebene konkreter Erfahrung, die immer zeichenvermittelt (und deshalb von der verfehlten Frage nach dem 'Referent' freizuhalten) ist, zum anderen die Ebene der „in der Geschichte Jesu Christi realisierten Gottesherrschaft", die als 'außersemiotische' Wirklichkeit neben der Welterfahrung zu stehen kommt. Doch in dem Moment, wo man die Ebene christlicher Normativität auf die Erfahrungsebene herüberholt, also beispielsweise formuliert, wie sich die 'realisierte Gottesherrschaft' eigentlich wahrnehmen oder zumindest als wahrnehmbar vorstellen läßt, werden die religiösen Vorstellungen zum auf Konvention beruhenden arbiträren Zeichen aus Signifikat und Signifikant. Als solches beruht ihre normative Kraft aber nicht auf ihrer Fähigkeit, etwas über Realität auszudrücken, sondern auf ihrer bloßen Altbewährtheit im Rahmen einer zweitausend Jahre alten Kirche:44 „Die Signifikanten praktisch-theologischer Aussagen müßten in der Lage sein, bei verschiedenen glaubenden [sie!] Menschen ein unterschiedliches, situativ angemessenes Signifikationsfeld zu erzeugen; die Signifikanten Systematischer Theologie müßten eine gemeinsame Identität (Gemeinde, Konfessionalität) ermöglichen, indem sie bewährte Signifikate (welche die Dogmatik z.B. als /Bekenntnisse/ bezeichnet) anbieten und für eine bestimmte Kommunikationssituation bereitstellen (etwa filr das Examen einer lutherischen Kirche in Deutschland 1995)."45

Das „Verhältnis von Deskriptivität und Normativität" 46, das keine Relation, sondern ein unverbundenes Nebeneinander darstellt, soll hier auch disziplinar befestigt werden: Die Praktische Theologie fur das situativ Angemessene in modo semiotico, die Systematische Theologie für das Verbindende und Verbindliche - nur daß diese Systematik vom semiotischen Konventionalismus durch und durch infiziert ist. Beruht doch solche Verbindlichkeit, nimmt man Eco ernst, lediglich auf dem Entschluß, etwas als verbindlich anzuerkennen. So läßt sich die Vorgängigkeit des Evangeliums nur plakativ behaupten: „Die Lehre [sie!] des Evangeliums liegt unseren Lernprozessen ('Signifikationen') voraus und zugrunde, auch wenn sie daraus nicht isolierbar ist wie ein Destillat. Kurz: In Predigt und Unterricht muß es darum gehen, die Mehrsinnigkeit der Inhalte fllr verschie-

44 Meyer-Blancks Text ist spannend, weil er konsequent genug ist, Engemann - wenn auch vorsichtig - mehrmals fllr seine reduktionistische Position zu kritisieren: „Ich meine zwar, daß darüber [sc. Engemann] hinaus der Inhalt einer Predigt auch dogmatisch reflektiert werden muß im Hinblick darauf, welche Botschaft denn nun ein destruierendes und instruierendes Signifikationsfeld erzeugen soll und mit welchem Ziel. Denn sowenig in der Didaktik die Methodik an die Stelle der Inhalte treten darf, sowenig darf in der Homiletik (...) nun die 'Kommunikation' abgesehen von kommunizierten Inhalten zur übergeordneten Norm werden." (Meyer-Blanck, Symbol, 42.) 45 Meyer-Blanck, Symbol, 36. 46 Meyer-Blanck, Symbol, 78.

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dene Hörende (bzw. Lernende) zu initiieren und dabei gleichzeitig die Eindeutigkeit von Gottes Ja in Jesus Christus zur Geltung zu bringen."47

Diese sicher sinnvolle Forderung ist mit einem solchen Zeichenverständnis nicht einlösbar - es sei denn, man hielte das dezisionistische Akzeptieren lind Einüben von Konventionen schon für die Erschließung der 'Eindeutigkeit von Gottes Ja'. Gerade für religiöse Praxis aber gilt, daß sie nur dann nicht willkürlich (und damit erst sinnvollerweise kommunizierbar!) ist, wenn ihrem Gegenstand Wirksamkeit zugeschrieben und zugestanden wird, ohne ihn damit gleich auf die Eindeutigkeit ewig-überzeitlicher Bedeutungsgebung ontologisierend festzulegen. Für den Zeichenbegriff heißt das, daß Semiotik erst dann praktisch-theologisch Sinn macht, wenn sie neben den sinnlich wahrnehmbaren Repräsentamina und den Interpretationen der religiösen Praktikanten auch den Objektbezug solcher Zeichenprozesse thematisiert, und zwar gerade nicht als außersemiotische Größe, sondern als interner Bezugspunkt der Zeichenprozesse selbst. Dies ist mit dem hier eingeführten Zeichenbegriff aber nicht nur nicht zu leisten, sondern wird von ihm von vorneherein ausgeschlossen.48 Wie entgeht man also dem Dilemma, daß gerade religiöse Praxis ohne zeichenhafte Verweisung auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes nicht auskommt? Der vor kurzem verstorbene Liturgiker Rainer Volp hat sich dieser Frage gestellt und in einigen späten Texten Gottesdienst als auf Gott bezogenes und von Gott her angeleitetes Zeichenhandeln beschrieben. Volp sieht hier einen sowohl von den Versammelten als auch von Gott selbst vollzogenen Zeichenprozeß: „Sammlung und Versammlung bieten die Chance, im Fest zu überprüfen, wie die göttlichen und die menschlichen Zeichen korre-

47 Meyer-Blanck, Symbol, 42. 48 Vgl. noch R. Fleischer, Zeichen, Symbol und Transzendenz, in: R. Volp (Hg.), Zeichen: Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München/Mainz 1982, 169-192. Der Ausgangsfrage: „Wie ist das Mitwirken Gottes im Gottesdienst verstehbar und erfahrbar?" (170) folgt die Reduktion, daß „sich die Mitteilbarkeit von Transzendenz als Funktion der in zwischenmenschlicher Kommunikation verwendeten Zeichen erweisen läßt" (173). Es sei es fllr „religiöse Kommunikation konstitutiv", neben dem Signifikant und einem „primären Signifikat" noch über „mindestens ein zusätzliches Signifikat (= St II)" zu verfügen. (180) Die Fragen nach einer Formulierung der theonomen Qualität des Gottesdienstes in semiotischer Perspektive können damit nur als „voreilige und falsche Fragestellungen" abgewehrt werden. Es steht ja im Belieben der Gottesdienstbesucher, das 'zweite' Signifikat dazuzusetzen oder nicht, ist es doch nichts als ein im gottesdienstlichen Prozeß produziertes Artefakt: „Hier hat, wer nicht guten Willens ist, die Möglichkeit, die Existenz von St II zu bestreiten." Die andere, 'unmögliche' Möglichkeit lautet: „Einklagbar im Sinne einer für alle gleich verbindlichen Bedeutung aber ist die richtige Interpretation auf keinen Fall." (182). Es ist bezeichnend, daß Fleischer nur die Alternative von dezisionistischer Beliebigkeit („guter Wille") und äußerem juridischem Zwang kennt.

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spondieren".49 Die Dynamik der Gottesdienste bestehe „aus Zeichen, die wir geben, deren Regelrepertoires wir bilden und entschlüsseln und die Anteil gewinnen am Sterben und an der Geburt der Zeichen, die wir Gott zutrauen, überliefert in den Ritualen unserer Kirchengemeinschaften."50 In diesem Kontinuum gelte auch fur ,je neue Zeichenketten", daß sie „wieder auf die Ursprünge des von Gott Gemeinten zurückverweisen."51 So kann Volp dann sagen: „Nicht der Gottesdienst, den wir 'halten', sondern der uns 'hält', steht am Anfang liturgischen Tuns."52 Damit korrigiert er sowohl ein problematisches, weil implizit Gottes Handeln ausschließendes Verständnis von Praktischer Theologie als Handlungstheorie, als auch jenes von ihm selbst früher gebrauchte linguistisch-semiotische Paradigma, das Semiotik auf eine Theorie menschlicher Zeichenproduktion und -rezeption beschränkt und damit 'Gott' lediglich die Rolle eines möglichen, aber dem Kommunikationszweck unterliegenden und damit beliebigen Signifikats übrigläßt. Volp formuliert vorsichtig, es könne sich zwar „im streng semiotischen bzw. methodologischen Sinn nur mit Vorbehalt andeuten, daß man die Regel aller denkbaren Regeln, die hinter uns und der Geschichte unserer Gesellschaft stehen, Gott nennen mag, weil die Anerkennung von Codes die Anerkennung des Sachverhalts ist, daß wir keine Götter sind"; doch trete dabei „die existenzielle Lebensgrenze" der Wissenschaft als „umfassende Thematik" entgegen - ein „Wissen um den absoluten Bruch in allem Wissen".53 Volps spätes Konzept einer semiotischen Liturgik ist dann an folgendem Satz ablesbar: „So ist das, was uns in Gottesdiensten berührt, über das wir nicht verfügen und das dennoch vollendet werden soll, ein je neues Ereignis, das wir als Zeichen benennen können. Denn es ist von der anderen Seite her bestimmt, es 'zeigt sich',... auf unserer Seite ist es rätselhaft, vielseitig deutbar, Anlaß zu unendlichen vielen Anstößen im besten Sinn des Wortes."54

In diesen sensiblen Formulierungen scheint allerdings das Dilemma auf, daß sie eher Beschwörungen des 'Wesens' von Gottesdienst als Zeichenprozeß sind, gegenüber denen eigentlich jeder tatsächlich gehaltene Gottesdienst sich 49 R. Volp, Liturgik: Die Kunst, Gott zu feiern. Bd. 1 : Einführung und Geschichte, Gütersloh 1992,81. 50 Volp, Liturgik, 83. 51 Volp, Liturgik, 82. 52 Volp, Liturgik, 77. 53 R. Volp, Grenzmarkierung und Grenzüberschreitung: Der Gottesdienst als semiotische Aufgabe, in: Engemann/Volp (1992), 175-186, hier 184. 54 Volp, Liturgik, 78. Vgl. auch R. Volp, Das offene Labyrinth. Über den Wechselbezug zwischen Raum- und Ritualbewußtsein, in: E.W.B. Hess-Lüttich u.a. (Hg.), Signs and Space/Raum und Zeichen, Tübingen 1998, 43-62, v.a. den Schluß 59-61 mit explizitem Verweis auf die Peirce-Interpretation von H. Deuser.

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als defizitär erweist. Damit droht Volp nun geradewegs hinter jene 'empirische Wendung' der Liturgik zurückzufallen, die zu der wichtigen Prämisse geführt hatte, den Sinn des Gottesdienstes aus seinem tatsächlichen Vollzug und dem Erleben der Beteiligten zu erschließen und nicht aus wie auch immer gearteten Postulaten. Auch hier bedarf der Zeichenbegriff einer Korrektur.

4. Konvergenz der Phänomenologien: Das Zeichen als Phänomen Die anspruchsvollste philosophische Zeichentheorie, die des Amerikaners Charles S. Peirce (1839-1914), ist in der kontinentalen Phänomenologie bisher gar nicht zu Kenntnis genommen worden. In der Praktischen Theologie kam sie dagegen nur im Rahmen der ganz anders gearteten Semiotiken von Morris und Eco oberflächlich zu Wort und wurde dabei bis zur Unkenntlichkeit rezipiert, wie anhand der nachfolgenden Darstellung unschwer zu erkennen sein wird. Welchen Anknüpfungspunkt gäbe es nun für die Phänomenologie in der Peirceschen Philosophie, und könnte sich daraus ein Kraftfeld bilden, das auch eine phänomenologisch inspirierte Praktische Theologie mitzuziehen vermag? Die wenigsten Vertreter des phänomenologischen Denkens auf der Spur von Husserl und Merleau-Ponty wissen wohl, daß auch Peirce seit 1902, wie Husserl seit 1901, explizit von Phänomenologie spricht und daß dieser Begriff beim späten Peirce zentrale Bedeutung hat.55 Eine direkte geschichtliche Abhängigkeit kann nahezu ausgeschlossen werden.56 Umso interessanter ist die Frage nach inhaltlichen Entsprechungen. Mehrere kleinere Studien kommen übereinstimmend zu einem positiven Ergebnis.57 Die Berührung ergibt sich vor allem aus der Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie Kants, die für Husserl wie fur Peirce einen zentralen Ausgangspunkt bildet. Angesichts der problematischen Kantschen Trennung von sinnlicher Erkenntnis und Denken und damit auch von 'Wirklichkeit für mich' und 'Wirklichkeit, wie sie unabhängig von meiner gegenwärtigen Erkenntnisbemühung Bestand hat' gelangen beide zu Versuchen, den menschlichen Zugang zur Welt und

55 Später wird allerdings das Synonym Phaneroscopy verwendet; vgl. dazu H. Deuser, Art. Phaneroskopie, Phaneron in: HWP 7, 1989, 460 f. 56 Vgl. H. Spiegelberg, Husserl's and Peirce's Phenomenologies: Coincidence or Interaction?, in: Philosophy and Phenomenological Research 17 (1957), 164-185. 57 Vgl. Spiegelberg (1957); J. Ransdell, Peirce est-il un phénoménologue?, in: Etudes phénoménologiques 9-10 (1989), 51-75; Ch. J. Dougherty, The Common Root of Husserl's and Peirce's Phenomenologies, in: The New Scholasticism 54 (1980), 303-325.

Konvergenz der Phänomenologien: Das Zeichen als Phänomen

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den Umgang mit ihr jenseits von cartesianischem Rationalismus und naturwissenschaftlichem Empirismus neu zu formulieren. Die Lösungsversuche arbeiten mit deutlich verschiedener Begrifflichkeit, berühren sich aber an mehreren Punkten: So suchen beide Phänomenologien den verschütteten Zugang zum Phänomen, also zu dem, was sich der Erfahrung zeigt, und sie entwickeln methodische Verfahren, das Phänomen zu bewahren, ohne falsche Unmittelbarkeiten in Anspruch nehmen zu müssen. Ein Psychologismus soll dabei ebenfalls vermieden werden. Mit dem Phänomen verbindet sich eine kontrollierte (nicht grundsätzliche!) Einklammerung der Frage nach seinem Realitätsstatus, jenseits von naivem Realismus, aber auch von cartesianischem Skeptizismus.58 Das gegenseitige Durchdringen des subjektiven Erfahrungsstroms mit einem Aspekt von Objektivität sichert dem phänomenologischen Verfahren eine denkbar grundsätzliche und begründende Position im Verhältnis zu den Wissenschaften, aber auch innerhalb der Philosophie. Basale anthropologische Vollzüge, die das Phänomen hervorruft, gewinnen logische Priorität gegenüber ihrer reflexiven Auslegung, die sich am Phänomen zu bewähren hat, und nicht umgekehrt; mit der Orientierung an der Lebenswelt (Husserl) bzw. dem Critical Common-Sensism (Peirce) wird dieser Vorrang präreflexiver Lebenspraxis erkenntnistheoretisch gesichert. Der uneinholbare pragmatische Begründungscharakter der Wahrnehmung ist daher ebenfalls beiden Entwürfen eigen, und beide verteidigen ihn gegen andere Prioritäten (wie etwa Sprache, Sein, Überlieferung, Kognition). Wie läßt sich nun Peirce' Zeichenbegriff an diese phänomenologischen Konvergenzen ankoppeln? Und wie kann man hier von einer „Überwindung der Erkenntnistheorie in der Phänomenologie der Zeichenprozesse" sprechen?59 Die Zeichenfunktion, so setzt Peirce ein, präsentiert dem menschlichen Erkennen externe Wirklichkeit und läßt es gleichzeitig Wirklichkeit im Akt der Interpretation erst erzeugen. Andersherum ausgedrückt: Was mir als 'Wirklichkeit für mich' erscheint, ist aufgrund ihres Zeichencharakters immer schon gleichzeitig 'Wirklichkeit als solche', die zumindest vorläufig unabhängig von meinem je einzelnen Interpretationsakt Bestand hat. Ein solcher Zugang zu Wirklichkeit besteht im ständigen Ineinander sinnlich-konkreter Erfahrungen und probeweiser Verallgemeinerung durch Hypothesenbildung - und dieses Ineinander läßt sich am besten mit Hilfe des Zeichenbegriffs als 58 Dabei entsteht bei beiden ein komplexer, nichtontologischer Realismus; vgl. z.B. einerseits K. Ameriks, Husserl's Realism, in: The Philosophical Review 86 (1977), 498-519 und andererseits G. Riley, Existence, Reality, & Objects of Knowledge. A Defense of C.S. Peirce as a Realist, in: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society (TCSPS) 4 (1968), 34-48. 59 So der Titel des ersten Teils von H. Pape, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Ch. S. Peirces Entwurf einer Spekulativen Grammatik des Seins, Frankfurt/M. 1989, 43293.

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fortwährender Darstellungsprozeß bestimmen. Es ist dann „in einer allgemeinen Theorie der Darstellungen möglich zu beschreiben, inwieweit die Sinne 'verständig' sein können, also allgemeine und formale Zusammenhänge darstellen, und inwieweit der Verstand 'sinnlich' ist, d.h. selbst bei rein logischen und formalen Operationen auf Anschauung angewiesen ist."60 Wenn die Form der Darstellung der Objekte unserer Erfahrung auch die Form ihrer Wirklichkeit ist, dann fallen Wirklichkeit und Zeichenprozeß ohne rationalistische oder empiristische Reduktion zusammen. Dazu muß das Zeichen dreistellig sein. Peirce schlägt vor, erstens von sign [in itselfj °der representamen, zweitens von object und drittens von interprétant zu sprechen. Seine vielen (und vielzitierten) Definitionen von sign gleichen sich von daher alle in ihrer Grundstruktur: „... alles, unabhängig von seiner Seinsweise, ... was zwischen einem Objekt und einem Interpretanten vermittelt, da das Zeichen sowohl durch das Objekt relativ zum Interpretanten bestimmt ist als auch den Interpretanten in Bezug zum Objekt derart bestimmt, daß es den Interpretanten ... durch das Objekt bestimmt sein läßt."61

Oder, noch knapper: „... alles, was dadurch, daß es durch ein Objekt bestimmt ist, durch sich eine Interpretation zur Bestimmung durch dasselbe Objekt bestimmt .,."62

Oder, in einer Definition fur ein Lexikon: „Anything which determines something else (its interprétant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interprétant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum."63

60 Pape (1989), 113. 61 MS 318 (1907), dt. in: Ch. S. Peirce, Semiotische Schriften Bd. 3, Frankfiirt/M. 1993, 253. (Die Numerierung der Peirce-Manuskripte folgt R.S. Robin, Annotated Catalogue of the Papers of Ch. S. Peirce, Amherst, Mass. 1967.) Vgl. die amerikanische Teilveröffentlichung des als MS 318 zusammengefallen Textkomplexes in Ch. S. Peirce, The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings Vol. 2 (1893-1913), Bloomington/Indianapolis 1998, 398-433. Einführend ist hilfreich: J.J. Liszka, A General Introduction to the Semeiotic of Ch. Sanders Peirce, Bloomington/Indianapolis 1996. 62 Ρ 1128 (1906), dt. in: Semiotische Schriften Bd. 3, 135. (Die Numerierung der publizierten Texte folgt K.L. Ketner u.a. (Hg.), A Comprehensive Bibliography and Index of the Published Works of Charles Sanders Peirce with a Bibliography of Secondary Studies, Bowling Green, Oh. 21986). 63 Ch. S. Peirce, Collected Papers, Cambridge, Mass., Vol. 1-6, 1931-1935; Vol. 7-8, 1958 (= CP), hier 2.303 (1902; Bandnr. und Abschnittnr.). Diese Definition ist auch Ausgangspunkt bei H. Pape, Einleitung zu: Ch. S. Peirce, Semiotische Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1986, 14 ff.

Konvergenz der Phänomenologien: Das Zeichen als Phänomen

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Dies genügt, um fünf zentrale Pointen von Peirce' Zeichenbegriff formulieren zu können.64 1. Die Zeichenfiinktion besteht immer aus drei Elementen, die eine genuine Triade bilden. Das formulieren die meisten anderen Zeichentheorien zwar auch, doch halten sie dieses Postulat kaum durch, sondern reduzieren die genuine Triade zu Dyaden. So mißversteht die linguistisch und kulturalistisch orientierte Semiotik den Objektbezug als semiotisch irrelevanten Bezug auf ein zeichenexternes 'Referent'; sie reduziert damit die Zeichenfiinktion auf das freie Spiel von Zeichen und Interpretanten - was nur eine Variante des auf de Saussure zurückgehenden linguistischen Modells mit Bedeutungsträger {signifiant) und Bedeutung (signifié) ist.65 Semantisch orientierte Zeichenkonzeptionen beschränken sich dagegen auf den Zusammenhang von Zeichen und Objekt; sie beschreiben häufig das Zeichen als Abbildung des Objekts und betrachten die Interpretation als nachgeordneten subjektiven Vorgang.66 Drittens kann auch das Zeichen selbst an den Rand rücken und zur bloßen Durchgangsstation für die Wirkung der Objekte auf die Interpretation degenerieren. Dies ist in der behavioristisch eingefarbten Semiotik von Charles W. Morris tendenziell der Fall, insofern dort das Verhältnis eines Reizes zu einer Reaktion im Vordergrund steht.67

64 Hier besteht bei Peirce eine terminologische Doppeldeutigkeit: Zum einen heißt der Zeichenprozeß als ganzes sign, zum anderen aber auch nur das vermittelnde Element innerhalb des Zeichenprozesses. Letzteres nennt er zur Abgrenzung auch öfter representamen. Ich nenne hier den Gesamtprozeß Zeichenfiinktion oder -prozeß und belasse sign als das Korrelat von object und interprétant innerhalb der Triade - ähnlich wie Liszka (1996), der das Korrelat sign und den Repräsentationsvorgang semeiosis nennt (18-34). Bei Definitionen des Typs „A sign is ..." wäre also „Zeichenfiinktion ..." zu übersetzen, wenn der ganze Repräsentationsvorgang gemeint ist. 65 Die psychologistischen Voraussetzungen von de Saussure sind deutlich von Peirce abzuheben; vgl. G. Deledalle, Peirce ou Saussure, in: Semiosis 1 (1976), 7-13, und E. Rochberg-Halton, Meaning and Modernity, Chicago / London 1986,43-70. 66 Nur bei einer solchen Reduktion macht die Rede vom „Mißverständnis" eines Zeichens Sinn, die man in der kommunikationstheoretisch orientierten Semiotik-Rezeption der Praktischen Theologie häufig findet. 67 Vgl. Morris' Zeichendefinition: „Wenn etwas, A, zielgerichtetes Verhalten auf ähnliche (nicht unbedingt identische) Weise kontrolliert, wie etwas anderes, B, das Verhalten im Hinblick auf jenes Ziel in einer Situation kontrollieren würde, in der es, B, selbst beobachtet würde, dann ist A ein Zeichen." (Ch. W. Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973, 80.) Pape kommentiert: „Läßt man die unspezifischen Ergänzungen (...) beiseite, so heißt dies nichts anderes, als daß A ein Zeichen fllr Β ist, nur weil wir in A auf Β reagieren. Dies ist das recht primitive Grundgerüst einer zweistelligen Relation von 'stimulus' und 'response'[,] auf das schließlich jede behavioristische Semiotik zurückführbar ist." (H. Pape, Einleitung, in: Ch.S. Peirce, Semiotische Schriften Bd. 2, Frankfurt/M. 1990, 7-79, hier 76.) Vgl. dazu auch Liszka (1996), 114f. (Die Morrissche 'Pragmatik' hat übrigens nichts mit Peirce' Pragmatizismus zu tun.)

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Lötz: Zeichen

Es dürfte jetzt deutlich sein, wie irreführend das berühmte 'semiotische Dreieck' von Ogden und Richards ist, das auch in der Praktischen Theologie immer wieder begegnet. Denn dieses Dreieck beschreibt gar nicht die Relationen zwischen den drei Elementen, sondern setzt sie lediglich nebeneinander.68 Umso schwerwiegender wird das, was Peirce als Zeichen versteht, verfehlt, wenn man sign/representamen, object und interprétant einfach an den drei Spitzen des Dreiecks anordnet 69 - denn ein dreistelliger Zeichenbegriff im Sinne von Peirce wird nur dann erreicht, wenn die drei Elemente in einer triadischen Relation zueinander stehen, und das tun sie in einem Dreieck eben gerade nicht, weil es mit seinen Seiten lediglich drei zweistellige Relationen abbildet.70 2. Wie gelingt es Peirce, die Zeichenftinktion als genuine Triade zu beschreiben, ohne in Dyaden auszuweichen? Die triadische Relation besteht ja darin, daß das Zeichen (das Erste) ein Zweites (das Objekt) mit einem Dritten (der Interprétant) so vermittelt, daß Objekt und Interprétant wirklich miteinander verbunden sind: und zwar durch die Relation r zwischen Objekt und Zeichen (in dieser Richtung! - sonst macht determines keinen Sinn) und Zeichen und Interprétant (in dieser Richtung!). Nur dann liegt genuine ,Drittheit' und damit eine echte Zeichenfunktion vor.71 Nur dann ist es auch möglich

68 Zum Verständnis der ursprünglichen Intention dieses Dreiecks, jenseits seines Gebrauchs in vielen Semiotik-Einfllhrungen, verhilft ein Blick ins Original (Ogden/Richards [1923], 9-13). Die Ecken heißen Symbol, Thought or Reference und Referent und sind verstanden als „the three factors involved whenever any statement is made, or understood". (10) Ogden und Richards beschreiben folglich nur die Seiten des Dreiecks, also die Relationen von jeweils zwei der drei Relate. Deutlich wird dabei außerdem, daß es sich um ein psychologisches Modell handelt, in dem alle Determination des Zeichenprozesses vom Denken (Thought or Reference) ausgeht. 69 So bei Engemann, Semiotische Homiletik, 44, und Meyer-Blanck, Symbol, 55-57. 70 „The triadic relation is genuine, that is its three members are bound together by it in a way that does not consist in any complexus of dyadic relations." (MS 478 [Syllabus 1903, third section], in: Ch. S. Peirce, The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings Vol. 2, Bloomington/Indianapolis 1998, 272 f.) 71 Dies ist ein vereinfachtes Modell; zur Binnenstruktur der Triade vgl. die genaue Analyse bei A. Detienne, Peirce's Semiotic Monism, in: G. Deladalle (Hg.), Signs of Humanity, Bd. 3, Berlin/New York 1992, 1291-1298. - Offenkundig inakzeptabel ist von daher der das vor kurzem erschienene Semiotik-Handbuch leitende Zeichenbegriff von R. Posner, Semiotics and its presentation in this Handbook, in: Ders./Kl. Robering/Th. A. Sebeok (Hg.), Semiotik: ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 1. Teilband, Berlin/New York 1997, 1-14: „A interprets Β as representing C", besonders mit der Erläuterung: „A is the interpreter, Β is some object, property, relation, event, or state of affairs, and C is the meaning that A assigns to Β ... connected by the triadic relation: ... interprets - - - as representing .-.-.-." (4) Die Relationen „interprets" und „assigns meaning to" sind nicht unterscheidbar, so daß C nicht etwa eine eigenständige dritte Größe bildet, sondern mit der Relation von A zu Β zusammenfällt. Man sieht

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und zwingend, daß der Interprétant selbst das Zeichen in einer weiteren Triade wird. Denn die Triade wird nur dann fortgesetzt, wenn der Interprétant die Relation r an einen weiteren Interpretanten sozusagen weiterreicht, und das kann er nur, wenn er selbst als vom Objekt determinierte vermittelnde Größe auftritt. 3. Damit ist ein weiteres Charakteristikum des Peirceschen Zeichenbegriffs erreicht: der Zeichenprozeß, der eben durch jenes the interprétant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum (s.o.) angestoßen und in Gang gehalten wird. Bei Eco und seinen praktisch-theologischer Rezipienten wird dieser unendlichen Prozeßcharakter des Zeichens beschworen - und gleichzeitig seine Begründung blockiert. Bei Peirce gilt hingegen mit guten Gründen: „Jedes Zeichen fordert... eine Verkettung mit einem nachfolgenden Zeichen, um Zeichen sein zu können. Zumindest potentiell muß das jeweils letzte Glied der Zeichenkette einen weiteren Interpretanten bestimmen können, weil jenes letzte Glied andernfalls kein Zeichen wäre - und damit auch alle vorangehenden nicht."72

Dies ist eben nur möglich, weil das Objekt, indem es sich durch den Zeichenprozeß hindurchzieht, an seiner Determinationsfunktion festhält. Das vollmundige Postulat eines unendlichen Zeichenprozesses bei Ablehnung eines vermeintlich metaphysischen Objektbegriffs gehört jenem „literary style in philosophy"73 zu, mit dem sich schon Peirce selbst zu seiner Zeit nicht anfreunden mochte. Dagegen ist in seinem Zeichenbegriff der Objektbegriff selbst semiotisch bestimmt. Auch das object hat hier an der Spannung von 'Wirklichkeit für mich' und 'Wirklichkeit, wie sie unabhängig von meinem Erkenntnisakt Bestand hat' Anteil. Wäre dies nicht so, so wäre die Zeichenrelation gar nicht triadisch, weil dann das object nur zur direkten Wirkung als 'brute fact' käme. Dazu ist der Objektbegriff weiter unten noch zu differenzieren.

das am besten, wenn man einen der Platzhalter auffüllt: >A interprets Β as representing the meaning that A assigns to B.< 72 U. Baltzer, Selbstbewußtsein ist ein Epiphänomen des Zeichenprozesses: Die Landkartenparabel von Ch. S. Peirce, Zeitschrift für Semiotik 16 (1994), 357-372, hier 360f. (sehr aufschlußreich ist die graphische Darstellung der sich übereinanderlegenden triadischen Relationen auf 362f.) - Nicht vergessen werden darf dabei, daß dies der Möglichkeit nach gilt, während empirisch Zeichenprozesse durchaus finit sind, indem sie in Verhaltensdispositionen (habits) übergehen; vgl. Th. L. Short, Peirce's semiotic theory of the self, in: Semiotica 91 (1992), 109-131, hier 117-119. 73 CP 8.169 (ca. 1903). - Solche halbierende Vereinnahmung der Vorstellung vom unendlichen Zeichenprozeß (etwa durch Derrida) ist Gegenstand der Kritik bei Kl. Oehler, Über Grenzen der Interpretation aus der Sicht des semiotischen Pragmatismus (1994), in: Ders., Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1995, 232246.

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4. Ein weiteres Kennzeichen von Peirce' Zeichenbegriff fallt sofort ins Auge, wenn man auf die linguistischen und behavioristischen Zeichendefinitionen zurückblickt: Es gibt hier offensichtlich keinen 'Sender' und keinen 'Empfänger', keinen Zeichenproduzenten und keinen Zeichenrezipienten, auch keine Zeichenbenutzer. Von dem menschlichen Bedürfnis nach Kommunikation, das sich in der Praktischen Theologie als problematischer Schlüsselimpuls fur die Einfuhrung des Zeichenbegriffs erwiesen hatte, ist hier kaum die Rede. Der Zeichenprozeß vollzieht sich, ohne daß eine menschliche Verständigungsabsicht vorhanden sein müßte, die sich dazu entschließt, zur Verständigung Zeichen zu 'gebrauchen'.74 Dahinter steht Peirce' ganz zentrale Einsicht, daß Menschen selbst Zeichen sind, also nicht aus der Distanz eines Erkenntnissubjekts die Zeichenprozesse überblicken und sich mit bestimmten Verständigungsintentionen in sie, Zeichen 'gebrauchend', einschalten 75 - vielmehr über Fühlen von Qualitäten, Erfahren von brute facts und Denken in signs immer schon in die zeichenhafte Wirklichkeit verstrickt sind.76 Die Konsistenz des Peirceschen Zeichenbegriffs wird daher grob verletzt, wenn man meint, als viertes zusätzlich einen interpreter einfìih-

74 Vgl. Th. L. Short, Semeiosis and Intentionality, Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 17 (1981), 197-223. Short trägt hier den Intentionalitätsbegriff, der bei Brentano (und auch noch bei Husserl) an menschliches Bewußtsein gebunden blieb, in die Semiose selbst ein: „An interprétant has intentionality because it interprets a sign; and a sign has intentionality only in relation to its potential interpretations." (204) 75 Peirce führte allerdings - um überhaupt verstanden zu werden - manchmal doch so etwas wie einen Interpreten ein, den er als Ort der Wirkung des Interpretanten, also als diesem nachgeordnete Größe ansah. Als er 1908 schrieb: „A Sign ... determines an effect upon a person, which effect I call its Interprétant", schob er sofort im nächsten Satz nach: „My insertion of 'upon a person' is a sop to Cerberus, because I despair if making my own broader conception understood." (Semiotic and Signifies: The Correspondence between Ch. S. Peirce and V. Lady Welby, Ch. S. Hardwick (ed.), Bloomington/London 1977, 80 f.) 76 Eine semiotische Subjekttheorie ist deshalb ein Desiderat. Die Debatte darüber kommt langsam in Gang; vgl. V. M. Colapietro, Peirce's Approach to the Self. A Semiotic Perspective on Human Subjectivity, Albany, N.Y. 1989; Short (1992); Baltzer, Selbstbewußtsein, sowie H. Pape, Selbstbewußtsein ist kein Epiphänomen des Zeichenprozesses: Ch. S. Peirce über semiotische Form und teleologische Struktur des Selbst, Zeitschrift für Semiotik 16 (1994), 373-381. - Dagegen wollte U. Eco zeitweise unter Berufung auf Peirce, aber wohl eher inspiriert von der postmodernen These vom vanishing subject, den Subjektbegriff aus der Semiotik ausklammern. Colapietro zeigt, daß ein solcher semiotischer Reduktionismus unnötig und inkonsequent ist (1989, 27-47). Short wird schärfer: „Eco's claim must mean that nothing but signs need be mentioned in explaining semiosis. And that... is both false and falsely attributed to Peirce. To explain semiosis we have to mention the subject or interpreting organism, its telic organization, and the world within which it acts." (1992,119)

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ren oder den interprétant durch einen interpreter ersetzen zu müssen, wie das seit Morris Schule gemacht hat.77 Trotzdem kann man innerhalb von Peirce' Semiotik eine Theorie menschlicher Kommunikation erarbeiten, wenn diese nicht den Fehler macht, Zeichenprozesse auf Verständigungsakte zu reduzieren, sondern Kommunikation als Spezialfall von Darstellung begreift. Eine solche Einordnung des Kommunikationsbegriffs legt sich auch von der Phänomenologie her nahe. Peirce' Zeichenbegriff orientiert sich an der Frage, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen, und deshalb ist für ihn Kommunikationstheorie immer eine Subdisziplin der Zeichentheorie - und nicht umgekehrt.78 Wenn alles zum Zeichen werden kann, was potentiell interpretiert wird, Interpretantenbildung jedoch keine andere Voraussetzung hat als das Erfassen dessen, was als Zeichen aufgefaßt wird, dann verschiebt sich die Einbettung des Zeichenbegriffs von der Kommunikationstheorie zur Wahrnehmungstheorie,79 Dies gibt einen Weg vor für die Lösung eines Grundproblems der Praktischen Theologie. Denn die Frage, wie Menschen überhaupt Zugang zur Wirklichkeit bekommen, ist entscheidend auch fur religiöse Praxis, weil deren Annahmen über und Beschreibungen von Wirklichkeit auf Wahrnehmungsvorgängen beruhen. Und da bei Peirce konsequenterweise nichts real ist, was nicht zeichenhaft erfahren werden könnte, wäre die zeichenhafte Verfaßtheit aller Zugänge zur Wirklichkeit auch als Ort menschlicher religiöser Erfahrungen theologisch zu bestimmen. Nur so Iäßt sich auch ein instrumentalistisches Mißverständnis von 'Zeichen' umgehen, das mit einem umfassenden, praktisch-theologisch weiterführenden Praxisbegriff nicht vereinbar ist.

77 Vgl. den präzisen Vergleich bei E. Rochberg-Halton/K. McMurtrey, The Foundations of Modem Semiotics: Charles Peirce and Charles Morris, in: American Journal of Semiotics 2 (1983), 129-156, mit dem Fazit: „Again, Morris's nominalism, his emphasis on a behavioral interpreter already given outside the sign process, rather than an interprétant within it, his tendency to regard things as real and thoughts as mere concepts, diminished the scope of Peirce's semiotic." (147) Zum Interpretanten allgemein vgl. J. J. Liszka, Peirce's Interprétant, Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 26 (1990), 17-62. 78 Kl. Oehler faßt dies, Habermas kritisierend, so zusammen: „Peirces Transzendierung des Sprachzeichens, sein Übergang zum Zeichen überhaupt und seine Begründung einer allgemeinen Theorie der Zeichen sind ... die Überwindung des linguistischen Apriorismus zu dem Zweck, die Totalität der menschlichen Lebenswelt zu reflektieren. Peirces allgemeine Theorie der Zeichen ist seine Theorie der Kommunikation." Kl. Oehler, Peirce oder Habermas? (1990), in: Oehler (1995), 204-210, hier 205. 79 Peirce' semiotisch-realistische Wahrnehmungstheorie ist kaum rekonstruiert und noch viel weniger rezipiert worden. Die gründlichste Darstellung findet sich bisher bei U. Baltzer, Erkenntnis als Relationengeflecht: Kategorien bei Charles S. Peirce, Paderborn u.a. 1994, 165-205. Einen ersten, leider recht oberflächlichen Vergleich mit phänomenologischer Wahmehmungstheorie bieten P.L. Bourgeois/S.B. Rosenthal, Thematic Studies in Phenomenology and Pragmatism, Amsterdam 1983, 43 ff.

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5. Daraus läßt sich noch ein weiteres Merkmal von Peirce' Zeichenverständnis erschließen. Für ihn ist nämlich Semiotik eine denkbar grundsätzliche Wissenschaft. Eine Semiotik eines bestimmten Gegenstandsbereichs (etwa einer bestimmten menschlichen Sprache, des Films, des christlichen Gottesdienstes) läßt sich nicht ohne eine general theory of signs bewältigen, weil jede sinnvolle Verwendung des Zeichenbegriffs, die sein Potential konsequent ausschöpft, auf ein ihm entsprechendes Wirklichkeitsverständnis angewiesen ist. Wenn dieses Wirklichkeitsverständnis nun aber wiederum zu der Erkenntnis nötigt, daß jedes Etwas, das uns als Etwas präsent wird, ein Zeichen ist, heißt das auch umgekehrt, daß alles Zeichen sein kann - mit der Konsequenz, daß es zwar Vorsemiotisches, aber nichts grundsätzlich Unsemiotisches geben kann.80 Wenn man weiß, daß der gelernte Naturwissenschaftler Peirce keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Materie und Geist machen wollte, wird klar, daß auch Naturphänomene Zeichen sind, und eine Beschränkung von Zeichenprozessen auf menschliches Bewußtsein zu eng wäre.81 So bekommt die Semiotik universalen Charakter: „Wenn man darüber nachdenkt, scheint es eine seltsame Sache zu sein, daß ein Zeichen es seinem Interpreten überläßt, einen Teil seiner Bedeutung zu liefern; aber die Erklärung dieses Phänomens liegt in der Tatsache, daß das gesamte Universum - nicht bloß das Universum des Existierenden, sondern jenes ganze umfassendere Universum, das das Universum des Existierenden als einen Teil einschließt, das Universum, auf das als 'die Wahrheit' uns zu beziehen wir alle gewohnt sind - , daß dieses ganze Universum von Zeichen durchdrungen ist, wenn es nicht gar ausschließlich aus Zeichen gebildet wird."82

Es lassen sich aber auch die einzelnen Elemente der genuin triadischen Zeichenrelation für sich und in ihren untergeordneten Relationen noch einmal untersuchen. Man gelangt so zu Zeichenklassifikationen, wie sie Peirce in seinen letzten Lebensjahren stark beschäftigt und zu einer Vielzahl von Beschreibungsversuchen angetrieben haben.83 Das Zeichen im Verhältnis zu 80 „Ce que va tenter toute l'entreprise peircéenne, c'est, non d'etudier une classe particulière de choses qui seraient des signes (à la difference des autres choses), mais de voir pour toute chose ce que signifie être signe, c'est à dire objet de pensée." (P. Thibaud, La notion peircéenne d'objet d'un signe, in: Dialéctica 40 [1986], 19-43, hier 21.) Meyer-Blanck sieht dagegen „die enzyklopädisch-klassifizierende Semiotik von Peirce" am Werk (Ertrag, 214). 81 Zu nichtmenschlichen semiotischen Phänomenen vgl. Th. L. Short, Life among the Legisigns, Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 18 (1982), 285-310, besonders 296-299. Selbst für die Klasse der Legisigns, die nur dadurch Zeichen sind, daß sie als solche gebraucht werden, kann Short feststellen: „Consciousness and intentionality are not essential to the existence, replication or interpretation of legisigns." (298) 82 MS 283 (1905), dt. in: Semiotische Schriften Bd. 2, 348. 83 Ich folge hier einem Entwurf von 1903, der vergleichsweise ausgeführt ist. Das kategoriale Analyseprinzip lautet dabei: „Zeichen sind durch drei Trichotomien aufteilbar; erstens unter dem Gesichtspunkt, ob das Zeichen selbst eine bloße Qualität, ein aktual Exis-

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sich selbst ist ausdifferenzierbar in Qualizeichen, Sinzeichen und Legizeichen.M Eine zweite Unterteilung differenziert die Relation, mit der das Objekt das Zeichen determiniert; es ergeben sich Ikon, Index und Symbol}5 Die dritte Unterteilung differenziert die Relation, mit der das Zeichen seinen Interpretanten determiniert; hier spricht Peirce von Rheme (oder Rhema), Dicent (oder Dicizeichen) und Argument. Werden diese drei Unterteilungen miteinander kombiniert, so ergeben sich zehn Zeichenklassen.86 Die Breite an Phänomenen, die mit diesem Raster semiotisch thematisierbar sind, ist jedenfalls enorm - wobei fur die empirische Arbeit zu beachten ist, daß sich die Relationen im Zeichenprozeß aufeinander aufschichten, so daß es kaum sinnvoll wäre, beispielsweise nach einem reinen Ikon zu suchen; stattdessen sollte man die Zeichenklassen zum Aufweis von Aspekten des Zeichenprozesses gebrauchen.87 Bemerkenswert ist, daß Peirce die Unterteilung nach internen Kriterien der Zeichenfunktion vornimmt und nicht auf eine externe Systematik zurückgreift wie die duale Unterscheidung von stierendes oder ein allgemeines Gesetz ist; zweitens danach, ob die Relation des Zeichens zu seinem Objekt darin besteht, daß das Zeichen an sich selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat oder ob sie in einer existenziellen Relation des Zeichen zu diesem Objekt besteht oder in seiner Relation zu einem Interpretanten; drittens danach, ob sein Interprétant es als ein Zeichen der Möglichkeit oder als ein Zeichen des Tatsächlichen oder als ein Zeichen der Vernunft darstellt." (Ch. S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M. 1983, 123). Wie und warum Peirce um 1903 dazu vorstößt, ist beschrieben bei A. Freadman, Peirce's second classification of signs, in: V.M. Colapietro/Th.M. Olshewsky (Hg.), Peirce's Doctrine of Signs: Theory, Applications, and Connections, Berlin/New York 1996, 143-159. 84 Zu dieser Unterteilung vgl. die ausführliche Darstellung bei Short (1982). Interessant ist hier, daß die Legizeichen (also zeichenhafte Gesetzmäßigkeiten) nicht an menschliches Bewußtsein, wohl aber an Leben gebunden sind: „There are signs throughout nature, but there are legisigns only when there is life, and legisigns always exist in order to serve the purposes of living things." (298) 85 Zu dieser besonders häufig rezipierten (und ebenso häufig mißverstandenen) Unterteilung vgl. Peirce' letzte veröffentlichte Äußerung dazu: „... daß jedes Zeichen durch sein Objekt bestimmt ist, entweder indem es erstens an den Eigenschaften des Objekts teilhat, dann nenne ich das Zeichen ein Ikon; zweitens indem es wirklich und in seiner individuellen Existenz mit dem individuellen Objekt verbunden ist, dann nenne ich es einen Index; drittens indem es mit größerer oder geringerer annähernder Gewißheit so interpretiert wird, daß es das Objekt in Folge einer Gewohnheit (diesen Terminus verwende ich so, daß er natürliche Dispositionen einschließt) denotiert, dann nenne ich das Zeichen ein Symbol." (P 1128 [1906], dt. in: Semiotische Schriften Bd. 3, 135f.) - Die oft wiederholte These des frühen Eco, es gebe weder Ikone noch Indexe, ist nur möglich, wenn der kategoriale Hintergrund der Unterteilung nicht klar ist, und macht von Peirce her keinen Sinn. 86 Ausführlich dazu (mit Beispielen): Peirce, Phänomen und Logik, 128-134. 87 Dies ist plausibel vorgeführt bei B. M. Scherer, Prolegomena zu einer einheitlichen Zeichentheorie. Ch. S. Peirces Einbettung der Semiotik in die Pragmatik, Tübingen 1984, 67-100.

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sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen oder die Unterscheidung nach den Sinnesorganen, über die Zeichen sinnlich wirken. Er hält so seine erklärte Absicht durch, die Zeicheniunktion nicht von Wirkungen der Zeichen in einem menschlichen Erkenntnissubjekt abhängig zu machen, sondern umgekehrt die möglichen Wirkungen von den Zeichenarten her zu entwerfen.88 Entsprechende Differenzierungen sind auch beim Objekt und beim Interpretanten möglich. Das Objekt steht in einer dyadischen Relation und kann deshalb auf zwei Arten betrachtet werden: Zum einen als das, was vom Zeichen dargestellt wird, zum anderen als das, was das Zeichen determiniert. Den ersten Aspekt nennt Peirce das Unmittelbare Objekt, den zweiten das Dynamische Objekt. Peirce möchte „das Unmittelbare Objekt, welches das Objekt ist, wie es das Zeichen selbst darstellt und dessen Sein also von seiner Darstellung im Zeichen abhängt, von dem Dynamischen Objekt unterscheiden, das die Realität ist, die Mittel und Wege findet, das Zeichen zu bestimmen, ihre Darstellung zu sein."89 Das Dynamische Objekt macht erst einen Zusammenhang von Darstellungen zu verschiedenen Zeitpunkten oder aus verschiedenen Perspektiven möglich; es ist damit grundlegend für Zeitbewußtsein und Intersubjektivität. Andererseits hütet sich Peirce, die Struktur des Zeichenprozesses vorschnell zu durchbrechen; er betont, daß auch das Dynamische Objekt kein Gegenstand im Sinne eines naiven Realismus ist 9 0 und daß es für die Interpretation nie ganz determiniert ist.91 Durch collateral experience kann es aber so weit bestimmt werden, daß in der Praxis die Bezugnahme der Darstellungen auf-

88 Dies ist ein zentrales Problem bei Morris. Obwohl er mit Index-Ikon-Symbol (in dieser Reihenfolge!) die gleichen Bezeichnungen benutzt, ist sein Verständnis der Zeichenarten dem von Peirce geradezu entgegengesetzt; vgl. Rochberg-Halton/McMurtrey (1983), 143-146. In der Praktischen Theologie liegt häufig Morris' Trichotomie zugrunde, selbst wenn Peirce zitiert wird. 89 Ρ 1128 (1906), dt. in: Semiotische Schriften Bd. 3, 145. Vgl. auch die meines Wissens früheste Form dieser Unterscheidung in MS 939 (1905), dt. in: Semiotische Schriften Bd. 2, 272. - Diese Differenzierung vefehlt Th. A. Sebeok (Signs: An Introduction to Semiotics, Toronto/Buffalo 1994), wenn er vorschlägt, das Objekt O, wie er es bei Peirce vorfindet, umzuformulieren als >Zeichen von 0„