Latein am Rhein: Zur Kulturtopographie und Literaturgeographie eines europäischen Stromes 9783110400168, 9783110400281, 9783110400328

Der Rhein und seine angrenzenden Städte und Landschaften blühten als Landschaft einer über lange Jahrhunderte verfassten

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Latein am Rhein: Zur Kulturtopographie und Literaturgeographie eines europäischen Stromes
 9783110400168, 9783110400281, 9783110400328

Table of contents :
Inhalt
Einleitende Überlegungen
Geographie und Reise
Freigeboren
Der Rhein: Fluss der Germanen oder der Helvetier?
hinc ditia Rheni flumina prospectas
Dichtung und Fluss
Ein Münsteraner in einer rheinischen Metropole
Hydrographie als poetisches Prinzip der Digression
Die frühen Werke des Münsteraners Bernhardus Mollerus: der Rhenus und die Ecclesias
Der Rhein im Weltbild des Elsässers Jakob Balde
Rheinromantik und Vater Rhein
Basels sicherer Hafen: Inszenierung eines humanistischen Dialogs am Ufer des Rheins
Trauer und Repräsentation
Paul Schede (Paulus Melissus) – Rhene felix!
Der Rhein als Achse einer res publica literaria
Wie ein Gelehrter reisen soll: Reiseregeln und Lob des Niederrheins in Georg Loys’ Schrift Pervigilium Mercurii
Liceat ex illo felicissimo amne haurire, qui ex ore vere aureo velut ex fonte ditissimo promanat
Henric Mirou (1551–1621): Ein dichtender Apotheker im Streit der Konfessionen
Regionale Identifikationsangebote im Straßburger Akademietheater
Namenregister
Topographisches Register

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Latein am Rhein

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 213

Latein am Rhein

Zur Kulturtopographie und Literaturgeographie eines europäischen Stromes Herausgegeben von Carmen Cardelle de Hartmann und Ulrich Eigler unter Mitarbeit von Dörthe Führer und Brigitte Marti

ISBN 978-3-11-040016-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040028-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040032-8 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Ulrich Eigler Einleitende Überlegungen 

 VII

Geographie und Reise Martin Korenjak Freigeboren. Die Ursprünge des Schweizer Rheins 

 3

Katharina Suter-Meyer Der Rhein: Fluss der Germanen oder der Helvetier? Patriotismus und Apologie in Vadians Kommentar zu Pomponius Mela (1522)   22 Christoph Galle hinc ditia Rheni flumina prospectas. Die Rheinreise des Erasmus von Rotterdam im Jahr 1514 und ihre literarischen Zeugnisse   53

Dichtung und Fluss Beate Hintzen Ein Münsteraner in einer rheinischen Metropole. Bernardus Mollerus’ Blick auf Köln   69 Seraina Plotke Hydrographie als poetisches Prinzip der Digression. Die Flussbeschreibung Rhenus et eius descriptio elegans (1570) von Bernardus Mollerus   82 Thomas Gärtner Die frühen Werke des Münsteraners Bernhardus Mollerus: der Rhenus und die Ecclesias   94 Eckard Lefèvre Der Rhein im Weltbild des Elsässers Jakob Balde 

 106

VI 

 Inhalt

Stefan Tilg Rheinromantik und Vater Rhein. Zwei Motive des deutschen Humanismus   128 Christian Guerra Basels sicherer Hafen: Inszenierung eines humanistischen Dialogs am Ufer des Rheins. Zu Enea Silvio Piccolominis Libellus dialogorum   141 Elisabeth Weber-Reber Trauer und Repräsentation. Der Rhein als poetische Landschaft in Basels neulateinischen Epicedien des 17. Jahrhunderts   170 Henriette Harich-Schwarzbauer Paul Schede (Paulus Melissus) – Rhene felix! Eine poetologische Lektüre   186

Der Rhein als Achse einer res publica literaria Hans Schönemann Wie ein Gelehrter reisen soll: Reiseregeln und Lob des Niederrheins in Georg Loys’ Schrift Pervigilium Mercurii   199 Cristina Ricci Liceat ex illo felicissimo amne haurire, qui ex ore vere aureo velut ex fonte ditissimo promanat. Johannes Chrysostomus im Oberrheinischen Humanismus   220 Maximilian Gamer Henric Mirou (1551–1621): Ein dichtender Apotheker im Streit der Konfessionen   244 Michael Hanstein Regionale Identifikationsangebote im Straßburger Akademietheater. Zu den Dramen Julius Caesar und Moses des Caspar Brülow   261 Namenregister 

 283

Topographisches Register 

 287

Ulrich Eigler

Einleitende Überlegungen 1 Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac ­praecipiti vertice ortus Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus, modico flexu in occidentem versus septentrionali Oceano miscetur [Tac. Germ. 1,2]. [Der Rhein entspringt dem unzugänglichen und steil abstürzenden Gipfel der Rätischen Alpen, wendet sich mit sanfter Biegung nach Westen und mischt sich dann mit der Nordsee.]1

Ca. 98  n. Chr. beschrieb Tacitus  – geographisch sachlich  – im zweiten Teil des Einleitungskapitels seiner Germania den Verlauf des Rheins. Er stellte damit seiner römischen Leserschaft eine Randerscheinung der antiken mediterranen Welt vor Augen, die Grenze des römischen Imperiums gegenüber der Barbarenwelt der Germanen. 150 Jahre früher bildete in Catulls carmen 11, das offenbar unter dem Eindruck von Caesars erstem Rheinübergang 55  v. Chr. verfasst wurde, der Rhein noch unbestimmt einen Teil des barbarischen, trans Alpes gelegenen Nordens. Diese Vorstellung konnte der Dichter nach den jüngsten historischen Erfahrungen2 in den poetischen Topos vom ‚Ende der Welt‘, an das ihm seine Freunde folgen würden, ergänzend integrieren (Catull. 11,9–12):3 Sive trans altas gradietur Alpes, Caesaris visens monimenta magni, Gallicum Rhenum, horribile aequor ultimosque Britannos.

1 Die deutschen Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser. 2 Die historische Erfahrung der gallischen Eroberungen Caesars veranlasste Catull offenbar zur geographischen Expansion des Topos vom ‚Ende der Welt‘ in ‚Richtung Norden‘. Zur spezifischen Gestaltung des Topos durch Catull sowie zur Datierung s. Hans Peter Syndikus: Catull. Eine Interpretation. Erster Teil. Die kleinen Gedichte (1–60). Darmstadt 1984, S. 121–123. Ähnlich wird in Vergils noch vor 39 v. Chr. verfasster zehnter Ekloge (ecl. 10,46 f.) der Rhein unspezifisch mit einem kalten und unzivilisierten Norden assoziiert. 3 Die östlichen Grenzen werden durch Indien und die unda des Weltmeers (3–5) benannt, der Süden durch den Nil (8). DOI 10.1515/9783110400281-203

VIII 

 Ulrich Eigler

[Sei es, dass man geht über die hohen Alpen und sieht die Spuren des großen Caesar, sieht auch den Gallischen Rhein wie auch das schreckliche Meer und die Britannier am Ende der Welt.]

Catull bezeichnete den Rhein noch als Gallicus Rhenus, sah ihn also als Teil der gallischen Region, in der sich die Feldzüge Caesars zur selben Zeit abspielten. Es war dann aber Caesar, der den Rhein als Grenze Roms militärisch konstituierte, literarisch in seinen Commentarii konstruierte und im kulturellen Bewusstsein Roms verankerte.4 Tacitus dagegen schrieb ca. 150 Jahre später seine Germania, als der Rhein längst nicht mehr ein Gallicus Rhenus, d. h. Teil eines barbarischen Galliens war, sondern seit gut einem Jahrhundert die etablierte Grenze gegen eine politisch freie, geographisch unbestimmte und unzivilisierte Welt bildete. Diese benannte er unter intertextueller Anlehnung an Caesars Vorwort der Commentarii und gab diesem Raum Grenzen. Dem Rhein kam dabei die psychologisch wichtige Bedeutung zu, welche sich militärisch seit Augustus stabilisiert hatte (Tac. Germ. 1,1):5 Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit […]. [Germanien wird gesamthaft von Galliern, Rätern und Dannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von Sarmaten und Dakern durch die Angst voreinander sowie Berge getrennt; den Rest umfließt der Ozean.]

Germanien tritt damit als klar umgrenzter Raum an die Stelle, die bei Caesar noch Gallien inne hatte, der Rhein wird als Grenzfluss prominent hervorgehoben.6

4 Caesar lässt Gall. 4,16,3 die germanischen Sugambrer auf von Rom erhobene Ansprüche antworten: populi Romani imperium Rhenum finire. Caesar setzt damit implizit die Grenzen der eigenen Eroberungspläne fest. 5 Der intertextuelle Bezug auf den Beginn von Caesars Commentarii ist evident (Caes. Gall. 1,1): Gallia est omnis divisa in partes tres […]. So wird programmatisch die Germania als klar abgegrenzte Region gleichsam neben die durch den berühmten Satz konstituierte Gallia gestellt. Es folgt auch bei Caesar auf die Benennung des Raums seine Strukturierung durch  – allerdings innerhalb dieses Raumes – fließende Flüsse. Hervorgehoben wird durch Caesar an letzter Stelle der Rhein, der Germanen von Galliern im Norden trennt (1,3): Germani, qui trans Rhenum incolunt. 6 Ilja Mieck betont die Leistung des Tacitus, weil er den germanischen Raum „soweit er nicht zum Imperium Romanum gehörte, zum ersten Mal unter einem gemeinsamen Begriff zusammenfaßte: Unabhängig von seiner politischen Infrastruktur, die durch die verschiedenen Stammesverbände gebildet wurde, nannten die Römer das von ihnen nicht beherrschte Gebiet in



Einleitende Überlegungen 

 IX

Auch nutzt der Erzähler narrativ dessen Fließrichtung gegen Norden im zweiten Teil der Germania als ‚roten Faden‘ für die Beschreibung der den Römern vertrauteren und dem Imperium nächstgelegenen Stämme.7 Die klar trennende Funktion des Rheins entsprach politisch der kaiserlichen Darstellung8 und begegnete auch vereinzelt als literarisches Motiv bei Autoren wie Martial oder Statius. In der Antike blieb der Rhein allerdings trotz seiner militärischen Bedeutung literarisch ein Randthema. Daran änderte sich auch nichts signifikant, als er im Mittelalter infolge der Verschiebungen des politischen Schwerpunktes in den Norden vom Grenzfluss zwischen zivilisiert-mediterraner und nördlich-barbarischer Welt zu einem zentralen Fluss der europäischen Kultur wurde.9 Erst im Zeitalter des Humanismus tritt ein Wandel ein. Das Randphänomen wird zu einem politischen, kulturellen und literarischen Hauptthema, das u. a. durch die Rezeption der Germania in gleichem Maße gefördert wurde, wie es selbst die Beschäftigung mit der kleinen Schrift des Tacitus unterstützte. So entfaltete im 16. Jahrhundert die in der Germania etablierte Stilisierung des Rheins als Grenze zwischen römisch-romanischer und germanischer Welt große Dynamik.10

Mitteleuropa Germania Magna oder Germania Libera.“ Ilja Mieck: Deutschlands Westgrenze. In: Deutschlands Grenzen in der Geschichte. Hg. von Alexander Demandt. München 1990, S. 191– 233, hier S. 191. 7 Mit gelegentlicher Unterbrechung der ‚Flussrichtung‘ durch Behandlung der neueroberten agri Decumates (29,3) folgen aufeinander die Darstellung der Helvetii (28,2); Ubii (28,4); Batavi (29,1); Chatti (32,1). 8 Vgl. aber die von althistorischer Seite vorgebrachten Bedenken zu einer allzu starken Vereinfachung, gerade auch in den zeitgenössischen Quellen: Ulrike Riemer: Die römische Germanenpolitik. Von Caesar bis Commodus. Darmstadt 2006, S. 108. 9 S. dazu die Ausführungen von Stefan Tilg in diesem Band. 10 Man denke nur an den Elsässer Humanisten Beatus Rhenanus, der sich unter Berufung auf Tacitus’ Germania dezidiert in seiner 1531 in Basel gedruckten Schrift Rerum Germanicarum libri tres (1,3,1) zu der Frage äußert, in welcher Weise der Rhein in der Antike römisches und germanisches Gebiet trennte. Für die linksrheinischen, Deutsch sprechenden Gebiete des Oberrheins kommt er zu dem Schluss: […] totum id a Germanorum populis occupatum est, ereptum Romanis. Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres. Hg. von Felix Mundt. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 127), S. 68.

X 

 Ulrich Eigler

2 Omnium Germaniae amnium celeberrimus Omnium Germaniae amnium celeberrimus [„(Sc. d. Der Rhein) ist der bedeutendste unter den Flüssen Deutschlands“]:11 1522 eröffnet Joachim Vadian mit einer poetisch anspruchsvollen Wendung seinen Kommentar zur Erwähnung des Rheins bei dem antiken Geographen Pomponius Mela, der 43/44 n. Chr. drei Bücher De chorographia mundi verfasst hatte. Durch die Paronomasie omnium Germaniae amnium, wobei Germania gleichsam in abbildender Wortstellung durch Flüsse eingerahmt, ja konstituiert wird, und die superlativische Hervorhebung des Rheins wird diesem für Deutschland emphatisch eine prominente Stellung zugewiesen. Das Beispiel illustriert, welch emotionales Verhältnis – im Gegensatz zu den von ihnen rezipierten antiken Autoren – gerade deutsche Humanisten zum Rhein entwickelten. Pomponius Mela bot wie später Tacitus in der Germania (1,2) eine geographisch-sachliche Schilderung des Rheinverlaufs.12 Der Kommentator des 16. Jahrhunderts adressiert dagegen den Strom wie auch an anderen Stellen seines Kommentars in panegyrischer Weise. Er offenbart damit einen Grundzug der humanistischen Behandlung des Rheins im 16./17.  Jahrhundert. In dieser Epoche verband sich die Rezeption antiker sowie mittelalterlicher Erwähnungen des Rheins mit der Neuentwicklung von Vorstellungen und Konzepten, die auch in deutschen Rheinliedern weiterwirkten. Im 16. und 17. Jahrhundert war die Rheindichtung vorrangig eine lateinische. Wer wie Paul Schede/Melissus (1539–1602) den Preis des Rheins zum Gegenstand seiner Dichtung wählte (te sed in primis can[imus], Rhene, felix,13 [„aber Dich, glücklicher Rhein, besingen wir ganz besonders“]), bereicherte eine intensiv gepflegte Gattung der lateinischen Rheindichtung. Diese brachte den ästhetischen Reiz des Rheins und die Naturschönheit vielfältig zum Ausdruck. Sie thematisierte ebenso dessen allgemein kulturelle Bedeutung als Verbindungsader blühender Städte und Schulen und damit einer mitteleuropäischen humanistischen Gemeinschaft. Der Rhein wirkte nämlich als Kommunikationsachse mit enormer Dynamik, welche die Länder der Eidgenossenschaft mit dem Mittel- und

11 Joachim Vadianus: Pomponii Melae de orbis situ libri tres […]. Basel 1522, S. 167 zu Mela 3,19 (vgl. die Beiträge von Martin Korenjak und Katharina Suter-Meyer in diesem Band). 12 Vgl. Mela 3,24: Rhenus Alpibus decidens prope a capite duos lacus efficit Venetum et Acronum. mox diu solidus et certo alveo lapsus haud procul a mari huc et illuc dispergitur, sed ad sinistram amnis etiamnum et donec effluat Rhenus, ad dextram primo angustus et sui similis, post ripis longe ac late recedentibus iam non amnis sed ingens lacus ubi campos implevit Flevo dicitur, eiusdemque nominis insulam amplexus fit iterum artior iterumque fluvius emittitur. 13 Zum entsprechenden Gedicht und vollständigen Zitat s. die Beiträge von Stefan Tilg und Henriette Harich-Schwarzbauer in diesem Band.



Einleitende Überlegungen 

 XI

Niederrhein als Literaturlandschaft, Wirtschaftsraum sowie Schul- bzw. Universitätsregion eng verband. So hatte Heinrich Bullinger, Nachfolger Huldrych Zwinglis als Prediger am Zürcher Großmünster, ab 1516 in Emmerich am Niederrhein bei Johannes Aelius, Schüler des Münsteraner Kanonikus Johannes Murmellius (gest. 1517), die Lateinschule besucht.14 Gelehrte humanistische Gesellschaften pflegten im 16. Jahrhundert trotz konfessioneller Unterschiede engen Austausch den Rhein entlang.15 Auch entwickelte sich der Rhein mit seinem Umland als politisch bedeutsames Übergangs- und Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich zu einem politischen Thema, das in humanistischen Kreisen und der diesen entstammenden lateinischen Dichtung viel erörtert wurde. So begründete Konrad Celtis in Amores 2,13 den Mythos vom „Deutschen Rhein“ und steht damit am Anfang einer patriotischen lateinischen Rheindichtung, die „geographisches und nationalpolitisches Interesse [verband]“ und von Dichtern wie dem erwähnten Paul Schede/Melissus fortgesetzt wurde.16 Einige dieser Aspekte beleuchtet und vertieft der vorliegende Band in exemplarischen Studien. Sie stehen im größeren Zusammenhang eines Konzepts, das davon ausgeht, dass die Fülle lateinischer Studien und Literatur im 16. und 17. Jahrhundert den Rhein entlang eine Literaturregion enormer Wirkmächtigkeit erkennen lässt. Der Rhein bildete dabei in gleicher Weise Gegenstand wie Voraussetzung der großen Blütezeit lateinischer Literatur und eines besonderen geographischen Raumes.17

14 Murmellius war besonders durch seine Erziehungsschrift Pappa puerorum [Brei für die Knaben] im Bereich des Deutschen Reiches populär. Zugleich warb er auf diese Weise für die Schulen am Niederrhein. 15 Vergleichbare Wege von Schaffhauser Schülern zeigte Renato Fischer (Zürich/München) mit dem Vortrag „Den Rhein entlang: Schaffhauser lernen Latein“ auf. Der Beitrag konnte aus Zeitgründen leider keinen Eingang in den vorliegenden Band finden. Zu dem wichtigen Einfluss von Schulen des Niederrheins auf diejenigen des Oberrheins am Beispiel der Lateinschule von Schlettstadt vgl. Ulrich Eigler: „Gar ein gutte schull“. Die Lateinschule in Schlettstadt (Elsass) als Pflanzstätte der Avantgarde des deutschen Humanismus. In: Der Altsprachliche Unterricht in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Korenjak, Florian Schaffenrath. Innsbruck, Wien 2010 (Pontes 6), S. 63–77. 16 Humanistische Lyrik des 16.  Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel, Hermann Wiegand. Frankfurt am Main 1997, S. 1009. 17 Alle Beiträge wurden am 5. Arbeitsgespräch der Deutschen Neulateinischen Gesellschaft (DNG) vom 21. bis 23. Februar 2013 an der Universität Zürich präsentiert. Folgende Vorträge fanden nicht Eingang in den vorliegenden Band bzw. werden auf Wunsch der Verfasser andernorts publiziert: Arnold Becker (Münster): „Hermann Buschius als Verfechter der

XII 

 Ulrich Eigler

3 „Latein am Rhein“: Der Rhein als Region Unter dem Titel „Latein am Rhein“ sind im hier vorgelegten Band Beiträge versammelt, die exemplarisch illustrieren, in welcher Weise humanistische Gemeinschaften, ihre Texte, Institutionen und besonderen Formen des Wissens­ transfers18 dazu beitrugen, einer relativ klar umschreibbaren Region der neu­ lateinischen Literatur und des deutschen Humanismus Konturen zu verleihen, ja diese so recht erst ‚geo-graphisch‘ entdeckten, wenngleich sie dieser mehrheitlich entstammten.19 Ihre Verfasser, Träger und Rezipienten arbeiteten an der

humanistischen Erneuerung des Bildungswesens im Rheinland“; Peter Orth (Köln): „Mittelalterliches in neuem Gewand. Lehrschriften und Dichtungen des Kölner Dominikaners Jakob Magdalius von Gouda“; Ralf Georg Czapla: Der Rhein als Bühne des technischen Fortschritts. August Wilhelm von Schlegels lateinische Elegie auf die Dampfschifffahrt des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. und ihre Übersetzungen. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 80 (2016), S. 146–174. Urs Leu (Zürich) hielt den Eröffnungsvortrag „Chronologia est unica historiae lux. Glareans Studien zur antiken Chronologie“ (publiziert zusammen mit Anthony Grafton: Chronologia est unica historiae lux. How Glarean studied and taught the chronology of the ancient world. In: Heinrich Glarean’s Books. The Intellectual World of a Sixteenth-Century Musical Humanist. Hg. von Iain Fenlon, Inga Mai Groote. Oxford 2013, S. 248–279). 18 Dies konnte z. B. durch Austausch und Verbreitung von Handschriften oder Drucken geschehen. Zu diesem im vorliegenden Band im dritten Themenkomplex berührten, wichtigen Aspekt einer Literatur-Region anhand der Verbreitung von Petrarcas Schriften am Oberrhein um 1500 vgl. z. B.: Ulrich Eigler: De vita solitaria. Il Petrarca e la “reinvenzione” dello studioso. In: Humanistica. An International Journal of Early Renaissance Studies 10 (n. s. 4).1–2 (2015), S. 85–92, hier S. 85 f. Umfassend wird schon länger von einer Forschergruppe zum Alemannischen Raum des 13. und 14. Jahrhunderts die Frage der Literatur-Region reflektiert. Eine genaue Diskussion der Ansätze findet sich z. B. bei Johanna Thali: Regionalität als Paradigma literaturhistorischer Forschung zur Vormoderne. Das Beispiel des Benediktinerklosters St. Andreas in Engelberg. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hg. von Barbara Fleith, René Wetzel. Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 229–261, hier besonders S. 229–236. 19 Diese Überlegungen stehen im Gefolge der von Martin Korenjak und Karlheinz Töchterle entwickelten Gedanken zur Behandlung Tirols als neulateinische Literatur-Region im Sinne einer Strukturierung „der neulateinischen Literatur in ihrer Gesamtheit“. Martin Korenjak, Karlheinz Töchterle: Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol. Ein Projekt am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck. In: Neulateinisches Jahrbuch. Journal of Neo-Latin Language and Literature 4 (2002), S. 274–279, hier besonders S. 274–277). S. dazu auch das Vorwort der Herausgeber von: Martin Korenjak u. a. (Hgg.): Tyrolis Latina. Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol. Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Gründung der Universität Innsbruck. Wien u. a. 2012, S. 9–18. Zahlreiche Kriterien legen es nahe, die Rheinregion mit der historischen Landschaft ‚Tirol‘ zu vergleichen. Abgesehen von der Blüte neulateinischer Literatur in der Frühen Neuzeit handelt



Einleitende Überlegungen 

 XIII

Erschaffung des Rheins sowie an der Herstellung einer durch ihn charakterisierten und dominierten Landschaft. 20 Die humanistische Beschäftigung mit dem Rhein fügt sich in einen deutlich erkennbaren ‚spatial turn‘21 avant la lettre, der sich im Bestreben humanistischer Autoren auswirkt, Regionen, Flüsse, Städte, gerade des Deutschen Reiches, dichtend zu beschreiben und zu durchmessen bzw. wie in der Rheinelegie (Amores 2,13) des Konrad Celtis in neuer Fülle poetisch überhaupt zu erschaffen. Celtis beginnt dort den Preis des Rheines mit einer Beschreibung seines Verlaufs. Der Flussdichtung22 bzw. der besonders im Deutschen Reich gedeihenden Textsorte des hodoeporicon kommen dabei große Bedeutung zu.23 In einem Akt der Topo-

es sich bei beiden Regionen um Gebiete intensiven Kulturkontakts zwischen germanischer und romanischer Welt sowie um einen Ort politischer Konfrontationen. Auch kann man beide Regionen als relativ homogenen Wirtschaftsraum, einen Bereich enger humanistischer Kommunikation und eine Gegend zahlreicher Zentren humanistischer Kultur an Höfen, in Klöstern, Sodalitäten und in Schulen ansehen. 20 „Literarische Topographien können sich dabei auf reale Ortserfahrung beziehen, erzeugen aber auch fiktive Bilder, können kartographisch verfahren oder sich der Verortung entziehen, können den Raum als Trope figurieren, ihn ins Metonymische, Metaphorische oder Allegorische transponieren.“ So Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse zum Thema ‚Geopoetiken‘ als Einführung zu: Magdalena Marszałek, Sylvia Sasse (Hgg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin 2010 (TopographieForschung 1), S. 9. 21 S. dazu auch in diesem Band die Bemerkungen von Seraina Plotke zur großen Verbreitung „spatial organisierter Werke“ im 16. Jahrhundert und die besonderen Möglichkeiten, die durch den Buchdruck eröffnet wurden. So begegnen uns in den Drucken neben dem jeweiligen Text Stadt-, Fluss- oder Landschaftsansichten als Holzschnitte. Vgl. auch Sigrid Weigel: Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), S. 151–165. 22 In diese Tradition gehören raumgreifende Projekte wie die nie ausgeführte Germania illus­ trata des Konrad Celtis. Zu Flussbeschreibungen vgl.: Beate Hintzen: Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ Rhenus et eius descriptio elegans und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30.2 (1998), S. 8–31. 23 Vgl. allgemein zur Gattung der hodoeporica: Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16.  Jahrhundert. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritualia 12), hier besonders S. 27: Wiegand betont die geringe Verbreitung der Gattung in der neulateinischen Literatur Italiens. Exemplarisch für die Gattung der Reisegedichte sei Gaspar Bruschs Iter Anasianum genannt, mustergültig ediert und in den Gattungskontext des hodoeporicon eingeordnet von: Gottfried Eugen Kreuz: Gaspar Brusch. Iter Anasianum. Ein Spazierritt durch Oberösterreich 1552. Wien 2008 (Wiener Studien. Beiheft 31. Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie 9).

XIV 

 Ulrich Eigler

Graphie,24 der Orts-Beschreibung, werden Fluss sowie Umgebung benannt,25 vom physikalisch-geographischen zum historischen Phänomen transformiert und in schriftlichen bzw. bildlichen Texten lesbar gemacht. Dies zeigt ein hübsches Beispiel lateinischer Rheindichtung aus Zürich, das die dem Rhein doch ferngelegene Stadt dem durch den Fluss gebildeten kulturellen und politischen Raum annähert. 1576 wird nämlich dort in der Offizin Christoph Froschauers das von Rudolf Gwalther verfasste Gedicht Argo Tigurina gedruckt, eine Elegia de navi, qua delecti cives Tigurini unius diei spatio ex Tiguro Argentinam vecti sunt, raro admodum tam expeditae et felicis navigationis exemplo [„Elegie über das Schiff, auf dem ausgewählte Zürcher Bürger an einem Tag von Zürich nach Straßburg fuhren, als äußerst seltenes Beispiel für eine so rasche und glückliche Fahrt“].26 Gwalther beschreibt in diesem hodoeporicon die aktuelle Wiederholung der berühmten Hirsebreifahrt von Zürich nach Straßburg, die bereits 1456 stattgefunden hatte. Die Stadt Zürich wiederholt später noch öfter unter großer Beachtung diese Fahrt und betont damit ihre Zugehörigkeit zum mit dem Rhein assoziierten historischen Kulturraum.27

4 „Latein am Rhein“: Die Beiträge des vorliegenden Bandes Der Rhein als humanistische Kulturregion wie auch als Gegenstand vieler neulateinischer Werke verband zahlreiche Themen, die vom zeitlos schönen Lob des Flusses über geographisch begründete Konstruktion von nationalen Zugehörigkeiten bis zu Fragen der Kirchenreform und Reformation sowie der humanistischen Bildung reichten. Solche Themen werden im vorliegenden Band in drei Komplexen geordnet, in deren erstem („Geographie und Reise“) zunächst Beiträge versammelt sind, die sich humanistischen Bemühungen um die Quellen des Rheins widmen.

24 Zur Topographie als Akt aktiven Versprachlichens im Sinne einer „tropotopography“ vgl. Joseph Hillis Miller: Topographies. Stanford 1995, S. 3 f. 25 S. dazu die programmatischen Bemerkungen von Martin Korenjak in diesem Band. 26 Authore Rodolpho Gvalthero iuniore, Tiguri Christoph. Froschoverus 1576 [Zentralbibliothek Zürich 5.224.6]. Rudolf Gwalther: Argo Tigurina. Zürcher Argonautenfahrt 1576. Hg. mit Faksimile-Ausgabe und deutscher Übersetzung von Peter Stotz, Zürich 2012. 27 Ein deutsches Pendant ist das Gedicht Das Glückhafft Schiff von Zürich, nach dem Vorbild von Gwalthers Argo Tigurina noch 1576 verfasst von dem aus Straßburg stammenden Johann Fischart.



Einleitende Überlegungen 

 XV

Berühmt wurde hier v. a. der bereits genannte Kommentar Vadians zu Pomponius Mela. Dieser gewann dadurch, dass Vadian den Rhein nicht als Ganzes ansah, sondern in drei Flussabschnitte teilte, d. h. einen durch den Bodensee abgetrennten28 ‚Schweizer‘ Hochrhein, den Rheinverlauf nach dem Bodenseeausfluss und den Mündungsbereich betrachtete. Sein Kommentar wurde damit sowohl für die ‚Geo-Graphie‘ des Flusses wie auch für Wahrnehmung und Benennung eines Landes der ‚Schweizer‘ bedeutsam. Geographischen Fragen widmen sich die Beiträge von Martin Korenjak und Katharina Suter-Meyer. Beide zeichnen auch die beginnende wissenschaftliche Bemühung um eine genauere Erfassung des Quellbereichs im 16. Jahrhundert nach. Welche Wirkung die „Triumphfahrt“ besaß, die Erasmus 1514 von Rotterdam den gesamten Rhein hinauf über Xanten, Köln, Mainz und Straßburg bis nach Basel führte, und wie gerade dieses Ereignis eine kulturelle Einheit der Rhein­ region als Kernzone des nordalpinen Humanismus offenbarte, zeigt die Untersuchung der zeitgenössischen Zeugnisse und insbesondere der Briefe des Erasmus zu dieser denkwürdigen Rheinfahrt durch Christoph Galle. Unter dem Titel „Dichtung und Fluss“ sind im zweiten Komplex Beiträge vereint, die sich mit Werken auseinandersetzen, welche einerseits den Rhein dem Verlauf nach beschreiben, ihn andererseits als Hintergrund und Bildspender für Metaphern wählen, um dem Werk Anmut zu verleihen. Manche Texte werden dabei mehrfach und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Vielfältig nutzten nämlich neulateinische Autoren den Rhein als Argumentationshilfe oder auch implizit poetologisch, um die präsentierte Dichtung zum Rhein zu reflektieren. Dabei steht meist weniger der Gedanke einer Reise auf dem Rhein im Vordergrund als der imaginäre Nachvollzug von geographisch-historischem sowie literarischem Wissen anhand von Stationen den Rhein entlang. Dies zeigt besonders die voluminöse poetische Rheinbeschreibung Rhenus et eius descriptio elegans in sechs Büchern, das Erstlingswerk des Münsteraner Geistlichen Bernardus Mollerus aus dem Jahr 1570. Das von der Forschung vielfach hinsichtlich seiner künstlerischen Qualität geringgeschätzte Werk war dem Fürstbischof von Münster, Osnabrück und Paderborn, Johann Graf von Hoya, gewidmet. Mit diesem wichtigen Werk beschäftigen sich im vorliegenden Band drei Beiträge. Beate Hintzen zeigt exemplarisch anhand der im vierten Buch in 600 Versen gestalteten descriptio Kölns die Vorliebe Mollerus’ für das Absonderliche, Mira-

28 Nach Auffassung antiker Autoren floss der Rhein durch den Bodensee, als wäre dieser nicht eine Unterbrechung des Flusses, sondern ein Teil von diesem. Vgl. Robert Rollinger: Ammianus Marcellinus’ Exkurs zu Alpenrhein und Bodensee. Eine Studie zu Amm. 15,4,2–6. In: Chiron 31 (2001), S. 129–152.

XVI 

 Ulrich Eigler

kulöse, Anekdotische, moralisch Erbauliche. Wie Herodot – teilweise ebenfalls skurriles – Material, das er über fremde Völker sammelte, seiner Geschichtsdarstellung eingliederte, ordnet Mollerus seine Lesefrüchte oder das, was er mündlich erfahren haben mochte, geographisch, und zwar mit einem Schwergewicht auf dem westfälischen Raum. Seraina Plotke beschreibt dagegen Mollerus’ dichterische Tätigkeit als „spatiale poetische Durchmessung eines Raumes“,29 als „Hydro-Graphie“. Sie macht damit deutlich, wie der sprachliche Fluss des Rhenus des Mollerus monumental das Thema des Fließens auch poetologisch als Prinzip des Verfassens und Lesens des eigenen Werkes assoziiert, das im Gang der Produktion und Rezeption einen immer neuen und stets wieder verronnenen Wortstrom präsentiert. Fließen des Rheins und die temporale Struktur der Darstellung dieses ‚Ver-Laufs‘ konvergieren. Bereits der erste Vers wird als Hinweis auf derartige Flüchtigkeit bzw. „Fluktualität“ interpretiert: Scribere decrevi, quid scribam praeterit (V. 1). In diesem Zusammenhang erhält auch die Zweiteilung des Titels, der in der ersten Auflage eben nicht Rheni descriptio lautet, sondern zunächst den Rhein als solchen hervorhebt und erst dann den eigentlich poetischen Aspekt, die descriptio als Aufgabe nennt, Bedeutung. Thomas Gärtner dagegen stellt das Rheingedicht in den Kontext der anderen Werke des Mollerus. Besonders setzt er es in Beziehung zur nicht erhaltenen Ecclesias, die als eigentliche Großdichtung angekündigt wird, wie Gärtner nach Betrachtung der Paratexte des Rhenus, besonders des Versprooemiums betont. Das Rheingedicht sei entsprechend der Ankündigung (V. 75 u. ö.) als primitiae anzusehen, das monumentale Werk diene also als Vorbereitung von noch Größerem; Widmung verbinde sich mit Ankündigung. Eckard Lefèvre hatte den Festvortrag der Tagung übernommen. Sein Beitrag ist dem Dichter und Jesuiten Jakob Balde gewidmet, der in seinen Dichtungen den Rhein vielfach erwähnt. Schließlich wurde Balde 1604 im 15 km vom Rhein entfernten elsässischen Ensisheim geboren. Er erlebte den Dreißigjährigen Krieg, den endgültigen Verlust der Heimat an Frankreich und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in München. So diente der Rhein dem sich nach dem Exemplum Ovids gerne als ‚verbannt‘ stilisierenden Dichter zum Ausdruck seines persönlichen Heimwehs in Umschreibung der historischen Region des Elsass und als Bezugspunkt von Trostgedichten für andere in der ‚Verbannung‘ lebende Elsäs-

29 Die Akzentuierung der ‚Geo-Graphie‘ wird durch die Beigabe einer ausfaltbaren Karte des Rheins und seiner Zuflüsse in der zweiten Ausgabe von 1596 als wichtiges Rezeptionszeugnis sowie durch die Vereinfachung des Titels unterstrichen. Eine Reproduktion der Karte befindet sich in diesem Band.



Einleitende Überlegungen 

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ser. Neben diesen persönlich-biographischen Bezügen inszeniert der Dichter den Fluss pointiert als ‚Deutschen Rhein‘ und markiert ihn geographisch wie auch politisch-historisch. Mit explizitem Bezug auf Tacitus historisiert er den Rhein als Ausdruck des Alten Germaniens und knüpft daran die Hoffnung auf eine moralische und politische Rückbesinnung, um angesichts von konfessionellen Auseinandersetzungen, Überfremdung und politischer Zerrissenheit wieder zu einer an der Vergangenheit orientierten Identität des Deutschen Reiches zurückzufinden. Dem nationalen Aspekt in der humanistischen Rheindichtung widmet sich auch Stefan Tilg, der dem Phänomen der Rheinromantik und der Popularisierung des Mythos vom Vater Rhein als Motiv in der lateinischen Dichtung des deutschen Humanismus nachgeht. Erst im Humanismus begegnet nach der Antike wieder eine große „Rheinidee“, die mit Bezug auf die Antike formuliert wird und im Fluss den Ausdruck humanistischer Ideale, Schönheit und nationaler Identität sieht, die antike Rheindichtung an Fülle und Intensität aber weit übertrifft. Als „Begründer dieses neuen Rheinbildes“ behandelt Tilg Konrad Celtis (1459–1508), der sich in seinen Epigrammen und den Amores mit dem Rhein auseinandergesetzt hat. Nach Basel bzw. in die Zeit des Schismas zwischen dem Basler Konzil und Papst Eugen IV. führt Christian Guerras Interpretation des prokonsiliaren Dialogs, den der spätere Papst Enea Silvio Piccolomini während seiner Tätigkeit als Sekretär des Gegenpapstes Felix V. verfasste, des Libellus dialogorum de generalis concilii authoritate et gestis Basiliensium. Nach dem Vorbild der Tusculanae disputationes und De legibus Ciceros sowie des platonischen Phaidros wird eine „Flusskulisse“ gewählt, der Rhein als Natur im Hintergrund in den Dialog eingeschrieben. Der damit verbundene Sinngewinn geht weit über formale und rein ästhetische Aspekte hinaus. Der Rhein und die Auenlandschaft vor den Toren Basels evoziert, durch Vergil-Anklänge akzentuiert, zugleich eine idealisierte bukolische Szenerie, die der Italia des Gegenpapstes als autoritätsstiftendes Ambiente für die entwickelten Gedanken entgegengestellt wird. Der in antiken Texten als barbarisch dargestellte Rhein wird von diesem Makel befreit und die durch ihn bestimmte Landschaft gleichsam der italischen Ideallandschaft gleichgestellt, der Konzilsort Basel gegenüber italienischer Konkurrenz aufgewertet. Auch Elisabeth Reber behandelt anhand von Basels neulateinischen Epicedien des 17.  Jahrhunderts den Rhein als poetische Landschaft. Ihre Ausführungen sind verbunden mit der Edition einer Auswahl von Epicedien. Es wird deutlich, dass die eigentlich als Schul- und Gelegenheitsdichtung geringgeschätzte Gattung durchaus individuelle Akzentsetzungen erlaubt. So wird gerade das topographische Motiv des Rheins zur individuellen Verortung der Gedichte genutzt. Doch dient das Flussmotiv nicht nur der Verleihung von lokalem Kolorit, sondern wird expandiert und variiert. Intradiegetisch wird der Rhein als Mittrau-

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ernder eingeschrieben, dient als Metapher des Tränenflusses, aber auch als fortwährend präsenter Garant der memoria, der in einzelnen Fällen als Seelenführer die Verstorbenen zur Seligkeit geleitet (und den Dichter zum Nachruhm). Es wird deutlich, welch große Rolle die Basler Epicedien innerhalb einer sozialen Gruppe von Gebildeten spielten, die sich über lokale Signale wie auch globale Reminiszenzen antiker Literatur erkannten. Beides verbindet der Rhein als neuer Tiber oder Po, Flüsse, an die die Trauer temporär exportiert und lokal in Basel wieder realisiert wird. Henriette Harich-Schwarzbauer untersucht Paul Schedes bzw. Paulus Melissus’ (1539–1602) bereits erwähnte sapphische Ode Ad Rhenum flumen Germaniae in der Erstausgabe von Schedes Sammlung Schediasmata Poetica 1574. In der fünften der neun Strophen, d. h. in der Mittelstrophe, wird der Rhein mit einer berühmten Anrede emphatisch adressiert: te sed in primis cano, Rhene, felix (V. 25). Das Gedicht entstand in der Zeit eines ersten längeren Aufenthalts in Heidelberg, gehört also in die Schaffensperiode, in der sich Melissus in Auseinandersetzung mit der Pléiade als Dichter zu etablieren versuchte. In der Tradition der verbreiteten Flussdichtung, durch Catull und Martial inspiriert und mit Bezügen auf eigene Gedichte besingt Melissus besonders den Mittelrhein, der zugleich Gegenstand seiner Dichtung, Vermittler französischer Einflüsse, insbesondere Pierre Ronsards, wie Garant des poetischen Gelingens, Helfer für die Erneuerung der Poesie in Deutschland sein soll. Das lyrische Ich fährt in Anlehnung an Catulls phaselus (carmen 4) auf dem Strom und wünscht sich, das Fließen des Wassers mit dem der Worte assoziierend, eine gute Ankunft in sicherem Hafen, d. h. die Anerkennung als Dichter. Der dritte und abschließende Themenkomplex ist dem Rhein als „Achse einer res publica literaria“ gewidmet. Viele Aspekte, wie der Rhein als ‚Erfinder‘ des Buchdrucks, als Vermittler reformatorisch-humanistischer Ideen oder als Kommunikations- und Reiseraum sind bereits in vorangegangenen Beiträgen des Bandes gelegentlich behandelt worden. Hier werden nun bestimmte Fragen vertieft. So eröffnet den Abschnitt der Beitrag von Hans Schönemann zu einer besonderen Gattung der ‚Geo-Graphie‘, die sich im 16. Jahrhundert größter Beliebtheit erfreute, zum literarischen Reiseführer bzw. zur apodemischen Literatur. In ihrer Tradition durchmisst Georg Loys in seinem 1596 in Leiden verfassten Pervigilium Mercurii wie in einem hodoeporicon die Region des Niederrheins im Sinne einer peregrinatio academica, beschreibt die Gegend als Bildungsraum und Heimat zahlreicher Sehenswürdigkeiten. Zugleich werden Anleitungen zum Umgang mit Land und Leuten geboten. Das als gedrucktes Büchlein auch materiell bewusst klein und reisetauglich gehaltene und dem monumentalen Opus eines Mollerus so evident entgegengesetzte Werk hatte mit seinen kurzen Beiträgen großen



Einleitende Überlegungen 

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Erfolg. Als Reiseführer machte es den Niederrhein von Köln bis Leiden einem gebildeten Publikum als Teil der gesamten Rheinregion innerhalb einer durch den Verlauf des Flusses charakterisierten res publica literaria bekannt. Entlang des Rheins in der Funktion eines mnemotechnischen Leitfadens ranken sich systematisch nach übergeordneten Gesichtspunkten, wie in apodemischer Literatur üblich, Anekdoten und Nachrichten, die Bildungseinrichtungen, politische Fragen, mirabilia und Sehenswürdigkeiten aller Art betreffen. Den Rhein als wichtigen Vertriebsraum für den Basler Buchhandel, aber auch als Diskussionsforum für reformatorisches Gedankengut behandelt der Beitrag von Cristina Ricci mit einer Reformations- und Mediengeschichte sowie Philologie verbindenden Analyse der Praefationes zu den lateinischen Chrysostomus-Ausgaben in Basel im Zeitraum 1519–1530. Die in Quellenwert und literarischem Anspruch unterschätzten Paratexte werden als durch den Buchdruck verbreitetes Medium erkennbar, das in der intellektuellen, philologischen und theologischen Debatte  – zumal entlang des Rheins  – von großer Wirkung war. Basel mit der besonders intensiven Verbindung von humanistischer Gelehrsamkeit und Buchdruck diente hier als Zentrum eines weitgespannten Netzwerks, das sich einmal mehr für die Verbreitung der lateinischen Übertragungen der Schriften des Johannes Chrysostomos durch Erasmus oder Oekolampad in ganz Europa bewährte. Von den beiden Basler Gesamtausgaben des Chrysostomos erschien die erste 1517 bei Johann Froben, die zweite 1521/22 bei Andreas Cratander. Maximilian Gamer widmet sich lateinischer Dichtung in der Kurpfalz am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, wobei der Rhein zusammen mit dem Neckar die historische Region abgrenzt. Im Mittelpunkt stehen die lateinischen Dichtungen des hugenottischen Immigranten, Apothekers und Gelegenheitsdichters Henric Mirou (1551–1621). Er stand in Beziehung zum Kreis um Paul Schede, der im Beitrag von Henriette Harich-Schwarzbauer als Rheindichter ja bereits eingehend gewürdigt wurde. Mirous Threnodia auf den 1592 verstorbenen Administrator der Kurpfalz Johan Casimir vertritt deutlich die reformierte Politik des Verstorbenen und wendet sich gegen protestantische, besonders aber auch katholische Positionen. Das Carmen Gratulatorium auf Friedrich IV. anlässlich seines Besuches in der seit 1562 bestehenden Hugenottenansiedlung Frankenthal ist dagegen eher von den lokalen Interessen des aufblühenden Ortes sowie dem Bedürfnis Mirous, sich als humanistischer Dichter zu präsentieren, geprägt. Beide Gedichte vermitteln einen lebendigen Eindruck von der durch konfessionelle Spannungen und Umbrüche bestimmten Phase der kurpfälzischen Geschichte, wobei der die Pfalz durchströmende Rhein eine Verbindungslinie für Nachrichten und Ideen zu den reformierten Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz und der spanischen Niederlande bildet.

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Mit dem aus Pommern stammenden Caspar Brülow, der in der Reichsstadt Straßburg als Gymnasiallehrer, Poesie-Professor und Autor am Akademietheater Anfang des 17. Jahrhunderts wirkte, beschäftigt sich im letzten Beitrag Michael Hanstein. Brülow zählt mit sechs lateinischen, zwischen 1612 und 1621 entstandenen Schuldramen zu den größten Dramatikern seiner Zeit. Er machte damit das mit der Hochschule verbundene Akademietheater zu einer der bedeutendsten unter den protestantischen Schulbühnen des frühen 17. Jahrhunderts, zumal die Hochschule – auch aufgrund der Lage am Rhein – einen großen Einzugsbereich besaß. Seine Themen wählte Brülow im Alten Testament oder in der Geschichte der Antike. Im Moses (1621) erscheint die Personifikation des Rheins mit seinen Nebenflüssen als Prologsprecher auf der Bühne und geht, wobei Brülow Zitate des Georg Sabinus verwendet, auf den Aufführungskontext des Dramas zur Universitätspromulgation ein. Im Julius Caesar (1616) bieten entsprechend kostümierte Germanen am Rhein ein Identifikationsangebot für das Publikum, v. a. wenn sie in ihrem ‚germanischen‘ Dialekt mit Caesar und Cicero ins Gespräch kommen.

5 Epilogus In einem epilogus sei abschließend ein anderes Anliegen hervorgehoben und der Rhein als Metapher für ein großes und viele Themen umspannendes wissenschaftliches Lebenswerk, ja als Kulisse für noch Größeres genutzt (eine in den vorangegangenen Beiträgen vielbeleuchtete Praxis humanistischer Panegyrik): Die Herausgeberin und der Herausgeber, Carmen Cardelle de Hartmann und Ulrich Eigler, widmen verbunden mit dem Dank für seine jahrzehntelange Förderung der neulateinischen Studien Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Eckard Lefèvre diesen Band aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags.

Geographie und Reise

Martin Korenjak

Freigeboren Die Ursprünge des Schweizer Rheins Flüsse existieren nicht einfach, so wenig wie Berge, Ebenen oder Meere. Was vorderhand existiert, ist fließendes Wasser. Ein Fluss wird daraus erst durch den Akt der Benennung und durch die Verbindung des Namens mit einem festgelegten Lauf von der Quelle bis zur Mündung. Dass das keine Selbstverständlichkeiten sind, illustriert schön der Strom, mit dem sich der vorliegende Sammelband befasst: Man nimmt es etwa als selbstverständlich hin, dass die Aare bei Koblenz in den Rhein mündet – tatsächlich ist die Aare an diesem Punkt jedoch der deutlich wasserreichere Fluss. Wollte man hydrologisch exakt sein, müsste man also den größten Strom Mitteleuropas in Aare umtaufen oder umgekehrt den Rhein aus den Aare-Gletschern am Grimselpass entspringen lassen – Hoch- und Alpenrhein, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigen wird, gäbe es dann gar nicht.1 Vor ähnliche Schwierigkeiten, auf die wir noch zurückkommen werden, stellen weiter flussaufwärts die zahlreichen Rheinquellen. Flüsse werden aber noch in einem weitergehenden Sinne von Menschen gemacht: Durch Charakteristika, die man einem Fluss zuschreibt, Assoziationen, die man mit ihm verbindet, die Gliederung in verschiedene Abschnitte, die man ihm angedeihen lässt, und dergleichen mehr entsteht ein Bild, das zwar den Eindruck des Naturgegebenen macht, in Wirklichkeit aber eine kulturell bedingte Interpretation von Natur darstellt und sich im Laufe der Zeit grundlegend ändern kann. In der zweiten und dritten Strophe seines 1801 entstandenen Gesanges Der Rhein widerfährt Friedrich Hölderlin beim Anblick der Alpen eine akustische Epiphanie – er vernimmt die Stimme des jungen Rheins (V. 16–37): Jezt aber, drinn im Gebirg, Tief unter den silbernen Gipfeln Und unter fröhlichem Grün, Wo die Wälder schauernd zu ihm, Und der Felsen Häupter übereinander

1 Vgl. Bruno P. Kremer: Der Rhein. Von den Alpen bis zur Nordsee. Duisburg 2010, S. 65 f. Zur heute gebräuchlichen Gliederung in Alpenrhein (und Bodensee), Hoch-, Ober-, Mittel-, Niederrhein und Delta, die im Wesentlichen auf den Beginn des 20.  Jahrhunderts zurückgeht, ebd., S. 20 f., speziell zu den ersten beiden Abschnitten ebd., S. 32–67. DOI 10.1515/9783110400281-001

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Hinabschaun, taglang, dort Im kältesten Abgrund hört’ Ich um Erlösung jammern Den Jüngling, es hörten ihn, wie er tobt’, Und die Mutter Erd’ anklagt’, Und den Donnerer, der ihn gezeuget, Erbarmend die Eltern, doch Die Sterblichen flohn von dem Ort, Denn furchtbar war, da lichtlos er In den Fesseln sich wälzte, Das Rasen des Halbgotts. Die Stimme wars des edelsten der Ströme, Des freigeborenen Rheins, Und anderes hoffte der, als droben von den Brüdern, Dem Tessin und dem Rhodanus, Er schied und wandern wollt’, und ungeduldig ihn Nach Asia trieb die königliche Seele.2

Hölderlin hat das Ursprungsgebiet des Rheins, soweit man weiß, nie zu Gesicht bekommen. Aus welchen Quellen also speist sich das eindrucksvolle Bild, das er von dem Gebirgsfluss entwirft – der Abgrund, in dem dieser brüllt und rast, seine freie Geburt, sein Abschied von den beiden „Brüdern“ und sein Drang nach Asien? Es kann hier natürlich nicht darum gehen, anhand dieser Fragen einen Beitrag zur Hölderlin-Interpretation im engeren Sinne des Wortes zu leisten.3 Vielmehr soll Der Rhein als Ausgangspunkt für den Versuch dienen, die Vorstellungen aufzurollen, die sich die Menschen seit der Antike vom Oberlauf des Stromes gemacht haben, und insbesondere ihren Wandel im Laufe der Frühen Neuzeit nachzuzeichnen – einen Wandel, der nicht nur bei Hölderlin, sondern bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen hat.

2 Zitiert nach Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner. Bd. 2,1: Gedichte nach 1800. Text. Stuttgart 1951, S. 142 f. 3 Grundlegend zum Rhein-Gedicht ist Bernhard Böschenstein: Hölderlins Rheinhymne. Zürich, Freiburg i. B. 1968; aus jüngster Zeit vgl. etwa Peter Horn: Im Liede wehet ihr Geist: Hölderlins späte Hymnen. Oberhausen 2012, S. 109–126 (der besonderes Gewicht auf die politischen Aspekte des Gesanges legt). Was die hier skizzierten Fragen betrifft, hält sich das Interesse der Hölderlinforschung anscheinend in Grenzen. Immerhin diskutiert etwa Lothar Kempter: Hölderlin in Hauptwil. St. Gallen 1946, S. 73–76 als mögliche Vorlagen Hölderlins einige Reiseberichte der Zeit um 1800, nämlich Johann Heinrich Meyers Mahlerische Reise in die Italienische Schweiz (Zürich 1793), Friederike Bruns Tagebuch einer Reise durch die östliche, südliche und italienische Schweiz (Kopenhagen 1800) sowie den zweiten Band von Johann Gottfried Ebels Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz (Leipzig 1802). Vgl. hierzu unten Abschnitt 4.

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Diese Vorstellungen durchlaufen grob gesagt vier Stadien, die sich in folgenden Gruppen von Quellen manifestieren: 1) antiken Texten, 2) dem Œuvre von Konrad Celtis, 3) Arbeiten eidgenössischer Gelehrter vom 16. bis zum 18.  Jahrhundert und 4) europäischer Schweiz-Literatur des 18.  Jahrhunderts. Damit ist auch die Gliederung der folgenden Ausführungen vorgegeben. In der dritten und vierten Phase werden neben neulateinischen wieder auch einige volkssprachliche Texte zur Sprache kommen: Es handelt sich eben seit Beginn der Neuzeit um eine mehrsprachige Tradition, in der die lateinische Literatur zwar lange die führende Rolle spielt, aber trotzdem mit der deutschen, später auch mit der französischen und englischen, Hand in Hand arbeitet.

1 Antike Quellen Der Rhein gehört in der Antike zu den Lieblingsflüssen der Literatur.4 Bereits Horaz nennt ihn in der Ars Poetica (V. 18) in einem Atemzug mit Dianaheiligtümern und Regenbögen als einen Gegenstand, der immer für eine farbenprächtige Ekphrasis gut ist. Tatsächlich sind uns kürzere oder längere Beschreibungen bei einer ganzen Reihe von Autoren erhalten, so etwa, um nur die wichtigsten zu nennen, bei Strabon, Caesar, Pomponius Mela, Tacitus, Cassius Dio, Ammianus Marcellinus und Avienus.5 Der Ursprung des Stroms in den Alpen kommt dabei in den meisten Fällen zur Sprache; häufig wird er noch genauer im Gebiet der Räter und auf einem Berg verortet, der Aduas, Adula, Adulas oder ähnlich heißt. Sein Gefälle ist groß, sein Lauf reißend, wild und von Wasserfällen durchsetzt. Paradoxerweise tritt dabei jedoch gerade der oberste Teil des Rheinlaufes kaum als distinkter Abschnitt mit eigener Charakteristik hervor. Nie wird ihm, wie das etwa Hölderlin im weiteren Verlauf seines Gedichtes tut (V. 83–89), deutlich der ruhigere Flussabschnitt in der Ebene entgegengesetzt, und das, obwohl der Bodensee, der ihn aus heutiger Sicht so klar vom Rest des Stromes abgrenzt, durchaus bekannt ist. Vielmehr werden die erwähnten Eigenschaften eines Gebirgsflusses, vor allem die reißende Strömung, gerne auf den Rhein als Ganzes übertragen. Einzig Mela unterscheidet zumindest einen Oberlauf bis zum Bodensee vom weiteren Lauf bis zum Mündungsdelta und von diesem selbst, doch auch

4 Vgl. zum Folgenden generell Ferdinand Haug: Rhenus 2,3. In: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 1 A (1914), S. 733–755 bzw. S. 755 f. 5 Strab. 4,3,3; Caes. Gall. 4,10; Mela 3,19 f.; Tac. Germ. 1,2; Cass. Dio 39,49; Amm. 15,4,2–6; Avien. orb. terr. 425–429. Unter den zahlreichen knappen Erwähnungen sind aussagekräftig etwa Sen. Herc. f. 1324 (Rhenus ferox) und Lucan. 2,51 f. (Anm. 15).

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er tut das eher en passant und misst der resultierenden Dreiteilung kein besonderes Gewicht bei. Ansonsten wird die Rolle des Bodensees als trennendes Element ignoriert – so etwa bei Avienus, wo der als celer und rapax charakterisierte Strom sich vom Adulas direkt in den Ozean zu stürzen scheint – oder sogar ausdrücklich in Abrede gestellt: Ammianus behauptet geradezu, der Rhein durcheile den See in gerader Linie, ohne sich mit dem Seewasser zu vermischen (15,4,2–4):6 Inter montium celsorum anfractus immani pulsu Rhenus exoriens per praeruptos scopulos extenditur nullos advenas amnes adoptans, ut per cataractas inclinatione praecipiti funditur Nilus, et navigari ab ortu poterat primigenio copiis exuberans propriis, ni ruenti curreret similis potius quam fluenti. Iamque ad planiora solutus altaque divortia riparum adradens lacum invadit rotundum et vastum, quem Brigantium accola Raetus appellat […] Hanc ergo paludem spumosis strependo verticibus amnis inrumpens et undarum quietem permeans pigram mediam velut finali intersecat libramento et tamquam elementum perenni discordia separatum nec aucto nec imminuto agmine, quod intulit, vocabulo et viribus absolvitur integris nec contagia deinde ulla perpetiens Oceani gurgitibus intimatur.7 [Zwischen den Abbrüchen hoher Berge entspringt mit gewaltigem Druck der Rhein und fließt rasch über schroffe Klippen, wobei er keine Zuflüsse aufnimmt, wie der Nil sich in jäher Steilheit über Wasserfälle ergießt. Er wäre von seinem anfänglichen Ursprung an schiffbar, da er Überfluss an eigenen Wassermassen hat, liefe er nicht eher einem Stürzenden als einem Fließenden ähnlich dahin. Nachdem er sich dann in ebenerem Gelände ausgebreitet hat und sich an hohen, voneinander geschiedenen Ufern reibt, dringt er in einen gewaltigen runden See ein, den der rätische Anwohner Brigantius nennt […] In dieses stehende Gewässer also bricht er mit schäumenden Wirbeln tosend ein, durchfließt die träge Ruhe seiner Wogen, durchschneidet sie mittendurch bis zum Ende in gerader Linie und so wie ein Element, von dem er durch ewige Zwietracht getrennt ist, und nachdem er die Wassermenge, die er in den See hineingebracht hat, weder vermehrt noch verringert hat, verlässt er diesen mit unverändertem Namen und ebensolchen Kräften, erduldet auch danach keine Verunreinigung [durch einen anderen Fluss] und mündet in die Tiefen des Ozeans.]

6 Vgl. Robert Rollinger: Ammianus Marcellinus’ Exkurs zu Alpenrhein und Bodensee. Eine Studie zu Amm. 15,4,2–6. In: Chiron 31 (2001), S. 129–152. 7 Antike Texte werden nach den führenden Ausgaben zitiert. Bei neulateinischen Texten werden, sofern keine modernen Editionen zur Verfügung stehen, die Verteilung von i/j und u/v sowie die Zeichensetzung heutigen Usancen angepaßt, Groß- und Kleinschreibung normiert, Ligaturen und Abkürzungen kommentarlos aufgelöst, ansonsten aber die Orthographie der jeweils herangezogenen frühneuzeitlichen Ausgabe übernommen. Volkssprachliche Texte aus der Frühen Neuzeit werden in der originalen Orthographie zitiert.

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2 Celtis und der Schweizer Rhein Nachdem den mittelalterlichen Kosmographen und Enzyklopädisten zum Thema ‚Rhein‘ kaum Neues einfällt,8 erfolgt zu Beginn der Neuzeit ein Konzeptualisierungsschub, der, wie es scheint, zunächst von einem einzelnen Autor angestoßen wird: Konrad Celtis. Der Geographie Deutschlands kommt im Œuvre des Erzhumanisten generell große Bedeutung zu. Von den Quatuor libri Amorum (Nürnberg 1502), die ja, so ihr vollständiger Titel, secundum quatuor latera Germanie gegliedert sind, über die Oden (Straßburg 1513), die das italische Lokalkolorit des horazischen Vorbilds durch deutsches ersetzen, bis hin zum unvollendeten Projekt der Germania illustrata bemüht er sich immer wieder, ‚Germanien‘ geographisch zu erfassen, seine Grenzen zu definieren und seine naturräumliche Gliederung darzulegen. Der Rhein, der die westliche Grenze Deutschlands markiert, spielt dabei eine wichtige Rolle: Allein in den zwei großen Gedichtsammlungen wird er über hundertmal genannt. Immer wieder widmet sich Celtis dabei auch seinem Ursprung in den Alpen, wobei er insbesondere seinen Charakter als wilder Gebirgsfluss hervorhebt9 und sich als poeta doctus gerne ausdrücklich oder implizit auf die antiken Quellen zurückbezieht. Im Anschluss an diese unterscheidet freilich auch er nicht scharf zwischen dem Rhein als Gebirgsfluss und dem Rhein der Ebene. In einem Punkt geht er jedoch über sie hinaus und setzt einen Schritt, der für die weitere Wahrnehmungsgeschichte entscheidende Bedeutung erlangt: Indem er die Ursprünge des Stromes bei den „Helvetiern“ lokalisiert,10 unter denen er, wie damals seit

8 S. etwa Isid. etym. 13,21,30; Vinzenz von Beauvais: Speculum naturale. Venedig 1494, Buch 5, Bl. 55r–v (z. T. aus Isidor); Giovanni Boccaccio: De montibus, sylvis, fontibus, lacubus, fluminibus, stagnis seu paludibus, de nominibus maris. Venedig 1473, s. v. Rhenus. 9 Od. 1,14,9–12: Hinc ubi campis Athesis receptus,  / Praepeti cursu rapior per Alpes,  / Uvidum Rhenum repetens gelato / Fonte cadentem; 3,2,9–12: […] // Qualiter Cresso referente Tauro / Fervidum solem niveus recedit / Alpium candor rapidoque fertur / Impete Rhenus // […]; 3,4,1–8: Batte, Rhenanis mihi iunctus oris, / Alpium qua se iuga celsa findunt / Hincque Germanos, alio hinc prementes  / Vertice Gallos // Quaque sub vastis lacubus receptus  / Rhenus ingenti fluvio citatus  / Impetum servat scopulisque praeceps / Amne rotatur // […] (vgl. die in Abschnitt 1 zitierte Ammianstelle); 3,17,1–5: Nuper diluvio non solito cornua perdidit / Et campos et agros frugiferos turgidus obruit / Involvens tumidis quicquid erat fluctibus obvium / Rhenus, nubiferis qui rapido murmure ab Alpibus // Descendit […]; 3,22,1–4: Hartmanne priscis nobilibus satus, / Eptinga qua se celsa sub aethera / Attollit et nascentis ortum / Prospicit ambitiosa Rheni // […]; 4,7,21–24: […] // Vel quis algentem nivibusque et auris / Uvidum Rhenum mihi iam bibendum, / Vel nives Hebri dabit aut gelatas / Ponit in Alpes? 10 Sein einziger antiker Anknüpfungspunkt hierfür ist Strab. 4,3,3: τὴν δ᾽ ἐπὶ τῷ Ῥήνῳ πρῶτοι τῶν ἁπάντων οἰκοῦσιν Ἐλουήττιοι, παρ᾽ οἷς εἰσιν αἱ πηγαὶ τοῦ ποταμοῦ ἐν τῷ Ἀδούλᾳ ὄρει [Das

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kurzem üblich, die Eidgenossen versteht,11 kreiert er sozusagen einen Schweizer Rhein, der von der Sache her Alpen- und Hochrhein zusammengenommen entspricht. Alle drei einschlägigen Stellen finden sich im dritten Buch der Amores, das den Rhein schon im Titel trägt und auf dem Titelholzschnitt präsentiert.12 In den Anfangsversen von Amores 3,3 vergleicht der Dichter die Macht der Schönheit seiner Geliebten Ursula mit der Gewalt des reißenden Rheins, der „in den Helvetischen Alpen entspringt“.13 In Amores 3,9 bringt der Rhein „die helvetischen Trauben zur Reife“.14 Am wichtigsten ist aber Amores 3,13, die vorletzte Elegie des dritten Buches: Sie ist direkt an den Strom adressiert und verfolgt dessen Lauf vom Ursprung in den Alpen bis zur Mündung in die Nordsee. „Rhein, der du reißend der Stadt Mainz zueilst […]“, beginnt Celtis, um sich dann bald der Quellregion zuzuwenden (V. 5–6, 11–24, 29–32): Sed tuus excelsis fons ortus in Alpibus acres Linquit Helvetios valle sonante viros. […] Libera Germanis haec gens est sola sub oris Iustitiam et leges saeva per arma tuens. Fama est, Italicas atrox dum Cimber in oras Irrueret, Suedos secum habuisse duces Reliquiasque suae per tecta Alpina ruinae Liquisse et Suetios se vocitare viros, Indomitam gentem, rosei sitibunda cruoris Qualis in Arctoa noscitur esse plaga.

Land am Rhein bewohnen zuallererst die Helvetier, bei denen sich die Quellen des Stromes auf dem Adulas-Berg befinden]. Die Europakarte, mit der die Schedel’sche Weltchronik (Nürnberg 1493) schließt, notiert am Rhein oberhalb des Bodensees das Ethnikon SVEITZER. 11 Vgl. Thomas Maissen: Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio. In: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack, Gerrit Walther. Göttingen 2002, S. 210–249. 12 Der vollständige Titel lautet Conradi Celtis Protucii Germani liber Amorum tercius, qui Rhenus vel Ursula Rhenana aut iuventus et latus Germaniae occidentale inscribitur. Der Holzschnitt ist einsehbar etwa unter http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/celtis1/jpg/s083.html (Juli 2016). Im Folgenden werden die Amores zitiert nach Conradus Celtis Protucius: Quattuor libri Amorum secundum quattuor latera Germaniae. Germania generalis. Accedunt carmina aliorum ad libros Amorum pertinentia. Hg. von Felicitas Pindter. Leipzig 1934. 13 Am. 3,3,1–6: Ursula, Rhenanas tua vincit forma puellas, / Qualiter ignifluus sidera cuncta globus / Qualiter aut Moenum rapido cum gurgite vincit / Rhenus Helvetiis Alpibus exoriens / Quique lacus subit inde duos, a Caesare quondam / Qui sua Constanti nomina clara gerunt. 14 Am. 3,9,45: […] / Pulcher Helvetias ubi Rhenus concoquit uvas / […].

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Cum qua magna tulit domus Austria proelia quondam, Maximus Aemilius nuper et arma tulit. Congressi et valido bellatum utrimque tumultu est, Sed nondum belli finis utrisque datus. Perque lacus celer inde duos te volvis ad urbem, Quae de Constanti Caesare nomen habet, […] Per scopulos ruis inde vagus, celer atque sonorus Perque cataractas, impetuose, duas, Donec per pulchram rapiaris Basiliensem Urbem, quae Gallis proxima rura colit. [Doch deine Quelle entspringt in den hohen Alpen und verlässt in lärmerfülltem Tal die tatkräftigen helvetischen Männer. […] Frei ist nur dieses Volk in deutschen Landen; es schützt Gerechtigkeit und Gesetze durch grimmige Waffen. Es heißt, als die wilden Kimbern in die Gefilde Italiens einbrachen, hätten sie schwedische [Suedos] Anführer bei sich gehabt und die Überlebenden ihrer Niederlage in Alphütten zurückgelassen; die Männer sollen sich nun Schweizer [Suetios] nennen, ein unbezähmbares Volk wie bekanntlich dasjenige der Polarzone, das nach rötlichem Blut dürstet. Mit ihm lieferte sich das Haus Österreich einst große Kämpfe, und Maximilian griff noch neulich zu den Waffen. Man stieß zusammen und kämpfte beiderseits in heftigem Getümmel – doch noch ist beiden Parteien kein Ende des Krieges gewährt. Danach wälzt du dich schnell durch zwei Seen bis zu der Stadt, die ihren Namen von Kaiser Constans hat, […] Über Klippen stürzt du danach wild bewegt, rasch und tosend, und über zwei Wasserfälle, du Stürmischer, bis du die schöne Stadt Basel durcheilst, die in Gefilden steht, die den Galliern benachbart liegen.]

Was diesen Text so bedeutsam macht, ist der Umstand, dass die Verbindung zwischen Schweiz und Rhein nicht einfach als kontingentes geographisches Faktum erscheint. Vielmehr legt sein Duktus es nahe, im Anschluss an den antiken ethnographischen Topos „Wie das Land, so seine Bewohner“ einen sachlichen Zusammenhang zwischen der Natur des Stromes und der seiner Anwohner zu sehen: Dem wilden Ursprung des Rheins im Gebirge und seinem tosenden Lauf entspricht das raue, tatkräftige Wesen der Helvetier.15 Wie der Schweizer Rhein

15 Zwei loci classici für den genannten Topos sind Hdt. 9,122 und die pseudohippokratische Schrift De aere, aquis, locis. Gelegentlich begegnen auch, gerade mit Bezug auf den Rhein, antike Vorformen der spezifischeren Analogie „wilder Fluss – wildes Volk“, so etwa in Lucan. 2,51 f. (in einer Liste wilder Völker, die über Rom herfallen könnten): Fundat ab extremo flavos Aquilone Suebos / Albis et indomitum Rheni caput. In der Vorstellung, die alten Germanen hätten ihre Neugeborenen einer Wasserprobe im Rhein unterworfen, bei der uneheliche Kinder ertrunken seien (z. B. Claud. carm. 5,112), beeinflusst der Strom direkt Genetik und Moral des an ihm siedelnden Volkes. Geläufige Wendungen vom Typ flumen aliquod bibere für „an einem Fluss wohnen“ (z. B. Verg. Aen. 7,715) konnten es ernährungsphysiologisch plausibel erscheinen lassen, dass sich der Charakter eines Stromes dem seiner Anwohner mitteilte.

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zwar ein Teil des Rheins insgesamt ist, dabei jedoch seinen eigenständigen Charakter wahrt, so spielen auch die Eidgenossen innerhalb Deutschlands eine Sonderrolle: Offiziell gehören sie durchaus noch zum Reich (sie werden aus diesem erst 1648 ausscheiden), faktisch sind sie aber frei und autonom. Dabei wirkt Celtis’ Einstellung zu Strom wie Volk durchaus ambivalent: Beide bieten sozusagen ein Bild eindrucksvoller Barbarei.16

3 Der Rhein der Schweizer Humanisten Streng genommen ist Celtis’ Darstellung allerdings sachlich falsch: Der Rhein entspringt um 1500 mit all seinen Quellen auf dem Gebiet der Drei Bünde, die nicht ein Teil, sondern nur ein Zugewandter Ort, d. h. Verbündete der Eidgenossenschaft sind. Erst bei Maienfeld berührt er eidgenössisches Gebiet, aber auch dann nur als Grenzfluss, der eidgenössische Untertanen von Vorderösterreich bzw. vom Reich trennt. Dieser Tatsache ist man sich natürlich in der Schweiz

16 Wie neuartig Celtis’ emphatisches Junktim zwischen dem Oberlauf des Rheins und der Schweiz ist, erhellt aus dem Vergleich mit drei nicht allzu lange davor entstandenen Werken von Autoren, die sämtlich einen Bezug zur Schweiz haben, der Basel-Beschreibung des Enea Silvio Piccolomini (1432), der Superioris Germanie confoederationis descriptio, immerhin der ersten monographischen Schweiz-Beschreibung, des Albrecht von Bonstetten (1479) und der Descriptio Sueviae des gebürtigen Zürchers Felix Fabri (1488/89). Piccolomini folgt dem Fluss von der Quelle bis zur Mündung, bringt ihn aber nicht mit der Eidgenossenschaft in Verbindung (Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, 1431–1454. Hg. von Rudolf Wolkan. Bd. 1. Wien 1909, Nr. 16, S. 32 f.). Bonstetten erwähnt den Rhein zweimal kurz, einmal im Zusammenhang mit der für ihn wichtigeren Limmat, einmal als Germanie egregium decus (Albrecht von Bonstetten: Briefe und ausgewählte Schriften. Hg. von Albert Büchi. Basel 1893 [Quellen zur Schweizer Geschichte 13], S. 217–267, hier S. 229, 233). Fabri, der eine ausführliche Beschreibung gibt, betont zwar den Ursprung des Rheins im Gebirge und bietet eine Reihe sonst nirgends bezeugter Details (mehrere Quellen, die höchstgelegene mit grünem, leicht salzigem Wasser, dabei Reste einer Burg und / oder eines Nymphaeums), erwähnt aber die Schweiz mit keinem Wort, sondern nennt den Rhein nur limes vel limbus Teutoniae (Felix Faber: Descriptio Sveviae. Hg. von Bernhard Escher. Basel 1884 [Quellen zur Schweizer Geschichte 6], S. 107–229, hier Kap. III. De Rheno fluvio, S. 113–120).

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selbst ebenso bewusst17 wie in den Drei Bünden18 und im Ausland.19 Die Schweizer Humanisten lassen sich hierdurch jedoch so wenig davon abhalten, Celtis’ Vorstellung vom Rhein als einem schweizerischen Fluss aufzugreifen, wie von seiner zwiespältigen Einstellung zu Strom und Land. Sie können sich dabei den Umstand zunutze machen, dass ‚Schweiz‘ zu dieser Zeit, wie literarische, aber auch kartographische Zeugnisse belegen, ein recht dehnbarer Begriff ist, der bei großzügig-unscharfer Verwendung auch die Zugewandten Orte umfassen kann.20 Der erste Schweizer Text, der sich mit dem Rhein als Schweizer Alpenfluss befasst, Glareans Descriptio Helvetiae (Basel 1514) erscheint rund ein Jahrzehnt nach den Amores und ist in Konzeption und Machart von einem weiteren Werk von Celtis, der Germania generalis, inspiriert.21 Mit dieser Beschreibung der Schweiz in Hexametern, die ausgesprochen populär wird,22 gibt Glarean dem eidgenössischen Interesse am Rhein gleich weiteren Auftrieb: Er begründet die gesamteuropäische Bedeutung der Eidgenossenschaft dort nämlich u. a. mit der

17 S. Aegidius Tschudi: De prisca ac vera Alpina Rhaetia. Basel 1538, S. 54: […] Rhenus anterior a suo fonte per Rhetia fluens ac deinde Helvetiam separans a Germania […] (deutsche Fassung: Die uralt warhafftig Alpisch Rhetia. Basel 1538, Bl. Hr); Josias Simmler: De republica Helvetiorum. In: Thesaurus historiae Helveticae. Zürich 1735, Abschnitt VII, S. 71; Franciscus Guillimannus: De rebus Helvetiorum libri. Ebd., Abschnitt VIII, S. 5 f.; Jean Baptiste Plantin: Helvetia antiqua et nova. Ebd., Abschnitt XI, S. 21. Vgl. schon Caes. Gall. 1.2.3: […] undique loci natura Helvetii continentur: una ex parte flumine Rheno latissimo atque altissimo, qui agrum Helvetium a Germanis dividit […], einen Passus, den Guillimannus an der genannten Stelle kommentiert. 18 Als Bündner Fluss wird der Rhein etwa gleich zu Beginn des Bündner ‚Nationalepos‘ des Simon Lemnius (1511–1536) in Beschlag genommen: Die sich in die Alpen zurückziehenden Etrusker, die Urväter der Bündner, erbauen ihre ersten Burgen ad rivos Rheni […] in rupibus altis (Simon Lemnius: Raeteis. Hg. von Placidus Plattner. Chur 1874, Buch 1, V. 35–38). 19 S. etwa Bernhard Moller: Rhenus et eius descriptio elegans. Köln 1570 (vgl. die Beiträge von Thomas Gärtner, Beate Hintzen und Seraina Plotke in diesem Band), S. 2, 13–15; nur im Proömium (unpaginiert, achte Seite) ist kurz von Helvetia die Rede. 20 So beginnt etwa Josias Simmler seine geplante chorographisch-historische Gesamtdarstellung der Schweiz mit einer Beschreibung des Wallis, also ebenfalls eines Zugewandten Ortes (Vallesiae descriptio, libri duo. De Alpibus commentarius. Zürich 1574, praefatio). Praktisch alle frühen Karten der Schweiz (s. Leo Weisz: Die Schweiz auf alten Karten. 3. Aufl. Zürich 1971) beziehen die Zugewandten Orte, darunter auch die Drei Bünde, kommentarlos in die Darstellung ein. 21 Moderne Ausgabe: Glareani Descriptio Helvetiae nach der ersten Ausgabe von 1514. Hg. von Carl Christoph Bernoulli. Basel 1891, S. 9–17. Das Verhältnis der Descriptio zu Celtis’ Germania generalis wurde noch nie genauer untersucht. Vgl. einstweilen Martin Korenjak: Das Wasserschloss Europas. Glarean über die Schweizer Alpen. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 62 (2012), S. 390–404, hier S. 397 mit Anm. 21. 22 Zur frühneuzeitlichen Druckgeschichte (sechs Ausgaben im 16., zwei im 18. Jahrhundert) s. Bernoulli (Anm. 21), S. 9–17.

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Behauptung, in den Schweizer Alpen entsprängen die bedeutendsten Ströme Europas (V. 58–68): Praeterea caput Europes hanc esse probabunt Aeternis Alpes nivibus, iuga Olympica, quorum Porgitur in caelum caput et sub Tartara venter, Et quod in Auroram, Borean solemque cadentem Flumina perpetuo non deficientia cursu Parturit. Illa volant et in omnia membra redundant: Ad Zephyrum et Libyen Rhodanus, Rhenana furentem Unda citat Borean, gelidas rotat Ister ad Eurum Dirus aquas, Getico novus hospes et advena Ponto (Ast alios sileo, quos Italia accipit amnes Alpibus a nostris […]) [Dass die Eidgenossenschaft überdies das Haupt Europas ist, werden die Alpen mit ihrem ewigen Schnee beweisen, Berge so hoch wie der Olymp, deren Haupt in den Himmel und deren Bauch bis hinunter in die Unterwelt reicht, sowie der Umstand, dass sie in Richtung Morgenröte, Nordwind und sinkende Sonne Flüsse gebiert, die in ihrem ewigen Lauf nie austrocknen. Jene eilen dahin und ergießen sich in alle Teile [Europas]: Dem Westwind und Libyen zu fließt die Rhone, die Woge des Rheins fordert den rasenden Nordwind heraus, der schreckliche Ister wälzt seine kalten Wasser dem Ostwind zu, ein neuer Gast und Ankömmling in der Getischen See (doch von den restlichen Strömen schweige ich, die Italien von unseren Alpen empfängt […])]

Damit macht der Glarner Humanist die Hydrographie auf lange Sicht, bis ins 20. Jahrhundert hinein, zu einem wichtigen Aspekt des Schweizer Selbstverständnisses.23 Die Rolle des Rheins in diesem Zusammenhang dürfte in ähnlichem Maße dazu beigetragen haben, die Aufmerksamkeit der Eidgenossen auf ihn zu lenken, wie seine von Celtis grundgelegte Symbolik hinsichtlich des Schweizer Nationalcharakters und des Verhältnisses der Schweiz zum Reich. Wie dem auch sei – nach Celtis und Glarean kommt keiner der zahlreichen eidgenössischen Schriftsteller, die in den folgenden Jahrhunderten Beschreibungen ihrer Heimat verfassen, am Rhein vorbei. Die Liste der einschlägigen Autoren und Werke ist lang: Vadian mit seinem Mela-Kommentar (Wien 1518, 2.  Aufl. Basel 1522), Ägidius Tschudi mit der Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia (Basel 1538) und der Gallia Comata (1572, gedruckt Konstanz 1758), Johannes Stumpf mit seiner Schweizerchronik (Zürich 1548), Josias Simmler mit dem De Alpibus

23 Vgl. Guy P. Marchal: La naissance du mythe du Saint-Gothard ou la longue découverte de l’ „homo alpinus helveticus“ et de l’ „Helvetia mater fluviorum“ (XVe s. – 1940). In: La découverte des Alpes / La scoperta delle Alpi / Die Entdeckung der Alpen. Hg. von Jean-François Bergier, Sandro Guzzi. Basel 1992, S. 35–53; Korenjak (Anm. 21).

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commentarius (Zürich 1574), Franciscus Guillimannus mit De rebus Helvetiorum (Fribourg 1598), Hans Rudolf Räbmann mit seinem Gespräch zwischen Niesen und Stockhorn in Knittelversen (Bern 1606), Jean Baptiste Plantin mit der Helvetia antiqua et nova (Bern 1656), Johann Jakob Wagner mit der Historia naturalis Helvetiae curiosa (Zürich 1680) und Johann Jakob Scheuchzer mit seinen Itinera Alpina (Leiden 1723) sind nur einige der bekannteren Namen und Titel.24 In bescheidenem Maße beginnt dieser intensive Schweizer Rheindiskurs auch bereits ins europäische Umland auszustrahlen. Drei frühe Texte, die in diesem Zusammenhang Erwähnung verdienen, sind Sebastian Münsters Cosmographia (Basel 1545), Bernhard Mollers Lehrgedicht über den Rhein (Köln 1570) und ein Lehrbrief des Niederländers Daniel Eremita (1584–1613) über die Schweiz.25 Es ist nicht verwunderlich, dass der Rhein bis Basel unter diesen Umständen nun genauer unter die Lupe genommen wird, als das zuvor geschehen ist. Zwar zitiert man weiterhin fleißig die antiken Autoren, doch mindestens ebenso fleißig zitiert man sich gegenseitig, und als zusätzliche Informationsquellen treten briefliche und mündliche Nachrichten sowie Autopsie hinzu. Im Endeffekt bildet sich auf diese Weise eine spezifisch schweizerische Topik zum Thema aus, die zwar durchaus einen gewissen Rückhalt in der klassischen Tradition wie in der physischen Realität hat, aber über beide hinausgeht und ein Eigenleben entwickelt. Einige wichtige Elemente dieser Topik seien nun kurz umrissen:

24 Die genannten Texte werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Joachim Vadianus: Pomponii Melae de orbis situ libri tres […]. Basel 1522; Tschudis Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia: s. Anm. 17; Aegidius Tschudi: Hauptschlüssel zu zerschidenen Alterthumen. Oder […] Beschreibung von dem Ursprung – Landmarchen – Alten Namen – und Mutter-Sprachen Galliae Comatae […]. Konstanz 1758 (Ndr. Lindau 1977); Johannes Stumpf: Gemeiner loblicher Eydgnoschaft Stetten / Land und Voelckeren Chronickwirdiger thaaten beschreybung. 2 Bde. Zürich 1548; William Augustus Brevoort Coolidge: Josias Simler et les origines de l’alpinisme jusqu’en 1600. Grenoble 1904; Guillimannus’ De rebus Helvetiorum: s. Anm. 17; Hans Rudolph Räbmann: Ein Neuw / Lustig / Ernsthafft / Poetisch Gastmal / und Gespräch zweyer Bergen / […]. Bern 1606; Plantins ­Helvetia: s. Anm. 17; Johann Jakob Wagner: Historia naturalis Helvetiae curiosa. Zürich 1680; Johann Jakob Scheuchzer: ΟΥΡΕΣΙΦΟΙΤΗΣ Helveticus sive itinera per Helvetiae Alpinas regiones […]. 2 Bde. Leiden 1723. 25 Sebastian Münster: Cosmographia. Beschreibung aller Lender […]. Basel 1545; Mollers Rhenus: s. Anm. 19; Daniel Eremita Belga: De Helvetiorum, Raetorum, Sedunensium situ, republica, moribus epistola ad Dominum Ferdinandum Gonzagam Mantuae Ducis filium. In: Helvetiorum respublica. Diversorum autorum, quorum nonnulli nunc primum in lucem prodeunt. Leiden 1627, S. 485–535. Weitere einschlägige Texte aus der Schweiz und dem Ausland erschließt der Index von Adolf Wäber: Landes- und Reisebeschreibungen. Ein Beitrag zur Bibliographie der schweizerischen Reiselitteratur, 1479–1890. Bern 1899, S. 426.

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i. Der Rhein ist der bedeutendste Strom der Schweiz. Mitunter wird das ausdrücklich gesagt, häufig erhellt es aber auch aus der Art und Weise, in der er präsentiert wird: Werden die wichtigeren Schweizer Flüsse, wie das bei vielen der zuvor genannten Werke der Fall ist, in Form eines Kataloges aufgezählt, so nimmt er meist die erste Stelle ein und / oder erhält den breitesten Raum. Vadian z. B. beginnt seinen Kommentar zum Stichwort ‚Rhein‘ bei Mela, indem er dem Rhein in etwas redundanter Manier den ersten Platz sowohl unter den Flüssen Deutschlands als auch unter den Schweizer Alpenflüssen zuweist: Omnium Germaniae amnium celeberrimus ab iisdem prope Alpibus decidit, e quarum iugis non adeo magnis intervallis in meridiem fluens Abdua, Athesis in ortum, in occasum Rhodanus, ipse vero maximus Rhenus in septentrionem elabuntur. Unterstrichen wird die Bedeutung des Stroms und seine enge Verbindung mit der Schweiz dadurch, dass sich das betreffende Lemma über mehrere Seiten erstreckt und sich zu einer Beschreibung und einem Lob der Eidgenossenschaft insgesamt ausweitet.26 ii. Der Rhein entspringt gemeinsam mit anderen wichtigen Flüssen am Gotthardpass. Als ‚Erfinder‘ dieser Vorstellung, die, obwohl sachlich falsch,27 noch in Schulbüchern neueren Datums ihren Platz behauptet, kann Tschudi gelten. Er versucht in seiner Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia, Glareans oben erwähnte Angaben zu den Schweizer Alpen als Brunnenstube Europas zu präzisieren, indem er behauptet, alle wichtigen Schweizer Flüsse nähmen ihren Ursprung am Gotthard: Notandum praeterea ab origine prioris Rheni ad originem Rhodani, si Alpium iuga et praecipitia recto tramite superari possent, non esse spatium longius quam quod itinere pedestri in tribus horis conficiatur. Recte autem inter has origines ponitur mons Gotthardi, olim Summe Alpes nominatus, ex quo prorumpit Ticinus fluvius in meridiem labens currensque per Lepon-

26 Vadian (Anm. 24), S. 167–170 zu Mela 3,19 (vgl. den Beitrag von Katharina Suter-Meyer in diesem Band); s. weiters Tschudi: Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia (Anm. 17), S. 52–55, v. a. die Marginalien auf S. 53: Rheni duo fontes – Rhodani ortus apud Rheni fontes – Mons Gotthart. Ticinus fluvius – Ursa fluvius; Münster (Anm. 25), S. cci–ccii (Rhein als einziger Alpenfluss, der unter den wichtigsten Flüssen Deutschlands besprochen wird, mit dem Vermerk: „[…] entspringt hinder Chur im höchsten Schweitzer gebirg“); Stumpf (Anm. 24), Bd. 2, Bl. 285r (Rhein, Limmat, Reuss, Aare, Zihl, Broye, Rhone, Ticino, Moesa, Maggia, Tosa); Simmler: Commentarius (Anm. 24), S. 50: […] quod ex his [den Lepontischen Alpen] maxima flumina ad omnes orbis partes fluant, Rhenus, Rhodanus, Ticinus, Athiso, Ursa, Arola (andere Reihenfolge allerdings S. 160, 262); Daniel Eremita (Anm. 25), S. 493 f.; Plantin (Anm. 17), Kap. XI (S. 21 f.): De Rheno (im Anschluss De Rhodano und De reliquis Helvetiae fluviis); Wagner (Anm. 24), S. 68–70 (Rhein als erster und am ausführlichsten beschriebener von sechs Schweizer Flüssen). 27 Die nächste der vielen Quellen des Vorderrheins liegt gut 12 km vom Gotthardpass entfernt, dafür aber in unmittelbarer Nähe des Oberalppasses. Der Hinterrhein entspringt am San Bernardino und am Splügenpass. Vgl. Kremer (Anm. 1), S. 33, 36 f.

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tinos in Italiam. In opposito vero huius montis latere oritur Ursa fluvius, quem vulgo Rüß vocamus, […]. [Es ist ouch vom ursprung des vordern Rhines (wo es vor den obersten bergspitzen die richte zuwandlen müglich were) ungevarlich dry stund fußganges / biß an ursprung des Rhodans rechter distantz / und nit wyter. Da entzwüschend in gerader linea / ligt der berg Gotthart / vor zyten Summe alpes genannt  / darinn entspringt Ticinus  / loufft gegen mittag durch Lepontinos in Italiam. An der gegensyt die Rüß […].]28

iii. Anzahl und Identität der Quellflüsse des Rheins sind schwer zu bestimmen. Dass sich über diese Frage eine angeregte Diskussion entspinnt, ist angesichts der in der Tat komplizierten Quellgeographie29 kein Wunder. Während die antiken Autoren nur einen Quellfluss kannten,30 dreht sich die frühneuzeitliche Diskussion im Wesentlichen um die Frage, ob zwei (Vorder- und Hinterrhein)31 oder drei (Vorder-, Mittel- und Hinterrhein)32 anzunehmen seien. Im Laufe der Zeit nimmt die Bereitschaft zu, die schwierige Frage zwar anzureißen, aber offen zu lassen: Plantin und Scheuchzer wollen sich anscheinend nicht festlegen, sondern beschränken sich auf Doxographie.33 Noch deutlicher wird Daniel Eremita, der erkennt, dass sich die einzelnen Quellflüsse ihrerseits in zahlreiche Quellen auffächern, und sich aus diesem Grund ausdrücklich eines Urteils enthält:

28 Tschudi: Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia (Anm. 17), S. 53 bzw. Bl. [Givv] (vgl. Korenjak, Anm. 21, S. 400–402); s. weiters Münster (Anm. 25), S. ccii (wörtlich nach Tschudi); Räbmann (Anm. 24), S. 241: „Der vorder Rhein sein Ursprung hat / Bald ob dem Gotthart er entstaht / Und gegen dem auffgang der Sonnen / Auß Gottharts höchster Alpen brunnen“; Wagner (Anm. 24), S. 41–44, v. a. S. 42 mit der eine Idee aus Athanasius Kirchers Mundus subterraneus (2. Aufl. Amsterdam 1678, S. 70 f.) aufgreifenden Vorstellung, unter dem Gotthard befinde sich ein hydrophy­ lacium, ein gewaltiger natürlicher Wasserspeicher, S. 68. 29 S. die nach der Einleitung eingebundene Mollerus-Karte. Vgl. Kremer (Anm. 1), S. 32–44, v. a. S. 33: „Beim Rhein […] lässt sich naturgemäß eine genau festlegbare Quelle beim besten Willen nicht ausmachen, weil er nämlich eine vom Relief her äußerst zerklüftete und vielgestaltige Hochgebirgsregion entwässert und sich daher aus zahlreichen Quellästen zusammensetzt.“ 30 Das notiert etwa Plantin (Anm. 17), S. 21, ohne die Ansicht einer Widerlegung zu würdigen. 31 Tschudi: Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia (Anm. 17), S. 53: Habet autem Rhenus duos diversos fontes, et utriusque rivi appellantur Rhenus, in unum convenientes supra Curiam spatio unius Germanici miliarii […] bzw. Bl. [Givv]; Moller (Anm. 19), S. 2, 11; Räbmann (Anm. 24), S. 240 f. (mit der Präzisierung, der Hinterrhein habe selbst „zween klein Ursprüng“). So auch die meisten alten Schweizerkarten (Weisz, Anm. 20). 32 Tschudi: Gallia Comata (Anm. 24), S. 283, 325–328; Simmler: Commentarius (Anm. 24), S. 178– 180; Wagner (Anm. 24), S. 68–70 (interessant die Bemerkung S. 69: atque ita omnes tres in unum flumen coeunt, die vielleicht eine Entsprechung zwischen der Vereinigung der drei Quellflüsse zum Rhein und derjenigen der drei Urkantone zur Eidgenossenschaft andeutet). 33 Plantin (Anm. 17), S. 21; Scheuchzer (Anm. 24), S. 275.

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Rheni duplex ac dubia origo in ambiguo reliquit, Anteriorne an Posterior (nam ita distinguuntur) verum illius caput. Ille apud Antuates Summas pone Alpes, hic penes Misaucos incipit. Ego veram originem neutri assignaverim, cum infinitis pene initiis Rheni omnibus nomine insignitis utrimque nascatur. [Der doppelte, zweifelhafte Ursprung des Rheins hat es offengelassen, ob der Vordere oder der Hintere (denn so unterscheidet man sie) seine wahre Quelle darstellt. Jener beginnt bei den Antuaten hinter den Höchsten Alpen [dem Gotthardmassiv], dieser bei den Misaukern. Ich möchte den wahren Ursprung keinem der beiden zuweisen, da [der Strom] beidseits aus beinahe unendlich vielen Anfängen entsteht, die sich alle mit dem Namen „Rhein“ schmücken.]34

iv. Der Rhein fließt anfangs ostwärts und entscheidet sich erst nach dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein dazu, sich nach Norden zu wenden (eine Richtungsänderung, die man in Wirklichkeit allenfalls dem Vorder-, nicht aber dem Hinterrhein zugestehen kann). Plantin etwa schreibt: A fontibus autem suis ad Anterioris et Posterioris confluxum magis orientem versus respicit, postmodum ad septentrionem incurvatur, […].35 v. Das Ungestüm des jungen Rheins36 manifestiert sich besonders eindrücklich an zwei Stellen, nämlich in der Via Mala-Schlucht des Hinterrheins und am Rheinfall bei Schaffhausen. Der Rheinfall, von den antiken Autoren nie erwähnt, avanciert, nachdem er bereits 1432 eine erste, noch vereinzelt bleibende Beschreibung durch Enea Silvio Piccolomini erfahren hat, im 16. und 17. Jahrhundert rasch zu einer Sehenswürdigkeit (vgl. Abb.).

34 Daniel Eremita (Anm. 25), S. 493. 35 Plantin (Anm. 17), S. 21. Vgl. bereits Tschudi: Alpina Rhaetia bzw. Alpisch Rhetia (Anm. 17), S. 54: Porro Rheni fluxus hunc tenet tramitem: Ab origine sua currit versus ortum solis, idque donec attigerit Curiam; hinc continuo curvat se instar lunae […] bzw. Bl. Hr; Münster (Anm. 25), S. ccii; Moller (Anm. 19), S. 14: Vertitur in Cori flatus […]. 36 Vgl. zu dieser schon in der Antike hervorgehobenen Eigenschaft etwa Stumpf (Anm. 24), Bd. 2, Bl. 285r, der erklärt, der Rhein teile sie mit vielen Alpenflüssen, weshalb Gott die Seen am Alpenrand geschaffen habe, um sie zu bändigen: „Also ruowet der zornwuetig Rheyn im Bodensee und Zellerse […]“; weiters z. B. Johannes Fabricius Montanus: De providentia divina liber. Basel 1563, Bl. 7v ([…] illic se Rhenus prepete cursu […] violentus infert […]).

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Abb.: Der Rheinfall bei Schaffhausen (Matthäus Merian d. Ä., Martin Zeiller: Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1654, zwischen S. 54 und S. 55).

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Aus einer Vielzahl ähnlich lautender Darstellungen, deren Topik Fallhöhe, weißen Schaum, Wasserstaub und weithin zu hörendes Getöse umfasst, sei diejenige Wagners herausgegriffen: Rhenus ibi […] inter montes per fragosa saxorum quinque diversis interstitiis interruptus immani fragore ac murmuris vehementia summoque impetu in profundam voraginem altitudine circiter 40 cubitorum devolvitur. […] Horrendum omnino spectaculum exhibet spumosis gurgitibus, perpetuis nebulis et confusa undarum aestuantium repercussione admirandum. Nocte quieta fragro ac sonitus hic ad 4 leucas exauditur. [Dort wälzt sich der Rhein […] zwischen Bergen, von fünf verschiedenen Zwischenräumen [d. h. aus dem Wasser ragenden Felsen] unterbrochen, mit ungeheurem Krachen, gewaltigem Brausen und höchster Wucht über eine Höhe von etwa 40 Ellen [etwa 20–25 m] in einen Kolk hinab. […] Ein ganz schreckliches Schauspiel bietet er, staunenswert durch schäumende Wirbel, dauernde Nebel und den verworrenen Rückprall der kochenden Wogen. In stiller Nacht sind dieses Krachen und dieser Lärm bis zu vier französische Meilen [etwa 16 km] weit zu hören.]37

Die Via Mala erlangt erst etwas später Bekanntheit. Eine der frühesten literarischen Beschreibungen stammt von Scheuchzer, der die Schlucht als lebensgefährlichen locus horridus erlebt, sich dadurch aber als der passionierte Wissenschaftler, der er ist, nicht von geologischen Reflexionen abhalten lässt: Hinc pertransivimus […] Viam Malam (la Via Mala), cui nomen dederunt angustae nonnullae satis horridae petris vivis passim incisae et ponticulis pensilibus fere ab uno saxo ad alterum protensis iunctae, iis comprimis, qui equis vehuntur, periculosae. […] De valle, per quam Via Mala ducit, coniectare licet fuisse si non olim apertam, sensim tamen et sensim a Rheni Posterioris impetuoso cursu profundius perforatam. [Von hier aus durchzogen wir […] den Üblen Weg (la Via Mala), der seinen Namen einigen recht schauerlichen, überall in den gewachsenen Fels eingehauenen und durch praktisch von einem Felsen zum anderen gespannte Hängebrücken verbundenen Engstellen verdankt, welche insbesondere für Reiter gefährlich sind. […] Was die Schlucht betrifft, durch

37 Wagner (Anm. 24), S. 83 f. (S. 84 f. die weiteren Rheinfälle und -stromschnellen bis Basel, S. 85–87 die restlichen Wasserfälle der Schweiz). Vgl. weiters Piccolomini (Anm. 16), S. 32 f.; Celtis: Amores 3.9.29 f. (s. o. Abschnitt 2); Glarean (Anm. 21), V. 330–336; Nicolaus Wynman: Colymbetes sive de arte natandi. Augsburg 1538, [S. 45 f.] (die Ausgaben von Karl Wassmannsdorff, Heidelberg 1889, und Hans Reichardt, Berlin 1937, waren mir nicht zugänglich); Moller (Anm. 19), S. 6, 31 f.; Simmler: Commentarius (Anm. 24), S. 260–262; Daniel Eremita (Anm. 25), S. 494; Plantin (Anm. 17), S. 21 f. (mit Zitaten aus Simmler und zahlreichen weiteren Autoren).

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die der Üble Weg führt, kann man vermuten, sie sei einst vom ungestümen Lauf des Hinterrheins wenn schon nicht geöffnet, so doch ganz allmählich tiefer eingeschürft worden.]38

4 Der Schweizer Rhein wird europäisch Zur letzten Epoche dieses Überblicks kann ich mich kurz fassen: Zum einen ufert das Material nun dermaßen aus, dass eine angemessene Behandlung nicht nur einen eigenen Aufsatz, sondern ein ganzes Buch erfordern würde. Zum anderen mündet die Entwicklung der vorhergehenden Jahrhunderte jetzt in eine breitere geistesgeschichtliche Strömung ein, die in ihren Grundzügen bereits gut bekannt ist, nämlich in die Schweizbegeisterung der Aufklärung:39 Im 18.  Jahrhundert rückt die Schweiz aufgrund ihrer alpinen Naturschönheiten, als Refugium einer urtümlich-naturverbundenen Lebensweise und als vorbildlich freiheitliches Staatswesen in den Brennpunkt der europäischen Aufmerksamkeit und wird zu einem vielbesuchten Reiseziel. Im Rahmen dieser neuen Popularität (zu der auch Schweizer Autoren wie Scheuchzer das Ihre beitragen) verbreitet sich die Topik des Schweizer Rheins in ganz Europa. Das literarische Genus, dem hierbei die führende Rolle zukommt, sind Reisebeschreibungen, wie sie besonders seit Mitte des Jahrhunderts massenhaft verfasst werden.40 Es liegt in der Natur dieser Gattung, dass sie sich besonders für spektakuläre Örtlichkeiten interessiert. So seien hier zum Abschluss zwei weitere Beschreibungen der Via Mala bzw. des Rheinfalls zitiert, die stellvertretend für zahllose andere stehen können. Sie schließen an die Beispiele des letzten Abschnitts an, gehen aber gleichzeitig in zeittypischer Weise über sie hinaus: Im ersten Fall erscheinen die Schrecken des Ortes im Sinne des Erhabenen ästhetisiert, im zweiten tritt zum bereits von Wagner betonten Seh-Erlebnis (spectaculum) eine überwältigende emotionale Reaktion hinzu.

38 Scheuchzer (Anm. 24), S. 95 f. Ähnlich S. 440: Hodie per Viam Malam [sc. iter fecimus], angustias montium, quas Rhenus spumante cursu perluit, fauces umbra tenebrosa horridas, […]. 39 Grundlegend, zumindest für den deutschen Sprachraum: Uwe Hentschel: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850. Tübingen 2002. 40 Grundlegend: Wäber (Anm. 25); Gavin de Beer: Travellers in Switzerland. London 1949. Reichhaltige Textauswahl: Claude Reichler, Roland Ruffieux: Le voyage en Suisse. Anthologie des voyageurs français et européens de la Renaissance au XXe siècle. Paris 1998; vgl. dort den Index S. 1729 s. v. Rhin. Statistik der Reise- und Publikationstätigkeit von 1700 bis 1800: Jon Mathieu: Zwei Staaten, ein Gebirge. Schweizerische und österreichische Alpenperzeption im Vergleich (18.–20. Jahrhundert). In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 (2004), S. 91–105, hier S. 95 f.

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 Martin Korenjak

So erscheint die Schlucht des Hinterrheins gegen Ende des Jahrhunderts dem Maler, Kunstschriftsteller und Goethe-Freund Johann Heinrich Meyer: Vor dem Auge liegt der Eingang in die schauerliche Via Mala. Ein enges finsteres Thal, von hohen Gebürgen eingeschlossen, die von Tannenwäldern vom Fusse bis zum steilen Felsengipfel bekleidet sind. […] Ganz in der Tiefe arbeitet sich gleich einem Wurme der Rhein zwischen enger Felsenkluft durch. Er hüllt den Schaum seiner Wuth ins dämmernde Grau eines Abgrunds, den nie kein Sonnenstrahl bescheint, und sein donnerndes Geräusche schallt nur dumpf herauf.41

Und so ekstatisch reagiert nach dem Zeugnis von Louis Ramond de Carbonnières im Jahr 1777 Jakob Michael Reinhold Lenz auf den Rhein bei Schaffhausen: Un jeune Auteur Allemand, si connu dans sa Patrie par la fougue de son imagination, sa sensibilité & ses malheurs, Lenz, descendant avec moi sur cet échaffaud, tomba à genoux en s’écriant: voilà un enfer d’eau! Le vent qui nous lançoit l’épaisse vapeur de la cataracte, ne l’empêcha pas de rester un quart d’heure entier dans la même situation, immobile, &, pour ainsi dire sans aucun autre sentiment que celui qui lui avoit dicté les seuls mots qu’il prononça.42

5 Zusammenfassung Die Antike hinterlässt der Nachwelt zwar ein recht klar umrissenes Bild vom Rhein als Ganzem, unterscheidet innerhalb dieses Bildes aber kaum einzelne Flussabschnitte. Das gilt insbesondere für den Oberlauf, der nicht wirklich als eigenständiger Teil des Stromes wahrgenommen wird. Um 1500 wird das antike Wissen über den Rhein im reichsdeutschen Humanismus wiederentdeckt, in erster Linie durch Konrad Celtis. Dabei geht dieser zugleich über den Rheindiskurs der klassischen Autoren hinaus und entwirft ein einprägsames Bild des Schweizer Rheins, das er in suggestiver Weise zur Eidgenossenschaft selbst in Beziehung setzt: Wie der freie, ungebändigte Gebirgsfluss zum Rest des Stromes, so verhält sich die

41 Meyer (Anm. 3), S. 65. Vgl. damit etwa Goethes nur wenig frühere (1788) Bleistift- und Federzeichnung der Via Mala auf seiner Rückreise aus Italien (Bruno Weber: Graubünden in alten Ansichten. Chur 1984, S. 151) sowie zahlreiche Darstellungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in: Rätisches Museum Chur (Hg.): Graubünden in alten Ansichten. Chur 2002, S. 400–413. 42 [Louis Ramond de Carbonnières]: Lettres de M. William Coxe à M. W. Melmoth sur l’état politique, civil et naturel de la Suisse, traduites de l’Anglois et augmentées des observations faites dans le même pays par le traducteur. [Bd. 1]. Paris 1781, S. 15 Anm. 10 (vgl. Reichler, Ruffieux [Anm. 40], S. 614).

Freigeboren 

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Schweiz zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Obwohl diese Vorstellung schon geographisch auf wackeligen Beinen steht, wird sie von den Schweizer Landeskundlern der Folgezeit freudig aufgegriffen. Es entsteht eine Fülle von Rheinbeschreibungen, eine spezifisch schweizerische Rheintopik bildet sich aus. Durch den Philhelvetismus der Aufklärung wird dieses Material schließlich europäisches Gemeingut. Und aus dieser Quelle, so können wir jetzt mit Zuversicht behaupten, schöpft auch Hölderlin. Aus ihr leitet sich der Abschied des Rheins von Ticino und Rhone her, aus ihr seine unerfüllte Sehnsucht nach dem Osten, nach Asien, und sein „furchtbares Rasen“ „im kältesten Abgrund“ der Via Mala-Schlucht, aus ihr schließlich auch das Attribut „freigeboren“, das auf seinen Ursprung in der freien Schweiz verweist und die politische Dimension des Gedichtes auf den Punkt bringt.43 Wie Hölderlin aus dem überkommenen Material allerdings seinen Rhein geformt hat, das wird sein Geheimnis bleiben. Die vierte Strophe des Gesangs beginnt mit einer Gnome, die sich zugleich als Hinweis auf die schwierige Suche nach der wahren Rheinquelle und als dichterische Selbstaussage lesen lässt: „Ein Räthsel ist Reinentsprungenes.“44 Danksagung: Mein herzlicher Dank gilt Martin Vöhler für Orientierungshilfe auf dem Gebiet der Hölderlinforschung, Peter Stotz für den Hinweis auf Wynmans Colymbetes, den Organisatoren und Teilnehmern der Tagung „Latein am Rhein“ sowie Manuel Baumbach, Barbara von Reibnitz und Antje Wessels für anregende Diskussionsbeiträge, Florian Schaffenrath für eine kritische Lektüre des Aufsatzes.

43 Noch wenige Jahre vor der Entstehung des Gesanges, 1798/99, hatte Hölderlin mit der damals ventilierten Idee einer süddeutschen Republik nach schweizerischem (und niederländischem) Vorbild sympathisiert; vgl. Horn (Anm. 3), S. 112 f. 44 Zu ‚rein‘ bei Hölderlin, einschließlich poetologischer Verwendung, s. Böschenstein (Anm. 3), S. 51. Zur naheliegenden Etymologie „Rhein < rein“ vgl. etwa Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. und 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732–1754, Bd. 31, Sp. 1104–1109 s. v. Rhein, Rhin, Rhein-Strom, hier Sp. 1109; etwas komplizierter in: Encyclopédie. 35 Bde. Paris 1751–1780, Bd. 14, S. 247 f. s. v. Rhein, hier S. 248: „Le nom de ce fleuve dans la langue celtique, signifioit pur […].“

Katharina Suter-Meyer

Der Rhein: Fluss der Germanen oder der Helvetier? Patriotismus und Apologie in Vadians Kommentar zu Pomponius Mela (1522) Im Vergleich mit den ‚germanischen‘ Flüssen Donau und Rhone klassiert der Schweizer Humanist und Reformator Joachim Vadian (von Watt) den Rhein in seinen Kommentaren zur Geographie des römischen Geographen Pomponius Mela (de chorographia) als omnium clarissimus Rhenus.1 Der vorliegende Aufsatz interessiert sich für die besondere Rolle, die Vadian dem Rhein zuspricht  – ist doch der germanische Fluss, der in den ‚helvetischen‘ Alpen entspringt, ein wiederkehrendes Thema des innert kurzer Zeit in zwei Editionen erschienenen Kommentares. Die erste Fassung gab Vadian 1518 bei Lukas Alantsee2 in Wien in Druck, kurz bevor er die Universität, den Wiener Humanistenkreis und seine Aktivitäten als ehemaliger Rektor und Dozent hinter sich ließ. In seiner Heimatstadt St. Gallen, wo er über seine im Leinwandhandel erfolgreiche Familie3 stark verwurzelt war, erhielt er noch im gleichen Jahr einen Posten als Berater und Stadtarzt – 1521 kam auch das Amt eines Ratsherrn hinzu.4 Es begann ein stark

1 Joachim Vadianus: Pomponii Melae de orbis situ libri tres, accuratissime emendati, una cum Commentariis Ioachimi Vadiani Helvetii castigatioribus, et multis in locis auctioribus factis: id quod candidus lector obiter, et in transcursu facile deprehendet. Adiecta sunt praeterea loca aliquot ex Vadiani commentariis summatim repetita, et obiter explicata: in quibus aestimandis censendisque doctissimo viro Ioanni Camerti ordinis Minorum Theologo, cum Ioachimo Vadiano non admodum convenit. Rursum, Epistola Vadiani, ab eo pene adulescente ad Rudolphum Agricolam iuniorem scripta, non indigna lectu, nec inutili ad ea capienda, quae aliubi in Commentariis suis libare magis, quam longius explicare voluit. Basel 1522, hier S. 177 b. Die Kleinbuch­staben hinter der Seitenzahl beziehen sich jeweils auf die im Druck verwendeten Lemma-Zählung. 2 Joachim Vadianus: Pomponii Melae Hispani libri de situ orbis tres adiectis Ioachimi Vadiani Helvetii in eosdem scholiis. Addita quoque in geographiam catechesis et epistola Vadiani ad Agricolam digna lectu. Cum Indice summatim omnia complectente. Wien 1518. 3 Bonorand misst Vadians Herkunft aus einer wirtschaftlich und politisch sehr einflussreichen St. Galler Handelsfamilie große Bedeutung für die Besonderheiten in seiner Laufbahn zu. Siehe Conradin Bonorand: Joachim Vadian. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 345–358, hier S. 345. 4 Vgl. Werner Näf: Vadian und seine Stadt St. Gallen. Bd. 2. 1518 bis 1551: Bürgermeister und Reformator von St. Gallen. St. Gallen 1957, S. 65 f. und 80–83. DOI 10.1515/9783110400281-002



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stadtpolitisch und reformatorisch geprägter Lebensabschnitt. Zuvor hatte er sich in Wien einen Namen als Dichter und Geograph gemacht,5 so dass seine ausführlich kommentierte Ausgabe der de chorographia des Pomponius Mela (der bei den Humanisten der Frühen Neuzeit ohnehin beliebt war) derart großen Anklang fand, dass Vadian auf das Drängen gelehrter Freunde hin den Kommentar überarbeitete, erweiterte und ihn 1522 in Basel beim Drucker Andreas Cratander erneut herausgab. Diese zweite Auflage avancierte zum meistgelesenen und am längsten nachwirkenden Werk6 Vadians. Im dritten Buch der Kommentare widmet Vadian dem Rhein ein eigenes Lemma, das durch die Marginalie Rhenus hervorgehoben wird. Inhaltlich entwickelt sich dieses lange ,Rhein-Lemma‘ mit digressivem Charakter zu einem Loblied auf Vadians Heimatstadt St. Gallen und auf die Eidgenossen.7 Das ist auffällig, da der Rhein im dritten Buch der Kommentare, in dem sich Vadian mit den von Barbaren und lebensfeindlicher Wildnis beherrschten antiken Darstellungen Galliens und Germaniens auseinandersetzt, allein wegen seiner Größe und seiner Rolle als Grenze zu Germanien Beachtung findet. Offenbar verändern sich im ‚Rhein‘-Lemma sowohl der Stellenwert als auch die argumentative Funktion, die der Rhein im Allgemeinen übernimmt. Der vorliegende Aufsatz zeigt, wie Vadian den Rhein, den er als omnium Germaniae amnium celeberrimus8 bezeichnet, einerseits für die Inszenierung der ‚Germanen‘ als Kulturvolk einsetzt und anderseits in einem als Ort für eine Verteidigung der Schweizer gegen zeitgenössische Polemik nutzt.

5 Zum humanistischen Werk Vadians siehe Werner Näf: Vadian und seine Stadt St. Gallen. Bd. 1. Bis 1518: Humanist in Wien. St. Gallen 1944, S. 253–333. 6 So Näf, ebd., S. 277. Das ist auch der Grund, weshalb für die folgenden Überlegungen die zweite Edition als Textgrundlage gewählt wurde. 7 Vadianus (Anm. 1), 167: „e Rhenus.“ Das Lemma erhielt auch einen Eintrag im zugehörigen Index, allerdings fälschlicherweise mit der Seitenangabe 165. Zum ,Rhein‘-Lemma als landesbeschreibender Binnentext siehe Katharina Suter-Meyer: Frühneuzeitliche Landesbeschreibung in einer antiken Geographie – der Rhein aus persönlicher Perspektive in Vadians Kommentar zu Pomponius Mela (1522). In: Transformations of the Classics via Early Modern Commentaries. Hg. von Karl A. E. Enenkel. Leiden, Boston 2014, S. 389–410. 8 Vadianus (Anm. 1), S. 167 e.

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 Katharina Suter-Meyer

1 Der Einfluss der Germania illustrata-Idee Pomponius Mela beschreibt Gallien und Germanien auf seinem literarischen Weg den Küsten Spaniens folgend in Richtung Asien. Sein erster ethnographischer Blick auf die Germanen zeigt das Bild roher Barbaren: Qui habitant, immanes sunt animis atque corporibus et ad insitam feritatem vaste utraque exercent, bellando animos, corpora ad consuetudines laborum: maximo frigore nudi agunt antequam puberes sint, et longissima apud eos pueritia est.9 [Die Bewohner sind ungeschlacht an Körper und Geist und sie trainieren gemäß ihrer angeborenen Wildheit beides auf das äußerste; die Herzen durch Krieg und die Körper zur Gewöhnung an Strapazen: Bis sie erwachsen sind, treiben sie sich trotz größter Kälte nackt herum, und die Kindheit dauert bei ihnen sehr lange.]

Eine solche Darstellung kann Vadian als im deutschen Humanismus verwurzelter Kommentator schlecht übergehen. Bereits vor immanes setzt er einen Lemmaverweis und beschäftigt sich auf den folgenden drei Kommentarseiten damit, zu erläutern, wie immanes genau zu verstehen sei, wie sich Caesar und Tacitus zu den Germanen äußerten, wie viel die Römer über Germanien wussten, woher der Name komme, und was über das zeitgenössische Germanien gesagt werden müsse.10 Wenn Vadian antike Schilderungen Germaniens diskutiert, aktualisiert und zurechtrückt, folgt er dem Vorbild seines ehemaligen Lehrers Konrad Celtis und dessen Plan, eine Germania illustrata zu schaffen. Jene wäre „als Konkurrenzunternehmen“11 zu Biondos Italia illustrata gedacht gewesen. Dabei ging es sowohl um eine erhellende und rühmende Beschreibung der zeitgenössischen Germania und ihrer Gelehrten als auch um eine aemulatio Italorum.12 Die Germania illustrata blieb zwar nur Plan, beeinflusste aber Celtis’ Schüler in der Ausrichtung ihrer Werke trotzdem. Vadian selbst erwähnt in einem briefli-

9 Ebd., S. 171 und 174. Die Stelle entspricht Mela 3,26, allerdings unterscheidet sich Vadians Textversion, die auf Hermolaus Barbarus zurückgeht, marginal von der modernen. Hier wird jeweils mit dem im Kommentar abgedruckten Text gearbeitet, auf eine Berücksichtigung von Überlieferungs- und textkritischen Fragen wird bewusst verzichtet. In der Transkription wird die Interpunktion des Druckes von 1522 übernommen. 10 Vgl. ebd., S. 171 c bis 174. 11 Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003, S. 416. 12 Dazu Jörg Robert: Celtis, Konrad. In: Verfasser-Datenbank. Berlin 2009: http://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo.vlhum.0036 (23.08.2013). Außerdem Gernot Michael Müller: Die „Germania generalis“ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001, S. 441–483.



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chen Nachruf auf Celtis die begonnene, wenn auch unvollendete Deutschlandbeschreibung.13 In den Kommentaren zu Pomponius Mela vermerkt er an jener Stelle, wo Pomponius Mela Germanien als unwegsam wegen der Flüsse und rau wegen der vielen Berge bezeichnet,14 es könne kaum jemand erwarten, dass er nun (gleichsam als Widerlegung) die Städte der tam cultae hodie terrae15 aufzähle, nachdem schon soviel über die Germanen berichtet worden sei. Dass er wegen der Veränderungen des Landes durch den Lauf der Zeiten eine Würdigung Germaniens für notwendig hält, klingt dabei im hodie an. Dieses sperrt cultae und terrae und betont, wie kultiviert dieses Germanien gegenwärtig ist. Hier berichtet Vadian nun von den Plänen für eine Germania illustrata seines 1508 verstorbenen Lehrers Celtis: Illustrare Germaniam 4 libris Cunrandus Celtis voluit, studiosissimus vetustatis observator: sed cum iam orsus esset, aliud fata iusserunt.16 Unter illustrare verstand Vadian (wie Celtis) sowohl epideiktisches ‚ins Licht setzten‘ oder ‚verherrlichen‘ als auch ‚erläutern‘ und ‚aufklären‘. Er erklärt, dass Nachfolger für die Idee bereit stünden: sunt hodie qui idem praestabunt, eruditi viri, deque literis et literatis optime meriti.17 Als aktuelles Beispiel legt er dem Leser gleich die Kommentare seines Freundes Jakob Spiegel zu Bartholinus’ panegyrischem Epos Austrias ans Herz. So zeigt sich, dass Vadian das ‚Projekt‘ der Germania illustrata nicht nur kannte, sondern auch die damit verbundenen Anliegen hochhielt. Die Kernideen im Sinne des Celtis18 wurzeln dabei konzeptuell in landeskundlichen Texten. Geographie, Topographie, aktuelle politische, ökonomische, soziale, kirchliche und kulturelle Zustände sollen vereint dargestellt und in Beziehung zu den antiken Germania-Berichten gestellt werden  –

13 Post de Germaniae situ libros orsus, quos fato intercipiente affectos quidem, sed immaturos reliquit aus dem Vadianischen Briefwechsel Nr. 341, S. 617, zitiert nach Gernot Michael Müller, ebd., S. 61 f., vgl. auch S. 62 Anm. 29. 14 Terra ipsa multis impedita fluminibus, multis montibus aspera […]. Vadianus (Anm. 1), S. 175 (Mela 3,29). 15 Ebd., S. 175 i. 16 Ebd., S. 175 i. Konrad Celtis wollte die Germania in vier Büchern verherrlichen, der äußerst eifrige Beobachter des Altertums: [Aber obwohl er schon begonnen hatte, befahlen die Schicksalsgötter Anderes.] 17 Ebd., S. 175 i: [Es gibt heute Leute, die dasselbe tun werden, gebildete Männer, die sich besten verdient gemacht haben um die Wissenschaften und die Gelehrten.] 18 Einen Überblick dazu bietet Ulrich Muhlack: Das Projekt der Germania illustrata. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus? In: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack, Gerrit Walther. Göttingen 2002, S. 142–158. Sehr ausführlich auch Müller (Anm. 12), besonders S. 441 f.

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 Katharina Suter-Meyer

im Zentrum steht der Wandel zwischen altem und neuem Deutschland.19 Die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Geographie zerfließen dabei,20 so ist es auch nicht erstaunlich, dass Vadian gerade in den Kommentaren zu Melas Germanien-Beschreibungen diesen neuen „deutschen Nationalgedanken“21 zum Ausdruck bringt, den „Wandel von der Barbarei der Vorzeit zur humanistischen Kultur der Gegenwart“22 zu dokumentieren sucht, die alte germanische Kriegstüchtigkeit beschwört und gegen Verunglimpfungen des italienischen Humanismus anschreibt.23

2 Vadians Identifikation mit der Germania Vadianus Helvetius24 sah sich durchaus als Angehöriger der Germania, schließlich war seine Heimatstadt St. Gallen damals eine freie Reichsstadt und zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, deren Reichszugehörigkeit ebenfalls noch bestand. In seiner Rede an Kaiser Maximilian von 1515 erklärte Vadian, dass sich das Reich neben der gemeinsamen Sprache auch durch germanische Eigenschaften wie Treue und Mut auszeichne.25 Die Helvetier zähle er besonders wegen ihrer fides animorum [„Treue der Herzen“], der constantia [„Beständigkeit“] und ihrer fortitudo [„Stärke / Unerschrockenheit“] zu den Germanen; denn ihnen fehle es nicht an der Tapferkeit wahrer Männer.26 Diese Identifikation mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ist bereits im Index des Kommentares zu

19 Muhlack (Anm. 18), S. 143. 20 Ebd., S. 145. Muhlack zählt Vadians spätere geographische Schrift Epitome trium terrae partium (1534) zu den Schriften, die die Grundideen der Germania illustrata verinnerlicht haben. 21 Ebd., S. 148. 22 Ebd., S. 148. 23 Vadian schreibt im Sinne der Germania illustrata, deren Anliegen Muhlack so (S. 154) umreißt: „Es wird damit zu einer Hauptaufgabe der Germania illustrata, dieses ganze Lügengebäude zu zertrümmern und die wahre Historie der Deutschen zu schreiben, die ihnen endlich den gebührenden Platz in der Geschichte verschaffen soll.“ Muhlack stellt hier einen Bezug zur Ingolstädter Rede des Celtis her. 24 Vadian benutze den Beinamen Helvetius, das wird auch in den Titeln beider Editionen deutlich. Vgl. Anm. 1 und 2. 25 Vgl. Gerald Strauss: Sixteenth-century Germany. Its topography and topographers. Madison 1959 S. 7, sowie Joachim Vadian: Lateinische Reden. Hg., übersetzt und erklärt von Matthäus Gabathuler. St. Gallen 1953, S. 63. 26 Ebd. (Gabathuler), S. 62: cum Pannones, Noricos, Vindelicos, Rhetos, tum maxime Helvetios inter Germanos numero, minus terrae fortasse natura, at animorum fide, constantia et fortitudine magis. Nihil enim illis in eo virtutis genere, quod virorum sit, deesse videtur.



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Pomponius Mela unter dem Eintrag Helvetii hodie sunt Germani. 17427 zu finden. An der entsprechenden Stelle erklärt Vadian neben der Marginalie Helvetii sunt Germani unter Berufung auf Caesar, dass die Helvetier einst wie die Germanen zwischen Rhein und Main gewohnt hätten, und dass neben der gemeinsamen Sprache auch noch die Vorzüge germanischer Sitten und Tugenden bei ihnen zu finden seien.28 Einige Seiten vorher, bei der Randnotiz Germania graecas et latinas literas colit,29 umreißt Vadian die Germania als umfassende und territorialpolitische Zugehörigkeiten übergreifende Kulturnation. Hier listet Vadian in einem Gelehrtenkatalog unter anderen auch Freunde wie Zwingli und Glarean auf, die (wie er) der Eidgenossenschaft nahe verbunden waren: Id vero laudandum, quod graecas latinasque literas eximie colere coepit, magistra Italia, e cuius scholis doctrinarum allatus est splendor. Secundum eos autem, quos ante retuli, nominare libet Ioannem Capnionem, Bilibaldum Pirkhaymerum, praestantes utraque lingua viros. Addo e multis BEATUM30 Rhenanum, Huldrichum Zinglium, Philippum Melanchtona, Ioannem Alexandrum Brassicanum, Iacobum Ceporum, Henricum Glareanum, Nicolaum Gerbellium, Casparem Ursinum Silesium nobilem poëtam, cuius illud extat ad me aliquando scriptum in germanicas literas Eulogium. [Es ist wahrhaftig lobenswert, dass Germanien die lateinischen und griechischen Wissenschaften außerordentlich zu pflegen begonnen hat; dank der Lehrmeisterin Italien, aus deren Schulen der Glanz der Gelehrsamkeit gebracht worden ist. Nach denen aber, die ich vorher aufgezählt habe, beliebt es, Johannes Reuchlin und Wilibald Pirkheimer zu nennen, Männer, die sich in beiden Sprachen auszeichnen. Aus vielen füge ich hinzu: BEATUS Rhenanus, Huldrych Zwingli, Philipp Melanchthon, Johannes Alexander Brassica-

27 Vadianus (Anm. 1), Index. 28 Ebd., S. 174: Helvetii quoque e Gallia in Germaniam profecti intra Rhenum et Moenin habitarunt, quemadmodum et Tectosages illi, quorum sex. Commentariorum belli Gallici Caesar meminit. Contra vero Helvetiorum vetustorum tractum hodie habitant e Germanis illuc profecti. Nec mihi de hoc dubitandum videtur, cum linguae commercio intimis Germanis respondente, tum maxime, quod morum et virtutum, quibus olim Suevos usos Caesar scribit, insignia apud eos ornamenta adhuc durant. 29 Ebd., S. 172. 30 Die Kapitalien übernimmt die Transkription aus dem Druckbild.

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 Katharina Suter-Meyer

nus, Jakob Ceporinus31, Heinrich Glarean32, Nikolaus Gerbel33 und Caspar Ursinus Silesius, einen edlen Dichter, dessen Eulogium auf die Germanische Bildung, das er irgendwann mir zuhanden geschrieben hat, herausragend ist.]

Mit den aufgezählten Humanisten stand Vadian in Verbindung  – über Briefe, Dedikationsepisteln, Schüler-Lehrer-Verhältnisse und auch persönliche Kontakte; zwischen einem ‚deutschen‘ und ‚schweizerischen‘ Gelehrtenkreis differenziert er nicht.34 Die Exponenten sollen vielmehr verdeutlichen, dass die Germania ihrer Lehrmeisterin Italia in Sachen zweisprachiger Gelehrsamkeit ebenbürtig geworden ist. Bonorand ist gar der Meinung, dass sich hier „der Fortschritt der griechischen Studien im deutschen Kulturgebiet kurz vor und nach 1520“35 ablesen lässt. Denn in der ersten Ausgabe von 1518 fehlen Zwingli, Melanchthon, Brassicanus und Ceporus noch. Sicherlich zeigt sich hier die Intention zu verherrlichen, aber auch eine gemeinsame kulturelle Identität, die in der humanistischen Bildung wurzelt, festzuschreiben. Deutlich manifestiert sich zudem der Wunsch nach Ebenbürtigkeit mit dem Vorbild und Rivalen Italien. Dies wird explizit ausgesprochen im (von Vadian nachfolgend zitierten) Gedicht des Ursinus Velius, das die translatio artium ins ehemals barbarische Germanien zum Thema hat. Die „italische Pallas“ erklärt hier der „griechischen“, dass die Germanen die Pflege der Bildung übernahmen, nachdem Sueven und Vandalen Rom erobert hätten – jetzt tue sich Germanien in beiden Sprachen hervor und es

31 Jakob Ceporinus oder Wiesendanger wurde Vadian von Ursinus Velius und Georg Rithaimer empfohlen, er wurde in Zürich der erste Griechischlehrer, siehe auch: Conradin Bonorand: Personenkommentar II zum Vadianischen Briefwerk. St. Gallen 1983, S. 261. Er war ein Schüler Reuchlins gewesen, hatte sich im Jahr 1520 Zwingli angeschlossen, mit dem Vadian in sehr regem Kontakt stand. In der ersten Ausgabe der Scholien wurde er unter der Randnotiz Germania Graecas Latinas literas colit noch nicht genannt. Dazu Conradin Bonorand: Vadian und die Ereignisse in Italien im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Personenkommentar III zum Vadianischen Briefwerk. St. Gallen 1985, S. 119 f. 32 Bonorand 1983 (Anm. 31), S. 302 f.; Fünf Briefe an Vadian sind erhalten – allerdings gab es später in Reformationsfragen Unstimmigkeiten zwischen ihnen. 33 Ebd., S. 299 f., zum Verhältnis zwischen Vadian und Nikolaus Gerbel. 34 Das Gesamtregister zu Bonorands Personenkommentar des Vadianischen Briefwerks wurde 2001 bearbeitet, es ermöglicht nicht nur einen schnellen Einblick in Vadians Briefkontakte, sondern dient gleichzeitig als Personenregister für die anderen Bände der Reihe „Vadian-Studien“. Conradin Bonorand: Personenkommentar I–IV zum Vadianischen Briefwerk. Gesamtregister. St. Gallen 2001. 35 Bonorand 1983 (Anm. 31), S. 261 f.



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sei nur recht, dass derjenige, der die Herrschaft übernommen habe, nun auch die Zierde der Künste weitertrage.36

3 Der Rhein: Von der repräsentativen Grenze zum Bildungsraum 3.1 Die veränderte Grenzfunktion des Rheins im Zusammenhang mit der translatio artium Am Schluss des zitierten Gedichtes lässt Velius Ursinus die italische Pallas Germanien mit quae claudunt Rhenus et Hister37 aquis definieren.38 So werden, wie bereits in der Antike verbreitet, Rhein und Donau zu den Hauptgrenzen der Germania. Diese alte und charakteristische Grenzfunktion erwähnt Vadian auch in den Anmerkungen zu Gallien und Germanien im dritten Buch der de chorographia des Pomponius Mela. Mehr als die Donau steht dabei der Rhein für den Übergang, da er stärker als Grenze zum römischen Reich, bzw. zum römischen Einfluss, wahrgenommen wird. Die antike Herkunft des Grenzverständnisses thematisiert Vadian etwa unter dem Lemma a) Germania.39 Er erklärt, dass es grundsätzlich so sei, wie sowohl Strabo als auch Mela berichten, nämlich: intra Rhenum Danubiumque, Germania est.40 Im Hinblick auf die Sprachgemeinschaft muss das seiner Meinung nach aber eingeschränkt werden: si gentium migrationem, et linguae commercium attendimus, rectius Alpibus a meridie, nec omnino ab occasu Rheno terminabitur.41 Vadian bringt ein differenziertes Grenzverständnis ein und tritt sozusagen als Autorität mit lokalen Kenntnissen auf.

36 Vadianus (Anm. 1); S. 172: Ausonis haec contra, post debellata Quirini  / Moenia, Suevorum Vandalicaque manu, / Paulatim ingenii cepit Germania cultum, / Atque tuo atque meo claruit eloquio. / Et merito, Imperium qui transtulit, illicet artes / Transferat ingenuas eloquiique decus. 37 Velius nennt die Donau hier Hister. So wurde bei Griechen und Römern meist die untere Donau bis zur Mündung bezeichnet. Vadian spricht dagegen im Allgemeinen von Danubius oder Danuvius; in einem Lemma zur Donau (S. 97 a) erklärt er den Unterschied: Oberhalb der Katarakte des Eisernen Tores heiße der Fluss „Donau“, unterhalb „Ister“. 38 Ebd., S. 172. 39 Ebd., S. 171 a. 40 Ebd., S. 171 a. 41 Ebd., S. 171 a: [Wenn wir die Wanderung der Völker und die Sprachgemeinschaft berücksichtigen, wird es (Germanien) richtiger im Süden von den Alpen und im Westen nicht völlig vom Rhein begrenzt.]

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Gleichzeitig nutzt er die alte Bedeutung als Symbol für den Übergang zum einst barbarischen Germanien, um den Wechsel der Herrschaftsverhältnisse mit den kulturellen Errungenschaften in Beziehung zu setzen. Zuerst stellt er ein Zitat des Ambrosius von Mailand42 zur Diskussion: Divus Ambrosius 2 Hexaemeron scribit Rhenum memorandum Romani imperii adversum feras gentes murum fuisse.43 Der Rhein als Mauer gegen wilde Völker – dieses Bild musste gerade vor dem Hintergrund der Rivalität44 zwischen italienischen und deutschen Humanisten provozieren. Vadian gibt so ein Beispiel für den Barbaries-Vorwurf, dem sich ein ‚germanischer‘ Leser antiker Schriften immer wieder stellen musste. Genau diese Konfrontation sucht Vadian, um an ihr die Notwendigkeit einer kritischen Lektüre zu demonstrieren. Explizit sprach er das einige Lemmata zuvor im Zusammenhang mit Gallien an, wo er in einer Erläuterung zum Adjektiv immanes eine Stelle aus Ciceros Rede de Provinciis consularibus zitierte, in der die Alpen als Bollwerk gegen die immanitas Gallorum [„die Wildheit der Gallier“] bezeichnet werden. Vadian erklärte das Barbarenbild der Römer so: Sed adnotandum Romanos authores nullis gentibus in historia immanitatis vitium crebrius obiicere solere quam his, quarum virtute sunt periclitati.45 [Man muss darauf hinweisen, dass die römischen Autoren keinen anderen Völkern in der Geschichtsschreibung das Laster der Wildheit häufiger vorzuwerfen pflegen, als denen, durch deren Tapferkeit sie bedroht wurden.]

Die Polemik wird offen angesprochen, kritisch gelesen und positiv umgedeutet. Die Behauptungen der römischen Autoren werden gleichsam quellenkritisch in Bezug auf ihre Intention hinterfragt und so entkräftet. Auch das Bild des Rheins als adversum feras gentes murum bei Ambrosius liest Vadian kritisch und aus einer diachronen Perspektive. Wie die entsprechende Marginalie ankündigt, nutzt er das Zitat um das Imperium translatum anzusprechen und als Beweis für die rerum omnium vicissitudo zu nutzen.46 Geradezu bissig erklärt er, der Wandel

42 Vadian referiert in der indirekten Rede aus Ambr. Hex. 2,3,12. 43 Vadianus (Anm. 1), S. 171 a: [Der Hl. Ambrosius schreibt im zweiten Hexaemeron, dass der Rhein die erwähnenswerte Mauer des römischen Reiches gegen die wilden Völker gewesen sei.] 44 Siehe dazu etwa Herfried Münkler, Hans Grünberger, Kathrin Mayer: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller: Italien und Deutschland. Berlin 1998, S. 130–135. Oder auch Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, besonders S. 181–188, 210–214, 243–250. 45 Vadianus (Anm. 1), S. 165 e. 46 Ebd., S. 171 a.



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aller Dinge sei besonders daran erkennbar, dass die kaiserliche Herrschaft hodie gerade in feras illas videlicet gentes47 übergegangen sei, und nun genau da zu finden sei, wo zu Ambrosius’ Zeiten die römische Macht endete.48 In der translatio imperii zeigt sich die mutatio temporum, welche wiederum eine Verschiebung der Gelehrsamkeit plausibel macht. Gerade die kritische Sicht, wie sie in Vadians Erklärung der Barbaren-Polemik gegen feindliche Völker als Ausdruck der Angst vor deren Kriegstüchtigkeit deutlich wird, schwächt die Glaubwürdigkeit des antiken Vorurteiles und ebnet der Idee der translatio artium oder studii49 den Weg. Der Rhein wird von der Grenze zur Barbarei zu jener der neuen kaiserlichen Macht, der (wie Velius Ursinus in seinem Gedicht festhält) auch Pallas Athene als Schirmherrin der Künste gefolgt ist.

3.2 Superiorität des Rheins Wenn auch Vadian Rhein und Donau oft gemeinsam als Grenzen erwähnt, so genießt der Rhein doch klar eine Vorrangstellung. Auch im speziell ihm gewidmeten Lemma verleiht Vadian dem Fluss mit Rhenus. Omnium Germaniae amnium celeberrimus50 den Spitzenplatz in der Hierarchie germanischer Flüsse. Später nimmt Vadian da, wo Pomponius Mela die germanischen Ströme aufzählt, welche bei anderen Völkern ins Meer münden, das Thema im Lemma zu in alias gentes wieder auf. Er hebt den Rhein mit der Marginalie Rhenus hervor und zeichnet ihn im Text selbst vor den anderen Flüssen mit den Worten a fontibus enim ad ostia usque a Germanis Rhenus habitatur51 aus. Im Gegensatz zu den anderen

47 Ebd., S. 171 a. 48 Ebd., S. 171 a: Ut haud obscure quanta rerum omnium vicissitudo sit, vel ex hoc ipso intelligere queas, quod pleno hodie maiestatis nomine in feras illas videlicet gentes translato, principium imperii cernere est, ubi vel Ambrosii aetate ditionis Aquilarum finis erat. 49 Hirschi spricht von der translatio studii und weist darauf hin, dass Cicero und Horaz bereits die Überzeugung einer „notwendigen Einheit von herrschaftlicher und zivilisatorischer Überlegenheit“ vertraten. Das imperialistische Herrscherideal sah den gleichzeitigen Besitz von imperium und studium vor. Hirschi bezeichnet die translatio studii ad Germanos als Leitmotiv in der Translationslehre, welche die deutsche Fortschrittsgeschichte erklären sollte. Die Humanisten inszenierten sich dabei als die Vollstrecker dieses Bildungstransfers. Siehe Caspar Hirschi: Konzepte von Fortschritt und Niedergang im Humanismus am Beispiel der „translatio imperii“ und der „translatio studii“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 58 (2008), S. 37–55, hier S. 39 und 49. 50 Vadianus (Anm. 1), S. 167 e. 51 Ebd., S. 177 b: [Von den Quellen nämlich bis zur Mündung wird der Rhein von Germanen bewohnt.]

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Flüssen Germaniens, besonders im Gegensatz zur viel seltener erwähnten Donau, ist der Rhein also ein gänzlich germanischer Fluss, worin Vadian eine besondere Qualität sieht. Noch in demselben Lemma unterstreicht er die Wichtigkeit des Rheins mit der Formulierung omnium clarissimus Rhenus, beruft sich dabei sehr allgemein auf Caesar und Herodianus und fügt eine Begründung für die Superiorität an: quanquam si undarum vim, cursusque longitudinem aestimas, multo Rhenum Danubius superat. At ille, quia maximis oppidis frequens est et fortissimarum gentium terminus censetur, claritatis praerogativa quadam pollet. De eo pervetustus ille est Germanorum rhythmus: Die Tuonou, aller Wasser ein Frau. Aber der rein, mag mit eren ir man sein. [Freilich übertrifft die Donau den Rhein, wenn du die Kraft der Wellen und die Länge des Laufes berücksichtigst, um vieles. Aber jener besitzt einen gewissen Vorrang an Berühmtheit, weil er mit sehr bedeutenden Städten dicht bebaut ist und als Grenzlinie zwischen äußerst kriegstüchtigen Völkern betrachtet wird. Über ihn gibt es jenen sehr alten Reim der Germanen: Die Donau ist aller Wasser Frau, aber der Rhein mag mit Ehren ihr Mann sein.]

Dank der Städte, die per se Macht und Bedeutung ausstrahlen, und dank der Funktion als Grenze zwischen besonders kriegstüchtigen Völkern ist der Rhein omnium clarissimus. Da er auch noch auf der ganzen Länge von Germanen besiedelt ist, kann er sozusagen pars pro toto für die Germania selbst stehen. Denn mit der Kultur und Bildung der Städte52 und umgeben von kämpferischen Völkern vereint er in sich das neue Streben nach Gelehrsamkeit und die Überwindung der Barbarei  – allerdings ohne Verlust der Kriegstüchtigkeit, welche den Germanen ebenso wie den angrenzenden Völkern als Qualität angerechnet wird.53 Der Abschluss des Lemmas mit dem alten deutschen Reim spiegelt das Selbstbewusstsein und den Stolz auf die eigene Bildungsvergangenheit. Gleichzeitig nimmt Vadian mit dem Germanorum rhythmus die anfängliche Bemerkung a fontibus enim ad ostia usque a Germanis Rhenus habitatur wieder auf und rundet das Bild eines gänzlich germanischen Flusses auch auf literarischer Ebene ab.

52 Städte stehen für Zivilisation und Kultur; in ihnen manifestiert sich die höhere, nicht mehr barbarische Lebensweise und gewissermaßen die mutatio temporum, denn an ihnen wird deutlich, dass Tacitus Aussage (Tac. Germ. 16,1), die Germanen hätten keine Städte und würden überhaupt zerstreut leben, nicht mehr gültig ist. Vgl. dazu Robert (Anm. 11), S. 403 und Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. München 1986, S. 222 f. Zudem Müller (Anm. 12), S. 403–408. 53 Auch Celtis führt die Kriegstüchtigkeit in seiner Germania generalis als bedeutende virtus an. Ebd., S. 408 f.



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3.3 Der Rhein als Bildungsraum Dass der Fluss auch Bildungsraum ist, zeigt Vadian mit einem Beispiel. Im Lemma zur Mündung des Rheins bringt Vadian die Sprache auf die Bataver, auf die er die Niederländer zurückführt, und nennt den berühmtesten Gelehrten der Niederlande: Est haec vetustissima rei militaris fama insignis, tum clara hodie, ut ego iudico, ERASMO Roterodamo alumno, multifariam erudito homine, tum et graecarum et latinarum literarum peritissimo: in quo natura satis indicat Germanorum ingeniis nihil deesse, modo studium ac diligentia non desit, quo minus Graece latineque ita proficiant, ut certare cum linguarum indigenis vel de palma queant.54 [Diese (die Niederlande) zeichnet sich durch sehr alten militärischen Ruhm aus, dann ist sie heute, so wie ich persönlich das sehe, berühmt wegen ihres Zöglings ERASMUS von Rotterdam, eines vielseitig gebildeten und dazu in den lateinischen und griechischen Schriften äußerst kundigen Mannes: An ihm zeigt die Natur zur Genüge, dass es den Germanen nicht an Begabung fehlt (wenn nur Eifer und Sorgfalt nicht fehlt), so dass sie auf Griechisch und Lateinisch derart Fortschritte machen, dass sie selbst mit Muttersprachlern um den Siegespreis wetteifern können.]

Erasmus wird so zum Aushängeschild der bildungshungrigen und erfolgreichen Germanen. Die Tugend der Kriegstüchtigkeit erhält eine höhere Qualität durch die postulierte Kontinuität. Mit tum clara hodie wird für den neuen wissenschaftlichen Ruhm eine mutatio temporum in Anspruch genommen; verkörpert durch Erasmus von Rotterdam, der als exemplum und Beweis für die ingenia Germanorum dient – er wird gleichsam zum Inbegriff für eine aemulatio. Sein Beispiel lässt Vadian gar auf eine superatio hoffen. Implizit insinuiert Vadian eine fortschreitende translatio studii. Die Intention, italienische Polemik zu widerlegen, zeigt sich hier ebenso wie die Vorgehensweise, die Hirschi im Nationsdiskurs der deutschen Humanisten als Teil der Antibarbaries-Strategie bezeichnet: Das „italienische Barbarenstigma“55, der Vorwurf einer verrohten Kultur, soll mittels Gegenbeweis und Förderung der Bildungswilligen abgeschüttelt werden.

54 Vadianus (Anm. 1), S. 170 a. 55 Hirschi (Anm. 49), S. 47. Bereits Celtis hoffte nach seiner Italienreise, dass der Glanz der Wissenschaften bald nach Deutschland komme, von der imitatio sollte zur aemulatio und schließlich zur superatio übergegangen werden (ebd., S. 49).

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4 Die eigene ‚Heimat‘ im Fokus 4.1 Die mutatio temporum im Bodenseegebiet: Antike Negativfolie und Bauernpolemik Während der Rhein in den Lemmata zu Melas Germanienbeschreibung als bedeutendster Grenzfluss und Lebensader der auf hohem Niveau gebildeten und politisch wie kriegerisch erfolgreichen Germani auftritt, verschiebt sich seine Rolle im eigentlichen ‚Rhein‘-Lemma. Vadian verortet das Lemma Rhenus in der Beschreibung des Quellgebiets des Rheins, welche Pomponius Mela mit Rhenus ab Alpibus decidens [„Der von den Alpen herabfließende Rhein“]56 beginnt. Nachdem Vadian zuerst den Rhein als omnium Germaniae amnium celeberrimus57 charakterisiert hat, nimmt er das Quellgebiet und den sogenannten Alpenrhein in den Blick. Vadian erwähnt, dass dieses Alpengebiet auch die Quellen von Rhone, Etsch und Adda beherberge, doch mit ipse vero maximus Rhenus58 macht er deutlich, dass auch im regionalen Rahmen der Spitzenplatz dem Rhein gebührt. Entsprechend verengt er den Blick auf die Grenzfunktion: […] mox rivis utrinque venientibus auctior valido fluxu confoederatos Rhetos et Helvetios disterminat.59 Die Germania dagegen thematisiert Vadian nicht mehr; weder hier noch im weiteren Verlauf des vierseitigen Lemmas. Dafür trennt der Fluss nun die Helvetier von den Bündnern, die damals als Freistaat der Drei Bünde gleichberechtigte Partner der Eidgenossenschaft waren. Diese gentes sind gemeint, wenn Vadian anschließend über den Rhein sagt: A Borea in vallem sui nominis elapsus, oras abluit bellicosarum gentium: nec infoecundos praeterit, optimi vini clivos.60 Die kriegerischen Völker am Rhein werden reduziert auf Räther und Helvetier, die Kriegstüchtigkeit wird auch hier betont. Die Uferlandschaft wird als besonders fruchtbar beschrieben, die Hänge bringen den besten Wein hervor. Die Darstellung der erfolgreich kultivierten und ergiebigen Natur steht im Kontrast zur Lebensfeindlichkeit, die gemäß dem antiken Bild zur Gebirgsregion passen

56 Mela 3.24; hier Vadianus (Anm. 1), S. 167 (der Lemmaverweis e steht hochgestellt vor Rhenus). 57 Ebd., S. 167 e: [von allen Flüssen Germaniens der berühmteste]. 58 Ebd., S. 167 e. 59 Ebd., S. 167 e: [bald wird er aber größer durch die von überall herkommenden Bäche und mit starkem Strom trennt er die verbündeten Rhaeter von den Helvetiern]. 60 Ebd., S. 167 e: [Von Norden her gleitet er in einem nach ihm benannten Tal herab und benetzt die Ufer kriegerischer Völker: Er führt an sehr fruchtbaren Hängen besten Weines vorbei.]



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würde.61 In der epideiktischen Beschreibung manifestiert sich der Widerspruch gegen das negative Landschaftsbild der Antike, das Vadian als Zitat aus den Res gestae des spätantiken Historiographen Ammianus Marcellinus62 einbindet. Darin beschreibt Ammianus den Lauf des Rheins von seiner Quelle von den zerklüfteten Bergen herab in den Bodensee und meint zu dessen Umgebung: horror squalentium sylvarum inaccessum efficit, nisi qua vera in Alemania virtus, et sobria vita composuit locum, barbaris et natura locorum, et coeli inclementia refragante.63 Mit der Wahl dieses Ausschnittes präsentiert Vadian dem Leser stellvertretend den antiken Blick auf ein wild überwuchertes Alpenrheingebiet, in dem nun die Region der Eidgenossen und ihrer Verbündeten sowie seiner Herkunft liegt. Schrecklich dichte Wälder machen es unzugänglich, aber trotz hartem Klima hat die alemannische Tüchtigkeit hier einen Ort zum Leben geschaffen  – ein Bild, das die Möglichkeit zur Veränderung bereits in sich trägt: Abgehärtet durch die Natur schaffen die Menschen hier durch ihre virtus den Grundstein für Zivilisation und Kultur. Etwas später umreißt Vadian das gegenwärtige Uferbild: omnia hodie vinetis pomariisque cultissima sunt, paucis in locis planicies litorum mollior, scirpo et arundine sterilis est.64 Mit hodie weist Vadian auf die heute vollzogene Kultivierung durch Landwirtschaft hin; dank dem vorangegangen AmmianusZitat wird deutlich, das dies das Produkt der virtus in Alemania ist: Die unwegsamen Wälder sind verschwunden, jetzt ist der See von Wein und Apfelgärten umgeben. Nur an wenigen Stellen ist das Ufer sandig weich und unfruchtbar, also

61 Der lobende Einschub Vadians kann durchaus in Anlehnung an Ausonius’ Mosel-Gedicht gelesen werden; etwa wenn man an die Erwähnung der Äcker und grasigen Ufer (Auson. Mos. 22 und 26), oder das Lob der Weinberge und Winzer (Auson. Mos. 152–156) sowie an die genannten Bauern und das fruchtbare Land (Auson. Mos. 458–460) denkt. Vadian kannte die Mosella gut, wie aus verschiedenen Lemmata auf S. 166 f. hervorgeht. Möglicherweise spielte er mit den thematischen Anklängen an den antiken Autor. Zentraler aber scheint mir der Kontrast zum nachfolgenden Zitat des Ammianus Marcellinus zu sein. 62 Bemerkt sei hier, dass bewusst der in der Edition von 1522 gedruckte Text verwendet wird, obwohl er massiv vom modernen, kritischen Ammianus-Text (hier: Amm. 15,4,2) abweicht. Vadian bemängelte selbst, dass die ihm verfügbare Ausgabe recht verdorben war: Vgl. ebd., S. 168: libet vero Marcellini verba adscribere, quae quantum e corruptissimis exemplaribus colligere potui, sic habent: […]. In Vadians persönlichem Ammianus-Exemplar finden sich wenige handschriftliche Korrekturen von seiner Hand; es ist heute in der Vadianischen Sammlung der Kantonsbibliothek St. Gallen unter der Signatur VadSlg Inc 735 (K1) einsehbar. 63 Ebd., S. 168: [Der Schrecken wilder Wälder bewirkt Unwegsamkeit; wo die Tüchtigkeit, die es in Alemannien wahrhaft gibt, und ein enthaltsames Leben einen Ort geschaffen haben, obwohl sich sowohl die Natur der Gegend als auch das raue Klima gegen die Barbaren wandte.] 64 Ebd., S. 168: [Alle sind heute mit Weinbergen und Apfelgärten reich bebaut, nur an wenigen Stellen ist die Uferebene etwas sandiger und nicht fruchtbar an Binsen und Schilf“]

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nicht mit Schilf und Binsen bewachsen. Dann folgt der Höhepunkt der descriptio regionis mit dem Katalog der Bodenseestädte. Er verkörpert den Fortschritt hin zu höherer Zivilisation und verleiht dem Bodenseegebiet die Merkmale eines Kulturund Bildungsraumes. Am Anfang steht das altehrwürdige Bregenz, das Vadian mit Brigantium vetustissimum cum amne et arce comitum de Monteforti65 einführt. Durch ein Zitat des mittelalterlichen Walafrid Strabo aus der Gallus-Vita, welches der Stadt in der fruchtbaren Ebene antike Ruinen zuspricht,66 erhöht Vadian die Würde der Stadt durch den Mythos einer antiken Herkunft und ihre Erwähnung bei einem Autor, dem er selbst zu neuer Verbreitung verholfen hatte. Im Tonfall einer laus urbium67 berücksichtigt die Aufzählung der Städte jeweils bemerkenswerte Merkmale, welche die Region als Ganzes aufwerten. Konstanz zum Beispiel ist omnium clarissima opibus, dignitate, et magnitudine.68 Der Städtekatalog ist grenzüberschreitend gestaltet. Wenn Vadian Konstanz mit altero vero in litore citra Rhenum lokalisiert,69 dient das der Definition der geographischen Lage. Angaben zu territorialen Zugehörigkeiten flicht er nur vereinzelt ein, vorzugsweise so, dass die Verbundenheit mit der Eidgenossenschaft deutlich wird: Er erwähnt zum Beispiel, dass der Bischof von Konstanz einem alten helvetischen Geschlecht entstammte, oder dass das Städtchen Rheineck nicht mehr den Grafen von Rheineck, sondern seit vielen Jahren schon den Helvetiern gehöre.70 ‚Germanen‘ spielen hier keine Rolle, die Region erscheint als Einheit.

65 Ebd., S. 168: [Bregenz ist die älteste Stadt mit dem Fluss und der Burg der Grafen von Monfort.] 66 Ebd., S. 168: […] de oppido sic Vualaphridus mediae aetatis author non ignobilis, Locus, inquit, est antiquae structurae, servans inter ruinas vestigia ubi terra pinguis, et fructuariis proventibus apta, montes per gyrum excelsi. Vgl. Walahfrid Strabo, Vita Sancti Galli 1,5: […] In hac solitudine locus quidem est antiquae structurae, servans inter ruinas vestigia, ubi terra pinquis et fructuariis proventibus apta, montes per girum excelsi […]. 67 Kugler weist darauf hin, dass die laudes urbium zur humanistischen Epideiktik gehören und viel variantenreicher auftreten als lange angenommen wurde. Es gibt topische Konstanten, doch die Form ist sehr frei. Städtelobe als Elemente in Prosatexten, wie hier bei Vadian, sind nicht ungewöhnlich. Als typische Elemente sieht er die Behandlung einer (meist) realen Stadt, die häufig vorhandene, besondere Beziehung des Verfassers zur Stadt, die Intention die Stadt möglichst vorteilhaft darzustellen (also einen epideiktischer Charakter) sowie den Einfluss rhetorischer Vorschriften. Siehe Kugler (Anm. 52), S. 17–20. 68 Ebd., S. 168: [wegen Reichtum, Würde und Größe von allen die berühmteste]. 69 Ebd., S. 168. 70 Ebd., S. 168: Mox oppida, quae latine non facile protuleris, Longonargum cum amne, Buchorna, Mersburga, quae Antistitis est Constantiensis. Is erat dum haec scribebam, Hugo de Landenberg vetustissimae ex Helvetiis prosapiae Praesul. […] Non longe vero supra Rheni ostia in eius ripa situm oppidulum Rhinegum, Comitum quondam eius nominis, nunc a multis annis, Helvetiorum.



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In die laus urbium der Bodenseestädte bindet Vadian seine Heimat St. Gallen ein, die wirtschaftlich und kulturell zum Bodenseeraum gehörte.71 Die Stadt steht dabei leicht außerhalb des eigentlichen Städtekatalogs, denn sie hat keinen direkten Zugang zum See. Durch ihre Stellung am Schluss wird sie ebenso hervorgehoben wie durch die ihr zugestandene laudatio. Indem am Anfang Lage und Gründung, dann aktuelle Errungenschaften im Blickpunkt stehen, berücksichtigt Vadian Kategorien, die bereits im antiken Städtelob verbreitet waren:72 Ab Arbonae litore occasum versus passibus plus minus octo millibus, intra montana non admodum sylvestria, nec infoecunda, oppidum extat imperiale ad Sanctum Gallum, cum Coenobio sectae divi Benedicti, veteri doctrina quondam et eximia sanctimonia celebre: Hodie opulentum, et studiis ad opes conversis magno potentatu visendum.73 [Von der Küste Arbons74 gegen Westen in etwa acht Meilen Entfernung steht, zwischen nicht allzu bewaldeten und fruchtbaren Hügeln die kaiserliche Stadt St. Gallen mit dem Kloster des Ordens des heiligen Benedikt, das einst wegen seiner alten Gelehrsamkeit und wegen außerordentlicher Frömmigkeit bekannt war. Heute ist sie wohlhabend und, nachdem die Bemühungen den Reichtümern zugewandt worden sind, wegen ihrer großen Macht sehenswert.]

Mit non admodum sylvestria unterstreicht Vadian die gemäßigte, angenehme und nicht mehr von dichten Wäldern bestimmte Natur der Umgebung75 – die positive Entwicklung der Landschaft wird durch den Kontrast zur zuvor zitierten Beschreibung des Ammianus betont. Der Topos der Fruchtbarkeit wird in derselben Wortwahl wie bei den Rheinufern am Anfang des Lemmas wiederholt.76 Das Adjektiv

71 Karl Heinz Burmeister: Der Bodensee im 16. Jahrhundert. In: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 57 (2005) 3, S. 228–262, hier S. 230. 72 So bezeichnet etwa Quintilian in der Institio oratoria (Quint. Inst. 7,26–27) Gründer, Leistungen der Bürger, Lage und Befestigung, öffentliche Gebäude und die Umgebung als wichtige Punkte in einem Städtelob. Paraphrasiert nach Kugler (Anm. 52), S. 28. 73 Vadianus (Anm. 1), S. 168. 74 Städtchen am Bodensee mit römischen Wurzeln und angeblich der Todesort des Hl. Gallus. 75 Kugler weist darauf hin, dass im deutschen Raum das Zurückdrängen des Waldes nicht nur den Einzugsbereich der Städte vergrößerte, sondern auch den „Kontrast zwischen ländlichen und städtischen Landschaftsprofilen“ (S. 222) verringerte. Er zitiert Celtis als Beispiel für die Überzeugung deutscher Humanisten, dass Deutschland den Urbanisierungsgrad Italiens erreicht habe: Celtis versichere in seiner Oratio in gymnasio in Ingelstadio publice recitata, dass die Bewohner Germaniens keine Barbaren mehr seien und auch nicht mehr in der Wildnis hausten. Siehe Kugler (Anm. 52), S. 222 f. 76 Dazu kommt, dass bereits zur antiken Städte-laudatio (welche Kugler [S. 219] als konstitutiv für die humanistischen Stadtbeschreibungen bezeichnet) die Kategorie des situs gehörte. Laut Kugler fehlen diese Angaben so gut wie nie. Siehe ebd., S. 217.

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imperiale verweist auf die privilegierte Stellung St. Gallens als freie Reichsstadt. Die vergangene Blütezeit des Klosters, der aktuelle Reichtum und die Macht der Stadt dienen als Gütezeichen, wobei bereits eine Distanz des späteren Reformators Vadian zu Orden und Kloster spürbar ist. Die vorteilhafte Natur, die Lage, der Fortschritt und die erfolgreiche Entwicklung werden unterstrichen durch die Kontrastierung mit der Gründungszeit. So erzählt Vadian, wie einst der irische Mönch Gallus in der Einöde, an einem wüsten Ort in rauen Wäldern voller Wildtiere, die Fundamente für das Kloster und damit, wenn auch ohne es zu wissen oder zu beabsichtigen, jene der Stadt gelegt hatte, die später so bekannt wurde.77 Am Schluss dieser laus urbium tritt Vadian selbst in den Vordergrund und inszeniert seine besondere Beziehung zur Stadt, wie das gemäß Kugler78 in der Regel im humanistischen Städtelob der Fall ist: HAEC dulcis patria nostra est, haec familiae Vadianorum non uno seculo benevola et munifica nutrix est. Debeo igitur tantae altrici, cum publico gentis nomine, tum obligatione privati debiti. Cui enim non ingrato nec ignobili patriae facies iocunda non sit? Cui non dulce natale solum? Ea maxime gratia quod genuit, quod educavit.79 [DIES ist meine süße Heimat, dies ist die wohlwollende und freigebige Amme der Familie von Watt seit mehr als einem Jahrhundert. Ich stehe also in der Schuld einer so großen Erzieherin sowohl wegen dem öffentlichen Ruf meines Geschlechts80 als auch wegen dem Band privater Verpflichtung. Welchem sehr dankbaren und edlen Menschen könnte denn das Antlitz der Heimat nicht Freude bringen? Für wen ist der Boden seiner Geburt nicht süß? Gerade deswegen, weil er einen hervorgebracht, einen aufgezogen hat?]

Das Städtelob wird zur laus patriae  – Vadian schreibt seine enge persönliche Beziehung zu St. Gallen, die er mit jener zu einer Amme gleichsetzt, dem Kommentar ein. Auch durch sein familiäres Umfeld fühlt er sich dieser Stadt verpflichtet. Sie verkörpert seine Herkunft, seine Wurzeln, sie hat ihn ernährt und erzogen, als seine altrix, seine nutrix. Er erklärt sie zu seiner Pflegemutter – eine denkbar enge Verbindung. Seinen amor patriae, den er auch als eine gewisse obligatio patriae

77 Vgl. Vadianus (Anm. 1), S. 168: Cui Gallus quidam e Scotia profectus, originem praebuit, vir tam vitae sanctimonia, quam rerum omnium contemptu, et spontaneae paupertatis voto clarus: qui annis retro fere nongentis a Rhetorum oppidulo pervetusto Brigantio digressus, cum in montana abiisset, eremi quaerendae gratia, in loco deserto antea feris et sylvarum asperitate horribili, tenuibus iactis fundamentis (tam exilia magnarum rerum exordia esse solent) urbi cum primis celebri nescius ac nolens auspicatissimum initium praebuit. 78 Kugler (Anm. 52), S. 20. 79 Vadianus (Anm. 1), S. 168 80 Die Familie von Watt war durch den Leinenhandel begütert und einflussreich geworden. Vadians Vater war zudem ein Ratsmitglied.



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darstellt, versieht anhand der rhetorischen Fragen er mit einem apologetischen Unterton. So postuliert er die Normalität eines Pflichtgefühls, einer Dankbarkeit gegenüber der patria und legitimiert damit die überschwängliche Lobrede. Als weiteres apologetisches Argument fügt er das Streben nach der Wahrheit an, das studium veritatis. Er halte es eigentlich für ratsam, auf Verherrlichung zu verzichten, beteuert er, ne quis amore me magis quam studio veritatis motum, ut plura de ea referam, existimet.81 Er habe das nämlich in einem anderen Werk schon einmal unternommen und werde sich wieder um ein Lob auf die Heimat bemühen, damit ihm niemand vorwerfen könne, er sei ihr gegenüber undankbar gewesen.82 So hebt er die Annehmlichkeit, die der Ort den Bergen und Flüssen verdankt, sowie die gute Luft hervor. Die Bewohner der Stadt werden durch die Tugenden religio, prudentia, aequitas und humanitas zu gleichgestellten und anständigen, ja gebildeten Menschen. Neben den famigerata per Europam mercimonia rühmt Vadian auch die studia probatissima. Seine Worte, die neben der Bildung und Wirtschaft der Stadt auch ihre Regierung in Kriegs- und Friedenszeiten berücksichtigen, inszeniert er als notwendig, aber der Würde der Sache kaum genügend.83 Mit der prudentia civium bringt Vadian eine Tugend ein, die gemäß Schirrmeister „einem monarchischen Herrscher zugedacht“84 wird. In der Rede an Maximilian (ad imperatorem Maximilanum oratio) hatte Vadian die administratio belli pacisque als Schlüssel zur Erlangung von Unsterblichkeit für einen Kaiser bezeichnet und erklärt, dass beides summam prudentiam erfordere.85 Das große Selbstbewusstsein, der Stolz auf die eigene Herkunft und auf die Leistung der Heimatstadt manifestieren sich hier, auch wenn sich Vadian durchaus üblicher Topoi

81 Ebd., S. 168 f.: [Damit niemand denkt, dass ich mehr von der Leidenschaft als vom Streben nach der Wahrheit bewegt werde, so dass ich mehr über diese Sache berichte.] 82 Ebd., S. 169: Alio in opere conati sumus, et porro ubi poterimus, conabimur, ne quis erga patriam ingratos nos fuisse aliqua in parte obiicere queat. 83 Vgl. ebd., S. 169: Quod si loci commoditatem ob montes, ob flumina, ob aëris gratissimam salubritatem, et coeli affluxum minime noxium, si civium religionem, prudentiam, aequitatem, humanitatem, belli pacisque administrationem, non satis pro rei dignitate retulero, si studia probatissima, et famigerata per Europam mercimonia, non fuero pro dignitate consecutus, veniam mihi posteri dabunt, quod primus illa fuerim ausus. 84 Albert Schirrmeister: Freiheit und Sitten der Schweizer: politische Semantik in Schriften Joachim Vadians. In: Acta conventus neo-latini Upsaliensis. Proceedings of the fourteenth International Congress of Neo-Latin Studies (Uppsala 2009). Hg. von Astrid Steiner-Weber, Bd. 2, Leiden 2012, S. 955–964, hier S. 963. 85 Vadian (Anm. 25), S. 52: Et enim, cum duo sint quibus coelos apprehendisse boni imperatores videntur, bellorum videlicet et pacis administratio, quorum alterum animi magnitudinem, alterum iusticiam, utrumque certe summam prudentiam sibi vendicat, non facile video, ab utro quis in rerum tuarum commemoratione commodius ordiri queat.

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bedient. Er beansprucht Naturverhältnisse, Tugenden, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die keinen Zweifel an einer hohen Zivilisations- und Bildungsstufe lassen, für sich und seine Heimat. Seine familiäre Verbindung mit der Stadt sowie deren Potenzial hebt er im Folgesatz hervor, als er seinen Hoffnungen Ausdruck verleiht, dass sein Bruder diese ersten Versuche eines würdigen Loblieds auf die Heimat einst weiterführen und vollenden werde.86 Wie ein Brief von 1518 zeigt,87 war Melchior von Watt war seinem älteren Bruder sehr dankbar für die namentliche Nennung und die rühmenden Worte88, mit denen sein Bruder ihn öffentlich der Leserschaft als löbliches Beispiel St. Gallischer Nachwuchsgelehrter präsentiert hatte. Selbstbewusst widmet Vadian der eigenen Familie und der Heimatstadt sowie seinen darauf bezogenen Ambitionen einen Platz im Kommentar. Die Darstellung St. Gallens sozusagen als Bildungsstadt am Rhein muss sicherlich im Zusammenhang mit Vadians Abschied von der Universitätsstadt Wien gelesen werden, denn nicht überall in seinem weiteren Gelehrtennetzwerk stieß dieser Schritt auf Verständnis. Etwa Georg Tannstetter, genannt Collimitius, ein alter Freund Vadians, mit dem er sich besonders über geographische und astronomische Fragen austauschte,89 stand den Helvetiern und ihren Verbündeten ablehnend gegenüber.90 Da St. Gallen ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft war, sah sich Vadian, der den Beinamen Helvetius benutzte, oft einem unterschwelligen Barbaries-Vorwurf ausgesetzt, welcher sich ganz allgemein gegen die Eidgenossen und ihre Verbündeten wandte. Auf seinen Entscheid, Wien und die Universtät zu verlassen, um in St. Gallen unter anderem als Wegbereiter der Wissenschaften91 zu wirken, reagierte Lucas Alantsee (der Verleger der ersten Edition der Mela-Kommentare) 1519 in einem Brief an Vadian mit offener Polemik:

86 Vadianus (Anm. 1), S. 169: Et plerique qui post me aliis erunt in annis, nostra audacia ducti fortasse meliora proferent. Quorum e numero futurum speramus, Melchiorem Vadianum fratrem nostrum ea etiamnum iuvenem indole praeditum, ut polliceri mihi ausim, modo bonus genius vitae dux fuerit, consarturum eum post nos quicquid disparibus studiis occupatae vires nostrae inabsolutum ediderint. 87 Emil Arbenz: Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen. II. 1519–1522. St. Gallen 1894, S. 193 f., Nr. 127: Melchior von Watt an Vadian, Wien 1518: et gratias non minus ago tibi qui tanti me in commentariis tuis in Melam facis, quam si defuncto mihi vitam restituissem [sic!] idem certe praestans. 88 Vadianus (Anm. 1), S. 169. 89 Näf 1944 (Anm. 5), S. 180 f. 90 Näf 1957 (Anm. 4), S. 86, siehe da den Verweis auf den Brief aus der Vadianischen Briefsammlung II Nr. 177 in der Anmerkung 113. 91 Dazu ebd., S. 85.



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[…] Und ains gefelt mier an euch nix, mein Herr doctor, dass ir von der universitet zů groben pauern gezogen habt: sy wissent nit, waβ gelert Leytt send. Wo ewer kunst hie geacht wer worden […] für gold unnd margariten, so ist ess pey den pauern kom kiselston; sy verstand ess nit. Ich wolt euch raten, dass ir widerumb gen Wienn kömbt; do sent glertt leytt, als ir wist, unnd nembt ewer hausfro mit; eβ wiertt ir hie paser gefallen als in Schweitz. […]92

Für Alantsee kam Vadians Rückkehr nach St. Gallen einer Rückkehr in die Schweiz gleich  – dass Vadian seiner patria St. Gallen, aber im weiteren Sinne auch der Sache der Helvetier, nützlich sein wollte,93 konnte er nicht nachvollziehen. Was kann ein Gelehrter schon wollen in einer Stadt ohne Universität und unter Bauern, die nichts von den Künsten verstehen? Mit der Bezeichnung „Schweitz“ benutzt Alantsee eine in der deutschen Chronistik seit der Schlacht von Sempach 1386 verbreitete und bei den Eidgenossen oft als Beschimpfung wahrgenommene Bezeichnung, in der die Volksetymologie mitschwang, dass die „Schweizer“ eigentlich Sachsen seien, die einst von Karl dem Großen in die Alpen zum „schwitzen“ bzw. zum Bewachen der Pässe verbannt worden seien.94 Es handelt sich hauptsächlich um eine Bezeichnung der negativen Außensicht, ähnlich wie hier auch die „pauern“ abwertend verwendet werden.95 Alantsee bewegt sich mit seinem Bild der ungebildeten, ja bildungsfeindlichen Schweizer durchaus im üblichen Rahmen der Polemik, die sich wahlweise auch der Beschimpfung als Sodomiten (Kuhschweizer) oder auch jener als aufmüpfige und

92 Arbenz (Anm. 87), Nr. 172: Lukas Alantsee an Vadian, Wien 1519. 93 In einem Brief an Peter Falk, einen Freiburger Ratsherrn, erzählt Vadian, dass die Verhandlungen mit St. Gallen (patria) abgeschlossen seien und er sich nun dort niederlassen werde. Er betont, dass er sich schon länger verpflichtet fühle, sowohl St. Gallen als auch der Eidgenossenschaft nützlich zu sein: Id consilium me ita dudum illexit, ut non tam patriae quam communi Helvetiae nostrae omnia libens velim, si unquam is esse possem, quem esse me iam nunc multi falso existimant. Siehe Brief Nr. 6, Vadian an Peter Falk, St. Gallen 1518 in Emil Arbenz, Hermann Wartmann: Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen. VII. Ergänzungsband. Nachträge aus den Jahren 1513–1550. St. Gallen 1913, S. 10 f. Gemäß Rüsch kennzeichnet dieser Brief den Übergang Vadians aus der wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit in Wien zur Rückkehr in die Vaterstadt und die Eidgenossenschaft; siehe Joachim Vadian: Ausgewählte Briefe. Hg. von Ernst Gerhard Rüsch. St. Gallen 1983, S. 23. 94 Claudius Sieber-Lehmann: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft. Göttingen 1995, S. 204 und ebd. Anm. 222. 95 Ebd., S. 221–223. Die Eidgenossen galten im 15.  Jahrhundert als Adelsfeinde, das Bild des frommen edlen Bauern in Liedern und Chronistik spricht für den Versuch einer Umwertung der Verunglimpfung. Von einem eigentlichen „bäuerlichen Nationalbewusstsein“ (S. 223) kann gemäß Sieber-Lehmann im 15. Jahrhundert aber noch keine Rede sein.

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herrenlose Umstürzler, die sich mit ihrem Streben nach Freiheit gegen die Dreiständeordnung auflehnten, bediente.96

4.2 Apologie der Helvetii und die Relativierung der Niederlage bei Marignano Ähnlich wie die deutschen Humanisten als Reaktion auf die Polemik des italienischen Humanismus es gegen innen als ihre Aufgabe sahen, die Musen bzw. die Gelehrsamkeit in den nördlichen Ländern heimisch zu machen,97 sah auch Vadian die Notwendigkeit, die Wissenschaften in der Heimat zu fördern, um gewissermaßen ‚konkurrenzfähig‘ zu werden. Gleichzeitig war es wichtig, gegen außen literarische Erfolge und die Brillanz ‚helvetischer‘ Gelehrter zu feiern, um Barbaren- bzw. Bauernvorwürfen den Boden zu entziehen. Er stand dabei nicht allein. Denn, wie Maissen festhält, war ähnlich wie in ‚Deutschland‘ „das Projekt einer gesamteidgenössischen Geschichte eine kollektive und nach der Reformation konfessionsübergreifende Bemühung“98 in der damaligen Schweiz. Die bereits erwähnte Würdigung des Bruders Melchior spiegelt das ebenso wie ein Brief an Zwingli von 1513. Hier lobte Vadian die literarische Kunst in dessen Beschreibung des Pavierzugs der Helvetier von 1512 und erklärte: congratulor nostris, quod viros nanciscuntur in dies doctiores, quorum opera, quae gesta sunt, insigniter ad posteros transmittantur.99 Noch in demselben Brief fasst Vadian schließlich sein Verhältnis zur Eidgenossenschaft so zusammen: Amo totam Hel-

96 Ausführlich zu den Invektiven gegen die Schweizer vgl.: In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532. Hg. von Claudius Sieber-Lehmann, Thomas Wilhelmi. Bern u. a. 1998, S. 1–21, hier besonders S. 7, 13. 97 Hirschi (Anm. 44), S. 302–319, unterscheidet bei der antibarbaries der deutschen Humanisten eine innere und äußere Front: Im eigenen Kreise wurde die Notwendigkeit einer Bildungsreform und der Ausmerzung der barbaries betont, gegen außen hin wurde Deutschland als der Nährboden von Zivilisation und Kultur verteidigt. 98 Thomas Maissen: Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio. In: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack, Gerrit Walther. Göttingen 2002, S. 210–249, hier S. 220. Als beteiligte Gelehrte nennt Maissen Heinrich Glarean, Joachim Vadian, Oswald Myconius und Peter Falck für die Jahre um 1520, in den 30er Jahren sieht er dann Tschudi, Glarean, Rhenanus und Münster in dieser Aufgabe verbunden. 99 Arbenz, Wartmann (Anm. 93), S. 3, Brief Nr. 1: Vadian an Ulrich Zwingli, Wien 1513: [Ich beglückwünsche die Unseren, dass sie von Tag zu Tag gelehrtere Männer bekommen, deren Werke ausgezeichnet überliefern, was sie geleistet haben.]



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vetiorum communitatem et omnium salutem desidero.100 Dieser amor Helvetiae kommt im Rhein-Lemma des Kommentares nach Vadians laus patriae als Lob der Schweizer inklusive einer historiographischen Abschweifung zum Ausdruck. Dort schreibt Vadian neben der Marginalie Helvetii: IUXTA patriam intra Rhenum et Rhodanum Helvetii sunt, quibus ipsis paginae nostrae debetur locus.101 Auch hier unterstreicht der Humanist seine Verbundenheit sowie seine Verpflichtung und präsentiert sich selbst als helvetischer Gelehrter. Rhein und Rhone dienen als inklusive Grenzen, die angrenzenden Germanen bleiben ausgeblendet. Vadian nimmt umstrittene Seiten der Helvetier in den Blick, formuliert dabei die gegenwärtige Situation durchweg positiv: Liberi illi hodie, et suis iusti legibus, armis viam faciunt, ubi aut religioni, quam peculariter observant, aut aequitati suus non datur locus.102 Wie andere helvetische Gelehrte der Zeit, bei denen die libertas und der Kampf um sie als einende Gemeinsamkeit der Eidgenossen dargestellt wird,103 streicht auch Vadian als erstes die Freiheit heraus. Die Bemerkung, dass die Helvetier nicht nur liberi, sondern auch iusti (und das mit eigenen Gesetzen) seien, sowie ihre Darstellung als Krieger im Dienste von Religion und Gerechtigkeit, negieren indirekt Invektiven, die den Helvetiern Gottlosigkeit, Grausamkeit im Krieg (Schweizer Söldner waren berüchtigt dafür, dass sie keine Gefangenen machen würden) und illegitime Freiheit, errungen durch Ungehorsam gegen die Obrigkeit, zum Vorwurf machten.104 Dass Kriegsbegeisterung und militärische Stärke hier weder Makel noch Merkmal von Barbarentum ist, betont Vadian als Besonderheit: Bellicosissimi vero, et quod in armorum studio raro alioqui cernitur, mire humani et mansueti.105 Kriegstüchtigkeit vereint mit Bildung oder Kultiviertheit und Sanftmut, eine seltene und umso lobenswertere Kombination. Dass sowohl bei Vadian als auch bei Glarean die Kriegstüchtigkeit stets im positiven Sinne mit bellicosa gens, bellicosissimus oder bellipotens umschrieben wird

100 Ebd., S. 5, Brief Nr. 1: Vadian an Ulrich Zwingli, Wien 1513: [Ich liebe die ganze Gemeinschaft der Schweizer und ihrer aller Wohl wünsche ich.] 101 Vadianus (Anm. 1), S. 169: [Neben meiner Heimat, innerhalb von Rhein und Rhone leben die Helvetier, denen selbst ein Platz in unserer Schrift gebührt.] 102 Ebd., S. 169: [Heute sind jene frei, und rechtschaffen mit eigenen Gesetzen, mit Waffengewalt schaffen sie einen Weg, wo entweder der Religion, die sie besonders hoch achten, oder der Gerechtigkeit ihr Platz vorenthalten wird.] 103 Vgl. Thomas Maissen: Ein „helvetisch Alpenvolck“. Die Formulierung eines gesamteidgenössischen Selbstverständnisses in der Schweizer Historiographie des 16.  Jahrhunderts. In: Historiographie in Polen und der Schweiz. Hg. von Krzysztof Baczkowski und Christian Simon. Krakow 1994, S. 69–86, hier S. 74. 104 Zu den Invektiven vgl. In Helvetios (Anm. 96), S. 7–20. 105 Vadianus (Anm. 1), S. 169: [Sie sind in der Tat äußerst kriegslustig und, was bei Kriegsbegeisterung selten gesehen wird, erstaunlich kultiviert und sanftmütig.]

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und als für den Erhalt der Freiheit notwendige Eigenschaft verstanden wird, zeigt Schirrmeister in einem Aufsatz über die politische Semantik in den Schriften Vadians.106 Nach der Würdigung der Furchtlosigkeit und der besonderen Gleichheit im Krieg, in dem für alle dasselbe vitae mortisque periculum107 gelte, schlägt der Humanist nun aber in Bezug auf das oft allzu grosse Ungestüm der Helvetier kritische Töne an und zieht den Schluss, dass mit magna industria108 gekämpft werden müsse. Die Bemerkung Haud frustra Palladem, galea, aegide, et hasta armatam vetusti, hoc est doctissimi Poëtae finxerunt109 leitet zum Fazit über, dass den Körperkräften stets die Zügel der Vernunft anzulegen seien. Das sei zwar bei den Helvetiern in der Regel der Fall, aber es sei auch normal, dass Fehler begangen würden. Noch bevor Vadian sagt, was ihn zu diesen Überlegungen veranlasst, wird eine Verteidigungshaltung deutlich sichtbar, wenn er weiter ausführt, dass Irren wohl schändlich sei, es aber sicherlich auch keine wahrhafte Tugend ohne Irrtum geben könne – denn erst dadurch werde man verständiger. Die Fehler gar brächten die Liebe zur Tugend erst hervor.110 Vadians Plädoyer für die Irrtümer gipfelt in der Feststellung: Nec est in toto inquirendae prudentiae genere maior virtutis fomes, quam quum saepe errando, saepe periclitando, sine magno incommodo nostro tandem quid pro salute agendum sit cernimus.111 [Es gibt nämlich bei jeder Art, Klugheit zu suchen, keinen besseren Antrieb zur Tugend, als wenn wir durch häufiges Irren und Riskieren, ohne dass es uns zum Schaden gereicht, schließlich sehen, was für die Rettung getan werden muss.]

Irrtümer oder Niederlagen sind also vernachlässigbar, sofern sie keinen Schaden anrichten, sondern den richtigen Weg aufzeigen. Die Frage nach dem Grund für diesen Gedankengang stellt Vadian mit quorsum haec?112 gleich selbst. Er erklärt, dass ihm die Schlacht von Marignano (1515) in den Sinn komme. Die Schlacht,

106 Schirrmeister (Anm. 84), S. 963. 107 Vadianus (Anm. 1), S. 169: [Gefahr für Leben und Tod]. 108 Ebd., S. 169. 109 Ebd., S. 169: [Nicht umsonst haben also die gelehrtesten Poeten Pallas bewaffnet mit Helm, Schild und Lanze ersonnen.] 110 Siehe ebd., S. 169: Id quod in Helvetiorum castris alioqui peculiariter, et nullo nesciente solet retineri. Verum semel iterumque pecasse quid obsit? Errare turpe videtur, esto: at certe nulla solida sine errore virtus. Tunc enim cautius sapimus, quum virtutis amorem nobis commissi errores peperere. 111 Ebd., S. 169. 112 Ebd., S. 169.



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an der auch St. Galler Kontingente teilnahmen, stand im Kontext der Mailänderkriege und stellte die erste große Niederlage der Eidgenossen dar. Die Expansionspolitik gaben sie danach auf. Sieger war der französische König François I., der etwa ein Jahr später nach längeren Verhandlungen den „Ewigen Frieden“ mit der Eidgenossenschaft und den zugewandten Orten schloss.113 Im Rahmen dieses unbefristeten Friedensvertrages kam es zu Kriegsentschädigungen des französischen Königs zu Gunsten der Eidgenossen, die zudem Handelsprivilegien in Mailand und der Messestadt Lyon erhielten. Außerdem kam es zu Pensionszusicherungen für einige zugewandte Orte. Der Ewige Frieden war gewissermaßen der erste Schritt zum Soldbündnis mit Frankreich von 1521.114 Hierhin also, zur Schlacht von Marignano, führen Vadian seine Überlegungen zum Nutzen von Fehlern. Sie bereiten eine historiographische Beschreibung der Schlacht und die apologetische Erklärung der Niederlage vor. Vadian übt dabei Kritik, rechtfertigt die Helvetier aber auch und verweist auf die Missgunst, die den Helvetiern allenthalben entgegenschlage. Wenn Vadian hier mit der Aussage nec enim facile dixerim quantam invidiam eius gentis felicitas passim nutriat115 die Niederlage als willkommenen Grund zur Schadenfreude der Neider des bisherigen Erfolges sieht, klingt hier seine Rede auf Kaiser Maximilian aus dem Jahr 1515 wieder an, in der er die Eidgenossen nach dem Lob ihrer Kriegstüchtigkeit strenui semper rerum imperialium propugnatores116 nennt und erklärt: Si sunt qui aliter sentiunt, malunt illi quidem per invidiam dissentire quam probare verum.117 So ist der Verweis auf die Neider eine weitere defensive Reaktion auf Polemik. Nach einer ausführlichen und emotionalen Darstellung der Niederlage schließt Vadian den historiographischen Einschub, indem er den Mythos der bellicosissimi Helvetii in ihrem Versagen erneut beschwört und den Ausgang der Schlacht pathetisch zu einem Ausnahmeereignis erklärt: Quo primum tempore,

113 Siehe Hervé de Weck: Marignano, Schlacht von (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8896.php, 13.09.2013). Siehe auch Bonorand (Anm. 31), S. 70. Dort fasst Bonorand Vadians Notizen in der Materialsammlung Epitome zur Schlacht von Marignano zusammen. Offenbar führte Vadian eine Liste der Gefallenen St. Gallens. 114 Siehe André Holenstein: Ewiger Frieden (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8898.php, 13.09.2013). 115 Vadianus (Anm. 1), S. 169: [Nicht leicht nämlich könnte ich sagen, wie sehr überall das Glück dieses Volkes Missgunst nährt.] 116 Vadian (Anm. 25), S. 62, in der Übersetzung von M. Gabathuler (S. 63). 117 Ebd., S. 62: [Wenn es Leute gibt, die anders denken, so wollen diese aus Neid lieber eine andere Meinung haben als die Wahrheit anerkennen], nach der Übersetzung von M. Gabathuler (S. 63).

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quod in hominum memoria sit, Helvetica acies inclinari visa est.118 Die Niederlage relativiert Vadian danach, indem er auf den Ewigen Frieden anspielt und behauptet, dass der französische König, der potentissimus rex, nach dem Sieg  – noch blutbefleckt – Gesandte zu den Helvetiern geschickt habe, um einen bezahlten Frieden auszuhandeln. Vadians Meinung nach haben die Eidgenossen so in der Niederlage mehr erreicht, als andere im Sieg.119 Der umfangreiche Abschnitt zur Schlacht von Marignano wird zu einem wichtigen Beitrag gegen antischweizerische Polemik und hämischen Spott. Der Bestand der eidgenössischen Kampfkraft wird als weiterhin unerschütterlich festgeschrieben. Außerdem bereitet diese historiographisch-politische Beschreibung der Schlacht den Katalog der eidgenössischen Städte und eine laus Helvetiorum vor. Vadian bündelt die Aufmerksamkeit der Leser erneut und weist mit einer Marginalie auf den Themenwechsel hin, den er im Text mit den Worten Sed nimium regredior, revertamur ad instituta120 einleitet.

4.3 Selbstinszenierung und Umdeutung des Bauernvorwurfs in der laus Helvetiorum Das eigentliche Vorhaben, die descriptio Helvetiae, nimmt er mit einem Städtekatalog wieder auf, wobei er zu Beginn mit Oppida Helvetiorum foederatorum potissima sunt Tigurum, cum situ tum potentia insigne, Berna, Lucerna121 die bei vielen helvetischen Topographen übliche hierarchisch-historische Reihenfolge von Zürich, Bern und Luzern einhält.122 Dann aber fährt Vadian nicht mit der Waldstätte, Zug und Glarus fort, sondern mit Städten, die für ihn und seinen Freundeskreis wichtig waren: Großgeschrieben sticht BASILEA, der Druckort der zweiten Auflage,123 hervor, dann kommt Freiburg, die Heimatstadt des Freundes Peter

118 Vadianus (Anm. 1), S. 170: [Damals wurde zum ersten Mal seit Menschengedenken gesehen, wie eine helvetische Schlachtlinie wankte.] 119 Ebd., S. 170: Scimus Franciscum potentissimum Galliarum [sic!] regem, post victoriam illam suam pari clade cruentam, evestigio legatos misisse pacis gratia cum Helvetiis ineundae: […] Ea nostratium clades est videlicet, quando victis Helvetiis id obtigit, quod paucissimi victores consequi solent. 120 Vadianus (Anm. 1): [Aber ich bin allzu sehr abgeschweift, lasst uns zum eigentlichen Vorhaben zurückkommen.] 121 Vadianus (Anm. 1), S. 170: [Die mächtigsten Städte der Helvetier sind Zürich, auffallend sowohl durch seine Lage als auch besonders durch seinen Einfluss, Bern, Luzern.] 122 Dazu Maissen (Anm. 103), S. 73. 123 Basel wurde in der ersten Edition nicht in Kapitalien gedruckt.



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Falck,124 Solothurn, wo Bekannte Vadians zeitweise wirkten, und das gemeinsam mit Freiburg dem Bund beitrat. Darauf folgt Schaffhausen und trans Rhenum dum haec scribebam, perpetuo foedere socia facta Rotuuila,125 wo Vadians Gelehrtenfreunde Glarean und Myconius die Lateinschule besucht hatten. Vadian folgt mit dem zweiten Teil des Städtekatalogs (Rottweil ausgenommen) der Reihenfolge der letzten Städten in Glareans descriptio Helvetiae.126 Nachdem so die Urbanisierung festgeschrieben ist, bindet Vadian auch die von der ‚Zivilisation‘ weiter entfernten Dörfern in die Negierung des Barbarentums ein: In montanis altioribus pagi quidem sunt, sed qui vetustam illam et imperiorum altricem parsimoniam atque virtutem adhuc retineant.127 [In den höheren Gebirgsgegenden gibt es freilich Dörfer, aber diese haben bis jetzt jene alte Sparsamkeit, auch Ernährerin von Herrschaften, und die Tüchtigkeit bewahrt.]

Dörfer sind hier nicht der Inbegriff ungeordneten und bäuerlichen Zusammenlebens, sondern der Hort edler alter Eigenschaften wie parsimonia und virtus. Dadurch können sie den Ruhm, den die Städte verleihen, sogar steigern. In der ersten Edition von 1518 schloss Vadian hier sein apologetisches Lob auf Heimat und Helvetier ab. Seine ‚Schweizer‘ Kollegen schätzten schon damals den Beitrag, den Vadian damit für die Bildungsreputation der helvetischen Gebiete leistete. Dies zeigt etwa ein Brief des Johannes Froben an Ulrich Zwingli aus dem Jahr 1519, in dem Glarean und Vadian als duo Helvetiorum decora, welche das Licht der Antike bringen, bezeichnet werden. Froben erklärt: quos doctis omnibus probari magnopere gaudeo.128 Die Wettbewerbsfähigkeit der helvetischen Gelehrsamkeit konnte denn per se schon zur Widerlegung der Bauernpolemik beitra-

124 Falck spielte in der Zeit des Pavierzuges (1512) eine wichtige Rolle in der Eidgenossenschaft und war 1513–1514 auch als eidgenössischer Gesandter in Mailand. Er gilt als Begründer der humanistischen Bewegung Freiburgs und war neben Vadian u. a. auch mit Zwingli, Myconius und Glarean befreundet. Siehe Ernst Tremp: Falck, Peter (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14986.php, 13.09.2013). 125 Vadianus (Anm. 1), S. 170: [jenseits des Rheins Rottweil, das, während ich dies geschrieben habe, durch einen ewigen Bund zum Verbündeten gemacht worden war]. Das alte Bündnis der Eidgenossenschaft mit Rottweil wurde 1519 im „Ewigen Bund“ unbefristet verlängert. 126 Vgl. Henricus Glareanus: Helvetiae Descriptio Panegyricum. Hg. und übersetzt von Werner Näf. St. Gallen 1948, Vers 290–336. 127 Vadianus (Anm. 1), S. 170. In der ersten Edition von 1518 schloss Vadian das Rhein-Lemma nach diesem Abschnitt mit den Worten Nec adeo est aspera tellus quin et fortes viros alat et genuinae incolarum plarsimoniae abunde faciat satis. Ad alia pergendum est. Vadianus (Anm. 2), S. 94v. 128 Froben an Zwingli, 24. Mai 1519, Brief Nr. 80, aus Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Vol. 7, (Leipzig: Heinsius, 1911) (Corpus Reformatorum 94), online zur Verfügung gestellt von „Huldrych

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gen. Die Aktualität dieses Themas zeigt ein Wir-Gefühl unter den ‚Schweizer‘ Humanisten. Deutlich wird das in einem Brief des Rhenanus von 1519 an Zwingli, in dem er zu Vadians Kommentaren schreibt: Regionis huius non ultimus decus Ioacimus Vadianus elegantissimos in Melam commentarios elucubravit, in quibus patriam communem pulchre celebrat, ut habet amoenissimo ingenio parem stilum. [Joachim Vadian, keineswegs die unbedeutendste Zierde dieser Region, hat einen hoch gelehrten Kommentar zu Mela verfasst, worin er unser gemeinsames Vaterland recht artig preist, hat er doch einen Stil, der zu seiner herausragenden Begabung passt.]129

Vadian fungierte offenbar durchaus als Vorzeigegelehrter, auch dank dem Erfolg der Kommentare. Dafür, dass er sich selbst als helvetischer Gelehrter positionierte, fand er in ihrem Kreis Anerkennung. Wohl weil die Rückkehr nach St. Gallen eine Verteidigung seines neuen Wirkungsgebietes wichtiger machte, ging Vadian in der Ausgabe von 1522 noch einen Schritt weiter. Um die erstarkende humanistische Bildung der Region zu unterstreichen, schloss er die Aufzählung der Oppida Helvetiorum potiora mit dem Hinweis auf ein Werk ab, in dem sich sozusagen die Idee einer Helvetia illustrata manifestierte: Extat de his non inelegans Catalogus ab Henrico scriptus Glareano et nuper Osvaldi Myconii Lucernatis commentariolis haud quaquam indoctis illustratus.130 [Es gibt über diese Städte einen sehr gebildeten Katalog, geschrieben von Heinrich Glarean und neulich mit den äußerst gelehrten Notizen des Luzerners Oswald Myconius erläutert.]

Mit der descriptio Helvetiae Heinrich Glareans entkräftet Vadian den BarbariesVorwurf in der Präsentation dieses epideiktischen Opus. Passenderweise zeichnet sich das Werk gerade dadurch aus, dass Glarean die antiken Autoren systematisch für die Darstellung der Schweizergeschichte und -geographie beizog und den Zusammenhang mit der römischen Literatur nutzte, um die Vorwürfe gegen

Zwingli Briefe: Digitale Texte“ (www.irg.uzh.ch/static/zwingli-briefe/index.php?n=Brief.80, 16.09.2013). 129 Text und Übersetzung zitiert nach Felix Mundt: Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien. Tübingen 2008, S. 514. Der ganze Brief (Nr. 78) steht auch online zur Verfügung von „Huldrych Zwingli Briefe: Digitale Texte“ (www.irg.uzh.ch/ static/zwingli-briefe/index.php?n=Brief.78, 16.09.2013). 130 Vadianus (Anm. 1), S. 170.



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die ‚barbarische‘ Eidgenossenschaft zu entkräften.131 Außerdem verfasste Vadian für die von Oswald Myconius kommentierte Ausgabe von 1519, auf die hier angespielt wird, ein Widmungsgedicht auf Helvetia.132 Hier bezeichnete er im ersten Vers Helvetia als die Amme der Freiheit und später erklärte er, dass die Musen die helvetischen Berge besuchten, und die Männer der Wissenschaft ein goldenes Zeitalter einläuteten.133 Auch die Kommentare des Myconius selbst stehen für das Bestreben, humanistisches Wissen zu verbreiten, denn sie versuchen Glareans sehr gelehrte Schrift für ein weiteres Publikum zugänglich zu machen. Myconius verweist übrigens an verschiedenen Stellen auf Vadians Werk. Daher steht dieser non inelegans Catalogus nicht nur für eine die Schweiz verherrlichende Dichtung, sondern auch für ein pädagogisch-didaktischen Anliegen des Schreibers selbst. Vadian hebt nach der Nennung Glareans zu einer laus Helvetiorum an. Wie im vorher erwähnten Gedicht an Helvetia geht er zuerst auf die Freiheit der Helvetier ein, die in der Polemik oft als illegitime Anmaßung aufgefasst wurde: Illud non praeterierim, Helvetios Romanis iam olim foederatos fuisse, ea tantum conditione adiecta, ne in cives reciperentur, ne quis hodiernum libertatis studium aut novum esse his gentibus, aut prorsus tale quid permitti eis non debeat, occlamet.134 [Jenes wollte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Helvetier einst mit den Römern verbündet gewesen waren, wobei nur diese Bedingung gestellt wurde, dass sie nicht in die Bürgerschaft aufgenommen werden; damit keiner ein Geschrei erhebt, dass das heutige Freiheitsstreben bei diesen Völkern entweder neu sei, oder geradezu etwas, das ihnen nicht erlaubt werden dürfe.]

Dem umstrittenen studium libertatis der Eidgenossen verleiht Vadian mit der Zuschreibung antiker Wurzeln besondere Legitimität. Die Polemik spricht er explizit an und verwirft den Hauptvorwurf eines neuen (studium aut novum esse)

131 Vgl. Veronika Feller-Vest: Glarean als Dichter und Historiker. In: Der Humanist Heinrich Loriti, genannt Glarean, 1488–1563. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. von Ortsmuseum Mollis, Mollis 1983, S. 93–118, hier S. 116 f. Korenjak weist darauf hin, dass Glarean auch im ‚Ausland‘ mit seiner descriptio Helvetiae etwas bewirken wollte. Im Widmungsbrief an den Zürcher Chorherren Heinrich Uttinger finden sich so „heftige Attacken gegen Verleumder der Eidgenossenschaft“. Martin Korenjak: Das Wasserschloss Europas. Glarean über die Schweizer Alpen. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 62 (2012), S. 390–403, hier S. 392. 132 Unter dem Titel Ioachimus Vadianus medicus, orator et poeta laureatus Helvetiam alloquitur; siehe die Edition mit Übersetzung von Näf: Glareanus (Anm. 126). 133 Ebd., Vers 1, 20 und 21 f.: Tandem, terra potens, quae libertatis alumna es / […] Musarumque tuis montibus agmen ovat / […] Iam tibi, quae tardo passu rediere, peritis / En iterum affulgent aurea saecla viris. 134 Vadianus (Anm. 1), S. 170.

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und unerlaubten (aut prorsus tale quid permitti eis non debeat) Freiheitsdranges. Als Autorität für die Tradierung dieses antiken Bündnisses führt er niemand geringeren als Cicero an und stellt später gleich einen Zusammenhang zur aktuellen Praxis verschiedener Soldbündnisse her. Die Verteidigungshaltung bestimmt auch den Schluss der laus Helvetiorum, wo Vadian mit den Worten proinde videmus esse, qui alienae felicitati invidentes non desinant rusticos Helvetiis mores, victum aridum, horridam atque incultam vitam obiicere135 den gängigen Bauernvorwurf thematisiert, der dem Barbaries-Vorwurf stark ähnelt. Anschließend beanstandet er, dass überhaupt nicht beachtet würde, dass gerade die als Laster verhöhnten Umstände Tugenden hervorbringen, die für das Wachstum von Herrschaftsgebieten, für Siege, Gesetzgebungen und die Bewahrung von uralten Sitten verantwortlich seien. So seien negative Eigenschaften wie ambitio [„Ehrsucht“] und avaritia [„Habgier“], die atroces civitatum pestes, stets vernachlässigt worden.136 Erneut greift Vadian auf die antike Autorität Ciceros zurück, um mit einer Stelle aus der Rede pro Roscio für die nötige Überzeugungskraft zu sorgen: Vere enim non minus quam eleganter M. Cicero in diserta illa Oratione, quam pro Roscio habuit, vitam rusticam, quam per contumeliam Erucius agrestem vocabat, parsimoniae, diligentiae, iustitiaeque magistram esse dixit.137 [Tatsächlich aber sagt M. Cicero sehr elegant in jener wohlgesetzten Rede, die er für Roscio hielt, dass das ländliche Leben, das Erucius bei seiner Beleidigung bäuerisch nannte, die Lehrerin für Sparsamkeit, Sorgfalt und Gerechtigkeit sei.]

Die mit non minus quam eleganter betonte Qualität der Rede verleiht dem Inhalt mehr Gewicht. Die helvetische Gelehrsamkeit führt Vadian über das Zitat gleich am eigenen Beispiel vor – gemeinsam mit der bei Cicero entlehnten Umwertung der vita rustica zur magistra parsimoniae, diligentiae iustitiaeque widerlegt er so den Bauern- bzw. Barbaries-Vorwurf der „Neider“ zweifach. Die laus Helvetiorum entpuppt sich als Verteidigungsrede für die Helvetier, die schließlich gar in Vadians Wunsch gipfelt, dass die vita rustica den Helvetiern erhalten bleiben möge:

135 Ebd., S. 170: [Ebenso sehen wir, dass es Leute gibt, die, weil sie fremdes Glück beneiden, nicht aufhören, den Helvetiern bäuerliche Sitten, eine dürftige Lebensweise, ein ungehobeltes und ungebildetes Leben vorzuwerfen.] 136 Vgl. ebd., S. 170: non admodum memores his virtutibus, quas vitiorum opinione suggilare pergunt imperia crevisse, victorias partas esse, leges sanctas, et avitos mores summa severitate retentos fuisse, ambitione et avaritia atrocibus civitatum pestibus, neglectis. 137 Ebd., S. 170.



Der Rhein, Fluss der Germanen oder der Helvetier? 

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Hanc tantum abest, ut in nostris vitio dandam existimem, ut vehementer etiam optem ne nos recentibus victa moribus illa deserat, et luxui omnia hodie tentanti, simulque avaritiae variis scelerum notis aspersae, facile locum cedat; veterum nimirum cum constantiam, tum innocentiam unice servatura.138 [Weit davon entfernt zu denken, dass dies den unseren als Fehler angerechnet werden muss, wünsche ich sogar vielmehr, dass jene uns nicht besiegt durch neue Sitten verlässt, und dem heute alles versuchenden Luxus und gleichzeitig der mit verschiedenen Schandflecken von Verbrechen beschmutzten Habgier Platz macht; einzig sie wird ohne Zweifel sowohl die Beständigkeit der Alten als auch besonders die Rechtschaffenheit bewahren.]

Vadian erhebt die vita rustica, den Kern der Polemik, zum Hilfsmittel gegen Luxusversuchungen, Habgier und die neuen Sitten. Sie ist zugleich Ursprung und Retterin der helvetischen Tugenden; sie wird zum gemeinsamen, charaktergebenden und daher notwendigen Element – und zwar im gänzlich positiven Sinne. Mit dieser mutatio des Bauernvorwurfs findet die laus Helvetiorum ihren Höhepunkt und das Lemma zum Rhein sein Ende.

5 Der Rhein – der Quelle nach ein ‚helvetischer Fluss‘ Wie aber soll nun diese auffällig ‚schweizerisch‘ und persönlich ausgerichtete Gestaltung des eigentlichen Rhein-Lemmas gedeutet werden? Wenn Vadian in den Lemmata zu Gallia- und Germania-Themen immer wieder alte und neue Barbaries-Vorwürfe mit Hilfe der mutatio temporum und dem Konzept der translatio studii et artium zu entkräften versucht, erscheinen die Helvetier in einem übergeordneten Sinne zu den Germanen gehörig. Der Rhein spielt dabei die Rolle des wichtigsten Flusses und der identitätsstiftenden Grenze mit antiker Tradition – außerdem manifestiert sich seinem Lauf entlang die Entwicklung Germaniens: War er einst die Grenze zu den Barbaren, ist er nun gesäumt von wichtigen und einflussreichen Städten. Neu steht er für die Verbreitung von Kultur und Bildung, für die Ankunft der Musen in der Germania, aber auch für die neue Macht und Bedeutung des Landes. Bemühungen um eine aemulatio und superatio des italienischen Humanismus sowie die Anliegen des Germania illustrata-Projektes leuchten im Zusammenhang mit dem Rhein immer wieder auf.

138 Ebd., S. 170.

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Im Rhein-Lemma selbst aber gelten Vadians laudative und apologetische Beschreibungen einem Bildungsstreit innerhalb der Germania. Ausschlaggebend ist nicht mehr die Konkurrenz zwischen italienischem und deutschem Humanismus, obwohl auch hier ungünstige Darstellungen aus der Antike eine Diskussion anregen. Vadianus Helvetius stellt nun vielmehr Vorurteile in den Vordergrund, von denen er sich speziell als Schweizer Humanist betroffen fühlte. Der Vorwurf barbarisch, ungebildet oder gänzlich unzivilisiert zu sein, traf die der Eidgenossenschaft verbundenen Humanisten, welche sich mit epideiktischer Literatur auf die Helvetia und durch Lehrbemühungen in der Heimat eine bessere Reputation vor den ‚deutschen‘ Kollegen zu erarbeiten versuchten. Die Darstellung der Bodenseeregion und St. Gallens, das Porträt der Eidgenossen, die Apologie der Niederlage von Marignano, das Loblied auf die helvetischen Städte und Tugenden sind gewissermaßen literarische Beiträge zu einer Art Helvetia illustrata. Wenn Vadian im Rhein-Lemma der zweiten Ausgabe von 1522 neu noch auf die kommentierte descriptio Helvetiae Glareans verweist, sowie eine laus Helvetiorum beisteuert, welche besonders den Bauernvorwurf umdeutet, muss das im Zusammenhang mit seiner Rückkehr aus Wien nach St. Gallen gelesen werden. Die Selbstinszenierung als helvetischer Autor und die Aufwertung seines neuen Wirkungskreises wurde zu diesem Zeitpunkt dringlicher. Mit der Verengung des Rhein-Lemmas auf seine Heimat verortet Vadian ihre Würdigung an prominenter Stelle und schreibt gegen die Unterschätzung des Kulturraumes seines zukünftigen Wirkens an. Damit postuliert er die Ebenbürtigkeit der Städte der Eidgenossenschaft sowie St. Gallens mit den großen deutschen Humanistenstädten. Mit Hilfe seiner eigenen Reputation überträgt Vadian die Bedeutung des Flusses auf seine Herkunftsregion und inszeniert sich selbst als wichtigen Vertreter und Förderer ihrer gelehrten Kultur. Implizit bewirkt die Fokussierung des Rhein-Lemmas, dass dem Leser Vadians helvetische Heimat als der Kultur- und Bildungsraum präsentiert wird, aus dem der städtegesäumte und gänzlich germanische Rhein seine Quellen schöpft.

Christoph Galle

hinc ditia Rheni flumina prospectas Die Rheinreise des Erasmus von Rotterdam im Jahr 1514 und ihre literarischen Zeugnisse Erasmus von Rotterdam war zu keiner Zeit länger als acht Jahre an einem Ort.1 Sein auf uns gekommener Briefwechsel weist 666 verschiedene Korrespondenten in 15 europäischen Ländern auf.2  – Zwei Fakten, die bereits erahnen lassen, wie oft der später als Humanistenfürst bezeichnete Rotterdamer unterwegs und auf Reisen war. Vor diesem Hintergrund mag jene Reise, die Erasmus im Sommer des Jahres 1514 von England kommend nach Basel unternahm, als eine von zahlreichen Unternehmungen erscheinen. Bei genauerer Betrachtung fällt indes auf, dass sie innerhalb seiner Biographie sehr wohl von großer Bedeutung ist, ja dass sie geradezu als Wendepunkt bezeichnet werden kann. Die Beweisführung erfolgt in drei Schritten: Zunächst werden die Lebenssituation des Erasmus im Jahr 1514 sowie der Anlass der Reise kurz skizziert. Sodann wird seine Reise, die ihn rheinaufwärts führte, in all ihren Stationen rekonstruiert. Die Quellenbasis ist für dieses Unterfangen vergleichsweise gut und stützt sich vor allem auf seinen Briefwechsel. Gleichsam abschließender Schritt wird eine Würdigung des Oberrheins als Kulturregion des frühen 16. Jahrhunderts sein, da letztlich das Ziel der Reise große Bedeutung für Erasmus hatte.

1 Biographische Skizze des Jahres 1514 und der Anlass der Reise Seit 1506 hielt sich Erasmus auf Einladung des Leibarztes Heinrichs VII. von England mit dessen beiden Söhnen in Italien auf, wo er u. a. zum Doktor der Theologie an der Turiner Universität promoviert wurde. Ihm selbst fehlten die finanziellen Mittel zur Realisierung seines lange gehegten Wunsches, Italien zu bereisen.

1 Vgl. Preserved Smith: Erasmus. A Study of His Life, Ideals, and Place in History. New York 1962, S. 141. 2 Vgl. Chris L. Heesakkers: Correspondance d’Erasme. In: Les grands intermédiaires culturels de la République des Lettres. Études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles. Hg. von Christiane Berkvens-Stevelinck u. a. Paris 2005, S. 29–60, hier S. 45. DOI 10.1515/9783110400281-003

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Im Frühjahr 1509 erreichten ihn zwei Briefe aus England – der eine verfasst von seinem langjährigen Gönner Lord Mountjoy, der andere von William Warham, dem Erzbischof von Canterbury. Von beiden wurde der Rotterdamer aufgefordert, nach England zurückzukehren, da dort unter dem neuen König Heinrich VIII. ein goldenes Zeitalter für die Wissenschaften anzubrechen scheine.3 Tatsächlich folgte Erasmus dem Aufruf, brach umgehend auf und blieb bis 1514 in England – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung 1511, während der er in Paris sein Moriae encomium, das ‚Lob der Torheit‘, in der Offizin des Gilles de Gourmont drucken ließ. Was Lord Mountjoy in seinem Brief geschildert hatte – Ridet aether, exultet terra; omnia lactis, omnia mellis, omnia nectaris plena4 [„Es strahlt der Himmel, es jubelt die Erde; alles ist voll von Milch, Honig und Nektar“] –, sollte für die Lebenssituation des Erasmus nicht gelten: Die Besoldung für seine Lehrtätigkeit an der Universität Cambridge war mehr als dürftig,5 für die zahlreichen Schriften, die während seines Englandaufenthaltes entstanden,6 erhielt er von englischen Druckern nur geringe Tantiemen. Sein Briefwechsel insbesondere der Jahre 1513–1514 zeugt von der prekären Situation, in der er sich befand, und das schlechte Bier in Cambridge, über das er sich beklagte, war bei weitem das geringste Übel.7 Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass ein

3 Vgl. Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami. Tomi XII. Denuo recognitum et auctum per Percy Stafford Allen. Oxford 1906–1958, hier Bd. 1, Nr. 215, S. 449–452. Vgl. auch Anton J. Gail: Erasmus von Rotterdam in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1990, hier S. 41 f. – Im Compendium vitae (Bd. 1, Nr. II, S. 51, Z. 127–129) heißt es dazu: Non defuisset ampla fortuna, nisi mortuo rege Henrico VII et successore VIII amicorum literis amplissima pollicentibus revocatus esset in Angliam. Ebd., S. 452, Z. 82–84: Pecuniarum syngrapham his literis inclusam accipies; quare valetudinem tuam cura et ad nos te quamprimum recipe. Vgl. auch ebd., Nr. 214. 4 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 1, Nr. 215, S. 449–452, hier S. 450, Z. 14 f. 5 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 1, Nr. 233, S. 472 f. 6 Es handelt sich dabei um folgende Titel: Concio de puero Iesu, De ratione studii sowie Moriae encomium im Jahr 1511; De duplici copia verborum ac rerum 1512; De laudibus Argentinae epistola und Parabolae 1513. Vgl. Christoph Galle: Hodie nullus – cras maximus. Berühmtwerden und Berühmtsein im frühen 16. Jahrhundert am Beispiel des Erasmus von Rotterdam. Münster 2013 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 158), S. 397 f., 403. 7 Vgl. dazu: Allen (Anm. 3), Bd. 1, Nr. 234, S. 473 f. Zudem hatte sich die Situation in England nachhaltig verändert: Von einer geistigen Blütezeit war spätestens 1513 keine Rede mehr und Heinrich VIII., vormals Hoffnungsträger vieler Intellektueller, konzentrierte sich fast ausschließlich auf Kriegsvorbereitungen. Die daraus folgende Geldknappheit und Teuerungsentwicklung hatte freilich auch Auswirkungen auf die finanzielle Situation des Erasmus, der auf die Mildtätigkeit seiner Gönner angewiesen war. Ebd., Nr. 288, S. 551–554, hier S. 551 f., Z. 12–14: bellum quod adornatur genium huius insulae subito vertit. Rerum omnium charitas hic indies crescit, decrescit liberalitas.



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einziger äußerer Einfluss genügte, ihn zur Abreise aus England zu bewegen und in der Hoffnung auf verbesserte Lebensumstände andernorts sein Glück zu versuchen. Dieser äußere Einfluss bestand meines Erachtens in der Person des Franz Birckmann8 – oder genauer: in der Mitteilung jenes aus Köln stammenden Buchhändlers, dass verschiedene Offizinen in Straßburg und Basel Bücher des Erasmus drucken wollten.9 Welchen Stellenwert Erasmus unter Humanisten und Druckern des Oberrheins innehatte, verdeutlicht – wie Wilhelm Ribhegge bereits in seiner Erasmus-Biographie hervorhob – exemplarisch das Titelblatt der 1513 in Basel gedruckten Ausgabe seiner Adagia:10 Oben, eingerahmt von den Wappen des Heiligen Römischen Reichs und der Stadt Basel, wird die personifizierte Humanitas in ihrem Wagen von Vergil, Cicero, Homer und Demosthenes voran bewegt. Darunter, gleichsam in Stein gehauen, ist zu lesen: „Des Erasmus von Rotterdam, der Zierde Deutschlands, drei Tausende und fast ebenso viel Hunderte von Adagia.“ – Wer wollte angesichts dieser Worte noch nach dem Grund seiner Abreise aus England fragen?

8 Dazu: Ilse Guenther, Peter G. Bietenholz: Art. Franz Birckmann. In: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Hg. von Peter G. Bietenholz. Bd. 1. Toronto 1995, S. 149 f. 9 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 1, Nr. 283, S. 543–548, hier S. 547, Z. 152–162: In negocio Prouerbiorum pessime sum acceptus ab istis bibliopolis. Quidam ea formulis excudit Basileae, sed ita imitatus aeditionem Aldinam ut parum attentis eadem videri possit. Commiseram exemplar emendatum ac locupletatum Francisco, qui libros ferme omnes solitus est huc importare, ut vel Badio vel ex illius sententia committeret alii. Is bonus vir recta Basileam deportavit, ei in manus dedit qui iam excuderat, ut haec tum demum aedat cum sua divendiderit, hoc est post decennium. Complures item libellos ex Plutarcho ac Luciano versos commiseram Badio tradendos, ut superioribus quos habet adiungeret; et hos illi, uti suspicor, tradidit, utque plures mittam rogat. 10 Der Abdruck des Titelblatts erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Basel. Vgl. www.ub.unibas.ch/cmsdata/spezialkataloge/gg/images/gg0012_002_tit.jpg (Juli 2016). Vgl. auch Wilhelm Ribhegge: Erasmus von Rotterdam. Darmstadt 2010, S. 72.

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Abb.: Titelblatt der Adagiorum chiliades tres; gedruckt von Johann Froben, Basel 1513



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2 Die Rekonstruktion der Reise des Erasmus von Rotterdam von England nach Basel Vor allem auf Grundlage der hervorragenden Edition der erasmischen Korrespondenz ist es möglich, die Reise nach Basel einschließlich der verschiedenen Stationen zu rekonstruieren. Für die jeweilige Dauer des Aufenthalts in den besuchten Orten liegen indes keine gesicherten Daten vor. Wie Brief Nr. 295 beweist, befand sich Erasmus spätestens am 8. Juli 1514 auf dem kontinentaleuropäischen Festland, genauer: auf dem Landsitz seines englischen Gönners Lord Mountjoy in Hammes bei Calais. Von dort reiste er zu Pferd nach Roulers und Gent,11 wo er einige Tage verweilte und u. a. mit dem ihm bereits seit längerem bekannten Kanzler von Brabant, Jean LeSauvage, zusammentraf.12 Von Gent aus führte ihn sein Weg weiter über Bergen13 nach Löwen, wo er am 1. August 1514 eintraf.14 Nach kurzem Zwischenhalt in Liège15 gelangte er nach Mainz16. Hier, so Percy Stafford Allen, der Herausgeber des erasmischen Briefwechsels, habe Erasmus auch

11 Eindrücklich schildert Erasmus in einem Brief vom 30. August 1514, wie sein Pferd scheute und stürzte, er selbst sich derartige Schmerzen zuzog, dass er über nichts anderes denn den Tod nachdenken konnte. Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 301, S. 5–7, hier S. 5 f., Z. 5–30: Vix egressus sum diuersorium quoddam, quod est medio ferme spatio inter Rusellam et Gandavum, cum equus meus visis pannis aliquot humi stratis consternatur, dumque inflexus paro nescio quid dicere ministro, rursum territus equus in diversum fertur, atque ita distorquet imam dorsi spinam ut repente magnis clamoribus cruciatum intolerabilem testari cogerer. Conor ex equo descendere, non possum; minister manibus exceptum deponit; saevit dolor nullis explicandus verbis, maxime si corpus inflexissem. Erectus minus affligebar, sed tamen ipse me non poteram erigere semel incurvatus. Eram illic in agris, nulla diversoria nisi frigidissima et rusticissima, et aberam a Gandavo sex maximis passuum milibus. Sensi ambulatione minus saevire malum, et tamen longius erat iter quam ut vel a sano pedibus confici posset. Aliquanto post cum desperarem, coactus sum experiri num equum possem conscendere; conscendi praeter spem, ambulo lente, fero; iubeo ministrum progredi paulo celerius, fero, tametsi non sine cruciatu. Gandavum pervenio, descendo ex equo, ingredior cubiculum; ibi dolor se totum prodit, maxime a quiete. Stare non poteram, […]. Nec sedere poteram, […]. Ita modis omnibus affectus fui ut nihil nisi de morte cogitarem. 12 Ebd., S. 6, Z. 33–36: Itaque Gandavi dies aliquot commoratus sum […].Offendi hic Praesidem Flandriae, virum in omni literarum genere doctissimum […]. 13 Ebd., Z. 41: Principem Veriensem salutavi Bergis una cum matre. 14 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 298, S. 1–3. 15 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 299, S. 3, hier Z. 1 f.: Deflexi nonnihil ab itinere meo, ut et te veterem amicum meum viderem et urbis tam celebris conspectu fruerer. 16 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 300, S. 3–5, hier S. 4, Z. 8–13: Me tamen nonnullus adhuc habebat scrupulus ne quid scripsisses incautius, quod viderem Episcopi sententiam subtimide scriptam esse ac pene meticulosam, quod adderet ‚haeresim apertam‘ et ‚accedente tractatu‘, donec Moguntiae nactus ipsum libellum, articulos illos ‚haereticos irreverentiales et impios‘ legissem.

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Ulrich von Hutten getroffen – im edierten Material findet sich dazu jedoch kein Beleg.17 Als weitere Stationen sind noch Straßburg und Schlettstadt zu nennen,18 bevor Erasmus kurz nach dem 15. August seinen Zielort Basel erreichte.19 Die Reise von Hammes bei Saint-Omer unweit des Ärmelkanals bis in das oberrheinische Basel hatte damit nach Datierung der Briefe sechs Wochen gedauert. Ob sie ausschließlich zu Pferd oder spätestens ab Mainz auch zu Wasser vorgenommen wurde, ist nicht zu klären.20 Auch eine Berechnung der Entfernung ist daher nur annäherungsweise vorzunehmen: Ohne Berücksichtigung des genauen Verlaufs der Reisewege im frühen 16.  Jahrhundert sind etwa folgende Etappenlängen zu ermitteln21: Etappen

Heutiges Straßennetz (PKW)

Entfernung zu Fuß

Hammes / St. Omer – Roulers

86 km

79 km

Roulers – Gent

57 km

47 km

Gent – Bergen

114 km

75 km

Bergen – Löwen

91 km

78 km

Löwen – Liège

80 km

71 km

Liège – Mainz

279 km

237 km

Mainz – Straßburg

196 km

180 km

Straßburg – Schlettstadt

54 km

45 km

Schlettstadt – Basel

90 km

86 km

1047 km

898 km

Gesamt Mittelwert

973 km

Annähernde Berechnung der Etappenentfernungen

17 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 300, 332. Von der Zusammenkunft geht auch Smith (Anm. 1), S. 130 f. aus, liefert aber ebenfalls keinen Beleg. 18 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 305, S. 17–24, bes. S. 18, Z. 54–58; S. 20 f., Z. 137–147. 19 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 301, hier S. 7, Z. 44 f.: Basileam veni post annunciationis. Die von Allen (ebd.) vorgenommene Korrektur in assumptionis erscheint mir sinnvoll. Die Assumptio Marie virginis, d. h. Mariä Himmelfahrt, datiert auf den 15. August, passt als Reiseende. 20 Eine Reise zu Land wäre wahrscheinlich auf der linken Rheinseite erfolgt. So auch Allen (Anm. 3), Bd. 2, S. 5. 21 Die Daten wurden mit Hilfe des Online-Dienstes von google-maps.de erhoben.



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Die hier vage berechnete Entfernung soll einzig dazu dienen, sowohl die rekonstruierte Reiseroute wie auch die ihr zugrundeliegenden Quellenzeugnisse zu verifizieren. Wie Wolfgang Behringer in seiner Studie zur Kommunikationsentwicklung in der Frühen Neuzeit dargelegt hat, kann für das Spätmittelalter davon ausgegangen werden, dass mit herkömmlichen Transportmitteln eine Entfernung von 900 km innerhalb von 30 Tagen zurückgelegt werden konnte.22 Die für die Reise des Erasmus annäherungsweise ermittelte Distanz von ca. 970 km steht damit in Relation mit einer Reisedauer von ungefähr sechs Wochen – eingedenk der teilweise mehrtätigen Aufenthalte an einem Ort. Das Festland hat er danach wohl in der ersten Juliwoche betreten.

3 Zum Stellenwert der Reise rheinaufwärts innerhalb der Biographie des Erasmus Die Bedeutung der Reise, die Erasmus im Jahr 1514 unternahm, wird deutlich bei einem Blick darauf, was sich insbesondere im deutschsprachigen Raum ereignete und was George Faludy treffend als „wahren Triumphzug“23 und Gerhard Ritter als „nationales Fest“24 bewerteten: „In jeder Stadt erwarteten ihn Abordnungen, Essen wurden ihm zu Ehren gegeben, und er wurde mit Geschenken überhäuft.“25 Ursächlich für diese Entwicklung ist wohl vor allem der Erfolg des ‚Lobs der Torheit‘, wie Konrad Peutinger gegenüber Reuchlin ganz richtig mutmaßte.26 – Doch der Reihe nach: Wie bereits gesehen, fristete Erasmus in England

22 Vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189), S. 72, 74, 654. Der postalische Transport verlief wesentlich zügiger: „Wenn 1497 die 91 km weite Strecke Innsbruck-Füssen in 12 Stunden geritten wurde, entsprach dies, obwohl zwei Gebirgspässe überwunden werden mußten, einer Geschwindigkeit von 7,58 km/h. […] Der Postvertrag von 1505 ergibt für die 880 km lange Strecke Innsbruck-Brüssel nur noch Geschwindigkeiten von 6,7 km/h im Sommer bzw. 5,6 km/h im Winter. […] Die früheste österreichische Postordnung von 1545 schrieb 7,5 km/h für ‚eilende Posten‘ vor.“ Ebd., S. 61. 23 George Faludy: Erasmus von Rotterdam. Frankfurt am Main 1973, S. 143. Ebenso: Ernst-Wilhelm Kohls: Erasmus und sein Freundeskreis am Oberrhein. In: Hommages à Marie Delcourt. Hg. von Roland Crahay u. a. Brüssel 1970 (Collection Latomus 114), S. 269–278; Smith (Anm. 1), S. 129. 24 Gerhard Ritter: Erasmus und der deutsche Humanistenkreis am Oberrhein. Freiburg i. B. 1937 (Freiburger Universitätsrede 23), hier S. 9. 25 Faludy (Anm. 23), S. 143. 26 Vgl. Konrad Peutingers Briefwechsel. Ges., hg. und erl. von Erich König. München 1923 (Veröffentlichungen der Kommission für Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenre-

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ein nicht zufriedenstellendes Dasein. Eine finanziell prekäre Situation aufgrund geringer Vergütung und spärlicher Unterstützung von Gönnern,27 wenig Studenten in seinen Lehrveranstaltungen und manch anderes mehr zeugen davon, dass Erasmus  – wenngleich er in Kontakt mit der herrschaftlichen, kirchlichen und intellektuellen Elite Englands stand – hier noch nicht als berühmte Person wahrgenommen wurde. Dies verwundert angesichts bereits zahlreicher Veröffentlichungen, die an verschiedenen Druckorten Europas hergestellt wurden und von denen die drei Ausgaben der Adagia und das ‚Lob der Torheit‘ wohl die populärsten sein dürften. Dies verwundert zudem angesichts jener öffentlichen Bedeutung, die er sich auf dem europäischen Festland – nicht nur, aber vor allem auch im Reich – erworben hatte. Eben die hier im Zentrum stehende Reise ist erstmaliges und herausragendes Zeugnis dieser Wahrnehmung des Erasmus als berühmte Person. Was er hier hautnah erlebte, übertraf in allem jene Entwicklung, die er bereits seit einigen Monaten in den an ihn gerichteten Briefen ablesen konnte: Seit Sommer 1513 – und damit gut ein Jahr vor der Abreise aus England – sind in quantitativer Hinsicht, gleichsam aus dem Nichts, zahlreiche Kontaktaufnahmen zu Erasmus feststellbar.28 Noch überraschender ist der beinahe panegyrische Stil, in dem die meisten an ihn gesandten Briefe gehalten sind. Dies wird bereits an wenigen repräsentativen Formulierungen deutlich: Beatus Rhenanus spricht in einer Dedikationsepistel von dem optimus praeceptor29 Erasmus und andernorts davon, dass der Rotterdamer doctissime30 sei; Jakob Wimpfeling bezeichnet ihn

formation. Humanistenbriefe 1), hier Nr. 103, S. 174: Nunc inter legendum elegans et pernecessaria Moria Erasmi Roterodami nostras in manus pervenit, qua non solum nos iureconsultos Sisyphi saxum revolventes, sed et plaerosque superciliosos et irritabiles theologos taxat; ita hos solet appellare […]. 27 Dies änderte sich erst, als Erasmus vom Erzbischof von Canterbury eine Vergütung erhielt, die er aus einer Parochie in der Grafschaft Kent bezog, und ihm kurz darauf auch eine Pension von Lord Mountjoy übertragen wurde. Vgl. dazu: Galle (Anm. 6), S. 273; Ribhegge (Anm. 10), S. 70. Faludy (Anm. 23), S. 134 hat diesbezüglich resümiert: „Wenn wir das mit den zehn Pfund vergleichen, die der Leiter des neugegründeten Christ’s College bekam, müssen wir annehmen, daß Erasmus wahrhaft verschwenderisch leben konnte, daß er unmäßige Summen für Manuskripte ausgab oder seine Gönner ihre Zusagen brachen.“ 28 Dazu besonders Galle (Anm. 6), S. 197–202, 275–286. 29 Vgl. Briefwechsel des Beatus Rhenanus. Ges. und hg. von Adalbert Horawitz, Karl Hartfelder. Hildesheim 1966, hier Nr. 35, S. 60 (datiert auf den 13. August 1513): Neque vero non admonitos praeterierim Britannos, a Germanis originem ducentes, cultiorum literarum studiosissimos, quamquam illis adhortatione nihil opus est, usis iampridem optimo in literis praeceptore Erasmo nostro Roterodamo. 30 Vgl. Briefwechsel des Beatus Rhenanus (Anm. 29), Nr. 38, S. 63: Scribit de praeceptoris officio et discendi ratione, quam rem ad Guil. Thaleium Erasmus, Rhodolphus ad Barbirianum uterque doctissime explicaverunt.



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gegenüber dem Verfasser des ‚Narrenschiffs‘, Sebastian Brant, als das decus Germaniae31. Melanchthon behauptet sogar: Latina est, erasmica est32 [„Lateinisch ist, was erasmisch ist“], und sicher hat es auch einige Aussagekraft, wenn der prominenteste Hebraist der Zeit, Johannes Reuchlin, den Kontakt zu Erasmus sucht und ihn um öffentliche Parteinahme, ja sogar um Verteidigung im Streit mit dem Konvertiten Pfefferkorn bittet.33 Dass diese Erasmus-Euphorie auch während seiner Reise nachweisbar ist, ja sich sogar noch steigerte, wird deutlich in dem Bericht, den Erasmus Jakob Wimpfeling zukommen ließ. Er schildert darin u. a. die Einladung des Straßburger Humanistenkreises und ist noch rund sechs Wochen nach seiner Ankunft in Basel sprachlos über die Zusammenkunft so vieler äußerst gelehrter Männer, die ihn aufs herzlichste als Gastfreund empfangen und in ihren Reihen aufgenommen hätten.34 Darüber hinaus habe ihn der Bürgermeister von Straßburg in aller Öffentlichkeit willkommen geheißen und mit keinesfalls üblichen Ehren gleichsam überhäuft.35 Erasmus ergänzt, er könne seine Gefühle gar nicht in Worte fassen, geschweige denn in einem Brief ausdrücken, angesichts so vieler Persönlichkeiten, die ihn empfangen haben, schließlich verfügten sie doch allesamt über eine singularem prudentiam, summam integritatem ac plane maiestatem36 [„eine einzigartige Klugheit, ein Höchstmaß an Unbescholtenheit, mit klaren Worten: ein Höchstmaß an Ehrwürdigkeit“]. Im Folgenden machte sich Erasmus sogar die Mühe, die Mehrheit der Straßburger Repräsentanten namentlich aufzulisten, was in der Edition immerhin 50 Verse

31 Vgl. Jakob Wimpfeling: Briefwechsel. Hg. von Otto Herding, Dieter Mertens. Bd. 2. München 1990, hier Nr. 309, S. 757; daneben: Nr. 311, S. 762–766, bes. S. 763. 32 Vgl. Melanchthons Briefwechsel. Bearb. von Richard Wetzel, Heinz Scheible u. a. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991–2007, hier Nr. 4, S. 40. 33 Vgl. Johann Reuchlins Briefwechsel. Ges. und hg. von Ludwig Geiger. Hildesheim 1962, hier Nr. CLXXXV, S. 215: nunc saltem per tuam defensionem contra librorum incendiarios restituar. 34 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 305, S. 17–24, hier S. 17, Z. 16–25: Nam quoties mihi venit in mentem tam celebris eruditissimorum hominum coetus, quam obviis, ut aiunt, ulnis me novum hospitem exceperit, quam singulari consuetudinis iucunditate fessum refecerit, quanta benignitate foverit, quanto studio germanum suum complexus sit, quanto candore quamque amice suspexerit etiam hunc homuncionem longe positum infra mediocritatem, quibus ornarit, immo pene onerarit, officiis, quam hospitaliter dimiserit, quam officiose produxerit, partim apud me pudore quodam suffundor, quippe mihi conscius quam istis tam magnificis officiis non respondeat nostra tenuitas et curta, quemadmodum ait Persius, domi suppellex […]. 35 Ebd., S. 18, Z. 54–58: Iam vero non me fugit et illud vobis deberi, quod ornatissimus Argentinensis reipublicae uterque praefectus magistratus, qui me praesentem tam admiranda complectebatur humanitate, tam non vulgari prosequebatur honore, nunc absentem, et tam procul absentem, salutationis obsequio prosequitur. 36 Ebd., S. 18, Z. 67 f.

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einnimmt37  – und natürlich: während er sich auf diese Weise vordergründig bedankte, unterstrich er seine Berühmtheit und brachte nolens, volens zum Ausdruck, dass er mit dem neu gewonnenen Ruhm noch nicht recht umzugehen verstand. Gesteigert wurde dies noch durch die größtmögliche Urteilskraft, die Erasmus den Straßburgern bescheinigte: Licuit apud vos in civitate una cunctarum laudatarum dotes conspicere, Romanorum disciplinam, Atheniensium sapientiam, Lacedaemoniorum continentiam.38 [„Bei Euch war es möglich, in einer einzigen Bürgerschaft die Vorzüge aller übrigen lobenswerten Bürgerschaften versammelt zu sehen: die Zucht der Römer, die Weisheit der Athener und die Standhaftigkeit der Spartaner.“] „Dort [gem.: in Deutschland, insbesondere am Oberrhein] erwarteten ihn Freuden des Ruhmes, wie er sie noch nicht gekostet hatte. Die deutschen Humanisten begrüßten ihn als das Licht der Welt […]. Sie jubelten ihm zu und betonten, er sei selbst ein Deutscher und eine Zierde Germaniens.“39 – Was Johan Huizinga hier in seiner großen Erasmus-Biographie formulierte, galt nicht allein für Empfang und Aufenthalt in Straßburg, sondern in unterschiedlichem Maße für jede durchreiste Stadt. Da auf der Suche nach Belegen meine stichprobenartigen Archivkonsultationen leider ergebnislos blieben, soll im Folgenden ein bislang wenig beachtetes, aber doch eindrückliches Gedicht aushelfen. Erasmus verfasste es aus Dank für die Gastfreundschaft im elsässischen Schlettstadt, seinem nächsten Etappenziel nach Straßburg. Dort war er, wie er im Brief an Wimpfeling schilderte, von den primores reipublicae begrüßt worden, frage sich aber immer noch, wer den Magistrat über seine Anreise informiert habe. Schließlich seien die Vorkehrungen derart überwältigend gewesen, dass circa siebzig Liter des besten

37 Vgl. dazu Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace à la fin du XVe et au commencement du XVIe siècle. Teil I. Hildesheim 1966, hier S. 232. Zu den Mitgliedern des Straßburger Humanistenzirkels vgl. Thomas Wilhelmi: Zum Leben und Werk Sebastian Brants. In: Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum ‚Narrenschiff‘ und zum übrigen Werk. Hg. von Thomas Wilhelmi. Basel 2002, S. 7–36, hier S. 34: „Außer [Jakob] Wimpfeling und [Sebastian] Brant gehörten dieser literarischen Gesellschaft Thomas Aucuparius (Vogler), Hieronymus Gebwiler, Johannes Guida, Peter Heldung, Ottomar Luscinius (Nachtigall), Thomas Rapp, Johannes Rudolfinger, Johannes Ruser, der Drucker Matthias Schürer, Jakob Sturm von Sturmeck und Stephan Tieler an.“ Vgl. dazu auch die Aufzählung der prominentesten Mitglieder im Brief Wimpfelings an Erasmus vom 1. September 1514: Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 302, S. 7–9, Z. 11–17. 38 Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 305, S. 17–24, hier S. 19, Z. 85–87. 39 Johann Huizinga: Erasmus. Deutsch von Werner Kaegi. Basel 1928, S. 94 f.



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Weines spendiert wurden.40 Vor diesem Hintergrund verwundert auch der elegische Gesang nicht mehr, den Erasmus zu Ehren Schlettstadts dichtete:41 Urbibus in cunctis tamen haud felicior ulla est Quotquot Caesarea sub ditione vigent. (V. 7 f.) [Unter den übrigen Städten gibt es jedoch keine glücklichere, wie viele Städte auch immer im kaiserlichen Machtbereich über Ansehen verfügen.]

In vielerlei Hinsicht sei Schlettstadt gesegnet und überall könne man sehen, dass die ernährende Ceres die Saat gelingen lässt: Quodque hinc vitiferos monteis, hinc ditia Rheni Flumina prospectas, grata quod aura fovet. (V. 11 f.) [Eins nach dem anderen siehst du von hier die Wein tragenden Berge, von dort die reichhaltigen Gewässer des Rheins, was das angenehme Klima begünstigt.]

Was jedoch die besungene Stadt auf das Deutlichste von anderen unterscheidet, betont Erasmus in den Versen 15 f.: Illa tibi propria est quod et una et parva tot edis Virtute insigneis ingenioque viros. [Jenes ist Dir ganz zu eigen, dass Du als alleinige und kleine [Stadt] so viele in ihrer Schaffenskraft und Begabung herausragende Männer hervorbringst.]

Die bedeutendsten dieser viri nennt er V. 21–28: Jakob Wimpfeling, Jakob Spiegel, Johann Kirher, Johannes Sapidus, Paulus Phrygio, Johann Storck, Beatus Arnolt sowie der berühmte Drucker Matthias Schürer und zuletzt Beatus Rhenanus. Zwangsläufig ist die Frage: Quis non invideat tam splendida commoda, ni quod Non tibi sed mundo fertilis ista paris? (V. 33 f.) [Wer beneidet nicht ein so glänzendes Glück – doch Du, die so Fruchtbare, bringst sie nicht [nur] für Dich, sondern für den Erdkreis hervor?]

40 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 305, S. 21 f., Z. 171–179. 41 Vgl. The Poems of Desiderius Erasmus. Hg. von Cornelis Reedijk. Leiden 1956, hier Nr. 98, S. 316–318.

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Doch auch hier zeichnet sich Schlettstadt auf außergewöhnliche Weise aus, wie Erasmus kurz vor Schluss hervorhebt: Gloria te penes est unam, sed fructus ad omneis Pervenit humanum qua patet orbe genus. (V. 35 f.) [Der Ruhm ist ganz allein in Deinem Besitz, die Frucht aber kommt allen zugute, soweit sich das menschliche Geschlecht auf der Erde ausbreitet.]

Dass die im Encomium Selestadii carmine elegacio sowie im mehrfach zitierten Brief an Wimpfeling gemachten Ausführungen nicht literarische Stilistik oder Fiktion sind, sondern die tatsächlichen Begebenheiten zu umschreiben suchen, wird bereits an zwei Aspekten deutlich: Einerseits daran, dass es genügend Zeugen etwa für den frei ausgeschenkten Wein gegeben haben wird und dass eine Schilderung, die über die Wahrheit hinausgegangen wäre, für den Rotterdamer nur peinliche Blamage bedeutet hätte; andererseits führt er in beiden hier genannten Quellen zahlreiche Personen namentlich an, die ihm die Aufwartung gemacht haben. Beides bestätigt überdies einen Eindruck, den die erasmische Korrespondenz bereits in den Monaten vor der Reise vermittelt und welchen Erasmus auch in Basel erlebt: Auch hier seien ihm ähnliche Ehrungen zuteil geworden – Beatus Rhenanus, Gerhard Listrius, Bruno Amerbach und manch andere hätten ihn in Empfang genommen und kurz darauf sei er im Auftrag der Professoren durch den Dekan der theologischen Fakultät zum Essen geladen worden, bei dem das gesamte Lehrpersonal aller Fakultäten anwesend gewesen sei.42 – Angesichts der geschilderten Euphorie drängt sich jedoch die Frage auf, warum sich diese Entwicklung gerade am Oberrhein ereignete bzw. ob Vergleichbares auch in anderen Regionen Europas denkbar gewesen wäre.

4 Der Oberrhein als Kulturregion des frühen 16. Jahrhunderts Mit drei Argumenten lässt sich erklären, warum die europaweite Verehrung von Erasmus, die man für die Zeit nach 1514 registrieren kann,43 mit seiner Reise auf dem Rhein zusammenhängt:

42 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 2, Nr. 305, S. 22, Z. 179–205. 43 Vgl. Galle (Anm. 6), S. 287–325.



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1. Die Route über Burgund, rheinabwärts bis in die Niederlande und weiter nach England oder Skandinavien ermöglichte den schnellsten Warentransfer aus Italien. Da auf dieser größten Handelsstraße zwischen Nord und Süd zugleich ein Austausch von Ideen und – um mit Bourdieu zu sprechen – ein Transfer von „kulturellem Kapital“ erfolgte,44 handelte es sich entlang des Rheins um eine Region von bester Kommunikation und frühestmöglicher Information. Die territoriale Aneinanderreihung von pfälzischen und württembergischen Gebieten sowie die Machtansprüche der Habsburger, des Kaisers, des französischen Königs und nicht zuletzt der Eidgenossen beeinträchtigten die Kommunikation keineswegs, sondern dienten gleichsam als Motor verschiedener Entwicklungen – wie etwa 2. die intellektuelle Vielfalt zwischen Mainz und Basel. P. G. Schmidt hat darauf in seiner Einführung zum biographischen Sammelband Humanismus im deutschen Südwesten treffend hingewiesen: „Die Städte der Region verfügten teilweise bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts über ein hoch entwickeltes Bildungswesen [wie etwa] Schulen von großer Anziehungskraft“.45 Gleiches gilt für die Gründung von Universitäten: Nach jener in Heidelberg wurden Freiburg (1457), Basel (1460) und Tübingen (1477) eröffnet und zur Zeit des Erasmus standen sie noch in jugendlicher Blüte. Zeugnis dafür ist die Berufung Peter Luders an die Heidelberger Universität, wo er die studia humanitatis lehren sollte. Viele Territorien bedurften zwangsläufig ebenso vieler Ausbildungsstätten und brachten an verschiedenen Orten eine geistige Elite hervor. Dies erklärt sicher auch die einmalige und dichte Ausbreitung humanistischer Sodalitäten – selbst in kleineren Städten. Spätestens um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert hatte der Humanismus nördlich der Alpen Fuß gefasst und das oberrheinische Gebiet zu einem, wenn nicht dem Zentrum humanistischer Gelehrsamkeit gemacht. Gefördert wurde dies 3. durch die große Verbreitung der Druckindustrie. Wenn P. G. Schmidt hervorhebt, dass die Erfindung des Buchdrucks „als ein Ruhmestitel der deutschen Nation angesehen“46 wurde, so erklärt dies auch die vielschichtige Förderung von Seiten der Landesherren, die für mindestens ein Druckzentrum in jedem Herrschaftsterritorium sorgte. Im europäischen Vergleich verfügte Deutschland über die zahlreichsten Druckzentren, deren bedeutendste sich mehrheitlich im Süd-

44 Vgl. Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln u. a. 2003, S. 227; Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hg. von Pierre Bourdieu. Hamburg 2005, S. 49–80. 45 Paul Gerhard Schmidt: Einführung. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Hg. von Paul Gerhard Schmidt. 2. veränderte Aufl. Stuttgart 2000, S. 9–12, hier S. 9. 46 Ebd., S. 12.

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westen befanden – nicht zuletzt aufgrund der dortigen Handels- und Kommunikationsvorteile sowie des intellektuellen Klimas. Vor allem diese drei Faktoren – die günstige Lage, das Betreiben humanistischer Studien und die zahlreichen Offizinen – waren dafür verantwortlich, dass die Euphorie um den Humanistenfürsten hier am Oberrhein ihren Anfang nahm und noch über das Jahr 1518 hinausreichte, wie eine Schilderung des Erasmus darlegt: Auf einer Schiffsreise auf dem Rhein habe man in Boppard angelegt, wo das Schiff auf Schmuggelware hin untersucht worden sei. Erasmus habe den Aufenthalt genutzt, um am Flussufer zu flanieren, sei aber bald vom örtlichen Zöllner angesprochen worden. Tatsächlich habe dieser in ihm den Humanistenfürsten, die leibhaftige Zierde der Wissenschaften, erkannt und ihn sogleich in sein Haus geleitet. Dort angelangt, wo auf seinem Tisch mehrere von Erasmus verfasste Bücher gelegen hätten, habe er die gesamte Familie und seine Freunde zusammengerufen und seine Frau angewiesen, ein Festessen herzurichten. Als die Schiffer Erasmus über ihre Weiterreise informiert hätten, habe der Zöllner ihnen kurzerhand zwei Kannen Wein ausgehändigt mit der Bitte, sich zu gedulden.47  – Neben den angeführten Argumenten für die besondere kulturelle Beschaffenheit am Oberrhein lebten dort demnach offensichtlich auch die gebildetsten Europäer, sofern man dieser Schilderung des Erasmus Glauben schenken möchte. (Aufgrund der Nähe zur neutestamentlichen Erzählung scheint der Wahrheitsgehalt jedoch mehr als fraglich zu sein.)

47 Vgl. Allen (Anm. 3), Bd. 3, Nr. 867, S. 392–401, hier S. 395, Z. 46–55: Ubi Popardiam appulimus, nosque, dum exploratur navis, in ripu deambularemus, nescio quis agnitum me telonae prodidit, οὗτος ἐστιν. Telones est Christophorus, ni fallor, Cinicampius, vulgate verbo Eschenfelder. Incredibile dictu quam gestierit homo prae gaudio. Pertrahit in aedes suas. In mensula inter syngraphas telonicas iacebant Erasmi libelli. Beatum se clamitat, aduocat liberos, aduocat vxorem, aduocat amicos omnes. Interim nautis vociferantibus mittit duos vini cantaros, rursum vociferantibus mittit alteros, pollicitus ubi redierit se illi το τέλος remissurum, qui talem virum sibi advexerit.

Dichtung und Fluss

Beate Hintzen

Ein Münsteraner in einer rheinischen Metropole Bernardus Mollerus’ Blick auf Köln Die Erforschung der neulateinischen Dichtung ist mittlerweile sowohl innerhalb der Klassischen Philologie als auch innerhalb der Nationalliteraturen fest etabliert. Es ist jedoch nicht lange her, dass sie neben der Erforschung der klassischen Höhenkammliteratur ein Schattendasein fristete, da neulateinische Dichtung mehrheitlich anlassgebunden und daher Poesie minderer Qualität sei. Dieses Verdikt gilt nun nicht mehr, aber man hat innerhalb der neulateinischen Dichtung Qualitätsunterschiede zwischen allgemein anerkannten Poeten wie Pontano, Sannazaro, Du Bellay, Balde usw. einerseits und zahlreichen poetae minores andererseits ausgemacht. Paradoxerweise haben von allem, was ich in etwa 15 Jahren in der neulateinischen Forschung zustande gebracht habe, ausgerechnet die beiden Aufsätze die meiste Resonanz gefunden, die ich als völliges Greenhorn auf diesem Gebiet über einen Text geschrieben habe,1 dessen Autor allein wegen seiner teilweise arg unbeholfenen – und deswegen auch oft schwer übersetzbaren – Formulierungen wohl als poeta minimus gelten muss. Es handelt sich um die Rheinbeschreibung Rhenus et eius descriptio elegans, das Erstlingswerk des Münsteraner Geistlichen Bernardus Mollerus aus dem Jahr 1570.2 Reaktionen habe ich sowohl von Bonner und Münsteraner Paläontologen erhalten, die sich für Mollerus’ Beschreibung eines in den Baumbergen bei Münster gefundenen versteinerten Fisches interessierten, als auch von mehr oder minder wis-

1 Beate Czapla: Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ Rhenus et eius descriptio elegans und die Tradition lateinischer Flussdichtung in Europa, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30 (1998) 2; Neulateinische Lehrdichtung zwischen der literarischen Tradition von Hesiod bis Manilius und der neuzeitlichen Ars apodemica am Beispiel von Bernardus Mollerus’ Rhenus und Cyriacus’ Lentulus Europa, in: Neulateinisches Jahrbuch 1 (1999), S. 21–48. 2 Bernardus Mollerus: Rhenus et eius descriptio elegans a primis fontibus usque ad Oceanum Germanicum ubi Urbes, Castra, & Pagi adiacentes, Item flumina & rivuli in hunc influentes, & si quid praeterea memorabile, occurat plenissime carmine Elegiaco depingitur. Köln 1570; ebd. 1571; 1596. Mollerus bezeichnet den Rhenus in einem Widmungsbrief (1570, S. 3v) als primitiae. Eine längere Schülerdeklamation in elegischen Distichen, die er in einem eigenhändig verfassten Lebenslauf erwähnt (s. u. Anm. 9), dürfte nicht gedruckt worden sein, so dass der Rhenus tatsächlich seine erste Publikation darstellt. DOI 10.1515/9783110400281-004

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senschaftlich arbeitenden Heimatforschern unterschiedlicher Provenienz. Die Diversität dieser Reaktionen macht deutlich, was den Text ungeachtet seiner künstlerischen Defizite lesenswert macht: zum einen die detaillierte Beschreibung des Rheinlaufes und die der Nebenflüsse, bei denen Mollerus manches Mal als erster oder gar einziger eine alte Ortsbezeichnung bewahrt hat, zum anderen – negativ formuliert – das Sammelsurium, – positiv formuliert – das Füllhorn von weiteren Geschichten und Informationen, die Mollerus in seine Flussbeschreibung integriert hat und für die er wiederum manchmal den ersten Beleg bietet, wie z. B. die Beschreibung des prähistorischen Fisches. Da Mollerus bzw. sein Œuvre vor diesem Hintergrund nicht als kanonisch gelten kann, seien einige bio-bibliographische Daten an den Beginn gestellt:3 Er wurde nach eigenen Angaben4 am 15. März 1539 in Münster geboren und studierte in Paderborn (1554), Münster (um 1555/6) und Köln (um 1557) Theologie. 1558 berief man ihn als Stiftsvikar des Katharinen-Altars an die St. MartinusKirche und weihte ihn 1559 zum Priester. Am 25. November 1570 übertrug ihm der Fürstbischof der Diözesen Münster, Osnabrück und Paderborn Johann Graf von Hoya (1529–1574) die Pfarrei in Wessum bei Rheine. Die Pfarrstelle trat Mollerus aber nicht selbst an, sondern ließ sie von einem Vikar verwalten und ging 1571 als bischöflicher Hofkaplan an den Hof des Fürsten. Anscheinend zum Dank für die Übertragung der Pfarrei widmete Mollerus den Rhenus dem Bischof, der ein überaus gebildeter Mann war und seinen Pfarrer dann möglicherweise aus Interesse an dessen klassischer Bildung und poetischen Fähigkeiten an den Hof berief.5 Mollerus verließ zwar nach dem Tod des Fürstbischofs 1574 den Hof, übernahm aber entgegen Schwarz wohl nicht die Verwaltung der Wessumer Pfar-

3 Vgl. Wilhelm Eberhard Schwarz (Hg.): Die Akten der Visitation des Bistums Münster aus der Zeit Johanns von Hoya (1571–1573). Münster 1913 (Die Geschichtsquellen des Bistums Münster 7), S. XCVI, Anm. 1; Wilhelm Schiffer: Der Gelehrten-Katalog im Speculum Westfaliae des Heinrich von Hövel als Beitrag zur westfälischen Geistesgeschichte um 1600. Diss. ms. Münster 1948, Anhang, S. 12, Anm. zu Nr. 32. Aus diesen Quellen sowie aus weiteren, 2016 aufgefundenen Quellen hat der Paläontologe Wolfgang Riegraf einen Lebenslauf erarbeitet, den er unter folgendem Titel publiziert hat: Baumberger Sandstein (Ober-Kreide, Ober-Campanium, NW-Deutschland) – Abbau, Verwendung und der erste bekannte Fischfund daraus in der lateinischen Dichtung Rhenus et eius descriptio elegans (1570) von Bernardus Mollerus (1539–1607), Priester aus Münster in Westfalen. In: Zentralblatt für Geologie und Paläontologie, Teil II (Paläontologie) 5/6 (2015), S. 535–609, bes. S. 537–541. Diesem Lebenslauf sind die folgenden Daten entnommen. 4 In einem handschriftlichen Lebenslauf, s. u. Anm. 9. 5 Zu Bildung und Lebensweg Johanns von Hoya bis zu seiner Wahl zum Bischof von Osnabrück vgl. Alois Schröer: Die Kirche in Westfalen im Zeichen der Erneuerung (1555–1648). Bd. 1: Die Katholische Reform in den geistlichen Landesherrschaften. Münster 1986, S. 74–77. Zu Mollerus’ Berufung an den Hof Hoyas vgl. ebd., S. 300 mit Anm. 174 (S. 545).



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rei.6 Auf die Katharinen-Vikarie an St. Martinus resignierte Mollerus 1576 und erhielt stattdessen 1581 die Johannisvikarie. 1582 wurde er Kanonikus am Stift St. Felicitas in Vreden, wo er bis 1595 blieb und die meisten seiner Theaterstücke verfasste. Zwischen 1600 und 1607 ging Mollerus wieder nach Wessum. 1600 wurde er exkommuniziert, weil er einer Vorladung vor den Geistlichen Rat nicht gefolgt war, unerlaubterweise Pfarrer und Vikare eingesetzt und im Konkubinat gelebt hatte.7 Mollerus’ Executorium trägt das Datum vom 2. April 1607.8 Einen von ihm eigenhändig verfassten Lebenslauf, dem die meisten der biographischen Angaben entstammen, bewahrt(e) das Pfarrarchiv in Wessum auf.9 Außer dem

6 Vgl. Schwarz 1913 (Anm. 3), S. XCVI; Herbert Immenkötter (Hg.): Die Protokolle des Geistlichen Rates in Münster (1601–1612), Münster 1972, S. 423, begründet seine Zweifel damit, dass in allen ihm bekannten Quellen nur Vizekuraten in Wessum zu finden seien. Vgl. auch Riegraf 2015 (Anm. 3), S. 538. 7 Vgl. Riegraf 2015 (Anm. 3), S. 539 f. 8 Vgl. Immenkötter (Anm. 6), S. 423. 9 Vgl. Schwarz 1913 (Anm. 3), S. XCVI, Anm. 1: „Ich Bernhardt […] sei geboren im Jahre 1539 am 15. Martii […] Paderbornam studii causa profectus fui (Monasterii seviebat pestis) a° 1554 die Magdalene 22. Junii, reversus inde a° 1555 hebdomade ante palmarum. Item annos habens 16 declamationem habui Monasterii carmine elegiaco de vitis et actis episcoporum Monasteriensium ad horas fere duas aestate. Item a° 1557 profectus fui Coloniam studii erga, inde sequenti anno revertor. Item a° 1558 die Jovis Junii 30 ex collatione venerabilium dominorum collegii ad D. Martinum obtinui vicariam sive officationem capitularem altaris d. Catharinae. Sequenti anno 1559, cum excessissem vix 3 mensibus annum vigesimum dominica Exaudi, quae fuit tunc temporis 7. Maij in templo ad D. Martinum primam celebravi missam. Det deus gratiam. Vicariam resignavi postea anno 1576 feria 4 pasche. Anno 1570 Rheni 6 libros edidi. A° 1571 veni in aulam Rmi Illmique principis D. Joannis ab Hoya, qui mihi pastoratum in Wesshem contulit anno 1570 die Clementis. Discessi Monasterio anno 1571 ad 26. Januarij; postridie 27. Januarij ejusdem veni Iburgum. In aula principis per annos 3¼ usque ad diem, quo Ahusij obijt […]. 7. Aprilis veni Monasterium […] Et sic negotia aule durissimo cum labore et periculo absoluta sunt. Item propter bellum Belgicum discessi Wessemia ad canonicatum Vredensem, cujus possessionem obtinui a° 1582 ad diem Junij.“ [Nach Paderborn ging ich zum Studium (in Münster wütete die Pest) 1554 am 22. Juni, dem Tag der Magdalena, zurückgekehrt bin ich 1555 in der Woche vor dem Palmfest. Dann hielt ich im Alter von 16 Jahren im Sommer einen beinahe zweistündigen Vortrag über Leben und Wirken der Münsteraner Bischöfe im elegischen Versmaß. Dann ging ich 1557 zum Studium nach Köln, von wo ich im folgenden Jahr zurückkehrte. Dann erhielt ich am Donnerstag, den 30. Juni 1558 aus der Kollation des Kollegiums der ehrwürdigen Herren zu St. Martinus die Vikarie bzw. die Kapitular-Offikation des Altars der Hl. Katharina. Im folgenden Jahr 1559, am Sonntag von Exaudi, als mir 3 Monate an 20 Jahren fehlten, feierte ich in der Kirche zu St. Martinus die erste Messe. Schenke Gott Gnade. Auf die Vikarie resignierte ich später am 4. Ostertag des Jahres 1576. Im Jahr 1570 gab ich den Rhein in 6 Büchern heraus. Im Jahr 1571 gelangte ich an den Hof des hochehrwürdigen und erlauchten Fürsten Johannes von Hoya, der mir 1570 am Clemens-Tag die Pfarrei in Wessum übertrug. Ich verließ Münster 1571 am 26. Januar; am nächsten Tag, dem 27. Januar desselben Jahres, kam ich nach Iburg. Am Hof des Fürsten 3¼ Jahre

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Rhenus lassen sich von ihm zwei Epithalamien zu Adelshochzeiten – d. h. Anlassdichtung κατ’ έξοχήν –, vier Dramen und einige kleinere Gedichte nachweisen.10 Ein Carmen encomiasticum aus dem Jahr 1607 auf die Äbtissin von Vreden Agnes von Limburg-Styrum und Bronkhorst, das in beinahe allen Bibliographien geführt wird, ist in deutschen Bibliotheken nicht nachweisbar. Der Rhenus ist, wie gesagt, Mollerus’ erste Publikation. Gattungspoetologisch ist der Rhenus dem Lehrgedicht zuzuordnen. Er umfasst etwa 7500 Verse in elegischen Distichen, die in ein langes Proömium sowie sechs Bücher eingeteilt sind. Von diesen Büchern beschreibt das erste den Rhein von seinen beiden Quellen bis zum Zusammenfluss mit der Aare, das zweite vom schweizerischen Koblenz an der Aare-Mündung bis Mannheim, das dritte von Mannheim bis zur Mosel-Mündung, das vierte von der Mosel-Mündung bis nach Köln, das fünfte von Köln bis zur Lippe-Mündung und das sechste von dort bis zur Mündung des Rheins ins Meer. Abgesehen von den Verzweigungen von Rhein, Waal, Lek, Maas und IJssel im Rheindelta (6,511–1418) werden von den Nebenflüssen das Flusssystem Limmat, Reuss und Aare (1,673–1046), die Ill (2,559–616), der Neckar (2,763–1136), der Main (3,237–584), die Mosel (4,35–142), die Sieg (4,325–438), die Ruhr (5,135–318), die Lippe (5,333–1282; 6,3–464) und die Vechte (971–1200)

bis zum dem Tag, an dem er in Ahaus starb […]. Am 7. April kam ich nach Münster […]. Und so sind die Verpflichtungen am Hof unter härtester Mühe und Gefahr erfüllt worden. Dann ging ich wegen des belgischen Krieges aus Wessum fort zu einem Kanonikat nach Vreden, das ich am 11. Juni 1582 übernahm.] Eine Anfrage von Wolfgang Riegraf (s. o. Anm. 3) an das Pfarrarchiv Wessum nach dem Verbleib des Lebenslaufs blieb leider unbeantwortet. 10 Zu Mollerus’ Bibliographie vgl. Czapla 1998 (Anm. 1), S. 11 und 29 sowie jeweils mit Inhaltsangaben: Thomas Gärtner: Moller, Bernhard. In: Frühe Neuzeit in Deutschland. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a., Bd. 4, Berlin/Boston 2015, S. 436–443. Eine erste Rezeption fanden Mollerus’ Dichtungen in Heinrich von Hövels zwischen etwa 1591 und 1617 entstandenem (vgl. Schiffer [Anm. 3], S. 22 f.) Speculum Westfaliae, und zwar als Nr. 32 von 235 Lemmata im Kapitel De ecclesiis et scholis, itemque viris illustriore eruditione atque animi virtutum gloria praestantibus (ebd., S. 35 f.). Der Eintrag zeugt einerseits von poetischer Wertschätzung, andererseits von mangelnder Verbreitung und Rezeption: Bernardus Mollerus et Henricus Narius itidem poetae in carmine faciles ac lepidi quorum etiam scripta partim typis edita circumferuntur, partim adhuc fortasse non satis castigata delitescunt, tamquam uterque iam diem obierit. [Bernardus Mollerus und Henricus Narius sind ebenfalls geschickte und geistreiche Dichter, deren Schriften teilweise gedruckt im Umlauf sind, teilweise vielleicht noch nicht hinreichend überarbeitet sind und im Verborgenen liegen, als ob beide bereits tot wären.] Diese Notiz von Hövels lässt die These Tomas Gärtners, Mollerus habe eine längere Dichtung mit dem Titel Ecclesias verfasst, die ungedruckt blieb, durchaus plausibel erscheinen. S. den Beitrag Gärtners in diesem Band.



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ausführlich beschrieben,11 wobei der Beschreibung der Lippe mit 1412 Versen der Umfang eines ganzen Buches zugebilligt wird. Überhaupt umfassen die Beschreibungen der Nebenflüsse mit insgesamt 3202 Versen ungefähr 45 % der sechs Bücher. Einen etwas geringeren Anteil (2956 Verse, d. h. ca. 42 %) haben die Exkurse an der Rheindichtung, wobei vom Umfang zwei Drittel der Exkurse (1920 Verse) in den Nebenflussbeschreibungen zu finden sind, nur etwa ein Drittel (1096) in der eigentlichen Rheinbeschreibung. Folgende Exkurse sind über die sechs Bücher verteilt: Im ersten Buch führt Mollerus die Genealogie des Paul Skalich, der sich zur Abfassungszeit des Rhenus in Münster aufhielt,12 auf die Veroneser della Scala und noch viel weiter zurück (1,229–438, Rhein), erzählt vom Tod des Heiligen Meinrad in seiner Klause (1,695–732, Limmat) und verbindet die Beschreibung des grässlichen Pilatus-Sees mit der örtlichen Pilatus-Sage (1,763–880, Reuss).13 Im zweiten Buch entwirft er eine Idylle von Nymphen und Göttern im Rhein (2,17–110), berichtet vom Tod des kleinen Sohnes von Herzog Maso beim Bad in der Tolder (2,569–602, Ill) und beschäftigt sich ausführlich mit der Geschichte von Heidelbergs Namen (2,837–1126, Neckar).14 Im dritten Buch leitet er den Namen Oppenheims bzw. Ruffenheims von einem Ruffus ab (3,95– 208, Rhein) und den Namen Schweinfurt, den er als Schwabenfurt erklärt, von dem Fluss Oder bzw. lateinisch Suevus (3,299–334, Main). Außerdem erzählt er vom Prozess des Tassilo (III. Herzog von Bayern, 741–796) in der Ingelheimer Kaiserpfalz (3,609–666, Rhein) und vom Bischof Hatto im Mäuseturm (3,765–1024, Rhein).15 Im vierten Buch lesen wir von einem Fischorakel in Eifelseen (4,181–218, Rhein), die Geschichte der Hanse (4,337–438, Sieg),16 die Geschichte eines jüdischen Konvertiten in Köln (4,689–764, Rhein) und die vom Kölner Bürgermeister Gryn (4,861–1024, Rhein).17 Im fünften Buch berichtet Mollerus von den Sünden der Ruhr-Anwohner und von dortigen Ungeheuern (5,135–244), von Papst Leo und seiner Begegnung mit Kaiser Karl in Paderborn (5,429–494, Lippe) und im längsten Exkurs (652 Verse) von Varus und Arminius (5,631–1282, Lippe).18 Im sechsten Buch erfahren wir von der Qualität des Sandsteins in den Baumbergen und dem erwähnten fossilen Fisch (6,61–150, Lippe), von der Unterwerfung

11 Vgl. Mollerus 1570 (Anm. 2), S. 34–49, 78–82, 86–100, 115–128, 157–161, 168–172, 209–216, 216–253, 266–283 und 303–312. 12 Vgl. Czapla 1998 (Anm. 1), S. 29. 13 Vgl. Mollerus 1570 (Anm. 2), S. 17–25, 35–37 und 38–42. 14 Vgl. ebd., S. 57–61, 78–82 und 89–100. 15 Vgl. ebd., S. 109–113, 117 f., 129–131 und 135–145. 16 Zur Bedeutung Münsters innerhalb der Hanse vgl. Czapla 1998 (Anm. 1), S. 28. 17 Vgl. Mollerus 1570 (Anm. 2), S. 162–164, 168–172, 182–185 und 189–195. 18 Vgl. ebd., S. 209–213, 220–222 und 228–253.

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der Sachsen durch Karl den Großen (6,175–200, Lippe), von einem ungerechten Lynch­verfahren in Sendenhorst und der Bestrafung der Täter durch Bischof Erich (von Hoya) (6,215–396, Lippe), vom grausigen Ende des friesischen Königs Rabod (6,1131–1162, Vechte) und von einer verheerenden Flut in Dordrecht (6,1237–1347, Rhein/Lek).19 Es ist unübersehbar, dass es sich bei diesem Text weniger um lateinische Literatur handelt, die in einer Stadt oder Region am Rhein entstanden ist oder von einem Autor verfasst wurde, der wenigstens einen erheblichen Teil in einer rheinischen Landschaft lebte und wirkte, als um Literatur in lateinischer Sprache über den Rhein und seine Nebenflüsse. Den Hintergrund bildet auch nicht eine konkrete Flussfahrt, wie sie anderen Dichtungen dieser Art wie z. B. Ausonius’ Mosella oder Gwalthers Argo Tigurina zugrunde liegt, sondern eine imaginäre Reise anhand von Kartenmaterial und literarischen Quellen. Doch mit einem kleinen Trick, sozusagen einem Mollerus-Trick, wird auch das westfälische Münster wenigstens mittelbar zur Rhein-Stadt. Dieser Trick funktioniert folgendermaßen: Mollerus beschreibt nicht nur die direkten Nebenflüsse des Rhein, sondern immer wieder auch Nebenflüsse von Nebenflüssen, so auch die Stever, einen Nebenfluss der Lippe. Die Stever aber entspringt in den Baumbergen, von wo aus – so Mollerus – man Münster sehen kann (6,154 f.). Passenderweise entspringt die (Münster’sche) Aa, die Münster durchfließt, ganz in der Nähe; und Mollerus lässt es sich natürlich nicht nehmen, auch über den Verlauf der Aa bis zu ihrer Mündung in die Ems einige Verse zu verlieren (6,402–437). Legt man einen weiten Westfalenbegriff zugrunde, wie z. B. Mollerus’ etwa zehn Jahre jüngerer Zeitgenosse Heinrich von Hövel, der die Bistümer Münster, Paderborn und Osnabrück sowie mehrere Grafschaften und kleinere Herrschaften, außerdem die Bistümer Köln (ultra Rhenum), Bremen, Verden und Minden (ultra Visurgim) und Utrecht (ultra Issulam) zu Westfalen gehören lässt,20 widmet Mollerus dem heimatlichen westfälischen Raum sogar die gesamten drei letzten Bücher, d. h. mehr als die Hälfte seines Rhenus und zeigt sich damit als bekennender WestfaloZentrist.21 Im Kontext des Themas Latein am Rhein soll aber im folgenden der Fokus auf der Beschreibung einer Rheinlandschaft im engeren Sinne liegen, auf dem vierten Buch, von dem ungefähr zwei Drittel dem Kölner Raum gewidmet

19 Vgl. ebd., S. 268–271, 272 f., 274–281, 309 f. und 313–317. Das sechste Buch ist vollständig ediert von Riegraf 2015 (Anm. 3), S. 552–583. Übersetzt sind die Prosazusammenfassung und der Beginn des Buches über den Baumberger Sandstein, d. h. die Verse 1–156, S. 252–271 (vgl. ebd. S. 584–593). 20 Vgl. Schiffer (Anm. 3), S. 18 f. 21 Vgl. Schiffer, der von einer „Hochblüte des Westfalenbewusstseins“ in der Zeit von Mollerus und Heinrich von Hövel spricht (ebd., S. 23).



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sind, den Mollerus nicht nur aus der Literatur, sondern auch durch kurze eigene Anschauung kennengelernt hat. In einem summarischen Überblick gestaltet sich der Aufbau des Buches folgendermaßen: Nach der stereotypen Einleitung des Buches mit der Buchzahl (4,1–4)22 konstatiert Mollerus die geringe Besiedlung der rechten Rheinseite und, im Gegensatz dazu, die zahlreichen, meist auf römische Lager zurückgehenden linksrheinischen Siedlungen und Städte (4,1–34).23 Er beschreibt kurz Koblenz, dann den Verlauf der Mosel mit Erwähnung der anliegenden Städte und den Nebenflüssen (4,35–142),24 wobei ihm ein geographischer Fehler unterläuft. Denn er bezeichnet die Mortagne als Nebenfluss der Mosel (4,57), die Meurthe als deren Nebenfluss (4,69). Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. In nur 38 Versen gelangt er von der Mosel-Mündung bis Andernach (143–180),25 verweilt aber von Vers 181 bis Vers 218 bei zwei Eifelseen,26 die von mirakulösen Riesenfischen bewohnt werden. Erhebt einer der Fische seinen Kopf über die Wasseroberfläche, zeigt dies den bevorstehenden Tod eines Bewohners der angrenzenden Gebiete an. Wiederum gelangt Mollerus rasch von Leutesdorf bis zum Siebengebirge, wo er reges Interesse an den Rheinburgen bekundet. Topisches Räsonieren über den Verfall dieser Burgen im Besonderen und menschlicher Ansiedlungen im Allgemeinen beschließt diesen Abschnitt (4,219–294).27 Auch von Linz und Bonn bis zur Sieg-Mündung ist der Weg schnell zurückgelegt (4,295–324),28 es folgt in nur zehn Versen der Sieg-Verlauf (4,325–334),29 dann aber in aller Ausführlichkeit die Geschichte der Hanse, deren südliche Grenze die Sieg bildet (335–438).30 In drei Distichen ist schließlich der Weg von Rheidt nach Köln zurückgelegt (4,439–444).31 Die restlichen knapp 600 Verse des Buches sind der Stadt Köln gewidmet und verteilen sich wie folgt: In den Versen 445 bis 484 beschreibt Mollerus die Lage der Stadt

22 Mollerus 1570 (Anm. 2), S. 156: Qui iam posterior numero, quam tertius, idem | Dum prior est quinto, cedat in ora liber. | Cedat in ora liber, qui dicitur ordine quartus. | Continuamus iter: continuata iuvent. [Das Buch, das später in der Zählung ist als das dritte, während es früher als das fünfte ist, soll sich in den Mund legen. Es soll sich das Buch in den Mund legen, das nach der Reihe das vierte ist. Wir wollen den Weg fortsetzen, die Fortsetzung wird uns Vergnügen bereiten.] 23 Vgl. ebd., S. 156 f. 24 Vgl. ebd., S. 157–161. 25 Vgl. ebd., S. 161 f. 26 Vgl. ebd., S. 162–164. 27 Vgl. ebd., S. 164–167. 28 Vgl. ebd., S. 167 f. 29 Vgl. ebd., S. 168. 30 Vgl. ebd., S. 168–172. 31 Vgl. ebd., S. 172 f.

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zum Fluss, Stadtmauern und Stadttore sowie die Befestigung am Flussufer,32 in den Versen 485 bis 617 die Annehmlichkeiten und Gefahren Kölns, d. h. Gesang, Tanz und junge Frauen, die als Sirenen stilisiert werden,33 in den Versen 618 bis 802 die zahlreichen das Kölner Stadtbild prägenden Kirchen vom Dom bis hin zu Maria zu den Stufen.34 Die Aufzählung der Kirchen wird unterbrochen durch die Geschichte eines jüdischen Konvertiten in der Paulskirchengemeinde (689– 764):35 Dieser Jude hatte sich äußerlich zum Christentum bekehrt, bestand aber im Sterben auf seinem Judentum. Als Beweis dafür, dass die angeborene Natur unveränderlich sei, beauftragte er einen Knaben, einen Hund auf einen Hasen und eine Katze auf eine Maus loszulassen, die sich ihrer Natur gemäß auf ihre Opfer stürzten. Diese Geschichte wird auch als Nummer 69 De monacho qui mori voluit ut Iudaeus in den Carminum et fabularum additiones des Sebastian Brant zur Aesop-Ausgabe von 1501 als Kölner Sage erzählt.36 Doch Mollerus verbindet die Geschichte explizit mit der 1807 niedergelegten Kirche Alt St. Paul, an deren Portalgiebel die bronzene Figur eines Dieners mit beiden Tieren unter dem Arm an die Geschehnisse erinnere (4,759–762):37 Nobile succendens exemplum protulit aetas: Cuius apud Paulum signa videre licet. Aereus excelso portarum vertice servus Suspicitur; brutum gestat utrunque manu. [Die Nachwelt machte das bekannte Ereignis öffentlich, dessen Erinnerungszeichen man bei Paul sehen kann. Oben am Giebel des Portals erblickt man einen bronzenen Diener, der beide Tiere mit der Hand hält.]

32 Vgl. ebd., S. 173 f. 33 Vgl. ebd., S. 174–179. 34 Vgl. ebd., S. 179–182 und 185 f.: St. Peter (Dom) V. 619–670, St. Gereon V. 677 f., St. Severin V. 679 f., Groß St. Martin V. 683, Klein St. Martin V. 684, St. Aposteln V. 685, St. Johann Baptist und St. Johann Evangelist V. 686, St. Andreas und St. Paul V. 687, St. Mauritius V. 766, St. Alban V. 767, St. Jakob V. 767, St. Columba V. 768, St. Georg V. 769 f., St. Laurentius V. 771 f., Machabäer-Kirche V. 773, St. Pantaleon V. 774, St. Ursula V. 775–782, St. Lupus V. 783 f., Kartäuser-Kirche V. 785, Karmeliter-Kirche V. 786, St. Maria im Kapitol V. 787–792, St. Agatha V. 793, St. Gertrud V. 794, St. Brigiden V. 795, St. Maria Magdalena V. 796, St. Clara V. 797 f., St. Maria zu den Stufen V. 799 f. 35 Vgl. ebd., S. 182–185. 36 Vgl. Sebastian Brant: Fabeln. Carminum et fabularum additiones Sebastini Brant – Sebastian Brants Ergänzungen zur Aesop-Ausgabe von 1501. Mit den Holzschnitten der Ausgabe von 1501. Hg., übers. und mit einem Nachwort versehen von Bernd Schneider. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 218–221. 37 Mollerus 1570 (Anm. 2), S. 185.



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Es ist ein wenig befremdlich, dass an dieser Stelle nur von zwei Tieren die Rede ist, nicht von vieren. Wir werden später auf diesen Widerspruch zurückkommen. Nach den Kirchen beschreibt Mollerus das Rathaus und die geordnete Straßenführung (803–824)38 sowie die Universität (825–846).39 Am Ende widmet er sich ausführlich der Beständigkeit der Stadt trotz teilweise ungünstiger Umstände, dem Streben nach politischem Ausgleich und der Durchsetzungskraft der „guten“ Seite (847–1032).40 Dieser Tugendpreis wird illustriert durch die prominente Sage vom tapferen Bürgermeister Gryn, die sich 1266 zugetragen haben soll. Nach dieser Sage stand Gryn in stetem Streit mit dem Erzbischof Engelbert II. von Heinsberg-Falkenburg, weil er versuchte, die Rechte der Bürger gegen die Macht des Erzbistums zu verteidigen.41 Der Erzbischof soll einen Löwen besessen haben, der von zwei Domherren aufgezogen wurde. Diese Domherren luden Gryn zum Abendessen und forderten ihn auf, sich den Löwen anzusehen, den sie in den vorangehenden Tagen nicht gefüttert hatten. Sie öffneten den Zwinger, stießen den Bürgermeister hinein und sperrten ihn zusammen mit dem Löwen ein. Doch Gryn verzagte nicht, wickelte sich seinen Mantel um den Arm, stieß dem Löwen den geschützten Arm ins Maul und durchbohrte ihn mit seinem Schwert. Dann entfloh er und ließ seinerseits die beiden Domherren ergreifen. Sie wurden zur Strafe an einem Torbalken des Chorherrenhauses neben dem Dom gehängt. 1573 wurde der Kampf zwischen Gryn und dem Löwen an der Fassade des Kölner Rathauses in Stein gemeißelt. Ein ähnliches Relief findet sich am 1606 erbauten Zeughaus, in dem heute das Stadtmuseum untergebracht ist. Mollerus beschließt das vierte Buch wie alle Bücher mit der Angabe, wie weit der geographische Endpunkt des Buches vom Anfangspunkt entfernt ist, hier wie weit Köln von der Mosel entfernt ist (1033–1038).42 Während die Geschichten über den Juden, Hund, Katze, Maus und Hase sowie über den Bürgermeister Gryn sich auch in anderen Quellen finden und bildlich dokumentiert sind, also in den Bereich der Sage gehören, handelt es sich bei der Erzählung über die Kölner Sirenen sicherlich um die poetische Mythisierung einer Kulturlandschaft wie sie in bukolisierender Dichtung von Giovanni Pontano bis Paul Fleming und noch weiter gängig ist. Bei Mollerus dürfte sich die Identifikation der bützfreudigen Kölsche Mäddsche, auf Hochdeutsch: der kussfreudigen Kölner Mädchen, mit den homerischen Sirenen als Ausdruck der

38 Vgl. ebd., S. 186 f. 39 Vgl. ebd., S. 187 f. 40 Vgl. ebd., S. 188–195. 41 Zu dieser Sage s. u. S. 78 mit Anm. 43–45. 42 Vgl. ebd., S. 195.

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Furcht des Theologiestudenten vor den Gefahren des realen Lebens und seinen eigenen geheimen Wünschen lesen lassen. In welchem Maße diese Funktionalisierung der Sirenen zum Gemeingut geworden ist, lässt sich daran ablesen, dass sie auch im Zeichentrickfilm des 21. Jahrhunderts Verwendung findet. So bildeten diese Wesen die Sehnsüchte des Mammuts Manni, des Säbelzahntigers Diego und des Faultiers Cid in dem 2012 veröffentlichten Film Ice age 4. Voll verschoben ab. Es ist auch nicht nötig tief zu schürfen, um den Bürgermeister Gryn zu finden, dessen Familie zu den fünfzehn Kölner Patrizierfamilien gehörte, die ihren Ursprung auf fünfzehn römische, angeblich von Kaiser Trajan in Köln angesiedelte Familien aus senatorischem Adel zurückführten und auf diese Weise ihre phasenweise beherrschende Stellung in der Stadt legitimierten.43 Die Geschichte lässt sich in Sebastian Münsters in vielen Auflagen und Sprachen erschienener Cosmographia44 ebenso nachlesen wie in einem Bädeker von 184945 oder Ludwig Bechsteins Deutschem Sagenbuch46 oder im Internet, wo Gryn Eingang in die Online-Enzyklopädie Wikipedia gefunden hat,47 sowie sicherlich in manchen weiteren zeitgenössischen und modernen Quellen. Gryns Löwenkampf wird als Chiffre für die ständigen Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht, d. h. zwischen der Stadt und dem Erzbistum gedeutet, die zur Zeit des Erzbischofs Engelbert II. ihren Höhepunkt erreichten, und versinnbildlicht damit ein prägendes Stück Stadtgeschichte. Als eine mögliche Erklärung für die

43 Zur Rückführung der Kölner Patrizierfamilien auf die Zeit des Kaisers Trajan vgl. Wolfgang Herborn: Bürgerliches Selbstverständnis im spätmittelalterlichen Köln. Bemerkungen zu zwei Hausbüchern aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Werner Besch u. a. (Hgg.): Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen. Bonn 1972, S. 490–520, bes. S. 503–505. 44 Vgl. z. B. Cosmographiae universalis lib. VI. in quibus iuxta certioris fidei scriptorum traditionem describuntur, omnium habitabilis orbis partium situs, propriae dotes. Regionum Topographiae effigies. Terrae ingenia, quibus fit ut tam differentes et varias specie res, et animatas, et inanimatas, ferat. Animalium peregrinorum naturae et picturae. Nobiliorum civitatum icones et descriptiones. Regnorum initia, incrementa et translationes. Regum et principum genealogiae. Item omnium gentium mores, leges, religio, mutationes: atque memorabilium in hunc usque annum 1554. gestarum rerum Historia. Autore Sebastino Munstero. [Kolophon: Basileae apud Henricum Petri, Mense Septembri anno salutis M.D.LIIII.], S. 505. 45 Vgl. z. B. Rheinreise von Basel bis Düsseldorf mit Ausflügen in das Elsaß und die Rheinpfalz, das Murg- und das Neckarthal, an die Bergstraße, in den Odenwald und Taunus, in das Nahe, Lahn, Ahr, Roer, Wupper- und Ruhrthal und nach Aachen. Sechste verbesserte und vermehrte Auflage der Klein’schen Rheinreise bearbeitet von Karl Bädeker. Koblenz 1849, S. 326. 46 Vgl. Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Leipzig 1853, Nr. 116, S. 105 f.; Bechsteins Fassung findet sich wörtlich übernommen bei Erich Bockemühl: Niederrheinisches Sagenbuch. Sagen und wunderliche Geschichten vom Niederrhein und seinen Grenzgebieten. Moers 1930, S. 142 f. 47 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Gryn (06.06.2012).



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Sage gilt, dass Gryn die für die Freiheit streitende Stadt darstellte, der Löwe aber Engelbert, der dieses Tier in seinem Wappen führte.48 Darüber hinaus gab es in Köln nachweislich eine römische Skulptur, die den Kampf zwischen Herakles und dem Löwen darstellte. Sie könnte als Modell für den Löwenkampf gedient haben. Weiterhin waren zwei Löwenköpfe in die Pfaffenpforte eingemauert. Weit weniger leicht greifbar, aber doch weit verbreitet ist die Sage vom getauften Juden und den Tieren. Sie findet sich in verschiedenen Varianten und mit unterschiedlicher geographischer Verortung.49 Eine frühe Variante und mögliche Vorlage mag die auf einem beigefügten Zettel in der Chronik des 1348 oder 1349 verstorbenen Franziskanermönchs Johannes von Winterthur überlieferte Geschichte von einem Franziskaner sein, der als Jude sterben wollte.50 Im Wesentlichen dürfte es sich um die als Wandersage erzählte Aitiologie der im 16. Jahrhundert tradierten Redensart handeln: „So wahr die Maus die Katz nit frisst, so wird kein Jud ein wahrer Christ.“ Dieser Spruch soll im Dom zu Freising als Inschrift unter einer sogenannten Judensau-Darstellung zu lesen gewesen sein.51 In Verbindung mit Katze und Maus wird die Geschichte vom getauften Juden von Peter Recutitus, Abt (1397–1402) des Prämonstratenserklosters Rot an der Rot überliefert, der die Abtei heruntergewirtschaftet und sich unter Hinterlassung von Katze und Maus aus Silber oder Blech davongemacht haben soll.52 In ähnlicher Weise soll ein konvertierter Mainzer Prälat seinen Erben eine goldene Katze mit einer goldenen Maus und der entsprechenden Aufschrift hinterlassen haben.53 Mit ausdrückli-

48 Vgl. Friedrich Everhard von Mering, Ludwig Reichert: Zur Geschichte der Stadt Köln am Niederrhein. Von ihrer Gründung bis zur Gegenwart nach handschriftlichen Quellen und den besten gedruckten Hilfsmitteln bearbeitet. Köln 1838, S. 132. 49 Für die folgenden Literaturhinweise danke ich Christoph Cluse vom Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden an der Universität Trier. 50 Vgl. Die Chronik Johanns von Winterthur – Chronica Ioannis Vitodurani. In Verbindung mit C. Brun hg. von Friedrich Baethgen. Berlin 1924 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum nova series 3), S. 84,35 f. und S. 85,19–37. 51 Vgl. Isaiah Shachar: The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History. London 1974, S. 33. 52 Vgl. Anton Birlinger, Michael Richard Buck (Hgg.): Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Freiburg 1861, S. 50 f. mit Anm. 64 auf S. 501. Der überlieferte Spruch lautet in dieser Fassung: Wo diese Katz die Maus erwischt, so bleibt ein Jud ein guter Christ. 53 Wilhelm Körte: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen. Nebst den Redensarten der Deutschen Zech-Brüder und Aller Praktik Großmutter, d. i. der Sprichwörter ewigem Wetter-Kalender. Leipzig 1837, S. 233.

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chem Bezug zu einer Skulptur an einem Kölner Kirchenportal bezieht sich Martin Luther auf Katz und Maus in seinen Tischreden:54 Doctor Martinus Luther sagte: „Daß zu Cöln in einer Kirche stünde ein Dechant in die Thür gehauen, der hab in einer Hand eine Katzen, und in der andern Hand eine Maus. Dieser Dechant ist ein Jüde gewesen, und hat sich taufen lassen, und sich zum Christenthum begeben; nach seinem Tod hat er sich also lassen in Stein an die Kirchthür hauen, damit er hat wollen anzeigen, als wenig die Katz der Maus kann gut sein, also wenig ist ein Jüde einem Christen gut. Und es ist wahr“, sprach Doctor Martinus Luther, „die Jüden gönnen uns nichts Guts, wir sind ihnen als der Tod oder als ein gebrannt Leid. Es thut ihnen wehe, daß wir ihnen fur den Augen umbgehen. Die Jüden haben keinen Trost, denn allein der Wucher, der erhält sie noch; aber wenn ich ein Herr im Lande wäre, so wollt ich ihnen den Wucher auch verbieten.“

Ein Gleiches – wohl auf der Grundlage Luthers – berichtet Hans Wilhelm Kirchhof (1525–1600) in seiner Schwank-, Anekdoten- und Geschichtensammlung Wendunmuth über einen Kölner getauften Juden.55 Diese Beschreibung gleicht der von Mollerus in auffälliger Weise. Allerdings lokalisiert Martin Kirn die Darstellung nicht bei St. Paul, sondern bei St. Andreas.56 Da die beiden Kirchen jedoch räumlich eng beieinander lagen und der Pfarrbezirk von St. Paul wohl schon im 12. Jahrhundert der Stiftskirche St. Andreas angegliedert war,57 ist eine Verwechslung in die eine oder andere Richtung durchaus möglich. Es ist jedenfalls wahrscheinlich, dass Mollerus sowohl Brant oder dessen Quelle als auch Luther oder dessen Quelle vorgelegen hat, da er in seiner Version sowohl die Opposition von Katze und Maus um diejenige von Hund und Hase erweitert, wie es bei Brant, aber in keiner der anderen Versionen der Fall ist, als auch von der Darstellung einer Person mit zwei – aber eben nicht mit vier – Tieren an einem

54 Tischreden 74: Tischreden von Juden, Nr. 2915 (25): Von einem getauften Jüden, so da zu Cöln ist etwan Dechant gewesen. In: Dr. Martin Luther’s vermischte deutsche Schriften. II. Tischreden. Hg. von Johann Konrad Irmischer. Bd. 6. Frankfurt a. M., Erlangen 1854 (Dr. Martin Luther’s sämmtliche Werke. 4. Abt., Bd. 10 [Bd. 62 des Gesamtwerks]), S. 371. 55 Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. 4. Buch, Nr. 280: Jüden Bekehrung. In: Wendunmuth, darinnen fünff hundert und fünfftzig höflicher, züchtiger und lustiger historien, schimpfreden und gleichnüssen begriffen und gezogen seyn auß alten und ietzigen scribenten; item den Facetiis deß berümpten und wolgelehrten Henrici Bebelii, weiland gekrönten poeten, sampt etlichen andern neuwergangenen warhafftigen aller stende geschichten, welchen iederm besonderen eine morale zuerclerung angehengt. Vorhin niemals außgegangen. Hg. von Hermann Österley. Bd. 3. Tübingen 1869 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 97), S. 255. 56 Vgl. Hans-Martin Kirn: Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns. Tübingen 1989, S. 63 f. 57 Vgl. Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter. Bd. 1. Bonn 1910, S. 191.



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Kirchenportal berichtet. In jedem Fall zeugt die Geschichte an sich von dem tiefen Misstrauen von Christen gegenüber Juden im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen und gegenüber jüdischen Proselyten im Besonderen.58 Dass ein Münsteraner Christ in einen derartigen Antijudaismus einstimmt, ist verurteilenswert, aber zeittypisch und angesichts der Ausweisung der Juden aus der Stadt Münster im Jahr 1554 nicht verwunderlich. Mollerus’ Judenfeindlichkeit geht überdies, was ebenso wenig verwunderlich ist, Hand in Hand mit einer dezidiert anti-heidnischen Haltung, die sich z. B. in der glorifizierenden Darstellung von Karls Unterwerfung der Sachsen (5,175–200) und der Verurteilung des friesischen Königs Rabod manifestiert, der sich der Christianisierung widersetzte (6,1131–1162), und einem ausgeprägten christlichen Moralismus. Hinzu kommt ein Lob germanischer Tugenden, wie sie sich in den Gestalten des Arminius und Karls des Großen zeigen. Konfessionell geprägte Äußerungen hingegen lassen sich m. E. nicht ausmachen, obwohl gerade unter Johann von Hoya mit der großen Kirchenvisitation des Bistums die Gegenreformation im Münsterland ihren Anfang nahm.59 In der Summe stehen alle im 4. Buch erzählten Geschichten für Mollerus’ Vorliebe für das Absonderliche, Mirakulöse, Anekdotische, moralisch Erbauliche. Wie Herodot all sein – teilweise ebenfalls skurriles – Material, das er über fremde Völker sammelte, seiner Geschichtsdarstellung eingliederte, ordnet Mollerus seine Lesefrüchte oder das, was er auch mündlich erfahren haben mochte, geographisch, und zwar mit einem Schwergewicht auf dem westfälischen Raum. Die geographische Ordnung wird durch die Beschreibung des Rheinlaufs mit seinen Nebenflüssen gebildet, wobei die Flussbeschreibungen von der gesamten Textmenge den geringeren Anteil ausmachen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Bechstein in seinem Sagenbuch seine tausend deutschen Sagen ebenfalls im Wesentlichen entlang einer Wanderung von den Quellen bis zur Mündung des Rheins angeordnet hat.60

58 Vgl. Gerd Mentgen: Jüdische Proselyten im Oberrheingebiet während des Spätmittelalters. Schicksale und Probleme einer „doppelten“ Minderheit. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142 = N. F. 103 (1994), S. 117–139. 59 Vgl. Friedrich Brune: Der Kampf um eine evangelische Kirche im Münsterland 1520–1802. Witten 1953, S. 71–82. 60 Vgl. Bechstein (Anm. 44) in seinem Vorwort, S. VI.

Seraina Plotke

Hydrographie als poetisches Prinzip der Digression Die Flussbeschreibung Rhenus et eius descriptio elegans (1570) von Bernardus Mollerus

Werke, die geographische oder topographische Phänomene beschreiben, hatten im 16. Jahrhundert Hochkonjunktur. Landstriche, Städte oder Gewässer, sie alle hat der frühe Buchdruck diskursiv vermessen, häufig verbunden mit der Schilderung der Sitten und Gebräuche der An- resp. Bewohner und unter Einbezug der neuen Möglichkeiten, die die Errungenschaften des Bild- und des Letterndrucks mit sich brachten: Verbale Beschreibungen wurden kombiniert mit oder ergänzt durch Holzschnitte oder Metallstiche, die Stadtansichten, Karten und anderes Illustrationsmaterial boten. Bereits in der Zeit der Inkunabeln findet man erste derartige Publikationen im Druck verwirklicht. Als bedeutendstes editorisches Großprojekt vor 1500 ist sicherlich die Schedelsche Weltchronik zu nennen, die mit ihrer historisch-temporalen Ausrichtung allerdings noch ganz in der Tradition mittelalterlicher Chroniken steht, indem sie heilsgeschichtlich argumentiert und das Strukturprinzip der Weltalter wählt.1 Nichtsdestotrotz spielen die Beschreibung räumlicher Gegebenheiten und topographischer Erscheinungen sowie die visualisierende Vermittlung und kartographische Illustration derselben in diesem frühen Druckerzeugnis eine richtungsweisende Rolle.2 Im Lauf des 16.  Jahrhunderts treten Werke in den Vordergrund, die grundsätzlich spatial organisiert sind und den Fokus auf das Nebeneinander der darzustellenden Phänomene legen, indem sie die Welt nicht mehr zeitlich, sondern räumlich zu erfassen suchen, auch wenn historischen Dimensionen und chronographischen Erklärungsmustern nach wie vor große Bedeutung zukommt. Man

1 Siehe einführend und mit einer Übersicht zu den Ausgaben: Hartmann Schedel: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Faksimile-Nachdruck. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel. Augsburg 2004; Christoph Reske: Die Produktion der Schedelschen Weltchronik in Nürnberg / The production of Schedel’s Nuremberg Chronicle. Wiesbaden 2000 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 10). Weiterführend auch: Stephan Füssel (Hg.): 500 Jahre Schedelsche Weltchronik. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. April 1993 in Nürnberg. Nürnberg 1994 (Pirckheimer-Jahrbuch 9). 2 Das Verhältnis von chronographischer und topographischer Welterfassung in Schedels Werk erörtert Gernot Michael Müller: Die Germania generalis des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67), S. 286–302. DOI 10.1515/9783110400281-005



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könnte von einer Art Paradigmenwechsel sprechen, der nicht zuletzt durch die Entdeckungsfahrten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse geprägt war, sich aber auch aus der konsequenten Umsetzung der neuen drucktechnischen Möglichkeiten speiste. Paradebeispiel für ein Werk, das die Welt nach spatialen Maßgaben einzuholen sucht, und publizistische Meisterleistung zugleich ist Sebastian Münsters 1544 in Basel edierte Cosmographia,3 die sich ihrem Gegenstand sowohl verbal-beschreibend als auch illustrativ-dokumentierend nähert.4 Der Druck war dermaßen erfolgreich, dass er im Lauf der folgenden Jahrzehnte zahllose Neuausgaben, Erweiterungen und Übersetzungen erfahren hat.5 Die Cosmographia Münsters mag zwar das berühmteste und am aufwändigsten gestaltete Werk sein, das sich programmatisch räumlichen Erscheinungen widmet und diese für vielseitige weiterführende Erörterungen nutzt. Daneben kursierten im 16.  Jahrhundert unzählige weniger bekannte Publikationen, die sich der Beschreibung spatialer Phänomene widmen: Literarische Stadtbeschreibungen, Deskriptionen topographischer Gegebenheiten, in Prosa oder in Versen gehalten, Schilderungen einzelner Erdteile oder politisch zusammenhängender Landstriche, lateinisch oder volkssprachlich, sie alle finden sich in großer Zahl, wenn auch nicht immer mit Illustrationen ausgestattet. Im Kontext des Basler Buchdrucks, aus dem in der Jahrhundertmitte Münsters Cosmographia hervorging, ist die 1514 veröffentlichte Helvetiae descriptio des Schweizer Humanisten Heinrich Glarean zu nennen, die im Verbund mit einem panegyrischen Gedicht auf Kaiser Maximilian erschienen ist und eine lateinische Beschreibung und Lobpreisung der Schweiz und der einzelnen Kantone in Hexametern bietet.6 Die Dichtung besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: Als

3 Der vollständige Titel der in Basel 1544 bei Heinrich Petri erschienenen Erstausgabe lautet: Cosmographia: Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum in welcher begriffen, Aller völker Herrschafften, Stetten, und namhafftiger flecken, herkommen: Sitten, gebreüch, ordnung, glouben, secten, und hantierung, durch die gantze welt, und fürnemlich Teütscher nation: Was auch besunders in iedem landt gefunden unnd darin beschehen sey: Alles mit figuren und schönen landt taflen erklert, und für augen gestelt. 4 Mit Überblickscharakter zu Münsters Cosmographia siehe Matthew McLean: The Cosmographia of Sebastian Münster. Describing the world in the Reformation. Aldershot 2007 (St. Andrews studies in Reformation history); Günther Wessel: Von einem, der daheim blieb, die Welt zu entdecken. Die Cosmographia des Sebastian Münster oder Wie man sich vor 500 Jahren die Welt vorstellte. Darmstadt 2004. 5 Vgl. Karl Heinz Burmeister: Sebastian Münster. Eine Bibliographie. Wiesbaden 1964. 6 Das Titelblatt des 1514 bei Adam Petri in Basel veröffentlichten Drucks kündigt die Werke wie folgt an: Ad divum Max. Aemilianum Romanorum imperatorem semper Augustum, Henrici Glareani Helvetii poe. laure. panegyricon; Eiusdem de situ Helvetiae & vicinis gentibus: de quattuor Helvetiorum pagis: pro iustissimo Helvetiorum foedere panegyricon. Eine Übersetzung von Glare-

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Erstes werden die Landesgrenzen nachvollzogen, die wichtigsten Flüsse genannt und die topographische Beschaffenheit der Schweiz geschildert, wobei Glarean mit der Feststellung schließt, nicht einmal Vergil oder Homer hätten die Schönheit der betreffenden Gewässer gebührend preisen können. Unmittelbar daran knüpft der zweite Teil des Werks an, die Skizzierung der vier Regionen der Schweiz. Glarean spricht in diesem Zusammenhang von pagus und versteht darunter jeweils dasjenige Gebiet, das den Lauf eines Flusses begleitet: So gesehen würden die vier Flüsse Thur, Limmat, Reuss und Aare die Regionen der Schweiz bestimmen. Der Zwischentitel Panegyricum leitet den letzten Teil der Dichtung ein, der sich den zwölf Orten der damaligen Eidgenossenschaft widmet. Nacheinander werden Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Basel, Freiburg, Solothurn, Schaffhausen und, als Nachtrag, Appenzell besungen – Letztes war 1513 gerade erst als dreizehnter Ort in den Bund der Eidgenossen aufgenommen worden. Der Humanist hebt das Besondere jedes einzelnen Kantons hervor, indem er beispielsweise das Berner Münster mit den Pyramiden von Memphis vergleicht oder die Männer von Zug mit dem Römer Camillus. Glareans Werk erreichte eine interessierte Leserschaft, was zur Folge hatte, dass fünf Jahre später eine kommentierte Ausgabe mit ausführlichen Prosaanmerkungen von Oswald Myconius erschien.7 In die Fußstapfen Glareans trat sein Schüler Aegidius Tschudi  – um ein weiteres Basler Druckbeispiel zu nennen –, der 1538 seine in deutscher Sprache gehaltene Beschreibung der Schweizer Gebirgswelt veröffentlichte.8 Nicht zuletzt

ans Werk bietet die Ausgabe: Henricus Glareanus: Helvetiae descriptio – Panegyricum. Hg. und übers. von Werner Näf. St. Gallen 1948. 7 Das kommentierte Werk erschien 1519 ebenfalls in Basel, nun aber in der Offizin von Johannes Froben. Im Anschluss an die Beschreibung der Schweiz wird noch einmal das Panegyricon auf Kaiser Maximilian abgedruckt, wie auch der Wortlaut des Titelblatts dieser Ausgabe verdeutlicht: Descriptio de situ Helvetiae, & vicinis gentibus / per eruditissimum virum Henricum Glareanum Helvetium, poëtam laureatum; Idem de quatuor Helvetiorum pagis; Eiusdem pro iustissimo Helvetiorum foedere Panegyricon / cum commentariis Osvaldi Myconii Lucernani; Ad Maximilianum Augustum Henrici Glareani Panegyricon. Siehe weiterführend zu Glareans Werk und Myconius’ Kommentar: Jean-Daniel Moreod, Anton Näf: Guillaume Tell et la libération des Suisses. Lausanne 2010, S. 81–87. 8 Der vollständige Titel des bei Johannes Bebel 1538 in Basel edierten Werks lautet: Die uralt warhafftig Alpisch Rhetia sampt dem Tract der anderen Alpgebirgen : nach Plinij Ptolemei Strabonis auch anderen Welt und gschichtscheybern [sic] warer anzeygung / durch den Ehrnvesten und wysen herren herr Gilg Tschudi von Glarüs ettwo in Sarganser land darnach zuo Baden im Ergöw gmeiner Eydgnossen Landvogt in Tütsch spraach zuosamen getragen und yetz mit einer Geographischen tabel ussgangen. Wichtige Beiträge zu Aegidius Tschudi vereint der Band: Katharina Koller-Weiss, Christian Sieber (Hgg.): Aegidius Tschudi und seine Zeit. Basel 2002.



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um das Werk der gesamten humanistischen Bildungswelt Europas zugänglich zu machen, wurde noch im selben Jahr eine von Sebastian Münster angefertigte lateinische Übersetzung der Abhandlung unter dem Titel De prisca ac vera Alpina Rhaetia […] descriptio herausgegeben. Als Beigabe, bereits zur volkssprachlichen Publikation, erschien die gesüdete Karte Helvetiae descriptio, die erste relativ genaue Karte der Schweiz.9 Auf Aegidius Tschudis Beschreibung der Schweiz wiederum basiert jenes Werk – zumindest in dessen ersten Teil –, das im Zentrum der folgenden Überlegungen zur Hydrographie stehen soll und das, so die These, die dichterische Form der Flussbeschreibung zu einem eigenen poetischen Prinzip der Digression erhebt. Nicht nur mit der Schweiz und ihren Flüssen und Bergen, sondern mit dem größten mitteleuropäischen Strom in seiner gesamten Länge beschäftigt sich das umfangreiche lateinische Lehrgedicht Rhenus et eius descriptio elegans des Münsteraner Kanonikers Bernardus Mollerus, das erstmals 1570 in Köln publiziert und 1596 mit modifiziertem Titel zusammen mit einer ausfaltbaren Karte des Rheins und seiner Zuflüsse aufgelegt wurde.10 Die Dichtung ist in sechs Bücher von je 1000 bis 1500 Versen eingeteilt, beschrieben wird der Rhein von der Quelle bis zur Mündung, wobei sich die Schilderung durch unzählige inhaltliche Abschweifungen – kleine Geschichten, Aitien, mythische Erzählungen – auszeichnet, die die Darstellung bereichern. Dediziert ist das in elegischen Distichen gehaltene Werk Johann Graf von Hoya, Fürstbischof der Diözesen Münster, Osnabrück und Paderborn, wie das ausführliche, ebenfalls in Distichen formulierte Proömium eröffnet. Jedem Buch ist eine kurze Prosazusammenfassung vorgeschaltet, die skelettartig die Ortschaften und Zuflüsse aufführt, welche den jeweils beschriebenen Flussabschnitt prägen.11

9 Die nur in wenigen Exemplaren erhaltene Karte ist als Nachdruck erschienen: Aegidius Tschudi: Nova Rhaetiae descriptio atque totius Helvetiae 1538. Erste Karte der Schweiz. Zürich 1962. 10 Der vollständige Titel des in Köln bei Johannes Birckmann veröffentlichten Erstdrucks lautet: Rhenus et eius descriptio elegans a primis fontibus usque ad Oceanum Germanicum ubi Urbes, Castra, & Pagi adiacentes, Item flumina & rivuli in hunc influentes, & si quid praeterea memorabile occurat plenissime carmine Elegiaco depingitur. Nach der Erstausgabe 1570 erfolgte 1571 eine weitere Auflage. 1596 wurde das Werk erneut ediert, nun bei Peter Haack in Köln, unter dem Titel: D. Bernardi Molleri Monasteriensis Rheni A Primis Fontibus Usque Ad Oceanum Germanicum Descriptio: In Qua non solum Urbes, Castra, & Pagi adiacentes; item Flumina & rivuli in hunc influentes, depinguntur: verum etiam plurimae Antiquitates, variae historiae, & multa scitu digna […]. 11 Die Aufteilung des Rheins auf die sechs Bücher stimmt nicht mit der heutigen Unterteilung in Alpenrhein, Hochrhein, Oberrhein etc. überein, Mollerus hat sich im Wesentlichen an den wichtigeren Zuflüssen orientiert (mit Ausnahme des Mains): Im ersten Buch beschreibt er den Rhein von den beiden Quellen bis zum Zusammenfluss mit der Aare, das zweite Buch geht von Koblenz an der Aare-Mündung bis Mannheim (also bis zum Neckar-Zufluss), das dritte von Mannheim

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Bemerkenswert und signifikant ist bei Mollerus’ Dichtung bereits der Umstand, dass die Überschrift im Erstdruck nicht etwa Rheni descriptio lautet, wie naheläge und man im Gefolge der oben erwähnten Werke erwarten würde, sondern aus der Zweigliedrigkeit des Haupttitels Rhenus et eius descriptio elegans rezeptionssteuernde Sinnschichten erwachsen. Indem das Augenmerk zunächst auf den Rhein als solchen gelenkt wird und erst im zweiten Schritt die Perspektivierung auf die descriptio erfolgt, knüpft das Werk einerseits an bekannte Flussgedichte wie die Mosella des Ausonius aus der Spätantike und an dessen humanistische Nachfolger an, in deren Kontext es damit gestellt wird.12 Andererseits wird durch die doppelte Pointierung verdeutlicht, was den Leser erwartet, nämlich ein Gedicht, das den Namen Rhenus trägt und – quasi darüber hinaus – eine Beschreibung des betreffenden deutsch-europäischen Stromes bietet. Zugespitzt formuliert heißt dies: Das präsentierte Gedicht wird mit dem Fluss, als dessen Abbild es über das erste Titelwort annonciert wird, gleichgesetzt. Dass die vielen tausend Verse nicht nur eine Beschreibung des Stromes von den Quellen bis zur Mündung liefern, wie der Untertitel hervorhebt  – a primis fontibus usque ad Oceanum Germanicum –, sondern gleichsam selbst zum Abbild und Sinnbild des Flusses erhoben werden, veranschaulicht nicht nur die außergewöhnliche Länge des Rheingedichts, die alle früheren Flussbeschreibungen um ein Vielfaches übersteigt und damit die besondere Erstreckung dieses Fließgewässers spiegelt. Auch im Proömium wird die Vorstellung der Dichtung im Fluss – oder auch: des Dichtwerks als Fluss – mehrfach reflektiert. Bereits der

bis zur Mosel-Mündung, das vierte von der Mosel bis nach Köln (nördlich der Sieg-Mündung), das fünfte Buch reicht von Köln bis zum Zusammenfluss von Rhein und Lippe und das sechste schließlich von dort bis zur Nordsee. Eine detailliertere Übersicht über den gesamten Aufbau des Werks sowie einführende Informationen zum Autor bietet dankenswerterweise der Beitrag von Beate Hintzen: Ein Münsteraner in einer rheinischen Metropole: Bernardus Mollerus’ Blick auf Köln (S. 69–81 im vorliegenden Band). Die dort (S. 69) vertretene Auffassung von Mollerus als poeta minimus teile ich allerdings aus noch auszuführenden Gründen nicht (abgesehen davon, dass ich diese Kategorie grundsätzlich für problematisch halte). Zur Einordnung des Werks in verschiedene Gattungstraditionen siehe die beiden früheren Aufsätze der Autorin: Beate Czapla: Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ Rhenus et eius descriptio elegans und die Tradition lateinischer Flussdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30 (1998) 2, S. 8–31; Beate Czapla: Neulateinische Lehrdichtung zwischen der literarischen Tradition von Hesiod bis Manilius und der neuzeitlichen Ars apodemica am Beispiel von Bernardus Mollerus’ Rhenus und Cyriacus Lentulus’ Europa. In: Neulateinisches Jahrbuch 1 (1999), S. 21–48. Ebenfalls Bernardus Mollerus und seiner Rheindichtung gewidmet ist der Beitrag von Thomas Gärtner: Die frühen Werke des Münsteraners Bernhardus Mollerus: der Rhenus und die Ecclesias (S. 94–105 im vorliegenden Band). 12 Siehe dazu eingehend Czapla: Der Rhein (Anm. 11).



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Auftaktvers rekurriert auf die Fluktualität und Vergänglichkeit von Flusswasser: Scribere decrevi, quid scribam praeterit (V. 1).13 Mollerus kündigt an, über etwas schreiben zu wollen, das während des Schreibprozesses gerade vorübergeht und verrinnt, und macht mit diesem Eingang explizit auf die entscheidende Qualität des Dahinströmens von Flüssen aufmerksam. Flusswasser besitzt die Eigenschaft der scheinbaren Substanz: Es ist für den Betrachter zwar da, jedoch nicht mit sich selbst identisch. Flusswasser lässt sich nicht im Moment festhalten, sondern ist an einer bestimmten Stelle im Prozess der Flüchtigkeit immer schon weiter- und vorbeigeflossen. Von diesem Gedanken her lassen sich Flüsse als solche sowie Flusswasser in sinnbildliche Analogiebeziehungen zu Dichtwerken und deren Versfolgen setzen,14 wobei die Dimensionen von Zeit und Raum bei Flüssen in einem ähnlich paradoxen Verhältnis stehen wie bei schriftlich festgehaltenen Versgedichten. Einerseits ist die topographische Ausdehnung des Flusslaufs im Gelände räumlich zu denken, dem entsprechend lässt sie sich schließlich auch kartographisch festhalten. Analog dazu besitzt das literarische Produkt eine Erstreckung von vielen aufeinanderfolgenden Zeilen – etwa von mehreren tausend Versen, wie im Fall des Rhenus –, die skriptural auf den Buchseiten eine räumliche Ausdehnung besitzen. Wie die Spur auf der Karte, die den Flusslauf in der Fläche abbildet, konstituiert auch die Buchstabenfolge der Dichtung eine Linie, die in der Handschrift oder im Druck zunächst einmal eine spatiale Dimension aufweist. Auf der anderen Seite lässt sich das Gedicht nur in der Zeitlichkeit und durch Verzeitlichung rezipieren: Die Wörter und Verse werden ausgesprochen oder still gelesen, wobei sie sich mit dem Fortschreiten der Lektüre sofort wieder verflüchtigen, ähnlich wie der Verlauf des Flusses von der Quelle bis zur Mündung nur temporal verfolgt werden kann und die jeweiligen Positionen nach dem Passieren

13 Die Versangaben zum Proömium richten sich nach der Ausgabe Mollerus: Rhenus (Anm. 10). Mit dem Proömium des Werks setzt sich auch Gärtner (Anm. 11) auseinander, jedoch mit abweichenden Einschätzungen. Den Auftaktvers versteht Gärtner anders (vgl. ebd., S. 95–99). 14 Zu solchen und ähnlichen Überlegungen siehe insbesondere: Alexander Honold: Der Rhein. Poetik des Stroms zwischen Elementarisierung und Domestikation. In: Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie 126 (2008) 2, S. 330–344. Des Weiteren auch: Alexander Honold: Vom Rhein zur Donau und zurück. Die Bedeutung der deutschen Ströme in der Wiederentdeckung und Mythisierung des Nibelungenstoffs. In: Schätze der Erinnerung. Geschichte, Mythos und Literatur in der Überlieferung des Nibelungenliedes. Dokumentation des 7. Wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e. V. und der Stadt Worms vom 17. bis 19. Oktober 2008. Hg. von Volker Gallé. Worms 2009 (Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms 6), S. 117–145; Alexander Honold: Metamorphosen. Ovid und die Mythopoetik des Wassers. In: Mythopoetik in Film und Literatur. Hg. von Matthias Bauer, Maren Jäger. München 2011 (Projektionen 5), S. 33–46.

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der Stellen unverweilt aus dem Blickfeld verschwinden und der Vergangenheit angehören. Die Lektüre eines Dichtwerks gleicht dem Entlangfahren an einem Fluss. Wie in der Nennung der einzelnen Ortschaften und der beschreibenden Abfolge der Zuflüsse des Rheins stromabwärts deutlich wird, realisiert Mollerus’ Rhenus dieses raum-zeitliche Abbildungsverhältnis mitunter punktgenau. Schon das Proömium beutet die abbildlichen und sinnbildlichen Beziehungsgeflechte von Fließgewässern und Dichtwerken poetologisch aber noch weiter aus. So wünscht sich der Dichter in dessen Mitte emphatisch: In mea se fundat dominator carmina Rhenus (V. 134). Zum sinnbildlich nutzbaren Bedeutungsreservoir von Flüssen gehört die Vorstellung der Wasserkraft, die sich mit Gewalt die Bahnen sucht, in denen das Gewässer seinen Lauf nimmt.15 Der Rhein möge zum Lenker und Meister seiner Verse werden, sie mit seinem Quell bespülen, fordert Mollerus an dieser Stelle. Das Flusswasser des Rheins spendet dem Dichtwerk Kraft, überträgt damit auch kompositorische Energie. Dass die Stärke und Wucht des Wassers allerdings positiv oder negativ konnotiert sein kann, wird sogleich reflektiert, wenn es im darauffolgenden Pentameter heißt: In mea se Rhenus praebeat ora levem (V. 135). Mit behänder Leichtigkeit zeige sich der Fluss auf der Zunge des Dichters – die Vorstellung des den Mund erquickenden Brunnquells schwingt hier unweigerlich mit. Das Wasser als Leben und Verderben bringende Substanz ist Mollerus in seiner Ambivalenz stets präsent. Schon die im Titel gewählte Auszeichnung der descriptio als elegans bringt die Widersprüchlichkeit, die in der Komposition des gedichteten Fließgewässers steckt, auf den Punkt: Zur Naturgewalt des Wassers gehört, dass sie sich schwer einzwängen lässt, der Fluss als elegische Form also immer schon ein Kulturprodukt sein muss.16 In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich die Ankündigung, die das Proömium einige Verse später formuliert, indem der Dichter eindringlich festhält: RHENUS erit carmen: Rheni narrare fluenta / Destino: materies competit ista mihi (V. 160 f.). Mit diesem Distichon setzt Mollerus den Rhein und sein Gedicht ausdrücklich in eins, lässt sie beide identisch werden. Er bestimmt das Flusswasser als seinen Stoff, pointiert den Entschluss, den Rhein in seinem Fließen zu erzählen. Programmatisch wird die Kongruenz der strömenden Naturgewalt mit dem dichterischen Produkt bekannt gegeben: Das Gedicht und das Gewässer, sie fordern gemäß Mollerus in ähnlicher Weise ihr Recht. Dass Flusswasser  – und zwar dasjenige eines so monumentalen Stroms wie des Rheins – Pate für Mollerus’ poetisches Konzept steht, wird in den sechs

15 Dazu Honold: Der Rhein (Anm. 14), S. 337. 16 Vgl. ebd., S. 332.



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Büchern des Lehrgedichts selbst augenscheinlich. Dies sei exemplarisch anhand des ersten Buchs demonstriert, das den Flusslauf von der doppelten Quelle des Vorder- und des Hinterrheins bis zur Einmündung der Aare im Norden der Schweiz verfolgt und insofern an die oben genannten Basler Drucke anschließt, als Mollerus, der selbst nie in dieser Gegend war, als Informationsquelle für die geographischen Details offensichtlich Aegidius Tschudis Beschreibung der Schweiz benutzte. Was sich am Beispiel des ersten Buchs an poetischen Techniken und hydrographischen Verfahrensmustern dokumentieren lässt, findet sich jedoch auch in sämtlichen anderen Büchern des Rhenus und ist charakteristisch für Mollerus’ dichterische Vorgehensweise. In seiner Grobstruktur berichtet das erste Buch der Reihe nach von den Ortschaften und Zuflüssen, die den Alpenrhein und den Hochrhein bis zur AareMündung prägen. Wie im Vorüberziehen werden die beiden im Gebirge entspringenden Quellflüsse und der sich nach der Vereinigung von Vorder- und Hinterrhein fortbildende Wasserlauf beschrieben, werden die wichtigsten Siedlungen und Städte direkt am Rhein sowie in dessen näherer Umgebung genannt: Chur, Maienfeld, Sargans, Bludenz, Feldkirch, Bregenz, Lindau, Konstanz, Steckborn, Diessenhofen, Schaffhausen, Zurzach und Eglisau. Eingepasst in diese Folge erwähnt der Text geographische Besonderheiten im weitesten Sinn, etwa die Bodenseeinseln Mainau und Reichenau oder natürlich auch den Rheinfall. Einen speziellen Status besitzen die größeren Zuflüsse zum Rhein. Die betreffenden Mündungen geben Anlass, diese Flüsse selbst wiederum exkursartig in ihrem Lauf einzuholen, was dazu führt, dass das letzte Drittel des ersten Buchs gar nicht dem Rhein, sondern Reuss, Limmat und Aare gewidmet ist. Zum besonderen poetischen Prinzip von Mollerus gehört, dass die skizzierte Grobstruktur der Flussläufe – sowohl des Rheins als auch seiner Zuflüsse – den Text des Gedichts immer wieder zu kleineren oder umfangreicheren Digressionen leitet. Wie sich Wasser und insbesondere Flusswasser seine Wege in Verästelungen sucht, Bahnen abzweigt oder sich gabelt – vor allem vor den großen Gewässerkorrektionen des 19.  Jahrhunderts17  –, so führt das Gedicht ein Eigenleben

17 Wie sich Flüsse in ihrem natürlichen Gefälle verhalten, ist uns in Mitteleuropa kaum mehr bewusst, da die großen Gewässerkorrektionen und Entsumpfungsmaßnahmen der vergangenen zwei Jahrhunderte die Ströme heute völlig anders aussehen lassen als früher. Rekonstruktionen und alte Karten zeigen, wie verästelt der ursprüngliche Lauf des Rheins über weite Strecken war, der sich immer wieder in mehrere Parallel- und Nebenarme aufspaltete, in Vergabelungen bisweilen ganz versiegte, öfters auch starke Mäander aufwies, wo er heute in einem geraden Betonbett, unterbrochen von Wasserkraftwerken und Schleusen, kanalisiert ist. Siehe dazu weiterführend: David Blackbourn: The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany. New York, London 2006, dt.: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen

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dadurch, dass von der eigentlichen Beschreibung des Flusslaufs abgeschweift wird, Überlegungen und Geschichten eingeschoben werden, die von der Hauptthematik des Rheins wegführen, sich mit dem Strahl der Flussbeschreibung kreuzen und später zu ihr zurückfinden oder einfach in einer Nebenlinie versanden. Die derart eingefügten Schilderungen und Gedankengänge präsentieren ganz unterschiedliche Themen, können sich auf kurze Einsprengsel beschränken, aber auch einen Umfang von mehreren Dutzend Distichen aufweisen. Die ausgedehnteste Digression des ersten Buchs erstreckt sich über mehr als 200 Verse. Sie steht an signifikanter Stelle und nimmt ein für den Flusslauf bedeutsames Phänomen zum Anstoß der Abschweifung. Es geht um den schon bei Aegidius Tschudi als Scala mons bezeichneten Schollberg bei Sargans,18 vor dem der Rhein eine scharfe Biegung nach rechts zum Bodensee hin nimmt, wobei Mollerus das sich an die Kurve anschließende Binnendelta ebenfalls in seine digressiven Überlegungen einbaut. Der Münsteraner nimmt die Erwähnung des mons Scala in seinem RheinGedicht zum Anlass einer ausführlichen Hommage an Paul Skalich und das Veroneser Fürstengeschlecht della Scala, wobei das sich zum Bodensee öffnende Flussdelta über das griechische Wort skalenós (schief, ungerade)  – das insbesondere auch ein ungleichseitiges Dreieck bezeichnet – in die inhaltlichen Verästelungen mit eingebunden wird.19 Was Mollerus in diesem Exkurs unterbreitet, sind Herleitungen des Adelsgeschlechts der Scaliger und deren Repräsentanten, die wilde Etymologien beinhalten und historisch wie geographisch bis zum Nildelta des alten Ägypten ausgreifen. Diese Deduktionen selbst haben Flusscharakter, indem sie sich in der Argumentation verzweigen und kaum stringent zu begreifen sind, um zuletzt jedoch in die ebenfalls ausufernde Ehrung Paul Skalichs zu münden,20 die damit quasi das sedimentreiche Binnendelta des Bodensees repräsentiert. Bernardus Mollerus hatte den Gelehrten Paulus Scalichius oder Scaliger, wie er sich auch nannte, im Umfeld des Münsteraner Fürstbischofs Johann von Hoya kennengelernt, wo sich dieser in den späten 1560er Jahren aufhielt.21 In Wahrheit stammte Skalich aus einfachen Verhältnissen und war in Zagreb geboren, er gab

Landschaft. Übers. von Udo Rennert. München 2006; Eberhard Henze: Technik und Humanität. Johann Gottfried Tulla. Mannheim 1989. 18 Vgl. Tschudi (Anm. 8), S. Jiiv . 19 Vgl. Mollerus: Rhenus (Anm. 10), S. 17–25. 20 Vgl. ebd., insbes. S. 21–25. 21 Vgl. auch Czapla: Der Rhein (Anm. 11), S. 29.



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sich aber über Jahrzehnte als Abkömmling der Veroneser Adelsfamilie Scaliger aus.22 Für Mollerus war Skalich – wie für Johann von Hoya und für viele andere auch – kein Hochstapler, sondern der bekannte adlige Humanist, der sich durch Werke theologischen und philosophischen Inhalts hervorgetan hatte, insbesondere durch die Schrift Encyclopaediae, seu orbis disciplinarum tam sacrarum quam prophanarum epistemon, die 1559 in Basel bei Johannes Oporin erschienen war. So war es wohl der schon im Titel dieses Werks genannte Gedanke des Enzyklopädischen, der Mollerus bewog, Skalich mittels der Digression eine solch prominente Stellung in seinem Rhein-Gedicht einzuräumen, ja diesen geradezu zum heimlichen Widmungsträger zu erheben. Denn nicht nur die Länge der Abschweifung, sondern auch ihre besondere Position innerhalb des Rheinlaufs markiert diese Verse als bemerkenswert: Der zum Anlass genommene Scala mons stellt eine Art Gegenkraft gegen das Wasser dar; der Berg ist es, der den Rhein zur Krümmung und Veränderung seines geraden Laufs zwingt.23 Mollerus pointiert mit seinem Exkurs im Grunde genommen die Festigkeit und Resistenz des Scala mons, die es braucht, um den Gewalten des Flusswassers zu trotzen – genau so, wie Kunstvermögen und enzyklopädische Bildung notwendig sind, um die Wildheit des Rhein-Gewässers in verspoetische Bahnen zu lenken. Das Geschlecht der Scaliger und ihr (vermeintlicher) Abkömmling Paulus Scalichius werden von Mollerus also über den Scala mons und die mit diesem verbundene Abschweifung zu Begründern der dichterischen Potenz stilisiert,

22 Eine minutiöse Rekonstruktion von Skalichs Werdegang bietet Gerta Krabbel: Paul Skalich. Ein Lebensbild aus dem 16. Jahrhundert. Münster 1915 (Geschichtliche Darstellungen und Quellen 1). Der erste Teil dieser Abhandlung ist zudem erschienen als: Gerta Krabbel: Aus Paul Skalichs Leben. Münster 1914. Ebenfalls ausführlich mit Skalich beschäftigt sich: Ludwig von Baczko: Geschichte Preußens. Bd. 3. Königsberg 1794, S. 270–291. Auf der Basis dieser Untersuchungen lassen sich die Stationen von Skalichs Lebenslauf bis zu seinem Münsteraner Aufenthalt wie folgt nachzeichnen: Im Jahr 1534 geboren und als Kind durch den Laibacher Bischof Urban Textor gefördert, konnte Skalich in Wien und Bologna studieren und den Doctor Theologiae erwerben. Von Kaiser Ferdinand I. zum Hofkaplan ernannt, fiel er nach und nach durch Lügengeschichten auf, verließ Wien 1557 und durfte, da er in Ungnade gefallen war, nicht wieder dahin zurückkehren. Er hielt sich darauf in diversen deutschen Städten und bei verschiedenen Adelsgeschlechtern auf und nannte sich fortan Paul Scaliger, Fürst de la Scala, Landherr des römischen und Heergraf des ungarischen Reichs, Heergraf zu Hunn und Markgraf zu Verona. Ab 1561 befand er sich in Königsberg bei Herzog Albrecht von Preußen, wurde aber von dortigen Adligen bald als Schwindler bezeichnet. Er floh 1566 zunächst nach Paris und dann nach Münster, wo er sich wiederum beim Fürstbischof einzuschmeicheln vermochte. 23 Topologisch betrachtet ist es nicht der Schollberg, der den Rhein zur Biegung zwingt, sondern eine nur wenige Meter hohe Schwelle vor dem Walensee, die im Lauf der Jahrtausende zu einer Talwasserscheide führte (vgl. etwa Alexander Supan: Grundzüge der physischen Erdkunde. Paderborn 2013 [Ndr. der Ausg. von 1916], S. 704–710).

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zum Ausgangspunkt künstlerischer Kreativität erhoben. Wie oben bereits angedeutet, lässt sich das aufwändig in die Digression eingewobene Rheindelta des Bodensees darüber hinaus als Sinnbild für poetische Fertilität lesen: Gerade das Nildelta – und der Text rekurriert explizit auf den Nil – gilt schließlich als Inbegriff der Fruchtbarkeit. Auf Grund der Analogiebeziehung zum Flussdelta wird Paul Skalich gewissermaßen zum verästelten Nährboden der enzyklopädischen Poesie stilisiert. Abschließend können folgende Beobachtungen zu Mollerus’ Rhenus et eius descriptio elegans festgehalten werden. Nimmt man das spezifische  – eingangs erläuterte  – Raum-Zeit-Gefüge von Fließgewässern zum Ausgangs- und Vergleichspunkt, lässt sich die Dichtung als Umsetzung mehrerer sich überlagernder poetologischer Konzepte lesen, die nicht nur mit den im sechzehnten Jahrhundert durch den Buchdruck populär gewordenen Kulturtechniken der Kartographie und der enzyklopädischen Kosmographie zusammenhängen, sondern genuin mit dem Problem der Verknüpfung von Natur und Kultur als künstlerischer Leistung. Aus der Raumperspektive betrachtet, und damit auch aus derjenigen der Kartographie, könnte man sagen, dass die Flussläufe sowohl des Rheins als auch seiner großen Zuflüsse für Mollerus die Matrix bilden, um eine detaillierte verspoetische Landkarte (hier im ersten Buch: der Schweiz) zu zeichnen, wobei das strukturbildende Prinzip der Dichtung als Fluss  – und im Fluss  – mitunter zu Gunsten der Vollständigkeit der Graphik aufgegeben wird, so etwa ganz zum Schluss des ersten Buchs, als mit Biel und Murten Städte erwähnt werden, die – zumindest damals, also vor der betreffenden Aarekorrektion – nicht in der Nähe der Aare lagen. Zur kartographischen Methode gehört, dass die im Zusammenhang mit dem Flusslauf genannten Städte zwar angeführt, in der Regel aber nicht näher beschrieben werden. Das poetische Werk konstituiert also quasi eine hydrographische Karte, in der die Städte und Ortschaften gleichsam als Punkte eingezeichnet sind. Diese Pointierung der Dichtung wird in der späteren Ausgabe von 1596 stark gemacht, die die ursprüngliche zweigliedrige Titelformulierung zu Rheni … descriptio abändert24 und in den Druck eine große, ausfaltbare Karte Mitteleuropas einbindet.25 Parallel zu dieser spatialen Perspektivierung wird in Mollerus’ Rhenus die Engführung von Wasserkraft und Dichtkunst in der fließenden Temporalität

24 Zum vollständigen Titel der Ausgabe von 1596 siehe Anm. 10. 25 Die Karte ist gewestet und zeigt ganz links die Schweizer Alpen, rechts die Nordsee, so dass für den Flusslauf des Rheins optimale Darstellbarkeit erreicht wird (vgl. die Reproduktion in diesem Band).



Hydrographie als poetisches Prinzip der Digression 

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anschaulich gemacht  – nicht umsonst spricht man ja auch metaphorisch vom ‚Fluss der Zeit‘. Der Dichter erhebt das Strömen von Fließgewässern zum poetischen Prinzip, indem er immer wieder abschweift und seine Beschreibung verästelt, wie dies die mäandrierenden und sich in Nebenarme verzweigenden Flüsse in ihrer natürlichen Gestalt tun. Das Sprudeln und Schleifen-Ziehen des Wassers zeigt sich im Rhenus denn bis in das dichterische Verfahren, mit Hilfe von Wortwiederaufnahmen, Wiederholungen und Umformulierungen das Nicht-Gradlinige auch in den einzelnen Versen zu spiegeln.26 Mollerus erhebt den Rhein als deutsch-mitteleuropäischen Strom damit zum Analogon des Dichtwerks. In einer Zeit, in der die Kartographie zu blühen begonnen hat und mittels der Technik des Kupferstichs Landkarten in allen Dimensionen angefertigt werden, komponiert der Münsteraner mit seinem Flussgedicht eine hydrographische Abbildung Mitteleuropas, wobei der Rhein das Grundgerüst bildet, um über Digressionen nicht nur in die weiteren Verästelungen des Geländes vorzudringen, sondern dem Poetisch-Enzyklopädischen seinen Lauf zu lassen.

26 Insofern interpretiere ich die vielen Wiederholungen und scheinbar schwerfälligen Formulierungen im Text nicht als Unvermögen des Dichters (vgl. Hintzen [Anm. 11], S. 69), sondern als bewusst gewähltes poetisches Prinzip, das in der Nachahmung des mäandrierenden Fließgewässers besteht.

Thomas Gärtner

Die frühen Werke des Münsteraners Bernhardus Mollerus: der Rhenus und die Ecclesias

Da sich die Beiträge von Beate Hintzen und Seraina Plotke mit den literarischen Eigenheiten des Rhenus des Bernhardus Mollerus1 bzw. mit bestimmten Einzelabschnitten dieser geographischen Ekphrasis-Dichtung befassen, meine ich mich hier auf ein anderes, eher randständiges Thema beschränken zu können: nämlich die poetologische Rechtfertigung des Rhenus, welche Mollerus in seinem umfänglichen distichischen Prooemium gibt, und, hiermit verbunden, die Einbettung des Rhenus in das poetische Frühwerk des Mollerus. Dementsprechend zerfällt mein Beitrag in zwei Teile: Zunächst werde ich das ungewöhnlich lange Vers-Prooemium des Rhenus analysieren und seine Besonderheit vor dem Hintergrund konventioneller Prooemialtopik herausarbeiten. Dann werde ich mich im zweiten Teil einigen – hoffentlich begründeten – Spekulationen hingeben über ein anderes, in den Paratexten zum Rhenus eine Rolle spielendes, jedoch nicht erhaltenes Werk des Mollerus, nämlich seine Ecclesias. Vor der Analyse des Vers-Prooemiums soll jedoch kurz auf die übrigen, erhaltenen größeren dichterischen Werke des Mollerus eingegangen werden (abgesehen von kleineren Gelegenheitsdichtungen, wozu ich auch die Gratulationsgedichte zu Hochzeiten rechne). Diese übrigen Großdichtungen bestehen in vier dramatischen Werken, von denen evidentermaßen jeweils zwei enger zusammengehören. Zuerst erschienen im Jahr 1597 zwei Dramen, die im Titel als tragisch bezeichnet werden: zunächst die Georgiodrakontomachia über den Drachenkampf des heiligen Georg, dessen Darstellung jedoch stark allegorisch überformt wird, worauf bereits der Untertitel

1 Rhenus et eius descriptio elegans. Köln 1571, nachgedruckt Köln 1596. Der Text der Praefatio ist in beiden Ausgaben gleich. In den mir bekannten Exemplaren findet sich auf dem Titelblatt (soweit vorhanden) das Datum 1571, in der Subskription der Prosa-Praefatio dagegen 1570. Ich vermute, dass die in verschiedenen Bibliothekskatalogen differierenden Angaben (1571 oder 1570) daher rühren, dass entweder dem Titelblatt oder der Praefatio gefolgt wird, dass es also vor 1596 überhaupt keine Neuauflage gab. Sicherheit hierüber könnte jedoch nur eine Autopsie sämtlicher Bibliotheksexemplare ergeben. Allgemein zur Person des Dichters vgl. meinen Artikel Moller, Bernhard. In: Frühe Neuzeit in Deutschland. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a., Bd. 4, Berlin/Boston 2015, S. 435–443. DOI 10.1515/9783110400281-006



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res publica Christiana hinweist;2 dann die ganz allegorische Poimandrosatanomachia, in der ein Bischof namens Poimander (der seine Funktion als Kirchenhirt im Namen trägt) gegen die satanische Venus zu kämpfen hat.3 Die beiden übrigen Dramen des Mollerus geben sich dagegen ausdrücklich als komisch und sind in ihrer Gestaltung ebenfalls unübersehbar parallel zueinander: In den Autumnalia (ebenfalls noch 1597) ist der römische König Tarquinius Priscus mit zwölf Sibyllen konfrontiert, die in ihren Prophetien anachronistisch auf die gesamte spätere, auch christliche Weltgeschichte ausgreifen.4 Auch die zweite ‚Komödie‘ stellt der begrenzten Sicht eines weltlichen Herrschers überzeitliche Weisheit anerkannter Autoritäten gegenüber, allerdings im griechischen Bereich: In den ins Jahr 1598 datierenden Vernalia bekommt es der samische Tyrann Polykrates mit den ihm geistig wie moralisch weit überlegenen Sieben Weisen zu tun.5 In den Jahren 1597 und 1598 erreicht das dichterische Schaffen des Bernhardus Mollerus also seinen dramatischen Höhenpunkt. Bei der Erstausgabe des Rhenus aus dem Jahr 1571 befinden wir uns in einer um mehr als ein Vierteljahrhundert davorliegenden Frühphase des Dichters.

1 Das Prooemium Wenden wir uns nun, wie angekündigt, dem Vers-Prooemium des Rhenus zu. Es zerfällt in vier Abschnitte, die im Folgenden der Reihe nach analysiert werden. 1. Themenwahl des Dichters (V. 1–60) 2. Herbeirufung der Musen (V. 61–78) 3. Epiphanie der Musen (V. 79–290) a. Gespräch zwischen den Musen und dem Dichter (V. 93–150) b. Weltkugelschau unter Leitung der Erato (V. 151–208) c. poetologische Ermahnung durch Calliope (V. 209–232)

2 ΓΕΟΡΓΙΟΔΡΑΚΟΝΤΟΜΑΧΙΑ. Res publica Christiana, hoc est Georgii et draconis pugna. Tragoedia poetica, elegiaca, figurata. Münster 1597. 3 ΠΟΙΜΑΝΔΡΟΣΑΤΑΝΟΜΑΧΙΑ. Ecclesia Christiana, hoc est Poemandri episcopi et satanicae Veneris pugna. Tragoedia parabolica, poetica, elegiaca. Münster 1597. 4 Autumnalia Tarquini Prisci Romanorum regis et xii Sibyllarum aliorumque. Actio comica, tragica, heroica. Münster 1597. 5 Vernalia Polycratis r(egis) Samii et vii sapientum Graeciae. Actio comica, heroica, sententiosa, peripatetica. Münster 1598.

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 Thomas Gärtner

d. Ekstase des Dichters und Dichterweihe durch die Musen (V. 233–278) e. Bestärkung des Dichters gegen den Momos (V. 279–290) 4. Rückzug der Musen und Beginn der Arbeit des Dichters am Rhenus (V. 291– 296) Im ersten Abschnitt geht es um die Wahl des Themas: „Ich habe beschlossen zu schreiben, weiß aber noch nicht, was ich schreiben soll“6. Zunächst lehnt Mollerus kriegerisch-epische Stoffe ab, dann erotisch-mythologische nugae. Er entscheidet sich dagegen für die mathesis7; hinter diesem Begriff ist, wie Beate Hintzen gezeigt hat,8 nichts anderes als die im Rhenus bekundete geographische Gelehrsamkeit zu verstehen. Innerhalb dieses Bereichs lehnt er wiederum als denkbares Thema umfassende geographische Kosmologie ab; er sucht dagegen einen leichten, seinem ebenfalls leichtgewichtigen ingenium entsprechenden Stoff.9 Es soll ihm genügen (sufficiat), einen Teil der visiblen Welt (des mundus patens) zu beschreiben: eben den Fluss Rhein. Im Folgenden entwickelt der Dichter das poetologische Prinzip der sorgfältig selektierenden Auswahl einer gewaltigen Stofffülle, ein durchaus konventionelles Prinzip, wie es etwa der spätantike Bibeldichter Sedulius im Zusammenhang seiner Auswahl aus dem alttestamentlichen Material programmatisch ausgesprochen hat:10 Wie eine Biene will er nicht von allen Blumen, sondern nur von wenigen kosten.11 Wenn er alles beschriebe, so ginge dies über die begrenzten Kräfte seines Geistes.12 Schließlich kommt Mollerus zu dem festen Entschluss: Rhenus erit carmen13. Wenig später taucht erstmals implizit der Gedanke eines anderen, späteren und gewichtigeren Werkes auf: Mollerus beschreibt seinen Rhenus – wieder in durchaus konventioneller, hier jedoch besonders aktueller Metaphorik – als die Fluss-

6 Scribere decrevi; quid scribam praeterit […]. V. 1. 7 Diversis diversa placent: tractare mathesin / instituo; veri iure mathesin amo. V. 29 f. 8 Beate Hintzen: Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ Rhenus et eius descriptio elegans und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30 (1998) 2, S. 8–31. 9 Quid moror? ex uno res prodeat unica fonte: / Sit levis, ingenio forsitan aequa levi. / Sufficiat mundi partem cantare patentis; / sufficiat Rheni sceptra referre patris. V. 39–42. 10 Sedul. carm. pasch. I 96–98: Ex quibus audaci perstringere pauca relatu / vix animis committo meis, silvamque patentem / ingrediens aliquos nitor contingere ramos. 11 Sicut apes quando florum virgulta pererrant, / omnia non gustu carpere, pauca solent; / cum labor in promptu, de pluribus optima surgunt; / ex nimiis vitium crebro venire potest. V. 43–46. 12 Sed mihi cuncta placent minime, placitura nec optem / pondera non animi viribus aequa mei. V. 51 f. 13 Rhenus erit carmen; Rheni narrare fluenta / destino: materies competit ista mihi. V. 55 f.



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schifffahrt eines noch nicht hinreichend erfahrenen Kapitäns,14 wobei mit praeludens flumine aber deutlich auf die Möglichkeit einer späteren Hochseeschifffahrt hingewiesen wird. Der zweite Abschnitt des Prooemiums hat die Anrufung der Musen durch den seines Themas nunmehr sicheren Dichter zum Gegenstand. Er ruft der Erato zu: „Schreibe der Erstlingsfrucht meiner Gelehrsamkeit den Rhein vor“; ähnlich der Calliope: „Nimm dich bitte der Erstlingsfrucht meiner Dichtung an“15. Die auffällig wiederholte Metapher primitiae impliziert erneut den Gedanken eines späteren, bedeutungsschwereren dichterischen Werks desselben Dichters. Als dritten Abschnitt nehme ich eine längere Szene, in welcher die angerufenen Musen Erato und Calliope dem Dichter in der Tat epiphanieartig erscheinen. Diese längere Partie gliedert sich wiederum in mehrere Unterabschnitte. Zunächst (3 a) kommt es zu einem Gespräch zwischen den herbeigerufenen Musen und dem Dichter. Hierbei vergleicht letzterer  – mit wiederum topischer Bescheidenheit – den von ihm projektierten Rhenus unvorteilhaft mit denjenigen Werken, welche in poetologischen Diskursen immer wieder als die Erstlingswerke der großen klassischen Dichter genannt werden (von der modernen Philologie werden sie allgemeinhin mit unterschiedlicher Gewissheit als unecht erklärt): mit der Batrachomyomachie Homers, dem Culex Vergils und der Nux Ovids.16 Damit wird erneut die Erwartung späterer, bedeutender Werke auch seitens des Mollerus evoziert. Der Dichter bittet die Musen um Inspiration bzw. intellektuelle Unterstützung; diese wird ihm prompt zugesagt. Erato sagt mit gewollter deutlicher Responsion auf die Bitte des Dichters: „Beschreibe als Erstlingsfrucht unserer Gelehrsamkeit den Rhein“17. Dabei wird zugleich erneut die Bezeichnung des Rhenus als dichterischen Erstlings des Mollerus eingeschärft. Im nächsten Abschnitt erhält der Dichter eine konkrete geographische Unterweisung, indem ihm von Erato die Weltkugel gezeigt wird (Abschnitt 3 b). Er interessiert sich jedoch ausschließlich für Europa (nicht dagegen für Asien und Afrika; die in der Frühen Neuzeit neuentdeckten Weltteile nennt er nicht einmal); und sogleich fokussiert er seinen Blick auf den Rhein. Insofern findet das in

14 Ipse velut nondum doctus sulcare profunda / caerula praeludens flumine nauta ferar. V. 59 f. 15 Primitiis nostrae Rhenum praescribe (sc. Erato) mathesis; / te nihil invita dicere, virgo, licet. / Et tu, Calliope, nostro succurre labori; / primitias nostrae, quaeso, poesis habe. V. 75–78. 16 Iure voluptatis Rhenum cantare paravi:  / materia scapulos exsuperante vetor.  / Et vetor in mures ranarum condere bella; / ad Culicem Latii pauca Maronis ago. / Vix mihi Nasonis primordia confero, laesam / a populo saxis praetereunte Nucem. V. 113–118. 17 Primitias nostrae Rhenum describe mathesis; / quae cupis ad Rheni flumina scire, scies. V. 143 f. (vgl. die Textstellen in Anm. 15).

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Abschnitt  1 theoretisch-poetologisch entwickelte Selektions-Prinzip hier seine konkrete geographische Umsetzung. Nach dem Ende der Erdkugelschau wird dem Dichter von Erato die sphaera wieder entzogen, und die Unterweisung geht vom geographischen auf den poetologischen Sektor über: Calliope ermahnt ihn, sich an die Regeln der Poesie zu halten (Abschnitt 3 c). Dabei kommt sie u. a. auf das Sprachenproblem zu sprechen, das in der Umsetzung deutscher geographischer Namen in die lateinische Dichtersprache besteht. Insbesondere weist sie auf die begrenzende Wirkung der äußeren Form des elegischen Distichons hin: Die als formale Gattung verstandene Elegie ermöglicht es nun einmal nicht, alles (cuncta) zu beschreiben18 – ein erneuter Hinweis auf die Unverzichtbarkeit des poetologischen Selektions-Prinzips. Der nächste Abschnitt (3 d) beschreibt eine poetische Ekstase des dichterischen Ichs und die anschließende Dichterweihe, die sich dadurch vollzieht, dass Calliope ihn mit Lorbeer bekränzt. Damit verbinden sich weitere Unterweisungen: Ein Dichter kann nicht alles zu ein und derselben Zeit.19 Dies ist hier weniger im Sinne des mehrfach bemühten poetologischen Selektions-Prinzips zu verstehen als vielmehr diachron, d. h. im Vergleich zu späteren Stationen der eigenen Dichterkarriere. Es schadet dem jungen Dichter, alles auf einmal zu wollen und sich so allzusehr zu übereilen (Et nimium properare nocet).20 Daran knüpft sich – nunmehr auch aus berufenem Musenmunde  – die abermalige Ankündigung späterer Werke des Mollerus an. Zunächst erfolgt diese Ankündigung in sehr allgemeiner Form, in der Weise, dass der Dichter nach dem Abschluss des Rhenus ‚gelehrter‘ sein wird (doctior),21 dann ist konkret die Rede von bedeutenderen Werken (graviora) im Kontrast zu ‚leichtgewichtigeren‘ (leviora).22 Schließlich wird ausdrücklich verheißen: „Bedeutendere Werke, besser als dein Erstling, werden dir gegeben werden“.23 Damit wird der Rhenus nunmehr zum vierten Mal als primitiae des Mollerus bezeichnet. Nach einer abschließenden Ermahnung der Muse zu einem arbeitsamem Lebenswandel lässt sich der Dichter noch eine bekräftigende Stärkung gegen die verderblichen Umtriebe der Tadelsucht, des Momos, erteilen (Abschnitt 3

18 Plus capit extenso spatiosior aequore campus / area quam tenui limitis arcta situ. / Non elegeia capit nimium veneranda capillis: / cuncta licet memores, non elegeia feret. V. 225–228. 19 Omnia non uno fecundant tempore vates. V. 253. 20 Et nimium properare nocet: factura poetam / Castaliis sensim cuncta dabuntur aquis. V. 255 f. 21 Et simulac Rheni fuerint cantata potentis / Ostia, Pieridum doctior ibis ope. V. 259 f. 22 Si bene succedat Rhenus, maiora vel aude, / si leviora parent ad graviora (grandiora ed.) viam. V. 271 f. 23 Primitiis meliora tibi memoranda dabuntur. V. 273.



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e). Dann ziehen sich die Musen vom Dichter zurück, der voller Zuversicht seine Arbeit am Rhenus aufnimmt (Abschnitt 4) – damit wird das Prooemium zügig zu Ende gebracht. Zusammenfassend darf man nach diesem Durchgang durch das Prooemium die Besonderheit hervorheben, dass eine an sich durchaus konventionelle Bescheidenheits- und Selbstverkleinerungstopik in Bezug auf ein dichterisches Erstlingswerk hier durch den permanenten impliziten und expliziten Bezug auf andere spätere Werke modifiziert werden. Anders ausgedrückt: Die Selbstverkleinerung beim Vorlegen der Erstdichtung erfolgt nicht wie üblich absolut, sondern relativ im Horizont des künftigen Schaffens des Dichters. Die Erstdichtung ist nicht einfach nur deshalb unbedeutend, weil der Dichter noch unprofiliert ist, sondern sie ist unbedeutend vor allem im Vergleich zu deutlich angekündigten späteren bedeutungsvolleren Werken desselben Dichters. Glücklicherweise erhalten wir jedoch genaueren Aufschluss über das bedeutungsvollere spätere Werk, welches Mollerus in seinem gesamten Prooemium so ständig und deutlich vor Augen steht. Ich komme damit zum zweiten Teil meines Beitrags, den angekündigten Spekulationen über ein nicht erhaltenes Werk des Mollerus.

2 Die Ecclesias Dieser Aufschluss ergibt sich nicht aus dem Vers-Prooemium, sondern aus der Prosawidmungsanrede des Mollerus an seinen Gönner, den Fürstbischof von Osnabrück, Johannes IV. von Hoya (1529–1574). Am Ende dieser Prosawidmung empfiehlt der Dichter dem Fürstbischof seine Studien, die sich nicht im dem jetzt zugeeigneten Rhenus erschöpfen sollen. Über diese Studien heißt es in der auf mea studia bezüglichen Parenthese: „welche [sc. Studien] dir vor allem in den dreißig Büchern der Ecclesias oder in der Beschreibung des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse und des Weinbergs der Juden und des Kirchenschiffs, was alles von der Gründung der Welt bis zum Ende der Zeit reicht, mit Gottes günstigem Beistand deutlich hervortreten werden“.24 Was es mit diesem Werk (oder sind es sogar mehrere Werke?) auf sich hat, ist nach einmaliger Lektüre des Relativsatzes nicht gerade leicht zu verstehen.

24 […] et mea studia, si qua sunt, (quae in primis in xxx libr(is) ECCLESIADOS sive in descriptione arboris scientiae boni et mali, vinae Iudaeorum et navis ecclesiae, quae omnia a condito mundo ad finem usque saeculi pertingunt, Deo prosperante elucescent) commendata habeas […].

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Ich hoffe, mit dem Rest meiner Ausführungen ein wenig Licht in diesen komplizierten Ausdruck bringen zu können. Man wird prima facie bereits so viel sagen können, dass der stolze, geradezu enzyklopädische Anspruch, das künftige Werk werde vom Anfang der Welt bis zum Ende der Zeit reichen, den begrenzten poetologischen Anspruch des Rhenus, der ja gemäß dem im Prooemium mehrfach erwähnten Selektions-Prinzip aus der vorhandenen Stofffülle nur eine Auswahl treffen darf, überbieten soll. Dieses neue Werk hat erheblich mehr zu bieten als der Rhenus. Diesen übertrumpft es quantitativ um das Fünffache (30 Bücher gegenüber sechs), poetologisch durch seinen enzyklopädischen Totalitätsanspruch und thematisch durch seine religiöse Ernsthaftigkeit: Werke über die Kirche und biblische Stoffe werden einen Bischof gewiss mehr beeindrucken als eine Flussbeschreibung. Ganz verborgen geblieben ist diese nicht erhaltene Dichtung der bisherigen Forschung nicht: Es existiert eine bibliographische bzw. bibliothekarische Tradition über die Werke des Bernhardus Mollerus, die sich bis in die ‚Deutsche Bibliographie‘ fortpflanzt, welche ihrerseits heute eine der ersten Instanzen sein wird, wenn man etwa im Internet Belehrung über das Leben und Werk des ,Bernhard Möller‘ sucht. Diese Tradition lässt sich quellenmäßig zurückverfolgen bis auf eine Münsteraner Spezialbibliographie, die Bibliotheca Monasteriensis des Johannes Friedrich Driver aus dem Jahr 1799. Hier findet sich als letzter Eintrag unter ‚Bernardus Möllers‘ Folgendes: „ein Kommentar zu den dreißig Büchern der Ecclesias oder eine Beschreibung des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse und des Weinbergs der Juden und des Kirchenschiffs, was alles von der Gründung der Welt bis zum Ende der Zeit reicht“.25 Folgt man dieser bibliographischen Tradition, so handelt es sich bei dem fraglichen Werk also um einen Kommentar zu einer dreißig Bücher umfassenden Ecclesias. Die Probleme werden hiermit nicht geringer. Eine Ecclesias ist nirgends nachzuweisen; zumindest bleibt man ohne Ergebnisse, wenn man etwa unter google-books oder in gängigen bibliographischen Hilfsmitteln wie dem Karlsruher Virtuellen Katalog das Suchwort Ecclesiados eingibt (dieser Genitiv müsste ja in jedem Fall Teil des Titels sein). Wenn es nun aber keine Ecclesias gibt, so ist der Kommentar zu diesem dreißig Bücher umfassenden Buch noch rätselhafter, insofern man ja einen solchen umfangreichen Kommentar doch wohl nur zu einem bedeutenden und allgemein bekannten Werk vorlegen würde.

25 Commentarius in 30 libros Ecclesiados seu descriptio arboris scientiae boni et mali, vineae Iudaeorum et navis ecclesiae, quae omnia a condito mundo ad finem usque saeculi pertingunt. Friedrich Mathias Driver: Bibliotheca Monasteriensis sive Notitia de scriptoribus MonasterioWestphalis. Münster 1799, S. 97.



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An dieser Stelle soll die These aufgestellt werden, dass die Annahme, Mollerus habe einen Kommentar verfasst, ein Irrtum von Driver selbst oder der ihm zugrundeliegenden bibliographischen Quelle ist, und dass dieser irrenden Instanz nichts anderes als die Widmungsanrede zum Rhenus vorgelegen hat. Es ist eine gängige Tradition, Schriftkommentare einfach mit in cum accusativo zu bezeichnen; man denke an Titel wie In genesin o. ä. In der Widmungsanrede zum Rhenus ist nun das Wort libris abgekürzt zu libr. Aus dem Text der Parenthese, insbesondere aus dem regierenden Verbum elucescent, geht hervor, dass man dieses libr. als libris aufzulösen hat: Die Studien des Mollerus sollen dem Gönner vor allem in den dreißig Büchern der Ecclesias deutlich werden: also in cum ablativo. Der flüchtig lesende Bibliothekar dagegen, der Texte nicht wirklich sinnerfassend las, sondern nach bibliographischen Angaben durchforstete und diese exzerpierte, missverstand die Worte in triginta libr. Ecclesiados als einen Schriftkommentar und löste auf zu in triginta libr(os) Ecclesiados; dann setzte er, um es ganz deutlich zu machen, dass es sich um einen Kommentar handelt, das Wort commentarius hinzu. Wenn man den jeweiligen Wortlaut in der Widmungsanrede des Mollerus (Anm. 24) und in Drivers Bibliographie (Anm. 25) vergleicht, so erkennt man, dass der letzte Eintrag bei Driver keinerlei zusätzliche Information bietet gegenüber der Widmungsanrede zum Rhenus. Die einzige Leistung des bibliothekarischen Exzerptors (mag es Driver oder dessen Quelle gewesen sein) neben der falschen Auflösung der Abkürzung und der irrigen Hinzusetzung von commentarius besteht darin, die Ablative in Nominative zurück zu verwandeln und sive durch seu zu ersetzen. Im Übrigen lassen sich in Drivers Artikel über unseren Dichter auch andere eindeutige Fehler nachweisen: so mutiert der Untertitel res publica Christiana zur Georgiodrakontomachia zu einem eigenen Werk mit eigenem Erscheinungsort und -jahr. Möglicherweise lässt dieser Fehler auf eine von Driver benutzte Zwischenquelle schließen. Der bibliothekarische Exzerptor (mag es Driver oder seine Quelle gewesen sein) gewann also aus dem Schluss der Widmungsanrede zum Rhenus ein weiteres Werk des Mollerus, das ihm wohl genauso wenig wie uns vorgelegen hat; ob es nie erschienen ist oder sich nur nicht erhalten hat, müssen wir offenlassen. Als Erscheinungsdaten des vermeintlichen Kommentars wählte er einfach ,Münster 1598‘, da sich auf die Jahre 1597 und 1598 ja eine spätere Akme der Dichterkarriere des Mollerus datieren lässt – erschienen in diesen Jahren doch seine vier Dramen. In Wirklichkeit muss Mollerus jedoch nach der Art, wie er dem Fürstbischof seine künftigen Werke ans Herz legt, eine wesentlich frühere Publikation geplant haben.

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Eine Bestätigung unserer Überlegungen ergibt sich, wenn wir einen weiteren Paratext zum Rhenus hinzunehmen, nämlich die nach humanistischer Art dem Rhenus vorangestellte Elegie über dieses Werk seitens des Münsteraners Ernst Steuerman. Dieser wendet sich am Ende seiner Elegie gegen den Momus und verbindet diesen Proemialtopos – übrigens das einzige Motiv, welches im Prooemium des Mollerus selbst (Abschnitt 3 e) noch nicht dem Rekurs auf das künftige Werk verknüpft war – mit einer Anspielung auf die Ecclesias: „Beeile dich nun unbesorgt, lieber Mollerus, deine mühevolle Arbeit, welche du den Namen Ecclesias tragen lässt, herauszugeben, da dir kein Leser dreiste Beschimpfungen zukommen lassen wird, nachdem du zuvor durch deinen Rhenus bekannt geworden bist.“26 Da demnach Mollerus den Namen seines Werkes als Ecclesias festlegt, kann es sich folglich um keinen Kommentar zu einer Ecclesias gehandelt haben. Steuerman greift hier somit die Prooemialtopik des Mollerus auf (der Rhenus als bescheidener Prodromus zu einer weitaus bedeutenderen Ecclesias). Dabei wird die Ecclesias erwähnt als ein Werk, dessen Herausgabe Mollerus demnächst – gewiss nicht erst nach 27 Jahren – forcieren soll. Wahrscheinlich ist es nie erschienen (Mollerus selbst hatte ja am Ende der Widmungsanrede mit Deo prosperante für diesen Fall bereits Vorsorge getroffen), vielleicht ist es auch verloren gegangen. Die Nachricht, dass es erst 1598 erschien, geht jedenfalls nur auf das Konto eines die Praefationes der ihm vorliegenden Werke durchforstenden bibliothekarischen Exzerptors und ist ohne jeden Wert. Die Ecclesias hätte in die episierende Frühphase des Mollerus gehören sollen (was nicht ausschließt, dass sie in elegischen Distichen verfasst war wie der Rhenus und auch große Teile der Dramen), nicht in seine dramatisierende Spätphase mehr als 25 Jahre später. Zugleich erkennen wir auch, aus welchen Schwierigkeiten wir uns befreien, wenn wir die Annahme, es habe sich um einen Kommentar zu einer obskuren Ecclesias gehandelt, den Winden übereignen: Die Musen prophezeien dem Mollerus im Vers-Prooemium ja offenbar ein künftiges weiteres dichterisches Werk, und auch die Vorstellung Steuermans von dem Rhenus als Wegbereiter der Ecclesias ergibt nur dann wirklich Sinn, wenn es sich um eine weitere Dichtung des Mollerus handelt. Um was für ein Werk könnte es sich nun aber bei dieser Ecclesias gehandelt haben? Offenbar handelt es sich bei Ecclesias (wozu Ecclesiados gräzisierender Genitiv ist) ja um eine Ableitung von ecclesia. Ähnliche Bezeichnungen epischer

26 Elegia ad auctorem et lectorem atque in Zoilum, per Ernestum Steuerman Monasteriensem: Edere nunc properes tutus, Mollere, labores, / quos Ecclesiados nomen habere facis, / impia non faciet quando convicia lector, / cum factus Rheno notus es ante tuo. V. 73–76.



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Werke (z. B. Christias oder Davidias) gibt es bekanntlich öfter; allerdings handelt es sich üblicherweise um Ableitungen von Eigennamen. Die engste mir bekannte Parallele zu einer solchen Ableitung von einem femininen Abstractum ist die Monarchias des Melchior Neofanius aus dem Jahr 1596 (abgeleitet von monarchia). Wie ähnlich dieses Werk der verschollenen Ecclesias des Mollerus ist, zeigt der Untertitel dieser Monarchias: „eine historia generalis, von der Gründung der Welt und der Sintflut durch die Reihe aller Herrscher der vier Monarchien der ganzen Welt hindurch bis zu unserer Zeit herabgeführt“27. Die uns erhaltene Monarchias des Neofanius beginnt mit unverkennbarem Rekurs auf die Metamorphosen, das carmen perpetuum, Ovids. Die verlorene Ecclesias des Mollerus dürfte  – vielleicht mit ähnlicher Ovidreminiszenz  – die Geschichte der Kirche von Anbeginn der Welt bis zum Zeitende episierend-enzyklopädisch dargestellt haben. Näheren Aufschluss – auch über den Baum der Erkenntnis, den Weinstock der Juden und das Kirchenschiff und über die Frage, ob es sich hierbei vielleicht um eigene Werke neben der Ecclesias handelte – bietet uns Mollerus selbst, und zwar in der fünften Szene des zweiten Aktes der Poimandrosatanomachia. Hier tragen vier offenbar gut beleumundete allegorische Sprecherfiguren namens Eupistes, Eunomius, Eubulus und Eudaemon den Abriss einer universalen Kirchengeschichte vor. Schon der Szenentitel beantwortet eigentlich alle Fragen: „eine kurze Erzählung und eine allegorische Beschreibung der Kirche, abgebildet durch den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, durch den Weinberg der Juden und durch das Kirchenschiff“28. Damit ist zunächst klar, dass die Konjunktion sive in der Widmungsanrede zum Rhenus (Anm. 24) kein zweites Werk neben der Ecclesias bezeichnete, sondern in der Tat einen Alternativtitel (wie in diesem Fall auch der bibliothekarische Exzerptor richtig verstand). Die narrative Darstellung der Kirchengeschichte in der epischen, 30 Bücher umfassenden Ecclesias verband sich mit verschiedenen sukzessiven typologisch-allegorischen Umschreibungen derselben. Ebenso wird in den Ausführungen der verschiedenen Sprecher in der Poimandrosatanomachia die Kirche in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen durch verschiedene hölzerne Bildträger umschrieben: Zunächst entspricht sie dem paradiesischen Baum der Erkenntnis, dann (in der Zeit des Alten Bundes) einer Abraham und seinen Nachfahren von Gott anvertrauten Weinrebe, die schließlich von den

27 Historia generalis a condito mundo et diluvio per seriem omnium imperatorum quattuor monarchiarum totius orbis terrarum ad nostra usque tempora deducta. 28 Enarratio brevis ac allegorica descriptio ecclesiae per arborem scientiae boni et mali, per vineam Iudaeorum, per navim ecclesiae figurate.

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 Thomas Gärtner

Juden vernachlässigt wird, und schließlich (nach der Geburt Christi) dem wechselhaftem Seegang ausgesetzten Schiff der christlichen Kirche. Die Szene aus der Poimandrosatanomachia ist offenbar nichts anderes als eine Kurzfassung der einstmals von Mollerus projektierten epischen Ecclesias. Es ist wohl keine allzu kühne Spekulation, wenn man annimmt, dass die dreißig Bücher der Ecclesias gemäß den Gepflogenheiten antiker und antikisierender Epik sorgfältig und mit numerischer Symmetrie disponiert waren. Dann dürften auf jede der drei Entwicklungsstufen der eccelesia jeweils 10 Bücher entfallen sein. Eine solche Dreiteilung  – die offenbar eine gesuchtere Alternative zu der geläufigen dichotomischen Zweiteilung der Heilsgeschichte in Altes und Neues Testament bildet  –, lässt sich zumindest in einem anderen enzyklopädischen christlichen Epos nachweisen (ohne dass damit behauptet werden soll, Mollerus habe dieses gekannt, was überlieferungsgeschichtlich fast unmöglich ist). Das Hypognosticon des Laurentius von Durham (12. Jh.)29 zerfällt in neun Bücher, die sich wiederum in drei Triaden entfalten: Die ersten drei Bücher behandeln die lex naturalis, die zweite Triade die Zeit des Alten Bundes, während die Bücher VII–IX die neutestamentliche Erlösung und die weitere Heilsgeschichte zum Gegenstand haben. Sicherlich ist die Einteilung der Heilsgeschichte gemäß der Begriffstriade natura, lex und gratia so geläufig, dass man eine solche symmetrische Dreiteilung jedem humanistischen christlichen Dichter auch ohne direkten Einfluss dieses mittelalterlichen Werks zutrauen darf. Im Alternativtitel zur Ecclesias (sive descriptio etc.) wird also wahrscheinlich auch die formal-symmetrische Disposition der 30 Bücher angedeutet. Damit bin ich am Ende meiner Argumentation angelangt. Im ersten Teil wurde das Prooemium zum Rhenus des Mollerus durchmustert. Ich habe als wesentliche Besonderheit gegenüber der konventionellen Prooemialtopik herausgestellt, dass sich die Selbstverkleinerung des Erstlingswerks hier nicht absolut, sondern relativ in Bezug auf ein von Mollerus selbst projektiertes größeres Werk vollzieht; als dessen Prodromus ist der Rhenus zu verstehen. Dann wurde im zweiten Teil argumentiert, dass es sich bei diesem zweiten Werk um eine epische Großdichtung und nicht etwa um einen Kommentar handelt, wie eine bibliographische Tradition besagt, die ihre irrigen Angaben ausschließlich der Widmungsanrede zum Rhenus entnimmt, also kaum über zusätzliches Material verfügte, erst recht nicht über ein Exemplar der verlorenen Ecclesias; nur so konnte sich der Trugschluss ergeben, Mollerus habe einen Kommentar zu einer obskuren Ecclesias

29 Susanne Daub: Gottes Heilsplan – verdichtet. Edition des Hypognosticon des Laurentius Dunelmensis. Erlangen, Jena 2002.



Die frühen Werke des Münsteraners Bernhardus Mollerus 

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verfasst. Schließlich wurde der Versuch unternommen, im Lichte ähnlicher Werke und einer Parallelpartie aus einem Drama des Mollerus die Gestalt und den Aufbau dieser Ecclesias in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Für die geographische Ekphrasis-Dichtung Rhenus ergibt sich das diese Dichtung auf den ersten Blick etwas entwertende Ergebnis, dass diese geographische Ekphrasis von ihrem Verfasser nur als ein Prodromus für eine bedeutendere enzyklopädisch-kirchengeschichtliche Dichtung angesehen wurde – oder zumindest in ihrem Prooemium dem Widmungsadressaten und der Leserschaft als solcher präsentiert wurde. Zugleich eröffnet sich ein hübscher Einblick, wie die konventionelle Bescheidenheitstopik geschickt im Sinne eines exuberierenden humanistischen Selbstbewusstseins ausgehöhlt wird, das man fast als gigantomanisch bezeichnen könnte. Mollerus legt eine Flussbeschreibung vor, die in ihren epoiden Ausmaßen die gesamte vorgängige Tradition solcher Flussbeschreibungen um ein Vielfaches übertrumpft, wie Beate Hintzen in ihren Aufsätzen gezeigt hat.30 Doch er präsentiert dieses Werk mit wohlkalkulierter Bescheidenheit als Produkt einer leichtgewichtigen Muse, das nur einem fünfmal so umfangreichen kirchengeschichtlichen Werk den Boden bereiten soll.

30 Vgl. den in Anm. 8 zitierten Titel, ferner: Beate Hintzen: Neulateinische Lehrdichtung zwischen der literarischen Tradition von Hesiod bis Manilius und der neuzeitlichen Ars apodemica am Beispiel von Bernhardus Mollerus’ Rhenus und Cyriacus Lentulus’ Europa. In: Neulateinisches Jahrbuch 1 (1999), S. 21–48.

Eckard Lefèvre

Der Rhein im Weltbild des Elsässers Jakob Balde An vielen Stellen seines umfangreichen Werks hat Jakob Balde den Rhein (Rhenus) erwähnt. Gewiss handelt es sich öfter um das Beispiel eines großen Flusses wie etwa bei der Donau, ohne dass eine besondere Beziehung zu seiner persönlichen Welt erkennbar wird. Andererseits gibt es eine Reihe von Nennungen, die deutlich von einer inneren Bindung zeugen. Es ist klar: Das Städtchen Ensisheim, in dem Balde 1604 geboren wurde, liegt nur 15 km vom Rhein entfernt. Andererseits wird die ‚väterliche‘ Funktion des gewaltigen Stroms schon in der Antike und im beginnenden Humanismus betont. So apostrophiert ihn Martial anerkennend nympharum pater amniumque, Rhene,1 und widmet ihm Konrad Celtis wie Martial ein ganzes Gedicht, in dem er ihn pater alme anredet.2 Auf derselben Ebene liegt es, wenn Balde im dritten Buch der Batrachomyomachia von ihm als parens spricht3 und ihm das – später noch zu würdigende – Epitheton bicornis beigesellt.4

1 Sinnbild des alten Deutschland Das dritte Buch der Sylvae handelt in kontrastierender Betrachtung von den Sitten des alten und neuen Deutschland (De moribus veteris ac novæ Germaniæ). Der Rhein steht in den sechs Gedichten, die man wegen des Anschlusses an Horaz’ Römeroden ‚Germanenoden‘ genannt hat,5 für Deutschland, und zwar für

1 10,7,1. 2 Am. 3,13,55. 3 Patrius heißt der Rhein an der weiter unten zu besprechenden Stelle Lyr. 2,17,40. 4 Bd. 3, S. 33. 5 Zu diesem Zyklus Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Wiesbaden 1976, S. 233–238; Wilhelm Kühlmann: Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotimus. Zu einem Gedichtzyklus in den Sylvae (1643) des Elsässers Jacob Balde SJ. In: Simpliciana 22 (2000), S. 201–226; Anmerkung: Katharina Kagerer (München) hat das Manuskript akribisch gelesen und eine Reihe von Verbesserungen beigesteuert. Dafür sei ihr herzlich gedankt. – Balde wird nach folgender Ausgabe mit Band- und Seitenzahl zitiert: R. P. Jacobi Balde è Societate Jesu Opera Poëtica Omnia. Tomus I–VIII. Monachij 1729. DOI 10.1515/9783110400281-007



Der Rhein im Weltbild des Elsässers Jakob Balde 

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ein unverfälschtes, wie es sich in alten Zeiten darbot. Die dritte Ode beklagt den Einfall fremder Sitten nach Deutschland: Exteri mores in Germaniam illati, contra insulsum hominum genus, AL’ MODO dictum [„Die ausländischen Sitten, die nach Deutschland importiert wurden; gegen die abgeschmackte Art von Menschen, welche à la mode genannt wird“].6 Der Anfang lautet (1–16): Patrij migrant, subeuntque contrà Exteri mores. avidè sitimus Criminum fonteis, vitiumque longo Discimus usu. 5 Itur in mundum quater ense sectum, Jamque vix ulli satis est in annum Gleba natalis. redit ille Gallus, Italus iste: Ille nec Gallus tamen est, nec iste 10 Italus: sed quod peregrina vidit, Simiæ miras imitata vesteis Simia narrat. Jamque permisto fluvij meatu Ora confundunt. vagus Hermus Oenum, 15 Sequanam Rhenus, tepidus salutat Mincius Istrum. [Die heimischen Sitten gehen, es kommen dafür ausländische. Gierig dürsten wir nach den Quellen der Fehler, und das Laster lernen wir durch langen Gebrauch. 5 Man zieht in die vom Schwert gevierteilte Welt. Kaum jemandem ist die Scholle, auf der er geboren wurde, für ein Jahr genug. Der eine kehrt als Franzose zurück, der andere als Italiener.

Florian Hurka: Abgrenzung und Annäherung in Baldes Germanenoden (Sylv. 3, 1–6). In: Beiträge zu den Sylvae des neulateinischen Barockdichters Jakob Balde. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2010 (NeoLatina 18), S. 121–128. 6 Erhellende Interpretation der Ode mit Übersetzung: Kühlmann (Anm. 5), S. 209–216.

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 Eckard Lefèvre

Dennoch ist jener kein Franzose noch dieser 10 ein Italiener: Aber was er in der Fremde sah, die wunderlichen Kleider eines Affen nachahmend, spricht er als Affe nach. Schon vermischen den Lauf und vermengen die Mündungen die Flüsse. Der umherschweifende Hermus 15 grüßt den Inn, der Rhein die Seine und der warme Mincio die Donau.]

In der zweiten und dritten Strophe wird der Einfluss französischer und italienischer ‚Mode‘ auf Deutschland satirisch betrachtet: Sie werde einfach ohne Sinn und Verstand nachgeahmt, so wie ein Affe das Gebaren anderer imitiere. Dieser Vorgang ist so unnatürlich, wie wenn die in der vierten Strophe genannten Flüsse ihre Richtung und ihre Mündungen verkehrten. Natürlich kommen dem Rhein und der Donau (und vielleicht auch dem Inn, da Balde ein persönliches Verhältnis zu Innsbruck hat) besondere Bedeutung zu: Es geht um die Bedrohung des ‚Deutschen‘, die die Deutschen selbst betreiben. Balde stellt in der Widmung des dritten Buchs der Sylvae an den weit herumgekommenen Nicolaus Warsenius7 fest, dass er ein Gegenbeispiel für die Alamode-Kultur der Zeit sei: Nullum te illecebræ mutarunt: non effaeminavit aliarum gentium incessus, non habitus, non exempla. Patrio ritu vivis: gentilicia bona commendas. Candor, & prisca severitas, & honesti cura intacta permansere. Tagum in Hispania, in Gallijs Matronam, Tyberin & Padum in Italia bibisti: Rhenum tamen & Danubium dignitate originis, & amore natalium præfers. [Nicht haben dich Verlockungen verändert: Nicht hat dich verweichlicht das Auftreten anderer Völker, ihre Gesinnung und ihr(e) Beispiel(e). Nach der Art der Väter lebst du, und du preist das Gute deines Geschlechts. Die Aufrichtigkeit, die alte Strenge und die unverfälschte Pflege der Tugend blieben (in dir) erhalten. Aus dem Tajo in Spanien, der Marne in Frankreich, dem Tiber und dem Po in Italien hast du getrunken: Dennoch ziehst du den Rhein und die Donau wegen der Würde deiner Abstammung und der Liebe zu deiner Familie vor.]

Warsenius ist der wahre Deutsche, dem Rhein und Donau lieber als Seine und Marne, als Tiber und Po oder Tajo, d. h. dem deutsche Sitten lieber als französische, italienische oder spanische sind.

7 Zu seiner (vergeblichen) Identifizierung Kühlmann (Anm. 5), S. 224 Anm. 12.



Der Rhein im Weltbild des Elsässers Jakob Balde 

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2 Fluss der Legende Von der Vorstellung, dass der Rhein für das alte Deutschland steht, ist es nur ein Schritt zu legendenhafter Ausschmückung. Die Germanenoden werden mit der Betrachtung Felix status Vet. Germaniæ [Der glückliche Zustand des alten Deutschland] eröffnet. Die ersten beiden Strophen lauten (Sylv. 3,1,1–8): Mens in antiquos agitat revolvi Teutonum moreis & euntis ævi Dispares Fastos aperire. Montem Pandite Musæ. 5 Nempe florebas Alemanna quondam Patrio pubes bene lota Rheno: Cum tuos sacra trutinavit urnâ Corniger ortus. [Der Geist will sich zu den alten Sitten der Teutonen zurückwenden und der dahingehenden Zeit unterschiedlichen Kalender darlegen. Öffnet euren Berg, Musen! 5 Wahrlich blühtest du einst, alemannische Jugend, die du im heimatlichen Rhein gut gebadet wurdest, als deine ersten Anfänge der Hornträger mit dem Wasser aus dem heiligen Gefäß wog.]

Der Dichter versetzt sich zurück in die Zeit der Sitten der alten Teutonen, in das vergangene Germanien, das er mit der rauen Gegenwart konfrontiert, die von der rabies Lutheri (87) bestimmt ist. Sofort scheinen der Rhein und das erste Bad der Alemanna pubes in ihm auf. Er erinnert an eine alte Sitte, von der antike – vorwiegend griechische8 – Autoren Kunde geben:9 die Lebenskraft neugeborener Kinder

8 Gern wird auf Galen, De sanitate tuenda 1,10 verwiesen (Johann Baptist Neubig: Bavaria’s Musen in Joh. Jak. Balde’s Oden. Bd. 2. München 1829, S. 221 zu Lyr. 2, 17, 38–40; Kühlmann [Anm. 5], S. 225 Anm. 17 zu Sylv. 3,1,5–8), wo von der Sitte der Germanen die Rede ist, die Lebenskraft der neugeborenen Kinder durch das Eintauchen in einen Fluss zu erproben. 9 Quellen genannt bei: James George Frazer: Folk-Lore in the Old Testament. London 1919, Bd. 2, S. 454 f.; Albert Wifstrand: Von Kallimachos zu Nonnos. Lund 1933, S. 163; Nicholas Horsfall: Numanus Regulus. Ethnography and Propaganda in Aen., IX, 598 f. In: Latomus 41 (1971), S. 1108– 1116, hier S. 1110 Anm. 2; Harry L. Levy: Claudian’s In Rufinum. An Exegetical Commentary. New York 1971, S. 148; M. Dickie: The Speech of Numanus Remulus (Aeneid 9, 598–620). In: Papers of the Liverpool Latin Seminar 5 (1985), S. 165–221, hier S. 178 f.

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 Eckard Lefèvre

in Flüssen zu erproben. Es wäre interessant zu wissen, woher Balde sein Wissen hatte. Natürlich kannte er die Rede von Turnus’ Schwager Numanus / Remulus über die Mannhaftigkeit der Rutuler: durum a stirpe genus natos ad flumina primum / deferimus saevoque gelu duramus et undis.10 Wichtig war ihm auch einer seiner Lieblingsdichter, Claudian, der von Völkern spricht quos nascentes explorat gurgite Rhenus.11 Hier konnte er den Rhein finden, in dem die Vitalitätsprobe der eben geborenen Kinder vorgenommen wurde. Äußerlich gesehen, bewegt er sich in der Welt der Literatur, aber mit dem Unterschied zwischen Damals und Heute ist es ihm ernst. Die Rheinprobe erscheint auch in der hyperbolisch-satirischen Batrachomyomachia im Usus des zweiten Buchs, in dem von Männern die Rede ist, die der heilige Rhein als Kinder gemustert hat, quos infantes sanctior Rhenus lustravit.12 Das Adjektiv sanctior, zumal im Komparativ, will beachtet werden.13 Die sacra urna des Rheins ist schon Sylv. 3,1,7 begegnet. Das vierte Buch der Sylvae enthält vier Threnodiae, Klagen über den Untergang Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg. Die erste besteht zu einem wesentlichen Teil aus einem langen Threnos Germanias und schließt mit einer Anspielung auf eine eigenartige Variante der Erprobung Neugeborener im Rhein (Sylv. 4,1,105–108):14 105 Agnoscat & nunc me TACITUS suam: Parvusque Rheni BRUCTERUS alveo Lavandus absolvat parentem;  Atque uterum probet esse castum. 105 [Möge Tacitus mich auch heute anerkennen als eine, die er schätzt, und möge der kleine Brukterer durch das Bad im Bett des Rheins die Mutter von Schuld freisprechen  und erweisen, dass ihr Schoß keusch war.]

10 Aen. 9,603–604. 11 In Rufinum 2,112. Orelli führt die Claudian-Stelle an und erläutert: Alludit poeta ad sollennem illum veterum Germanorum ritum, quo prolem recens natam ad fluvium ferentes clypeo imponebant. Si undis abriperetur, notam censebant, si innataret, vere suam, Joannes Conradus Caspar Orellius: Jacobi Balde e Societate Jesu Carmina selecta. Ed. et notis illustr. Editio altera. Turici 1818, S. 412. 12 Bd. 3, S. 111. 13 In den sogleich zu betrachtenden Versen A. P. 9, 125, 3 ist vom ὕδωρ σεμνόν des Rheins die Rede. Das entsprach etwa aqua sancta. 14 Bd. 2, S. 89. Bructerus (statt Ructerus) nach der Ausgabe von 1660.



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Tacitus ist natürlich der Gewährsmann schlechthin für die urwüchsige Kraft der Germanen. Er erwähnt auch die Brukterer.15 Germania wünscht sich bei Balde wieder echte Germanenkinder, die eine ganz besondere Prüfung im Rhein bestanden haben.16 Bei ihr sollte festgestellt werden, ob der ‚eheliche‘ Vater auch der wirkliche ist und die Mutter keinen Fehltritt gemacht hat. Es ging also nicht nur um die Lebensfähigkeit des Neugeborenen, sondern auch um seine ‚Echtheit‘. Hiervon berichten die elf Verse der Anthologia Palatina 9,125:17 Rauh sind die keltischen Männer; sie prüfen ihr Kind in des Rheines eifersüchtigem Strom und dünken sich dann erst als Väter, wenn sie ihr Söhnchen im Bad des heiligen Wassers erblicken. Kaum hat das Kindlein den Schoß seiner Mutter verlassen und eben 5 rinnt seine erste Träne, da hebt es der Vater vom Boden, um in den Schild es zu legen; ihn hemmt keine sondere Rücksicht; denn das Vatergefühl ist fremd ihm, bis er des Flusses Urteil erfahren, der spülend die Echtheit des Kindes bestätigt. Doch die Mutter, die schwer noch den Schmerz des Gebärens empfindet, 10 ob ihr der wirkliche Vater des Kindes gewiß auch bekannt ist, wartet zitternd zu Haus, was das unstete Wasser verkündet.

Ob Balde den Text kannte  – die Anthologia Palatina wurde 1606 in Heidelberg entdeckt18 – oder das Motiv aus zweiter Hand Autoren seiner Zeit verdankt, ist schwer zu sagen. Standen bisher Männer im Mittelpunkt, so freut man sich, dass in schöner Gerechtigkeit auch Frauen anzuerkennen sind. Lyr. 2,17 ist ein Preis auf die bayerischen Jungfrauen, die im Dreißigjährigen Krieg, um die Keuschheit zu verteidigen, wie Männer gegen die Wut der einfallenden Schweden gekämpft haben: PAIAN PARTHENIUS Boicarum Virginum, quæ pro defendenda Castitate, contra

15 Die Brukterer kämpften in der Varus-Schlacht und beim Bataver-Aufstand mit. Germ. 33,1 heißt es, dass andere Germanenstämme sie fast ausgerottet hätten. Balde kannte Tacitus gut. Die Germanenoden stützen sich auf die Germania. „Die Wirkung des Tacitus kann nicht verwundern bei einem Mann, der aus einem Land stammte, dessen Humanisten ihr nationales Selbstverständnis seit anderthalb Jahrhunderten mit Tacitus genährt hatten.“ Schäfer (Anm. 5), S. 236 mit Verweis auf die Straßburger Akademie. 16 Falls Balde die zitierte Tacitus-Stelle vor Augen hatte, meint er vielleicht, dass nicht alle Brukterer als Kind die Rheinprobe bestanden hätten. 17 Die 11 Hexameter sind nach Wifstrand (Anm. 9) ein Fragment aus einem Epos. Übersetzung von H. Beckby: Anthologia Graeca. Buch IX–XI. München 1958, S. 81 und 83 (Erläuterungen S. 773 f.). 18 Die Hexameter sind auch im ersten Buch der Anthologia Planudea überliefert, die zuerst 1494 (mit einer lateinischen Übersetzung) im Druck erschien.

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Suecorum irruentium furias, viriliter decertarunt. Der Dichter ist von den Taten der heldenhaften Jungbayerinnen geradezu begeistert und ruft aus: „Glaubt mir das, ihr Nachkommen!“: Credite Posteri (17). Er berichtet von einer jungen Kriegerin, die bei Ingolstadt, das von den Schweden mehrfach belagert wurde, mutig durch die Donau schwamm, eine teutsche Cloelia, Clœlia Teutonum (21), die einst zum Missvergnügen des Etruskerkönigs Porsenna, der Rom belagerte, durch den Tiber schwamm und entkam. In dieser Boica virgo ist altgermanisches Erbe (38–40): Suam sequestro gurgite Filiam Jam Rhenus exploravit olim 40  Patrius, & reperit Sibyllam. [Schon Vater Rhein hat einst seine Tochter durch die Flut als Mittler erprobt, 40  und er fand eine reine Sibylle.]

Der Rhein fungiert als Gewährsmann für die Reinheit auch der nachwachsenden weiblichen Jugend.19 Die Jungfrau von Ingolstadt ist gewissermaßen eine Rheintochter (nicht: Donautochter!) – eine moderne Cloelia. Es ist klar, dass das Gedicht trotz allem politischen Ernst einen leicht hyperbolischen, humorvollen Unterton hat. Wie könnte sich der Jesuit auch sonst auf die Boicae virgines einlassen? Überhaupt werden die Frauen, die die alten germanischen Sitten bewahrt haben, gepriesen und den dekadenten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts im 17.  Jahrhundert gegenübergestellt. Die Überschrift von Sylv. 3,4 ist ein Programm: Matronarum Vet. Germaniæ laus: Alemannidum nostri Seculi, quæ AL’MODISSÆ nominantur, luxus & impudentia [„Ein Lob auf die Frauen des alten Germaniens: Die Ausschweifung und Schamlosigkeit der deutschen Frauen in unserem Jahrhundert, die man Alamode-Damen nennt“20]. Balde entwirft in drastischen Farben ein reiches Sittengemälde. Am Schluss wird als rühmenswertes Gegenbild die blonde Rosimunda des kriegführenden Rheins, eine Alemanna Fulvia, besonders hervorgehoben (86–92):21

19 Sibyllam i. q. virginem, sinceram. Benno Müller: Jacobi Balde Soc. Jes. Carmina lyrica, rec. annotationibusque illustr. Ed. nova. Ratisbonae 1884, Bd. 2, S. 39. 20 Übersetzung, auch im Folgenden, von Kühlmann (Anm. 5), S. 218. 21 Kühlmann (Anm. 5), 226 Anm. 23 hält es für denkbar, in 89 vireis durch viros zu ersetzen. Das ist metrisch nicht möglich. Vielleicht ist die letzte Strophe eher so zu verstehen: „So ziemt es sich, […] durch (weibliche) Kampfeskraft das ganze (männliche) Geschlecht zu verjagen, da ja schon (jetzt, nicht: damals) zuviel Schlaffheit in die männlichen Schwerter geflossen ist.“



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Flava bellantis ROSIMUNDA Rheni, Miles ô nostris Alemanna campis FULVIA salve. Sic decet palo solidare vireis, 90 Et manu totum pepulisse sexum: Quando jam torpor nimius virileis Fluxit in enseis. [Blonde Rosimunda des kriegführenden Rheins, o Kriegerin auf unseren Feldern, alemannische Fulvia, sei gegrüßt. So ziemt es sich, an dem Pfahl die Kräfte zu stärken 90 und mit der Hand ein ganzes Geschlecht zu schlagen: Da schon damals zuviel Schlaffheit in die männlichen Schwerter geflossen ist.]

Das sind anspielungsreiche Verse. Wir lernen: Die Frauen sollen im Kampf, d. h. im Dreißigjährigen Krieg, an die Stelle der verweichlichten Männer treten. Vorbild ist Rosimunda, die mit der römischen Fulvia verglichen wird. Wer ist diese Frau, und inwiefern ist sie ein Vorbild? Rosimunda lebte im 6. Jahrhundert, sie war die Tochter des Gepiden-Königs Kunimund, den Alboin, der König der Langobarden, besiegte und tötete. Er zwang Rosimunda, seine Frau zu werden. Aus Kunimunds Schädel ließ er eine Trinkschale fertigen. Als er später in großer Rücksichtslosigkeit Rosimunda daraus trinken hieß, beförderte bzw. ließ sie ihn zum Tod befördern. Diese kriegstüchtige Frau stammt bei Balde vom kriegerischen Rhein (bellantis Rheni). Nun sind die Gepiden Ostgermanen, somit steht der Rhein wieder allgemein für das alte Deutschland. Die Rache ist sicher verständlich. Balde vergleicht Rosimunda mit der alten Römerin Fulvia, die in zweiter Ehe mit Mark Anton verheiratet war. Sie wird ebenso wie die Gepidin als miles bezeichnet. Auch in der Batrachomyomachia erscheint sie als Kämpferin: Fulvia M. Antonii, deposuit stolam, ense cincta in campum processit: dixit inter cadavera, Io triumphe [„Fulvia, die Frau Mark Antons, legte das Matronenkleid ab, gürtete sich mit dem Schwert, zog in den Kampf und rief zwischen Leichen aus: io Triumph!“].22 Das entspricht der antiken Überlieferung, die von ihrer kriegerischen Attitude berich-

22 Bd. 3, S. 136.

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 Eckard Lefèvre

tet.23 Diese war es, die Balde in der vierten Germanenode veranlasst, die Tochter des Rheins Rosimunda mit der römischen Fulvia zu vergleichen.24

3 Deutscher Fluss in antikem Gewand An der schon betrachteten Stelle Sylv. 3,1,5–8 wird der Rhein corniger genannt und ihm eine urna beigesellt. Konsequent greift Balde bei dem ‚alten‘ Thema auf die antike Ikonographie zurück: Die Flussgötter wurden wegen der reißenden Gewalt des Wassers oft mit einem Stierkopf oder auch nur mit Hörnern dargestellt. So nennt schon Martial 10,7 den Rhein cornibus aureis receptis. Balde steht also mit dem ‚hörnertragenden‘ Rhein in einer Tradition. Ebenso wird antiken Flussgöttern gern ein Gefäß, eine Urne oder Amphora, aus der Wasser fließt, beigegeben. Beide Attribute scheinen in dieser Ode auf. Sie zieren zusammen auch eine hyperbolisch formulierte Stelle im Usus zum zweiten Buch der Batrachomyomachia: Olim posca dabatur. Assuescant potui, qualem iratus Danubius eructat, aut corniger Rhenus fremente alveo in urnam fundit:25 Die Soldaten sollen nicht, wie sonst, posca (Limonade, wie Georges übersetzt) trinken, sondern sich an gemeines Wasser gewöhnen, das die erzürnte Donau ausspeit oder der hörnertragende Rhein mit seinem brausenden Flussbett in die Urne gießt. Der hörnertragende Rhein begegnet bei Balde öfter, wobei das Adjektiv variiert. So heißt er im dritten Buch der Batrachomyomachia bicornis,26 an den noch zu betrachtenden Stellen Lyr. 4,11,62 bicorniger und Sylv. 4,2,84 wieder corniger.27 Das ist natürlich eine besondere Auszeichnung für den legendären Strom.28

23 Interessant ist ein Passus bei Velleius Paterculus 2,74,3 über Fulvia in der Zeit des Perusinischen Kriegs: ex altera parte uxor Antonii Fulvia, nihil muliebre praeter corpus gerens, omnia armis tumultuque miscebat. haec belli sedem Praeneste ceperat. Cicero nannte sie Antonius’ crudelissima uxor (Phil. 13,8,18). 24 Es sei darauf hingewiesen, dass Balde andernorts weniger einnehmende Züge Fulvias hervorhebt: Lyr. 3,13,73–76; Urania Victrix 2,3,134–140. Auch das steht in Einklang mit den antiken Quellen. Diese sind für Baldes Zeit ausschlaggebend. Heute gilt Fulvia „als Beispiel einer außerordentlichen, emanzipierten Frau der röm. Oberschicht und als Vorläuferin der mächtigen Frauen am Kaiserhof.“ Helena Stegmann: In: Der Neue Pauly. Bd. 4 (1998), S. 701. 25 Bd. 3, S. 111 (Usus des zweiten Buchs). 26 Bd. 3, S. 33. 27 Corniger auch Sylv. 9,25,88 und Epithalamion für Maximilian 313 (Bd. 3, S. 244). 28 Lyr. 3,1,30 ist von den Hörnern der Donau (obsoletis cornibus) die Rede.



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4 Fluss der sehnsüchtig beklagten elsässischen Heimat Balde nennt den Rhein seinen Heimatfluss. Lyr. 4,11,63–64 wird er natalis Rhene apostrophiert, zudem ist er bicorniger. Damit wird er, der für den Dichter mit wehmütiger Realität verbunden ist, wieder in den Rang des Mythischen erhoben. So kann er als Elsässer sprechen. Gerade in dieser Ode hat natalis einen besonderen Sinn, da sie an den Elsässer Mathias Cervus [„Hirsch“] gerichtet ist. Der Rhein verbindet gewissermaßen Autor und Adressat. In seiner Apostrophe gipfelt das 64 Verse umfassende Gedicht, in dem Balde von der Befürchtung spricht, der protestantische Feind könne die Oberhand gewinnen (61–64): Hæc, CERVE, fiunt? currite flumina Germana retro: tuque bicorniger, Natalis abrupto meatu, RHENE, subi cava fontis antra. [Geschieht das (wirklich), Hirsch? Strömt, ihr deutschen Flüsse, rückwärts: Und du, doppelhörniger Heimatfluss mit dem reißenden Lauf, Rhein, suche die gewölbte Höhle der Quelle auf.]

Balde gibt zu verstehen: Wenn das Unmögliche möglich wird, d. h. wenn das Elsass von den Franzosen erobert wird, sollen die deutschen Flüsse und besonders der Rhein ihren Lauf verkehren.29 Dass Balde den Rhein als den repräsentativen Fluss seiner elsässischen Heimat ansieht, obwohl er sie doch nur begrenzt, ist naheliegend: Das Elsass hat keinen ‚eigenen‘ erwähnenswerten Fluss, wenn auch jeder Besucher Straßburgs die Ill kennt – so wenig wie der dem Elsass gegenüberliegende Teil Badens einen erwähnenswerten Fluss hat. Der Rhein ist an das Schicksal des Elsasses und besonders Breisachs gebunden. Das wird in der Eingangsode zum dritten Buch der Lyrica an Baldes Schüler und Freund Sabinus Fuscus, den Tiroler Michael Rabel, deutlich. Er lädt ihn zu

29 Das Rückwärtsfließen des Rheins auch Urania Victrix 2,4,189. „Wenn das Unmögliche möglich geworden ist, sollen auch die Flüsse ihren Lauf verkehren.“ Jacobi Balde SJ: Urania Victrix / Die Siegreiche Urania. Liber I–II. Eingel., hg., übers. und komm. von Lutz Claren u. a.: Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 85), S. 349. Das Motiv begegnet in diesem Sinn ferner Lyr. 4,29,7–8.

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einer ‚Luftreise‘ ein, um die himmlischen Gestirne zu betrachten. Sie beginnt am Inn und führt über die Donau zum Rhein (25–36):30 25 Qua parte primum flectimus orbitam? Hac, qua frementi murmurat alveo, Pontemque dedignatur Oenus: An niveo saturatus imbri Qua flumen ingens Danubius vehit? 30 Ut obsoletis, despice, cornibus Argutat obscurus latere? Degeneris mala fata Rheni, Captumque mœsto gurgite sordidus Deflet Brisacum. totus inhorruit 35 En, campus armis; & minaci Nuda seges crepat icta ferro. 25 [Wohin zum ersten wenden wir unsre Bahn? Da, wo in seinem tosenden Bette grollt Der Inn und keine Brücke duldet, Oder wo regen- und schneegesättigt Daherzieht ungeheuer der Donaustrom? 30 Sieh nur hinab, wie er mit geschwächter Kraft Sich zu verbergen hofft im Dunkel! Schlimmes Geschick des entehrten Rheines Und Breisachs Fall beklagt er in traurigem Und trübem Strudel. Gänzlich von Waffen starrt, 35 Sieh hin! das Feld. Die armen Saaten Schlägt das vernichtende Eisen nieder.]

Balde umschreibt mit den Flüssen die drei Regionen, denen er verbunden ist. Der Inn steht für Innsbruck, wo er 1628–1630 am Gymnasium unterrichtete, die Donau für Ingolstadt, wo er 1622–1624 und 1630–1632 studierte, aber auch für Bayern überhaupt, wo er lebt (München), und der Rhein für das Elsass, woher er stammt. Da Breisach beklagt wird, das 1638 Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar (1604–1639) eroberte und 1639 die Franzosen übernahmen, floss der Rhein

30 Übersetzung: Jacob Balde: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch in Auswahl. Hg. von Max Wehrli. Köln, Olten 1963, S. 29. Obsoletis cornibus (30): „mit trauernden Hörnern“, Johann Baptist Neubig: Bavaria’s Musen in Joh. Jak. Balde’s Oden. Bd. 3. Kempten 1830, S. 4.



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hier beiderseits durch ehemals deutsches Land, das gerade französisch geworden war. Die Donau beklagt in ungewöhnlicher Weise Breisachs Schicksal. „Aus dem Kummer und Groll über das Kriegsgeschehen wird die Donauversickerung bei Immendingen erklärt.“31 Der Rhein wird (nunmehr) degener genannt, „entartet, verkommen, seiner Abkunft unwürdig“ – man versteht die betrübte Klage. Breisach und der Rhein gehören zusammen. In einem Enthusiasmus von 1638 legt der Dichter dar, er habe von Apollo vieles über die Zukunft erfahren (Exauditum se à Phœbo, multa futura didicisse). Er versucht noch, den General Johannes von Werth (1590–1652), der seit 1630 in bayerischen Diensten steht, vor Bernhard von Sachsen-Weimar zu warnen – zu spät (Lyr. 1,25,27–30):32 Jam Rheni trepidant aquæ. Victum, ni properes, Dux cave Saxonem. Martis vertitur alea. 30 Tu captus traheris visere Franciam. [Schon zittern die Wasser des Rheins. Hüte dich, Feldherr, wenn du nicht eilst, vor dem besiegten Sachsen. Mars’ Würfel wendet sich. 30 Gefangen wirst du geschleppt, Frankreich zu besuchen.]

Das Gedicht ist ex eventu in die bewegte Zeit von 1638/39 hinein gesprochen. Bernhard (Saxo) eroberte Breisach, während Werth (Dux) schon in französischer Gefangenschaft war (1638–1642). Die Wasser des Rheins – und mit ihnen die Stadt Breisach – ‚zitterten‘ zu Recht. Die zweite Threnodia (Sylv. 4,2) beklagt die Niederlagen des katholischen Deutschland. Balde nennt viele deutsche Städte und spricht auch von ‚seinem‘ Elsass (ALSATIÆ meæ 69). Dann heißt es unter Anspielung auf Breisachs Fall (81–84): Tarpeia Rupes Austriaci Jovis, Captum BRISACUM. scilicet hoc Tagus Vindex, & humenti sub antro Cornigeri ferat unda Rheni.

31 Wehrli (Anm. 30), S. 126. (Töchterle versteht irrtümlich, dass der Rhein Breisach beweint: Karlheinz Töchterle: Zur Hölle in Schwaz, gen Himmel in Hall. Jacob Balde und Tirol. In: Literatur und Sprachkultur in Tirol. Hg. von Johann Holzner u. a. Innsbruck 1997 [Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 55], S. 303–338, hier S. 320.) 32 V. 28 nach Promberger übersetzt, die victum auf Bernhards Niederlage bei Nördlingen bezieht (Beate Promberger: Die ‚Enthusiasmen‘ in den lyrischen Werken Jacob Baldes von 1643. Ketsch b. Mannheim 1998, S. 76).

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[Der tarpeische Fels des österreichischen Juppiter, Breisach, ist erobert. Natürlich soll es der rächende Tajo und das Wasser des gehörnten Rheins in seiner feuchten Höhlung (wieder) übernehmen.]

Hier werden der steil abfallende Bergrücken, auf dem Breisach erbaut ist,33 und der ihn ‚aushöhlende‘ Rhein, der unterhalb vorbeiströmt, anschaulich, gewissermaßen authentisch geschildert. Der Tajo steht für Spanien34 und könnte den ‚spanischen‘ Habsburger Kaiser Ferdinand III. meinen,35 denn Breisach gehörte bis 1648 zu Vorderösterreich. Der Kaiser und der Rhein als Schutzherren sollen Breisach wieder in Besitz nehmen.36 Gemeint ist: der deutsche Rhein. Baldes Heimatverbundenheit zeigt eine schöne Stelle aus der Widmung des etwas verschrobenen Werks Poesis Osca sive Drama Georgicum in quo Belli mala, Pacis bona ex occasione currentis Anni quadragesimi septimi Descripta repræsentantur [„Oskische Dichtung oder Bauerndrama, in dem die Übel des Kriegs und die Segnungen des Friedens, anlässlich des laufenden Jahrs 47 beschrieben, dargestellt werden“] an Claude de Mesmes Comte d’Avaux (Claudius Memmius), den französischen Abgesandten bei den Friedensverhandlungen in Münster.37 Balde hatte ihm bereits das 1646 herausgegebene neunte Buch der Sylvae mit dem Titel Memmiana zugeeignet, wofür sich der Geehrte in einem Brief bedankte, aus dem Balde in der Widmung der Poesis Osca mehrfach wörtlich zitiert. Beide Männer bemühten sich um eine geistige Freundschaft, obwohl sie ganz verschiedene politische Ansichten hatten – besonders natürlich über das Elsass, das 1648 in Münster an Frankreich fallen sollte. Balde verschweigt seine Einstellung keineswegs, wenn er sie auch nur höflich verklausuliert andeutet:38

33 Balde vergleicht den Breisacher Felsen mit der Tarpeia Rupes Roms, der südlichen steil abfallenden Spitze des Kapitols. 34 Es war schon an den Widmungsempfänger des dritten Buchs der Sylvae, den weit herumgekommenen Nicolaus Warsenius, zu erinnern, der auch in Spanien war, was Balde damit umschreibt, dass er aus dem Tagus in Hispania getrunken habe. 35 Die Kaiser Ferdinand II. (bis 1637) und Ferdinand III. (ab 1637) waren Enkel bzw. Urenkel des in Alcalá de Henares geborenen Ferdinand I. 36 Westermayer übersetzt ferat mit „es ertrage dies“, Georg Westermayer: Jacobus Balde (1604– 1668), sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze. München 1868, S. 296. 37 Grundlegend über Balde und d’Avaux Schäfer (Anm. 5), S. 130–135; Thorsten Burkard: Der Cantus durus (Sylv. 8, 26) und die Memmiana (Sylv. 9). Baldes Gedichtzyklus für Claude de Mesmes, Comte d’Avaux, zum Beginn der Münsteraner Friedensverhandlungen (1644–1645). In: Lefèvre, Schäfer (Anm. 5), S. 215–280. 38 Bd. 6, 340 (Civis tamen & popularis tuus stammt aus Memmius’ Brief).



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‚Civis tamen & popularis tuus.‘ Bis igitur mihi celebrandus. Inclinas gentilitii Nominis & gloriæ fastigium, ut spatiatus ad Rheni nostri ripas, in fiscella Alemannica reptantem Alsatam attollas. [,Ich bin dein Mitbürger und Landsmann.‘ Dafür muss ich dich zwiefach preisen. Du, von Adel und hochberühmt, bückst dich, um bei einem Spaziergang an den Ufern unseres Rheins den in einem alemannischen Körbchen krabbelnden Elsässer aufzuheben.]

Burkard hat den Passus pointiert erklärt.39 Balde möchte sich nicht als Landsmann vereinnahmen lassen. Deshalb spricht er von Rhenus noster, d. h. von dem deutschen Rhein, aus dessen Bereich er als Elsässer stammt. Rhenus – Alemannica fiscella – Alsata: Das ist vielsagend.40

5 Fluss der abgeklärt gesehenen elsässischen Heimat Aber Balde klagt nicht nur um den Verlust der Heimat. Er versucht auch, ihn zu ertragen. Lyr. 2,27 ist an Gervasius Summerer, den Jugendfreund aus Ensisheim,41 gerichtet, der nach dem Fall Breisachs in der Verbannung in Solothurn lebt:42 Ad Gervasium Summaram Alsatam exsulem. Epistola Lyrica. Amicum, turbine Vinmarianæ tempestatis ejectum Brisaco, solatur: & in Helvetia Soloturi, suam cala-

39 „Geradezu frech klingt der Satz: […] ut spatiatus ad Rheni nostri ripas, in fiscella Alemannica reptantem Alsatam attollas [nämlich durch die Bezeichnung als Landsmann]. D’Avaux geht am deutschen (noster) Rhein spazieren, entdeckt dort Balde in einem Körbchen (fiscella) und möchte ihn zu seinem Landsmann machen. Die Anklänge an die Geschichte von der Auffindung des kleinen Moses durch die Tochter des Pharaos (Exod. 2,3–6) sind unüberhörbar. Balde möchte aber von den Franzosen keineswegs ‚adoptiert‘ werden. Hier werden die Ressentiments deutlich, die ein deutscher Dichter letztlich doch gegenüber einem französischen Gesandten hegen musste, der naturgemäß in erster Linie seinem Heimatland verpflichtet war. Balde war sicherlich bekannt, dass die Franzosen ein Auge auf das Elsass geworfen hatten.“ Burkard (Anm. 37), S. 254. Text in den eckigen Klammern original. 40 „Manches deutet darauf hin, daß Balde gegenüber seinem Claudius Memmius, zu dem er, obwohl sich beide nie sahen, eine zugleich herzliche und vorsichtige Beziehung knüpfte, zwiespältige Gefühle hegte. Er hat diese mit einer einzigartigen Mischung aus Takt und Offenheit dem Grafen und dem Leser zu verstehen gegeben. Der kritische Punkt ihres Verhältnisses war, daß Balde als patriotischer Elsässer die französischen Ansprüche auf seine Heimat ablehnte.“ Schäfer (Anm. 5), S. 130. 41 Westermayer (Anm. 36), S. 9. 42 Zu Baldes Exilgedichten Andrée Thill: L’Alsace et l’exil dans l’œuvre lyrique de Jacob Balde. In: Jacob Balde und seine Zeit. Hg. von Jean-Marie Valentin. Bern u. a. 1986, S. 64–90.

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mitatem deploranti respondet [„Eine lyrische Epistel an den Elsässer Gervasius Summerer im Exil. Er tröstet den Freund, der durch die Wirren des Sturms von Bernhard von Weimar43 aus Breisach vertrieben wurde, und antwortet ihm, der in der Schweiz in Solothurn sein Unglück beklagt“] (1–21): Si nostram potes eminus Exaudire Chelyn, SUMMARA, Martiis Aureis Idibus arrige. Solers Threicii carmine barbiti 5 Retro vertere flumina; Ausim & Danubii non novus accola, Rheno mergere tibiam: Summasque in scopulis Helvetiæ casas Campo nectere Boico. 10 Cur desideriis me stimulas tuis, Importunior Africo? Frustra VINMARII jussa Damastoris Accusas, tibi mollior, Quam Fortuna velit. disce placentibus 15 Vel sic destitui bonis, Maternoque soli fertilis ubere. Uvam bis decimam recens Mutavit Bromius, sertaque spiceo Divulsit capiti Ceres; 20 Ex quo distineor finibus Alsatæ, Nec mustum patriæ bibo. [Wenn du von fern unsere Leier hören kannst, Summerer, spitze an den Iden des März die Ohren. Kundig, mit meinem Lied auf der thrakischen Leier 5 die Flüsse rückwärts zu wenden, will ich es wagen, obwohl seit langem der Donau Nachbar, meine Flöte in den Rhein zu tauchen und die so hoch gelegenen Hütten auf den Bergen der Schweiz mit der bayerischen Ebene zu verbinden. 10 Warum reizt du mich mit deiner Sehnsucht, zudringlicher als der Africus? Vergeblich klagst du die Anordnungen des Weimarer Eroberers an, weichherziger zu dir, als es Fortuna will. Lerne, von den gefälligen Gütern, 15 selbst wenn es so (wie jetzt) ist, verlassen zu werden

43 Zu Damastoris in 12 merkt Müller (Anm. 19), S. 44 an: Damastor (δαμαστώρ domitor) sc. urbium, quod nomen erat Bernhardo Vinmario. Fuit etiam Damastor unus e Gigantibus.



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und von der mütterlichen Scholle des fruchtbaren Bodens. Schon das zwanzigste Mal hat Bromius neu die Traube gewechselt und Ceres die Kränze von ihrem Ährenhaupt genommen, 20 seit ich fern dem Elsass bin und nicht den Wein des Vaterlands trinke.]

Balde schreibt ein Trostgedicht, obwohl ihn der Fall Breisachs selbst schmerzt.44 Er will versuchen, in der Dichtung die drei Bereiche, um die es geht, zu verbinden: Bayern (wo er lebt), die Schweiz (wo Summerer lebt)45 und das Elsass (wo beide lebten). Wie öfter steht der Rhein für das Elsass,46 die Donau für Bayern. Etwas übertrieben, aber mit poetischem Ungefähr sagt Balde, dass er schon zwei Dezennien an der Donau wohne und des elsässischen Weines entbehre. Tatsächlich verließ er 1622 die Heimat, um zum Studium nach Ingolstadt zu gehen. Betrachtet man die Donau als Bayerns bedeutendsten Fluss, ist Balde seit etwa 18 Jahren47 Danubii non novus accola – fern der Heimat. Die Lehre der Ode ist, dass man auch in der Fremde Fuß fassen müsse. Er selbst sei bereit, si Fata volunt, über das Asowsche Meer hinauszugehen – also weiter, wie anspielungsreich gesagt ist, als es Ovid im Exil am Schwarzen Meer in Tomi beschieden war. Im Gegensatz zu Balde fand sich freilich Ovid damit nicht ab. Es kommt alles auf die innere Einstellung an. So schließt das Gedicht (38–42): Corrige tristia. Cœlum, quo tegeris caput; 40 Terram, quæ profugo subjicitur pedi, Nemo auferre potest. Vale. Mirum! sponte fides ter recinunt, Vale. [Ändere deine Klagen. Den Himmel, mit dem du dein Haupt bedeckst, 40 die Erde, die dein Fuß in der Verbannung betritt, kann dir niemand rauben. Leb wohl! Ein Wunder! Die Leier hallt von allein dreimal wider: Leb wohl!]

44 Bei den Iden des März ist wohl an Caesars Ermordung zu denken, die mit dem Fall Breisachs in Parallele gesetzt wird. Thill (Anm. 42), S. 88 Anm. 16 spricht von der assimilation des événements contemporains à ceux de l’histoire. 45 Der Africus (11) ist der Westsüdwestwind: Solothurn liegt westsüdwestlich von München! 46 Rheno mergere tibiam (7) heißt wohl, dass Balde sich im Gedicht mit dem Rhein, d. h. mit dem Elsass, befassen will. 47 Nach Neubig (Anm. 8), S. 233 ist die Ode um 1640 in München geschrieben.

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Es ist ein musisches Gedicht. Der Bezug auf Ovid wird fortgesetzt: Wie Ovid stimmt Summerer tristia an! So will nicht nur Balde Ovid übertreffen, auch Summerer soll das tun. Baldes Trostlied klingt gefasst. Und doch enthält es eine wehmütige Erinnerung an die Heimat: die Erinnerung an den elsässischen Wein,48 den er im Land der Biertrinker, in dem er lebt, vermisst.49 Ein anderes Trostgedicht für einen ‚verbannten‘ Elsässer, der während der Schwedenherrschaft in der Schweiz lebt, ist Lyr. 3,20 an Johann Baptist Rohrmund (Ad Joh. Bapt. Roremundum, Alsatam, sub Sueco exsulem, in Helvetia). Wie Summerer ist Rohrmund ein ehemaliger Mitschüler aus Ensisheim.50 Wie Summerer ist Rohrmund im Schweizer Exil nicht glücklich. Balde tröstet ihn mit der Reflexion, dass es im Inneren des Menschen begründet sei, ob er mit dem Ort, an dem er lebt, zufrieden ist. Neubig zählte Baldes Ode unter seine ‚vorzüglichen‘. „Der Hauptgedanke dieses Trostgedichtes ist: Alles ist nach einem Naturgesetz in steter Bewegung.“51 Sonne, Mond und Sterne drehen sich immer rasenden Laufs im Kreis; von ihnen erhalte Rohrmund sein Leben, so lerne er selbst sich zu bewegen (5–8): 5 Luna, Sol, stellæ celeres rotantur Semper in gyros rapido meatu. A quibus vivens alimenta sumis. Disce moveri.

Das ist die Lehre der ersten sechs Strophen. In der zweiten Gedichthälfte wertet Balde das Leben im Elsass nicht höher als das in der Schweiz. Betrachtet seien die Verse 29–48: ALSATIS tantum favet aura cœli? 30 Mollis hiberno viret herba campo? Dulcè maturi rubet uva Bacchi? Omnia rident?

48 Mustum (Most) steht für den (jungen) Wein. 49 Anton Henrich: Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes. Straßburg 1915, S. 122 merkt zu 17–20 an: „Die Tendenz des Gedichtes, den Freund über den Verlust der Heimat zu trösten und ihn mit seinem jetzigen Aufenthalt auszusöhnen, schließt hier freilich eine Klage um das Verlorene aus und veranlaßt den Dichter zu einem Bekenntnis kosmopolitischer Gesinnung, die der Orden von seinen Mitgliedern verlangte, die aber mit Baldes persönlicher Anschauung sich nicht deckt.“ Freilich war Balde auch Teucers Trostrede bei seinem Lieblingsdichter Horaz bekannt (Carm. 1,7,25–32). 50 Westermayer (Anm. 36), S. 9 f. 51 Neubig (Anm. 30), S. 175.



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HELVETAS, felix sua Sors, in altis Montium claustris, etiam beavit. 35 Mellis & pressi tibi manat illic Copia lactis. Spumeis torrens niveus colostris, Mutat undantis vada flava Rheni. Ductilis lentùm natat in tenaci 40 Caseus offa. Sed meo pulsus Lare cogor, inquis, Vilis in pagi stabulo latere. Sacra non Ædes ibi: nulla turris, Nullaque Musa. 45 Sive sub plaustris habites Trionum; Sive desertae prope belluosos Africæ saltus; ubicumque VIRTUS, Heic, puto, Templum est. [Nur den ELSÄSSERN zeigt die Luft des Himmels Gunst? 30 Grünt auch auf dem winterlichen Feld weiches Gras? Rötet sich die reife Weintraube? Lacht alles an? Auch die SCHWEIZER macht ihr freudebereitendes Los an den hohen Bergriegeln glücklich. 35 Dort fließen für dich in Fülle Honig und Milch, die zu Käse gepreßt wird. Der schneeweiße Wasserfall verändert mit milchgleichem Schaum das gelbe Flußbett des wasserreichen Rheins. Ein biegsamer Käse schwimmt zäh 40 auf dem festen Kiesel. ‚Aber aus meinem Haus vertrieben‘, sagst du, ‚werde ich gezwungen, mich niedrig in einem ländlichen Stall zu verbergen. Keine Kirche gibt es dort, keinen Turm, kein (Kirchen)lied.‘ 45 Ob du unter dem Siebengestirn lebst oder in der Nähe der an wilden Tieren reichen Gebirge des nur wenig bewohnten Afrika: Wo Tugend ist, da ist, meine ich, eine Kirche.]

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Ein schönes Gedicht. Hier schwingt nur unterschwellig bei dem Elsässer Balde die Liebe zur Heimat mit. Er sieht auch die Vorzüge der Schweiz, in der Rohrmund lebt. Und dann kommt die Überraschung: Der Rhein wird nicht für das heimatliche Elsass, sondern der Rheinfall von Schaffhausen wird für die Schönheit der Schweiz in Anspruch genommen.52 Ein Punkt ist wichtig. Rohrmund und Balde sind Katholiken, die Schweizer in der Solothurner Region vielfach evangelisch-reformiert, stehen also den ‚Erzfeinden‘ der Zeit, den Protestanten, nahe. Natürlich haben auch sie Kirchen, aber der Gottesdienst ist nüchterner (nulla Musa). Man höre die Lehre des Jesuiten: Wo Tugend geübt wird, ist auch ein Tempel, dort kann man mit dem Himmel in Verbindung treten. Das antike templum steht für ‚Kirche‘. In die Reihe der Gedichte, in denen der Gedanke ausgedrückt wird, dass der ‚Weise‘ sich von der Heimat löst und als ‚Stoiker‘ überall zu Hause ist, gehört auch Lyr. 2,10 an zwei ‚Stoiker‘: Ad Paullum Rivernam et Canum Virniam, Stoicos. De moribus & natura Sapientis. In ihr definiert Balde in stoischem Sinn – die Ode ist sub Porticu cantata – den Weisen (5–20): 5 Quis SAPIENS? sibi Sat ipse solus. quem neque dimovet A jure libertas, nec ensis  Purpurei violens tyranni. Regnare dicas: qui posuit metus, 10 Hic sceptra sumsit. nobile cùm Dei Templum, sit Orbis; digna templo,  Pectus erit SAPIENTIS, Ara. Nec Rhenus illi gurgite Patriam Signat, nec Ister. Roma sit Ausonum, 15 An Schonga Bojorum, profunde Dissimulat generosus hospes,

52 Elegans descriptio catarrhactae Rheni in confinibus urbis Scaphusiae, Orelli (Anm. 11), S. 395. Dort auch die Erläuterung von colostris: colostrum propr. lac primum post partum, Priemst. h. l. tralatum ad spumam lacteam undarum torrentis impetu raptarum. Orellis Erklärung, Balde beziehe sich auf den Rheinfall, wird allgemein gebilligt (Neubig [Anm. 30], S. 176; Müller [Anm. 19], S. 74; Thill [Anm. 42], S. 81). In 39–40 handelt es sich um einen Vergleich: Thill (Anm. 42), S. 81, die folgenden Kommentar gibt: l’eau du Rhin, comme le lait, semble se solidifier; l’écume tournoie au-dessus des galets, (Andrée Thill: Jacob Balde. Choix de Poèmes lyriques. Mulhouse 1981, S. 54). Danach bedeutet offa hier ‚Kiesel‘. Das Bild aus 35–36 (nach Verg. Buc. 1,81 pressi copia lactis), dass in der Schweiz viel Milch fließt (manat), wird weitergesponnen. Vada flava Rheni (38): Horaz nennt den Tiber flavus (Carm. 1,2,13; 1,8,8; 2,3,18).



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Mundi inquilinus: mœnibus ac domo, Quam sol eundo circumit, igneâ Contentus, includi lutosâ 20  Urbe negat, brevibusque muris. 5 [Wer ist ein WEISER? Er ist sich selbst genug. Ihn bringt vom Recht ab weder Willkür53 noch das gewaltsame Schwert  eines in Purpur gekleideten Tyrannen. Man kann sagen: Er ist König: Wer die Furcht niedergelegt hat,54 10 hat ein Szepter aufgenommen. Da der Erdkreis ein Tempel Gottes ist, wird die Brust des WEISEN  ein Altar sein, der des Tempels würdig ist. Nicht der Rhein mit seinem wilden Strudel begrenzt ihm das Vaterland noch die Donau. Ob es sich um Rom in Italien 15 handelt oder um Schongau in Bayern, ist ihm  im Innersten gleich, ein echter Gast, nur ein Mieter in der Welt: Mit den Mauern und dem flammenden Haus, das die Sonne im Lauf umrundet, zufrieden, beachtet er nicht, daß er in einer Stadt voller Kot 20  und von engen Mauern eingeschlossen ist.]

Der Stoiker ist Kosmopolit, er ist in der ganzen Welt zu Hause. Nun ist es ein bekanntes Problem, dass Balde der Stoa zuweilen nahe, zuweilen fern gestanden hat. Aber die Stoa hat viel mit dem Christentum zu tun.55 So ist auch der Christ in der ganzen Welt zu Hause56 – wenn es auch heute manchmal nicht so zu sein scheint. In diesem Sinn ist er nicht von seiner Heimat abhängig, er ist nicht entwurzelt, wenn er in der Fremde weilen muss – das ist die Lehre, die Balde auch den elsässischen Freunden gibt, die im Exil leben. Ausdrücklich wird im Unterschied zu anderen Gedichten gesagt, dass der Rhein nicht seinen Lebenskreis

53 Orelli (Anm. 11), S. 381 erklärt libertas: h. e. animi licentia, vel potius, ut ait Horatius: Civium ardor prava sequentium. Licentia populi liberi injusta petentis bene opponitur tyranni minis. Ebenso danach Müller (Anm. 19), S. 34 (der im Horaz-Zitat richtig iubentium schreibt: Orelli zitierte aus dem Kopf). Neubig (Anm. 8), S. 111 übersetzt ‚Willkür‘. 54 Regnare dicas: qui posuit metus (9) nach Sen. Thy. 348 Rex est qui posuit metus, wo auch von dem stoischen βασιλεύς die Rede ist. 55 Neubig (Anm. 8), S. 212 spricht zu dieser Ode von Baldes ‚stoisch-christlichem Weisen‘. 56 Inquilinus ist der Mieter im Gegensatz zum Hausbesitzer. Neubig (Anm. 8), S. 112 übersetzt: „Er ist der freye Bürger der ganzen Welt.“

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 Eckard Lefèvre

begrenzt, dass das Elsass nicht seine alleinige Heimat ist. Natürlich vergisst er es nicht, er trägt es in einem stillen Winkel des Herzens. Zwei Seelen wohnen, ach!, in seiner Brust. Aber sie stehen nicht in Opposition zueinander. Vielleicht darf man sagen: Sie ergänzen sich.57

6 Fluss des Weines In dem dritten Brief des ersten Buchs der Urania Victrix von 1663 stimmt der Maler Symphorianus Cinna ein Lob des flämischen Meisters Rubens (125–152) an, der es zu großem Reichtum brachte und es sich leisten konnte, besonderen Wein zu trinken (145–146):58 145 Massicus influxit, seu pressus vite Falerna: Vel minimùm praelis, Rhene jocose, tuis. 145 [Massiker strömte oder der aus der Falernertraube gepreßte Wein oder zum wenigsten einer aus deinen Keltern, fröhlicher Rhein.]

Der Massiker und Falerner sind aus Horaz bekannte kampanische und somit ‚literarische‘ Weine, aber der Rheinwein? Er kann aus dem Rheinland oder Rheinhessen stammen  – oder eben aus dem Elsass. Nicht der Rhein wird ‚fröhlich‘ genannt, sondern natürlich der Wein.59 Perlt er? O nein, er macht fröhlich. Da spricht Balde aus Erfahrung – oder besser: mit Wehmut, denn in München gibt es vor allem Bier. Ja, Wein macht fröhlich. Im fünften Brief des vierten Buchs der Urania Victrix lockt der Königliche Speisemeister Didacus Campegius Villarona, der Architriclinus Modimperator Regius, Urania mit den köstlichsten Weinen (13–18):

57 An dieser Stelle seien die Ausführungen von Henrich (Anm. 49), S. 121 über Baldes ‚Heimatliebe‘ mitgeteilt. „Er hat keine Gedichte auf seine Heimat, das Elsass geschrieben, hat nicht seine Schönheit ausführlich geschildert, nicht sein trauriges Schicksal wortreich beklagt. Es sind immer nur gelegentliche Bemerkungen, kurze Hindeutungen auf den Zustand des Landes, am häufigsten die Selbstbezeichnung ‚Alsata‘, in denen sich des Dichters Interesse für seine Heimat bekundet. Aber diese Bemerkungen sind so häufig, daß wir daraus auf die Wärme der Empfindung des Dichters schließen dürfen. Und gerade, daß er seine Liebe zu der fernen Heimat nicht zum Gegenstand elegischer und rhetorischer Deklamationen gemacht hat, scheint mir die Innigkeit seiner Empfindung zu bezeugen.“ 58 Übersetzung von Claren u. a. (Anm. 29), S. 85. 59 „Das Attribut dem Sinn nach auf den Wein zu beziehen“, Claren u. a. (Anm. 29), S. 253.



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Elige: non desunt prælis expressa Falernis Lesbiaque, & Chiæ dulcia vina notæ. 15 Ni magè nostra velis: quæ Rhenus, Nicra, Mosella fundit. & Austriaci flava senecta cadi. Vina levant animos, augmentaque viribus addunt. Vincula tristitiæ solvis, Jacche pater. [Wähle: es mangeln nicht Weine, in Falerner Keltern gepreßt, nicht Lesbier und die süßen mit chiischem Etikett – 15 Wenn du nicht lieber unsere willst, die Rhein, Neckar und Mosel spenden, und die alten goldgelben des österreichischen Krugs. Weine heben den Geist und steigern die Kräfte. Die Fesseln des Trübsinns löst du, Vater Bacchus.]

Der Verführer argumentiert natürlich global. Falerner, Lesbier und Chier sind alles horazische Weine. Rhein- und Moselweine haben noch heute einen guten Ruf. Über die Neckarweine vermeldet Meyers Enzyklopädisches Lexikon, sie seien „von eigenwilliger, herzhafter und nerviger Art und großer Haltbarkeit“ – so recht für den Geschmack und Sinn der Schwaben. Das Thema des Weines ist für Balde nicht ein theoretisches. Er wusste ihn zeitlebens zu schätzen. Da er sich auch in späteren Jahren immer als Alsata bezeichnete, wird die Vorliebe für den Wein mit seiner Herkunft aus dem Elsass zusammenhängen. In auffallender Weise hat er im ersten Buch der Lyrica zwei gegenläufige Gedichte nebeneinandergestellt: Das 11. preist den Wein, das 12. verwünscht einen Bierkrug, gewissermaßen das Statussymbol seiner neuen langjährigen Heimat.60 Die bereits betrachtete Klage Lyr. 2,27,17 wird so verständlich, Balde habe seit 20 Jahren keinen elsässischen Wein getrunken.61 Er trauert dem (elsässischen) Rhein und seinen Gewächsen nach.

60 Westermayer (Anm. 36), S. 241 lässt sich über Baldes Liebe zum Wein so vernehmen: „Aus dem traubenreichen Elsass gebürtig, liebte er den Wein natürlich vor allem; unter den heimathlichen Sorten hebt er in einer Ode den Rangwein (vinea Rangensis), der auf dem Rangenberg bei Thann wächst, besonders hervor [Lyr. 3,34,17]. […] Dagegen war er mit unversöhnlichem Grauen erfüllt gegen jene Säuerlinge, die man an einzelnen Orten dem widerstrebenden Boden mit strafbarem Frevel abgewinnt, zumal gegen die niederbayerischen und oberen Donauweine“. Zum Thema Balde und der (elsässische) Wein Thill (Anm. 42), S. 81–83. 61 Henrich (Anm. 49), S. 116.

Stefan Tilg

Rheinromantik und Vater Rhein Zwei Motive des deutschen Humanismus

1 Einleitung: Große und kleine Rheinideen Wenn man die in der lateinischen Literatur von der Antike bis zur Frühen Neuzeit entwickelten Rheinbilder Revue passieren lässt,1 dann lässt sich cum grano salis folgende Beobachtung machen: Auf eine große Rheinidee in der römischen Antike folgen vergleichsweise fragmentarische, regionale Rheinvorstellungen im Mittelalter und eine neuerliche, von der Antike inspirierte große Rheinidee im deutschen Humanismus. Caesar hat in seinem Gallischen Krieg den Rhein als politische Grenze zwischen Gallien und Germanien konstruiert und damit die Voraussetzungen geschaffen, den Rhein als Symbol Germaniens zu sehen. Römische Dichter wie Ovid und Persius beschreiben Triumphzüge, in denen zum Zeichen eines Siegs über die Germanen der Flussgott Rhein mitgeführt wurde.2 Ein besonders interessantes Zeugnis, auf das ich später noch als Kontrastfolie für das politische Rheinbild der deutschen Humanisten zurückkommen werde, ist Martials Epigramm 10,7. Es bezieht sich auf einen bestimmten historischen Hintergrund: Trajan erhielt 97 n. Chr. von Nerva die Statthalterschaft der Provinz Germania superior und blieb dort zunächst auch noch, als er nach dem Tod Nervas 98 n. Chr. selbst Kaiser wurde. In dieser Situation lässt Martial den Tiber sprechen, der von seinem Untertanen Rhein zum Dank für die Segnungen der

1 Eine Übersicht über solche Rheinbilder ist ein Desiderat  – insofern erheben die folgenden Ausführungen auch keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Einzelne Schlaglichter bieten Robert Lauterborn: Der Rhein. Naturgeschichte eines deutschen Stromes. Bd. 1: Die erd- und naturkundliche Erforschung des Rheins und der Rheinlande vom Altertum bis zur Gegenwart. Erste Hälfte: Die Zeit vom Altertum bis zum Jahre 1800. In: Berichte der naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i.Br. 30 (1930), S. 1–311; Horst J. Tümmers: Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte. München 1994. Trotz des vielversprechenden Titels wenig brauchbar ist Carl Enders: Dichtung und Geistesgeschichte um den Rhein. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ratingen 1957. 2 Zum Beispiel Ovid, Tristia 4,2,41–42: cornibus hic fractis viridi male tectus ab ulva / decolor ipse suo sanguine Rhenus erat [da ist der Rhein, mit zerbrochenen Hörnern und nur dürftig bedeckt mit grünem Schilf, von seinem eigenen Blut besudelt]; ähnliche Stellen bei Ovid, Epistulae ex Ponto 3,4,107–108; Persius 6,43–47. DOI 10.1515/9783110400281-008



Rheinromantik und Vater Rhein  

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Romanisierung etwas launig die Rückgabe von Trajan fordert (der tatsächlich allerdings bis 99 n. Chr. an Rhein und Donau blieb, um die Grenzverteidigung zu organisieren):3 Nympharum pater amniumque, Rhene, Quicumque Odrysias bibunt pruinas, Sic semper liquidis fruaris undis, Nec te barbara contumeliosi Calcatum rota conterat bubulci; Sic et cornibus aureis receptis Et Romanus eas utraque ripa: Traianum populis suis et urbi, Thybris te dominus rogat, remittas. [Rhein, Vater4 der Nymphen und Ströme, welche auch immer den odrysischen5 Frost trinken: Mögest du dich stets an flüssigen Wellen freuen,6 und nicht soll dich das barbarische Rad des unverschämten Ochsentreibers zertreten und zermürben. Mögest du, wieder im Besitz deiner goldenen Hörner,7 römisch auf beiden Seiten dahinfließen: Wenn du nur Trajan seinen Völkern und seiner Stadt zurückgibst! Darum ersucht dich der Tiber, dein Herr.]

Die typischen römischen Rheinbilder sind letztlich politisch, wobei der Rhein für Germanien steht und als Untertan Roms dargestellt wird. Topische Floskeln über seine Kälte und Unwirtlichkeit verstärken die Vorstellung seiner Unterlegen-

3 Vgl. zu diesem Epigramm Andreas Heil in Gregor Damschen, Andreas Heil (Hgg.): Marcus Valerius Martialis: Epigrammaton liber decimus. Das zehnte Epigrammbuch. Text, Übersetzung, Interpretation. Frankfurt a. M. 2004 (Studien zur klassischen Philologie 148), S. 62–64. In dem diesem Band beigegebenen rezeptionsgeschichtlichen Anhang findet sich zu 10,7 nichts. Dass es im Humanismus aber eine bedeutende Rezeption gegeben hat, wird unten unter Punkt 5 gezeigt. 4 Größere Flüsse wurden in der römischen Antike in Bezug auf ihre Nebenflüsse und ihre dominierende Stellung in einer Landschaft öfter pater genannt (vgl. z. B. die Anrede Thybri pater in Vergils Aeneis 8,540 und 10,421). Martial war der erste, der dieses Attribut auf den Rhein übertrug. 5 Nach den Odrysern, einer antiken Völkerschaft in Thrakien am Fluss Hebros. „Odrysisch“ steht hier also für ‚thrakisch‘, was wiederum Norden und Kälte impliziert. 6 Im Gegensatz zu gefrorenen Wellen, also Eis; dazu passt dann im Folgenden die Rede vom ‚Zertreten‘. 7 Einen unterworfenen Fluss (bzw. die dadurch symbolisierte Nation) stellte man sich gern mit zerbrochenen Hörnern vor; vgl. das Ovid-Zitat in Anm. 2, außerdem z. B. Mart. 7,7,3 und 9,101,17. Dass der Rhein seine Hörner nun wieder zurückbekommt, ist ein Zeichen seiner neuen Stärke als ‚römischer‘ Fluss. „Golden“ mag in diesem Zusammenhang nicht mehr als allgemein ‚prächtig‘ bedeuten (vgl. z. B. das goldene Horn des Bacchus bei Horaz, Oden 2,19,29, oder die goldenen Hörner der Hirschkuh der Diana bei Valerius Flaccus 6,71).

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heit gegenüber dem warmen und freundlichen Italien.8 Solche kohärenten und emphatischen Rheinbilder findet man in Spätantike und Mittelalter kaum. Die literaturfähig gewordenen Bewohner der Rheingegend stehen ihrer Landschaft zwar positiver gegenüber, aber von einer größeren Rheinidee kann man nicht sprechen. Ausonius bezeichnet den Rhein in der Mosella einmal als pulcherrimus (V. 428),9 Venantius Fortunatus spricht in De navigio suo von einem locus speciosus (V. 67), aber das ist es dann auch schon. In karolingischer Zeit gibt sich Wandalbert von Prüm in der Sphragis seines landwirtschaftlichen Kalendergedichts als Rheinländer zu erkennen und spricht nach dem Vorbild von Vergils dulcis Parthenope (Georgica 4,563–4) von den dulcia Rheni litora, die ihn genährt haben (De mensium duodecim nominibus, V. 365). Niemand wird hier Wandalberts Heimatliebe bezweifeln, aber ihr literarischer Ausdruck bleibt isoliert. Landwirtschaftliche Gesichtspunkte sind auch entscheidend in Ermoldus Nigellus’ erstem Lobgedicht auf König Pippin I. von Aquitanien, in dessen Zentrum sich Rhein und Wasgau um den Vorrang ihrer Produkte streiten. Später, im 12. Jahrhundert, lässt sich Otto von Freising im Zusammenhang einer geographischen Beschreibung in den Gesta Friderici einmal zu der Formulierung hinreißen, dass der Rhein neben Donau und Po ein nobilissimus fluvius Europas sei (2,48). Otto greift dabei auch auf die antike Tradition vom Rhein als der Grenze zwischen Gallien und Germanien zurück. Weiter verfolgt wird dieser Gedanke aber nicht. Es ließen sich noch viele ähnliche Stellen beibringen, aber ich denke nicht, dass sie das Gesamtbild wesentlich verändern würden.

2 Konrad Celtis’ Grundlegung des Rheinbildes im deutschen Humanismus Ein echter Paradigmenwechsel stellt sich dann im deutschen Humanismus ein, dessen Rheinbild durch die Themen Bildung, Ästhetik und Politik aufgeladen und durch antike Muster geprägt wird. Soweit ich sehe, ist der Begründer dieses neuen Rheinbildes der deutsche Erzhumanist Konrad Celtis (1459–1508), der sich in verschiedener Weise mit dem Rhein auseinandergesetzt hat. Da wäre zunächst

8 Vergil, Eklogen 10,46–47 spricht z. B. vom „Alpenschnee und der Kälte des Rheins“ (Alpinas […] nives et frigora Rheni), denen sich die geliebte Lycoris „fern der Heimat“ (procul a patria) aussetzen wird. 9 Freilich könnte man argumentieren, dass Ausonius in seinem Moselgedicht schon vieles vorweggenommen hat, was dann im Humanismus auf den Rhein umgelegt wird.



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einmal ein Epigramm (2,56: Ad Rhenum, qui artem imprimendi invenerit [„An den Rhein, der den Buchdruck erfunden hat“]) zu nennen, in dem der „Vater Rhein“ – hier schon ein Anklang an und Kontrapunkt zu Martial – als Kulturbringer10 und insbesondere als Erfinder des Buchdrucks gefeiert wird (der Buchdruck war unter den deutschen Humanisten der Zeit überhaupt ein großes Thema, das viel zur Überwindung eines gewissen kulturellen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber den Italienern beitrug):11 Rhene pater, debent tibi singula numina coeli, Et quiquid tellus salsus et humor alit, Per tua scriptorum cum sunt inventa labores Sublati, et cunctis utile crevit opus, Scilicet in parvo dum scribunt aera labore, Mille prius nunquam quod potuere manus. [Vater Rhein, alle Götter des Himmels stehen in deiner Schuld, und was immer die Erde und das salzige Nass ernährt. Durch deine Erfindung wurden die Mühen der Schreiber aufgehoben und ein allen nützliches Werk erwuchs: Denn mit wenig Mühe schreibt das Erz, was vorher tausend Hände nicht schreiben konnten.]

Breite Wirkung entfaltete dieses Epigramm allerdings kaum – es zirkulierte allenfalls handschriftlich und wurde wie die meisten von Celtis’ Epigrammen erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Karl Hartfelder ediert.12 Wesentlich wichtiger für unseren Zusammenhang ist die Elegie 3,13 in Celtis’ 1502 veröffentlichtem Elegienzyklus Amores.13 Über die Amores im Allgemeinen ist schon so viel geschrieben und gesagt worden, dass es sich erübrigt, hier Weiteres hinzuzufügen.14 Ich möchte nur betonen, dass das dem Werk zugrundeliegende Konzept geographischen Erlebens einer neuen, umfassenden Aneignung von Landschaft natürlich förderlich war. Bekanntlich sind die vier Bücher des Werks jeweils einem Hauptfluss

10 Lothar Kempter: Vater Rhein. Zur Geschichte eines Sinnbildes. In: Hölderlin-Jahrbuch 20 (1975–1977), S. 1–35, hier S. 10 erkennt die Parallele mit dem von Tibull (1,7,23) als Nile pater angesprochenen und als Kulturbringer Ägyptens charakterisierten Nil. 11 Vgl. z. B. noch Celtis’ Ode 3,9 sowie Sebastian Brant: Ad dominum Iohannem Bergmann de Olpe de praestantia artis impressoriae a Germanis nuper inventae elogium (in: Varia Carmina 1498, Bl. [O5v]–[O6v]); Johann Arnold Bergellanus: De chalcographiae inventione. Mainz 1541. 12 Karl Hartfelder (Hg.): Fünf Bücher Epigramme von Konrad Celtes. Berlin 1891. 13 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Martin Korenjak in diesem Band. 14 Vgl. mit weiterer Literatur jüngst z. B. Claudia Wiener u. a. (Hgg.): Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Schweinfurt 2002 (Bibliothek Otto Schäfer Ausstellungskatalog 18).

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Deutschlands gewidmet, das dritte Buch dem Rhein. Die Elegie 3,13 trägt den Titel Ad Rhenum ortum et exitum eius conmemorans rogans ut puellam descendentem Aquisgrani numine suo tueatur [„An den Rhein, seinen Ursprung und seine Mündung vergegenwärtigend und bittend, dass er die in Aachen aussteigende Geliebte beschützt“]. Tatsächlich nimmt Celtis hier eine Kurreise seiner rheinischen Geliebten Ursula auf dem Rhein von Mainz nach Aachen nur zum Aufhänger für eine gesamthafte Beschreibung des Stroms von seinen Quellen bis zur Mündung: von den Schweizer Alpen (V. 5–22; mit einer kleinen Schweizer Nationalgeschichte) über den Bodensee bis Basel (V. 23–34), weiter nach Worms und Mainz – wo Ursula ihr Schiff besteigt, von der Aufmerksamkeit des Dichters bis Aachen begleitet wird und dann wieder aus dem Blickfeld verschwindet –, vorbei an Bacharach zur ausführlich beschriebenen Loreley, nach Koblenz mit einem Abstecher nach Trier und ins Moselland, schließlich in schnellerer Kadenz durch Köln, Jülich, Neuss bei Düsseldorf und Lobith in den Niederlanden bis zur dreiarmigen Mündung des Stroms.15 Erstmals wird hier auf literarisch bedeutsame Weise der Rhein als Ganzes in den Blick genommen, erstmals seit der Antike wird er wieder emphatisch mit Bedeutung aufgeladen. Ich denke, man kann hier zu analytischen Zwecken mindestens drei Bedeutungsebenen unterscheiden, die spätere Leser und spätere Rheinbilder geprägt haben: eine genuin humanistische (3), eine ästhetische (4) und eine politische (5). Auf die im engeren Sinn humanistische Bedeutungsebene werde ich im Folgenden nur kurz eingehen, da sie offenkundig und wenig erklärungsbedürftig ist. Die ästhetischen und politischen Aspekte werden mich dagegen etwas länger beschäftigen.

3 Der humanistische Rhein Die humanistische Dimension kommt einerseits in Celtis’ allgemeiner historischgelehrter Durchdringung des Rheinlaufs zum Ausdruck, z. B. in Exkursen wie den einleitenden Bemerkungen zur Schweizer Geschichte oder der Fokussierung auf bedeutende Hinterlassenschaften der Antike, etwa in der Beschreibung von Trier (V. 82 Multa tenet veterum quae monimenta virum [„das viele Denkmäler der Alten besitzt“]); andererseits und vielleicht noch deutlicher aber auch in der Tatsache, dass der Rhein als Verbindungsweg zwischen humanistischen Freunden

15 Für einen Abdruck der mit 104 Versen relativ langen und dazu noch an vielen Stellen erklärungsbedürftigen Elegie fehlt hier der Raum. Text und Übersetzung sind bequem zugänglich bei Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel, Hermann Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997, S. 115–122; Kommentar ebd. S. 1009–1015.



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und als zentrale Achse in einem humanistischen Netzwerk gesehen wird. In Basel gedenkt Celtis z. B. seines Freundes, des Kanonikers Hartmann von Eptingen, der doctorum virum candidus hospes (V. 33–34) ist.16 In Worms (V. 35–38) betont der Autor seine Freundschaft mit dem Bischof und kurpfälzischen Kanzler Johann von Dalberg (1455–1503), der als Förderer des Humanismus bis heute bekannt ist und auch eine zentrale Rolle in dem von Celtis 1491 in Mainz gegründeten Humanistenverein Sodalitas litteraria Rhenana spielte. In Mainz angekommen, ergreift Celtis wiederum die Gelegenheit für ein Lob des Buchdrucks und Johannes Gutenbergs (V. 39–42). Bei einem Abstecher auf die Mosel werden Trithemius und Cusanus als Ruhm und Zierde der Gegend hervorgehoben (V. 85–86). Ähnliches sehen wir auch nach Celtis: Erasmus von Rotterdam z. B., der größte aller humanistischen Stars, gelangt 1514 auf dem Rhein südabwärts nach Basel und wird an den Ufern überall begeistert empfangen; umgekehrt reist Helius Eobanus Hessus 1519 auf dem Rhein nordaufwärts zu seinem Idol Erasmus, erinnert sich in Mainz an den allzu jung verstorbenen Humanisten Dietrich Gresemund und findet ebendort gastliche Aufnahme bei seinem gemeinsamen Bildungszielen verpflichteten Schulfreund, dem Theologen Tileman Platner.17

4 Der schöne Rhein Die ästhetische Komponente von Celtis’ Rheinelegie kommt in seinem Interesse an der Natur zum Ausdruck, das sich hier – und damit spätere Wahrnehmungen des Rheinlaufs vorwegnehmend  – stark mit der historischen Kulturlandschaft, der Schönheit der Altertümer und Städte verbindet. Im Bereich des Hochrheins wird tendenziell eher das Wilde betont: das rauschende Alpental (V. 6: valle sonante) oder die Gewalt des Rheinfalls (V. 29–30: Per scopulos ruis inde vagus celer atque sonorus / Perque Cataractas impetuose duas [„Dann stürzt du unstet, rasch und laut durch die Felsen, ungestüm durch die zwei Wasserfälle“]). Am Mittelrhein kommen die pittoresken Städte vor dem Hintergrund des reißenden Flusses in den Blick (V. 31–32: per pulcram rapiaris Basiliensem / Urbem [„du eilst durch das schöne Basel“]; man vergleiche auch V. 43–44 die Beschreibung des Sonnenaufgangs in Mainz). Die Wasserstrudel nahe der Loreley geben Anlass zu Mutmaßungen über ein durch unterirdische Wasserwege charakterisiertes

16 An Hartmann von Eptingen richtet Celtis auch seine Ode 3,22 und sein Epigramm 3,34. 17 Vgl. die Erasmusvita des Beatus Rhenanus in Percy S. Allen (Hg.): Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami. Bd. 1. Oxford 1906, S. 66; Helius Eobanus Hessus: A profectione ad Des. Erasmum Roterodamum hodoeporicon. Erfurt 1519, Bl. A4r–v (zu diesem Werk siehe mehr unten).

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Naturwunder (V. 67–79). Auf dem Ausflug nach Trier und ins Moseltal werden die Altertümer der Stadt und die Burgen auf den Hügeln als sehenswert hervorgehoben (V. 80–84). Celtis nimmt damit eine ganze Reihe von Elementen späterer Rheinreiseberichte vorweg und legt einen Grundstein für die Entwicklung einer Art humanistischer Rheinromantik. Die ‚Erfindung‘ dieses Aspekts der Rheinwahrnehmung ist Celtis aber ebenso wenig wie dem deutschen Humanismus insgesamt zuzuschreiben. Es war ein – wenn auch mit den deutschen Landen vielfach verbundener – Italiener, namentlich Enea Silvio Piccolomini, der die ästhetische Seite zumindest des Mittelrheins lange vor Celtis und noch wesentlich deutlicher als er zum Ausdruck brachte. Die betreffenden Passagen finden sich in Piccolominis während des Konzils von Basel in Briefform abgefasster zweiter Beschreibung der Stadt Basel aus dem Jahr 1438.18 Der Rhein wird hier zunächst nur zur Situierung Basels in den Blick genommen, was sich aber bald zu einer eigenen Beschreibung in der Beschreibung auswächst. Zunächst interessiert Piccolomini der wilde Lauf des Alpenund Hochrheins von seinem Ursprung bis nach Basel (S. 8 f.). An dieser Stelle hätte Piccolomini bequem zu Basel zurückkehren können. Stattdessen folgt dann aber nach Überlegungen zum Rhein als antiker, nicht mehr aktueller Grenze zwischen Deutschland und Frankreich noch eine enthusiastische Beschreibung der Schönheit des Mittelrheins zwischen Mainz und Köln (inter Mogunciam et Coloniam, S. 10 f.). Spektakuläre Engen zwischen bergigen Ufern, mit Wein bewachsene Hänge, Burgen auf den Höhen sowie liebliche Wiesen, Quellen und Wälder begeistern Piccolomini. Die Reize der Landschaft  – die für ihn auch jene um Florenz aussticht – lassen ihn schließlich folgendermaßen resümieren (S. 11): Et quod omnia superat, naturam ipsorum locorum ad leticiam existimabis natam. Videntur enim colles ipsi ridere et quandam a se diffundere jocunditatem, qua intuentes nec videndo expleri aut saciari valeant, ut universa regio hec paradisus recte haberi et nominari queat et cui nichil ad leticiam vel ad pulchritudinem toto orbe sit par.

18 Editionen u. a. bei Eduard Preiswerk (Hg.): Eine zweite Beschreibung Basels von Enea Silvio. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 4 (1905), S. 1–17 (hiernach zitiert); Alfred Hartmann (Hg.): Basilea Latina. Basel 1931, S. 48–62. Allgemein mit weiterer Literatur Maria A. Terzoli: Aeneas Silvius Piccolomini und Basel / Enea Silvio Piccolomini e Basilea. Basel 2005 (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel 42). Es spielt in unserem Kontext keine Rolle, dass Piccolomini die betreffenden Passagen fast wörtlich der um 1405 entstandenen Laudatio Florentine urbis von Leonardo Bruni (der damit die Umgebung von Florenz beschreibt) entlehnt hat. Vgl. dazu Berthe Widmer: Enea Silvios Lob der Stadt Basel und seine Vorlagen. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 58/59 (1959), S. 111–138; Stefan Tilg: Facetten humanistischer Landschaftserfahrung. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 15 (2016), S. 108–129, hier S. 124–128.



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[Und was alles übertrifft: Man könnte glauben, die Natur dieser Gegend sei zur Freude geboren. Es scheinen nämlich die Hügel selbst zu lachen und eine gewisse Fröhlichkeit zu verströmen. Der Betrachter kann gar nicht genug davon bekommen, sodass man diese ganze Landschaft mit Recht ein Paradies nennen kann. Nichts auf der ganzen Welt kommt ihr an Freude und Schönheit gleich.]

Das ästhetische Wohlgefallen am Mittelrhein ist hier klar und deutlich auf den Punkt gebracht. Trotzdem dürfte Piccolominis erst im 20. Jahrhundert gedruckter Brief damals nicht allzu weite Verbreitung gefunden haben. Umso erstaunlicher ist es, dass ein späteres Beispiel aus dem deutschen Humanismus wieder genau den Mittelrhein zwischen Mainz und Köln ins Zentrum des ästhetischen Interesses stellt. Es handelt sich um Helius Eobanus Hessus’ schon zitiertes Reisegedicht des Jahres 1519,19 das u. a. einen 30 Hexameter umfassenden, in den Marginalien Amoenitatis Reni descriptio [„Beschreibung der Lieblichkeit des Rheins“, Bl. A5r–v] betitelten Exkurs enthält. Hessus hebt mit dem Ausdruck seiner eigenen Begeisterung über den Mittelrhein an, die ihn einfach dazu hinreißt, seine Reise durch eine Art Ekphrasis zu unterbrechen: Quae facies, quae forma loco, naturaque subsit Dicere fert animus parvoque excedere cursu Septa libet. Nec enim loca tam foelicia Musae Spectantes tacuisse queant. [Welches Aussehen, welche Schönheit und welches Wesen dem Ort innewohnt, verlangt mein Geist zu verkünden und ich will meine Schranken mit einem kleinen Exkurs überschreiten. Auch die Musen selbst, wenn sie hier hinschauen, könnten über diese gesegnete Gegend wohl nicht schweigen.]

In gut humanistischer Manier bedient sich Hessus dann bei einem ästhetischen Muster der Antike, nämlich dem sprichwörtlich lieblichen Tempetal und anderer in der antiken Dichtung hinsichtlich ihrer Schönheit mit dem Tempetal verglichener Gebirgstäler. All diese Täler, so der Dichter weiter, werden aber vom Mittelrheintal übertroffen (Omnia non uno mutarim nomina Reno [„all diese [sc. griechischen] Namen würde ich nicht für den einzigen Rhein tauschen)“]. Besonders hervorgehoben werden dabei der liebliche Flusslauf, die Felsen und Burgen, die Kirchen in den Städten und der Wein auf den steilen Talhängen. Außerhalb

19 Hessus (Anm. 17). Dazu bes. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritualia 12), S. 58–63.

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des Exkurses finden auch noch die Loreley und diverse Altertümer gebührende Erwähnung. Als weiteres einschlägiges Beispiel erwähne ich schließlich noch Paul Schedes sapphische Ode Ad Rhenum flumen Germaniae. Die kürzere und abstraktere Version der Ode in der Erstausgabe von Schedes Sammlung Schediasmata Poetica 1574 (S. 33–36) wurde in der zweiten Ausgabe von 1586 um einige Strophen erweitert und mit konkreterer Landschaftsbeschreibung angereichert – von dieser zweiten Fassung gehe ich aus.20 Dieses wieder im Kontext einer Reise stehende Lobgedicht auf den Rhein setzt sich aus den nun schon bekannten und wohl damals schon mehr oder weniger kanonischen Elementen eines rheinischen ‚Romantikkatalogs‘ zusammen, der sich großteils aus der Landschaft des Mittelrheins speist: Wein (z. B. V. 13–14: fecundis gravidos racemis / palmites), pittoreske Städte, Villen und Burgen (V. 17–18: splendidas urbes quoque cum beatis / villulis, arcesque iugis in altis), liebliche Hügel, Täler und Bäche (V. 19–20: et iuga et valles, scatebrasque vivo / fonte fluentes), auch die Altertümer (z. B. V. 21 der Drususstein in Mainz) dürfen nicht fehlen. Beginnend mit Piccolomini und Celtis’ Elegie 3,13 hat sich damit im Lauf des 16. Jahrhunderts eine literarische Rheinromantik ante litteram entwickelt, die in wesentlichen Elementen über die Jahrhunderte unverändert geblieben ist und bis heute z. B. in Ansichtskarten abgerufen werden kann.21 Beachtung verdient auch die Tatsache, dass die neulateinischen Autoren mit dem Mittelrhein gerade jenes Stück des Rheinlaufs als ästhetisch besonders wertvoll hervorheben, das seit der ‚romantischen Rheinromantik‘ des frühen 19. Jahrhunderts durchschlagenden Erfolg im aufstrebenden Genre der Reiseführer hatte. Das beste Beispiel ist hier Johann August Kleins zunächst im Verlag von Franz Friedrich Röhling erschienene Rheinreise von Mainz nach Köln. Historisch, topographisch, malerisch (Koblenz 1828). Als der junge Karl Baedeker 1832 den Röhling-Verlag übernahm, wechselte auch die Rheinreise in sein Programm und wurde von Baedeker 1835 in überarbeiteter und erweiterter Form als erster seiner Reiseführer herausgegeben.

20 Melissi Schediasmata Poetica. Item Fidleri Flumina. Frankfurt a. M. 1574, S. 33–36; Schediasmata poetica, secundo edita multo auctiora. [Pars prima.] Paris 1586, S. 229–231. Vgl. zur Erstfassung den Beitrag von Henriette Harich-Schwarzbauer in diesem Band. 21 Diese neulateinische Vorgeschichte der nationalsprachlichen Rheinromantik seit dem achtzehnten Jahrhundert wurde in der bisherigen Forschung fast gänzlich ignoriert, vgl. z. B. Heinz Stephan: Die Entstehung der Rheinromantik. Köln 1922 (Rheinische Sammlung 3); Horst J. Tümmers: Rheinromantik. Romantik und Reisen am Rhein. Köln 1968; Gertrude Cepl-Kaufmann, Antje Johanning: Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, bes. S. 80– 132. Ob und wie die lateinische Tradition die deutschen Rheinromantiker tatsächlich beeinflusst hat, ist allerdings eine offene Frage.



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Die Mittelrheinbeschreibung markierte damit die Geburtsstunde des bis heute als Inbegriff des deutschen Reisehandbuchs geltenden ‚Baedekers‘.

5 Der politische Rhein Blicken wir noch einmal zurück auf Celtis’ Elegie 3,13. Ihre politische Dimension ist in gewisser Weise schon in das kultur- und geopolitische Unternehmen der Amores als Gesamtwerk eingeschrieben, dadurch nämlich, dass anhand von vier Flüssen die Ausdehnung eines idealen deutschen Reichs definiert werden soll. Mit seiner vollständigen Beschreibung des Rheins von den Quellen bis zur Mündung beansprucht Celtis den Rhein von den Eidgenossen bis zu den Niederländern (die damals oft dem deutschen Kulturraum zugeordnet wurden) als deutschen Fluss.22 In diesem Zusammenhang ist auch die geschichtsverzerrende deutschnationale Vereinnahmung von Karl dem Großen und der römisch-fränkischen Reichstradition in der Mitte der Elegie bedeutsam. Als Feind werden hier die Franzosen aufgebaut, die Karl zwar unterwarf, die sich aber nun den legitimen Romulusnachkommen, also den Deutschen des Heiligen Römischen Reichs, widersetzen (V. 51–54): Hanc caput imperii statuit rex Karolus olim Dum Gallos nostro subderet imperio, Gallia quae nostris vitiis nunc libera vivit Et spernit leges Rhomulidumque duces. [Diese Stadt [sc. Aachen] machte König Karl einst zur Hauptstadt des Reichs, als er die Gallier unserer Herrschaft unterwarf – Gallien, das nun wegen unserer Fehler frei lebt und die Gesetze und die Führer der Romulusnachfahren verachtet.]

Für das politische Rheinbild späterer Generationen am bedeutendsten ist aber wohl Celtis’ Wiederentdeckung des Attributs pater, „Vater“ Rhein (V. 55: Rhene […] pater; V. 77: pater alme; vgl. auch den Beginn des oben zitierten Epigramms: Rhene pater). Celtis schuf damit ein humanistisches Mythologem, das unter zunehmender nationaler und nationalistischer Beanspruchung ein reges Nachleben bis ins zwanzigste Jahrhundert hatte. Lothar Kempter hat, ausgehend von

22 Generell zum Phänomen des (Proto-)Nationalismus im deutschen Humanismus vgl. bes. Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005; ders.: The Origins of Nationalism. An Alternative History from Ancient Rome to Early Modern Germany. Cambridge 2011.

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Hölderlins Verwendung der Wortverbindung ,Vater Rhein‘ in seiner Hymne Der Rhein, der Geschichte dieses Sinnbilds nachgespürt.23 Kempter hebt dabei richtigerweise Celtis’ Rolle für die Begründung der humanistischen Tradition und Martials Rolle für die antike Prägung der Wendung pater Rhenus hervor. Allerdings bleiben bei Kempter die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Traditionen völlig im Dunkeln. Es wird nicht erklärt, wie sehr die Tradition des deutschen Humanismus ihr Bild vom Vater Rhein geradezu als Gegenbild zu Martial entwickelt: Der pater Rhenus wird von Martial entlehnt, das dort vorgeprägte Kräfteverhältnis aber umgedreht  – der Vater Rhein ist nicht mehr romanisiert und Untertan, sondern deutsch und dominant. Einige dieser Gegenbilder möchte ich am Schluss meines Beitrags noch kurz skizzieren. Bei Celtis selbst sind die Entlehnung der Wendung pater Rhenus und eine generelle ideologische Gegenposition zu Martial klar. Auf einer handfesten intertextuellen Ebene ist seine Elegie aber nicht als Gegenentwurf erkennbar. Das ist anders z. B. in den oben schon besprochenen Gedichten von Schede und Hessus. Schede beginnt seine Rheinode in beiden Fassungen (1574 und 1586) mit den zwei Versen: Rhene, Nympharum pater, amniumque Rex, quot Almanis dominantur oris. [Rhein, Vater der Nymphen und König der Ströme, wie viele auch in deutschen Landen herrschen.]

Der erste Vers ist bis auf die Wortstellung ident mit Martials erstem Vers (Nympharum pater amniumque, Rhene); der zweite weist auf die hier von fremden Einflüssen ungetrübte Vorrangstellung des Rheins in deutschen Landen hin. Eine Umdrehung des Kräfteverhältnisses zwischen Rhein und Tiber finden wir zuvor schon in Hessus’ Hodoeporicon von 1519. Direkt an die oben besprochene Amoenitas Reni descriptio anschließend findet sich hier eine Salutatio ad Renum (Gruß an den Rhein; so wieder der Marginalientitel), in der Hessus seinen ästhetischen Exkurs in einen politischen übergehen lässt. In den letzten zwei Zeilen der Reni descriptio stellt sich der Dichter vor, wie die steilen Weinhänge regelrecht in den Rhein hineinfallen (Bl. A5v): […] fluvium Regem Nympharum fluctipotentum Odrysia quicumque bibunt de rupe pruinas.

23 Kempter (Anm. 10).



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[ […] den Fluss, der König ist über wassermächtige Nymphen, welche auch immer den Frost von odrysischem Felsen trinken.]

Das ist eine klare Referenz an Martials Verse 1–2 (Nympharum pater amniumque, Rhene,  / Quicumque Odrysias bibunt pruinas). Im folgenden Gruß an den Rhein wird Martials Tiber dann ausführlich in die Schranken gewiesen (Bl. A5v): Salve Amnis dominum externum non passe, nec ullis Victe armis, licet Ausonia te Tybris ab arce Sepe lacessierit qui te nunc Rene fatetur Agnoscitque patrem, cui cornua caerula flectunt Coeligenam quaecumque salutant flumina Tethym. [Sei mir gegrüßt, Strom, der du einen fremden Herrn nicht erduldest und durch keine Waffen besiegt wurdest, obwohl der Tiber von seiner ausonischen Burg aus dich oft gereizt hat; der Tiber, Rhein, der dich nun als Vater bezeichnet und anerkennt, dem alle Flüsse, welche die himmelsgeborene Tethys24 grüßen, ihre bläulichen Hörner beugen.]

Als letztes Beispiel für eine solche politisch-intertextuelle oppositio in imitando erwähne ich schließlich noch Felix Fidlers erstmals 1550 in Königsberg erschienene Elegien auf deutsche Flüsse (Fluminum Germaniae descriptio).25 In der eröffnenden Elegie auf den Rhein heißt es in den ersten vier Versen (S. 114 f.): Pracipuas inter Germanica flumina partes Ortus ab Alpino vertice Rhenus habet: Cui decus imperii, sceptrique resignat honores, Quae rigat Ausonium Tybridis unda solum. [Der Rhein, der in den Alpengipfeln entspringt, hat eine Vorrangstellung unter den deutschen Flüssen: Ihm gibt die Zierde der Herrschaft und die Ehre des Zepters zurück die Welle des Tibers, welche den ausonischen Boden bewässert.]

24 Tethys ist die Gemahlin des Meergottes Okeanos und die Mutter der Flussgötter. 25 Fidlers Flussbeschreibungen erschienen zunächst in einem zur Hochzeit Herzog Albrechts von Preußen herausgegebenen Sammelband: De nuptiis illustrissimi principis ac domini domini Alberti. Königsberg [1550], Bl. Bv–D2r. Dieser Band enthält auch einen in der Anlage ähnlichen Gedichtzyklus auf deutsche Gebirge von David Milesius, die Montes Germaniae (Bl. D2r–F3r). Die von Fidler und Milesius genannten Fluss- und Bergnamen werden am Ende des Bandes mit Angabe der deutschen Benennungen alphabetisch aufgelistet (Bl. G3r–G4r). Dieser Kontext weist auf ein – an Celtis erinnerndes – größeres Interesse des Dichterkreises um Albrecht an der literarischen Erschließung deutscher Landschaft hin. Fidlers Flussgedichte erschienen später u. a. auch als Anhang zu Schedes Schediasmata Poetica von 1574 und in den Delitiae poetarum Germanorum. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1612, S. 114–130 (hiernach zitiert).

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Die unterwürfige Geste des Tibers wäre ohne das Modell Martials kaum verständlich. Zwar wird der Rhein im Rheingedicht selbst nicht pater genannt, der ‚Vater Rhein‘ ist Fidler aber wohl bekannt, wie aus seiner Elegie auf den Main hervorgeht (S. 116: Commixtusque patri qua stat Moguntia Rheno,  / Coeraleas vitreo gurgite volvis aquas [„Mit dem Vater Rhein vermischt, wälzt du an der Stelle, wo Mainz steht, bläuliche Wasser in kristallener Flut dahin“]). Ausgehend von Celtis und in Opposition zu Martials als Hohn empfundenem Rheinepigramm hat sich also im deutschen Humanismus die Vorstellung vom ‚Vater Rhein‘ entwickelt, der die antiken Kräfteverhältnisse zugunsten des deutschen Flusses, Deutschlands und der Deutschen umgedreht hat. Die weitere Karriere des Sinnbilds vom ‚Vater Rhein‘ gerade in nationalen und nationalistischen Strömungen ist bekannt und gut beschrieben.26 Ich erwähne hier nur noch, dass der Höhepunkt der Vater-Rhein-Symbolik in den napoleonischen Befreiungskriegen erreicht wurde, als Frankreich tatsächlich am Rhein stand und die Festschreibung von Caesars Rheingrenze wieder ein Thema war. Vater Rhein blieb aber auch nachher für die deutsche Identität und Politik relevant, wie z. B. die ursprünglich 1884 für Kaiser Wilhelm I. in Auftrag gegebene, aber erst 1897 öffentlich aufgestellte Brunnenskulptur Vater Rhein und seine Töchter in Düsseldorf zeigt, in der Vater Rhein etwas abenteuerlich mit dem Nibelungenhort kombiniert ist.

6 Resümee Rückblickend erweist sich damit das neue Rheinbild des deutschen Humanismus als äußerst wirkungsmächtig. Es hat unsere Wahrnehmung eines heute wieder gern als europäisch geltenden Stroms als Bildungslandschaft, als Reiselandschaft und als politischer Landschaft maßgeblich geprägt. Mehr als jede literarische Hinterlassenschaft per se sind es vielleicht unsere Denk- und Wahrnehmungsmuster, in denen wir die eigentliche Wirkung von Antikerezeption und Humanismus suchen müssen.

26 Vgl. neben Kempter (Anm. 10) etwa noch Cepl-Kaufmann, Johanning (Anm. 21), bes. S. 253– 270; Dirk Suckow: Der Rhein als politischer Mythos in Deutschland und Frankreich. In: Oder/ Odra. Blicke auf einen europäischen Strom. Hg. von Karl Schlögel, Beata Halicka. Frankfurt a. M. 2007, S. 47–60.

Christian Guerra

Basels sicherer Hafen: Inszenierung eines humanistischen Dialogs am Ufer des Rheins Zu Enea Silvio Piccolominis Libellus dialogorum

1 Einleitung In die Zeit des Schismas zwischen dem Basler Konzil und Papst Eugen IV. fällt die Entstehung zweier écrits engagés Enea Silvio Piccolominis, in denen er, nunmehr vom Gegenpapst Felix V. zum Sekretär ernannt,1 sich offen für die konziliare Sache einsetzte: die Konzilsgeschichte De gestis concilii basiliensis commentarii und der Libellus dialogorum de generalis concilii authoritate et gestis Basiliensium, um den es in der Folge gehen soll.2 Dieses Traktat über die Autorität des Generalkonzils ist an die Universität Köln und ihren damaligen Rektor Johannes Tinctoris gerichtet3 als Reaktion auf ein theologisches Gutachten, das im Wesentlichen konzilsfreundlich ausgefallen war, das aber Basel nicht vorbehaltlos als Austragungsort dieses Konzils bestä-

1 Vgl. die Epigraphe zum Libellus dialogorum: Incipit Dialogus Venerabilis et Egregii Viri Domini Æneæ Silvii Senensis Sanctissimi Domini nostri Felicis divina providentia Papæ quinti Secretarii de rebus conciliaribus. Zum Leben Enea Silvio Piccolominis vgl. jetzt die neue Referenzbiographie von Serge Stolf: Les Lettres et la Tiare. E. S. Piccolomini, un humaniste au xve siècle. Paris 2012. 2 Aeneas Sylvius Piccolominus (Pius II.): De gestis concilii Basiliensis commentariorum libri II. Hg. von Denys Hay, W. K. Smith. Oxford 1967 (im Folgenden zitiert als ‚gest. conc.‘); Enea Silvio Piccolomini: Libellus dialogorum de generalis Concilii authoritate et gestis Basiliensium. In: Analecta monumentorum omnis aevi Vindobonensia. Bd. 2. Hg. von Adam František Kollár. Wien 1762, Sp. 686–790 (falls direkt auf den Text Bezug genommen wird, im Folgenden zitiert als ‚dial.‘ mit Dialognummer und Spaltenzahl). Alle Übersetzungen stammen von mir. Zum im Libellus dialogorum verhandelten ekklesiologischen Disput, auf den ich nicht näher eingehen werde, vgl. Carmen Cardelle: Kirchenstreit und literarischer Dialog: Piccolominis Libellus dialogorum. In: Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus: Formen, Entwicklungen und Funktionen. Hg. von Uwe Baumann, Arnold Becker, Marc Laureys. Bonn 2015 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der klassischen Antike 19), S. 37–62. 3 Allatus namque ad nos est tractatulus quidam vester […] id, quod vestræ assertioni defuit, Concilium adhuc esse Basileæ absque condicione et cunctatione profiteamini. (dial. proem., Sp. 691 f.) [Uns ist ein kleines Traktat von euch gebracht worden […]. Dann mögt ihr das, was zu eurem Zuspruch gefehlt hat, ohne Wenn und Aber offen erklären, nämlich dass das Konzil immer noch in Basel ist.] DOI 10.1515/9783110400281-009

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tigt hatte.4 Über zwanzig Jahre später sah sich dann Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II. – ob nun durch äußere Umstände (etwa Kritik) oder aus eigenem Antrieb dazu veranlasst – gezwungen, sich noch einmal eindringlich an die Universität Köln und ihren neuen Rektor Jordan Mallant zu wenden5 und seine Konzilsschriften in der Retraktationsbulle In minoribus agentes vom 26. April 1463 zu widerrufen.6 Freilich lassen sich Abschriften des Libellus dialogorum nur im Einzugsgebiet der Universität Köln nachweisen,7 stammen allesamt noch aus dem 15. Jahrhundert und sind in Miszellan- oder Kompositkodizes überliefert, die jeweils Textcorpora von Gebrauchsliteratur zum Basler Konzil versammeln.8 Hingegen fand das Werk keinen Eingang in die Basler Opera omnia von 1571 [11551] und wurde 1753 vom Konzilshistoriker Gian Domenico Mansi sogar für verloren erklärt,9 ehe Adam František Kollár 1762 in den Analecta Vindobonensia die bis

4 Für eine ausführliche Analyse dieser Ereignisse von Anfang Oktober 1440 vgl. Simona Iaria: Diffusione e ricezione del Libellus dialogorum di Enea Silvio Piccolomini. In: Italia Medioevale e Umanistica 44 (2003), S. 65–114, hier S. 78–80. 5 Piccolomini stand schon vorher mit Jordan Mallant in Korrespondenz: vgl. den an diesen gerichteten apologetischen Brief vom 13. August 1447, in: Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini. II. Abteilung: Briefe als Priester und als Bischof von Triest (1447–1450). Hg. von Rudolf Wolkan. Wien 1912, hier der 19. Brief. 6 Enea Silvio Piccolomini/Pius II.: Bulla retractationum. In: Opera quae extant omnia. Basel [1571], S. *xi–*xviii, hier S. *xi–*xii (im Folgenden zitiert als ‚bull. retr.‘): cum Basileæ inter eos versaremur, qui se generale Concilium facere et universalem Ecclesiam repræsentare ajebant, Dialogorum quemdam libellum ad vos scripsimus, in quo de auctoritate Concilii generalis ac de gestis Basileensium et Eugenii Papæ contradictione ea probavimus vel damnavimus, quæ probanda vel damnanda censuimus. […] Si quid adversus hanc doctrinam inveneritis aut in dialogis aut in epistolis nostris, quæ plures a nobis sunt editæ, aut in aliis opusculis nostris (multa enim scripsimus adhuc juvenes) respuite atque contemnite. [Während wir in Basel unter jenen weilten, die behaupteten, ein Generalkonzil abzuhalten und die Kirche in ihrer Gesamtheit zu vertreten, haben wir ein gewisses Büchlein von Dialogen an euch gerichtet, in dem wir über die Autorität des Generalkonzils und über die Taten der Basler sowie zum Widerspruch gegen Papst Eugen gebilligt oder verworfen haben, was wir für billig oder verwerflich hielten. […] Wenn ihr etwas gegen diese Doktrin finden solltet in unseren Dialogen, unseren Briefen, deren wir viele herausgegeben haben, oder in anderen kleinen Werken (denn wir haben viele geschrieben, als wir noch jung waren), verwerft es und achtet es gering.] 7 Für die recensio codicum vgl. Iaria (Anm. 4), S. 84–92. Vier der sieben Handschriften können auf die konzilsfreundlichen Universitäten Köln, Krakau und Wien sowie auf die Basler Konzilsuniversität zurückverfolgt werden, während zwei weitere auf das Umfeld der Reformbenediktiner von Melk zurückgehen, und genauer auf Johannes Keck, einen ehemaligen Studenten der Konzilsuniversität und Bibliothekar des Benediktinerstifts Tegernsee. 8 Vgl. dazu Iaria (Anm. 4), S. 93–103. 9 Animadversione dignum hic censeo dialogorum librum istum, quem Pius scripsisse se perhibet de authoritate concilii generalis, de gestis Basileensium, et de [sic] contradictione Eugenii papae,



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heute einzige Edition vorlegte.10 Ihrer Überlieferung entsprechend hat die Schrift auch in der Forschung wenig Resonanz gefunden, sowohl in Studien zum Basler Konzil als auch in Studien zum humanistischen Dialog.11

2 Die Gesprächssituation Der Libellus dialogorum ist als szenischer dramatischer Dialog gestaltet: Auf der ‚Bühne‘ stehen mehr als zwei Personen, deren Gesprächskonstellation sich dynamisch mit dem Fortschreiten des ‚Stückes‘ verändert. Die Figuren werden dabei nicht von einem Erzähler eingeführt, sondern treten wie in einem Drama quasi agatur res (Cic. Tusc. 1,4,8) auf. Die Dialoge sind außerdem in der Hinsicht als dramatisch zu bezeichnen, dass sie die drei aristotelischen Einheiten der Zeit (ein Nachmittag), des Raumes (das Rheinufer) und der Handlung (der Disput über das Konzil) wahren  – ob auf der theoretischen Grundlage einer Aristoteles-Lektüre oder empirisch aus den antiken Vorbildern abgeleitet, sei dahingestellt; im fol-

quemque idem Pius sua hac bulla damnat et reprobat; ita plane intercidisse, ut inter opera Aeneae Sylvii semel iterum et saepius recusa nullubi appareat. (Gian Domenico Mansi: Annales Ecclesiastici ab anno 1198. Bd. 10. Lucca 1753, hier S. 385, Anm. 1) [Ich halte dieses Dialogbuch der Aufmerksamkeit würdig, von dem Pius behauptet, es über die Autorität des Generalkonzils, über die Taten der Basler und über den Widerspruch gegen Papst Eugen geschrieben zu haben, und das derselbe Pius in dieser seiner Bulle verdammt und verwirft; es ist gänzlich verloren, sodass es unter den einmal, zweimal und öfters noch von sich gewiesenen Werken des Enea Silvio nirgendwo zum Vorschein kommt.] 10 Für seine Edition zog Kollár zwei der sieben obengenannten Handschriften heran, welche er in der Kaiserlichen Hofbibliothek vorfand, cod. Theol. 253, unbekannter Herkunft, aber seit spätestens Ende des 16. Jahrhunderts in der Hofbibliothek befindlich, und cod. Jur. Can. 62, ursprünglich aus dem Umfeld der Universität Köln stammend (vgl. Iaria (Anm. 4), S. 91 f.). Beide Handschriften erhielten zwischen 1705 und 1723 unter der Bibliothekspräfektur des Johann Benedikt Gentilotti neue Signaturen, weshalb Kollár Gentilotti den ‚Entdecker‘ des Libellus dialogorum nennt (vgl. Kollár (Anm. 2), S. 685–688). 11 Monographien und Aufsätze zum humanistischen Dialog im Quattrocento konzentrieren sich in der Regel auf das Fünfgestirn Leonardo Bruni, Poggio Bracciolini, Lorenzo Valla, Leon Battista Alberti und Giovanni Pontano und lassen Piccolomini außer Acht: vgl. David Marsh: The Quattrocento Dialogue. Classical Tradition and Humanist Innovation. Cambrigde MA, London 1980; Olga Zorzi Pugliese: Il discorso labirintico del dialogo rinascimentale. Rom 1995, hier Kapitel 3; etwas vollständiger Francesco Tateo: La tradizione classica e le forme del dialogo umanistico. In: Tradizione e realtà nell’Umanesimo italiano. Bari 1967, S. 223–249, der zusätzlich Pandolfo Collenuccio, Bartolomeo Platina, Francesco Filelfo, Cristoforo Landino und Bartolomeo Facio nennt.

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genden Kapitel wird unser Augenmerk besonders der räumlichen Dimension und dem Rhein als Kulisse des Streitgesprächs gelten. Wie in der antiken Dialogpraxis üblich erläutert Piccolomini zunächst in einem Proemium, das in Briefform verfasst und an die Widmungsträger gerichtet ist, den Anlass für die Niederschrift des Dialogtraktats und skizziert dann die ‚Gesprächssituation‘: Er wird im Dialog vier Figuren auftreten lassen12 – sich selbst und seinen Kollegen Martin Le Franc, wie sie gerade von einem Spaziergang auf dem Land nach Basel zurückkehren (ex rure redeuntes, dial. proem., Sp. 693), sowie Nikolaus von Kues und Stefano Caccia, deren Zusammentreffen Aeneas und Martinus zufällig beobachten (duos magnos viros offendere, ebd.)13 – und die Szene ans Rheinufer unweit von Basel versetzen (supra Rheni ripam14, parvo spatio a Basilea semotos, ebd.). Mit diesen präzisen wie knappen Angaben sind denn auch die drei grundlegenden situativen Koordinaten angegeben, die auch nach heutigen Dialogtheorien das Wesen des Dialogs ausmachen: die Szene, die Personen und die ‚Dramaturgie‘.15

2.1 Szene und literarische Vorlagen An erster Stelle steht die räumliche und zeitliche Organisation der Erzählung. Der Ort, an dem der Dialog spielt, ist zugleich ein realer und ein symbolischer Ort: Er kann zwar geographisch lokalisiert werden – am linksrheinischen Ufer, etwa eine halbe Meile vor dem Basler Sankt-Johanns-Tor16  –, entscheidender aber ist die symbolische Funktion, die ihm in der Werkökonomie zugewiesen ist. Die von Piccolomini gewählte Szenerie ist nämlich, wie sich gleich zeigen wird, zum einen philosophisch, zum anderen bukolisch aufgeladen.

12 Wie üblich mittels introduco + Partizip Präsens aktiv im Akkusativ ausgedrückt: dial. proem., Sp. 693. 13 Vgl. auch dial. 1, Sp. 702: Sed quinam illi sunt invicem colloquentes? unus nos præcessit, quem alter obvius veniens sistit. 14 Kollár hat ripa, die Basler Handschrift, die ich einsehen konnte, hat hingegen ripam, was auch dem klassischen Sprachgebrauch entspricht (die Fälle von supra + Ablativ sind überaus selten). 15 Vgl. Zorzi Pugliese (Anm. 11), S. 16, die von la scena, i personaggi, e i modi di avvio del discorso spricht. Auch Marc Föcking (Orte des Denkens, Orte des Redens. Zur Funktion des Raumes im italienischen Dialog des Quattrocento. In: Orientierungen im Raum. Darstellung räumlichen Sinns in der italienischen Literatur von Dante bis zur Postmoderne. Hg. von Rudolf Behrens, Rainer Stillers. Heidelberg 2008, S. 83–101, hier S. 95) geht von der „Ausbildung einer quasi-dokumentarischen Darstellungsebene“ aus. 16 Adhuc plus quingentis passibus ab urbe distamus (dial. 1, Sp. 699).



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Allem voran erinnert der gesamte Dialog an Platons Phaidros17  – der Spaziergang vor den Toren der Stadt, das Verweilen am Fluss, der Gesprächsverlauf, das Hereinbrechen der Nacht und die Einladung zum Abendessen stellen ein enges Beziehungsnetz zwischen den beiden Dialogen her. Dabei ist das Setting ganz naturalistisch den Gegebenheiten der Basler Landschaft angepasst: Eine von Sträuchern und Riedgras dominierte Vegetation tritt an die Stelle der platonischen Platane, der Rhein ersetzt den Ilissos, Basel ist das neue Athen am Horizont.18 Vor diesem platonischen Hintergrund sind Raum und Zeit des Dialogs als Raum und Zeit des Philosophierens konnotiert, als Chronotopos des otium. Dieser philosophische Raum ist ein Ort des Rückzugs, an dem sich die Figuren im Alltag gewöhnlich nicht aufhalten: „Nicht die ‚professionelle‘ Umgebung der Diskutanten ist der geeignete Dialograum, sondern private oder halbprivate Freiräume des otium. […] Allein Entbindung von institutionellen Kontexten versetzt Diskutanten in die Lage argumentativer Freiheit des in utramque partem […] dicere (Cicero, De oratore 3,80)“.19 Tatsächlich kommen Aeneas und Martinus im ersten Dialog sehr bald auf das Thema des otium zu sprechen, so dass Chronotopos und Inhalt des Gesprächs zu einer völligen Deckungsgleichheit gelangen, wie dies in Ciceros De legibus der Fall ist, wo Atticus, Quintus und Marcus Cicero an einem Hochsommertag in der Gegend von Arpinum zunächst auf die Muße zu sprechen kommen, ehe Atticus Marcus nach seiner Meinung zum Zivilrecht fragt.20 Wie im platonischen und im ciceronianischen Modell wird also auch im Libellus dialogorum zunächst der Rahmen geschaffen, innerhalb dessen sich der philosophische Disput erst entwickeln kann.

17 Piccolomini konnte Platons Dialog sowohl direkt in der Übersetzung von Leonardo Bruni von 1424 (vgl. dazu Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009, S. 197) als auch indirekt über die ciceronianische Rezeption, etwa in De oratore (Cur non imitamur, Crasse, Socratem illum, qui est in Phaedro Platonis? Nam me haec tua platanus admonuit, de orat. 1,7,28) und in De legibus (Nec enim ullum hoc frigidius flumen attigi, cum ad multa accesserim, ut vix pede temptare id possim, quod in Phaedro Platonis facit Socrates, leg. 2,3,6) kennen. 18 ΣΩΚΡΑΤΕΣ. Δεῦρ’ ἐκτραπόμενοι κατὰ τὸν Ἰλισσὸν ἴωμεν, εἶτα ὅπου ἂν δόξῃ ἐν ἡσυχίᾳ καθιζησόμεθα. – […] – ΦΑΙΔΡΟΣ. Ὁρᾷς οὖν ἐκείνην τὴν ὑψηλοτάτην πλάτανον; – ΣΩΚΡΑΤΕΣ. Τί μήν; – ΦΑΙΔΡΟΣ. Ἐκεῖ σκιά τ’ ἐστὶ καὶ πτεῦμα μέτριον, καὶ πόα καθίζεσθαι ἢ ἂν βουλώμεθα κατακλιθῆναι. [Lass uns hier abbiegen und am Ilissos entlang gehen; dann setzen wir uns an einen ruhigen Fleck, wo es uns gefällt. – […] – Gut, siehst du dort die mächtige Platane? – Sicher. – Dort ist Schatten, ein leichter Wind und Gras zum Sitzen oder, wenn wir wollen, zum Liegen.] (Plat. Phaedr. 229 A–B; Übers. von Ernst Heitsch). 19 Föcking (Anm. 15), S. 97 f. In Cic. de orat. 3,21,80 heißt es genau genommen: in utramque sententiam […] dicere. 20 Vgl. Cic. leg. 1,3,8–10 (zum otium) und 1,4,13 f. (zum Zivilrecht).

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Diese philosophische Rahmung wird dann mit einer bukolischen überlagert. Wie Francesco Tateo festgestellt hat, gehörten die in ein pastorales Setting versetzten Eklogen, die selbst häufig dialogisch angelegt sind, zu den produktivsten Modellen für den humanistischen Dialog,21 und auch im Libellus dialogorum belegen mehrere intertextuelle Bezüge eine direkte Rezeption von Vergils Bucolica. Die strauchartige Rheinufervegetation ist klar vergilisch gekennzeichnet: Martinus und Aeneas verstecken sich post carecta (dial. 3, Sp. 707) [‚hinter Riedgras‘], eine Wendung, die ecl. 3,20 entnommen ist, und sub […] corylis (ebd.) [‚unter Haselnusssträuchern‘], welche ebenfalls sehr deutlich bukolisch besetzt sind,22 sowie post spineta (dial. 14, Sp. 788) [‚hinter Dorngebüsch‘], wie in ecl. 2,9.23 Der bukolische Raum ist ebenfalls als Raum der Muße markiert und bildet den Rahmen für den Agon zweier Hirten vor einem Schiedsrichter. Der philosophische Dialog und die bukolische Dichtung teilen ihr motivisches Repertoire derart, dass in der Mehrheit der Fälle nicht entschieden werden kann, welche der beiden Gattungen für eine bestimmte Szene Pate gestanden hat. Piccolomini war natürlich nicht der erste, der diese Wesensnähe erkannte, sondern er konnte auf eine jahrhundertelange christliche Tradition von philosophischen Gesprächen und theologischen altercationes zurückblicken,24 die ihrerseits auf der von Cicero geprägten literarischen Tradition gründete. Prominentester Vertreter dieser christlichen Dialogtradition ist der Hl. Augustinus, von dem besonders die Cassiciacum-Dialoge auf ganz ähnliche Weise wie bei Cicero ein Konglomerat von reich ausgestalteter Szenerie, philosophischer Muße und geistvoller Urbanität präsentieren.25 Allgemein lässt sich aber feststellen, dass

21 Vgl. Tateo (Anm. 11), S. 228. 22 Viermal in Vergils Bucolica: ecl. 5,1–3: Cur non […|…|] hic corylis mixtas inter consedimus ulmos?; ecl. 5,20: (vos coryli testes et flumina nymphis); ecl. 7,61 f.: Phyllis amat corylos: illas dum Phyllis amabit, | nec myrtus vincet corylos nec laurea Phoebi. 23 Dass es sich dabei um bukolische Elemente handelt, bezeugt indirekt auch Piccolominis Egloga (Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP II Carmina. Hg. von Adrian van Heck. Vatikanstadt 1994, S. 38–46), wo dasselbe Motiv in identischer Formulierung zu finden war: ostendi furem, qui sub spineta latebat (egl. 32) [ich habe (dir) den Dieb angezeigt, der sich unter dem Dorngebüsch versteckt hielt]. 24 Vgl. dazu Bernd Reiner Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur. München 1970 und Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 37–40 (zu mittelalterlichen Dialogen). 25 Vgl. dazu Voss (Anm. 24), S. 220 f., 228 f. sowie 281–283. S. dazu auch Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 50. Trotz frappanter Übereinstimmungen ist hingegen Minucius Felix’ Octavius auf der Basis der Überlieferungsgeschichte aus der Zahl der möglichen Quellen auszuschließen, denn die Erstedition erschien erst 1543, also über ein Jahrhundert nach dem Libellus dialogorum. Dieses Beispiel zeigt aber, wie topisch – das apologetische Gespräch von Octavius gegen Caecilius findet ebenfalls im Herbst (Min. Fel. 2,3) bei einem Spaziergang am Meeresufer bei Ostia (Min.



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Piccolomini von den frühchristlichen Dialogen eher den kämpferischen, unnachgiebigen Ton des theologischen Disputs übernimmt, ohne aber direkte Anleihen zu machen. Entsprechend ist auch sein otium-Begriff ganz ciceronianisch und im βίος πρακτικός verankert. Indem Piccolomini schließlich vermehrt auf dramaturgische Kunstgriffe zurückgriff, teilte er die Begeisterung seiner Zeitgenossen für das antike Drama,26 das im Begriff war, wiederentdeckt zu werden, und kam so auch seinen persönlichen Neigungen nach.27 Die Dialoge im Libellus dialogorum gewinnen dabei an einer Tiefendimension, die sich nicht zuletzt in der plastischen Ausarbeitung der Szenerie äußert. Analog zum antiken Theater muss man sich den Rhein als Kulisse und das Rheinufer als Bühne vorstellen, von der links der Weg aufs Land und rechts jener in die Stadt abführen. Der Disput zwischen Nicolaus und Stephanus würde dann auf der Bühne spielen, während sich Aeneas und Martinus irgendwo im Proszenium bzw. im Zuschauerraum aufhalten würden, wobei die ‚Sträucherwand‘, hinter der sie sich verstecken, Szene und Proszenium trennen würde. Dann wäre Aeneas’ und Martinus’ Perspektive zugleich unsere Zuschauerperspektive: Auch wir Leser kauern mit den beiden Papstsekretären im Gebüsch und lauschen dem Disput über das Konzil. Aufgrund dieser unterschiedlichen Perspektivierung der parallel zueinander verlaufenden Gespräche möchte ich sie als Gespräche en scène und en avant-scène bezeichnen.

Fel. 2,4–3,6), in Anwesenheit eines Schiedsrichters, Marcus, statt und wird von der Abenddämmerung unterbrochen (Min. Fel. 40,2), wobei Octavius’ Sieg ebenfalls auf göttliche Inspiration zurückgeführt wird (Min. Fel. 40,3)  – das gattungsspezifische Motivrepertoire des Dialogs ist, das wir beispielsweise auch im Streitgespräch eines Stoikers und eines Peripatetikers in Gellius’ Noctes Atticae 18,1 wieder finden, das als mögliche gemeinsame Vorlage für den Octavius und den Libellus dialogorum in Frage kommt. 26 Für die diaphasische Gestaltung ihrer Dialoge griffen Humanisten besonders gerne auf die Komödie zurück, um einen ungezwungeneren Ton und eine lebendige, ‚dramatische‘ Ausdrucksweise zu erzeugen (vgl. Hartmut Wulfram: Ex uno plures. Drei Studien zum postumen Persönlichkeitsbild des Alten Cato. Berlin 2009, hier S. 9–44, zur Nähe von Dialog und Drama); darin waren ihnen freilich bereits große Kirchenväter wie Hieronymus und vor allem Augustinus mit gutem Beispiel vorangegangen (vgl. Voss (Anm. 24), S. 229–232 zu Vergil- und Terenz-Zitaten bei Augustinus, S. 190 u. 344 zu Hieronymus). Die deutlichste Spur für die Rezeption der antiken Komiker im Libellus dialogorum findet man am Ende des ersten Streitgespräches, wo sich Martinus wie der Sklave Byrria in einer Szene aus Terenz’ Andria fühlt (nunc nostræ […] timeo parti, dial. 4, Sp. 715 = Ter. Andr. 418 f.). 27 In dieser Hinsicht kann meiner Meinung nach die Komödie Chrysis von 1444 (Enea Silvio Piccolomini: Chrysis. Hg. von Jean-Louis Charlet. Paris 2006) als die natürliche Weiterentwicklung dieses Interesses angesehen werden.

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2.2 Dramatis personae Im Libellus dialogorum interagieren wie gesagt die vier personae Aeneas, Martinus, Stephanus und Nicolaus, hinter denen sich die vier historischen Gestalten von Enea Silvio Piccolomini, Martin Le Franc, Stefano Caccia und Nikolaus von Kues verbergen. Als literarisch konstruierte Aktanten sind die einzelnen Dialogpartner mit einer bestimmten Rolle in der Interaktion mit den anderen Figuren betraut und im polyphonen Dialog mit einem bestimmten Idiolekt, einer eigenen ‚Stimme‘ versehen,28 die es dem Autor ermöglichen, „nach Maßgabe des πρέπον den Charakter der dramatis personae indirekt zu schildern“29. Zu Beginn zeigen die Gesprächsteilnehmer einen gewohnten Umgang miteinander und konversieren in einem freundschaftlichen Rahmen in informellem Ton (tum ætate, tum etiam moribus ac studiis inter se junctissimos, dial. proem., Sp. 693). Am Ende des dritten Dialoges steht dann für den Leser die Rollenverteilung fest: Nicolaus übernimmt die Rolle des Anklägers und Widersachers, Stephanus jene des Verteidigers und Apologeten des Basler Konzils, während Martinus und Aeneas die Rolle der Schiedsrichter und Kommentatoren einnehmen  – selbstverständlich nicht unvoreingenommener Richter, da sie als Sekretäre des Gegenpapstes auch für die Konziliaristen Partei ergreifen, sodass den ganzen Dialog über, obwohl die Basler in der Defensive sind, ein substantielles Ungleichgewicht zu ihren Gunsten besteht. Im Versuch, die Wahl der Gesprächspartner zu motivieren, sollen zunächst einige biographische Angaben zu den Männern hinter den Masken gemacht werden: Enea Silvios etwa gleichaltriger Freund Martin Le Franc30 (*1408 in der normannischen Grafschaft Aumale, †1461 in Genf), der sich auch als Autor von

28 Vgl. Zorzi Pugliese (Anm. 11), S. 19. Zum Bachtin’schen Konzept der Polyphonie des Dialogs vgl. Marie-Cécile Bertau: Von der Kunst der Polyphonie zum Dialog der Äußerungen: Bachtins Zugang zur Sprache als Beitrag zu einem alteritätsfundierten Sprachbegriff. In: Divinatio 32 (2010), S. 123–145. 29 Wulfram (Anm. 26), S. 13. 30 Die bis heute einzige greifbare umfangreiche Biographie zu Martin Le Franc ist die 1888 erschienene thèse de doctorat von Arthur Piaget: Martin Le Franc, prévôt de Lausanne. Réimpression de l’édition de la thèse présentée par A. Piaget à Lausanne en 1888. Caen 1993 (vgl. besonders „Chapitre I: Vie de Martin Le Franc“, S. 7–23). Zum Leben Le Francs vgl. Marc-René Jung: Art. Le Franc, Martin In: Historisches Lexikon der Schweiz online (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D12758.php [veröff. 20.11.2008], Juli 2016]) und Steven Millen Taylor (Hg., Übers.): The Trial of Womenkind. A rhyming translation of book IV of the fifteenth-century Le Champion des Dames by Martin Le Franc. Jefferson NC 2005, S. 1 f.



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Dialogen betätigte,31 war bereits einige Monate vor der Papstwahl in die Dienste des Herzogs von Savoyen eingetreten und avancierte nach der Wahl zum Privatsekretär und später zum Apostolischen Protonotar. Piccolomini und er waren sich vielleicht bereits an der Friedenskonferenz von Arras begegnet, wo beide erwiesenermaßen weilten.32 Für die Jahre im Dienste von Felix V. scheint Le Franc eine wichtige Bezugsperson für Piccolomini gewesen zu sein, während sich ihre Wege nach Piccolominis Weggang aus Basel trennten. Die causa Concilii verficht Stefano Caccia33 (* in Novara, †1457 in Rom). Als Verwandter Bischof Bartolomeo Viscontis, eines ehemaligen Brotherrn Piccolominis zur Zeit des Konzil, und Rechtsgelehrter34 vertrat er die Interessen Mailands in Basel.35 Piccolomini und Caccia hatten beide wahrscheinlich bereits am Konzil von Pavia-Siena teilgenommen,36 waren beide im Rahmen der Friedenskonferenz von Arras von 1435 in diplomatischer Mission auf die britische Insel entsandt

31 Le Franc verfasste 1437(?) einen lateinischen Dialog De bono mortis ad Petrum Heronchel poetam celeberrimum dyalogus familiaris, in dem er selbst und sein verstorbener Bruder Jean als dramatis personae auftraten (ich danke meinem Kollegen Raphael Schwitter für den Hinweis; vgl. dagegen Millen Taylor (Anm. 30), S. 2, der den Gesprächspartner mit Jean Servion, einem Syndikus der Stadt Genf, identifiziert hatte). Für die Bibel des Jean Servion übersetzte Le Franc den Prolog des Hl. Hieronymus zum Buch Jeremia ins Französische (vgl. Piaget (Anm. 30), S. 19; Jung (Anm. 30), o. S.). Andere Prologe (u. a. zu den Psalmen, Qohelet und Jesaja) wurden hingegen von „maistre Pierre Aronchel“ übersetzt (vgl. Piaget ebd., S. 19). Jahre später sollte sich Le Franc mit seinem Agreste otium (September 1451) über das Basler Konzil erneut im Dialog versuchen. Auf diesen Dialog hat 2012 Claudia Märtl aufmerksam gemacht (Claudia Märtl: Dialogische Annäherung an eine Bewertung des Basler Konzils. Zu einem unbekannten Werk des Martin Le Franc. In: Das Ende des konziliaren Zeitalters (1440–1450): Versuch einer Bilanz. Hg. von Heribert Müller. München 2012, S. 29–55); eine Edition des Dialogs ist zurzeit unter ihrer Ägide für die Reihe der Monumenta Germaniae Historica im Werden. 32 Vgl. Piaget (Anm. 30), S. 13; Jung (Anm. 30), o. S. 33 Für das Leben Stefano Caccias stütze ich mich weitestgehend auf Pierangelo Ariatta: Appunti su Stefano Caccia con lettere e orazioni inedite. In: Novarien 28 (1998/99), S. 79–85. Ich danke dem Sekretariat des Verlags interlinea für die rasche und kostenfreie Übersendung des ansonsten unzugänglichen Aufsatzes. Dieser Stefano Caccia ist nicht zu verwechseln mit jenem, der unter Pius’ II. Nachnachfolger Sixtus IV. päpstlicher Abbreviator war. 34 Er wird abwechselnd juris consultus, legum doctor und civilis scientiae professor genannt (vgl. Ariatta (Anm. 33), S. 79 und 81). In einem Brief aus dem Jahre 1433 wird er zudem als Konsistorialadvokat bezeichnet (vgl. ebd., S. 81 und Thomas Woelki: Lodovico Pontano (ca. 1409–1439). Eine Juristenkarriere an Universität, Fürstenhof, Kurie und Konzil. Leiden 2011, hier S. 293 und ebd., Anm. 82). 35 Vgl. dial. 2, Sp. 703. 36 In dial. 6, Sp. 730, sagt Stephanus jedenfalls zu Nicolaus: Papiæ vero et Senis etiam vidimus.

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worden37 und setzten sich beide bei Kaiser Sigismund gegen die Verlegung des Konzils ein.38 Nicht nur mit ihm, sondern auch mit dessen Neffen, dem Humanisten Gaspare Caccia da Fara, stand Piccolomini auch lange Zeit nach dem Konzil in Kontakt.39 Interessant für unsere Belange ist die Nachricht von einer von Caccia da Fara 1443 verfassten Ekloge, welche die Gesprächssituation des Libellus dialogorum umkehrt, indem sie Enea Silvio und Martin Le Franc mit Stefano Caccia als Schiedsrichter zum Wettstreit antreten lässt.40 Dass im Libellus dialogorum Caccia die Konzilspartei vertritt, dürfte als Hommage an den früheren Brotherrn Bartolomeo Visconti und an das herzogliche Herrscherhaus zu werten sein, dem sich Piccolomini nach wie vor verbunden gefühlt haben dürfte;41 sollte dadurch aber auch der Herzog von Mailand, Filippo Maria Visconti, der dem Konzil gegenüber eine schwer einzuschätzende, von persönlichen Interessen und von den politischen Machtverhältnissen auf der italienischen Halbinsel diktierte Position einnahm, dazu bewogen werden, offen für das Konzil Partei zu ergreifen?42 Die Wahl von Nikolaus von Kues (*1401 in Kues, †1464 in Todi) zum Sprecher für die Papstpartei lag hingegen auf der Hand.43 Zwischen 1436 und 1437

37 Piccolomini suchte bekanntlich den König von Schottland auf, Caccia jenen von England (vgl. dial. 2, Sp. 706: Mihi quoque ex magna Britannia redeunti, obita legatione qua patres Concilii ad Regem Henricum me destinaverant) – waren sich die beiden dabei begegnet? 38 Der Brief Piccolominis ist Nr. 25 in: Enee Silvii Piccolominei Epistolarium seculare. Hg. von Adrian van Heck, Vatikanstadt 2007 (im Folgenden zitiert als ‚ep. sec.‘), S. 75–77. Zum Brief Caccias vgl. Ariatta (Anm. 33), S. 82. 39 In einem Brief aus Wien vom Mai 1444 an Caccia nennt Piccolomini die Basler Synode vestram democratiam (ep. sec. 140 [319], S. 281). Am 3. Februar 1453 erhielt Piccolomini von Caccia einen langen Bericht aus Rom über den Aufstand des Stefano Porcaro (vgl. dazu Theodor Ilgen (Übers.): Die Geschichte Kaiser Friedrichs III. von Æneas Silvius. Leipzig 1899, S. 171, Anm. 4; Ariatta (Anm. 33), S. 84). Wir finden Caccia Jahre später als Piccolominis (damals Kardinal von Santa Sabina) Sekretär wieder (vgl. Ariatta (Anm. 33), S. 85). 40 Vgl. Ariatta (Anm. 33), S. 83, der von einem „Martino Gallo Feliciano“ schreibt, bei dem es sich meiner Meinung nach um keinen anderen als Martin Le Franc handeln kann. Ariatta weist zudem auf eine mögliche Rezeption von Piccolominis Egloga in Caccia da Faras verlorenem Gedicht hin. 41 Auch sein Vater hatte bereits den Visconti gedient, vgl. De curialium miseriis [454], in: ep. sec. (Anm. 38), S. 393–419, hier S. 393 f. (im Folgenden zitiert als ‚cur. mis.‘). Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 44, hält zudem fest, dass Stefano Caccia wie Cusanus als Jurist im Dienste Ulrichs von Manderscheid stand. 42 Zu den komplexen Beziehungen zwischen dem Herzogtum Mailand und dem Basler Konzil ist zurzeit eine Doktorarbeit an der Universität Fribourg im Entstehen. 43 Der große Theologe und Philosoph war 1432 im Rahmen des Trierer Bischofsstreits nach Basel gekommen und sehr bald in die deputatio fidei inkorporiert worden (vgl. Karl-Hermann Kandler: Nikolaus von Kues. Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit. Göttingen 1995, hier S. 18 f.; Erich



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war Cusanus zur kurialen Partei gewechselt und um 1440 bereits einer der führenden Theologen im Lager des Papstes.44 Wie die Widmungsträger war er Deutscher (in dial. proem., Sp. 693, nennt Piccolomini ihn betont einen vestræ nationis hominem) und hatte auch an der Universität Köln Philosophie und Theologie studiert und als Dozent des Kanonischen Rechts gelehrt: Aus den Rängen der Kölner Universität kommend verkörperte Cusanus also sozusagen den Irrtum, in dem sich auch die Adressaten befanden.45 Seine im Libellus dialogorum dramatisch inszenierte Bekehrung will symbolisch die erhoffte Konversion der Kölner Theologen vorwegnehmen – freilich blieb sie literarische Fiktion: Vielmehr sollte einige Jahre später Piccolomini selbst Cusanus’ Beispiel folgend ins päpstliche Lager übertreten.

2.3 Dramaturgie und mise en scène Konstitutiv für den Dialog ist die mise en scène, d. h. die Art und Weise, wie das Gespräch in der Fiktion des Dialogs ins Laufen gebracht wird. Im Libellus dialogorum ist für diese im Vergleich zu anderen Dialogen verhältnismäßig viel Raum veranschlagt, denn sie erstreckt sich über die ersten drei Dialoge. Diese einführenden Rahmendialoge lenken erst allmählich und, wie wir gleich sehen werden, scheinbar zufällig auf das eigentliche Thema des Dialogbuches hin. Zuerst schaffen sie, wie bereits angedeutet, den philosophisch(-bukolisch)en Rahmen, innerhalb dessen sich die zentralen Dialoge über das Konzil entwickeln können. Im ersten Dialog finden wir Aeneas und Martinus unvermittelt auf dem Rückweg von Hüningen46 ins Gespräch vertieft vor. Allem Anschein nach unterhalten sie sich gerade über die Aufgaben und Pflichten bei Hofe und kommen von ihrem Spaziergang dazu angeregt auf Freizeit und Muße zu sprechen:

Meuthen: Nikolaus von Kues, 1401–1464. Skizze einer Biographie. Münster 1964, hier S. 32–35). Anfänglich hatte er eine „vermittelnd[e], eher singulär[e]“ (Heribert Smolinsky: Konziliarismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 19. Berlin, New York 1990, S. 579–586, hier S. 583) Position eingenommen, die er in De concordantia catholica (1434) zum Ausdruck brachte. Außerdem betätigte sich auch Cusanus, wenn auch erst später, immer wieder als Dialogautor: Etwa ein Viertel seiner Werke sind in Dialogform verfasst, wie etwa De deo abscondito (1444/45), Idiota (1450), De circuli quadratura (1457), Trialogus de possest (1460) und De ludo globi (1463). 44 Piccolomini nennt ihn den Hercules omnium Euganiorum (gest. conc. 1, S. 14). 45 Medendum tamen illi parti censeo, quam vulneratam non curastis (dial. proem., Sp. 692). 46 Et Hünigen contemplari rusticos profuit (dial. 1, Sp. 694); vgl. auch dial. 9, Sp. 746: Hünygen tamen revertar potius quam disputationis hujus exitum perdam.

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AENEAS. Imo nec ipsis litteris, quamvis suavissimum est47 earum commercium, totus dari vellem nec semper libros volvere et calamos ducere: fit nescio quomodo ingenium obtusius, nisi relaxatio fiat aliqua intermissioneque lectionis et studii. […] AENEAS. Post nostri in hanc urbem Pontificis adventum nisi hodie nunquam exivi portam: magna cote gravius gestabam caput. (dial. 1, Sp. 693 f.) [Aeneas: Ja, aber ich wollte mich selbst der Literatur, wenn auch der Umgang mit ihr besonders süß ist, nicht ganz hingeben, und auch nicht immer Bücher wälzen und die Feder führen: Der Verstand wird irgendwie recht stumpf, wenn man sich nicht ab und zu ein wenig Erholung und eine Pause vom Lesen und Studieren gönnt. […] Aeneas: Nach der Ankunft unseres Papstes in der Stadt habe ich bis auf heute keinen Fuß vor die Tore gesetzt: Ich hatte einen Kopf schwer wie ein großer Mühlstein.]

Vor der Folie von Verg. georg. 2,458–53848 werden das Landleben und die Philosophie als Lebensmodelle entworfen,49 schließlich aber verworfen: Der ‚Andersort‘ des Philosophierens wird als ‚utopischer‘ Ort ausgewiesen, an dem ein dauerhaftes Verweilen nicht möglich ist und der nur eine Daseinsberechtigung im Verhältnis zum und in Abhängigkeit vom ‚realen‘ Ort des negotium hat; mit dem Ende des Dialogs hört auch er auf zu existieren. Das wird auch dadurch deutlich, dass Martinus und Aeneas zwar ihren Spaziergang genießen, sich aber letztlich, trotz der Unsicherheit und der Zwänge bei Hofe,50 doch für den dritten Lebensentwurf des

47 Kollár hat an dieser Stelle et, aus den Handschriften geht aber est hervor. 48 Vgl. auch dial. 1, Sp. 695: in locos lætos et amœna vireta [Verg. Aen. 6,638]. 49 Duas vitas noster Maro omnibus præfert, philosophorum alteram, agricolarum alteram, dial. 1, Sp. 695. Die Moralphilosophie zeichne sich durch ihre zivilisatorische Kraft aus, während das Landleben dem Menschen Glückseligkeit verspreche. Zuvor zeichnen Aeneas und Martinus die Geschichte der Philosophie nach, ausgehend von der Naturphilosophie des Thales von Milet (definiert nach Verg. georg. 2,475–482), über Sokrates, der die Philosophie devocatam e Cœlo in urbibus collocavit (dial. 1, Sp. 696), bis zur Moralphilosophie (definiert nach Sen. frg. 17 = Lact. inst. 3,15,1 und Cic. Tusc. 5,5). 50 Hier spricht Piccolomini in nuce ein Leitthema vieler seiner ‚Jugendwerke‘ an, nämlich die Klage über das Leben des Höflings, die in De curialium miseriis vom November 1444 zur vollen Entfaltung kommen wird. Zu den Zwängen bei Hofe bemerke man die Gefangenschaftsmetaphorik in dial. 1, Sp. 694 (rus ex urbe, tamquam e vinculis) und Sp. 695 (Ponficali aulæ […] alligatum). Besonders bemerkenswert ist eine Stelle in dial. 1, Sp. 701, in der ein Pastiche eines HieronymusBriefes vorliegt und der Basler Papstpalast zur „römischen Kurie“ wird: Habeat sibi Romana Curia suos tumultus, forum sonet, Cancellaria insaniat, ædes luxurientur, mihi rusticum aliquod templum commendetur, ex quo vitam honestam ducere queam. […] Nondum annum in Curia consumsi et stomachatus sum, dum plus opinioni quam veritati ac titulis quam scientiæ locum video. [Die römische Kurie soll ihren Aufruhr haben, das Forum toben, die Kanzlei wüten, der Palast prassen, wenn mir nur eine ländliche Pfründe zukomme, mit der ich ein ehrbares Leben führen kann. […] Ich habe noch kein Jahr an der Kurie zugebracht und bin bereits angewidert, da ich



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Sekretärs entscheiden, weil sie nur so gesellschaftlich etwas bewegen können.51 Dazu passt auch, dass Martinus sich selbst und Aeneas vor der Folie von Ciceros De oratore zum (zeitweilig müßigen) Freundespaar Scipio und Laelius stilisiert,52 wodurch er das den Humanisten so liebe Thema der Freundschaft anspricht, freilich aber auch die eigene Funktion im savoyisch-päpstlichen Herrschaftsapparat überhöht.53 Aeneas und Martinus brechen ihren Gedankenaustausch abrupt ab, als sie zwei in ein Gespräch vertiefte Männer erblicken. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um Stefano Caccia, der ebenfalls einen Spaziergang gemacht hat, und Nikolaus von Kues, der auf der Durchreise nach Nürnberg (an die Reichsversammlung, die auf den 30. November festgesetzt worden war) gerade Basel passiert hat.54 Deren Gespräch greift die ambivalente Grundstimmung des ersten Dialogs auf, indem Nicolaus, darüber erstaunt, Stephanus in Basel anzutreffen, sich in eine vergilische laus Italiae (nach georg. 2,136–176) ergießt,55 während Ste-

mehr Raum für Vorurteil als für Wahrheit und für Vorwand als für Wissen sehe.] ~ Hier. ep. 43,3 (CSEL 54): habeat sibi Roma suos tumultus, harena saeviat, circus insaniat, theatra luxurient […]. 51 Vgl. ep. sec. 16 [30], S. 37 (über die negativen Auswirkungen des Müßigganges), cur. mis. [454 f.], S. 393–395 (über Enea, der die Ratschläge des Vaters, sich von den Fürstenhöfen fernzuhalten, nicht befolgt), ep. sec. 38 [114], S. 113 (über das Landleben als erst im Alter denkbare Lebenswahl). 52 Mit ihrem Spaziergang folgten Aeneas und er Laelius’ und Scipios Spuren, die ebenfalls gelegentlich ihren staatsmännischen Pflichten entflohen seien, um aufs Land zu fahren (de orat. 2,22); Martinus teilt zudem Scaevolas und Crassus’ Ansichten, nur derjenige könne als freier Mann gelten, der hie und da nichts täte (de orat. 2,24). 53 Hier wirkt auch das Proöm der Tusculanen als Subtext fort. 54 Martinus bemerkt nämlich zu Beginn des siebten Dialogs: Utinam audissent eum, qui Nurnbergæ futuri sunt omnes (dial. 7, Sp. 734), was auf diese Versammlung hinzudeuten scheint. Ursprünglich auf den 29. September 1440 festgesetzt, wurde sie zweimal vertagt, zuletzt auf den 6. Januar 1441. Vgl. Die Reichsversammlungen der Jahre 1376 bis 1485. Zusammengestellt von Gabriele Annas, www.historischekommission-muenchen.de/digitale-publikationen/reichsversammlungen-und-reichstage-1376-1662.html?F=0.html (Juli 2016). 55 Verum quid tu hic in Germania? Suavem illum et amœnum Italiæ fugisti aërem? quo pacto divinis illis carere ingeniis potes? quænam provincia tibi placet, si gravis Italia est? qui grati erunt homines, si Italos, præ omnibus disertos et conversatione communes fastidis? (dial. 2, Sp. 702 f.) [Aber was machst du hier in Deutschland? Flohst du jene milde und heitere Luft Italiens? Wie kannst du jene göttlichen Geister entbehren? Welcher Landstrich wird dir genehm sein, wenn dir Italien lästig ist? Welche Menschen werden dir willkommen sein, wenn du gegen die Italiener, die allen voraus beredt und in der Unterhaltung umgänglich sind, Widerwillen empfindest?]

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phanus die Lage Italiens beklagt und sich selbst wie den Hirten Moeris in Vergils neunter Ecloge als bukolischen Verbannten darstellt:56 Sed scis tu, quot simultates, quot odia, quot divisiones apertæ ibi sunt, ubi nulla firma possessio, nullus status diuturnus. Serunt ibi [alii] et alii metunt; omnibus idem timor est, ne armatus miles haec mea sunt dicat, veteres migrate coloni [Verg. ecl. 9,3]. (dial. 2, Sp. 703 f.) [Aber du weißt, wie viel Rivalität, wie viel Hass, wie viel offene Zwietracht dort herrschen, sodass kein Besitz sicher, keine Stellung dauerhaft ist. Dort säen die einen, es ernten aber andere. Alle teilen dieselbe Furcht, dass ein bewaffneter Soldat komme und sage: Dies ist jetzt meins. Zieht ab, ihr ehemaligen Siedler.]

Stephanus kontaminiert an dieser Stelle also Vergil mit Vergil: Die Gefahr, welche die Welt der Bucolica bedroht, bricht über das ländliche Idyll der Georgica herein. Auch die Natur scheint, wie in der Bukolik typisch, im herbstlichen, mit dem beständigen Frühling Italiens (ver assiduum, dial. 2, Sp. 703) kontrastierenden Gewand der Rheinlandschaft empathisch an Stephanus’ Los Anteil zu nehmen. Man wird hier hinter Stephanus’ Maske unschwer Piccolomini selbst erkennen, der seit nunmehr fünf Jahren (seit der Verschwörung des Bartolomeo Visconti gegen Papst Eugen IV.) in einem selbstauferlegten Exil im Deutschen Reich weilte. Erinnert die Szene sowohl an die Begegnung des betrübten Moeris mit dem redseligen Lycidas in der neunten Ecloge als auch an jene des Meliboeus mit Tityrus in der ersten Ecloge, gehen die Berührungspunkte mit Vergils Bucolica über die Analogien in dieser einen Szene hinaus und wirken sich auf die gesamte Anlage des Libellus dialogorum aus. Als Nicolaus und Stephanus sich nämlich ans Flussufer setzen, um über das Konzil zu disputieren, entspricht die Gesprächssituation nicht so sehr Platons Phaidros als vielmehr Vergils siebter Ecloge: Dort wie hier treten zwei einander ebenbürtige57 Männer gegeneinander an, dort die beiden Hirten Corydon und Thyrsis zum Sangeswettstreit, hier Nicolaus und Stephanus zum Disput über das Konzil. Beide Agone werden am Ufer eines Flusses, Rhein und Mincius (vgl. ecl.

56 Vgl. auch folgende Stelle: Vos autem in hac Germania, etsi non tot abundatis bonis, vestra tamen stabilis et firma possessio est. Bona vestra vere vestra sunt; pace omnes fruimini et libertate in communi. […] Fugi ego illos Italiæ turbines meque huc relegavi, ut quam longe ab illis absim. (dial. 2, Sp. 704) [Euch in eurem Deutschland aber ist, wenn auch ihr nicht ein Übermaß an Dingen habt, euer Besitz doch beständig und sicher. Was euch gehört, ist wahrlich euer; ihr alle genießt Frieden und Freiheit untereinander. […] Ich bin von jenen Wirbelstürmen Italiens geflohen und habe mich hierhin verbannt, um möglichst weit weg von ihnen zu sein.] 57 Ambo florentes aetatibus, Arcades ambo, | et cantare pares et repondere parati (ecl. 7,4 f.) ~ ambos quidem tum ætate, tum etiam moribus ac studiis inter se junctissimos (dial. 2, Sp. 693).



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7,10–13), und in Anwesenheit zweier Schiedsrichter, hier Aeneas und Martinus, dort Daphnis und Meliboeus, ausgetragen. Nicolaus’ und Stephanus’ Disput endet dann auch in einem typisch vergilischen closure-Verfahren bei Einbruch der Nacht;58 die Einladung zum Verweilen und zum Abendessen erinnert wieder deutlich an den Schluss der ersten Ecloge und an Tityrus und Meliboeus,59 wobei auch in diesem Fall zugleich das platonische Modell weiterwirkt.60 Das Thema des Konzils jedenfalls kristallisiert sich erst im Laufe des zweiten Dialogs heraus, als Stephanus erstaunt feststellen muss,61 dass Nicolaus die Fronten gewechselt hat, und ihn deswegen zur Rede stellt. Nicolaus entschuldigt sich unter Berufung auf Cic. Tusc. 5,11,33, die Menschen seien frei, ihre Meinung zu ändern, gesteht seinen Parteiwechsel offen ein und erklärt ihn mit dem enigmatischen Satz: Optimus sæpe periclitanti portus est mutatio Consilii (dial. 2, Sp. 706) [„Oft ist der sicherste Hafen für jenen, der unterzugehen droht, die Meinung zu ändern“]. Diese Sentenz ist Ciceros 12. Philippischer Rede entnommen, aber mit einer wesentlichen Änderung: Anstelle des Verbs paenitere (optimus est portus paenitenti mutatio consili, Cic. Phil. 12,7) tritt das Verb peric-

58 Vgl. Verg. ecl. 1,79–83; 6,82–86; 10,70–77; ferner 3,111 und 9,63. 59 Hic tamen hanc mecum poteras requiescere noctem | fronde super viridi. sunt nobis mitia poma, | castaneae molles et pressi copia lactis, | et iam summa procul villarum culmina fumant | maioresque cadunt altis de montibus umbrae. (ecl. 1,79–83) ~ STEPH. Mittamus sermones, jam tertio clamitat janitor; Nicolaus mecum hac nocte in cœna erit (dial. 14, Sp. 789). 60 Vgl. Plat. Phaedr. 116 B. Das abendliche Ende des Gespräches war im Libellus dialogorum schon sehr früh angelegt und besonders in der zweiten Werkhälfte wiederholt angekündigt: Am Ende des zweiten Dialoges, als die Rahmenbedingungen für das Gespräch vereinbart werden, setzt Nicolaus den Abend als Zeitlimit fest (solis occasum usque: dial. 2, Sp. 707), am Ende des achten Dialoges hält Nicolaus Stephanus dann dazu an, noch vor dem Ende des Tages mit seinen Ausführungen zu einem Abschluss zu kommen, und bereits zu Beginn des zehnten Dialoges ist das Ende der Gespräche recht nahe gerückt – Stephanus befindet, es sei noch satis diei (dial. 10, Sp. 749) übrig, um einige letzte Punkte zu diskutieren. Auch Aeneas und Martinus hatten bereits zu Beginn des neunten Dialoges ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, ausgesperrt zu bleiben, falls der Disput sich noch allzu sehr in die Länge ziehen sollte, und über Übernachtungsmöglichkeiten diskutiert (dial. 9, Sp. 746). Im Übrigen hatte der gesamte neunte Dialog über die Zeit auch thematisch das Aufkommen des Abends vorbereitet. 61 Nicolaus hatte Bartolomeo Visconti „Bischof“ und nicht „Kardinal“ genannt, was Stephanus hatte aufhorchen lassen. Nicolaus hatte schließlich erklärt, für das Basler Konzil seien die Stunden nunmehr gezählt, da sowohl der König von Frankreich Karl VII. (in der Pragmatischen Sanktion von Bourges vom 7. Juli 1438) als auch die Kölner Universität – sprich die Widmungsträger des Dialogbüchleins – Papst Eugen ihre Unterstützung zugesprochen hätten. Wie schwer die Position der französischen Krone in der Konzilsfrage wog, zeigt auch Piccolominis Umwidmung seiner Beschreibung der Stadt Basel, die gewissermaßen als Präambel von De gestis dienen sollte und deren zweite Fassung an den französischen Erzbischof Philippe de Coëtquis gerichtet ist.

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litari, das die Seefahrtmetaphorik, die im ciceronianischen Satz schon angelegt war, um die Suggestion eines Schiffbruchs erweitert. In dieser Allegorie der Zeitumstände wären Basel und die konziliaristischen Positionen das sinkende Schiff, weshalb ein Parteiwechsel  – sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Metapher – ‚opportun‘ erscheinen musste. In diesem Fall können wir nun also hinter Nicolaus’ Maske Piccolomini erkennen, der hier ein Unbehagen zum Ausdruck bringt, das viele seiner Zeitgenossen geteilt haben dürften.62 In der Fiktion des Libellus dialogorum wird Cusanus aber seine Meinung erneut ändern und schließlich Basels sicheren Hafen anlaufen.

3 Die Dialoge 4 bis 13 Mit dem Beginn des Disputs, auf den der dritte Dialog mit seiner Scharnierfunktion hingeführt hat, hat sich auch die Färbung des Dialogs geändert: Die weichen Töne der Bukolik sind einer spannungsgeladenen Stimmung gewichen, deren Sturm sich in den zentralen Dialogen entlädt. Die Dialoge 4 bis 13 bilden den eigentlichen Kern des Traktates. Auf einen Disput en scène zwischen Nicolaus und Stephanus folgt jeweils eine réplique en avant-scène von Aeneas und Martinus. Der erste Spannungsbogen erstreckt sich über die ersten beiden Dialogpaare (also vom vierten zum siebten Dialog) und ist der zentralen Frage gewidmet, ob das Konzil noch legitim in Basel weile. Der Schlagabtausch zwischen Nicolaus und Stephanus ist dabei dramaturgisch geschickt auf zwei Dialoge verteilt: Der erste Dialog (dial. 4) geht mit einem Teilsieg für Nicolaus aus, doch vermag Stephanus im zweiten Dialog (dial. 6) das Ruder noch herumzureißen und den Konziliaristen in dieser Frage den Sieg einzubringen. Mit dem siebten Dialog ist die eigentliche Hauptfrage des Traktats, also jener Punkt, den die Universität Köln offen gelassen hatte, geklärt und zugunsten der Basler entschieden. Das Ende der ersten Werkhälfte fällt dabei genau auf die Werkmitte. Ab dem achten Dialog leitet der Autor dann die closureVerfahren ein; in immer enger werdenden Handlungsbögen besprechen die Dis-

62 In einem Brief sinniert Piccolomini mit denselben Worten über einen Parteiwechsel: Tutissimus enim, ut Cicero ait, portus est periclitantibus mutatio consilii; at uariare sine ratione stultissimum est. (ep. sec. 47 [133], S. 130). Die bange Stimmung scheint sich auch im äußeren Erscheinungsbild von Nicolaus widerzuspiegeln: Er trägt einen habitus viatoris et insidias timentis (dial. 2, Sp. 702). Stellten Wegelagerer im 15. Jahrhundert eine konkrete Gefahr dar, ist Nicolaus’ Aufmachung vielleicht doch auch symbolisch zu deuten, als ob die Gefahr von der Stadt selbst ausginge; vgl. dazu Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 45 und 57.



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putanten ‚der Vollständigkeit halber‘ noch jene Thesen, welche durch die Kölner Universität ohnehin bereits ratifizierten worden waren. Der 14. Dialog schließlich knüpft wieder an die Rahmendialoge an, evoziert noch einmal die versöhnliche bukolische Stimmung und führt die Handlung ihrem Ende zu.

3.1 Die Dialoge en scène als episches Wortgefecht Das Streitgespräch zwischen Nicolaus und Stephanus ist als regelrechter epischer Zweikampf stilisiert.63 Nicolaus fordert Stephanus zum Duell heraus, dieser nimmt die Herausforderung an: NICOL. Antiquo igitur morbo laboras, et cum Basiliensibus, ut soles, deliras. Vis tibi ut lavem caput? Sedeamus hic in ripa fluminis disputemusque solis occasum usque, cuius per autumnum vis calori, non ardori est. Interim si quod transibit navigium, spectabimus. STEPH. Placet, ut quod in me delirantis vitium dicis, in te esse ostendam. Incipe; quid est, quod gestum Coloniæ tantopere laudas? Socratico more contendemus; atque ita facillime, vel quod verum vel quod verisimillimum est, inveniemus. (dial. 2, Sp. 707) [Nicol.: Du leidest also an der alten Krankheit, und redest wie gehabt mit den Baslern irre. Soll ich dir den Kopf waschen? Wir wollen uns hier ans Flussufer setzen und bis zum Sonnenuntergang diskutieren; im Herbst gibt die Sonne zwar warm, ist aber nicht heiß. Und währenddessen können wir den vorbeifahrenden Schiffen zuschauen. Steph.: Das Laster des Irreredens, das du mir nachsagst, möchte ich bei dir aufzeigen. Beginne du: Was gibt es, das du an den Dingen, die in Köln verhandelt worden sind, so sehr lobst? Wir wollen nach Art des Sokrates miteinander ringen: Auf diese Weise werden wir am einfachsten die Wahrheit oder zumindest das Allerwahrscheinlichste finden.]

Nicolaus’ Sprache ist idiomatisch gefärbt. Im Ton freundschaftlichen Tadels spricht er mit Stephanus, und zwar mit Anleihen bei der Patristik, aus der er das typische Vokabular der christlichen Polemik wie delirare und morbo laborare entnimmt.64 Dabei bemühen sowohl Stephanus, der die ‚sokratische Methode‘ als

63 Auch das erste Buch von De gestis ist durch Wortgefechte zwischen Louis d’Aleman (für die Konzilspartei) und Niccolò de’ Tudeschi (für die Papstpartei) geprägt, die Piccolomini wie Achill und Hektor im Kampf vor Troja erscheinen: vgl. gest. conc. 1, S. 172 (s. auch S. xxiii); vgl. dazu Christian Guerra: „Eneam reiicite, Pium suscipite“: Enea Silvio Piccolominis Lebensentwürfe zur Zeit des Basler Konzils. In: Music and Culture in the Age of the Council of Basel. Hg. von Matteo Nanni. Turnhout 2013, S. 85–107, hier S. 89 f. 64 Etwa durch die Redensart caput lavare alicui [‚jmdn. rügen‘], die im klassischen Latein nicht belegt, aber in den romanischen Sprachen gut bezeugt ist. Zu dieser Redensart und allgemein zum Tonfall im Dialog vgl. auch Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 52–55.

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eristische Praxis der Wahrheitsfindung ausweist,65 als auch Aeneas und Martinus, die den Disput als Wettstreit und als Ring- bzw. Gladiatorenkampf bezeichnen,66 eine Kampfmetaphorik. Zur Verteidigung der Positionen seiner ehemaligen Universität Köln nimmt Nicolaus einen Schild auf (ut tamen scutum pro meis Coloniensibus sumam, dial. 4, Sp. 711), Stephanus seinerseits kontert mit einer drastischen Jagdmetapher: STEPH. Putabam te resipuisse. NICOL. Nisi prius errorem deprehendis, ridiculum est, quod de resipiscentia garris: impugna illud decretum, si potes; adamantinum est, nunquam franges. STEPH. Hircum modo mactavi, adhuc bullit sanguis, mane. (dial. 4, Sp. 712) [Steph.: Ich dachte, du seist wieder zur Vernunft gekommen. Nicol.: Bevor du mich nicht eines Irrtums überführst, ist es lächerlich, von Sinneswandel zu schwatzen. Fechte zuerst jenes Dekret an, wenn du kannst; es ist aus Stahl, du wirst es niemals brechen können. Steph.: Den Hirsch habe ich so gut wie erlegt, schon blubbert das Blut, warte nur.]

Dieser erste Schlagabtausch, in dem die Sprecher erneut teils idiomatisch-kolloquiale (garrire), teils ‚patristisch-polemische‘ (resipiscere) Töne anschlagen, geht schließlich mit einem Teilsieg für Nicolaus aus. Aeneas beruhigt aber Martinus im fünften Dialog, Nicolaus möge zwar wie Hektor gekämpft haben, Stephanus werde ihm aber nicht als ein Patroklos, sondern als ein Achill entgegentreten (visus est tibi Hector, qui prædixit; at illi non Patroclum, sed Achillem audies re­spon­ den­tem, dial. 5, Sp. 716). Bald darauf kehrt Stephanus tatsächlich wohlgemut aufs ‚Schachtfeld‘ zurück (Sed ecce Stephanum! lætus redit ad certamen, ebd., Sp. 719) und kündigt an, er werde nach Nicolaus’ Hannibal nun seinen eigenen Scipio in die Schlacht ziehen lassen (Tuus Hanibal campum est ingressus, Scipio jam meus veniet, dial. 6, Sp. 719). Schon siegessicher will er Nicolaus’ Herakles niederstechen, doch dieser setzt sich mit dem Schild des Ajax zur Wehr: Sed habeo etiam alia, quibus Herculem tuum perfodere queam, jacula; atque nisi resipiscis, jam non sagittis tecum eminus, sed mucrone et crebris ictibus bellum cominus agam. NICOL. Miseret me tui, qui tam cito mihi ut victo insultas hosti; quin age, si quid telorum in pharetra est, deprome totum; clypeus mihi Ajacis est. (dial. 4, Sp. 721) [Ich habe noch andere Wurfspieße, mit denen ich deinen Herakles durchbohren kann; und wenn du nicht gleich zur Vernunft kommst, werde ich nicht mehr aus der Ferne mit Pfeilen

65 Er folgt hier Cic. Tusc. 1,4,8: nam ita facillime, quid veri simillimum esset, inveniri posse Socrates arbitrabatur. 66 Certamen (dial. 3, Sp. 707). jam manus athletæ conserunt: videntis et audientis maior pars ludi est (dial. 3, Sp. 709) [Schon kreuzen die Kämpfer die Fäuste: die Zuschauer und Zuhörer haben am meisten vom Wettstreit]. Vgl. auch unten, dial. 6, Sp. 733 f.



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gegen dich kämpfen, sondern im Nahkampf mit dem Dolch und mit zahlreichen Stichen Krieg führen. Nicol.: Du tust mir leid, der du mich so schnell wie einen besiegten Feind verhöhnst; nur zu, ziehe alle Pfeile, die du in deinem Köcher hast! Mir steht der Schild des Ajax zu Gebote.]

Bemerkenswert ist hier der substantielle Unterschied in der Wortwahl der beiden Kontrahenten: Stephanus führt stets Angriffswaffen (Wurfspieß, Pfeil und Bogen, Dolch), Nicolaus stets Verteidigungswaffen (Schild, Stahlpanzer); Stephanus hat also ‚den Spieß umgedreht‘ und drängt nun seinerseits Nicolaus in die Defensive. Durch die wiederholte Bezugnahme auf die ‚großen‘ Erzählungen des Trojanischen und der Punischen Kriege und ihrer Helden werden die beiden Gegner episch überhöht und zu Heroen stilisiert. Dass die Wahl gerade auf das Kämpferpaar Scipio und Hannibal fällt, ist nicht zuletzt im weiteren Rahmen eines zeitgenössischen Diskurses zu sehen, der auch Größen wie Poggio Bracciolini und Guarino Guarini involviert sah.67 Nachdem er sich lange zur Wehr gesetzt hat (Quasi evinctus sim, ita loqueris, ebd., Sp. 731), muss sich Nicolaus schließlich im ersten Punkt geschlagen geben: NICOL. Nimium multis jaculis confossus sum; aut nimis multa es eloquentia, aut verum non est, quod defendere institueram. Nihil jam mihi restat, quo meæ partis Decretum tueri sciam. Itaque do victam manum, nisi mihi campum in aliud certamen servas. Scis moris esse gladiatorum, ut victi lancea gladio pugnent aut securi. STEPH. Non sum adeo gloriabundus, ut victoriam me habere putem, antequam omnem devincam hostem. Cæsaris mihi animus est, cui nihil omnino videbatur factum, cum superesset ad agendum aliquid. Itaque faciam tibi quamvis pugnandi copiam. Quod vero victum te primo congressu fateris, placitum mihi admodum est, verumque est, quod existimas, non fuisse verum quod defendendum assumseras. In argumentis tamen meis, si quid eloquentiæ mixtum fuit, id non mihi, sed loco, in quo consedimus, prope Basileam adscribito; tecum namque dum loquor, nescio quo numine interim occulto incensus sum, ut verum putem, quod antiquitas dicebat, locis quibusque suum genium esse. (dial. 6, Sp. 733 f.) [Nicol.: Von allzu vielen Spießen bin ich durchbohrt; entweder bist du von allzu großer Beredtheit, oder es ist tatsächlich nicht wahr, was ich mich zu verteidigen angeschickt hatte. Schon bleibt mir nichts mehr, mit dem ich das Dekret meiner Partei zu verteidigen wüsste. Daher gebe ich mich in dieser Runde geschlagen – oder bereitest du mir das Feld zu einem weiteren Zweikampf? Du weißt, dass es der Gladiatoren Sitte ist, mit dem Schwert oder der Streitaxt zu kämpfen, wenn sie mit der Lanze besiegt worden sind. Steph.: Ich bin nicht so ruhmsüchtig, dass ich glaubte, den Sieg davonzutragen, ehe ich meinen Feind nicht ganz besiegt habe. Ich habe die Gesinnung Caesars, dem nichts vollbracht schien, wenn etwas zu tun blieb. Deshalb liefere ich dir jeden Kampf, den du willst. Dass du aber gestehst,

67 Vgl. dazu Davide Canfora: La controversia di Poggio Bracciolini e Guarino Veronese su Cesare e Scipione. Florenz 2001.

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im ersten Zusammentreffen besiegt worden zu sein, freut mich, und es ist wahr, wenn du glaubst, es sei nicht wahr gewesen, was zu verteidigen du dich angeschickt hattest. Wenn aber in meinen Argumenten ein wenig Beredtheit beigemischt war, dann schreibe ich dies nicht mir, sondern dem Ort zu, an dem wir uns hingesetzt haben, der so nahe an Basel liegt. Denn während ich mit dir sprach, hat mich ich weiß nicht welche göttliche Macht im Verborgenen entflammt, sodass ich für wahr halten könnte, was man im Altertum sagte, nämlich dass jeder Ort seinen Genius habe.]

Beide sprechen also Stephanus’ Sieg nicht nur der Wahrheit seiner Argumente, sondern ebenso sehr der Eloquenz und Inspiriertheit, mit der er diese vorgebracht hat, zu. Nicolaus’ Entweder-Oder zeigt aber, dass ein qualitativer Unterschied zwischen Wahrheit und Beredsamkeit besteht: Vorerst gibt er sich nur auf der Ebene der Vernunft (ratio) geschlagen, im Herzen ist er aber (noch) nicht überzeugt (veritas).68 So sehr Stephanus sich auch bemüht, den Wahrheitsgehalt der eigenen Thesen zu behaupten (vero […] verum est […] non fuisse verum), wird Nicolaus bezeichnenderweise gerade in einem Moment des Schweigens und der stillen Einkehr durch das Einwirken des Heiligen Geistes die Wahrheit erkennen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die Nähe zu Basel so betont wird: Vom Ausgang des Dialogs her betrachtet muss man rückwirkend den genius loci der Stadt, von dem Stephanus spricht,69 mit dem Heiligen Geist höchstpersönlich identifizieren: Es ist der Heilige Geist, der durch Stephanus die Wahrheit über das Konzil verkündet, und es ist der Heilige Geist, der die in Ihm legitim versammelte und deshalb die Katholische Kirche in ihrer Gesamtheit repräsentierende Basler Synode zum rechtmäßigen Generalkonzil macht.70 Hatte Cusanus schließlich nicht in De concordantia catholica selber geschrieben, der Heilige Geist sei dort anwesend, wo Übereinstimmung herrsche?71 Stephanus jedenfalls gibt sich nicht mit einem Teilsieg zufrieden, sondern möchte nach Caesars Beispiel seinen ‚Feind‘ in allen Streitpunkten niederringen. Zu Beginn des achten Dialogs wird daher die Kampfmetaphorik ein weiteres Mal aufgegriffen – Nicolaus vergleicht sich mit dem römischen Feldherrn Marcus Mar-

68 Vgl. auch die Ausführungen zu ratio und veritas in dial. 8, Sp. 743; dazu auch Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 51 f. 69 Vgl. dazu unten Kap. 3. 2. 70 Vgl. dial. 8, Sp. 741: ipsa synodus, in spiritu sancto legitime congregata, generale Concilium faciens et Ecclesiam Catholicam repræsentans, potestatem a Christo immediate habet; vgl. auch dial. 2, Sp. 705, wo Nicolaus Stephanus genau diesen Punkt vorhält, nämlich dass die Fatua illa et execrabilis turba Basiliensis […] sancto se spiritu duci jactat. Diese Position fußt natürlich auf das am 6. April 1415 vom Konzil von Konstanz erlassene Dekret. 71 Vgl. dazu Berthe Widmer: Enea Silvio Piccolomini in der sittlichen und politischen Entscheidung. Basel, Stuttgart 1963, hier S. 120 f.



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cellus, der häufig beim zweiten Anlauf den Sieg davongetragen habe (Liv. 23)72 –, dann aber bis zum Werksende kaum mehr bemüht, eben weil die nun behandelten Fragen eigentlich gar nicht strittig und von der Kölner Universität bereits für die Basler entschieden worden waren.73 Ganz anders als noch im sechsten Dialog verläuft sich die Diskussion schließlich sogar in einem Morendo: Stephanus wird im 12. Dialog ganz unvermittelt nach seiner letzten Aussage alles stehen und liegen lassen und sich mit einem Büchlein in der Hand zurückziehen: Es ist Zeit für das Abendgebet (dial. 12, Sp. 781), währenddessen sich, wie gesagt, Nicolaus’ eigentliche Konversion vollzieht.74 Als er auf die ‚Bühne‘ zurückkehrt, gesteht Nicolaus selbst seine Niederlage ein, sodass sich wie in Vergils siebter Ecloge der Schiedsspruch letzten Endes erübrigt.

3.2 Die Dialoge en avant-scène als Manifest humanistischer Gelehrsamkeit Die Gespräche zwischen Aeneas und Martinus sind der gelehrten Konversation verpflichtet und folgen über weite Strecken Macrobius’ Saturnalia, mit denen sie dieselben Ideale und antiquarischen Interessen teilen. Der vierte Dialog endet damit, dass Nicolaus Stephanus auffordert, Paroli zu bieten, sed religiose (dial. 4, Sp. 715). Diese Aussage nehmen Aeneas und Martinus im fünften Dialog zum Anlass, die Begriffe religiosus, sacer und sanctus (Quotidie hoc verbum in auribus cadit, nec, quid sit religiosum, illi ipsi, qui pronuntiant, sciunt, dial. 5, Sp. 717 [„Täglich kommt einem dieses Wort zu Ohren, doch wissen jene, die es in den Mund nehmen, nicht, was es bedeutet“]) zu erörtern. Die Unterhaltung, die sich daraufhin entspinnt, scheint sehr spontan und lebendig und auf einen gelehrten

72 Marcum Marcellum, quo adversus Hanibalem Imperatorem usi Romani sunt, sæpe victum primo certamine instaurasse prœlio vires vicisseque secundo in luctamine scribit Livius, eadem modo spes est (dial. 8, Sp. 738). 73 Nur im 12. Dialog scheint die Metaphorik ein letztes Mal kurz auf: STEPH. Auctoritatibus fractus rationes vis experiri? Sed neque hic campum tibi relinquam (dial. 12, Sp. 767). 74 NICOLAUS. Oranti mihi, sive divina inspiratio fuit, sive aliud quicquam, Stephane, mutata mens mutatusque animus est, nec jam ille sum, qui paulo ante loquebar tecum. Nescio unde hoc est; jam omnia, quæ disputata abs te sunt, vera, et quæ contra objeci, falsa videntur. Et quippe, si qua spes veniæ esset, ad vos e vestigio deficerem. (dial. 14, Sp. 787) [Nicolaus: Während ich betete, mein Stephanus, haben sich, sei es durch göttliche Eingebung, sei es durch etwas anderes, mein Sinn und meine Gesinnung gewandelt, und ich bin nicht mehr der, der kurz zuvor mit dir sprach. Ich weiß nicht, woher das kommt; nun scheint mir alles, was von dir erörtert worden ist, wahr, und alles, was ich dagegen angeführt habe, falsch. Ja, wenn es irgend Hoffnung auf Vergebung gäbe, würde ich auf der Stelle zu euch übertreten.]

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und eklektischen Lektüreschatz abgestützt, wird doch eine Vielzahl von Quellen hinzugezogen: neben Vergil der Satiriker Persius, dazu entlegene, teilweise sogar nur namentlich bekannte Autoren und Werke, wie C. Trebatius Testas De religionibus, der Jurist Ser. Sulpicius Rufus oder der Grammatiker Sex. Pompeius Festus; mit eleganter Leichtigkeit wechseln sich Prosa und Poesie ab, auf Zitate folgen Kommentare. Bei genauerem Betrachten wird man aber feststellen, dass die Poikilie Macrobius verschuldet ist, nämlich dem dritten Kapitel des dritten Buches der Saturnalien, wobei einzelne Paragraphen umgestellt und andere ausgelassen sind.75 Die ‚Leistung‘ Piccolominis besteht also nicht in der eigentlichen Kompilation, sondern vielmehr darin, eine auf den Kontext zugeschnittene Macrobius-Stelle ausgewählt, sie um weitere loca ergänzt  – in diesem konkreten Fall um Cicero, De natura deorum 2,71, und Laktanz, Divinae institutiones 4,28, zum Unterschied zwischen religio und superstitio –, die in ihr behandelten Themen aktualisiert und in einen zeitgenössischen Diskurs überführt und die gesamte Passage geschickt in das Gerüst des Libellus dialogorum eingepasst zu haben. Das zweite antiquarische Gespräch im siebten Dialog gilt dann den genii locorum. Wieder hat eine Aussage aus dem Hauptdialog Martinus und Aeneas auf das Thema gebracht, nämlich Stephanus’ Ausspruch, locis quibusque suum genium esse (dial. 6, Sp. 734). In diesem Fall stellt der Dialog eine Kollation verschiedener Stellen aus Servius’ Vergil-Kommentar dar. Die beiden kollationierten Stellen stammen, wie zu erwarten, aus dem fünften Buch zur Leichenfeier für Anchises und aus dem sechsten Buch zu Aeneas’ Unterweltsgang; genauer handelt es sich um die Kommentare zu den Versen Aen. 6,743, quisque suos patimur manis, und Aen. 5,95, incertus, genium ne loci famulum ne parentis. Erneut wird die Hauptquelle ergänzt – zu Servius kommt ein Vers aus Terenz’ Phormio hinzu: suum defraudare genium Getam inquit Davus (dial. 6, Sp. 737) ~ suom defrudans genium (Ter. Phorm. 44) –, und erneut wird der Versuch unternommen, die antiken Inhalte zu aktualisieren, indem der Genius mit den Engeln verglichen und christlich umgedeutet wird. Nach demselben Prinzip läuft auch der nächste Dialog zwischen Aeneas und Martinus ab, der durch eine Aussage von Nicolaus provoziert wird, welcher Stephanus anhält, seine Ausführungen prius […] quam suprema tempestas emergat

75 Eine Frage, die es in dieser Hinsicht noch zu klären gälte, ist, inwieweit Piccolomini direkt aus Macrobius’ Saturnalien oder doch vielleicht indirekt aus Johannes’ von Salisbury Policraticus de nugis curialium (1156–1159) zitiert hat, der sehr oft die nämlichen Stellen aufweist und nicht zuletzt wegen der thematischen Nähe durchaus als Quelle in Frage käme; es handelt sich dabei häufig auch um Stellen, die ebenfalls in den Attischen Nächten des Aulus Gellius vorkommen.



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(dial. 8, Sp. 746) abzuschließen. In dem sich daraus entwickelnden neunten Dialog bilden wieder die Saturnalien des Macrobius (Sat. 1,3) das Grundgerüst. Macrobius wird diesmal durch Plinius, Naturalis historia 2,188,76 über den Tagesbeginn ergänzt und dahingehend aktualisiert, dass die Unterschiede in den zeitgenössischen Gepflogenheiten bei der Zeitangabe gegenüber jenen der Antike beleuchtet werden. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem Vorrang der Nacht vor dem Tag bei der Bestimmung des Tagesbeginns zu, mit Passagen aus dem Mythographus Vaticanus über die Geburt von Diana und Apoll (myth. Vat. 1,37), aus Terenz zur Gleichsetzung von Diana mit Juno Lucina (Ad. 487 = Andr. 473) und aus der Heiligen Schrift (Genesis) zur Erschaffung des Lichts. Das nächste Gespräch hat eine Bemerkung von Stephanus zur Scheidung des Frankenkönigs Lothars II. von Lotharingien von seiner Gattin (im Jahre 860) als Aufhänger, die für Martinus zum Anlass wird, die Geschichte des Frankenreichs ab excidio Troiae bis zu Lothars Tod im Jahre 869 nachzuzeichnen. Wie Thomas Maissen gezeigt hat, ist dieser Dialog im weiteren Zusammenhang des in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erblühenden Interesses italienischer Humanisten an der Geschichte Frankreichs zu sehen.77 Als maßgebliche Quelle für diese Passage des Libellus dialogorum vermute ich Otto von Freisings Chronica sive Historia de duabus civitatibus, wie zahlreiche wörtliche Anklänge nahelegen.78 Noch nicht zureichend geklärt ist hingegen die Frage, was diese Geschichte Frankreichs zur Werkökonomie beiträgt. Sollten ‚typologische‘ Parallelen zwischen dem schändlichen Handeln des ‚französischen‘ Königs Lothar und des

76 Die Stelle ist aber fälschlicherweise Varro zugeschrieben: vgl. dial. 9, Sp. 746. 77 Thomas Maissen: Von der Legende zum Modell. Das Interesse an Frankreichs Vergangenheit während der italienischen Renaissance. Basel, Frankfurt a. M. 1994 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 166), S. 128 f. Vgl. überhaupt Maissen (ebd., S. 130) zum geringen Interesse italienischer Humanisten an der französischen Geschichte und zu Piccolominis innovativer, doch ambivalenter Position in der literarischen Landschaft. 78 Otto von Freising: Chronica sive Historia de duobus civitatibus. 2. Ausg. Hg. von Adolf Hofmeister. Hannover, Leipzig 1912, hier S. 264 f. Vgl. die ähnliche Formulierung: qui [scil. Lotharius] Valdradam ardens concubinam, repudiandique uxorem occasionem quærens, Gunthario, qui tunc Coloniensi præerat Ecclesiæ, negotium dat, cujus neptem in eventu divortii ducturum se dicit. Ille adscito […] Treverensi Antistite, Concilium congregat, convictamque falsis testibus Reginam adulterii damnat. (dial. 11, Sp. 762) ~ Lotharius multis modis amore Waldradae concubinae suae occasionem repudiandi reginam Tiebergam querit. Itaque Guntharium Coloniensem archiepiscopum, qui tunc in regno praecipuae fuit auctoritatis, ad id, quod animo conceperat, perficiendum falsa spe promittens ei, quod, si ab ista liberaretur, neptem suam acciperet, pellexit. Guntharius ascito sibi Treverorum archipresule Thiegaudo concilium Metis congregat, vocatamque reginam in medio statuunt falsisque productis testibus inter alia nefaria de incestu illam convincunt. (Chronica 6,3, S. 264).

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Kölner Erzbischofs Gunthar auf der einen Seite und der zwiespältigen Haltung des aktuellen Königs von Frankreich, Karls VII., und der Universität Köln auf der anderen Seite hergestellt werden? Sollten die historischen Wurzeln des Gallikanismus, der sowohl im Großen Abendländischen als auch im Basler Schisma eine entscheidende Rolle spielte, untersucht werden? Oder wollte Piccolomini lediglich Kenntnisse in französischer Geschichte beweisen, um sich zu profilieren, jetzt da er einem ‚französischen‘ Herrn diente?79 Ein letztes Mal nehmen Martinus und Aeneas im 13. Dialog Worte des vorangegangenen Dialogs zum Ausgangspunkt für ihre Spekulationen. Begeistert vom Ausgang des Disputs loben die beiden Sekretäre Stephanus’ Zurückhaltung angesichts der vielen Vergehen Eugens, vor allem angesichts der großen Gehässigkeit, mit der die Eugenianer stets anzugreifen pflegten. Stephanus’ Wortwahl – universam Ecclesiam […] illaudatus Eugenius […] scandalizaverit, perturbaverit, laceraverit, vexaverit (dial. 13, Sp. 780) – treffe ins Schwarze und den Gegner hart, wobei auch in diesem Fall die Argumente allesamt Macrob, nämlich Saturnalien 6,7, entnommen sind. Zuerst aber legt Piccolomini Martinus ein panegyrisches Lob auf ihren Herrn und Papst Felix in den Mund, in der er diesen vor dem Hintergrund antiker Definitionen von Tugend und Weisheit (Cic. Tusc. 4,26,57 und vor allem Lact. inst. 3,8,31 und 6,5) als weise und tugendhaft beschreibt. Wie man also sehen kann, laufen die Dialoge en avant-scène stets nach demselben Muster ab und verhalten sich wie die Stellen der Kommentarliteratur und der ‚Buntschriftstellerei‘, denen sie größtenteils entnommen sind, wie Kommentare auf einzelne loca des Hauptgesprächs. Vor allem aber sind sie kleine chefsd’œuvre humanistischer Gelehrsamkeit.

79 Piccolomini sollte jedenfalls das Interesse an der Geschichte Frankreichs erhalten bleiben, wie die Biographie von Karl VII. in De viris aetatis suae claris (vir. clar. 25), die Ausführungen in De Europa (Eur. 43), die Responsio ad orationem oratorum Gallicorum und die Exkurse zum Hundertjährigen Krieg (comm. 6,4–15) und ferner zur Geschichte Burgunds und zu den Taten Philipps III. (comm. 8,10–21) in den Commentarii zeigen. Vgl. Enea Silvio Piccolomini: De viris illustribus. Hg. von Adrian van Heck. Vatikanstadt 1991. – Ders.: De Europa. Hg. von Adrian van Heck. Vatikanstadt 2001. – Ders.: Responsio ad orationem oratorum Gallicorum. In: Orationes politicae et ecclesiasticae. Hg. von Gian Domenico Mansi. Lucca 1755–1759, Bd. 2, S. 40–74.  – Ders.: Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt. Hg. von Adrian van Heck. Vatikanstadt 1984.



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3.3 De oratore Parallel zum theologischen Disput über das Generalkonzil führen die beiden Redner en avant-scène Aeneas und Martinus einen Metadiskurs über den Redner, der sich dann sogleich exemplarisch in die Praxis umgesetzt in den Dialogen en scène präsentiert.80 Die Vorlage für diese Ausführungen bildet dabei, wie nicht anders zu erwarten, Ciceros De oratore, auf dessen Grundlage Moralphilosophie und Dichtung als Kernkompetenzen des Redners definiert werden.81 Diese beiden artes waren aber genau jene, die Aeneas und Martinus in ihrem ersten Dialog als Ideal genannt hatten und durch die sich ihrer eigenen Aussage nach auch der Wettstreit zwischen Nicolaus und Stephanus auszeichne (hos viros, quorum doctrinam magis an eloquentiam mirer, incertus sum, dial. 3, Sp. 708 [„Ich bin unentschieden, ob ich diese Männer mehr für ihr Wissen oder ihre Beredsamkeit bewundern soll“])! Sehr originell ist nun die Art und Weise, wie Piccolomini in diesen moralphilosophischen Diskurs eine Reflexion über das europäische Bildungswesen einflicht – ein Gegenstand, der bei genauerer Betrachtung auch Inhalte und Prozeduren am Konzil betrifft. Im gesamten Libellus dialogorum lässt sich eine Invektive gegen die Unterrichtsmethoden der Scholastik an den Universitäten festmachen: Aeneas und Martinus spotten über die scholastisch geschulten, an die Glossen der Autoritäten gebundenen Gelehrten (vgl. dial. 3, Sp. 708), die sie als schwarze Vögel, Esel, Unmenschen und Windbeutel beschimpfen.82 Der 11. Dialog macht

80 Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 49–54, die zu ähnlichen Schlüssen kommt. 81 Scaevola hatte die Aufgaben der Rhetorik auf foro, contione, iudiciis, Senatu (de orat. 1,9,35) beschränkt wissen wollen  – der Redner dürfe nicht in alienas possessiones (de orat. 1,10,41), insbesondere nicht in die Philosophie, eindringen (de orat. 1,10,42–44); Crassus hatte ihm entgegengehalten, dass der Redner sehr wohl Kenntnis der übrigen artes und scientiae haben und in besonderem Maße ein profunder Kenner der Moralphilosophie sein müsse (Quare hic locus de vita et moribus totus est oratori perdiscendus, de orat. 1,15,69) und wie ein Dichter (Est enim finitimus oratori poeta, de orat. 1,16,70) in omni genere sermonis, in omni parte humanitatis […] perfectum (de orat. 1,16,71) zu sein habe. 82 Raben (corvis, dial. 3, Sp. 708), Elstern (pica, ebd.; nostræ picæ, dial. 11, Sp. 754), Papageien (psittacus, dial. 3, Sp. 708) und Krähen (nostris cornicibus, dial. 5, Sp. 717)  – die Analogien zwischen dem schwarzen Federkleid der Vögel und den Talaren der Akademiker und zwischen der Fähigkeit der Vögel, die menschliche Stimme nachzuahmen, und dem ‚Nachplappern‘ von auctoritates sind evident –, Esel auf zwei Beinen (aselli bipedes, dial. 3, Sp. 708; dial. 11, Sp. 762), Tiere (quot bestiæ doctorantur!, dial. 5, Sp. 716), Unmenschen (quos nec ego in numero hominum habeo, dial. 3, Sp. 708), Windbeutel (nostris nebulonibus, ebd., Sp. 709). Vgl. auch Cardelle de Hartmann (Anm. 2), S. 48 f.

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deutlich, dass sich die Kritik gleichermaßen gegen alle facultates superiores, d. h. gegen Theologen, Juristen und Mediziner, richtet,83 und ist meiner Meinung nach als ein Ruf nach Gleichstellung der Artistenfakultät zu werten, deren Schattendasein als propädeutischer Lehrgang Aeneas und Martinus im siebten Dialog beklagen.84 Die Entmenschlichung des Gegners in der Invektive ist also nicht nur gattungsbedingt, sondern dient auch ganz konkret dazu, die Gabe der Sprache bzw. die Sprachbegabung als vortrefflichste menschliche Eigenschaft herauszustreichen und somit den Redner als beachtlichsten aller Menschen hinzustellen: idcirco homines a bestiis differamus, quod loqui possumus; qua laude ille dignus est, qui in eo cæteros superat, in quo homines bestias antecellunt? (dial. 7, Sp. 736) [In dieser Hinsicht unterscheiden wir Menschen uns von den Tieren, dass wir sprechen können. Welches Lob verdient dann jener, der darin die anderen überragt, worin die Menschen die Tiere übertreffen?]85

Wie gesagt kann man diese Kritik in Bezug auf Inhalte und Prozeduren am Konzil lesen: Zum einen wird dem scholastischen ‚Glossenklopfen‘86 die rationale Argumentation der sokratischen Methode (dial. 2, Sp. 707) gegenübergestellt – auch wenn diese Art des Argumentierens, wie wir gesehen haben, in der Fiktion des Libellus dialogorum letztlich in eine Aporie ausläuft, die nur durch das Eingreifen des Deus ex machina gelöst werden kann. In diesem Sinne gilt die Kritik auch dem Empfänger des Dialogbüchleins, der Universität Köln, die sich ja gerade durch ihre scholastisch ausgerichtete Lehre auszeichnete,87 welcher Piccolomini ein

83 Vgl. dial. 11, Sp. 755: Nec Secretarius uti Jurista et Medicus, neque ut Theologus, est factu facilis. Scis, quid volo. Ascendit Cathedram legis doctor, nec ipse est, qui loquitur, sed Azo, Cinnus, Bartholus, Baldus; pro Medico Avicenna, Gentilis, Forlivias, Hugo; pro Theologo Thomas, Albertus, Scotus, Lyra. O sola omnium scientiarum illibata Rhetorica […]! 84 Videsne oratoriam artem jacere contemtam, nullique prorsus honori esse? Quis hoc non damnet sæculum? Quis mores ferat æquo animo præsentes? (dial. 7, Sp. 734). In diesem Zusammenhang sind auch Aussagen zu Orthographie, Ortholexie und Orthoepie zu bewerten: Zur Orthoepie vgl. z. B. dial. 3, Sp. 708 f. (zur Aspiration) und dial. 11, Sp. 762 (adscito (non dicam ut nostri aselli bipedes accito)), zur Ortholexie vgl. z. B. dial. 13, Sp. 784–786 (zum Verbum vexare). 85 Die Stelle klingt an Cic. de orat. 1,8,32 an: Hoc enim uno praestamus vel maxime feris, quod colloquimur inter nos, et quod exprimere dicendo sensa possumus. So auch Tateo (Anm. 11), S. 223, zur humanistischen Sicht der Konversation als höchsten Ausdruck des zivilisierten Miteinanders. 86 Vgl. dial. 12, Sp. 766 (gegen das ‚Glossenklopfen‘) u. dial. 4, Sp. 710 (gegen die modernen Rabulisten). 87 Der angeschriebene Rektor Johannes Tinctoris sollte nur drei Jahre später die Summa Theologiae des Thomas von Aquin in einer Lehrveranstaltung kommentieren.



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neues, humanistisches Bildungsverständnis entgegensetzt.88 Zum anderen wird Kritik an den Debatten und Verhandlungen am Konzil selbst erhoben, die ja auch à coups d’autorités geführt wurden. Das Unvermögen der ‚traditionellen‘ Gesandten  – üblicherweise Theologen und Juristen  –, die vielfältigen Aufgaben eines Diplomaten wahrzunehmen, wird betont89 und an einen moralischen Dekadenzdiskurs gekoppelt.90 Auch in diesem Punkt vertritt Piccolomini ein neues Modell des Diplomaten, der sich durch Kompetenzen und eigene Verdienste auszeichnet. Sein Konzept ‚moderner‘ Diplomatie fußt dabei zwar auf antiken Konzepten und Idealen,91 doch sind die Tätigkeitsbereiche des Diplomaten – der diplomatische Dienst, der Briefverkehr und die Berichterstattung – durch die eigene Zeit diktiert und entsprechend auch an die neue Berufsbezeichnung des secretarius gebunden: Magnum est Secretarii nomen et magis quam nostræ picæ censeant venerandum; isque mea sententia vere Secretarius est et hoc tam gravi nomine dignus, qui verba eligere et apte construere sciat; qui et sedandarum passionum et excitandarum artem calleat; in cujus scriptis lepos, facetiæ et eruditio libero digna homine perluceant; qui omnem antiquitatem exemplorumque vim teneat; qui legum et juris civilis terminos non ignoret; qui denique omnia quæcunque inciderint, quæ sint litteris explicanda, composite, ornate, memoriter et prudenter præsto sit scribere. (dial. 11, Sp. 754)

88 Dieses neue Bildungsverständnis äußert sich im Ideal der Latinitas (Poesie und Rhetorik; vgl. das Lob der Eloquenz in dial. 7, Sp. 735 u. dial. 11, Sp. 755), im Hervortreten der Historiographie als neuer Leitwissenschaft (dial. 11, Sp. 753 ~ Cic. de orat. 2,36), ferner in einer beginnenden Emanzipation der Moralphilosophie (dial. 1, Sp. 697 f., nach Sen. frg. 17 = Lact. inst. 3,15,1 u. Cic. Tusc. 5,5) von der Theologie. Piccolomini wird diese Position auch bei seinem kurzen Gastaufenthalt an der Universität Wien im Jahre 1445 vehement verteidigen (vgl. Alfred A. Strnad: Die Rezeption von Humanismus und Renaissance in Wien. In: Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation. Hg. von Winfried Eberhard, Alfred A. Strnad. Köln 1996, S. 71–135, hier S. 80 f.) 89 Vgl. das pietätlose Sittengemälde in dial. 7, Sp. 734 f. 90 Bezeichnend ist eine Aussage in dial. 7, Sp. 735: Sed regnat ubique ignorantia. Jam non ultima sæcula sunt, quæ vivimus, sed sæculorum fex: nulla modo in pretio ars est, nisi quæ captu facilis et utilis quæstu est. [Doch überall herrscht Ignoranz. Wir leben nicht am Ende der Zeiten, sondern im Abschaum der Zeiten. Keine Fertigkeit steht in Ansehen, außer jene, die leichten Gewinn und finanziellen Nutzen verspricht.] Vgl. auch dial. 11, Sp. 755. 91 Rhetorik als sedandarum passionum et excitandarum ar[s] (dial. 11, Sp. 754; vgl. etwa Cic. de orat. 1,5,17, 1,46,202 und 2,51,208), ferner elegantia, aptum, lepos, facetiae. Zu den facetiae vgl. C. Iulius Caesar Strabos Rede in Cic. de orat. 2,54,216–2,71,289. Man denke aber auch in diesem Fall an den zeitgenössischen Diskurs, wie er etwa in Poggio Bracciolinis Facetiae (1438–1452) zum Ausdruck kommt.

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[Bedeutend ist der Titel des Sekretärs und verehrungswürdiger, als unsere Elstern meinen. Jener ist meiner Meinung nach wahrlich ein Sekretär und dieses so gewichtigen Namens würdig, der die Worte zu wählen und gut zusammenzufügen versteht; der geübt ist in der Kunst, die Emotionen zu beruhigen oder zu erregen; in dessen Schriften feiner Humor, Witz und Bildung, die eines freien Mannes würdig ist, durchscheinen; der die gesamte Antike und die Macht der Exempla verinnerlicht hat; der die Gesetze und die Schranken des Zivilrechts gut kennt; der schließlich alles, was geschehen ist und in einem Brief erklärt werden muss, wohlgeordnet, geschmackvoll, aus dem Gedächtnis und klug zu schreiben zu Diensten ist.]

Natürlich handelt es sich dabei auch um Werbung in eigener Sache: Piccolomini stellt das prekäre Beschäftigungsverhältnis der Sekretäre zur Diskussion, die unter schlechten Arbeitsbedingungen und einer schlechten Entlohnung92 zu leiden hatten, und dazu noch von der Gunst und der Finanzkraft eines Brotherrn abhingen, und behauptet vor der Folie von Ciceros De oratore die Standeswürde des Sekretärs, hebt seine gesellschaftsrelevante und staatstragende Funktion hervor und verlangt soziale Anerkennung für die eigene Berufskategorie. Seinen Blick richtet er dabei auf die italienische Realität, auf das republikanische Florenz93 und das kuriale Rom: Dem ‚Erzfeind‘ Eugen94 hält er gerade und ausschließlich diesen einen Punkt zugute, dass er es verstanden habe, sich mit den besten Humanisten zu umgeben,95 was ihm im Kirchenstreit einen bedeutenden Vorteil verschaffe. Es geht Piccolomini also letztlich darum, das italienische Erfolgsmodell des humanistischen Sekretärs jenseits der Alpen anzupreisen.

92 Es ist auffällig, wie oft Piccolomini in den Jahren am Konzil gezwungen war, den Brotherrn zu wechseln, um den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Im Libellus dialogorum bringt Piccolomini mehrmals den Wunsch nach finanzieller Absicherung zum Ausdruck: vgl. dial. 1, Sp. 701 (über die Pfründen) und dial. 14, Sp. 790 (über die Armut): frui tamen ad vitam necessariis et valido mihi det Olympi rector, at, precor, integra cum mente, nec turpem senectam degere, nec musa carentem. ~ Frui paratis et valido mihi, | Latoe, dones, at, precor, integra | cum mente, nec turpem senectam | degere nec cithara carentem (Hor. carm. 1,31,17–20). 93 Vgl. etwa die Anekdote zum Herzog von Mailand, Giangaleazzo Visconti, die Piccolomini auch in anderen Werken (z. B. in comm. 2,30) erwähnt und nach der dieser zu sagen gepflegt habe, die Feder des florentinischen Staatssekretärs Coluccio Salutati schade ihm mehr als tausend florentinische Soldaten (dial. 11, Sp. 754 f.). 94 Martinus und Aeneas nennen ihn an dieser Stelle – in klar polemischer Intention – mit seinem bürgerlichen Namen, Gabriel (dial. 11, Sp. 755); vgl. auch das zweite Buch von De gestis, wo dasselbe geschieht. 95 Genannt werden Antonio Loschi, Poggio Bracciolini, Cencio de’ Rustici, Giovanni Aurispa, vgl. dial. 11, Sp. 755. Vielleicht wollte Piccolomini auch im Sinne der dialogischen und agonalen Natur des Werkes die eigene Zugehörigkeit zum Humanistenstand behaupten.



Basels sicherer Hafen: Inszenierung eines humanistischen Dialogs 

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4 Ausblick Wie deutlich geworden sein dürfte, handelt es sich beim Libellus dialogorum bei weitem nicht nur um ein Traktat über das Basler Konzil; er ist vielmehr eine Streitschrift zur Förderung des Humanismus jenseits der Alpen. Der Dialog ist in dieser Perspektive auch mehr als eine bloße literarische Form: Er ist Ausdruck der Lebenswelt der Humanisten – und zwar der politisch engagierten und im Staatsdienst tätigen Humanisten. In der sprachlichen und formalen Gestaltung nach antiken Vorbildern stellt der frischgebackene Sekretär Enea Silvio Piccolomini seine eigenen Fähigkeiten unter Beweis; im gewandten Umgang mit den antiken Vorlagen vollzieht er die Rückkehr ad fontes und geißelt jenen autoritätshörigen Gelehrtenstand, der gleichermaßen die Universitäten und die Konzilssynode bevölkerte; mit der Frische und Lebendigkeit des Dialogs stellt er eine neue Gesprächskultur vor, die sich deutlich von der kühlen, abstrakten Begrifflichkeit der spätmittelalterlichen Scholastik abgrenzt; schließlich macht er sich selbst zum Sprachrohr einer neuen Kultur und zum Promotor eines neuen Menschenbildes. Und er wird, wenn auch nicht sofort, Gehör finden: Man denke etwa an das auf Initiative von Konrad Celtis gegründete Collegium poetarum et mathematicorum (1501) an der Universität Wien, welches, wenn man so will, die Forderungen Piccolominis, des ersten ‚Wiener‘ poeta laureatus, des ‚Apostels des Humanismus‘ in Deutschland, verwirklichte und eine erste Reform der Artistenfakultät hin zu den modernen Philosophischen Fakultäten darstellte. Der Libellus dialogorum ist ein frühes Zeugnis dieser Entwicklung und in dieser Hinsicht für uns ein Dokument von unschätzbarem Wert. In diesem Sinne ist auch der Rhein weitaus mehr als nur Kulisse: Als ‚Kommunikationskanal‘ verbindet er die Konzilsstadt Basel mit der Universitätsstadt Köln, doch führt er nicht nur das Gedankengut des Konzils mit sich nach Norden, sondern auch – ein neuer Ilissos, ein neuer Mincius – die neuen Ideen des Humanismus.

Elisabeth Weber-Reber

Trauer und Repräsentation Der Rhein als poetische Landschaft in Basels neulateinischen Epicedien des 17. Jahrhunderts „Landschaft wahrzunehmen muss gelernt sein. Das gilt sowohl historisch wie individuell. […] Jeder also hat sich das Wahrnehmungsfilter zur Identifizierung eines Ortes als Landschaft angeeignet. Aber natürlich sieht jeder nur, was er zu sehen gelernt hat.“1 Lucius Burckhardt

1 Einleitung Die Epicedien des 17.  Jahrhunderts rekurrieren auf die antike Tradition, die als materiale Topoi in den zahlreichen poetischen Schatzkammern gesammelt ist, was es dem Dichter vereinfacht, auf dieses literarische Wissen zurückzugreifen.2 Das Verfassen von Trauergedichten zum Anlass einer Bestattung, das in der gymnasialen und universitären Ausbildung gelehrt und eingeübt wurde, bildete für das Bürgertum ein wichtiges Medium, um sein Wissen zu demonstrieren und sich als gelehrte Oberschicht zu präsentieren.3 Diese poetologischen Vorgaben kann der Dichter befolgen oder neu interpretieren, weshalb die Epicedien auch individuelle Züge aufweisen. So ist es in den Carmina aus Basel auffällig, dass häufig der Rhein als Charakteristikum der Stadt evoziert wird. Innerhalb des untersuchten Corpus, das rund 800 neulateinische Epicedien unterschiedlicher Länge aus Basel umfasst, verwenden 24 Gedichte den Flussnamen explizit.4 Dabei kristallisieren sich drei Verwendungen des

1 Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? In: Warum ist Landschaft schön? Hg. von Markus Ritter, Martin Schmitz. Berlin 2006, S. 33. 2 Allgemein zu den Schatzkammern in der Frühen Neuzeit: Ferdinand van Ingen: Strukturierte Intertextualität. Poetische Schatzkammern und Verwandtes. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. 1994, S. 279–308. 3 Zur Repräsentation in der Barockzeit: Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. München 2009, S. 161–202. 4 Auf alle Gedichte einzugehen würde den Rahmen dieses Beitrags überschreiten, weshalb die für das Thema prägnantesten Beispiele ausgewählt wurden. Auffällig ist aber die Streuung des Rheinmotivs, weil in den 22 Epicedien, die Johann Jakob Grassers Oratio funebris im Anhang DOI 10.1515/9783110400281-010



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Rheins heraus, die in diesem Beitrag vorgestellt werden sollen: Erstens fungiert der Rhein als Element der Dichteridylle in Verbindung mit den Musen und/oder Apollo, zweitens als Garant von Beständigkeit und drittens als Vermittler zwischen dem Diesseits und dem christlichen Jenseits. Die Analyse der Gedichte mit dem Rhein-Motiv erlaubt es, charakteristische Züge der lokalen Ausprägung der Gattung darzustellen.5 Darüber hinaus kann die Frage nach der stereotypen Verwendung oder Variation der poetologischen Vorgaben gestellt werden und  – auch in Zusammenhang mit dem Rhein  – das Zusammenspiel der literarischen Tradition mit der individuellen Ausgestaltung aufgezeigt werden.6

2 Der Rhein als Ort der Musen Der Rhein findet sich häufig in einer Assoziationskette mit den Musen (oder mit anderen in Gruppen auftretenden Gestalten, wie den Nymphen oder den Chariten) und Apollo, die als mythische Inspirationsinstanzen eine Dichteridylle evozieren. Beide stehen für den idealisierten Ort des literarischen Schaffens, der erst durch den Dichter generiert wird.7 In den Basler Epicedien ist das Motiv der Idylle nicht nur auf Dichter beschränkt, sondern hat für jeden Gelehrten der Oberschicht seine Gültigkeit und dient dem Lob des Verstorbenen. Charakteristisch für die Verbindung des Rheins mit den klassischen Inspirationsinstanzen sind

folgen, sechs das Rheinmotiv im engeren Sinne enthalten. Georg Müller: Oratio funebris de vita atq. obitu rever. & clarissimi viri, D. Ioh. Iacobi Grasseri […]. Basel 1627, S. 39–67. Zur Vorliebe für bestimmte Themenkreise innerhalb von Epicediensammlungen siehe auch: Fridrun Freise: Topisch-gesellschaftliche Norm und Selbstinszenierung. Der Umgang mit dem Dichter-Stereotyp in Elbinger Kasualschriften des 17. Jahrhunderts. In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Hg. von Mirosława Czarnecka u. a. Bern 2010, S. 407–441, hier S. 429. 5 Zur Erforschung der Kasuallyrik auf lokaler Ebene: Kristi Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika an der Academia Gustaviana (Dorpatensis) in den Jahren 1632–1656. Tartu 2002, S. 14; Martin Klöker: Das Testfeld der Poesie. In: Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Keller u. a. Amsterdam, New York 2010, S. 39–84, hier S. 40; Freise (Anm. 4), S. 441. 6 Zu Norm und Abweichung in der Gelegenheitsdichtung: Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 mit weiterführender Literatur. 7 Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962, S. 302–305.

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die Verse aus dem Epicedium Heinrich Schobingers, eines Medizinstudenten aus Sankt Gallen, für den verstorbenen Basler Johann Jakob Grasser: Hinc Basilea gemens, hinc Rhenus, & ipsus Apollo, Deplorant tanti funera moesta Viri.8

Die Aufzählung der Stadt Basel, des Rheins und Apollos, die gemeinsam um den Verstorbenen trauern, illustriert das Bedürfnis, antikes Gedankengut in der eigenen Erfahrungswelt anzusiedeln (translatio litterarum),9 und demonstriert ein lebendig gehaltenes Wissen der Antike. Darüber hinaus dient es der Gelehrtenwelt zur literarischen Identifikation und macht in repräsentativer Form die Zugehörigkeit des Verstorbenen zum akademischen Kreis deutlich. Im Kontext der Trauerartikulation ist der von der Trauer affizierte Rhein ein Mittel, um den Verlust zu visualisieren, bzw. zu transportieren. Das Zusammenspiel der literarischen Tradition mit der lokalen Ausgestaltung eines Epicediums illustriert das Gedicht auf den jung verstorbenen Antonius Schinkel, der als Jurastudent aus dem ostfriesischen Emden nach Studienaufenthalten in Bremen, Marburg und Heidelberg 1664 nach Basel kam.10 Hermann Crumme, ebenfalls aus Emden,11 verfasste für seinen Verwandten und Freund Antonius Schinkel ein Epicedium von 74 Versen, das im Anhang der Leichenpredigt abgedruckt ist. Drei Themen sind im Gedicht zentral: Erstens die Klage um den verlorenen Vertrauten, der für Hermann Crumme nicht nur Verwandter, sondern auch enger Freund war (V. 1–15), zweitens der Bildungsweg des Verstorbenen durch Europa bis zu seiner letzten Station Basel (V. 16–45) und drittens der Trost, der sich direkt an die Mutter des Verstorbenen richtet (V. 46–71). Die Naturbeschreibung findet sich in den Versen über die wenigen Tage, die Antonius Schinkel in Basel verbracht hat:

8 Müller (Anm. 4), S. 60, V. 29 f. 9 Rund 100 Jahre nach Conrad Celtis’ Ode ad Apollinem werden die Musen immer noch in der Heimat angesiedelt, um antiken Inhalt in die eigene Realität zu projizieren. Zur ‚translatio litterarum‘ im Humanismus: Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance. Wiesbaden 2002, S. 352–354. 10 Hans Georg Wackernagel: Die Matrikel der Universität Basel. 1601/02–1665/66. Bd. 3. Basel 1962, S. 580 und 776. 11 Hermann Crumme war 1661 an der Akademie in Franeker und 1665 an der Universität Heidelberg immatrikuliert. Vgl. Georg Becker: Die deutschen Studenten und Professoren an der Akademie zu Franeker. Soest 1942, S. 22; Friedrich Sundermann: Die Ostfriesen auf Universitäten. Ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte Ostfrieslands. Dritter Teil. In: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden 14 (1902), S. 39–103, hier S. 101.



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[…] mors egit atrox, dumque omnia vernant, Arboribusque comae redeunt, & gramina campis, Te tenerum Saevo decerpsit pollice florem Atropos, inque ipso jussit marcescere vere.12 [Unbarmherzig handelte der Tod, während alles grünte, an den Bäumen die Blätter zurückkehrten und das Gras auf den Wiesen. Dich, die zarte Blume, hat Atropos mit ihrer grausamen Hand abgerissen, und hieß [dich] inmitten des Frühlings welk zu werden.]

Antonius Schinkels jugendliches Alter ist mit der Jahreszeit zu seinem Todeszeitpunkt in Parallele gesetzt. Während die Natur ihr Gedeihen im Frühling ankündigt, wird der junge Mensch, der wie eine Blume im Wachstum stand, vom Tod ausgelöscht: Atropos pflückt ihn.13 Der Vergleich zwischen einer abgeschnittenen Blume und einem früh verstorbenen Menschen war bereits in der Antike geläufig und lässt sich von Homer bis zum flavischen Dichter Statius belegen.14 Durch seine Verwendung zeigt der Autor seine Gelehrsamkeit: er nimmt den Frühling mit den blühenden Blumen als reelle Gegebenheit in sein Gedicht auf15 und verleiht ihm durch die Bezugnahme auf die antike Tradition eine höhere Bedeutung. In den daran anschließenden Versen resümiert der Dichter das Lob, das der Leichenredner Lucas Gernler für den jungen Freund vorgebracht hat und das christliche Tugenden, wie pietas (V. 43) und intellektuelle Begabung (Ingenij dotes V. 43) beinhaltet. Die Trauer um den Verstorbenen ist so überwältigend, dass selbst die Musen und der Rhein davon betroffen sind: Condoluêre ipsae, planctusque dedêre Camoenae, Atque ipsum ingemuisse ferunt tua funera Rhenum! [Die Musen selbst trauerten und gaben das Klagelied von sich, und man sagt, dass selbst der Rhein deine Bestattung beweint haben soll.]

12 Lucas Gernler: Christliche Leichpredigt: […] bey […] Bestattung des […] Antonii Schinckels […]. Basel 1665, S. 50, V. 34–38. 13 Diese Gegensätzlichkeit erinnert an Lotichius’ Epicedium auf Melanchthon. Aber anders als in Lotichius’ Epicedium gleicht sich hier die Natur nicht der Trauer des lyrischen Ichs an und wird infolgedessen zur Winterlandschaft, sondern bleibt als starker Gegensatz zur Trauer bestehen, was die Drastik des zu frühen Todes betont. Karin Haß: Natur in den Elegien des Lotichius. In: Lotichius und die römische Elegie. Hg. von Ulrike Auhagen, Eckart Schäfer. Tübingen 2001, S. 185–197, hier S. 194. 14 Homer, Il. 8,306–308; Vergil, Aen. 9,431–437; Catull, C. 11,21–24; Statius, Sil. 3,3,126–130. Zu decerpsit pollice florem in V. 36 vgl. Ovid, Fast. 5,255. 15 Das Bestattungsdatum ist der 29. März 1665.

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Entsprechend der Dichteridylle ist der Rhein mit den weinenden Camenae assoziiert.16 Sie stehen in direktem Zusammenhang mit dem Lob auf den Verstorbenen, dessen intellektuelle Fähigkeiten und ausgedehnte Studienreisen im Gedicht thematisiert werden. Er wird als begabter Jurastudent zum akademischen Kreis gezählt, und die Verbindung von Musen und Rhein dient dazu, diese Zugehörigkeit noch zu bekräftigen. Interessant daran ist, dass der Rhein als Symbol für die Basler Gelehrten17 auch für den Studenten aus Emden seine Gültigkeit hat. Folglich haben der Rhein und die Musen in diesem Kontext einen lokalen Bezug und dienen deshalb den Gelehrten als Identifikationsmerkmal über die Stadtgrenzen hinaus. Die Distanz des Dichters zu Basel lässt sich an der indirekten Schilderung der imaginierten Ereignisse ablesen (ingemuisse ferunt […] Rhenum! V. 46), was als poetologischer Hinweis dahingehend verstanden werden kann, dass der Dichter, obwohl er nicht zum Gelehrtenkreis in Basel gehört, dennoch bewusst die lokalen Konventionen der Epicediendichtung aufnimmt. Der Befund, dass der Rhein Differenzen aufhebt und Zusammengehörigkeit symbolisiert, belegt auch ein Epicedium von Johann Rudolf Strauss auf den Theologen und Antistes Lucas Gernler (1625–1675). Dieses Epicedium bildet den Anhang zu einer akademischen Gedenkschrift, die 53 Gedichte beinhaltet, wobei Latein die bevorzugte Sprache ist.18 Der Verfasser studierte in Heidelberg bei Friedrich Spanheim und war ab 1668 Pfarrer in Bern.19 Höhepunkt seiner Karriere war das Amt des stadtbernischen Dekans, d. h. des Leiters der reformierten Kirche Bern (1692–1696).20 Das Gedicht für seinen Amtskollegen in Basel, Lukas Gernler, setzt mit der Frage nach dem Grund für die kollektive Trauer ein, schließlich herrsche kein Krieg (Non cecidêre Viri, non praeda est acta, nec hostis […] excubant

16 Für die weinenden Musen beim Grab ist von Bedeutung: Helius Eobanus Hessus’ Epicedium auf Albrecht Dürer, V. 129 f. in: Helius Eliobanus Hessus: Dichtungen der Jahre 1528–1537. Hg. von Harry Vredeveld. Bern, New York 1990, S. 124. 17 Bereits in den Versen, die verdichtet die Studienaufenthalte aufzählen, bilden die Stadtflüsse den Bezugs- und Identifikationspunkt: Für Marburg: moenia Martis […] quae Lahnus rigat (V. 17– 19) oder für Heidelberg: Ad Nicri […] ripas (V. 23). Zur Personifikation des Ortes vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 124: „Der Ort des Geschehens wird zum Forum allgemeiner Anteilnahme.“ 18 Peider Büsin: Planctus super obitu […] Lucae Gernleri. S. S. Theol. doct. Vet. Test. Profess. longe […] Ecclesiaeque Basileensis Antistitis […] qui pie in Christo obdormivit die 8. Februarii, Anno 1675. Basel [ca. 1676], S. 1–48. 19 Grunddaten des Staatsarchivs Bern: http://katalog.burgerbib.ch/detail.aspx?ID=97925 (07.08.2014); Johannes Rodolphus Straussius: Dissertatio theologica, de fundamentalibus fidei christianae dogmatis sub praesidio Friderici Spanhemii. Heidelberg 1656. 20 Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Bern im 16. und 17. Jahrhundert. Zürich 2011, S. 139–240.



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ante fores V. 7–8). Freilich war die Zeit nicht konfliktfrei, insbesondere beschäftigte die Öffentlichkeit die Formula Consensus, das rigide protestantisch-orthodoxe Glaubensbekenntnis, mit dessen Ausarbeitung sich auch Lucas Gernler bis kurz vor seinem Tod eingehend auseinandersetzte.21 Auf den damit verbundenen Unmut spielen die nächsten Verse an (V. 11–12). Doch die Kontroverse könne den herrschenden Frieden nicht aus dem Gleichgewicht bringen (at pax hîc placidâ mitis in Urbe manet V. 18). Der wahre Grund für die Trauer ist Lucas Gernlers Ableben. In extenso zeigt sich die Bestürzung auf drei Ebenen: bei den Bürgern Basels (Proceres V. 29; civica turba V. 31), im mythischen Bereich (Musae; Charites; Nymphae; Phoebus; Pierides V. 35–42) und europaweit in Belgien, Frankreich und Deutschland, die alle zusammen mit der Schweiz trauern.22 Alle Unterschiede innerhalb dieser heterogenen Aufzählung sind aufgehoben, weil die verschiedenen realen Gruppen und literarischen Gestalten vereint im Trauerschmerz sind.23 Auch der Rhein findet Eingang in diesen Katalog von trauernden Gestalten, denn die Nymphen erfüllen ihn mit ihren Klagen (Rhenum per omnem V. 37). Damit bildet der Rhein – als Ort der Musen und geographische Gegebenheit in einem – das Bindeglied zwischen der literarischen Fiktion und der Realität. Der Tod Lucas Gernlers bewirkt, dass die mythischen Figuren von Trauer affiziert sind und dass die ideale Landschaft, die durch ihn als Gelehrten generiert wird, zugleich gefährdet ist. Aber nicht nur der Tod des Gelehrten bewegt die mythischen Figuren, sondern sie trauern gleichsam um alle verstorbenen Gelehrten (properataque

21 Max Geiger: Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie. Zürich 1952, S. 122–132. 22 Vielleicht eine leichte Reminiszenz an Giovanni Pontano, 2. Ekl. Meliseus, V. 111–160, wo die wiederholten Traueraufrufe und die Lautstärke der Trauer in den Vordergrund treten. Dazu: Margarethe Stracke: Klassische Formen und neue Wirklichkeit. Die lateinische Ekloge des Humanismus. Gerbrunn bei Würzburg 1981 (Romania Occidentalis 2), S. 42–62, hier S. 59 f. 23 Ein weiterer Aspekt für die Aufzählung von mythischen Figuren liegt beim Einflechten von Versatzstücken aus dem Epicedium von Théodore de Bèze auf den Basler Gräzisten Simon Grynaeus, der 1582 an der Pest starb. Wie bei Lucas Gernler findet sich bei de Bèze das Bild der weinenden Nymphen, die über den Rhein ihre Klagen erklingen lassen. Johann Rudolf Strauss hat zudem den ganzen Vers et madidam fundit lachrymosus Aquarius urnam von de Bèze übernommen (zur Verbindung des Sternbilds ‚Aquarius‘ mit Flüssen vgl. Wolfgang Hübner: Perseus, Eridanus und Cola Piscis unter den Sternbildern in Pontanus ‚Urania‘. In: Humanistica Lovaniensia 28 (1979), S. 151–158, hier S. 154 f.). Dass der Berner Pfarrer ein Epicedium auf einen Basler als Vorlage für sein Gedicht wählte, zeigt, dass bestehende Epicedien, die passend für den Kontext waren – in diesem Fall ein Gedicht auf einen Basler –, als Vorbild und Muster dienten. Zum Epicedium des Théodore de Bèze: Kirk Summers: A View from the Palatine. The Iuvenilia of Théodore de Bèze. Tempe, Arizona 2001, S. 159 f.

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doctis | Semper Fata viris V. 39 f.). Dadurch wird die Zugehörigkeit des Adressaten und die des Verfassers zum akademischen Kreis hervorgehoben. Die idyllische Landschaft wird nun durch die Präsenz und das Wissen der lebenden Akademiker bewahrt. Es sind die Gelehrten, die in diesem Epicedium im Vordergrund stehen, während die ideale Landschaft in den Hintergrund tritt, nicht nur weil die Akademiker diesen idyllischen Ort generieren, sondern auch weil auf dessen weitere Ausgestaltung verzichtet wird.24 Die zwei vorgestellten Epicedien binden den Rhein auf unterschiedliche Weisen ein. Gemeinsam ist ihnen, dass er in ein Dichteridyll integriert wird, wobei die Landschaft mit einer Assoziationskette von Apollo, den Musen oder Nymphen evoziert wird, bei der nicht Einzelheiten genannt, sondern bei Bedarf dieselben Stichworte mit Synonymen wiederholt werden. Die Verbindung der

24 Der Rhein wird in diesem Gedicht (V. 53) nochmals thematisiert, da der Autor in Bern seine Tränen der Aare, die zum Flusssystem des Rheins gehört, anvertraut, damit sie als Kondolenzbezeugung nach Basel fließen. Die Funktionalisierung des Flusses als Überbringer der Tränen findet sich auch in weiteren Basler Epicedien: Hinc, ubi Sittereis praeceps lavat Hetter in undis, | Quas fundo lacrymas, accipe, Rhene, meas. (Müller (Anm. 4), S. 56); Si lacrymis redimi defuncti funera possent, | In lacrymas Rhenus, diffluat & Limagus. (Büsin (Anm. 18), S. 27). Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass sich in Johann Buchlers Thesaurus phrasium poeticarum unter dem Stichwort lacryma mehrmals die Verbindung von ‚Fluss‘ und ‚Tränen‘ findet (S. l. [ca. 1612], S. 150). Eine antike Vorlage für die Metapher liefert Ovid mit einem Vers aus den Heroides (Ep. 8,62: Per sinus lacrimae fluminis instar eunt. Dieser Vers wird auch bei Johann Buchler aufgeführt. Ebd., S. 150) und Ovids Metamorphosen, wo der rivus lacrimarum der unglücklich in den Bruder verliebten Byblis zu einer ewig fließenden Wasserader gewandelt wird (Met. 9,655–658: Muta iacet viridesque suis tenet unguibus herbas | Byblis, et umectat lacrimarum gramina rivo. | Naidas his venam, quae numquam arescere posset, | Supposuisse ferunt: quid enim dare maius habebant?). In humanistischen Epicedien integriert sich das Bild des Tränenflusses in die ideale Landschaft, wo der Fluss – oftmals personifiziert – die Trauer durch hohen Wasserstand veräußerlicht (Ein klassischer Vorläufer ist: Cons. ad Liv. V. 225: uberibusque oculis lacrimarum flumina misit (sc. Tiberinus)). Vgl. beispielsweise den Flusskatalog in Helius Eobanus Hessus’ Epicedium auf Mutian Rufus, der so ansetzt: Flumina nunc moerent quaecunque per Hessida terram | Nunc tandem gravibus plena feruntur aquis. (Hessus (Anm. 16), S. 136, V. 77 f.). Vgl. auch das Epicedium von Christoph Schellenberg auf Melanchthon (Philippi Melanthonis Epicedion Senatui Annebergensi dedicatum. Authore Christophoro Schellenbergio. S. l. 1561, o. S., V. 97–102): At licet in fletum totus vertatur Elister, | Et Salae, & Muldae flebile flumen eat, | Et rex Teutonico fluviorum Rhenus in orbe, | Et lacrymante fluat moestior Albis aqua: | Flumina nemo tamen lacrymarum tanta profundet, | Quin has exuperans devoret ipse dolor. Im Epicedium von Euricius Cordus auf Erasmus findet sich der Rhein zusammen mit Tränen der Trauer: Quis satis in lacrimas Rhenus, quis sufficit Hister | Quae vel ubique etiam totius unda maris? Abgedruckt bei: Paul Gerhard Schmidt: Euricius Cordus und Erasmus von Rotterdam. Die Threnodie auf Erasmus aus dem Jahre 1519. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Hg. von August Buck, Martin Bircher. Amsterdam 1987, S. 121–125, V. 33 f.



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Musen mit dem Rhein erklärt sich durch das Bedürfnis, antikes Gedankengut, das im Gelehrtenkreis lebendig gehalten wurde, in der eigenen Erfahrungswelt anzusiedeln. Die spezifische Verknüpfung des Rheins mit antiken Vorbildern in den Epicedien steht für die Selbstwahrnehmung der Basler Gelehrten, die durch ihre gymnasiale und universitäre Ausbildung über denselben Wissensschatz verfügten, was identitätsstiftend ist. Einem Rezipienten, der losgelöst von dieser Lebenswelt ist – und als moderner Rezipient ist man dies unweigerlich – erscheinen die Gedichte mit den immer gleichen Stichworten ohne Aussagekraft und als Massenware.

3 Der Rhein als Garant für die lateinische Bildung Während die Verbindung von den Musen mit dem Rhein die ideale Dichterlandschaft bzw. den idealen Ort konstituiert, kann der Rhein in einer anderen Verwendung auch für die Fortdauer des Gelehrtenruhmes und für das Ideal der Ewigkeit stehen. So beschließt Johannes Screta25 sein Epicedium26 auf Johann Jakob Grasser mit dem Wunsch, dass das Andenken an den Verstorbenen und seine Begabung Bestand haben möge: Ingenii monumenta ejus mirabitur Orbis, Caeruleas donec Rhenus habebit aquas. Huic busto nunquam desint violaeque rosaeque, Et niveis mirè lilia pulchra comis. [Der Erdkreis wird das Denkmal seines Talents bewundern, solange der Rhein blaues Wasser führen wird. Diesem Grab möge es nie an Veilchen und Rosen fehlen und wunderschönen Lilien mit schneeweißen Blättern.]

Das ewige Andenken an den Verstorbenen wird mit dem unaufhörlichen Fließen des Rheins parallelisiert. Mit seinem Ewigkeitsanspruch bekräftigt das Motiv nicht nur das Andenken an den Verstorbenen, sondern schließt den Gelehrtenkreis mit ein, der die memoria aufrechthält. Der Rhein ist somit ein Symbol der

25 Johannes Screta studierte ab 1620 Medizin in Basel. Wackernagel (Anm. 10), S. 225. 26 Das kurze Epicedium von nur 16 Versen setzt mit den Musen ein, die nicht bloß traurig über den Verlust Johann Jakob Grassers sind, sondern für den Verstorbenen die Totenehrung besorgen und ein Epitaphium errichten (marmoreis inscripsêre tabellis V. 3), das ab Vers 5 direkter Bestandteil des Gedichts ist und somit gehört auch der Rhein zu dieser Inschrift.

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Unvergänglichkeit, und die gelehrte Oberschicht will durch seine Verwendung nicht nur ihre Position bestärken, sondern auch in die Zukunft ausweiten.27 Der Ewigkeitsanspruch des akademischen Kreises für sich selbst und sein literarisches Schaffen rekurriert auf die antike Idee, dass die lateinische Dichtung durch die Jahrhunderte hindurch Bestand haben sollte.28 Folglich hat die ewige Erinnerung nicht nur in Bezug auf den Verstorbenen Gültigkeit, sondern umfasst alle Gelehrten und ihr Werk. Das Motiv des ‚ewig fließenden Rheins‘ postuliert also für die ganze lateinische Epicediendichtung eine unaufhörliche Rezeption. Auch bei einem weiteren Aspekt kommt das antike Wissen zum Zuge, denn das Totengedenken beschränkt sich nicht nur auf das Erinnern, sondern betrifft auch das rituelle Blumenstreuen über dem Grab. Damit spielt der Verfasser auf das römische Totengedenken an, bei dem im Mai bis Juni dem Grab Rosen und im Frühling Veilchen dargebrachte wurden.29 Das Andenken an den Verstorbenen

27 Eine weitere Belegstelle ist: […] Huic, precor, sepulchro | Rosae sint violaeque, dum rapaci | Rhenus praecipitabit amne lymphas! (Daniel Tossanus: Iohannis Buxtorfii senioris […] vita et mors. […] cum virorum clarorum epicediis. Basel 1630, S. 40). Dieses Epicedium ist von Joachim Mechov 1630 verfasst, der mit Johannes Screta befreundet war, und sich inhaltlich deutlich auf Scretas Gedicht von 1627 bezieht, was vermutlich als gelungene Variation goutiert wurde. Unklar ist, seit wann die Bekanntschaft der beiden bestand, da Screta vor Mechov studiert hat (Wackernagel (Anm. 10), S. 225 und 229). Beide Namen tauchen auch in anderen Quellen zusammen auf, so findet sich in Mechovs Doktorarbeit ein Gedicht von Johannes Screta, das mit Amicâ mente p[osuit] signiert ist und die Beziehung ein wenig genauer definiert (Disputatio inauguralis de usucapionibus: quam […] pro summis privilegiis, immunitatibus ac honoribus in Utroq. Jure Doctoralibus solenniter sibi conferendis publice examinandam proponit Joachimus Mechovius. Basel 1629, o. S.). Ein weiteres Beispiel liefert: Rhenus & Alpino dum lambet Rauraca lapsu | Rura, perennabit fama loquenda senis. (Lucas Gernler: Oratio parentalis […] Iohannis Buxtorfii, […] accedunt virorum doctorum epicedia. Basel [1665], S. 65). 28 Zum Ewigkeitsanspruch der klassischen Dichtung: Howard V. Canter: The Figure Adunaton in Greek and Latin Poetry. In: American Journal of Philology 51 (1930), S. 32–41, hier S. 39 f. 29 Zum Wunsch des Blumenstreuens und dem Fest der „Rosalia“ in antiken Grabinschriften: Richmond Lattimore: Themes in Greek and Latin epitaphs. Illinois 1942 (Illinois Studies in Language and Literature 28), S. 137–141. Zum römischen Bestattungsritus: Henriette Harich-Schwarzbauer: Tod und Bestattung in der römischen Welt. In: Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum. Hg. von LIMC. Bd. 6. Los Angeles 2011, S. 172–182, hier S. 180 f.; Thomas Knosala: Tod und Bestattung in lateinischen Inschriften. In: Ebd., S. 183–193, hier S. 191. Das Blumenstreuen kann auch von den „Basler Musen“ übernommen werden. So dichtet Johannes Screta in einem Epicedium für Johann Niklaus Stupanus: Rhenicolae Musae, tumulum florentibus herbis | Spargite, non violis parcite, nonque rosis, […] (Ludwig Lutz: Aeternae memoriae […] D. Ioh. Nicolai Stupani […] consecrata clarissimorum virorum epicedia. Basel 1621, o. S.). Ein weiteres Beispiel: Rhenicolae Musae tumulum exornate; quis amplum | Afflictis vobis jam dabit hospitium? (Müller (Anm. 4), S. 41).



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soll mit diesem römischen Ritual perpetuiert werden und damit gleichsam auch das Wissen um diesen antiken Brauch.30 Der Rhein als Sinnbild für den ewig anhaltenden Ruhm ist ein typisches Beispiel für die Aufnahme von festen Wendungen in die Epicedien. Dasselbe Gleichnis findet sich auch im Aerarium poeticum des Melchior Weinreich unter dem Lemma „Semper, allezeit“ mit dem Beispiel Dum patrias Rhenus habebit aquas.31 Diese Erwähnung belegt die allgemeine Beliebtheit des Ausdrucks in der Kasuallyrik. So schreibt auch Simon Lemnius im Epicedium auf Erasmus über den Rhein: Nostra tamen totum volitabit fama per orbem, | Donec adhuc aliquas Rhenus habebit aquas.32 Der Rhein in Zusammenhang mit dem Ewigkeitsanspruch der Gelehrten und ihrem Wunsch nach dauerhafter Rezeption ist also ein fest etabliertes Motiv in der Epicediendichtung. Die Akademiker der damaligen Zeit dürften im Rhein den Hüter und das Sinnbild ihrer wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit wahrgenommen haben.

4 Der Rhein als Seelengeleiter Eine innovative Verwendung des Rheins, für die keine weiteren Belegstellen angeführt werden können, zeigen zwei Epicedien von Valentin Thilo, der aus Schlesien stammte und ab 1583 in Basel immatrikuliert war.33 Gemeinsam ist den beiden Gedichten, dass der Rhein darin zuletzt den Übergang der Seele des Verstorbenen in den Himmel einleitet und folglich als Vermittlungsinstanz zwischen dem Diesseits und dem christlichen Jenseits funktionalisiert wird. Das eine Epicedium für Theodor Zwinger, den Autor der umfangreichen Enzyklopädie Theatrum Vitae Humanae, ist durch das Auftreten von drei Göttinnen gegliedert, die trauernd am Rheinufer erscheinen (emicat umbra […] ad undantes ripas V. 4–7). Nachdem jede der drei ihre Klage vorgebracht hat, versammeln sie

30 Zu diesem römischen Ritual im Kontext der christlichen Literatur: Charles Favez: La consolation latine chrétienne. Paris 1937, S. 56. 31 Melchior Weinreich: Aerarium poeticarum. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1677, S. 310. 32 M. Simonis Lemnii Epigrammaton libri III. Adiecta Est Qvoque eiusdem Querela ad Principem. S. l. 1538. Lib. 3, S. 62, V. 13 f. Vgl. ferner das Epicedium von Eobanus Hessus auf Friedrich III. Kurfürst von Sachsen, um das Lob des Verstorbenen zu steigern: Quicquid id est, tua fama ducum clarissime vivet | Dum tuus instabiles Albis habebit aquas. (Hessus (Anm. 16), S. 106, V. 27 f.) 33 Hans Georg Wackernagel: Die Matrikel der Universität Basel. 1532/33–1600/01. Bd. 2. Basel 1956, S. 311.

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sich, um den Verstorbenen beizusetzen. Erst jetzt werden ihre Namen genannt: Themis, Clio und Pietas (V. 31–33). Apollo, der die Klagen auf seiner Leier begleitet hat (Phębus agens querulâ fide lamentabile carmen V. 41), ruft das Schicksal an, das Rad weiterzudrehen (properas vertere fata rotas V. 43). Daraufhin treibt der Rhein seine Wogen an (Rhenus pater impulit undas V. 43) und der Verstorbene entfliegt zum Himmel (ad Superos volat umbra […] ZVINGER erat V. 45 f.). Wieder sind mythische Figuren, die für die ideale Dichterlandschaft stehen, mit dem Rhein assoziiert, der als Vermittler zwischen der Erde und dem Himmel (und nicht etwa der Unterwelt) christlich konnotiert ist. Das gleiche Geschehen findet sich im Epicedium auf Johannes Rötel, einen Studenten aus Breslau, der zuerst in Wittenberg und anschließend in Basel studierte.34 Das lange Gedicht von 52 Versen ist geprägt von Klagen und Ausrufen, die eindrücklich demonstrieren, wie Valentin Thilo um den jung verstorbenen Freund trauert. Doch diesmal ist es nicht Apollo, der den Rhein in Bewegung treten lässt, sondern Themis, das personifizierte Schicksal, deren Worte (Flos […] occubuit meus, ô RÖTELIA proles V. 47) der Rhein hört. Er beginnt darauf, sich im Flussbett zu erheben und mit dem Wasser Klagen von sich zu geben (exorsus ab antris | exsilit, unda gemit, flumina moesta sonant V. 49 f.). Den Schluss bildet wieder die Ankunft im Jenseits (VIVIT & ASTRA TENET V. 52). Gemeinsam ist den beiden Epicedien von Valentin Thilo der personifizierte Fluss, dessen heftige Wasserbewegung von der Aufnahme der Seele in den Himmel gefolgt wird. Der Rhein bekommt dadurch die Funktion eines Psychopompos, um die Verstorbenen in den Himmel und in das ewige Leben hinüber zu führen. Der Rhein bildet so die positive Parallelerscheinung zum negativen Unterweltfluss Styx, der für das düstere Jenseits steht und in der christlichen Gedankenwelt die Hölle repräsentiert. Der Autor attestiert dem Rhein, das Diesseits, Basel, mit dem Jenseits, dem Himmel, verbinden zu können, und dies kommt dem höchsten Lob gleich.

5 Zusammenfassung Die Verwendung des Rheins in den Basler Epicedien dient der Konsolidierung einer sozialen Gruppe von Gebildeten, indem sie nach unterschiedlichen antiken Vorbildern ausgestaltet wird. In Verbindung mit den Musen und Apollo steht der Rhein für die ideale Dichterlandschaft, die in Basel lokalisiert wird. Mit ihr iden-

34 Ebd., S. 348.



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tifizieren sich die Gelehrten, und dies unabhängig von ihrer Herkunft. Neben dem idealen Ort konstituiert der Rhein aber auch die ideale Zeit: Sein ununterbrochener Wasserlauf wird als Garant für die Erinnerung an den Verstorbenen und an sein wissenschaftliches Schaffen dargestellt. Im Umkehrschluss gilt die fortdauernde Rezeption auch für das neulateinische Epicedium, das den Ewigkeitsanspruch transportiert. Daneben kann der Rhein mit christlichen Vorstellungen verbunden werden  – während er seinen Platz in der antikisierenden Dichteridylle beibehält  –, indem er als Vermittler zwischen dem Diesseits und dem christlichen Jenseits die Seele des Verstorbenen begleitet. Dieses Motiv ist singulär im untersuchten Corpus und ist deshalb ein Beleg für Innovation in der Epicediendichtung. Die Epicedien stehen für die Repräsentation der Basler Gelehrtenwelt und ihrer Beherrschung des Lateins. Nur auf der Ebene der primären und zeitgenössischen Rezeption konnten sie ihre intendierte Wirkung voll entfalten, weil nur ein zeitgenössischer Leser durch seine klassische Bildung und Zugehörigkeit zum akademischen Kreis fähig war, die Bedeutung des Rheins zu erfassen. Jedes Epicedium hatte einen individuellen Eigenwert, weil die Verbindung des Rheins, bzw. der eigenen Lebenswelt, mit dem gelehrten Wissen der Antike immer wieder aufs Neue validiert werden musste. In der Erforschung der Epicedien gilt es, diesem Punkt Rechnung zu tragen.

6 Anhang (Die besprochenen und mit Versen zitierten Gedichtausschnitte sind hier gemäß Reihenfolge im Fließtext wiedergegeben und übersetzt.) Adressat: Antonius Schinkel (1642–1665) Verfasser: Hermann Crumme Quelle: Lucas Gernler: Christliche Leichpredigt: […] bey […] Bestattung des […] Antonii Schinckels, von Embden auss Ost-Friessland, der Rechten Studiosi […]. Basel 1665, S. 50, V. 34–45 von insgesamt 74 Versen. Signatur: Universitätsbibliothek Basel Aleph D XIII 4:15. […] Mors egit atrox, dumque omnia vernant, Arboribusque comae redeunt, & gramina campis, Te tenerum Saevo decerpsit pollice florem Atropos, inque ipso jussit marcescere vere. Aede Cathedrali moerens tua condidit ossa,

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Et testata suum est lacrymis Basilea dolorem. Ipse tuas laudes Gernlerus condidit ore Mellifluo, talique pius dignatus honore est Externum, sed quem commendavêre vigentis Ingenij dotes, pietasque, & mascula virtus. Condoluêre ipsae, planctusque dedêre Camoenae, Atque ipsum ingemuisse ferunt tua funera Rhenum! [Unbarmherzig handelte der Tod, während alles grünte, an den Bäumen die Blätter zurückkehrten und das Gras auf den Wiesen. Dich, die zarte Blume, hat Atropos mit ihrem grausamen Finger abgerissen, und hieß [dich] inmitten des Frühlings welk zu werden. Basel bestattete deine sterblichen Überreste trauernd im Münster, und seinen Schmerz hat es mit Tränen bezeugt. Gernler selbst besang dein Lob mit honigfließendem Mund, für solchen Ruhm hielt er den frommen Fremden für würdig, den doch die Gaben seines blühenden Talents, seine Gottesfurcht und die männliche Tugend empfahlen. Die Musen selbst trauerten mit und gaben das Klagelied von sich, und man sagt, dass selbst der Rhein deine Bestattung beweint haben soll.]

Adressat: Lucas Gernler (1625–1675) Verfasser: Johann Rudolf Strauss Quelle: Peider Büsin: Planctus super obitu […] Lucae Gernleri. S. S. Theol. doct. Vet. Test. Profess. longe […] Ecclesiaeque Basileensis Antistitis […] qui pie in Christo obdormivit die 8. Februarii, Anno [1675]. Basel [ca. 1676], S. 21–23, V. 29–56 von insgesamt 74 Versen. Signatur: Universitätsbibliothek Basel KiAr G V 3:31. […] Elatum hunc lugent Proceres, ditesque inopesque, Et planctus addunt planctibus & lachrimis: GERNLERUM pariter deplorat civica turba, Pastoris curâ scilicet orba sui; Pastoris, quô non vixit vigilantior alter, Doctrinâ aut potior, vel probitate prior: Et Musae tingunt nigrâ ferrugine vultus Omnes & Charites ingemuêre simul; Tingunt imbre genas Nymphae Rhenumque per omnem Turbatae planctu littora rauca replent; O rerum sortes variae, properataque doctis Semper Fata viris! Parcite Parcae Alijs! Sicque sibi charas delamentantur ademptas Delicias Phoebus, Pieridesque suas: Et madidam fundit lachrymosus Aquarius urnam, Et coelo obscuro sydera cuncta dolent: Doctas ferre quibus lauros concessit Apollo



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Triste canunt, planctu littora pulsa sonant: Belgica tota suos ac jungit Gallia planctus, Terrae quas etiam Teutonis unda luit: Hîc quoque penè simul repetitis saucia plagis, Tristia Fata timens, ejulat Helvetia: Nos quoque Vobiscum damna haec communia fassi Omnes sic pariter prosequimur lachrymis. Heu! GERNLERE quibus lachrymis tua funera plangam? Fonte velut lachrymae largiter ore fluant; Arola non cessa lachrymas deferre cadentes, Sic rapiet tepidas in freta Rhenus aquas. [Diesen Erhabenen beweinen die Reichen und Armen der vornehmen Bürger und ihren Wehklagen fügen sie [noch mehr] Wehklagen und Tränen hinzu. Zusammen beweint die Bürgerschar GERNLER, da sie der Fürsorge ihres Pfarrers beraubt ist, eines Pfarrers, wie niemals ein Wachsamerer lebte, oder einer, der vorzüglicher in der Lehre [gewesen wäre], oder hervorragender in [seiner] Rechtschaffenheit. Und die Musen färben ihr Gesicht mit tiefem Dunkel, und alle Chariten klagen zugleich, die Nymphen benetzen ihre Wangen mit Nass und über den ganzen Rhein hin erfüllen sie die aufgewühlten Ufer dumpf mit der Wehklage: „Oh, wankelmütiges Schicksal und Tod, der die Gelehrten stets zu früh ereilt! Verschont, Ihr Parzen, die anderen!“ Und so betrauern Phoebus und die Pieriden ihre gestorbenen Lieblinge sehr. Der tränenreiche Aquarius gießt die nasse Urne aus und alle Sterne trauern am dunklen Himmel, [Sie], denen Apoll gewährt hat, den gelehrten Lorbeer zu tragen, singen traurig, die Ufer hallen vom Klagen getroffen wieder. Ganz Belgien verbindet seine Klagen und Frankreich, und die Länder, die auch das deutsche Gewässer bespült, hier weint, verletzt von den beinahe gleichzeitig wiederkehrenden Schlägen in Furcht vor dem traurigen Ende, die Schweiz: „Auch wir bekunden mit euch zusammen das gemeinsame Unglück so geben wir alle zusammen das Geleit unter Tränen.“ Ach GERNLER! Mit welchen Tränen soll ich dein Begräbnis beweinen? Wie von einem Quell fließen reichlich die Tränen über mein Gesicht. Aare, höre nicht auf, die fallenden Tränen mit hinunter zu schwemmen, so wird der Rhein die warmen Wasser (sc. Tränen) mit seiner Strömung fortreißen.]

Adressat: Johann Jakob Grasser (1579–1627) Verfasser: Johannes Screta Quelle: Georg Müller: Oratio funebris de vita atq. obitu rever. & clarissimi viri, D. Ioh. Iacobi Grasseri […]. Basel 1627, S. 40 f., V. 1–16 von insgesamt 16 Versen. Signatur: Universitätsbibliothek Basel KiAr G V 3:12.

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GRASSERO dum justa parant, dum funera Musae, Dum peragit tristes quaeque Camoena vices; Haec quoque marmoreis simul inscripsêre tabellis, Perpetui luctûs signa futura sui. GRASSERUS jacet hîc; Pallas cui mentis acumen, Et Latiam tribuit Dîus Apollo lyram, Ingenuum pectus Charites, Peitho enthea linguam, Cor praegnans Divûm Juppiter ipse metu. Spiritus aethereâ liber spatiatur in arce; Quaeque solo in cecinit, nunc canit ante DEUM. Ingenii monumenta ejus mirabitur Orbis, Caeruleas donec Rhenus habebit aquas. Huic busto nunquam desint violaeque rosaeque, Et niveis mirè lilia pulchra comis. Es BASILEA inter flos caetera moenia: vates Inter GRASSERUS flos fuit ille tuos. [Während die Musen die rechtmäßige Bestattung für GRASSER bereiten, während jede der Camenen ihrer traurigen Aufgabe nachkommt, haben sie zugleich auch dies auf Marmortafeln geschrieben, als künftige Zeichen ihrer andauernden Trauer: „GRASSER liegt hier: dem Pallas die Schärfe des Verstandes, und der göttliche Apollo das römische Dichtertalent gaben, die Chariten das aufrichtige Herz, die begeisterte Peitho die Sprachgewalt, Juppiter selbst die Seele voll Gottesfurcht. Als freier Geist wandelt er im himmlischen Sitz. Alles, was er auf Erden besungen hat, besingt er jetzt vor GOTT. Der Erdkreis wird das Denkmal seines Talents bewundern, solange der Rhein blaues Wasser führen wird. Diesem Grab möge es nie an Veilchen und Rosen fehlen und wunderschönen Lilien mit schneeweißen Blättern. Du, BASEL, bist die Blüte unter den übrigen Städten, unter deinen Dichtern die Blüte war GRASSER.]

Adressat: Theodor Zwinger (1533–1588) Verfasser: Valentin Thilo Quelle: Johann Jakob Grynaeus: Ein Christliche Leichpredig, die gehalten worden, bey der Begrebnus des […] Herren Doctoris Theodori Zvinggeri […]. Adiuncta sunt, tum Cygnaea cantio D. Zvinggeri, quam aegrotans […] conscripsit. Tum Epicedia quaedam ab amicis scripta. Basel 1588, o. S., V. 41–46 von insgesamt 46 Versen. Signatur: Universitätsbibliothek Basel Aleph E XII 10:6. Phębus agens querulâ fide lamentabile carmen, Increpat heu properas vertere fata rotas! Intonuêre poli: Rhenus pater impulit undas;



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Nescio quid querulum littus utrumque sonat. Stant Musę ad tumulum, ad Superos volat umbra, cadaver Conditur; ut potui cernere, ZVINGER erat. [Phoebus trägt mit klagender Leier ein trauriges Gedicht vor und ruft: „Ach beeile dich, Schicksal, die Räder zu drehen!“ Die Pole erdröhnten: Vater Rhein trieb die Wogen hoch. Das trauernde Ufer lässt von beiden Seiten, ich weiß nicht, was, ertönen. Die Musen stehen beim Grab, zu den Himmlischen fliegt der Geist, die Leiche wird begraben, wie ich sehen konnte, war es ZWINGER.]

Adressat: Johannes Rötel (†1588) Verfasser: Valentin Thilo Quelle: Johann Jakob Grynaeus: Ein Christliche Leichpredig, welche bey der Begrebnuss, weiland des Edlen unnd Ehrenvesten, Junckhern Johann Rötel, von Preslaw, auss Schlesien ist gehalten. Basel 1588, o. S., V. 45–52 von insgesamt 52 Versen. Signatur: Universitätsbibliothek Basel Aleph E XII 10:5. Adspicit haec imis ructans suspiria fibris, Et rursum exsolvit pectora moesta THEMIS: Flos, ait, occubuit meus, ô RỎTELIA proles, Tu moreris; quid jam quin moror emoriar? Audiit haec Rhenus, luctumque exorsus ab antris Exsilit, unda gemit, flumina moesta sonant: Cum volat aethereas ASTRAEA allapsa per auras, Parce, Pater, dixit; VIVIT & ASTRA TENET. [THEMIS sieht dies und indem sie aus tiefstem Innerstem Seufzer ausstößt, öffnet sie abermals ihr trauriges Herz und spricht: „Meine Blume ist gestorben, oh RÖTLER Spross, Du stirbst, warum soll ich schon ohne Aufschub sterben?“ Diese Worte hörte der Rhein und springt aus den Höhlen hervor, die Woge dröhnt, der Fluss rauscht traurig, als [plötzlich] ASTRAEA durch die himmlischen Lüfte gleitend [herbei] fliegt. Sie sagte: „Lass ab, Vater! ER LEBT UND HAT DIE STERNE INNE.“]

Henriette Harich-Schwarzbauer

Paul Schede (Paulus Melissus) – Rhene felix! Eine poetologische Lektüre Der Rhein wird von Paul Schede/Paulus Melissus (1539–1602) bereits in seiner ersten Gedichtsammlung von 1574 in sapphischen Strophen hymnisch gefeiert. Der Fluss wird in dieser Ode, mit der die Kulturträchtigkeit des Mittelrheins unter Einbezug der Gebiete von Main und Mosel verherrlicht wird, zum Mittelpunkt einer Region, um die Transferfunktion dieses Stromes aufscheinen zu lassen. In der langen Tradition der lateinischen Flusspoesie, über die man kulturelle Zugehörigkeit, kulturelle Differenz oder Hegemonie artikuliert, stellt dieses Gedicht keine Ausnahme dar. Der Tiber in Vergils Aeneis (7,30–36; 8,26–96), die Mosella des Ausonius oder Claudians Nil-Epyllion liefern vorbildliche Beispiele, nicht zu vergessen die ‚statische‘ Tiber-Ekphrasis in Claudians Gedicht zum Konsulatsantritt von Olybrius und Probinus (209–225). Der Rhein wird erstmals bei Martial (10,7) poetisch nobilitiert. Im Humanismus wird er zum Sinnbild kultureller Überlegenheit, nicht zuletzt, da an seinen Ufern der Buchdruck zu seiner ersten Blüte gelangte.1 Melissus nimmt den Rhein in dessen mittlerem Abschnitt in den Blick. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte, funktionalisiert er den Strom für seine Selbstdarstellung als Erneuerer der Poesie in Deutschland. Der Fluss wird zum Mittler einer Erneuerung, die durch die fruchtbare Begegnung Melissus’ mit den Vertretern der Pléiade angeregt wurde. Der vielseitige Dichter, ein gebürtiger Franke aus Mellrichstadt, der auch als Musiker und Komponist Geltung erlangte, war nach einem Studium in Jena über Königsberg in Unterfranken, wo er als Kantor tätig war, im Jahr 1561 nach Wien

1 Eine grobe Übersicht und Herleitung der humanistischen Rheinpoesie gibt Lothar Kempter: ‚Vater Rhein‘. Zur Geschichte eines Sinnbildes. In: Hölderlin Jahrbuch 19 (1975), S. 1–35. Kempter (1–10) sieht in Konrad Celtis (ep. 2,56) den Archegeten einer üppigen Rheindichtung, in welcher der Strom als ‚Vater‘ apostrophiert wird. Vgl. aber Celtis, Amores 3,13,1–4, der enger fokussiert, um Mainz mit der Einmündung des Mains als Ort der Erfindung des Buchdrucks zu rühmen. Die ‚Rheinarme‘ Mosel und Main werden von Celtis in dieser Elegie nicht zueinander Verbindung gebracht, um ein gemeinsames Territorium abzustecken. DOI 10.1515/9783110400281-011



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gekommen. Dort krönte ihn Kaiser Ferdinand I. zum poeta laureatus.2 Es folgten Aufenthalte in Wittenberg und Paris, wo er mit der Pléiade, allen voran mit Pierre de Ronsard Kontakt pflegte.3 Besançon und Genf wurden weitere wichtige Stationen seiner ersten ‚Wanderjahre‘, bevor er am Rhein eine zweite Heimat fand.4 Im Jahr 1570 wird Melissus nach Heidelberg an den Hof der Pfalzgrafen gerufen und mit der Übersetzung des lateinischen Psalters ins Deutsche beauftragt. In Heidelberg bleibt er vorerst bis zum Tod des Pfalzgrafen Friedrich III. Eine Reise nach Italien (1577–1580) folgt. Besonders hervorzuheben ist Melissus’ Bemühen, am englischen Hof Fuß zu fassen. 1585–1586 verbringt er in England und feiert Elizabeth I. in höfischen Oden, ohne aber das Vorhaben, ihr Hofpoet zu werden, das damit verbunden ist, umsetzen zu können. Er kehrt schließlich 1586 nach Heidelberg zurück und wird dort Leiter der Biblioteca Palatina. Das Fürstenhaus mit Pfalzgraf Johann Casimir, der die Restauration des Lutheranismus durch seinen Vorgänger Ludwig VI. (1576–1783) wieder rückgängig macht, besingt er in den Odae Palatinae. Das poetische Werk des Melissus ist überaus vielfältig und umfänglich, sodass er bereits ab 1575 mit der Drucklegung erweiterter Editionen befasst ist. Vieles ist verloren gegangen.5 Mehrere seiner Oden fanden in die Anthologie Delitiae poetarum Germanorum (1612) des Janus Gruter Eingang.6 Von den Zeitge-

2 Eine aktualisierte Werkbiographie bei Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel, Hermann Wiegand: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und Deutsch. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit. Abt. 1. Literatur im Zeitalter des Humanismus und der Reformation 5 / Bibliothek deutscher Klassiker 146), S. 1395–1402 (im Folgenden zitiert als ‚Humanistische Lyrik 1997‘). 3 Melissus übersetzte mehrere Gedichte Ronsards ins Lateinische. Vgl. Philip Ford: The Judgment of Palaemon. The Contest between Neo-Latin and Vernacular Poetry in Renaissance France. Leiden, Boston 2013 (Medieval and Renaissance authors and texts 9), S. 186–190. 4 Pierre de Nolhac (Un Poète Rhénan, ami de la Pléiade: Paul Melissus. Paris 1923 [Bibliothèque littéraire de la Renaissance 2,9]) arbeitet an Melissus den Poeten des Rheinlandes heraus, wobei er dessen Nähe zur französischen Kultur und zu den Poeten der Pléiade betont, vor allem aber den Umstand hervorhebt, dass einige von Melissus’ Werken in Paris und Frankfurt gedruckt wurden. Hier insb. S. 5. 5 Ralf Czapla hat im Rahmen unserer Tagung in diesem Zusammenhang an die Arbeiten von Ludwig Krauß (Paulus Schede Melissus. Sein Leben nach den vorhandenen Quellen und nach seinen lateinischen Dichtungen als Beitrag zur Gelehrtengeschichte jener Zeit. 2 Bde. Nürnberg 1918) erinnert, die nach wie vor der Bearbeitung harren. 6 Vollständiger Titel: Delitiae Poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium. Über die Werkteile, deren Veröffentlichung wie auch die verlorenen Dichtungen des Melissus siehe die wertvolle Übersicht bei Eckart Schäfer: Die „Dornen“ des Paul Melissus. In: Humanistica Lovaniensia 22 (1973), S. 217–255; hier S. 217–226 sowie ders.: Deutscher Horaz. Konrad Celtis – Georg

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nossen wurde Melissus für sein lateinisches Werk gewürdigt, in die Literaturgeschichte jedoch ging er als Wegbereiter der deutschsprachigen Lyrik ein. Die Fassung der Ode an den Rhein, die hier besprochen wird, ist in der Zeit des ersten längeren Aufenthalts in Heidelberg, also noch vor dem Jahr 1574 entstanden. Demnach ist sie nicht als Dankgeschenk an die Gönner einzustufen, die Melissus nach langer Abwesenheit in den 1580er Jahren Sicherheit, Renommee und definitive Zugehörigkeit schenkten. Vielmehr ist das Poem einer Schaffensperiode zuzurechnen, die einen aufstrebenden Melissus zeigt, welcher von der Pléiade inspiriert dabei war, sich an dem Siebengestirn zu messen. De Nolhac zeichnet in diesem Zusammenhang die Biographie eines Dichters, welcher seine herausragende Bedeutung dem Einfluss dieser französischen Poeten verdankt.7 Die nach wie vor maßgebliche Werkbiographie des Melissus, die auf den Arbeiten von Eckart Schäfer fußt, korrigiert dieses etwas einseitige Bild und zeichnet viel differenzierter den Weg des Dichters, der sich schrittweise von der Elegie und der Epigramm-Poesie entfernt und zum hohen Genuss, zur Ode in der Traditionslinie des Horaz tendiert, um sich später, insbesondere in den Meletemata, im Gefolge Pindars wiederzufinden. Melissus’ Begeisterung für die Odenform wird mit Recht mit seiner Begegnung mit den Dichtern der Pléiade in Verbindung gebracht. In diesen werkbiographischen Kontext ist auch die Erstfassung seiner Ode an den Rhein einzuordnen, die – allerdings ohne nähere Begründung – bereits von Pierre de Nolhac als Bekenntnis des Dichters zu seiner symbolischen Heimat am Rhein verstanden wurde.8 Das Gedicht wurde, wie bereits erwähnt, in seiner ersten Gedichtsammlung, den Schediasmata poetica, 1574 veröffentlicht.9 Diese Fassung liegt der nachfolgenden Interpretation zugrunde. Eine um zwei Strophen erweiterte Version, in welcher der ‚Rhein der Altertümer‘ besungen wird, ging in die Gedichtsammlung Schediasmata poetica, secundo edita multo auctiora. Paris 1586 ein. Eindrücke

Fabricius  – Paul Melissus  – Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976, S. 65–106. 7 De Nolhac (Anm. 4) zeichnet ein einseitiges Bild von der alles bestimmenden Inspiration Melissus’ durch die „nouvelle poésie de la France“. Ein sprechendes Beispiel für diesen Zugang findet sich z. B. auf S. 7. Unter anderem hebt de Nolhac S. 2 hervor, dass die Verbundenheit des Melissus mit Frankreich bei seinen Zeitgenossen zu seiner Herabstufung gegenüber Lotichius geführt habe. 8 De Nolhac (Anm. 4) druckt die Ode ohne Kommentar auf S. 6 ab. 9 Schediasmata poetica. Item Fidleri Flumina. Frankfurt a. M. 1574. Text und Übersetzung in: Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand (Hgg.): Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und in der alten Kurpfalz. Lateinisch – Deutsch. Heidelberg 1969, S. 59–63.



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von Melissus’ Italienreise und seiner Begegnung mit den Monumenten der Antike dürften die Ergänzung veranlasst haben.10 Dass sich Melissus mit seinem Gedicht nicht nur im Konzert der vielerorts aufblühenden Flussdichtung bewegt, sondern auf eigene Gedichte rekurriert, wird im Folgenden noch erläutert werden.11 Mit der Wahl der Odenform setzt sich Melissus von Flussepen mit didaktischem Anspruch wie dem Gedicht Felix Fidlers, das im Anhang zu seinen Schediasmata 1574 gedruckt wurde, offensichtlich ab.12 Seine Ode an den Rhein ist in neun sapphischen Strophen gebaut. Die erste Strophe verkündet in panegyrischem Ton: Rhene, Nympharum pater, amniumque Rex, quot Almanis dominantur oris; Sic suas Maenus tibi, sic Mosella Misceat undas. [Rhein, Vater der Nymphen, König der Flüsse, so viele im Gebiet der Alemannen herrschen. So möge sich auch der Main und so möge sich die Mosel mit deinen Wogen vermengen.]13

Programmatisch wird die Herrschaft des Rheins verkündet. Mosel und Main, wichtige Zuflüsse im Grenzbereich vom Oberrhein zum Mittelrhein, umgreifen gleichsam das Einzugsgebiet des Flusses, das im Gedicht verherrlicht wird. In eben diesem Gebiet wird die persona des Dichters nun, den Rhein stromabwärts fahrend, an ihr Ziel gelangen. Der einleitende Elfsilbler wandelt Martial 10,7,1 (nympharum pater amniumque, Rhene …) ab.14 Die Bitte des Tibers an den Rhein, Traian sicher nach Rom zurückzusenden, führt im Epigramm zu einer unerwarteten abschließen-

10 Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Tilg in diesem Band. 11 Verwiesen sei beispielhalber auf das Rheingedicht des Johannes Posthius (Parerga poetica 1, S. 184 f., hier zitiert nach Humanistische Lyrik 1997, S. 734 f. (Sehnsucht nach dem Rhein während einer Italienreise). Posthius war mit Melissus seit 1567 bekannt. Er wurde 1585 als Leibarzt an den Hof des Pfalzgrafen Casimir nach Heidelberg berufen. Dort intensivierte er bestehende Verbindungen zu Melissus (vgl. Humanistische Lyrik 1997, S. 1365). 12 Fidler gestaltet einen Flüsse-Katalog. Der Rhein (acht Distichen) wird als nicht überbietbar dargestellt, vergleichbar allein mit dem Tiber in der Antike. Fidler nimmt die zwei Quellflüsse des Rheins in den Blick, die Rheinstädte Chur und Konstanz, mit dem unvermischten Durchqueren des Rheins durch den Bodensee und durch die Ostschweiz. Das Lob gilt dem antiken Raetien: Rhetia auriferi Rheni dicitur esse parens (15–16). 13 Übersetzung aller zitierten Melissus-Texte: Harich-Schwarzbauer. 14 Vgl. Beate Czapla, Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ Rhenus et eius discriptio elegans und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jb. für internationale Germanistik 30 (1998) 2, S. 14, Anm. 31.

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den Pointe. Martials Gedicht steht im zehnten Buch, einem Buch, in dem das lyrische Ich sein Selbstverständnis als Dichter und zugleich seine soziale Stellung thematisiert und Herrscherpanegyrik damit verknüpft: Die links- und die rechtsrheinischen Gebiete befinden sich dank Traian wieder unter römischer Herrschaft, der Rhein ist wieder im Besitz seiner beiden „goldenen Hörner“ (6: cornibus aureis receptis), er ist nicht Trennlinie, sondern verbindet. Somit kann er sich an seinen klaren Fluten (3: sic semper liquidis fruaris undis), die als Symbol römischer Kulturhoheit gelesen werden können, wieder erfreuen. Nicht länger sind die Barbaren, die mit dem Wagen des Rinderknechts assoziiert werden, der im Winter ungehindert den Rhein als Grenzfluss überquert, diejenigen, die den Rhein zu einem ‚durchlässigen‘ Fluss machen. In der durch Flüsse symbolisierten Herrschaftsgeographie der römischen Kaiserzeit lässt Martials Tiber keinen Zweifel daran, dass der Rhein ihm untertan und Rom das Zentrum des Imperium ist, indem er den Rhein mit dem Schutz des Kaisers Traian beauftragt: Thybris te dominus rogat.15 Bereits in der ersten Strophe grenzt also Melissus den geographischen Raum ein, den er zu preisen beabsichtigt. Durch die Alliteration und das Enjambement (3–4: Maenus … Mosella / misceat undas) wird dieser Aspekt noch unterstrichen. Die kulturgeographische Bedeutung der Mosella, die Ausonius mit seinem Moselgedicht inauguriert hat, ist allseits bekannt und muss hier nicht näher erläutert werden. Erwähnenswert ist aber, dass Ausonius in seinem Ordo urbium nobilium den Rhein als Kulturlandschaft herabmindert und ins Reich der Barbaren rückt. Wie nicht anders zu erwarten, wird die Kulturhoheit – dies meint speziell den Vorrang der Dichtung – seiner Heimat und Bordeaux zuerkannt: … nec enim mihi barbara Rheni ora nec arctoo domus est glacies in Haemo. (Ordo urbium nobilium, 6–7) [Nicht ist für mich das barbarische Ufer des Rheins, nicht das Eis im Haemus im Norden mein Zuhause.]

Zudem ist Melissus wie Ausonius mit Städtelob-Poesie hervorgetreten. Seine 1585 edierten Epigrammata In urbes Italiae lassen, wie Gedichte auf seine Herkunft aus Franken, eine Befassung mit diesen antiken Vorbildern erkennen. Demzufolge ist nicht auszuschließen, dass er auch den Ordo urbium nobilium des Ausonius kannte und mittels des Rheinmotivs den Diskurs um die Kulturhoheit qua Dichtung weiterschrieb. Dass Melissus auf Felix Fidler reagiert, dessen Flumina die Ausgabe seiner Schediasmata von 1574 ‚komplettieren‘, ist wenig wahrschein-

15 Martial 10,7,9.



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lich. Fidler lässt den Rhein ohne Umschweife in seinem Mündungsgebiet eintreffen, sobald er die Schweiz (Raurica rura) verlassen hat. In Melissus’ Ode verbindet sich die Huldigung an den Rhein mit dem Schicksal des lyrischen Ich. In einer Apostrophe an den Fluss äußert dieses die Bitte, er möge es sicher zu einem Glück verheißenden Ziel führen. Der Rhein wird in den Versen 5–6 als bislang stürmisch charakterisiert. Indem er seine Gewalt abschwächt, kann er den Dichter und die begleitende Mannschaft des Kahns zu einem sicheren Hafen hinführen (7–8: me … fasello / devehe salvo) und Dichtung anstoßen. Mit dem Begriff für das kleine Boot, fasellus, ruft der Dichter Catull (c. 4) in Erinnerung, bei dem die sichere Fahrt auf kleinem Kahn für das poetische Selbstverständnis des lyrischen Ich und für seinen inzwischen festen Platz (versinnbildlicht durch den alten Kahn in seiner Heimat, am lacus Benacus) im Dichterkanon steht. Damit klingt implizit ein Motiv an, das Melissus mit der RheinOde wieder aufnehmen will. Wie Catull wünscht er, mit seinem kleinen Boot in einen schützenden Hafen zu gelangen und als Dichter anerkannt zu sein. Durch sichere Flussfahrt kann, so das Versprechen, dem Rhein der ihm gebührende Dank, seine Verherrlichung, abgestattet werden. Das lyrische Ich stellt in Aussicht, als Gegengabe für das sichere An-Land-Gehen die Rheinlandschaft zu besingen. Es möchte den Rhein als sanft fließenden Strom besingen, (nur) so könne er zum adäquaten Sujet einer Ode werden.16 Damit unterscheidet sich Melissus u. a. von Konrad Celtis, der in Elegie 3,13 den Rhein in seiner für ihn typischen Gewalt zeichnet, die nicht nur durch Anspielungen auf seine Herkunft aus den Alpen wiederholt evoziert wird.17 Hauptmotiv des Rheinlobs sind in der Ode die Fruchtbarkeit und Zeugungskraft des Flusses, zuerst die Üppigkeit der Natur, die geradezu von reicher Ernte strotzt und immer wieder Neues hervorbringt (10–11: frugesque novas  / hortos frugibus foetos), davon abgeleitet die Rheinlandschaft in ihrem Reichtum, der von Menschenhand geschaffen ist. Augenfällig wird der Reichtum in prächtigen Städten, glückselig machenden Landgütern und Burgen, die eingebettet in Wälder und ausgestattet mit lebendigem Quell (15–16: vivo / fonte) hervorleuchten. Anklingt das Motiv einer sich selbst erneuernden, sich durch Fruchtautomatismus erhaltenden Natur eines Goldenen Zeitalters. Das Attribut „glückselige

16 Melissus könnte mit dem Motiv des stürmischen Flusses 5–6 (mitte turgentes violenter fluctus / mitte conceptas violenter iras) auf die epische und didaktische (Rhein-)Poesie anspielen, die er hinter sich lassen will. 17 Vgl. Elegie 3,13,1: Rhene, Mogunciacam rapidus qui tendis ad urbem …; 68: … quam rapidus vortex sevaque syrtis habet (Lorelei); 77–78: hic pater alme tuo posco sis numine praesens  / ne navem refluo sorbeat unda freto … (Moselmündung).

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Landgüter“ (12–13: beatis / villulis) vermag dieses Charakteristikum pointiert zu benennen. Insgesamt ergibt sich das Bild einer Gegend, die sich durch ihr schöpferisches Potential und die ihr eignende Kraft, Neues zu schaffen, darunter auch, die Poesie zu erneuern, auszeichnet. Die fünfte der insgesamt neun Strophen beginnt mit der Sphragis des Dichters (17: melici Melissi). Sie bildet die Mittelachse des Gedichts und bringt einen thematischen Umschwung. Ab nun steht das (literarische) Schaffen, das dank der sicheren Flussfahrt möglich wird, im Vordergrund. Das lyrische Ich spricht von der Aussicht darauf, mit der Inspirationsgottheit seiner Dichtung in Kontakt zu treten. Die Muse, die als Ursprung seines künstlerischen Tuns angesprochen wird, wird mit genitiva diva, Muse der (gemeinsamen) Herkunft, apostrophiert (18).18 Sie wird sehr allgemein verortet, ihr Wohnsitz befindet sich in einer Grotte. Bezeichnend ist, dass sie von Melissus nicht etwa am Quell des Rheins angesiedelt wird. Indes wird sie als Instanz eingeführt, die mit dem Ich des poeta eine Kommunikation aufnehmen möge: Zart würde die Luft seine Lieder an ihr Ohr dringen lassen und einen Widerhall erzeugen. Gemeint ist damit wohl das Echo, also das Wohlgefallen, das die Verse bei der Göttin und damit am neuen Ort seines Wirkens hervorrufen würden. Dank ihrer Responsion würde Thaleia19 seine lesbischen Gesänge den Fürsten und den Vornehmen der Pfalz übermitteln, die einst aus dem fränkischem Königsgeschlecht herkamen. Mit dieser sechsten Strophe trägt Melissus erneut einer panegyrischen Absicht Rechnung. Er bindet die Bedeutung der pfälzischen Kurfürsten an die Bekanntheit seiner Oden. Erst durch die Dichtung wird dem Fürstenhof der ihm gebührende Ruhm zuteil. Beachtenswert ist an dieser Stelle, dass der Tonfall wechselt. Der Wunsch wird zur greifbaren Realität (pandet). Zugleich fällt auf, dass die Herkunft der Pfalzgrafen von den Franken abgeleitet wird. Dadurch wird der Anspruch erhoben, gleichsam eine Rückführung und eine spezifische Zusammenführung einer Kultur an ihren am Rhein und der Pfalz angestammten Ort zu vollziehen. Während zuvor ein den Rhein beidseitig umgreifendes und durch ihn zusammen gehöriges Territorium im Vorder-

18 Mit Musa genitiva wird auf die gemeinsame Herkunft der neuen Dichter Frankreichs und Melissus’ hingezeigt. Sie steht gemäß Melissus im Gegensatz zur ‚älteren‘ Inspirationsquelle der deutschen Poesie mit ihren Vertretern Celtis, Hutten und Lotichius. Vgl. unten Melissus’ Ode auf Ronsard, V. 18: Nymphae poëtas indigenae sacros. 19 Mit Thaleia – beachtenswert ist die griechische Form – wird die Muse der komischen Dichtung zur Muse schlechthin verallgemeinert. Passend zur Verpflanzung der lesbischen Poesie an den Rhein könnte aber auch auf die Meeresnymphe Thaleia im Gefolge des römischen Meeresgottes Neptun (vgl. Verg. Aen. 5,826) angespielt sein.



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grund gestanden hatte, wird nun eine genealogische Zusammengehörigkeit über die Pfalzgrafen und mittels der Literatur behauptet. Diese Genealogie der Franken aktualisiert Melissus auch in einer Ode auf Pierre de Ronsard, die aus derselben Schaffensperiode wie die Rhein-Ode stammt.20 Über diese Genealogie leitet Melissus den ihm gebührenden ersten Rang unter den Dichtern Deutschlands her. Er legitimiert diesen Rang insbesondere über Pierre de Ronsard, das führende Haupt der Pléiade, und reklamiert für sich das Verdienst, der Erneuerer der Poesie in Deutschland zu sein. Im Einzelnen führt er in dem Gedicht auf Pierre de Ronsard aus, dass sich nicht nur die Flüsse Galliens staunend aus ihren Betten recken, als sie dessen Poeme vernehmen, sondern dass auch der Main mit gespitzten Ohren zuhört, wenn Melissus Verse (nach Art) Ronsards singt: V. 1–4; 17–21: Non Gallia tantum, scita gravis soni, Te patriorum litora fluminum Ronsarde, clarae personantem Pectinibus citharae stupescunt: Maenus refusus Franciacus vadis, Me musico, odas cornibus ad tuas Sollerter elatis serenam Attonita bibit aure vocem. … … Quam fuerant prius Nymphae poëtas indigenae sacros Et Celtin Huttenumque, & ipsum Lotichium quoque prosequutae Philtris amantes … [Nicht bloss die Ufer der Flüsse deiner gallischen Heimat, die den erhabenen Ton bereits kennen, bestaunen dich, Ronsard, wie du der hell tönenden Leier Saiten erklingen lässt. Auch der fränkische Main lässt seine Fluten zurückströmen, wenn ich deine Oden singe. Er reckt seine Hörner aufmerksam empor und trinkt den hellen Ton mit betörtem Ohr … wie die einheimischen Nymphen früher den geheiligten Dichtern, Celtis, Hutten und selbst Lotichius Liebestrank zugereicht haben …]

Ronsard hatte in seiner Franciade, deren erste vier Bücher 1572 veröffentlicht worden waren, eine mittelalterliche Überlieferung wieder belebt: Ein Sohn Hektors habe das Königreich der Franken gegründet, wonach die Franzosen auf

20 Ad Petrum Ronsardum Vindocinum. Schediasmata poetica I, S. 251–253. Hier zitiert nach Humanistische Lyrik 1997, S. 772–776; S. 1415–1418 (zum Einfluss Ronsards auf Melissus).

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die Franken zurückgehen. In der Ode auf Ronsard, die in die Schediasmata 1574 aufgenommen wurde,21 spielt Melissus auf diese Konstruktion der Frankengenealogie an.22 Die letzte und entscheidende Instanz in dieser genealogischen Konstruktion ist für Melissus der Mittler Rhein, der den Main, wie bereits in Vers 3 in Aussicht gestellt worden war, in seinen Lauf aufnimmt und mit ihm den gebürtigen Franken Melissus.23 Der Eingangsvers von Strophe 16 hebt die zentrale Stellung des Rheins unter den Flüssen mit einer weiteren Apostrophe hervor: te sed in primis cano, Rhene, felix (25). Es folgt eine Huldigung an den Strom, der an beiden Ufern Wein hervorbringt. Für Melissus ist er Sorgenlöser und Inspirationsquell in einem. Damit gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass er am Hofe der Pfalzgrafen Aufnahme finden und dort mit seinem Kahn sicher an Land gehen könne. Der Rhein bietet auch seiner Inspirationsgottheit Heimat, die an seinen Ufern ihren Altar hat, nämlich Bacchus. Das dreifache, anaphorische Bacchus in der vorletzten Strophe unterstreicht die Einzigartigkeit des Rheins und mit ihm die Pfalz als die Gegend, in der sich die Dichtung immer wieder erneuern wird. Bekräftigt wird diese Aussage zuletzt auch durch die Wahl des archaisierenden heic (31), welches den Ewigkeitsanspruch, der dieser Erneuerungspotenz zukommt, das perpete ritu (32) vorbereitet. Das kreative Potential, das dieser Rheingegend innewohnt, affiziert das lyrische Ich. So profitiert denn auch Melissus von der inspirierenden Kraft des Rheins, der Dichtung und Musik anregt. Die Rheingegend wird in dieser Ode sehr allgemein gezeichnet. Hügel, Berge, Täler und Ufer werden stellvertretend für die Landschaft evoziert, ohne jegliches schmückende Epitheton. Nur Bacharach als Ort, an dem der Altar des Bacchus seit jeher kultisch verehrt worden sei, wird mittels einer Anspielung auf eine alt hergebrachte Etymologie näher situiert.24 Die abschließende 19. Strophe erklärt den Rhein mit seiner Weinlandschaft zur Inspirationsquelle für Dichter und auch Komponisten. Die sichere Beendigung der Rheinfahrt ebendort garantiert Melissus den Aufstieg zum Lyriker, der auf symbolischer Ebene mit dem Wechsel vom Bier zum Wein definitiv vollzogen wird: Cereris valete / cocta (34–35). Die Selbstnobilitierung, die mit diesem Wechsel zum Ausdruck gebracht wird, impliziert

21 Vgl. Humanistische Lyrik 1997, S. 1416. 22 36–37: Stirpis & Hectoreae architectum / Gaudens salutat Francia nobilis … 23 Im Epicedium auf den Tod der Mutter Otilia, das Melissus an Joseph Scaliger schreibt, lässt er die Main-Nymphen den Tod der Mutter beklagen: Dicite Maeniades funebria carmina Nymphae: / occidit antiqua femina rara fide (In obitum Otiliae Melissae, matris suavissimae, 29–30; 53–54 (Text: Humanistische Lyrik 1997, S. 814–824). 24 Zu Bacharach als Altar des Bacchus vgl. die Anmerkung in der Übersetzung von Wolfgang Schiebel in: Parnassus Palatinus (Anm. 9), S. 239 f.



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das Bekenntnis zum hohen Genuss, zur Lyrik. Im ewigen Fließen des Rheins möge, so der Wunsch des lyrischen Ich, die Erinnerung an Melissus fortleben: tu vatis memor, i perenni / Rhene meatu.

Der Rhein als Achse einer res publica literaria

Hans Schönemann

Wie ein Gelehrter reisen soll: Reiseregeln und Lob des Niederrheins in Georg Loys’ Schrift Pervigilium Mercurii Der Niederrhein und die an diesem Stromabschnitt gelegenen Städte Köln, vor allem aber Leiden, werden von Georg Loys in seiner Schrift Pervigilium Mercurii mit einer speziellen Perspektive beschrieben.1 Die Nachtwachen des Merkur, wie man den humanistisch geprägten Titel übersetzen könnte, beschäftigen sich nämlich mit dem für Merkur bzw. Hermes typischen Themenbereich des Wanderns: Das kleine, handliche und zum Mitnehmen auf Fahrten gut geeignete Buch bietet Regeln für sinnvolles Reisen. Damit steht es im Zusammenhang der so genannten apodemischen Literatur, die, entstanden in der Zeit des Humanismus, die recht verstandene peregrinatio academica schildert, also die Reisetätigkeit von Gelehrten und Studenten, die dem geistigen Austausch an Standorten berühmter Universitäten und Wohnorten anerkannter Wissenschaftler diente.2 Als Beispiel dafür, wie einige der von ihm referierten Regeln angewendet werden können, nennt Loys an exponierter Stelle seiner Schrift, nämlich am Schluss,

1 Georgii Loysii Curiovoitlandi Pervigilium Mercurii, Quo in agitur De Praestantissimis Peregrinantis Virtutibus Et Qua ratione unusquisque citra majorem difficultatem exteras peragrare provincias, regiones adire exoticas, & cum cujusvis conditionis hominibus, benè & honestè conversari possit. Praeterea Addita sunt Carmina politissima a Ios: Scaligero Iul. Caes. F. Iano Dousa, & Karol. Kar. Utenhovio scripta. Hof 1598.  – Weitere Ausgaben: Speyer 1600; Straßburg 1608 (an: Henrik Rantzau: Methodus Apodemica Seu Peregrinandi Perlustrandique Regiones, Urbes, & Arces Ratio); Wittenberg 1631; Frankfurt 1644; Leiden 1661 und 1667 (an: Gottfr. Hegenitii Itinerarium Frisio-Hollandicum Et Abr. Ortelii Itinerarium Gallo-Brabanticum …). Vom Verfasser verwendete Ausgabe: Leiden 1667. Die Ausgaben von 1608 und 1644 sind in digitalisierter Form zugänglich bei: Staatsbibliothek Bamberg, Bayerische Staatsbibliothek München, Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Staatliche Bibliothek Regensburg, Staats- und Landesbibliothek Dresden, Österreichische Nationalbibliothek. Auf längere Textzitate wird deshalb an dieser Stelle verzichtet; die genannten Stellen können durch die Angabe der jeweiligen Paragraphen den Digitalisaten zugeordnet werden. 2 Zu apodemischer Literatur siehe Justin Stagl: Die Apodemik oder „Reisekunst“ als Methodik der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung. In: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit: vornehmlich im 16.–18.  Jahrhundert […]. Hg. von Mohammed Rassem, Justin Stagl. Paderborn u. a. 1980, S. 131–203; Justin Stagl: Ars Apodemica: Bildungsreise und Reisemethodik von 1500 bis 1600. In: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von Xenja von Ertzdorff, Dieter Neukirch. Amsterdam 1992 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 13), S. 141–189. DOI 10.1515/9783110400281-012

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die Stadt Leiden – latinisiert Lugdunum Batavorum – am Niederrhein. Auch mit dieser speziellen Anordnungstechnik steht der Verfasser in vorgegebener apodemischer Tradition.3 Insofern gilt es, die Besonderheiten der Apodemik und Loys’ spezieller Darstellungstechnik zu skizzieren, um das Bild des Niederrheins und von Lugdunum richtig erfassen zu können. Wichtig sind aber auch die biographischen Umstände des Verfassers, die mit der Entstehung seiner Schrift eng verknüpft sind. Die Frage, wie der Autor zu seinem Thema kam, lässt sich im Fall von Georg Loys mit Blick auf sein nur kurzes Leben leicht beantworten.4 Loys, geboren 1575 in Hof, 1602 dort gestorben, Schüler des Gymnasiums in Hof und erfolgreicher Absolvent der Fürstenschule in Heilsbronn,5 nimmt ab 1593 ein Jurastudium in Wittenberg auf, ist aber in den Jahren bis 1598 auch an den Universitäten von Altdorf, Ingolstadt, Köln und Leiden immatrikuliert. Der begabte Student hat an allen Orten maßgebliche Gelehrte und Schriftsteller auf sich aufmerksam gemacht und als Förderer für sich gewonnen. Dasselbe gilt auch für die erste Phase seiner beruflichen Tätigkeit am Reichskammergericht in Speyer. Loys wird auf diese Weise im Rheinland, vor allem in Leiden und später in Speyer, in ein Netzwerk von Humanisten, gewissermaßen in eine rheinische res publica literaria aufgenommen, die unten noch näher zu untersuchen sein wird. Loys’ vielfältige Reisen

3 Jedenfalls lässt sich diese Anordnungstechnik bereits bei zwei wichtigen Vorgängern von Loys erkennen, nämlich bei Hieronymus Turler in dessen Werk De Peregrinatione et Agro Neapolitano Libri II. Straßburg 1574 – das beispielhaft beschriebene Hinterland von Neapel ist bereits im Titel angekündigt – sowie bei Theodor Zwinger, der im letzten Teil seiner Methodus Apodemica. Basel 1594 gleich vier Städte, Athen, Basel, Paris und Padua exemplarisch schildert: Vgl. auch Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 131–134. 4 Für die Biographie von Loys sind maßgeblich: Wolfgang Seidel: Stadium Vitae Georgii Loysii Curia-Varisci, Viri-Juvenis Clariß: Debitae, ideoque pietatis memoris Amore; styli, quali quali, honore denuo decursum à Wolgango Seidelio Amico. Hof 1609. Signatur der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha: Phil. 8° 01013/02 (03); als Digitalisat zugänglich: https:// archive.thulb.uni-jena.de/ufb/receive/ufb_cbu_00002704 [Digitale Historische Bibliothek Erfurt/Jena]. Signatur der Universitäts- und Landesbibliothek Jena: 8 Art. lib. VIII,24(6). Johann Heinrich Zedler: Großes Vollständiges Universallexicon […]. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732–1754. Bd. 18 (1738), Sp. 609; Georg Wolfgang Augustin Fikenscher: Gelehrtes Fürstenthum Baireut […]. Bd. 1–6, hier Bd. 5. Nürnberg 1803, S. 321 f. Vgl. auch: Hans Schönemann: Das Gymnasium Albertinum in Hof (1546–1811). Eine Gründung aus dem Geist des Humanismus und der Reformation (Classica et Neolatina. Hg. von Rudolf Rieks. Bd. 5). Frankfurt/M., Berlin, Bern u. a. 2012, S. 219–224. 5 Zum Gymnasium Hof siehe: Schönemann (Anm. 4). Zur Fürstenschule Heilsbronn siehe: Stefan Ehrenpreis: Fürstenschulen für das Bürgertum. Das Ansbacher Modell frühneuzeitlicher Landesschulen. In: Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Hg. von Jonas Flöter, Günther Wartenberg. Leipzig 2004, S. 185–194.



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zu Universitäten und Gerichten und die Aufenthalte dort – für ihn, den Hofer, ein Leben in der Fremde – bilden den persönlichen Erfahrungshintergrund für sein Buch über die peregrinatio academica. Geschrieben wurde es von ihm nach 1596 in Leiden, also am Ende seiner Studentenzeit und unmittelbar umgeben von den Eindrücken seiner gelehrten Reise- und Studientätigkeit. Ausgehend von den besonderen Merkmalen des Buchs lässt sich ein typisches Bild des Niederrheins in verschiedenen Facetten entwerfen. Auffällig an dem eigentlich schmalen Werk ist zunächst die ungewöhnlich große Zahl von Beiträgern, die mit Widmungsgedichten das Pervigilium Mercurii gewürdigt haben. Unter ihnen finden sich führende Juristen und vor allem bedeutende Humanisten, wobei zwischen beiden Gruppen meist keine klare Unterscheidung zu treffen ist. Fast alle werden auch in der Biographie von Wolfgang Seidel genannt, und zwar meistens im Zusammenhang mit Loys’ Aufenthalten in Köln und Leiden. So kann – mit Loys im Mittelpunkt – ein Bild der damaligen res publica literaria am Niederrhein zusammengesetzt werden. In einigen knappen Auszügen sei dies im Folgenden skizziert.

1 Die Gelehrtenrepublik am Rhein Seidel betont, dass Loys bei seiner Ankunft in Köln von den dortigen geistigen lumina, nämlich Karel von Utenhove und Simon Toelmann, freundlich und auch gastlich aufgenommen wurde.6 Utenhove war ein polyglotter Schriftsteller und Philologe mit weit reichenden Verbindungen in Humanistenkreisen,7 Toelmann

6 Seidel (Anm. 4), B 1r und 1v. 7 Melchior Adam: Vitae Germanorum Philosophorum […]. Frankfurt 1615, S. 444–446. Auf S. 445 wird berichtet, dass Utenhove den später berühmten Humanisten Janus Gruterus adoptierte, der als Leiter der Bibliotheca Palatina in Heidelberg hervortrat und mit Joseph Justus Scaliger eine damals umfassende Sammlung römischer Inschriften herausgab (vgl. Peter Fuchs: Gruter, Jan. In: NDB, Bd. 7 (1966), S. 238–240). Charakteristisch für Utenhoves umfangreiche und bestens vernetzte Tätigkeit als Philologe ist seine persönliche Teilnahme an der Edition der Psalmenparaphrase von George Buchanan: Psalmorum Davidis Paraphrasis poetica Georgii Buchanani Scoti […] Opera & studio Nathanis Chytraei […]. Siegen 1597. Utenhoves weit reichende Verbindungen werden besonders gut durch ein umfangreiches, leider noch nicht ediertes Konvolut von persönlichen Briefen (Signatur der Bibliothèque Nationale de France: MS. Lat. 18562), u. a. an Janus Gruterus, Justus Lipsius, Paulus Schede Melissus, Nicolaus von Reusner und Theodor Zwinger verdeutlicht.

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ein führender Jurist.8 Als Loys wegen einer Pestepidemie Köln Hals über Kopf verlassen musste,9 war er wohl schon von Utenhove weiterempfohlen worden. Jedenfalls wurde er an der Universität in Leiden von den dort führenden Juraprofessoren Everard von Bronckorst10 und Paul Merula11 mit offenen Armen empfangen.12 Offenbar fand er aber auch schnell Zugang zu dem Kreis um Joseph Justus Scaliger und Janus Dousa. Beide treten schon in der Erstausgabe von Loys’ Pervigilium Mercurii als prominente Beiträger auf, und Seidel betont, dass sie dessen Veröffentlichung dringend empfohlen hatten.13 Scaliger, als humanistischer Philologe europaweit anerkannt, fungierte in Leiden – in der Nachfolge von Justus Lipsius  – als Professor für Geschichte, allerdings ohne Lehrverpflichtung, und versammelte um sich einen Kreis von Schülern und Gelehrten.14 Auch mit Janus Dousa, dem die seltene Verbindung zwischen politischem, militärischem und dichterischem Erfolg gelang, stand er in Verbindung.15 Nach Loys’ eigener Aussage hatten Scaliger, Dousa und auch Lipsius eine hohe Meinung von ihm.16 Der junge Loys profitierte insofern sicher auch von

8 Simon Toelmann (1563–1630), siehe s. v. Catalogus Professorum Rostochiensium (http://cpr. uni-rostock.de/gnd/120539438, 19.06.2014). Zur Verleihung der juristischen Doktorwürde widmete ihm Utenhove eine Festschrift in Gedichtform: Carmina Gratulatoria Scripta In Honorem Simonis Toelmanni […]. Marburg 1588. 9 Seidel (Anm. 4), B 1v. 10 Zu Bronckorst siehe Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 167 Bde. und Suppl. Bde. Leipzig 1818–1889. Bd. 13, S. 88. 11 Franz Eyssenhardt: Merula, Paul. In: ADB, Bd. 21 (1885), S. 476. 12 Seidel (Anm. 4), B 2r. 13 Seidel (Anm. 4), B 3r. 14 Vgl. dazu die immer noch lesenswerte Biographie von Jacob Bernays: Joseph Justus Scaliger. Berlin 1855; Scaligers Wirksamkeit in Leiden wird beschrieben S. 53–90. 15 Pieter Lodewijk Muller: Johann van der Does. In: ADB, Bd. 5 (1877), S. 293 f. Neuerdings: Eckart Schäfer, Eckard Lefèvre (Hgg.): Ianus Dousa: neulateinischer Dichter und klassischer Philologe. Tübingen 2009 (NeoLatina 17). Zu Carmen I von Janus Dousa: Beate Czapla: Erlebnispoesie oder erlebte Poesie? Paul Flemings Suavia und die Tradition des zyklusbildenden Kußgedichts. In: Beate Czapla, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel (Hgg.): Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 77), S. 356–397. 16 Loys schreibt zu diesem Thema: […] triumviris istis magnis, rei publicae literariae directoribus, Scaligero, Lipsio, Dousae, […] qui & privatim & publicè me suis exornarunt meritis encomijs […]. Georgi Loysii Curio-Voytlandi Encomion Venetum. Cui adhaerescit Oratio Veneta De ortu Et Occasu Maximorum Imperiorum Guillelemi Verheiden Belgae. Straßburg 1600, A 2v. Auf die Schrift wird später noch genauer eingegangen werden.



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den vielfältigen Beziehungen dieser beiden Männer;17 vermutlich konnte er in diesem Rahmen auch die Kontakte vorbereiten, die für ihn einige Jahre später in Heidelberg wichtig wurden.18 Die Abfassung des Pervigilium Mercurii fällt ebenfalls in diese für Loys wohl sehr ertragreiche Zeit. Da er wegen des überstürzten Aufbruchs aus Köln nur wenig Gepäck mitnehmen konnte – und dieses Wenige ihm auch noch auf der Reise nach Leiden von räuberischer spanischer Soldateska weggenommen wurde – stellten ihm Professoren Fachbücher de peregrinatione zur Verfügung. So konnte er die Zeit als Ankömmling in Leiden sinnvoll verwenden, indem er seine apodemische Schrift verfasste.19 Warum er nicht sogleich seinen juristischen Studien nachging, obwohl er doch von Professoren der Fakultät ehrenvoll empfangen worden war, erklärt Wolfgang Seidel, sein Biograph, nicht näher. Vielleicht waren wichtige Unterlagen in Köln liegen geblieben und mussten erst nachgeschickt werden. Einen juristischen Abschluss absolvierte Loys aber in Leiden. Jedenfalls ist er kurze Zeit später bereits praktisch am Reichskammergericht in Speyer tätig.20 Der Zeitraum, den Loys in Köln und in Leiden verbrachte, kann nicht sehr lang gewesen sein. Auf Grund der in diesem Punkt sehr spärlichen Angaben von Seidel hat sich Loys längstens von etwa Mitte 1596 bis Mitte 1598 in den beiden Städten, länger vermutlich in Leiden, aufgehalten. Noch 1598 reiste er nach Hof zu seiner Familie zurück. In Hof bei Pfeilschmidt erschien auch die Erstausgabe seines später noch oft an anderen Orten aufgelegten Werkes.21 Nach diesem Aufenthalt begann Loys seine praktische juristische Tätigkeit. Er blieb dafür aber nicht in Hof oder im näheren Umkreis der Markgrafschaft Bayreuth, sondern trat eine Stelle am Reichskammergericht in Speyer an. Vermutlich bediente er sich dafür einer Empfehlung seiner Professoren an der Universität von Leiden, doch darüber äußert sich sein Biograph nicht. Umso deutlicher weist er darauf hin, dass Loys vor der Ankunft in Speyer in Heidelberg Station machte und dort freundlichst aufgenommen wurde,22 ver-

17 Die Verbindungen, die zwischen den einzelnen Persönlichkeiten bestanden, seien nur andeutungsweise durch zwei Beispiele veranschaulicht. Zum einen ist eine Buchausgabe zu nennen, die die Beziehung zwischen Dousa und Schede Melissus sowie Hadrianus Iunius verdeutlicht: Clariss. V. Iani Dousae & Pauli Melissi Musae Errantes. Accesserunt Hadriani Iunii Lugdunensia […]. Frankfurt 1616. Zum anderen eine Elegie von Schede Melissus, die ausdrücklich Scaliger gewidmet ist: Paulus Schede Melissus: Schediasmata Poetica. Paris 1586. Pars secunda. Elegiarum Liber V, die Elegie S. 143–149 spricht Janus Dousa an. 18 Seidel (Anm. 4), B 4r. 19 Seidel (Anm. 4), B 1r und 1v, B 3r; Loys: Pervigilium 1598 (Anm. 1), A 4r (Praefatio). 20 Seidel (Anm. 4), B 4v und B 5r. 21 Seidel (Anm. 4), B 1r–B 4v. 22 Seidel (Anm. 4), B 4r.

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mutlich auf Grund der Fürsprache von Scaliger und Dousa. Die damals bereits berühmten Dichter und Philologen Paul Schede Melissus23 und Janus Gruterus24 nahmen sich nämlich seiner an. Darüber hinaus kümmerte sich aber auch einer der höchsten politischen Beamten der Pfalz, der Jurist und kurfürstliche Geheime Rat Hippolytus von Colli25 um den Neuankömmling. Auch nun am Oberrhein, konnte sich Loys also auf die res publica literaria im Rheinland verlassen. Nach dem Aufenthalt in Heidelberg begann Loys seine Arbeit am Reichskammergericht in Speyer. Er selbst betont, dass einige dort tätige Assessoren ihn

23 Zu Paul Schede Melissus, einem neulateinischen Dichter, der aber auch als Übersetzer des Hugenottenpsalters ins Deutsche hervortrat und als Leiter der Bibliotheca Palatina in Heidelberg fungierte, siehe grundsätzlich Jörg-Ulrich Fechner, Hans Dehnhard: Melissus, Paulus. In: NDB, Bd. 17 (1994), S. 15 f. Eckart Schäfer: Schede, Paul. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walter Killy. 15 Bde. Gütersloh 1988–1993, hier Bd. 10, S. 167–169; dort ist auch weitere Fachliteratur genannt. Schäfer sagt von den oben, Anm. 17, zitierten Schediasmata, sie seien „mit der Vielzahl der fast systematisch angesprochenen Adressaten eine Art Who’s Who der europäischen Gelehrtenrepublik“. Zur Beziehung zwischen Schede Melissus und Loys’ Gönnern Dousa und Scaliger siehe Anm. 17. 24 Zu Janus Gruterus vgl. Fuchs (Anm. 7); Hermann Wiegand: Gruter, Gruterus, Jan. In: Killy (Anm. 23). Bd. 4, S. 397 f. Gruterus, Philologe, neulateinischer Dichter und Nachfolger von Schede Melissus als Bibliotheksleiter in Heidelberg, ist vor allem als Herausgeber der Inschriftensammlung Inscriptiones Antiquae Totius orbis Romani berühmt geworden. Bei dieser Edition hat er eng mit Joseph Justus Scaliger zusammengearbeitet. Die Autoren der Widmungsgedichte zu den Inscriptiones verdeutlichen die persönlichen Beziehungen von Gruter; sie stammen u. a. von Schede Melissus, Karel Utenhove, dem aus dem Kreis um Scaliger stammenden Dichter Daniel Heinsius, den beiden Altdorfer Juraprofessoren Konrad Rittershusius und Christoph Colerus, die ihrerseits Loys aus früheren Studienjahren in Altdorf kannten. Besonders treffend in diesem Zusammenhang ist das kurze Widmungsgedicht von Friedrich Taubmann, das die Leistung Gruters würdigt und zugleich die Vorarbeiten von Justus Lipsius und Joseph Justus Scaliger sowie von Henricus Smetius hervorhebt und so indirekt die Beziehung Gruters nach Leiden verdeutlicht. Wiegand bezeichnet Gruter dementsprechend „als Repräsentanten der Gelehrtenkultur der calvinistischen Heidelberger Gelehrtenschule, die enge Beziehungen zum niederländischen Gelehrtenhumanismus unterhielt“. Wiegand ebd., S. 397. Taubmann, der als Wittenberger Poetikprofessor nicht zu diesem rheinischen Kreis gehörte, verfasste übrigens auch eine Elegie auf Loys angesichts von dessen frühem Tod; vgl. Schönemann (Anm. 4), S. 223 f. Verwendete Textausgabe der Inscriptiones: Janus Gruterus, Joseph Justus Scaliger, Marcus Welser (Hgg.): Inscriptionum Romanorum corpus absolutissimum […]. Heidelberg 1616. 25 Emil Julius Hugo Steffenhagen: Colli, Hippolyt von. In: ADB, Bd. 4 (1876), S. 405 f. Neuerdings: Wilhelm Kühlmann: Hippolytus a Collibus (1561–1612), ein politischer Schriftsteller in Heidelberg, und der Zincgref-Kreis. In: Iulius Wilhelm Zincgref und der Heidelberger Späthumanismus. Heidelberg u. a. 2011, S. 451–469. Zur politischen Dimension von Collis Denken siehe auch Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012, S. 205–210. Durch die Beziehung zum Zincgref-Kreis stand Colli wohl auch in Verbindung mit Schede Melissus.



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zur zweiten Auflage seines Pervigilium Mercurii veranlassten.26 Wirklich wichtig wurde für ihn ein Besuch der Universität Straßburg, an der damals führende Juristen lehrten, vermutlich im Jahr 1599. Loys hatte zu diesen Kontakt und hörte wohl ihre Vorlesungen.27 Seidel nennt im Einzelnen Georg Obrecht,28 Johannes Lobetius,29 Bernhard Wurmser30 und Dionysius Gothofredus.31 Alle diese Personen treten auch für das Pervigilium Mercurii ab der zweiten Ausgabe in Speyer als Beiträger mit Widmungsgedichten auf.32 Beziehungen der Straßburger Gelehrten zu den Leidener und Heidelberger Humanistenkreisen sind allerdings, mit Ausnahme von Gothofredus, nicht erkennbar  – der Aufenthalt in Straßburg geht, nach Seidels Darstellung, auf die Empfehlung des Albert von Wildenstein zurück, vermutlich ein Bekannter von Loys aus Hofer Tagen.33 Aber auch ohne Nachweis persönlicher Beziehungen bleibt doch erkennbar, dass das Rheinland, hier die oberrheinische Tiefebene, in der Zeit um 1600 für Loys, den begabten jungen Juristen und Schriftsteller, ein entscheidender Ort für seine wissenschaftliche Ausbildung war. Gleichzeitig stellte es aber immer auch ein Forum für gesellschaftliche Kontakte dar. Dies gilt für Loys’ Begegnungen mit den Humanisten seiner Zeit, besonders aber für seine Bekanntschaft mit einem damals einflussreichen Politiker und Diplomaten.

26 Loys: Pervigilium1600 (Anm. 1), Praefatio. Von den dort genannten Assessoren, Adrian van Bork, Johannes Konrad Vhorburg und Jakob von Heydeck, lässt sich außer ihrer Tätigkeit am Reichskammergericht nichts mehr nachweisen. 27 Seidel (Anm. 4), B 5r. 28 1547–1612, Jurist in Straßburg, Staatsrechtler und besonders bedeutend als einer der Begründer der Lehre von der Policey. Joseph Fuchs: Obrecht, Georg von. In: NDB, Bd. 19 (1998), S. 404 f. Loys charakterisiert Obrecht folgendermaßen: Illi Iureconsulto celeberrimo, reipub. Advocato & Academiae nostrae Professorum principi … Loys: Encomion (Anm. 16), A 3v. 29 Angesehener Jurist in Straßburg. Klaus Karrer: Johannes Posthius. Werke mit Regesten und Biographie von Posthius. Wiesbaden 1993, S. 308 (Kommentar zu dem in einem Brief erwähnten Lobetius). 30 Vermutlich nachweisbar durch eine – mittlerweile schon digitalisierte – juristische Schrift: Practicae Observationes. Köln 1607 (Coautor: Hartmann Hartmanni). Von Loys wird er so beschrieben: Huic vita & rerum variarum experientia claro, prudentiaque politica praestanti […]. Loys: Encomion (Anm. 16), A 3v. 31 1549–1622, französischer Jurist und Philologe, Schüler von Petrus Ramus, Professor u. a. in Straßburg und Heidelberg, berühmt vor allem als Herausgeber der Corpus Iuris Civilis, längere Kontroverse mit Janus Gruterus wegen seiner Edition der Werke Senecas. Hans Liermann: Gothofredus, Dionysius. In: NDB, Bd. 6 (1964), S. 656 f. 32 Loys: Pervigilium1600 (Anm. 1). 33 Seidel (Anm. 4), B 5r. Albert von Wildenstein könnte der Sohn des damaligen Hofer Landeshauptmanns Adam von Wildenstein sein. Zu letzterem vgl.: Chronik der Stadt Hof. Bd. 4 (Ernst Dietlein: Kirchengeschichte). Hof 1955, S. 244, 252, 272.

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Der venezianische Gesandte Francesco Vendramin suchte, wohl im Rahmen eines offiziellen Staatsbesuchs, die Reichsstadt Straßburg auf und wollte Georg Loys sprechen; er hatte nämlich dessen Schrift über das rechte Reisen in der ersten Auflage gelesen und war davon beeindruckt. Offenbar nahm er sich ziemlich viel Zeit für den jungen Mann und bezog ihn auch in den offiziellen Empfang der Stadt Straßburg ein. Schließlich bot er ihm förmlich an, als diplomatischer Mitarbeiter in sein Gefolge einzutreten und stellte ihm eine weit reichende Karriere im Dienst der Republik Venedig in Aussicht. Dies wäre wohl das Tor zur großen Welt gewesen. Loys schlug dennoch das Angebot, in geziemender Form und mit dem Ausdruck größter Dankbarkeit aus, weil er nicht dem Willen seines Vaters zuwider handeln wollte.34 Immerhin machte die Aufmerksamkeit des hochadeligen venezianischen Staatsmannes35 so großen Eindruck auf ihn, dass er über die Begegnung einen eigenen literarisch geprägten Text mit dem Titel Encomion Venetum verfasste und veröffentlichte.36 Das Erstaunen von Loys, dass er, der junge, wenn auch viel versprechende Jurist und Gelehrte, Vendramins ausdrückliches Interesse erregte, ist freilich berechtigt. Eine Erklärung könnte in dem besonderen Charakter von Loys’ apodemischer Schrift liegen; sie machte ja den Gesandten erst auf Loys aufmerksam. Beiläufig sei aber auch darauf hingewiesen, wie gut der literarische Austausch in der Reichsstadt am Rhein offensichtlich funktionierte: Ein interessierter Leser findet den von ihm geschätzten Autor und kann direkt mit ihm in Verbindung treten.

2 Typische Merkmale von Loys’ Schrift Was war für Vendramin das Besondere an Loys’ Schrift? Grundsätzlich kam der Text seinen Interessen als reisender Gesandter entgegen: Apodemische Literatur gibt praecepta peregrinandi,37 also Anweisungen dafür, wie eine Reise sinnvoll gestaltet werden kann. So wird typischerweise ein Katalog von Fragen entwickelt,

34 Loys: Encomion (Anm. 16), A 2r–B 2v; Seidel (Anm. 4), B 5r und 5v. 35 Francesco Vendramin, wohl 1555–1619, war Patriarch von Venedig und ab 1616 Kardinal. Siehe Francesco Sansovino: Venetia. Città Nobilissima, Et Singolare […]. Venedig 1663, S. 75 f. (Zitat einer Widmungsinschrift für die nach einem Brand neu errichtete Kirche Santa Maria Celeste). Franciscus Stiller SJ: Annus Franciscorum Sive Historica eorum Ephemeris Eventuum […]. Prag 1680, O o 3, Nr. 316. 36 Loys: Encomion (Anm. 16). 37 Der Ausdruck ist entnommen aus Turler (Anm. 3). Zitiert nach Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 132.



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die zu beantworten Aufgabe des verantwortungsvoll Reisenden ist. Dabei sind natürliche, landeskundliche und im engeren Sinn politische Gegebenheiten zu beachten. Der Übersichtlichkeit halber wurden diese Aufgaben oft in Form eines ramistisch geprägten Schemas dargestellt. Auch Loys hat eine solche Übersicht in sein Werk aufgenommen und in programmatischer Deutlichkeit ganz an den Beginn seines Textes gestellt.38 Der Arbeit eines Gesandten, der ja nicht nur zu verhandeln hatte, sondern auch das fremde Land systematisch beobachten sollte, kam diese Art von Literatur sehr entgegen. Gerade in der Handelsrepublik Venedig, die Vendramin ja vertrat, ist diese Art von statistischer, also  – im ursprünglichen Sinn – den Staatsaufbau beschreibender Fachliteratur in erster Linie entstanden.39 Andererseits stellte eine ars recte peregrinandi natürlich auch Regeln über das richtige moralische Verhalten bereit und resümierte, was bei der Reise zu beachten und was zu vermeiden war. So wurde etwa empfohlen, die Landessprache zu lernen und sich an typische Lebensgewohnheiten anzupassen, sich zuverlässige Reisegefährten zu suchen und dem Klima angepasste Kleidung zu wählen; vor den Gefahren der Herbergen und Wirtshäuser wurde oft gewarnt.40 Auch solche Regeln finden sich bei Loys. – Für einen weltklugen Gesandten wie Vendramin dürften sie aber wohl eher schon selbstverständlich gewesen sein. Loys fügt aber seiner Darstellung Ingredienzien hinzu, die gerade einem politisch oder speziell diplomatisch orientierten Leser entsprochen haben dürften. Zum einen erweitert er die rein fachliche Darstellung vielfach durch Zitate antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Autoritäten. Dies entsprach dem humanistischen Zeitgeschmack und lieferte demjenigen, der ‚galant‘ und ‚politisch‘ aufzutreten hatte,41 ein Repertoire gewählter Ausdrucksweise. Loys bedient sich, um die passenden Zitate zu finden, einer lexikonartigen Darstellung, der Polyanthea,42 die oft aufgelegt wurde; an einer späteren Auflage wirkte auch Janus Gruterus mit.43 Eine weitere Besonderheit von Loys’ Schrift besteht darin, dass sie für Leser, die an Fürstenhöfen tätig waren, besonders attraktiv wirkte.

38 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 218. Zur Entstehung des Schemas und den daran beteiligten Autoren siehe Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 136 und Anmerkung 61. 39 Stagl: Ars (Anm. 2), S. 149 f. Dort wird auch das in Anm. 35 schon erwähnte Werk Venetia. Città Nobilissima, et Singolare […] von Francesco Sansovino genannt. 40 Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 136. 41 Zum Konzept des Galanten und Politischen siehe im Überblick: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 2002. 42 [Nanus Mirabellius:] Polyanthea. Opus suavissimis Floribus exornatum compositum per Dominicum Nanium mirabellium […]. Paris 1512 (Editio princeps). 43 Florilegium Magnum seu Polyanthea Florilegii Magni […] Jani Gruteri. Straßburg 1624.

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Der Autor orientierte sich nämlich stark an einem Werk, das richtiges höfisches Verhalten beschrieb, und zwar an Eberhard von Weyhes Schilderung des Aulicus Politicus.44 Die dort entwickelten Regeln übernahm Loys oft in ganzen Passagen wörtlich und verstand es, sie auf die Situation des galanten Reisenden anzuwenden. Wie von Weyhe formuliert er in einzelnen, kurz und prägnant gehaltenen und durchnummerierten Vorschriften, die er mit den aus der Polyanthea gewonnenen Zitaten anreichert. So entsteht eine wirkungsvolle Darstellung von Reiseregeln, die in dieser Form einen Gesandten wie Vendramin besonders ansprechen konnte und vielleicht überhaupt den Erfolg des kleinen Werks ausmachte. Da Loys außerdem die apodemische Literatur der Zeit insgesamt überblickte und auch weitere Autoritäten dieses Bereichs einbezog,45 war seine Darstellung nach damaligen Maßstäben fachlich qualifiziert. Dass auf diese Weise eine Kompilation verschiedenster Texte entstand, war in der Frühen Neuzeit kein Problem und wurde von Loys im Vorwort der ersten Ausgabe von 1598 auch deutlich und im Sinn eines Vorteils angesprochen.46

3 Lob des Niederrheins Wenn nun im Pervigilium Mercurii das Rheinland bzw. der Niederrhein und speziell die Stadt Leiden beschrieben werden, ist dies in den eben beschriebenen Rahmen eingefügt. Die Descriptio erstreckt sich jedoch nicht über die gesamte Darstellung, sondern findet sich an einem bestimmten, durch die apodemische

44 Eberhard von Weyhe: Aulicus Politicus Diversis Regulis, Praeceptis; Sive Ut ICtus Iavolenus loquitur, Definitionibus selectis, videl. CCCLXII. Antiquorum & Neotericorum Prudentiae Civilis Doctorum instructus. Hannover 1596. Viele spätere Ausgaben; in der Ausgabe Straßburg 1600 auch zusammen mit den einschlägigen Schriften des Hippolytus von Colli, den Loys, wie oben beschrieben, in Heidelberg kennen lernte. Von Weyhe trat teilweise auch mit der italienisierenden Namenfassung Duro de Pascolo auf. 45 Als Vorbilder zu nennen sind Zwinger (Anm. 3); viele spätere Ausgaben. Turler (Anm. 3); spätere Auflagen. Hilarius Pyrckmair: Commentariolus de arte apodemica seu vera peregrinandi ratione. Ingolstadt 1577; spätere Auflagen. Für die Seitenangaben ist die spätere Ausgabe in einem Sammelband von 1591 zugrunde gelegt: De Arte Peregrinandi II. Variis Exemplis […]. Commentariolus de arte peregrinandi seu vera peregrinandi ratione. Auctore Hilario Pyrckmair Landishutano […]. Nürnberg 1591. Signatur der Staatsbibliothek zu Berlin: Bibl. Diez oct. 8231; Guglielmo Grataroli: De Regimine iter agentium, vel equitum, vel peditum, vel navi […] etc., viatoribus et peregrinationibus […] utilissimi libri duo, nunc primum editi […]. Basel 1561; spätere Auflagen. 46 Loys: Pervigilium 1598 (Anm. 1), A 4r. Der Verfasser beabsichtigt diese Zusammenhänge in einem eigenen Aufsatz genauer darzustellen.



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Tradition vorgegebenen Platz, nämlich in Form einer beispielhaften Anwendung der vorher geschilderten allgemeinen Regeln am Schluss des Textes.47 Allerdings ändert Loys diese vorgefundene Tradition teilweise ab. Auch er hebt zwar am Schluss seiner Schrift eine einzelne Stadt bzw. Gegend exemplarisch und lobend hervor, aber nicht in einem eigenen, von der vorhergehenden Unterweisung deutlich abgesetzten Teil, sondern gewissermaßen als Fortsetzung der Belehrung. Dies ergibt sich vermutlich aus Gründen der Kürze, sei es, weil Loys für die Abfassung seines Werks nur sehr begrenzt Zeit hatte, sei es, weil seine Konzeption grundsätzlich ein schmales Handbuch vorsah, das unter die Reiseutensilien passte. So entsteht insgesamt eine charakteristische Verbindung aus rein belehrenden und mehr ausschmückenden Passagen. Inhaltlich zeigt sich an dieser Stelle ein gewisser Bruch, da Loys nunmehr ein Werk als Vorlage nahm, das vorher keine Rolle gespielt hatte. Er hielt sich nämlich an das Schema, das er bei Hilarius Pyrckmair, einem der frühesten apodemischen Autoren, in dessen Schrift Commentariolus de Arte Apodemica vorgefunden hatte.48 Pyrckmair baute seine Darstellung auf ramistische Weise auf, indem er seine Argumentation mit Hilfe von umfassenden, vor allem aus der rhetorischen Topik gewonnenen Begriffen entwickelte  – definitio, finis und divisio sind zu erkennen49 – und diese dann in Dichotomien bis auf eine möglichst konkrete Ebene hinab unterteilte.50 Inhaltlich ist die typisch apodemische Bemühung zu erkennen, einem Reisenden oder Reisewilligen, vorgestellt als adolescens51 und studiosus literarum52, hilfreiche Anweisungen dafür zu geben, wie die Reise für die Bildung ertragreich werden kann, welche Verhaltensregeln dabei beachtet und welche Merkmale des bereisten Landes beobachtet und – möglichst in einem diarium – festgehalten werden müssen.53 Loys übernimmt für seine Schilderung des Niederrheins freilich nicht das gesamte Schema von Pyrckmair – Ausführun-

47 Vorbilder sind hier Zwinger und Turler (Anm. 3). 48 Pyrckmair (Anm. 45). Innerhalb einer Übersicht über maßgebliche Autoren der Frühen Neuzeit kommt Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 136 f., auch auf Pyrckmairs Werk zu sprechen und erklärt dessen gedankliches Konzept. 49 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 6r und 6v (definitio); 7v und 8r (finis); 10v (divisio). 50 Zur ramistischen Methode siehe Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart 2000, S. 237– 259. 51 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 8v und passim. 52 Ebd., 7v. 53 Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 135, erläutert dieses Verfahren und charakterisiert es zusammenfassend folgendermaßen: „Die Hauptmerkmale der Apodemik scheinen mir Empirismus, pädagogische, utilitäre und praktische Ausrichtung sowie ihre rubrizierende Vorgehensweise zu sein.“

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gen zu Definition und Zielsetzung würden hier nicht passen und stehen bei ihm schon an früherer Stelle  – sondern nur die inhaltlich ertragreiche und geographisch konkrete Unterteilung der bei der Reise anzustellenden studia in solche, die sich entweder mit aër oder mit situs der besuchten Gegend befassen.54 Wichtig für Loys ist die topische Aufgliederung der beiden Leitbegriffe in einzelne Kategorien, die der junge Gelehrte oder Student bei seiner Reise zu beachten hat.55 Loys geht im Grunde genauso vor wie sein Vorbild: Er nennt dem Leser bzw. Reisenden die zu beachtenden Fragestellungen und erläutert die gegebenen Aufgaben durch konkrete Beispiele; aus diesen Beispielen ergeben sich nach und nach das Bild vom Niederrhein und das Lob der Stadt Leiden. Der Autor schildert also die von ihm exemplarisch hervorgehobene Gegend aus apodemischer Sicht bzw. aus der Perspektive des gelehrten und wissbegierigen Reisenden. Das Thema aër bzw. ‚Klima‘ freilich, das schon bei Pyrckmair nur sehr kurz beschrieben ist, spricht Loys nur noch mit einem Wort an, um sogleich den situs regionis darzustellen.56 Auf die erste Kategorie,57 montes, kann jedoch im Zusammenhang mit der völlig flachen Landschaft des Niederrheins nicht eingegangen werden; hier ergreift Loys die Gelegenheit, in einer kurzen Hommage auf seine Heimat am Rand des Fichtelgebirges einzugehen  – ohne sich allerdings von seiner Vorlage zu lösen, die er sogar wörtlich zitiert.58 In der von Pyrckmair vor-

54 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 14r: Deinde vero, quando ventum est in ipsam Regionem, duo potissimum consideranda erunt: Aër nimirum & Situs. 55 Es handelt sich um montes, flumen, mare, monstra maris, silvae, ferae, campi, fertilitas, armenta und schließlich urbes, die unterteilt werden in externae und internae; bei den urbes externae werden nomina, situs, turres, pontes, portae, plateae, fontes, horti, aedificia publica genannt – dazu gehören im Einzelnen aedificia ecclesiastica wie templum oder sacellum, academiae, scholae und bibliothecae sowie aedificia profana wie curia, armaria, frumentaria, macella, vectigalia, xenodochia, nosodochia, amphitheatra, balnea – und aedificia privata, die ebenso wie publica auch nach ihrer inneren Gestaltung zu untersuchen sind; bei den urbes internae gilt es magistratus ecclesiastici und seculares, gegliedert nach einzelnen Ämtern, sowie iura, leges, privilegia und auch subditi zu beachten. Bei dieser Liste kann man auch die ramistische Tendenz zur Untergliederung erkennen, die, durch schematisch-graphische Darstellung hervorgehoben, besonders deutlich bei Zwinger (Anm. 3) hervortritt. 56 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 14r; Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 277. 57 Auf die von Pyrckmair zuerst vorgesehene geographische Ortsbestimmung gemäß Himmelsrichtungen geht Loys nicht ein. 58 Näher liegend wäre gewesen, hier seine Geburts- und Heimatstadt Hof zu schildern. Da aber Pyrckmair bei Gebirgen das Beispiel Vichto mons, also das Fichtelgebirge, nennt  – und nach ramistischer Manier gleich auch eine Namensetymologie, à Pinastris ita dictus, liefert – hält sich Loys daran bis hin zur Übernahme der Ausdrucksweise und greift, z. T. wiederum wörtlich, auch den Hinweis Pyrckmairs auf die vier dort entspringenden und in die vier Himmelsrichtungen fließenden Flüsse Main, Saale, Naab und Eger auf. Weil er von Hof zumindest seinen von ihm of-



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gesehenen Reihenfolge hat der Reisende sich nunmehr mit den Flüssen der von ihm aufgesuchten Gegend zu befassen, insbesondere mit deren Quellen, mit den Namen und ihren Variationen, mit dem Nutzen, wobei hier vor allem Fischreichtum und Schiffbarkeit genannt sind, und schließlich mit der Flussmündung und dem Übergang des Flusses ins Meer.59 Aus dem hier geschilderten Beobachtungskatalog geht schon hervor, dass der vom Reisenden zu verfolgende Sinn seines Unternehmens durchaus auch in politischer Nutzanwendung besteht;60 die heimatliche Regierung soll erkennen können, über welche Ressourcen das beobachtete Land verfügt. Freilich kann nicht in jedem Fall jede Kategorie berücksichtigt werden. Bei Loys allerdings verschiebt sich die Zielsetzung grundsätzlich. Er möchte ja eine exemplarische Anwendung der bisher geschilderten Theorie liefern, vor allem aber das Land und die Stadt, die ihm besonders weitergeholfen haben, lobend herausstellen. Um diese Wirkung zu erreichen, schildert er nicht nur positive Eigenschaften, sondern auch Unterhaltsames, gewissermaßen dem Stil einer Reportage angepasst. Dies lässt sich andeutungsweise bereits bei der Behandlung des Topos ‚Fluss‘ erkennen. Nachdem Loys in einer der durchnummerierten Vorschriften die laut Pyrckmair maßgeblichen Kategorien zum Teil wörtlich referiert hat, kommt er im nächsten Abschnitt, im Rahmen eines langen Satzes, auf den Rhein zu sprechen61 und schildert ihn sogleich in Gestalt einer gelehrten und – das Verständnis des Lesers vorausgesetzt – auch amüsanten Anspielung. Wenn er nämlich sagt: Rhenus, qui eleganti epitheto Graecis poëtis ἐλεγχγάμοϛ dicitur, obturamentum suum habet prope Hollandiae pelagi faciem in vico Katwigh / quod illi semper vident, qui operam dant studiis in Alma Lugdunensi Batavorum Academia. [Der Rhein, der von griechischen Dichtern mit einem subtil gewählten Epitheton als Schiedsrichter in Ehesachen bezeichnet wird, hat in der Nähe des holländischen Meeresspiegels bei dem Dorf Katwigh seine Verkorkung, die jene immer sehen können, die an der Universität von Leiden ihren Studien nachgehen.]

fenbar besonders verehrten Lehrer Enoch Widmann, den Rektor des Hofer Gymnasiums, lobend erwähnen möchte, muss er diesen mit dem Fichtelgebirge in Verbindung bringen. Dies gelingt ihm nur, indem er ihn zum Autor einer Schrift über dieses Gebirge macht, die Widmann aber nie verfasst hat. – Er schrieb vielmehr eine Chronik der Stadt Hof, die zu erwähnen Loys wiederum thematisch unpassend erschien. Siehe Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 277, § CLXXVI, und Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 15r. 59 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 15v–17r. 60 Stagl: Ars (Anm. 2), S. 148–151. 61 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 277, § CLXXVIII.

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dann setzt er beim gebildeten Leser voraus, dass dieser das ungewöhnliche griechische Wort ἐλεγχγάμοϛ im Sinn von arbiter conjugij bzw. ‚Schiedsrichter in Ehesachen‘ versteht und die dazu gehörige Geschichte kennt, die, ebenso wie das griechische Substantiv und dessen lateinische Übertragung, von dem niederländischen Humanisten und Arzt Hadrianus Iunius (1511–1575) in seinem Werk Batavia erzählt wird.62 Der Autor berichtet nämlich, dass der Rhein von seinen Anwohnern dergestalt als Schiedsrichter ehelicher Treue gebraucht wurde, dass neu geborene Kinder auf ihm mit einem Schild (clypeo) ausgesetzt wurden; wenn der Fluss die Kinder trug, waren sie ehelicher Herkunft, falls sie untergingen, das Produkt eines Seitensprungs. Die Anspielung auf den damals bekannten Mythos63 war für einen entsprechend gebildeten Leser unschwer zu verstehen und trug wohl zu dessen Lektürevergnügen bei. Zwar bietet sie keine wesentliche Information, wird aber auch nur in dem einleitenden Nebensatz kurz erwähnt. Geographisch und landesgeschichtlich wesentlich konkreter, zugleich aber schwer verständlich erscheint das, was im anschließenden Hauptsatz folgt. Dem Wortlaut nach spricht Loys nämlich davon, dass der Rhein beim Dorf Katwigh, nahe dem holländischen Meeresspiegel, eine Verkorkung (obturamentum) aufweise. Offensichtlich hat hier Loys seine Vorlage, wiederum Hadrianus Iunius’ Beschreibung von Batavia, nicht richtig verstanden und deshalb unklar dargestellt. Gemeint ist eigentlich, dass bei einer schlimmen Überschwemmung um 860  n. Chr., von der die Geschichtsquellen berichten, fast ganz Holland unter Wasser gesetzt und gewissermaßen zum Meeresspiegel gemacht wurde; während der Katastrophe änderte der Rhein seinen Lauf: Der Lek wurde zum Hauptstrom und der Rhein selbst abgeriegelt.64 Diesen Vorgang als geschichtliches Ereignis darzustellen, würde durchaus dem Stil einer anschaulichen, reportagehaften Landesbeschreibung entsprechen. Die Darstellung leidet hier aber an Loys’ Missverständnis, das vermutlich auf die Schnelligkeit, mit der die Schrift in Leiden

62 [Hadrianus Iunius:] Hadriani Iunii Hornani, Medici, Batavia, in qua […] declaratur quae fuerit vetus Batavia […]. Leiden 1588, S. 48, Kapitel VIII: De Rheno fluvio, ejusque brachijs & ostijs Bataviam finientibus. Loys hat die Formulierung von Hadrianus Iunius fast unverändert übernommen. 63 Zum Teil in gleicher Formulierung wird die Geschichte wiedergegeben in: Johann Jacob Hofmann: Lexicon Universale Historico-Geographico-Chronologico-Poetico-Philologicum. Bd. 2. Genf 1677, S. 259 f., s. v. Rhenus. 64 Hadrianus Iunius (Anm. 62), S. 54. Die Stelle lautet: […] quod detrimentum incurrisse Rhenum, & elici suo cedere coactum fama refert ad octingentesimum & sexagesimum annum, strage arbustorum infamem: Annalium monumenta quadringentesimo abhinc anno illud incommodum diluvio, quo universa propè Hollandia pelagi faciem repraesentarat, imputant & acceptum ferunt: eaque tempestate Rheni obturamentum incidisse, & Leccae alveum latè se extendisse scribunt.



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abgefasst wurde, zurückzuführen ist. Dem Gebot der Anschaulichkeit dient wohl auch der letzte Teil des Satzes, in dem deutlich wird, aus welcher Perspektive der Rhein bei Katwigh – in heutiger Schreibung Katwijk, in der Nähe von Leiden gelegen – und dessen Meerdeich, das obturamentum, geschildert werden: Es sei die der Studenten, die an der Alma Lugdunensis Batavorum Academia, also der Universität von Leiden, ihren Studien nachgingen. Damit meint der Autor wohl letztlich sich selbst und schildert sich als Studenten, der mit wachen Augen seinen Studienort beobachtet. Im nächsten Abschnitt wird zur Kategorie mare et naves übergeleitet, die von Loys, darin Pyrckmair folgend, zusammenhängend, aber insgesamt nur knapp dargestellt wird.65 Entscheidend ist hier die Schilderung eines 1598 – dem Erscheinungsjahr des Werks – noch ganz aktuellen Ereignisses: Loys berichtet, gemessen an seiner sonstigen Kürze, ziemlich ausführlich von der Strandung eines Pottwals an der Küste zwischen Katwijk und Scheveningen am 3. Februar 1598.66 In dem von Pyrckmair vorgegebenen Beobachtungsschema lässt sich dieser Inhalt gut der Rubrik monstra maris zuordnen.67 Loys gestaltet den Stoff aus, indem er einen mythischen Bezug zu Neptun, dem mächtigen Erzeuger von Erdbeben und Fluten, herstellt, das Ereignis gewissermaßen als unerhörte Begebenheit qualifiziert und auch mit konkreten Angaben zum äußeren Umfang des riesigen Fischs nicht spart; sogar die Bezeichnungen des Tiers in holländischer Sprache vergisst er nicht zu erwähnen.68 Hier merkt man deutlich das Bemühen des Autors, nicht nur ein aktuelles, sondern auch ein für die Nordseeküste typisches und zugleich sensationelles Ereignis zu schildern, in zwar konziser, aber doch anschaulicher und insgesamt einprägsamer Form. Die Stelle hat insofern durchaus eine gewisse journalistische Qualität.

65 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 17r; Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 277 f. 66 Die Sachinformationen ergeben sich aus Loys’ Text sowie aus einem Kupferstich von William van der Gouwen, der das gestrandete Tier darstellt und in einem Untertitel nähere Angaben zu dem Ereignis liefert. Das Bild gehört zum Bestand des Sylter Heimatmuseums in Keitum. Vgl. dazu: www.museen-sh.de, Suche unter dem Namen des Künstlers (Wiedergabe des Bilds und Erläuterungen). 67 Als Beobachtungskategorie von Pyrckmair ebenso wie mare nur knapp in einem Überleitungssatz erwähnt: Relictis itaque monstris & piscibus marinibus, contemplabitur adolescens triremes. Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 17r. 68 Wortlaut der Stelle: Peregrinans contueatur naves varias, & Oceanum fluctuosum, ex quo potens terrae quassator Neptunus, excitatis fluctibus excelsis, horrendum & grande, neque antea visum monstrum (quod Batavi Waalfisch  / alii Seemot vocabant) 3. Februarii, Anno 98. ejecit. Fuit, quoad longitudinem, pedum 56. latitudinem 33. Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 277 f., § ­CLXXIX.

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Nach diesem gestalterischen Höhepunkt verfällt Loys für die nächsten drei Paragraphen in eine nüchterne, knappe, fast stichwortartige Aufzählung von Beobachtungsaufträgen, die der Reisende zu berücksichtigen hat.69 Dieses betont sachliche und auf das Wesentliche reduzierte Darstellungsverfahren entspricht einer Tradition in der apodemischen Literatur, die von Stagl unter der Gattung der Reiseinstruktionen zusammengefasst wurde und in zeitgenössischen Veröffentlichungen oft als Methodus Apodemica bezeichnet wird.70 Die einzelnen Loci hat Loys auch hier von Pyrckmair übernommen, der freilich seine Ausführungen immer wieder mit konkreten Beispielen anreichert.71 Einen locus allerdings greift der Autor heraus, um ihn für eine kurze, aber wirkungsvolle laus Lugduni einsetzen zu können. Die Behandlung der plateae nämlich, also der Straßen der zu beobachtenden Stadt, wird vertieft, zunächst noch in nüchterner, ramistisch geprägter Manier  – es wird eine Untergliederung in die Gesichtspunkte Länge, Breite und Sauberkeit der Straßen durchgeführt; dann aber wird in einem eigenen Satz und im Rahmen einer persönlichen Bewertung die Sauberkeit von Leidens Straßen besonders betont und durch einen Vergleich hervorgehoben.72 Wenn in diesem ausgesagt wird, dass die Straßen Leidens sauberer seien als anderswo die Häuser von Privatleuten, dann entspricht dies witzigem Gesprächston und ergibt, jedenfalls an dieser kurzen Stelle, wiederum eine Annäherung an den heutigen Stil von Reportagen. In den folgenden Paragraphen setzt Loys wieder die nüchterne Auflistung von Beobachtungskategorien fort, die dem von Pyrckmair vorgegebenem Schema entsprechen. Dabei kommt er nunmehr auf die Gebäude zu sprechen, die in einer Stadt zu besichtigen sind.73 Die Aufforderung bei Pyrckmair, in kirchlichen

69 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 278, §§ CLXXX, CLXXXI und CLXXXII. 70 Stagl: Apodemik (Anm. 2), S. 139 f. Als Methodus Apodemica sind bezeichnet zum einen das sehr stark rubrizierende Werk von Theodor Zwinger (Anm. 3), zum anderen die ganz auf Stichwörter reduzierte Darstellung von Albrecht Meyer und Heinrich Rantzau: Methodus apodemica seu peregrinandi perlustrandique regiones, urbes et arces ratio. Leipzig 1588. 71 Siehe Anm. 55. Es handelt sich hier um die loci von silvae bis aedificia; die Unterscheidung zwischen urbes internae und externae hat Loys nicht übernommen. 72 In plateis vero ipsis, amplitudinem, longitudinem & munditiem. Ad munditiem quod spectat, affirmo Lugdunum Batav. habere plateas à coeni illuvie puriores, quam sunt alibi aedes privatorum. Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 278, § CLXXXIII. Die ramistische Untergliederung findet sich schon bei Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 23v. 73 Er nennt Aedificia religiosa, zu denen er neben templa und monasteria auch Celebritatem Universitatum rechnet, während der Reisende in aedificiis prophanis Curiam, Armamentaria u. ä. anzuschauen hat. Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 278 f., §§ CLXXXIV–CLXXXVI. Die hier keineswegs vollständig wiedergegebene Aufzählung findet sich, noch ausführlicher, aber im Wortlaut übereinstimmend auch bei Pyrckmair. Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 25v–31r.



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Gebäuden auch die dort vorzufindenden Epitaphe zu berücksichtigen,74 nimmt Loys zum Anlass für die ausführlichste Schilderung niederrheinischer Gegebenheiten. Er entfernt sich dabei allerdings ein Stück von der bisher im Mittelpunkt stehenden Stadt Leiden und konzentriert sich auf den etwa 15 km entfernt liegenden Ort Loosduinen, der heute ein Teil von Den Haag ist. Auch hier schildert Loys etwas Spektakuläres, nämlich das „Wunder von Loosduinen“, das mit der Abteikirche des Orts verbunden ist und zu einem regen Wallfahrtsbetrieb führte, der auch nach der Reformation in Holland keineswegs nachließ. Um 1600, zur Entstehungszeit von Loys’ Werk, war die ehemalige Klosterkirche im engeren Sinn eine Attraktion, vor allem für Frauen, die sich ein Kind wünschten. Von einer Wallfahrt an diesen Ort erhofften sie sich diesbezüglich Hilfe, weil der Sage nach Margarete von Hennegau, Frau des Grafen Hermann von Hennegau und Tochter des Grafen Florens von Holland,75 im Jahr 1276 nicht weniger als 364 Kinder, nach anderer Fassung sogar 365, gleichzeitig geboren haben soll. Diese Fruchtbarkeit – der Anlass für die späteren Wallfahrten – sei für die Gräfin, die ebenso wie alle ihre Kinder bald nach der Geburt verstarb, eine Strafe für Hochmut gewesen. Sie habe nämlich einer armen Frau gegenüber, die ihr stolz ihre gerade geborenen Zwillinge zeigte, geäußert, dass die beiden Kinder nicht von demselben Mann stammen könnten. Die arme Frau, wegen dieses Ehebruchsvorwurfs von ihrem Gatten verlassen, verfluchte die Gräfin, indem sie ihr eine Geburt mit so vielen Kindern wünschte, wie das Jahr Tage hat – also 364 oder auch 365. Diese sagenhafte Erzählung, für die es im Leben der historischen Margarete von Henneberg, abgesehen von ihrem plötzlichen frühen Tod, keinerlei Anhaltspunkte gibt, ist auf einem zweisprachigen, in Holländisch und Lateinisch gehaltenen Epitaph in der Abteikirche von Loosduinen festgehalten.76 Loys schildert den bekannten Wallfahrtsort und die an ihm hängende Sage einerseits nüchtern, indem er den Wortlaut des Epitaphs, hierin seinem Vorbild Pyrckmair folgend, in der lateinischen Fassung vollständig zitiert.77 In einer einleitenden Bemerkung allerdings hebt er das Unglaubliche der Geburt beson-

74 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 25r. Nicht bei Loys, der stattdessen aber eine ähnliche Formulierung Pyrckmairs aufgreift, wenn er verlangt elegantiam picturarum, aeris, marmoris & alia multa zu beachten. Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 279, § CLXXXVII. Bei Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 31r, ganz ähnlich, dort allerdings auf Privatgebäude bezogen. 75 Zum historischen Hintergrund siehe Georg Gerland: Hermann I. (Graf von Henneberg). In: ADB, Bd. 12 (1880), S. 124 f., sowie bei Jan Bondeson: The two-headed boy, and other medical marvels. Ithaca, NY 2004, S. 65–68 (ohne Quellenangaben). 76 Eine ausführliche Schilderung des Wunders von Loosduinen, verbunden mit einer kritischen Würdigung aus heutiger Sicht, findet sich bei Bondeson (Anm. 75), S. 64–94. 77 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 279–281, § CLXXXVII.

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ders hervor, ohne kritische Distanz zu der Sage zu zeigen, und bestätigt das Geschilderte durch die Beteuerung, den Ort selbst gesehen und der auf Marmor angebrachten Inschrift die ganze Geschichte entnommen zu haben.78 Hier zeigt sich wiederum eine gewisse Zuspitzung in der Darstellung und reportagehafte Anschaulichkeit: Der Berichterstatter befindet sich vor Ort, um die Eigenheiten von Loosduinen – bei Loys in der älteren Namensfassung Lausdun – zu schildern. Aufschlussreich ist der hier geschilderte Abschnitt im Werk von Loys aber auch deshalb, weil sich an ihm exemplarisch erkennen lässt, wie zuverlässig einmal tradierte Stoffe in Mittelalter und Früher Neuzeit weitergegeben wurden. Insgesamt ist der Umfang, mit dem die Sage um Margarete von Henneberg überliefert ist, erheblich; in einer von Bondeson gebotenen Übersicht wird er jedenfalls teilweise dokumentiert. Dort lässt sich bereits eine Vielzahl von Variationen erkennen, die allerdings nicht genauer belegbar sind, da präzise Angaben zu Textstellen und bibliographischen Daten fehlen.79 Um größere Präzision zu erzielen, sollen im Folgenden einige Überlieferungsbeispiele aus der Frühen Neuzeit genannt und in diesem Zusammenhang auch Loys’ Darstellung gewürdigt werden.80 Der Italiener Lodovico Guicciardini zitiert in seiner Reisebeschreibung der Niederlande den lateinischen Text des Epitaphs wörtlich, aber deutlich abweichend von Loys’ Fassung.81 Bondeson vermutet, dass er den Wortlaut „quite correctly“ wiedergegeben habe, ohne dies allerdings näher zu begründen.82 Möglicherweise hat Guicciardini den Epitaph zitiert, der sich in der Kirche vor deren Zerstörung 1572 während des holländischen Unabhängigkeitskrieges befunden hat. Kurze Zeit darauf jedenfalls wurde auf Veranlassung des Theologen und Pfarrers Jacobus Meursius der Epitaph restauriert.83 Vermutlich hat Loys

78 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 279, § CLXXXVII. 79 Bondeson (Anm. 75) schildert im Überblick die mittelalterliche Überlieferung (S. 68–71), die des 16. Jahrhunderts (S. 71–73), Reiseberichte von Pilgern (S. 73–75) und die literarische Ausgestaltung des Stoffs (S. 75–80). 80 Bis auf eine Ausnahme sind diese Textbeispiele bei Bondeson nicht genannt; auch Loys wird von ihm nicht erwähnt. Die im Folgenden genannten Texte können auch durch den Karlsruher Virtuellen Katalog (www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html) in digitalisierter Fassung abgerufen werden und sind deshalb an dieser Stelle aus Gründen der Kürze nicht im Wortlaut zitiert. 81 [Lodovico Guicciardini:] Descrittione di M. Lodovico Guicciardini Patritio Fiorentino, Di Tutti I Paesi Bassi, Altrimenti Detti Germania Inferiore […]. Antwerpen 1567, S. 191 f.: Der lateinische Text des Epitaphs ist, verglichen mit Loys’ Fassung, stark gekürzt und verändert; ihm vorausgeschickt ist eine kurze Erzählung der Sage in italienischer Sprache. Guicciardini beruft sich auf die Autorität von Erasmus und Ludovicus Vives, die ihrerseits die Sage von Loosduinen in ihren Werken erwähnt hätten. 82 Bondeson (Anm. 75), S. 71. 83 Bondeson (Anm. 75), S. 72.



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den bei dieser Gelegenheit gewählten Wortlaut des Epitaphs zitiert, und zwar offensichtlich wörtlich genau die lateinische Fassung. Für Loys’ Zuverlässigkeit spricht die Tatsache, dass das bis heute in der Abteikirche von Loosduinen hängende Epitaph denselben Wortlaut aufweist – ausweislich der Autopsie von Bondeson.84 Die einzige Abweichung, die sich Loys diesem Befund zufolge erlaubt hat, besteht darin, dass er aussagt, die Inschrift befinde sich auf Marmor und von dort habe er sie abgeschrieben. Bondeson spricht demgegenüber von „wooden plates“, auf denen sich das Epitaph befinde.85 Eine weitere Bestätigung für die Authentizität von Loys’ Darstellung ergibt sich aus der Schilderung, die Heinrich Ludolf Bentham am Ende des 17. Jahrhunderts von Loosduinen und dem Epitaph gibt; er referiert nämlich dessen Wortlaut weitestgehend übereinstimmend mit der Fassung von Loys.86 Ganz anders verhält es sich bei Friedrich Luca, der in seiner Sammlung von Familiengeschichten verschiedener deutscher Grafengeschlechter auch auf Margarete von Henneberg zu sprechen kommt und dabei den Wortlaut des Epitaphs angeblich wörtlich zitiert, aber, verglichen mit der heute überlieferten Fassung, stark verändert und verkürzt.87 Lucas Werk erschien 1702, muss sich also auf die restaurierte Fassung des Epitaphs beziehen. Ob Lucas Ungenauigkeit auf schlechte Information zurückgeht oder auf absichtliche Veränderung des Texts, ist nicht zu beurteilen. Sein Zitat ist zwar inhaltlich weitgehend richtig, im Wortlaut aber nach heutigen Maßstäben unzuverlässig. Eine weitere Überlieferungsvariante zeigt sich in Zacharias Conrad von Uffenbachs Reisebeschreibung: Das Epitaph wird überhaupt nicht zitiert, sondern nur kurz

84 Bondeson (Anm. 75), S. 64 f. Bondeson zitiert allerdings das Epitaph in englischer Übersetzung. Außerdem fehlen bei seiner Wiedergabe die von Loys referierten Einleitungs- und Schlusssätze des Epitaphs. 85 […] me […] ex marmore totam historiam descripsisse. Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 279, § CLXXXVII. Bondeson (Anm. 75), S. 64. 86 [Heinrich Ludolf Benthem:] Henrich Ludolff Benthems P. C. und S. Holländischer Kirch- und Schulen-Staat. Frankfurt, Leipzig 1698, S. 117–119: Nach einer kurzen Einleitung in deutscher Sprache, in der die mit der Sage verbundenen Örtlichkeiten geschildert werden, ist der lateinische Text des Epitaphs, von unbedeutenden Abweichungen abgesehen, in genau der Fassung wiedergegeben, die auch Loys zitiert. Bentham erwähnt auch eine Fassung in holländischer Sprache. Die Einleitungs- und Schlusssätze des Epitaphs gibt Bentham genauso wieder wie Loys. 87 [Friedrich Luca:] des Heil. Römischen Reichs Uhr-alter Graffen-Saal  / auf welchem […] in zweyen Theilen abgehandelt werden. Frankfurt 1702. Teil 1, S. 303–305: Die Geschichte der Familie von Gräfin Margarete wird in deutscher Sprache dargestellt und in diesem Rahmen deren sagenhafte Niederkunft erwähnt. Die Sage selbst, also die Verwünschung durch die arme Frau, bleibt unerwähnt. Das Epitaph wird in lateinischer Sprache, verglichen mit Loys’ Fassung stark verändert und gekürzt, wiedergegeben.

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beschrieben, jedoch unvollständig, weil nur die holländische, nicht aber die lateinische Textfassung erwähnt ist.88 Alle hier erwähnten Überlieferungsbeispiele erheben Anspruch auf Zuverlässigkeit und liefern, mit einer Ausnahme, wörtliche Zitate. Vollständige Genauigkeit wird aber nur von Loys und Bentham erreicht. Erkennbar ist an dieser exemplarischen Untersuchung zum einen, dass das philologische Gebot der Texttreue eine historische Errungenschaft, doch wohl des 19.  Jahrhunderts, darstellt,89 zum anderen aber, dass Loys’ Schilderung des Niederrheins, jedenfalls an dieser Stelle, weitgehend zuverlässig ist; auch die anderen Passagen scheinen, den oben durchgeführten Untersuchungen zufolge, von diesem Qualitätsniveau nicht wesentlich abzuweichen. Nachdem Loys das Epitaph in der Abteikirche von Loosduinen inspiziert und das damit verbundene Wunder gewissermaßen vor Ort beglaubigt und genau wiedergegeben hat, ist der Höhepunkt seiner Darstellung überschritten. Im Folgenden nimmt er noch einmal das Beobachtungsschema von Pyrckmair auf, der nach der Würdigung des Stadtbilds die politische Analyse der Gemeinde empfiehlt; in diesem Rahmen sollen das corpus internum, nämlich magistratus ecclesiasticus und magistratus secularis untersucht werden.90 Dieselben Kategorien, allerdings in verkürzter Form, sind auch bei Loys genannt.91 Nur einmal erlaubt er sich noch eine persönlich geprägte Erweiterung dieser Darstellung, dieses Mal allerdings auf die Stadt Köln bezogen. Dort wo Pyrckmair rät, auf die kirchlichen Würdenträger zu achten, die in einer Stadt tätig sind, und dafür eine entsprechende Liste von Ämtern nennt, übernimmt Loys diese Darstellung in leicht verkürzter Form, um dann eine persönliche Bemerkung anzufügen: Magistratum spiritualem noscat, veluti Pontificum summum, Cardinales, Episcopos, Canonicos; Horum magnam copiam vidi Coloniae Agrippinae hoc ipso anno quo morbus contagiosus sustulit quadraginta millia hominum.

88 [Zacharias Conrad von Uffenbach:] Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merckwürdige Reisen durch Niedersachsen Holland und Engelland. Dritter Theil. Ulm 1754, S. 374: Kurze Beschreibung der mit der Sage zusammenhängenden Örtlichkeiten in deutscher Sprache; der Epitaph ist nicht zitiert. Es ist lediglich von einem Text „in alten holländischen Versen“ auf „einer hölzernen Tafel“ die Rede. Auf Bentham wird verwiesen. 89 Allerdings erlaubt sich auch Bondeson in seiner zum ersten Mal 2000 veröffentlichten Studie Ungenauigkeiten, zum einen weil er den Text des Epitaphs ins Englische überträgt, zum anderen, weil er die Einleitungs- und Schlusssätze, die durch Loys und Bentham unabhängig voneinander bezeugt sind, weglässt. Vgl. auch Anm. 84. 90 Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 31v–33r. 91 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 281, §§ CLXXXVIII–CXC.



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[Er möge die kirchlichen Würdenträger kennen lernen, wie den obersten Bischof, Kardinäle, Bischöfe, Kanoniker; eine große Anzahl von diesen sah ich in Köln gerade in dem Jahr, als eine ansteckende Krankheit 40 000 Menschen hinwegraffte.]92

Der Hinweis auf die große Anzahl von hochgestellten Kirchenleuten in ein und derselben Stadt – mag sie auch immerhin Bischofssitz sein – kann, aus der Sicht eines mehr an Innerlichkeit orientierten Protestanten, einen leicht süffisanten oder ironischen Unterton enthalten. Loys’ Darstellung wäre dann allerdings ziemlich subtil. Die zeitliche Zuordnung zum Jahr der schlimmen Pestepidemie kann der Orientierung des Lesers dienen und stellt vor allem eine autobiographische Notiz dar.93 Die letzten Paragraphen von Loys’ Werk stellen, im Sinn von Pyrckmair, aber nunmehr ohne wörtliche Übernahmen, eine an den Reisenden gerichtete Paränese dar, die aber mit der exemplarischen Schilderung des Niederrheins nicht mehr in Zusammenhang steht.94 Als Laus Rheni Inferioris ist Loys’ Schrift sicher eine eigenwillige, nach Paragraphen gegliederte und Regeln referierende Darstellung, die ihre Qualitäten aber dort gewinnt, wo sie Schlaglichter auf typische Merkmale und spektakuläre Besonderheiten richtet. Für Leiden und den Niederrhein eine ungewöhnliche und originelle Beschreibung.

92 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 281, § CLXXXIX. Bei der Wiedergabe des in diesem Zusammenhang schwierigen Begriffs pontificum summus wurden die entsprechenden Ausführungen von Jacob Grimm zugrunde gelegt: Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Kapitel V (Priester). In: Jacob und Wilhelm Grimm. Werke. Hg. von Ludwig Erich Schmitt. Abt. 1. Bd. 6. 4. Aufl. Berlin 1875 [Ndr.: Hildesheim 2003], S. 72 ff. 93 Siehe dazu oben die Hinweise zur Biographie von Loys mit Anmerkung 9. 94 Loys: Pervigilium 1667 (Anm. 1), S. 281–283, §§ CXCI–CC. Pyrckmair 1591 (Anm. 45), 33v–34r.

Cristina Ricci

Liceat ex illo felicissimo amne haurire, qui ex ore vere aureo velut ex fonte ditissimo promanat1 Johannes Chrysostomus im Oberrheinischen Humanismus Was verbindet den berühmten „Goldmund“ aus der Spätantike mit dem frühneuzeitlichen Kulturraum am Oberrhein? Auf diese Frage soll der vorliegende Beitrag eine Antwort geben, der – im Einklang mit der humanistischen Rückbesinnung auf das antike Christentum – eine Brücke zwischen zwei weit voneinander entfernten Epochen und Welten schlägt.2 Es wird also eine Phase der Rezeptionsgeschichte dieses Autors betrachtet, der aufgrund seiner rhetorischen Ausbildung ein brillanter Redner auf dem Forum seiner Geburtsstadt Antiochien hätte werden können und stattdessen zu einem der berühmtesten Prediger der frühen Kirche geworden ist.3 Seinen Texten begegnet man Jahrhunderte später auf dem Tisch eines der bedeutendsten Rechtsgelehrten des 16.  Jahrhunderts, des Freiburgers Ulrich Zäsy (1461–1535), der in einem Brief an den Basler Juristen Bonifacius Amerbach (1495–1562), seinen ehemaligen Schüler und engen Freund von Erasmus, Folgendes schreibt:4

1 Zitat: Erasmus: ep. 1558. In: Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami. Hg. von Percy Stattford Allen. 12 Bde. Oxford 1906–1958, hier Bd. 6, S. 49, Z. 179 f. Im Folgenden wird auf alle herangezogenen Briefe mit der Abkürzung ep., der Briefnummer und mit der Angabe von Band und Seitenzahl in Allens Ausgabe verwiesen. 2 Die vorliegende Untersuchung ist in Zusammenhang mit der Arbeit der Verfasserin an einer kaum erforschten Chrysostomus-Biographie von Erasmus entstanden, die zum ersten Mal in der Chrysostomus-Gesamtausgabe 1530 bei Froben in Basel erschienen ist (VD16 J 399): Vita diui Ioannis Chrysostomi ex Historiae, quam tripartitam vocant, libro decimo magna ex parte concinnata, per Des. Erasmum Roterod. In: D. Ioannis Chrysostomi Archiepiscopi Constantinopolitani Opera, quae hactenus versa sunt omnia […]. Basileae. In officina Frobeniana. Anno 1530, Bd. 1, Bl. A2v–B2r. Diese Vita wird in ASD (Anm. 34) VIII. 1 erscheinen. Für einen Überblick über Chrysostomus’ Leben und Werk vgl. Rudolf Brändle: Johannes Chrysostomus. Bischof, Reformer, Märtyrer. Stuttgart u. a. 1999. Gemäß dem Gebrauch der frühneuzeitlichen Editoren wird auch hier die lateinische Form „Chrysostomus“ statt „Chrysostomos“ benutzt. 3 Hoc pectus, hoc os aureum foro prophano destinatum, Christus ad Euangelii praeconium inter­ uertit, Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 488, Z. 203. 4 Für die genannten Humanisten vgl. Manfred E. Welti: Art. Bonifacius Amerbach. In: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Hg. von DOI 10.1515/9783110400281-013



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Chrysostomum legi, qui me in sese ita rapit, vt non iam Ciceronis eloquentiam sed tonitrua fandi legere videar. Beatus per omnes modos Eras[mus] ille, vir maximus, qui nos egenos tam splendidis epulis reficit!5 [Ich habe Chrysostomus gelesen, der mich so sehr begeistert hat, dass ich den Eindruck habe, nicht mehr Reden im Stil Ciceros, sondern Sprachgewitter zu lesen. Selig ist in jeder Hinsicht jener Erasmus, ein großartiger Mann, der uns Bedürftige mit so prächtigen Speisen stärkt!]

Dabei geht es nicht um einen fachlichen Austausch zwischen Rechtsgelehrten, sondern vielmehr um die Privatlektüre von Juristen mit einem breiten Bildungshorizont. Es ist kein Zufall, dass Zäsys Brief das Datum vom 30. August 1527 trägt, denn wenige Monate zuvor hatte Erasmus einige Chrysostomus-Homilien auf Latein beim Basler Verleger Johann Froben herausgebracht.6 Im Vorwort zu dieser Ausgabe hatte Erasmus selber seine Vorliebe für Chrysostomus erklärt, der sich unter den Kirchenvätern durch seine Vielschreiberei (polygraphia) ausgezeichnet und dabei „das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden“ hat (miscuit utile dulci).7 Mit

Peter G. Bietenholz u. a. 3 Bde. Toronto 1985–1987, hier Bd. 1, S. 42–46 und Hans Thieme, Steven Rowan: Art. Uldaricus Zasius. Ebd. Bd. 3, S. 469–473. 5 Ep. 1207. In: Die Amerbachkorrespondenz. Hg. von Alfred Hartmann u. a. 11 Bde. Basel 1942– 2010 (im Folgenden zitiert als AK mit Band- und Seitennummer), hier Bd. 3, S. 273, Z. 21–24. Eine ähnliche Metapher (eloquentiae fulmine) in Bezug auf Chrysostomus steht bei Oekolampad: praef. in Gen. = ep. 165. In: Briefe und Akten zum Leben Oekolampads. Hg. von Ernst Staehelin. 2 Bde. Leipzig 1927–1934 (im Folgenden zitiert als Staehelin mit Band- und Seitennummer), hier Bd. 1, S. 242. 6 Divi Ioannis Chrysostomi Archiepiscopi Constantinopolitani & divi Athanasii Alexandrini Archiepiscopi lucubrationes aliquot non minus elegantes quam utiles  / nunc primum versae & in lucem aeditae [sic] per Des. Erasmum Roterod. Basileae. Apud Joan. Frobenium. Anno 1527 (VD16 J 408). Zum Codex, den Erasmus für seine Übersetzung benutzt hat, vgl. Erasmus: ep. 1705, Allen, Bd. 6, S. 334, Anm. 6. 7 Im Folgenden wird eine längere Stelle wiedergeben, weil der Aufsatz auf ihren Inhalt nochmals zurückgreift: Nec enim in alio scriptore libentius ocium ac negocium nostrum collocamus. Nam hic profecto, si quis alius inter scriptores ecclesiasticos, omne tulit punctum, qui miscuit vtile dulci. Quis enim docet euidentius? Quis haereticos refellit acrius? Quis in mores declamat vel frequentius vel liberius? At contra, quis id facit popularius? Tanta charitatis suauitate condulcat etiam illa quae natura sunt amara. Quosdam vix ferimus adulantes, hunc et obiurgantem possis amare. Iam quanta vbique cura prouidentiaque pauperum, quam sollicita ad humanitatis officia cohortatio, quam diligens monachorum commendatio! Quos tum mundus, opinor, habebat optimos. Omitto quod vix alius plura scripsit, nec in his vllum est argumentum quod non tractet ea quae sunt Christianae pietatis; quum Augustinus noster, qui cum hoc polygraphia fortassis certare possit, tantum operae dederit grammaticae, dialecticae, musicae, ac prophanae philosophiae quaestionibus. Eras-

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diesem Horaz-Zitat8 wies Erasmus auf ein qualitatives Interesse an Chrysostomus hin, das sich auch quantitativ durch die hohe Anzahl von Frühdrucken dieses Kirchenvaters in Basel bestätigen lässt.9 Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine dreifache Fragestellung, der die Aufteilung des vorliegenden Beitrags entspricht10:

mus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 486, Z. 112–128. Wenige Jahre später scheint Erasmus seine Meinung über Chrysostomus’ polygraphia geändert zu haben: Nam Chrysostomus habet nescio quid submolestae πολυμυθίας, Erasmus: ep. 2526, Allen, Bd. 9, S. 328, Z. 14 f. 8 omne tulit punctum qui miscuit utile dulci, | lectorem delectando pariterque monendo, Hor. ars 343–344. 9 Nach der Zählung von Ueli Dill entstanden im Zeitraum von 1490–1547 etwa 30 Ausgaben allein in Basel, vgl. Ueli Dill: Johannes Chrysostomos im Basler Buchdruck des 16. Jahrhunderts. In: Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters. Hg. von Rudolf Brändle, Martin Wallraff. Berlin 2008, S. 255–265, hier S. 260–264. Dill behauptet dennoch, dass die Chrysostomus-Ausgaben keine herausragende Rolle unter den damals erschienenen patristischen Editionen gespielt haben (ebd., S. 255). 10 Außerhalb unserer Betrachtung bleiben sowohl die Druckgeschichte von Chrysostomus’ Werken als auch die Vorgeschichte der lateinischen Chrysostomus-Übersetzungen im Mittelalter, die bereits weitgehend erschlossen sind: Vgl. Chrysostomos Baur: Saint Jean Chrysostome et ses œuvres dans l’histoire littéraire. Louvain, Paris 1907, bes. S. 61–67 und 82–182; Wolfram Kinzig: In Search of Asterius. Studies on the Authorship of the Homilies on the Psalms. Göttingen 1990, Appendix 4, S. 254–266 (vollständige Liste der Chrysostomus-Ausgaben bis Ende des 19. Jahrhunderts). Vgl. neuerdings auch die Untersuchungen von Ueli Dill (Anm. 9) und Mariarosa Cortesi, besonders: Giovanni Crisostomo nel secolo XVI: tra versioni antiche e traduzioni umanistiche. In: I Padri sotto il torchio: edizioni dell’antichità cristiana nei secoli XV–XVI (Atti del convegno di studi SISMEL, Certosa del Galuzzo, Firenze, 25–26 giugno 1999). Hg. von M. Cortesi. Florenz 2002 (Millennio medievale 35), S. 127–146; Gianluca Masi: Le traduzioni di Giovanni Crisostomo nel primo Quattrocento. Fra ,Studia Humanitatis‘ e ,Studia Pietatis‘: Ambrogio Traversari e altri. In: Studia Humanitatis. Saggi in onore di Roberto Osculati. Hg. von Arianna Rotondo. Rom 2011, S. 269–283. Besonders zu den spätantiken lateinischen Übersetzungen des Chrysostomus vgl. Jean Paul Bouhot: Les traductions latines de Jean Chrysostome du Ve au XVIe siècle. In: Traduction et traducteurs au Moyen Âge (Actes du colloque international du CNRS organisé à Paris, Institut de recherche et d’histoire des textes, les 26–28 mai 1986). Hg. von Geneviève Contamine. Paris 1989, S. 31–39; Sever Voicu: Le prime traduzioni latine di Crisostomo. In: Cristianesimo latino e cultura greca sino al sec. IV (XXI Incontro di Studiosi dell’antichità cristiana, Roma 7–9 maggio 1992). Rom 1993 (Studia ephemeridis Augustinianum 42), S. 397–415. Bei jeder Chrysostomus-Ausgabe verweise ich auf die Clavis Patrum Graecorum. Hg. von Mauritius Geerard. Bd. 2. Turnhout 1974 und Suppl., ebd. 1998: Dort sind die (pseudo-)chrysostomischen Werke unter den CPG-Nummern 4305–5197 verzeichnet. Ich übergehe die Problematik der Überlieferung von Chrysostomus’ Schriften und die verwickelte Frage der Spurien. Für die Untersuchungen zum Corpus Chrysostomicum und die Identifizierung der Spurien vgl. José Antonio de Almada: Repertorium pseudochrysostomicum. Paris 1965 (Documents, études et repertoires 10); Sever Voicu:



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1. An welchen Quellen lässt sich diese Begeisterung für Chrysostomus am besten ablesen? 2. Welche sind ihre Gründe? Gelten diese dem Chrysostomus besonders oder in gleichem Maße auch den anderen spätantiken christlichen Autoren? 3. Wer hat dieses Interesse geteilt, bzw. wer ist das frühneuzeitliche Publikum des spätantiken Predigers? Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen die Praefationes zu den lateinischen Chrysostomus-Ausgaben in Basel im Zeitraum 1519–1530, zehn Texte insgesamt. Außerdem wird Erasmus’ Edition der Babylaspredigt11 im griechischen Original berücksichtigt.

1 Ad fontes: Die Praefationes zu den Basler Chrysostomus-Ausgaben Diese Praefationes sind programmatische Paratexte,12 die in textinterner Hinsicht die Leseanweisungen für das darauffolgende Werk liefern, während sie textextern das Werk in einem kulturhistorischen Zusammenhang verorten, der für die Kulturgeschichte am Oberrhein (und über diesen hinaus) aufschlussreich ist. Doch fanden die Praefationes in der späteren Rezeption häufig nicht die Beachtung, die sie verdient hätten. Vielfach sind sie nur im Erstdruck und in den Korrespondenzausgaben ihrer Verfasser unter vielen anderen Briefen publiziert, wodurch sie ihre Ein- und Anleitungsfunktion zu dem Werk, dem sie ursprünglich vorangestellt wurden, verlieren.

L’immagine di Crisostomo negli spuri. In: Chrysostomos Bilder [Anm. 9], S. 61–96, hier S. 61–67 und die dort in Anm. 6, S. 62 angeführte Literatur. 11 Io. Frob. studioso lectori S. D. Tria nova dabit hic libellus, Epistolam Erasmi, de modestia profitendi linguas. Libellum per quam elegantem D. Ioannis Chrysostomi Graecum, de Babyla martyre. Epistolam Erasmi Roterodami in tyrologum quendam impudentissimum calumniatorem […]. Basileae. [Apud Ioan. Frobenium]. Anno 1527 (VD16 E 2890). Für die Babylaspredigt vgl. CPG 4347. 12 Gérard Genette bezeichnet zwar die Prologe als „Peri-Texte“, weil sie dem darauffolgenden Werk näher stehen als z. B. die Briefe, die auf das betreffende Werk einfach Bezug nehmen (Gerard Genette: Seuils. Paris 1987, S. 11), doch habe ich mich für die Bezeichnung „Paratexte“ entschieden, da diese in der gegenwärtigen Forschung häufiger verwendet wird.

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Die Eingrenzung auf den oben genannten Ort- und Zeitabschnitt (Basel in den Jahren 1519–1530)13 hat folgende Gründe: Auf das Jahr 1519 datiert das erste in Basel selbst verfasste Vorwort zu einer Chrysostomus-Ausgabe, das kein Nachdruck nach früheren auswärtigen Ausgaben mehr ist;14 1530 ist das Jahr der ersten Chrysostomus-Gesamtausgabe von Erasmus, eines Meilensteins in der Druckgeschichte dieses Kirchenvaters.15 Sie erfolgte ein Jahr nach dem Durchbruch der Reformation in Basel, der nicht nur zu Erasmus’ Umsiedlung nach Freiburg geführt, sondern auch Auswirkungen auf den ganzen Buchmarkt gehabt hatte.16 Dieser Markt hatte damals – zumal im Bereich der patristischen Editionen – Basel als Zentrum, und der Rhein spielte eine wichtige Rolle dafür, denn der Fluss war die Hauptachse des Handels und des Verkehrs in Europa. Er bildete zudem eine Verbindung nach Italien, dem Herkunftsland vieler Handschriften und Frühdrucke und begünstigte dadurch die Basler Buchproduktion, die im Bereich lateinischer Ausgaben besonders üppig wuchs und auf einen überregionalen, europäischen Markt ausgerichtet war.17

13 Vgl. Markus Bolliger: Quellen und Materialien zur Geschichte Basels. Basel im 15. & 16. Jahrhundert. Basel 2009, Teil 3, S. 10 (von Anzahl der Drucke her sind die Jahre 1521–1530 der produktivste Zeitabschnitt) und S. 13. 14 In keiner der beiden früheren Chrysostomus-Ausgaben (von Wolff [lat. Jacobus de Pfortzen] / Lachner 1504 und von Froben 1517 [s. Anm. 26 und 27]) gibt es eine Praefatio, die eigens für diese Basler Ausgaben verfasst worden wäre. 15 D. Ioannis Chrysostomi Archiepiscopi Constantinopolitani Opera (Anm. 2). 16 Zu den politisch-religiösen Ereignissen des Jahres 1529 in Basel vgl. Paul Roth: Durchbruch und Festsetzung der Reformation in Basel. Eine Darstellung der Politik der Stadt Basel im Jahre 1529 auf Grund der öffentlichen Akten. Basel 1942, bes. S. 18–21 und S. 26–33 über den Bildersturm vom Februar 1529 und dessen Folgen. Mit besonderem Bezug auf Erasmus vgl. Christine Christ-von Wedel: Das Selbstverständnis des Erasmus von Rotterdam als „Intellektueller“ im städtischen Kontext des 16. Jahrhunderts. In: Scriptorium 2008 (Documenta Pragensia 27), S. 243–254, hier S. 254 und dies.: Erasmus of Rotterdam. Advocate of a New Christianity. Toronto 2013, S. 197 f. 17 „Tra la fine del ’400 e i primi lustri del ’500 venne a costituirsi a Basilea il polo più importante dell’editoria patristica.“ Paolo Stella: Editoria e lettura dei Padri: Dalla cultura umanistica al modernismo. In: Complementi interdisciplinari di patrologia. Hg. von Antonio Quacquarelli. Rom 1989, S. 799–837, hier S. 801 f. Auch Urs Leu weist anhand der Zahlen der veröffentlichten Bände nach, dass die Basler Drucker das Feld der patristischen Ausgaben beherrscht haben: Urs Leu: The Book and Reading Culture in Basel and Zurich during the Sixteenth Century. In: The Book Triumphant. Print in Transition in the Sixteenth and Seventeenth Century. Hg. von Malcom Walsby, Graeme Kemp. Leiden, Boston 2011, S. 295–319, hier S. 303–305. Über die Rolle des Rheins in diesem Zusammenhang vgl. ebd., S. 297 und Wilhelm Ribhegge: Erasmus von Rotterdam. Darmstadt 2010, S. 74.



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Die große Anzahl von Basler Chrysostomus-Ausgaben in unserem Zeitraum ist der eifrigen Editionstätigkeit von Humanisten zu verdanken, die sich im philologischen ebenso wie im theologischen und kirchlichen Bereich sehr engagierten: Wolfgang Capito, der in seinen fünf Jahren in Basel (1515–1520) sowohl als Domprediger und Theologieprofessor als auch für die lokalen Verleger arbeitete,18 Erasmus von Rotterdam, der ab 1516 seine patristischen Editionen vorwiegend in der Rheinstadt drucken liess,19 und Johannes Oekolampad, der von seiner Rückkehr aus dem Mainzer Gebiet nach Basel 1522 bis zu seinem Tod 1531 immer wieder für Chrysostomus-Übersetzungen zu gewinnen war.20 Chrysostomus gelangte nicht in Gestalt seiner Reliquien nach Basel, sondern vielmehr durch seine Schriften, die laut Erasmus – mehr als Knochen oder andere Reste – als „besonders verehrungswürdige und wirksame Reliquien der Heiligen“ (sanctissimas et efficacissimas diuorum reliquias) gelten.21 Freilich waren Gebeine von Chrysostomus bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts infolge des 4. Kreuzzuges im Westen (besonders in Rom) angelangt. Sein kultisches Gedächtnis ist noch

18 Zu Capitos Biographie vgl. James M. Kittelson: Wolfgang Capito: From Humanist to Reformer. Leiden 1975, insbes. S. 23–51 über die Basler Jahre, seine Beziehung zu Erasmus und seine Haltung zur scholastischen Theologie. Über Capito und Chrysostomus vgl. Beate Stierle: Capito als Humanist. Heidelberg 1974, S. 188–192. 19 Zu Erasmus’ Biographie vgl. Wilhelm Ribhegge (Anm. 17), bes. S. 138–160 über die Basler Jahre. Über seine Beziehung zu Capito und Oekolampad vor der Reformation vgl. Christine Christ-von Wedel: Erasmus (Anm. 16), S. 183 f. Über Erasmus und die Kirchenväter und besonders Chrysostomus vgl. Wolfgang Lackner: Erasmus von Rotterdam als Editor und Übersetzer des Johannes Chrysostomos. In: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 37 (1987), S. 293–311; Jan den Boeft: Erasmus and the Church Fathers. In: The Reception of the Church Fathers in the West. Hg. von Irena D. Backus. Bd. 2. Leiden 1997, S. 537–572, hier S. 563 f.; Mariarosa Cortesi: Erasmo editore dei Padri della Chiesa. In: Erasmo da Rotterdam e la cultura europea (Atti dell’Incontro di Studi nel V Centenario della laurea di Erasmo all’Università di Torino – Torino, 8–9 settembre 2006). Hg. von Enrico Pasini, Pietro B. Rossi. Florenz 2008, S. 121–147, hier S. 135–139. 20 Zu Oekolampads Biographie vgl. Ulrich Gäbler: Art. Oekolampad, Johannes. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 25. Berlin 1995, S. 29–36, bes. S. 31–33 über die Basler Jahre. Vgl. auch Diane Poythress: Reformer of Basel: The Life, Thought and Influence of Johannes Oecolampa­ dius. Grand Rapids, Mich. 2011, bes. S. 11–34 über die Basler Jahre und S. 58–60, 158–160 über die Arbeit an Chrysostomus. Für eine ausführliche Behandlung dieses Themas vgl. Ernst Staehelin: Die Väterübersetzungen Oekolampads. In: Schweizer Theologische Zeitschrift 33 (1916)  – Separatdruck, S. 1–35, hier S. 13–35; ders.: Oekolampads Beziehungen zu den Romanen (Habilita­ tionsvorlesung). Basel 1917, S. 1–40, hier S. 9–14. Für ein Verzeichnis der Chrysostomus-Übersetzungen Oekolampads vgl. ders.: Oekolampad-Bibliographie. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Oekolampaddrucke. Basel 1918. S. 1–119, hier S. 33–38, 40 f., 47–49, 50 f., 79–81, Nr. 63 f., 68–70, 75, 79–81, 97, 99, 104, 165, 167. 21 So Erasmus in der Vorrede seiner Hieronymus-Ausgabe 1516 (Erasmus: ep. 396, Allen, Bd. 2, S. 213, Z. 65).

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früher, und zwar in westlichen Martyrologien der Karolingerzeit, belegt, hat sich aber in der lateinischen Kirche erst im 15. und 16. Jahrhundert durchgesetzt,22 zur selben Zeit, in der auch seine Werke in handschriftlicher und dann zunehmend in gedruckter Form zirkulierten. Es ist noch ungeklärt, ob Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen der Verbreitung des Chrysostomus-Kultes einerseits und der Verbreitung seiner Schriften andererseits bestehen. Chrysostomus-Codices sind ab der Mitte des 15. Jahrhunderts mit den Flüchtlingswellen aus dem gefallenen byzantinischen Reich nach Westen gekommen. Manche haben Venedig erreicht,23 wo 1503 die erste Chrysostomus-Gesamtausgabe auf Latein erschien.24 Binnen kurzer Zeit traf diese Ausgabe in der Rheinstadt ein, und zwar möglicherweise im Gepäck des Buchhändlers Wolfgang Lachner, der wenige Jahre später (1510) zum Schwiegervater des Verlegers Johann Froben werden sollte.25 Lachner ließ 1504 die von ihm erworbene venezianische Ausgabe in der Offizin von Jacob Wolff von Pforzheim nachdrucken.26 Das öffnete die Tore für zwei spätere Basler Chrysostomus-Gesamtausgaben, die zum Teil den Text der venezianischen (inklusive Vorworte) nachdruckten, aber auch neue Übersetzungen aufnahmen: Die eine erschien 1517 bei Johann Froben,27 die andere 1521/22 bei Andreas Cratander.28

22 Vgl. Baur (Anm. 10), S. 80–82; Brändle (Anm. 2), S. 154. 23 So bekam Erasmus um das Jahr 1527 einen Codex (codex peruetustus Graece descriptus) aus Venedig mit Chrysostomus’ Predigten, die er dann als erster ins Latein übersetzte: Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 485, Z. 81–84. 24 Accipe candidissime lector opera diui Ioannis Chrisostomi archiepiscopi Constantinopolitani. Venetiis, cura & solerti studio Bernardini Stagnini Tridinensis, Gregoriique de Gregoriis in cuius officina, ut uides, floruit hoc aureum opus […] 1503. 2 Bde. Dazu vgl. Kinzig (Anm. 10), S. 255 und Cortesi (Anm. 10), S. 132. 25 Über Lachner vgl. Frank Hieronymus: Wolfgang Lachner, Buchhändler und Verleger, Schwiegervater Johannes Frobens. In: Gutenberg Jahrbuch 60 (1985), S. 145–152. 26 Accipe candidissime lector opera divi Ioannis Chrysostomi archiepiscopi Constantinopolitani. [Basileae]. [Ex officina Iacobi de Pfortzen, impensa Wolfgangi Lachner]. [Anno 1504]. 2 Bde. (VD16 J 395). 27 Tomus primus[-quintus] operum Io. Chrysostomi Constantinopolitani. Apud inclytam Germaniae Basileam. [Apud Io. Frobenium]. Anno 1517. 5 Bde. und Indexband (VD16 J 396). Auf diese Ausgabe bezieht sich Johann Froben in einem Brief an den italienischen Humanisten und Buchhändler Francesco G. Calvo (Basel, Frühjahr 1517): habeo sub incude litteraria Jo. Chrysostomi opera latina, ep. 2, AK 2, S. 527, Z. 3. Vgl. dazu auch Cortesi (Anm. 10), S. 135 f.; Dill (Anm. 9), S. 256 f. 28 Tomus Primus [-quintus] Operum Ioannis Chrysostomi Constantinopolitani […]. [Basileae]. [Apud Andream Cratandrum]. [1521–1522]. (VD16 J 397). Den fünf Bänden wurde 1525 ein sechster hinzugefügt (vielleicht auch ein siebter, der aber im Katalog der Basler Universitätsbibliothek nicht verzeichnet ist): Vgl. Ernst Staehelin: Oekolampad-Bibliographie (Anm. 20), S. 35 f. und



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Gelegentlich weisen die Widmungsbriefe der Chrysostomus-Ausgaben auf handschriftliche Vorlagen hin: Sei es, weil der Herausgeber den korrupten Text seiner Vorlage beklagte  – so Erasmus in Bezug auf eine Handschrift mit Chrysostomus’ Predigten über Gottes Vorsehung,29 die er 1526 in lateinischer Sprache veröffentlichte –,30 sei es, weil man die Verwendung besonders alter Codices als Beweis für die Zuverlässigkeit der eigenen Übersetzung hervorheben wollte – so Capito in Bezug auf einen griechischen Codex, den er am Beginn des Vorwortes zu seiner Übersetzung einer Chrysostomus-Mahnrede erwähnte.31 Dieser Codex ist die noch heute erhaltene Basler Pergamenthandschrift B II 15 aus dem Frühmittelalter, die vom Kardinal Johannes Stojkovič zur Zeit des Konzils nach Basel gebracht und im Predigerkloster aufbewahrt wurde. Die Handschrift ist nach Capitos Übersiedlung von Basel nach Mainz in die Hände von Oekolampad gelangt, der sie für seine Arbeit an Chrysostomus benutzt hat  – zuerst in Mainz, dann bei seinem Aufenthalt auf der Ebernburg und schließlich wiederum in Basel.32 So reiste der Codex den Rhein hinab und wieder hinauf.

50 f., Nr. 68 und 104. Auf diese Ausgabe weist ein Brief des Verlegers Cratander an Capito hin (Basel, 20. September 1521): Sum enim impressurus per hiemem diuum Chrysostomum, praefatorum dominorum sumptibus, id quod Frobenium male habet. Capito: ep. 109. Hg. von Erika Rummel. http://www.itergateway.org/capito/Letter109.pdf, Z. 12–13 (08.07.2014). Für diese und die im Folgenden zitierten Briefe von Capito vgl. auch deren englische Übersetzung in: The Correspondence of Wolfgang Capito. Hg. von Erika Rummel, Milton Kooistra, Bd. 1 (1507–1523). Toronto 2005. Zu Cratanders Ausgabe vgl. auch Erasmus’ Brief an Germain de Brie (sog. Brixius) vom 27. August 1526 (Erasmus: ep. 1736, Allen, Bd. 6, S. 381, Z. 8 f. und Anm. 8). 29 Divi Ioannis Chrysostomi Conciunculae perquam elegantes sex de fato & providentia Dei. Basileae. Apud Ioannem Frobenium. Anno 1526 (VD16 J 421). Für diese Predigten vgl. CPG 4367. 30 Scito mihi rem fuisse cum codice vt peruetusto, ita non vsquequaque castigato, Erasm.: praef. in conciunc. = ep. 1661, Allen, Bd. 6, S. 253, Z. 15 f. Später hat Erasmus weitere ChrysostomusCodices in Verona und Padua überprüft bzw. überprüfen lassen, weil er sie als Grundlage für die Übersetzungen seiner Chrysostomus-Gesamtausgabe 1530 heranziehen wollte. Hinweise darauf finden sich z. B. in Erasmus: ep. 1623 (Basel, Oktober 1525), Allen, Bd. 6, S. 186, Z. 9–12. Dazu vgl. Cortesi (Anm. 10), S. 139 f. 31 Conuerti Paraenesim priorem diui Ioannis Chrysostomi e Graeco et peruetusto codice, quam scripsit ad Theodorum desertorem uitae monasticae. Capito: praef. in paraen. = ep. 32a (16. November 1519), hg. von Erika Rummel: http://www.itergateway.org/capito/Letter032a.pdf (08.07.2014), Z. 4 f. Allerdings zeigt ein Vergleich mit der alten lateinischen Übersetzung, dass Capito diese ebenfalls vor sich gehabt haben dürfte. 32 Zu diesem Codex vgl. Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 13 f. (bes. S. 14, Anm. 3), ferner S. 17 und S. 20 f.; vgl. auch Gustav Meyer, Max Burckhard: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Beschreibendes Verzeichnis. Abteilung B: Theologische Pergamenthandschriften, Bd. 1, Signaturen B I 1  – B VIII 10. Basel 1960, S. 169 f. Für die Chrysostomus-Handschriften in der Basler Universitätsbibliothek vgl. Robert E. Carter: Co-

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2 Eloquentissima sapientia: Chrysostomus und die Kirchenväter am Oberrhein Die einschlägigen Praefationes bieten nicht nur aufschlussreiche Einblicke in die Überlieferungsgeschichte von Chrysostomus’ Werk, sondern sie zeigen auch die Gründe seiner Anziehungskraft, die zum Teil die gleichen waren wie bei anderen Kirchenvätern. Denn, wenn man Erasmus’ Vorworte zu seinen patristischen Editionen insgesamt betrachtet,33 stellt man fest, dass er die meisten Kirchenväter für ihre Frömmigkeit (pietas) und Heiligkeit (sanctimonia) zusammen mit ihrer Gelehrsamkeit und Eloquenz pries, durch die sie ein breites Publikum für den christlichen Glauben gewonnen hatten. Im allgemeinen wurde ihre Lehre im Vergleich zu den abstrakten Spitzfindigkeiten scholastischer Theologen als konkreter und klarer empfunden:34 konkret und deshalb glaubwürdig, weil ihre Lebensführung häufig ihr Glaubensbekenntnis widerspiegelte; klar, weil ihre Theologie an eine Auslegung der heiligen Schrift anknüpfte, welche Methoden aus der antiken Rhetorik übernahm. Dieser Zugang zur Bibel fand den Beifall vieler Humanisten, die eine allgemeine Rückbesinnung auf die Antike mit einem verstärkten Interesse für den Bibeltext kombinierten. So hat sich Capito in Bezug auf zwei Lehrer der griechischen und lateinischen Kirche, Chrysostomus und Hieronymus (an dessen 1516 von Erasmus herausgegebener Gesamtedition er mitgearbeitet hat), geäußert, welche Beredsamkeit mit Bibelkenntnis (dicendi facultatem cum scientia scrip-

dices Chrysostomici Graeci. Bd. 3 (Americae et Europae occidentalis). Paris 1970, S. 63–70, sowie S. 65–68 zum genannten Codex B II 15 (hier unter Nr. 69 verzeichnet). 33 Für Erasmus’ Vorreden zu den Kirchenvätern vgl. Erasmus: Prefaces to the Fathers, the New Testament, on Study. Hg. von Robert Peters. Menston 1970 (Textsammlung ohne Kommentar und Übersetzung). 34 Zu Capitos Haltung gegenüber der scholastischen Theologie vgl. Kittelson (Anm. 18). Siehe auch Erasmus’ Äußerung in Bezug auf die Theologen seiner Zeit: Et illi quidem [d. h. Chrysostomus, Basilius, Hieronymus] confutarunt Ethnicos Philosophos ac Iudaeos, […] sed vita magis ac miraculis quam syllogismis, Erasmus: Moriae encomium id est Laus stultitiae. Hg. von Clarence H. Miller. In: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami [= ASD]. Bd. IV, 3. Amsterdam, Oxford 1979, S. 154, Z. 462–464. Über Erasmus’ Kritik an der scholastischen Theologie anhand der Kirchenväter vgl. Denys Gorce: La patristique dans la Réforme d’Erasme. In: Festgabe Joseph Lortz. Bd. 1: Reformation. Schicksal und Auftrag. Hg. von Erwin Iserloh, Peter Manns. Baden-Baden 1958, S. 233–276 (mit besonderem Bezug auf Hieronymus, nur ansatzweise auf Chrysostomus). Im Allgemeinen vgl. Wilhelm Kölmer: Scholasticus literator: Die Humanisten und ihr Verhältnis zur Scholastik. In: Historisches Jahrbuch 93 (1973), S. 301–335, bes. S. 320 f. über Erasmus; Erika Rummel: The Humanist-Scholastic Debate in the Renaissance and the Reformation. Cambridge, Mass. 1995, bes. S. 96–125 (auch mit Bezug auf Erasmus).



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turarum) verbunden hatten: Vbique enim omnia uterque rhetorico spiritu inflat [„Beide hauchen all ihren Schriften einen rhetorischen Geist ein“].35 Deshalb stehen sie nebeneinander in der Vorrede zu Chrysostomus’ Paraenesis ad Theodorum lapsum, die Capito dem Erzbischof von Mainz (November 1519) gewidmet hat.36 Aus ähnlichen Gründen hatte Oekolampad ein Jahr zuvor in einem Brief an Capito diese beiden Kirchenväter als Lehrer des guten Predigens herangezogen.37 Was Capito an der Bibelkenntnis des Chrysostomus besonders schätzte, ist, dass dieser das Verständnis der Heiligen Schrift „eher aus sachlicher Prüfung der Umstände als aus hasserfüllten Wortstreitereien“ erlangt hatte.38 Dies beteuerte Capito im Vorwort zur Übersetzung einer Chrysostomus-Homilie über den zweiten Korintherbrief (2 Cor. 11,1),39 einem Werk, das er als Domprediger in Basel dem Bischof von Pistoia, Antonio Pucci,40 bei dessen Besuch in der Rheinstadt auf seiner Gesandtschaftsreise in die Eidgenossenschaft gewidmet hat (7. Mai 1519). Seine Aussagen über Chrysostomus’ Bibelauslegung waren eigentlich als Polemik gegen einen scholastischen Theologiediskurs gemeint, der sich in dialektischen Syllogismen und Gegenüberstellungen entfaltet und von einer klaren, textnahen Deutung der Bibel weit entfernt hatte,41 welche dagegen bei Chrysostomus zu finden war.

35 Capito: praef. in paraen. = ep. 32a. (Anm. 31), bes. Z. 8–9. 36 Ad reverendissimum atque illustrissimum principem, D. Albertum Archiepiscopum Moguntinum, Cardinalem &c. epla V. Fabritij Capitonis. Paraenesis prior divi Io. Chrysostomi ad Theodorum lapsum / V. Fabritio Capitone interprete cum praefatione ad eundem D. Albertum Archiep. Mogunt. Card. [Basileae]. [In aedibus Io. Frobenii]. [Anno 1519] (VD16 C 812). Für die genannte Paraenesis vgl. CPG 4305 zu seiner spätantiken lateinischen Übersetzung. 37 Vgl. Oecolampadius: ep. 35 (18. März 1518), Staehelin, Bd. 1, S. 52 f. 38 Videre licet, quod ex accurato potius examine circunstantiarum, quam ex odiosis verborum pugnis constet intellegendae scripturae modus, Capito: praef. in hom. in 2 Cor. 11, 1 = ep. 27, hg. von Erika Rummel: http://www.itergateway.org/capito/Letter027.pdf (08.07.2014), Z. 22 f. Für das Zitat auf Deutsch oben im Text s. Frank Hieronymus: Griechischer Geist aus Basler Pressen: Katalog der früheren griechischen Drucke aus Basel in Text und Bild. Basel 2003, Nr. 388 (onlineVersion von ders., „En Basileia Polei tēs Germanias“. Basel 1992, im Folgenden zitiert als GG; http://www.ub.unibas.ch/cmsdata/spezialkataloge/gg/higg0388.html [Juli 2016]). 39 Divi Io. Chrysostomi Homilia, de eo quod dixit Apostolus, utinam tolerassetis paululum quiddam insipientiae meae. V. Fabritio Capitone interprete. Basileae. Apud Andream Cartandrum [sic]. Anno 1519 (VD16 J 423). Für diese Homilie vgl. CPG 4384. 40 Vgl. Urban Fink: Art. Pucci, Antonio. In: Historisches Lexikon der Schweiz online (http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17915.php [veröffentlicht 14.11.2011, 08.07.2014]); ferner vgl. Genealogien zur Papstgeschichte. Bearb. von Christoph Weber. Bd. 4. Stuttgart 2001, S. 797 f. 41 Adeo geruntur omnia ex praescripto, coaceruatis perturbate multis scripturae dictis, nihil ad rem facientibus, Capito: praef. in paraen. = ep. 32a, hg. von Erika Rummel: http://www.itergateway.org/capito/Letter027.pdf (08.07.2014), Z. 18 f.

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Aus ähnlichen Gründen wurde der Kirchenvater auch von Oekolampad im Vorwort zu dessen Ausgabe von Chrysostomus’ Genesishomilien42 (August 1523) gelobt: weil er das Buch Genesis nach seinem offenkundigen, reinen Sinn (pure et aperte)43 ausgelegt und auf ertraglose Allegorien verzichtet hatte. Offensichtlich stand der Basler Reformator in Einklang mit der antiochenischen Exegetenschule, die den historischen Wortsinn der Bibel in den Vordergrund gestellt und auch Chrysostomus’ Bibelauslegung geprägt hatte.44 Auf jeden Fall war Oekolampads Anliegen vor allem ein Bibelverständnis, das zur tieferen Kenntnis Christi und zu einer dementsprechenden Lebensführung führen sollte.45 Darauf mussten auch die „frommen Studien“ (pietatis studia) abzielen, die Oekolampad mit seiner Chrysostomus-Übersetzungen fördern wollte  – wie er im Vorwort zu den sog. Psegmata,46 einer Auswahl aus Chrysostomus’ Predigten, erklärte (1. März 1523).47 Ebenso wie die „humanistischen Studien“ (studia

42 Divi Ioannis Chrysostomi, Archiepiscopi Constantinopolitani, in totum Geneseōs librum Homiliae sexagintasex  / a Ioanne Oecolampadio hoc anno versae […]. Basileae. [Apud Andream Cratandrum]. Anno 1523 (VD16 J 434). 43 Atqui non facile reperies aliquem, qui tam pure et aperte ac diligenter uniuersam seriem [d. h. das ganze Buch Genesis] enarret ut Chrysostomus […] Neque enim in sterilibus nugacibusque allegoriis versatur, sed historiam, quam in sacris litteris ut fundamentum praestruere conuenit, dextre tractat, Oecolampadius: praef in Gen. = ep. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 240. Ähnliches Argument in Oekolampads Brief an Hedio: ep. 142, Staehelin, Bd. 1, S. 203. 44 Mehrere Quellen bezeugen, dass Diodor von Tarsus (zur Person vgl. Christoph Schäublin: Art. Diodor v. Tarsus. Theologische Realenzyklopädie, Bd. 8 [1981], S. 763–767) Lehrer des Chrysostomus gewesen ist: Vgl. Rudolf Brändle, Verena Jegher-Bucher: Art. Johannes Chrysostomus. I. In: Realenzyklopädie für Antike und Christentum, Bd. 18 (1998), Sp. 426–503, hier Sp. 429. Für die antiochenische Schule vgl. Robert C. Hill: Reading the Old Testament in Antioch. Leiden 2005, bes. S. 108–112 über Diodors Exegese und S. 117–122 über Chrysosomus’ Bibelauslegung. 45 Nihil enim aliud quaerendum in scripturis sanctis, quam quod ad vitam sanctam attinet [dann folgt das Zitat von 2 Tim. 3,16 f.]. Atque eatenus scripturae vacandum est, quatenus nobis notior sit Christus, et formetur in nobis vita Christiana. Quem docendi modum prae aliis sanctius observat Chrysostomus. Oecolampadius: praef. in Gen. = ep. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 241. 46 Divi Ioannis Chrysostomi Psegmata quaedam / nuperrime a Ioanne Oecolampadio in Latinum primo versa: cum adnotationibus eiusdem. Basileae. Ex officina Andreas Cratandri. Anno 1523 (VD16 J 403). 47 Maluissemus item et nos, qui noster ad iuvanda pietatis studia animus est, integras laminas et non tantum psegmata dare, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 209. Zur Enstehung der Psegmata (sowie zur Übertragung der Genesishomilien) vgl. Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 16 und Oecolampadius: ep. 131, Staehelin, Bd. 1, S. 194, Anm. 3. Zum Titel Psegmata vgl. unten bei Anm. 53 und 95.



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humanitatis)48 waren die „frommen Studien“ von der Rückbesinnung auf die älteren Autoren – in diesem Fall der christlichen Antike – geprägt, die als Vorbild echter Weisheit angesehen wurden. Als solches sieht Erasmus den Goldmund, dem er im Vorwort zu seiner Chrysostomus-Gesamtausgabe 1530 in chiastischer Koppelung eine sehr eloquente Weisheit (eloquentissima sapientia) und eine sehr weise Eloquenz (sapientissima eloquentia) bescheinigte, in der Absicht, den Beinamen „Goldmund“ zu begründen.49 Das Motiv des „goldenen Mundes“ taucht in ähnlichen Zusammenhängen auch in Erasmus’ Vorreden zu den Chrysostomus-Lucubrationes50 und zur Edition der Babylaspredigt51 auf. Auch Oekolampad übertrug „Chryso-stomos“ ins Lateinische (os aureum) und baute dabei das Binom eloquentia und sapientia in ein etymologisches Spiel ein.52 Selbst den schon erwähnten Titel, Psegmata, von ihm als „Goldene Splitter“ gedeutet, wählte er dazu, um auf den Goldmund und dessen wertvolle Predigten hinzuweisen, die er erst damals – obwohl unvollständig (eben als Splitter, Goldfragmente) – publizieren wollte.53 Die Metapher der goldenen Splitter war aber nicht nur dazu gedacht, den Wert von Chrysostomus’ Erbe herauszustellen, sondern auch die selektive, minuziöse Erschließung- bzw. Übertragungsarbeit des Herausgebers aufzuwerten. Auf diese Art von Editionsarbeit deutet auch das Bild der Blumenpflückens und der Honigherstellung hin, das Erasmus in seinem Widmungsbrief an Polydo-

48 Der Ausdruck humanitatis studia findet sich z. B. bei Coluccio Salutati, ep. 14,24 (Epistolario. Bd. 4. Hg. von Francesco Novati. Rom 1905, S. 216, Z. 6). Dazu vgl. Ueli Dill: Prolegomena zu einer Edition von Erasmus von Rotterdam „Scholia in Epistolas Hieronymi“. Basel 2004, Bd. 1, S. 22. 49 Nunc prodit diuus Ioannes Chrysostomus, mellitissimus ille concionator Christique praeco indefatigabilis, cui iure optimo ob sapientissimam eloquentiam et eloquentissimam sapientiam oris aurei cognomen tributum est, Erasmus: ep. 2359, Allen, Bd. 9, S. 5, Z. 7–10. 50 […] os illud aureum ac plane mellitam suauiloquentiam, Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 485, Z. 86–87. 51 Chrysostomus summam pietatem cum admirabili copulat eloquentia und in seiner Rede non minus Christum spirat quam Demosthenem. […] Hoc thema [d. h. die Geschichte des Märtyrers Babyla], quod nec varium est neque quicquam habet amplum aut insigne, mirum est quibus depingat eloquentiae coloribus, quibus ingenii opibus locupletet hic vere aureus artifex. Erasmus: praef. in Babylam = ep. 1856, Allen, Bd. 7, S. 126, Z. 6 f. und Z. 14–21. 52 Nemo enim, qui tantum virum vel a nomine cognoscit, aut tam hebeti ingenio aut tam perverso iudicio est, quin statim auream in aureo ore et eloquentiam et sapientiam agnoscat, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 208. 53 At ne cui omnino parum videatur, quod ramenta damus: ramenta quidem sunt, sed auri, et auri, quod ab aureo illo ore profluxit, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 209. Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 16, Anm. 7, übersetzt psegmata mit „Goldkörnern“.

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rus Vergilius (19. August 1526)54 und in dem an John Claymond (30. Januar 1526)55 verwendete. Dabei griff er eine klassische Metapher für die literarische bzw. philologische Tätigkeit auf,56 indem er erklärte, dass die Arbeit an Chrysostomus’ Texten, die wie zarte Blumen (flosculi) seien, einen heilsamen Effekt hat, aber von vielen Verleumdern wie von Hornissen (crabrones) bedroht wird. Worauf bzw. auf wen Erasmus dabei anspielte, ist unklar. Allerdings kann man anhand seines Briefwechsels der Jahre um 1526 – darunter befindet sich auch der Widmungsbrief der Babylaspredigt (1527)57  – vermuten, dass er sowohl Reformatoren wie Luther als auch Altgläubige wie Noël Béda und andere Pariser Theologen gemeint haben dürfte, die ihn alle seit 1525 vielfach angegriffen hatten.58 Die süße Eloquenz (mellitam suauiloquentiam)59 war jedenfalls ein Kennzeichen des Chrysostomus für alle seine Basler Herausgeber, wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen: Während sie Erasmus mit der klassischen Ausbildung des Kirchenvaters in Verbindung brachte,60 sah Oekolampad ihren Ursprung anderweitig: Die wahre Eloquenz wird ihm zufolge nur den guten und weisen Men-

54 […] flosculos aliquot decerpsi, Erasm. praef. in Phil. = ep. 1734, Allen, 6, S. 379, Z. 4. 55 […] ex florentissimis simul ac saluberrimis diui Chrysostomi hortis decerptos mitto flosculos sex, vnde sedulum et operosum examen tuum ad sanctum mellificium colligat succum, non minus animo salutiferum quam palato suauem. […] Plures exoriuntur, qui mellificio obturbant. […] Isti crabrones verius quam fuci nihil non faciunt quo mellificantibus obsistant. Erasmus: praef. in conciunc. = ep. 1661, Allen, Bd. 6, S. 253, Z. 1–4, 20–25. 56 Zu dieser Metapher vgl. Tore Janson: Latin Prose Prefaces. Studies in Literary Conventions. Stockholm u. a. 1964, S. 152 f. 57 Vgl. Erasmus: praef. in Babyl. = ep. 1856, Allen, Bd. 7, bes. S. 127, Z. 42–46. 58 Hinweise auf Erasmus’ Streit mit Luther kommen in mehreren Briefen von ihm vor, vgl. exemplarisch Erasmus: ep. 1675 (an Reginald Pole, 8. März 1526), Allen, Bd. 6, S. 283, Z. 29–32; ep. 1677, ebd., S. 284, Z. 8–10 und ep. 1678, ebd., S. 285, Z. 23–27 mit Bezug sowohl auf Luther, als auch auf einen anderen seiner Gegner, den Pariser Theologen Pierre Cousturier. Zu Erasmus’ Konflikt mit diesem und anderen Theologen der Pariser Universität wie Noël Béda vgl. Erasmus: ep. 1571 (an Béda, 28. April 1525), ebd., S. 65–69; ders.: ep. 1721–1723 (Juni 1526), ebd., S. 357–366. Zu Erasmus’ Auseinandersetzungen mit verschiedenen Theologen in den 20er Jahren vgl. Cornelis Augustijn: Erasmus von Rotterdam: Leben, Werk, Wirkung. Übers. von Marga E. Baumer. München 1986, S. 108–142 passim; Rummel (Anm. 34), S. 104–107, 111–113; Ribhegge (Anm. 17), S. 98–144 (bes. ab S. 129); zum Konflikt insbesondere mit den Reformatoren vgl. Christine Christ-von Wedel: Erasmus (Anm. 16), S. 162–199. 59 Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 485, Z. 87. 60 Harum disciplinarum [d. h. die Grammatik, die Dialektik, die Musik und die Philosophie], quum Chrysostomus fuerit exacte doctus, […] nullam tamen usquam praebet ostentationis speciem, sed omnes cogit seruire pietati Christianae, ebd., S. 486, Z. 128–132.



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schen zuteil, als wäre sie nicht eine durch die Ausbildung erworbene Fähigkeit, sondern quasi eine Gabe von oben.61 Solche Bemerkungen können ein Indiz dafür sein, dass diese Humanisten trotz vielen Gemeinsamkeiten Chrysostomus’ Texte vor dem Hintergrund von unterschiedlichen theologischen Anschauungen befragten und verbreiteten.62 Weshalb aber hielten sie Chrysostomus’ Eloquenz für herausragend? Erasmus hat die Gründe dafür am besten deutlich gemacht, ohne jedoch den Begriff zu verwenden, der bei Chrysostomus selbst63 und dann auch bei Oekolampad (in leicht abgeänderter Form)64 belegt ist, nämlich συγκατάβασις (lateinisch condescensio). Diese wusste der Rotterdamer in seiner Tätigkeit als Publizist und Lehrer besonders zu schätzen. In den Vorreden zu den Lucubrationes (1527) und zur Chrysostomus-Gesamtausgabe von 1530 stellte er dieses Merkmal von Chrysostomus’ Predigttätigkeit als die Redebegabung dar, die eine schwer zu begreifende Botschaft lebendig und dem Volk zugänglich macht (theatricum ac populare).65 Dadurch habe sich der spätantike Bischof ausgezeichnet, der von einer tiefen caritas

61 Vera eloquentia non nisi bonis et sapientibus viris tribuitur; et quotusquisque sapiens et bonus habendus? [vgl. Luc. 18,19] At Chrysostomus noster Christiane et sapiens et eloquens celebratur, non solum apud Thraces et Syros suos, sed et in toto orbe, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 208. 62 Als Beispiel für den Rückgriff auf die Kirchenväter und besonders auf Chrysostomus in der theologischen Debatte vgl. Capitos Brief an Bucer über die Abendmahlslehre: ep. 337 (September 1530). In: Martin Bucer: Briefwechsel. Correspondance. Bd. 4. Hg. von Reinhold Friedrich, Berndt Hamm, Andreas Puchta. Leiden 2000, S. 265, Z. 5; ferner Oekolampads Schrift Quid de eucharistia veteres tum Graeci, tum Latini senserint dialogus (Staehelin [Anm. 28], S. 78, No. 164) sowie seine Briefe zur Verteidigung seiner Abendmahlauffassung (z. B. ep. 597 [30. August 1528], Staehelin, 2, S. 217–219). Vgl. dazu Eric W. Northway: The Reception of the Fathers and Eucharistic Theology in Johannes Oecolampadius (1482–1531), with Special Reference to the Adversus Haereses of Iraeneus of Lyon. Durham 2008 (Doctoral Theses. Department of Theology and Religion. University of Durham  – online verfügbar unter http://etheses.dur.ac.uk/1941/1/1941.pdf [08.07.2014]), S. 212–216 über die Rezeption des Chrysostomus. 63 Zum Thema συγκατάβασις bei Chrysostomus vgl. Rudolf Brändle: Synkatabasis als hermeneutisches und ethisches Prinzip in der Paulusauslegung des Johannes Chrysostomus. In: Stimuli. Festschrift für Ernst Dassmann. Hg. von Georg Schöllgen, Clemens Scholten. Münster 1996, S. 297–307. 64 So in einem Brief an Kaspar Hedio (21. Januar 1523): Hic nullis non locis συγκατάφασιν καὶ φιλανθρωπίαν felicissime tractat, Oecolampadius: ep. 142, Staehelin, Bd. 1, S. 203. Vgl. Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 15. 65 Quumque tantus esset tum eruditione tum eloquentia, tamen incredibili quodam iuuandi studio, quicquid fere scripsit, accommodauit auribus populi, eoque ad huius captum demisit orationis habitum, quasi praeceptor cum puero discipulo balbutiat. […] Iam nihil est tam reconditum in diuinis literis, quod ille tractando non reddiderit theatricum, vt ita loquar, ac populare. […] Si qui docet ardet, facile accendet; si vehementer gaudet iis quae docet, facile transfundet eundem affectum in

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(Gottes- und Nächstenliebe) und von seelsorgerlichem Erbauungseifer getrieben wurde,66 und so sei es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit selbst grober und vergesslicher Leute zu wecken, und ihnen eine moralisch anspruchsvolle Botschaft angenehm und wirkungsvoll zu vermitteln.67 Vtinam tales oratores nunc haberet vbique Christianus orbis! 68 Diesen Wunsch äußerte Erasmus im Widmungsbrief sowohl der Lucubrationes als auch der späteren Gesamtausgabe nachdrücklich und fügte folgende Begründung hinzu: Ab his enim praecipue pendet totius reipublicae disciplina.69 In der Tat war Chrysostomus für ihn als Redner und Morallehrer vorbildlich und daher den profanen Autoren vorzuziehen – das gestand er ihm in der Vorrede zu Chrysostomus’ Homilien über Gottes Vorsehung zu.70 Dass man diesen Autor im Schulunterricht vor den profanen behandeln müsse, betonte der Rotterdamer im Widmungsbrief der Babylaspredigt an den Leiter des Collegium Trilingue in Löwen, Nicolaus Wary71 (gest. 1529). Denn junge Leute bräuchten nicht nur eine solide sprachliche Ausbildung, sondern müssten auch christliche Werte vermittelt bekommen, damit die Eltern sie am Schluss nicht einfach schwatzhafter (linguaciores), sondern auch frommer und gesitteter (magis pios meliusque moratos) zurück erhielten.72 Vor diesem Hintergrund

animos auditorum. Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 486–488, Z. 135–138, 155 f., 200 f. 66 Hoc admonui, ne quis loquacitatis nomine damnet quod charitas, quae nihil aliud quaerit quam aedificare [vgl. 1 Cor. 8,1], dedit auditorum imbecillitati. Ebd., S. 488, Z. 187 f. 67 Tanta charitatis suauitate condulcat etiam illa quae natura sunt amara. […] Dedit hoc vir eloquentissimo multitudinis ingenio, rudi pariter atque obliuioso; quae nec intelligit nisi dilucide crasseque tradas, nec meminit nisi subinde repetitum infigas. Ebd., S. 486, Z. 118 f. und S. 487, Z. 184–186. 68 [Wenn doch die christliche Welt in unserer Zeit überall so vorzügliche Redner hätte!] Ebd., S. 488, Z. 205; so auch in Erasmus: Vita diui Ioannis Chrysostomi (Anm. 2), f. B1r. 69 [Denn besonders von ihnen hängt die Unterweisung der ganzen Gemeinschaft ab.] Ebd., S. 488, Z. 206; so auch in Erasmus: Vita diui Ioannis Chrysostomi (Anm. 2), f. B1r. 70 Fateor ex Demosthenis, Aristophanis et Luciani pratis optime colligi quae ad Graecanicae linguae puritatem attinent. Non possum tamen non probare illorum animum qui pietatis amore ma­ lunt ex sanctorum litteris linguae mediocrem politiem, sanctimoniae lucro cumulatam, quam ex ethnicorum libris insignem sermonis elegantiam cum periculo morum coniunctam. Est enim mel e taxo toxicum, quo vix aliud dulcius, sed praesens habet venenum. Hoc animo qui sunt, non alium potius terere debent quam Chrysostomum; cuius sermo quum satis purus est, tum mira facilitate copiaque fluit. Erasmus: praef. in conciunc. = ep. 1661, Allen, Bd. 6, S. 253, Z. 5–15. 71 Vgl. Ilse Günther: Art. Nicolas Wary. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 432. 72 Visus est autem mihi hic Chrysostomi, quamuis exiguus, libellus multis nominibus dignus qui tuo Collegio praelegatur; adeo singulari quodam artificio summam pietatem cum admirabili copulat eloquentia, vt non aliud exemplum accommodatius mea sententia adolescentibus tractatione thematum exercendis proponi queat. Quid enim habent Aphthonius, Lysias aut Libanius quod cum



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wird nachvollziehbar, warum die Babylaspredigt zusammen mit Erasmus’ Brief über die richtige Form des Sprachenunterrichts in einem Band erschien.73 Im genannten Widmungsbrief wird der Kirchenvater gegenüber den klassischen Autoren als überlegen dargestellt, denn die letzteren sind für die geistliche Ausbildung weniger fruchtbar. Erasmus’ Meinung teilte auch Oekolampad,74 der in allen seinen Vorworten betonte, zum Nutzen der res publica Christiana so viele Chrysostomus-Texte wie möglich in die lateinische Sprache zu übertragen.75 Wer dieser „Republik“ angehörte, lässt sich wiederum aus den betrachteten Praefationes ableiten.

3 Das Publikum der Chrysostomus-Ausgaben Die Bezeichnung res publica Christiana deutet auf ein Publikum hin, das über den engen Spezialistenkreis von Theologen und Klerikern hinausging. Obwohl die Adressaten der behandelten Praefationes meistens Kleriker und Ordensleute waren, können auch Laien wie die bereits genannten Juristen Ulrich Zäsy und Bonifacius Amerbach unter den Lesern nachgewiesen werden: Sie treten etwa in Erasmus’ Korrespondenz als Besteller seiner patristischen Ausgaben in Erscheinung.76 Selbst aus der üblichen Auflagenzahl von Frobens Drucken lässt

hoc argumento, non dico pietate, quam habet propriam, sed vel elegantia dictionis, vel argutia rationum, vel copia denique conferri possit? […] Quid autem vtilius isti aetati quam vt linguam simul et eloquentiam protinus imbibant ex his autoribus quorum oratio non minus Christum spirat quam Demosthenem? […] vt ex isto celeberrimo Collegio parentes reciperent suos liberos, non solum linguaciores verumetiam magis pios meliusque moratos. Erasmus: praef. in Babyl. = ep. 1856, Allen, Bd. 7, S. 126 f., Z. 4–12, 27–29. 73 So auch im Titel des 1527 von Froben herausgebrachten Band: s. oben Anm. 11. 74 Facile hic disces, […] quanto satius sit et tutius Christianos viuendi praecepta ex patriarcharum vita quam ex historiis requirere ethnicorum, apud quos ignoratur charitas, contempta est crux Christi [vgl. 1 Cor. 1,23], in admiratione est mundus. Oecolampadius: praef. in Gen. = ep. 165, Stae­ helin, Bd. 1, S. 241. 75 Res publica Christiana ist ein Begriff, der häufig in Oekolampads Praefationes vorkommt: haec [d. h. Chrysostomus’ Werke], quae nos primi nunc in Latinum sermonem vertimus et reipublicae Christianae gratificari cupientes invulgamus. Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 208; reip[ublicae] Christianae non obesse, sed prodesse cupio, ders.: praef. in Gen. = ep. 165, ebd., S. 239; ego aliquid utilitati rei publicae consulere cupiens, ders.: praef. in compar. = ep. 177, ebd., S. 258. Der Begriff findet sich häufig auch bei Erasmus: Vgl. z. B. Erasmus: praef. in lucubrat. (s. oben bei Anm. 69). 76 Vgl. oben bei Anm. 4–5. Zäsy hatte 1519 und abermals 1526 Chrysostomus-Ausgaben bei Froben bestellt: Vgl. den Brief von Zäsy an Bonifacius Amerbach vom 13. November 1523: Chrysosto-

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sich erschließen, dass diese Editionen einem über die Fachwelt hinausgehenden Lesepublikum verkauft wurden. Was die Geistlichen betrifft, so wurden sie als potentielle Multiplikatoren und Förderer der Verbreitung patristischer Werke angesprochen. Im Folgenden werden alle Empfänger der behandelten Praefationes in chronologischer Folge genannt und kurz vorgestellt. Am 7. Mai 1519 widmete Capito, Domprediger in Basel, eine von ihm übersetzte Paulushomilie des Chrysostomus dem päpstlichen Gesandten in der Schweiz Antonio Pucci (1485–1544), Bischof von Pistoia, nach dessen Besuch in Basel. Wenige Monate später (16. Dezember 1519) wendete er sich im Vorwort seiner Übertragung einer Chrysostomus-Mahnrede an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg Albrecht von Brandenburg77 (1490–1545), einen der bedeutendsten Förderer des Humanismus in Deutschland, mit dem er bereits über seine neue Stelle in Mainz verhandelt hatte. Im Herbst 1523 richtete der reformatorisch gesinnte Oekolampad die Übersetzung eines Werkes des Chrysostomus über das Mönchsleben78 an den Abt seines ehemaligen Klosters Altomünster, Johannes Palgmacher (gest. 1542), um im Gegenlicht des antiken Mönchtums scharfe Kritik an dem zeitgenössischen zu üben und sich so für seinen Klosteraustritt zu rechtfertigen. Dieselbe Schrift, ein Vergleich zwischen einem Mönch und einem König, wurde wenige Jahre später auf Griechisch herausgegeben, und zwar von Erasmus,79 der ebenfalls aus dem

mi opera […] fac mitte, vt possis cicius (ep. 703, AK 2, S. 211, Z. 39 f.) und den Brief vom 24. September 1526: Chrysostomi homilias, de quibus scribis […] meis pecuniis mitte (ep. 1145, AK 3, S. 200, Z. 101 f., mit Bezug auf Chrysostomus’ Homilien zum Philipperbrief, die August 1526 erschienen waren). 1523 erhielt Bonifacius Amerbach Oekolampads Psegmata von Cratander: Vgl. Cratanders Brief an ihn vom 20. April 1523: apud Joannem Wattenschnee inuenies vna cum aliis aliquot voluminibus lectu non indignis simul et raris atque antehac nusquam editis […] aliquot homilias diui Chrysostomi, iamprimum ab Oecolampadio in latinum versas, quas ψέγματα vocari voluit. (ep. 914, AK 2, S. 420 f., Z. 3–10); vgl. auch den Brief des Buchführers Jehan Vaugris aus Lyon an Bonifacius Amerbach vom 7. Mai 1523: Item Andreaß Cartrander [sic] hat mir beffolen, ich soll euch schiken … Homelias Christostomi [sic], hat Ecolampadius neulic translatir, hat der Cartrander dissen winter getruct (ep. 917, AK 2, S. 424, Z. 11–14); vgl. schließlich den Brief des Buchhändlers Parmentier aus Lyon an Bonifacius Amerbach (1. November 1523) mit einer Liste von bestellten Büchern, darunter Chrysostomus’ Genesishomilien (ep. 938, AK 2, S. 448, Z. 18). 77 Vgl. Albrecht Luttenberger: Art. Albert of Brandenburg. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 1, S. 184–187, bes. S. 185; vgl. auch GG 389 (http://www.ub.unibas.ch/cmsdata/spezialkataloge/gg/ higg0389.html [08.07.2014]). 78 Comparatio regis et monachi, authore Divo Io. Chrysostomo / nuper a Ioanne Oecolampadio versa. [Basileae]. [Apud Andream Cratandrum]. [Anno 1523] (VD16 J 477). Für diese Schrift vgl. CPG 4500. 79 Der griechische Text der Comparatio erschien zusammen mit der lateinischen Übersetzung von zwei Chrysostomus’ Homilien zum Philipperbrief: Divi Ioannis Chrysostomi in Epistolam ad



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Kloster ausgetreten war. Er widmete die Ausgabe dem italienischen Humanisten Polydorus Vergilius80 (1470–1555) am 19. August 1526. Dieser war mit Erasmus befreundet und widmete ihm seinerseits eine eigene Übersetzung dieses Werkes (1528). Offenbar war das Mönchsleben damals umstritten, und viele reformatorisch gesinnte Theologen polemisierten gegen Formalismen und Unsitten der zeitgenössischen Ordensleute. Die als negativ betrachtete Erfahrung im Kloster brachte Oekolampad und Erasmus allerdings nicht dazu, das Mönchtum an sich zu verwerfen, sondern vielmehr dazu, sich auf ein monastisches Ideal zurückzubesinnen, das in ihrer Sicht als Vorbild für das echte Christsein dienen sollte.81 So lobte Erasmus im Vorwort seiner Übersetzung von Chrysostomus’ De orando Deum (30. März 1525)82 Maximilian von Burgund, Abt der niederländischen Abtei Mittelburg (gest. 1534), als vorbildlichen Vertreter seines monastischen Amtes.83 Kurze Zeit nach Erscheinen der von ihm übersetzten Comparatio gab Oekolampad Chrysostomus’ Genesishomilien auf Latein heraus, und im August 1523 widmete er sie dem Propst des Berner Chorherrenstifts Niklaus von Wattenwyl (1492–1551).84 Dieser hatte einige Jahre zuvor (1517) ein Kanonikat am Basler Domstift erlangt (daher vielleicht die Bekanntschaft mit Oekolampad) und wurde später zu einem Förderer der Reformation. In dem an ihn gerichteten Widmungsbrief führte Oekolampad seine Übersetzungsarbeit auf die Anregung der Brüder

Philippenses Homiliae duae, versae per Erasmum Roterodamum additis Graecis; eiusdem Chrysostomi Libellus elegans Graecus, in quo confert verum monachum cum principibus […] huius mundi. Basileae. [Johannes Froben]. Anno 1526 (VD16 J 426). 80 Vgl. Brian P. Copenhaver: Art. Polidoro Virgilio. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 397– 399. 81 Vgl. Oekolampads Aussage: Id enim, quod verorum monachorum est, hoc et omnium est Christianorum, et, si quid praeterea sibi quidam peculiariter arrogant, id iam Christianum non est, Oecolampadius: praef. in compar. = ep. 177, Staehelin, Bd. 1, S. 258. 82 Divi Ioannis Chrysostomi De orando Deum, libri duo, Erasmo Rot. interprete. Adiuncti sunt ijdem Graece, ut lector conferre possit. [Basileae]. [Apud Jo. Frobenium]. [Anno 1525] (VD16 J 442). 83 Talibus ingeniis tuto committuntur episcopi munia […], qui nequaquam sibi dignitatem vindicant ex munere, sed incorruptis moribus ipsi dignitatem muneri suscepto conciliant. Erasmus: praef. in De orando Deum = ep. 1563, Allen, Bd. 6, S. 59, Z. 44–48. Über Maximilian von Burgund vgl. Erasmus: ep. 1164, Allen, Bd. 4, S. 392, Anm. 46. 84 Vgl. Oecolampadius: praef. in Gen. = ep. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 238–245; vgl. Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 16. Zuerst wollte Oekolampad die Genesishomilien dem Papst widmen, doch er entschied sich dann für einen anderen Empfänger: Vgl. Oekolampads Brief an Capito, in dem er diesen um Rat bat (4. Dezember 1522), in: Ernst Staehelin: Oekolampadiana. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 65 (1965), S. 168–171, hier S. 170 f. Zu Niklaus (oder Niclaus) von Wattenwyl vgl. Hans Braun: Die Familie von Wattenwyl = La famille de Watteville. Murten 2004, S. 31–46.

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Bernhard (1459–1523) und Konrad Adelmann (1462–1547) zurück. Sie waren bedeutende Humanisten und Domherren in Augsburg, wo er für kurze Zeit (Ende 1518 bis 1520) als Domprediger tätig gewesen war.85 Im Januar 1526 widmete Erasmus Chrysostomus’ Predigten über Gottes Vorsehung seinem Freund John Claymond86 (1468–1537), Latinisten und Vorsteher des Corpus Christi-College in Oxford, den er aus seiner Zeit in England kannte. Ein weiterer wichtiger Vertreter von Bildungsstätten war der Adressat von Erasmus’ griechischem Erstdruck der Babylaspredigt (14. August 1527), Nicolaus Wary (gest. 1529), Leiter des Collegium Trilingue in Löwen, den der Rotterdamer während seiner Zeit in Löwen wahrscheinlich im Kreis von Hieronymus van Busleyden kennengelernt hatte.87 Kurz zuvor (24. März 1527) hatte Erasmus seine Lucubrationes unbekannterweise König Johannes III. von Portugal (1502–1557) gewidmet, und zwar auf Empfehlung des mit ihm befreundeten Bankiers Erasmus Schets,88 weil der Monarch angeblich sehr fromm und ein Förderer der Wissenschaften war.89 Die Ausgabe wurde dem Widmungsträger allerdings nie überreicht, wahrscheinlich weil der

85 Bernardus ille Adelmannus meus […] una cum fratre suo Conrado […] iam sponte currentem urgere coeperit, ut […] quae reip[ublicae] profutura essent, communicare pergerem. Profuit nonnihil illorum admonitio. Oecolampadius: praef. in Gen. = ep. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 239. Über Bernhard Adelmann vgl. Jan-Dirk Müller, Art. Adelmann von Adelmannsfelden, Bernhard. In: Verfasserlexikon – Deutscher Humanismus. Bd. 1. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Berlin 2005, Sp. 1–5; über die Beziehung mit Oekolampad vgl. Poythress (Anm. 20), S. 6–9. 86 Vgl. Catherine F. Gunderson: Art. John Claymond. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 1, S. 307 f. 87 In Erasmus’ Vorwort wird Wary als Marvillanus bezeichnet (vgl. Erasmus: ep. 1856, Allen, Bd. 7, S. 126); in Allen, Bd. 12, S. 181 erscheint er als Varius, Nicolaus. Über ihn vgl. Erasmus: ep. 1481, Allen, Bd. 5, S. 527, Anm. 44 und Ilse Günther: Art. Nicolas Wary. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 432. Zu Hieronymus van Busleyden vgl. dies.: Art. Jérôme de Busleyden. Ebd., Bd. 1, S. 235–237. 88 Vgl. Schets’ Brief an Erasmus vom 17. März 1526 (ep. 1681, Allen, Bd. 6, S. 293, Z. 32–47), in dem Johannes III. von Portugal gelobt wird. Zu Schets vgl. Marcel A. Nauwelaerts, Peter G. Bietenholz: Art. Erasmus Schets. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 220 f.; über den König vgl. Elisabeth Feist Hirsch: Art. John III king of Portugal. Ebd., Bd. 2, S. 240 f. 89 Vgl. Erasmus’ Brief an Schets (Dezember 1526): Nactus sum opus quoddam Ioannis Chrysostomi nondum versum. Id translatum decreui dedicare Regi Portugalliae. Scribe igitur originem et ingenium hominis, quo possim aptius. Spero me ante nundinas ad te missurum opus excusum (ep. 1769, Allen, Bd. 6, S. 441, Z. 21–24) und Schets Brief an Erasmus (4. Februar 1527): Gauisus sum quod Portugalliae Regi tuorum operum dedicare quidquid decreueris. […] meretur enim celsitudo illa regia multas laudes. De origine et ingenio hominis queque bona dixeris attingent. Erasmus: ep. 1783, Allen, Bd. 6, S. 458, Z. 18–33, bes. Z. 18–21.



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Widmungsbrief ihm gegenüber nicht nur lobend war.90 In das Dedikationsschreiben integrierte Erasmus ein Enkomion auf seinen Autor, das er später zu einer ausführlichen Chrysostomus-Biographie für die Gesamtausgabe des Kirchenvaters 1530 erweitern sollte. Die so entstandene Vita Chrysostomi fügte er einem neuen Widmungsbrief hinzu,91 und zwar an Christoph von Stadion92 (1478–1543), den Humanisten und reformerisch gesonnenen Bischof von Augsburg, der seit 1528 einen Briefwechsel mit ihm unterhielt. Unter den Widmungsempfängern ist auch der „wohlgesinnte Leser“ (candidus lector) im Vorwort von Oekolampads Psegmata erwähnenswert:93 In dieser gesichtslosen Gestalt zeigt sich der Wunsch des Herausgebers, Leser auch über den Auftraggeber- bzw. Patronatskreis hinaus zu gewinnen. Selbst Erasmus wendete sich im Vorwort der Chrysostomus-Gesamtausgabe 1530 nicht nur an seinen konkreten Adressaten, sondern verwies auch auf einen möglichen schwer zufriedenzustellenden Leser, der sich doch von der Pracht dieses neuen Froben’schen Druckes angezogen fühlen könnte.94 In allen Fällen geht es um eine Bildungselite, die Latein gut beherrschte, manchmal auch Griechisch. Immer neue Erscheinungen lateinischer Übersetzungen von Chrysostomus sollten dieses Publikum bedienen. Denn einerseits war die Menge von unübersetzten Chrysostomus-Predigten riesig, wie Oekolampad in der Vorrede der Psegmata anmahnte,95 andererseits galten ältere Übersetzungen wie die des spätantiken Diakons Anianus und des italienischen Humanisten

90 Vgl. Allens Einleitung zum Brief 1800, Allen, Bd. 6, S. 483. Vgl. auch Schets’ Brief an Erasmus (13. Dezember 1529): Satis irritat me quod a Lusitania nil receperis nec doni nec gratiae als Anerkennung für die Zusendung der Lucubrationes (ep. 2243, Allen, Bd. 8, S. 309, Z. 26 f.) und Erasmus’ Brief an Schets vom 29. August 1530 (ep. 2370, Allen, Bd. 9, S. 20, Z. 8–15). 91 Erasmus: praef. in Chrys. Op. = ep. 2359, Allen, Bd. 9, S. 3–6, allerdings ohne die Vita Chrysostomi (dazu Anm. 2), die auf S. 6 nach der Zeile 79 beginnen würde. 92 Vgl. Michael Erbe: Art. Christoph von Stadion. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 274–276. 93 In divi Joannis Chrysostomi Psegmata Joannis Oecolampadii ad lectorem candidum praefatio. Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 207. 94 Nec commemorabo quantum maiestatis accesserit voluminibus, ex amplitudine chartarum, ex elegantia dignitateque formularum; quae res vt typographis vix credendis impendiis constant, ita doctori tam eximio non parum conciliant gratiae, et lectorem alioqui fastidiosum ceu lenocinio quodam inuitant. Erasmus: praef. in Chrys. Op. = ep. 2359, Allen, Bd. 9, S. 5, Z. 26–31. 95 ψήγματα, hoc est: auri ramenta, inscripsi, ut admonerere quantum adhuc lucubrationum illius desyderetur. Profecto bona earum pars Latinis auribus nondum cognita, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 208.

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Francesco Griffolini96 als unzuverlässig  – so Erasmus’ Einschätzung, der unter anderem in der Vorrede zur Gesamtausgabe 1530 behauptete, dass es zwar zahlreiche frühere Übersetzer gegeben habe, diese aber weder Griechisch noch Latein wirklich gut beherrscht hätten.97 Oekolampad war derselben Meinung,98 jedoch waren ihm auch seine eigenen Unzulänglichkeiten beim Übertragen durchaus bewusst.99 In der Tat hat sich Oekolampad, wie er im Vorwort zu den Psegmata gestand,100 um die Genauigkeit seiner Übersetzungen nicht so sehr bemüht, und zwar anfangs wegen seiner „bereitwilligen Eile, seine Auftraggeber zu befriedigen“, dann aber, als er „einen inneren Anteil an seiner Übersetzerarbeit“ gewann,101 auch zugunsten seiner eigenen theologisch-reformierten Positionierung. Als er zu einer führenden Figur der Reformation wurde, wurde seine Arbeit an Chrysostomus daher von römisch-katholischer Seite aus philologischen, aber auch aus ideologischen Gründen zunehmend mit Vorbehalt betrachtet. Erasmus selber wurde von Freunden wie Cuthbert Tunstall, Bischof von London, kurz vor der Veröffentlichung

96 Zu den Übersetzungen des Anianus von Celeda und des Francesco Griffolini (sog. Aretinus) vgl. Voicu (Anm. 10), S. 399 f. und S. 406 f.; Bouhot (Anm. 10), S. 36 f.; Cortesi (Anm. 10), S. 130 f., 135. 97 Inter veteres interpretes multi sunt qui neque Graece neque Latine satis calluerunt. Horum interpretatio per doctos viros ex collatione Graecorum codicum plurimis in locis emendata est. Erasm. praef. in Chrys. Op. = ep. 2359, Allen, Bd. 9, S. 5, Z. 39–42. Dann folgen Beispiele für die Fehler der Übersetzungen von Anianus und Aretinus, die mit der Feststellung beenden: Sufficiat hoc gustus dedisse gratia, neque enim hic consilii est omnes interpretum lapsus prodere, quorum infinitus est numerus. Ebd., Z. 47–49. Vgl. auch Erasmus’ Kritik an den Fehlern von Aretinus und Anianus in seinem Brief an Cuthbert Tunstall vom 31. Januar 1530 (ders.: ep. 2263, Allen, Bd. 8, S. 344 f., Z. 48–64) und im Brief an Germain de Brie vom 27. März 1530 (ders.: ep. 2291, Allen, Bd. 8, S. 391, Z. 12 f.). 98 Vetus haec interpretum querimonia est, […] quod natiuae linguae gratiam et ἰδίωμα in alienam transfundere per omnia feliciter nequeant, Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 210. 99 Jam quod alicubi turgescit vel hispidior vel incultior est oratio (non de sententiarum, quas integras reddo, gravitate, sed verborum venustate loquor), polliceor mihi de tua benevolentia, quod libenter condones, quicquid palloris vel rubiginis ἐν τῇ μετακομιδῇ id auri mea incuria contraxerit. Oecolampadius: praef. in psegm. = ep. 145, Staehelin, Bd. 1, S. 209 f.; vgl. ders.: praef. in Gen. = ep. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 239: Cratander vetus horum commentariorum impetravit exemplar, quod ego brevi admodum tempore et breviore, quam a me lectum quis putet, Latinum feci; non quod tam mihi placerem vertendi dexteritate, sed quod movebar partim indignitate rei, quod tanti thesauri in situ iacerent contempti et adhuc a nullis attacti, partim stimulum addentibus optimis quibusque amicis. 100 S. oben Anm. 99. 101 So Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 1.



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der Chrysostomus-Gesamtausgabe 1530 davor gewarnt, Oekolampads Übersetzungen, die in der früheren Ausgabe (1521/22) bei Cratander erschienen waren, in die neue bei Froben zu übernehmen, weil sie voll „lutherischer“ Anmerkungen, Interpolationen und Missverständnisse ihrer Vorlage seien.102 Im Antwortbrief beruhigte Erasmus den Prälaten mit dem Argument, dass er einige Übersetzungen Oekolampads durch die des katholischen Gelehrten Germain de Brie ersetzen wollte und andere dem Reformator mit der Bitte um Revision zurückgegeben hatte.103 Bessere, „bereinigte“ Übersetzungen wurden also tatsächlich nachgefragt und kamen in immer dichterem Takt, um die früheren zu ersetzen. Doch wenn sie nicht rechtzeitig fertig waren,104 oder wenn es keine realistische Alternative gab, ging Erasmus selbst bzw. sein Verleger Froben auch Kompromisse ein: Er übernahm die kritisierten Übersetzungen Oekolampads und verschwieg dabei dessen verdächtigen Namen.105 Der philologische Anspruch stieg mit der Zunahme von Ausgaben allmählich an, so dass eine Edition sich besser verkaufen ließ, wenn

102 Quod autem Frobenianam officinam Chrysostomum nunc aggredi scribis absoluto Augustino, ante omnia prouidendum est vt ne Oecolampadianam editionem sequamini. Etenim preterquam quod Lutheranis notis in margine referta sunt omnia, veterem lectionem ipsam adiectis suis em­ blematis corruperunt. Et quicquid ab Oecolampadio versum, preterquam quod in totum suspectum est, male redditum deprehenderunt qui apud nos linguam Graecam probe callent […] Quare nihil editote quod ab illo sit versum, ne cetera minus vendibilia reddantur. Erasmus: ep. 2226 (Brief von C. Tunstall, 24. Oktober 1529), Allen, Bd. 8, S. 291 f., Z. 65–75. Über Tunstall vgl. James K. McConica: Art. Cuthbert Tunstall. In: Contemporaries (Anm. 4). Bd. 3, S. 349–354. Über die eingeschränkte Verkäuflichkeit der Chrysostomus-Ausgaben mit Oekolampads Übersetzungen äußert sich Erasmus auch in seinem Brief an Germain de Brie (September 1530): Non detrectabat operam Oecolampadius; verum hic titulus apud multos etiam a probis mercibus alienat emptorem. Erasmus: ep. 2379, Allen, Bd. 9, S. 32, Z. 77 f. Zur Kritik von Germain de Brie und anderen katholischen Gelehrten an Oekolampads Übersetzungen vgl. die Briefe von de Brie in Staehelins Ausgabe von Oekolampads Korrespondenz: ep. 555–557, Staehelin, Bd. 2, S. 145–154 und Oekolampads Selbstverteidigung in ep. 597, ebd., bes. S. 217–219. Vgl. zudem Staehelin: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 22–32; Lackner (Anm. 10), S. 299; Cortesi (Anm. 10), S. 139–141; Dill (Anm. 9), S. 258 und Jean-Louis Quantin: Du Chrysostome latin au Chrysostome grec. Une histoire européenne (1588–1613). In: Chrysostomosbilder (Anm. 9), S. 267–346, hier S. 274. 103 Egi cum eruditis aliquot vt quaedam verterent ab Oecolampadio versa. Brixius vertit Babylam, nunc etiam Monachum [nämlich die Predigt über Babylas und die Comparatio regis et monachi]; sed reperio segnes omnes. Illud curatum est, vt partim Oecolampadius ipse, partim alii docti corrigant ab eo versa. Erasmus: ep. 2263 an Tunstall, Allen, Bd. 8, S. 344, Z. 42–45. 104 So im Fall von de Bries’ Übersetzung der Comparatio: Vgl. Erasmus: ep. 2263, Allen, Bd. 8, S. 344, Anm. 43. 105 Scholia illius, annotationes marginariae reiicientur, ne nomen quidem illius addetur. Erasmus: ep. 2263, Allen, Bd. 8, S. 344, Z. 45–47.

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sie ganz neue Übersetzungen oder ältere, aber revidierte und mit Korrekturanmerkungen versehene Versionen enthielt:106 Dies war dem Philologen Erasmus, der übrigens auch ein gutes Gespür für den Buchmarkt hatte, durchaus bewusst. Dennoch veranlasste ihn der Druck der Verleger manchmal dazu, auch nicht ganz polierte Arbeiten abzuliefern.107 Dieser Druck dürfte  – wohl wegen der großen Konkurrenz108 – relativ hoch gewesen sein, wenn man nur als Beispielfall betrachtet, dass zwei unterschiedliche Chrysostomus-Ausgaben von Capito innerhalb von nur ca. einem Monat erst bei Cratander (Oktober 1519), dann bei Froben (November 1519) herausgebracht wurden.109 Bestimmt haben kommerzielle Gründe und die Konkurrenz zwischen den Verlegern zur stetigen Zunahme patristischer Ausgaben beigetragen. Ein noch wichtigerer Grund für dieses Wachstum war aber ein geistliches und bildungsorientiertes Anliegen der Editoren, das sich durch eine ethische Prägung und soteriologische Ausrichtung auszeichnete.110 So schrieb Erasmus im Widmungsbrief an Claymond,111 aus der Chrysostomus-Lektüre lasse sich ein heilsamer Saft (succus salutiferus) gewinnen, und Oekolampad erklärte im Vorwort zu Chrysos-

106 Vgl. Erasmus’ Brief an Germain de Brie (c. 27. August 1526), in dem Erasmus seinen Chrysostomus-Editionsplan schildert und den Adressaten ermuntert, so viele Übersetzungen wie möglich anzufertigen: Vertam, aspirante Christo, Lucubrationes aliquot Chrysostomi nondum aeditas aut versas a quoquam. His adiungam quod misisti, non sine testificatione laudum tuarum; post dabitur opportunitas vt totus Chrysostomus a Frobenio excudatur cum maiestate. […] Ego nactus sum commentarios in Acta, quae plane notha sunt; item in Epistolam ad Romanos γνησίους; rursum in Epistolam ad Hebraeos nothos et versos. Item in Epistolam ad Philippenses Homilias duas, sed nothas, ni fallor, quas iam aedidi Latinas factas. Praeterea contra Iudaeos, et duodecim ferme Homilias intactas: postremo in Epistolam ad Corinthios posteriorem. Si quid praeterea nancisci poteris nondum versum, verte, aut si quid versum, confer, et adiectis scholiis annota lapsus vel interpretis vel librariorum: ita vendibilius fiet opus. Erasmus: ep. 1736, Allen, Bd. 6, S. 381 f., Z. 15–31. 107 Vgl. Ueli Dill: Die Arbeitsweise des Erasmus, beleuchtet anhand von fünf Basler Fragmenten. In: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis / Dutch Review of Church History 79 (1999), S. 1–38, hier S. 1 f. 108 Als Nachweis der Konkurrenz zwischen den beiden Verlegern Cratander und Froben sei nur der bereits zitierte Brief des ersteren an Capito exemplarisch erwähnt (ep. 109: s. oben Anm. 28). Vgl. dazu Dill (Anm. 9), S. 257 f. 109 Bei Cratander die Ausgabe der Homilia de eo quod dixit Apostolus (2 Cor. 11,1); bei Froben die Ausgabe der Paraenesis prior ad Theodorum lapsum (s. oben Anm. 39 und 36). 110 Ein bildungsorientiertes Anliegen lässt sich z. B. bei Erasmus aus der Vorrede der Lucubrationes ableiten (Erasmus: praef. in lucubrat. = ep. 1800, Allen, Bd. 6, S. 487, Z. 135–138 [oben Anm. 65 zitiert]); vgl. auch Capitos Charakterisierung des Chrysostomus: vir eloquentissimus […] tanquam declamaret in medio scholae, Capito: praef. in paraen. = ep. 32a. (Anm. 31), Z. 5 f. 111 Erasmus: praef. in conciunc. = ep. 1661, Allen, Bd. 6, S. 253, Z. 1–4 (s. oben Anm. 55).



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tomus’ Genesishomilien, diese seien keineswegs überflüssig, sondern führten zur Erlangung ewiger Güter (ad aeterna acquirenda).112 Die hier diskutierten Überlegungen zeigen, dass die Praefationes vielfach der Ort waren, an dem einerseits das Edieren und Übertragen (spät-)antiker Werke thematisiert, andererseits deren Botschaft für die Gegenwart relevant gemacht wurde. Sie sind heute häufig wenig beachtete Paratexte, die aber damals dank dem Buchdruck zu einem beliebten Mittel der intellektuellen, philologischen und theologischen Debatte wurden. Insofern zeugen sie von einem dichten Netzwerk von Gelehrten mit Basel als einem wichtigen Knotenpunkt, das aber – auch dank der Verwendung des Lateinischen als lingua franca113 – weit über die Grenzen der Rheinstadt hinaus reichte.

112 In Bezug auf Chrysostomus’ Schriften: cur non ego laetarer […] idque non ob temporarium et carnale aliquod commodum, sed spirituale, et quod ad aeterna acquirenda non modo non sit inutile et supervacaneum, sed et perquam utile ac conducibile? Vnde nobis non drachma fuerit [vgl. Luc. 15,8–10], sed thesaurus. Oecolampadius: praef. in Gen. = epist. 165, Staehelin, Bd. 1, S. 239. Vgl. Staehelins Bemerkung über die Bedeutung der patristischen Werke für Oekolampad in ders.: Die Väterübersetzungen (Anm. 20), S. 21. 113 Über die Rolle des Lateinischen insbesondere in deutschsprachigen Ländern vgl. Claire Lecointre: L’appropriation du latin, langue du savoir et savoir sur la langue. In: Tous vos gens à latin: le latin, langue savante, langue mondaine (XIVe–XVIIe siècles). Hg. von Emmanuel Bury. Genf 2005. S. 135–146, hier S. 137 f. Zum Schluss des vorliegenden Beitrags möchte ich der Renaissance-Historikerin Valentina Sebastiani danken, die beim Lesen des Entwurfs für diesen Beitrag fruchtbare Anregungen gegeben hat.

Maximilian Gamer

Henric Mirou (1551–1621): Ein dichtender Apotheker im Streit der Konfessionen Der Tod Johann Casimirs, des Administrators der Kurpfalz, im Jahr 1592 traf die Intellektuellen in der Region schwer. Mehrheitlich reformiert eingestellt, erhofften sie sich nach den erst kurz zuvor überwundenen konfessionellen Turbulenzen mehr Zeit, um die reformierte Position vor Ort zu stabilisieren. Religion und Politik waren in der Kurpfalz mehr noch als anderorts in der Frühen Neuzeit eng verflochten.1 Diesen Komplex begleitete und illustrierte eine entsprechend konfessionspolitisch gefärbte Literaturproduktion.2 Umfangreiche Zeugnisse hierfür finden sich nicht nur in vom Hof sanktionierten, programmatisch-theologischen Werken wie etwa dem Heidelberger Katechismus, sondern auch in zahlreichen anderen Werken der Kurpfälzer Intellektuellen. Der besondere Stellenwert der konfessionellen Überzeugung im lateinischen Späthumanismus zeigt sich in einer Vielzahl von Dichtungen und Prosatexten, die entsprechende Themen direkt oder indirekt behandeln. In ihnen positionierte sich die gelehrte Öffentlichkeit der Kurpfalz und warb für Beibehaltung oder Wechsel der Politik und damit der konfessionellen Verfassung.3 Diese konfessionell-politische Verfas-

1 „Nirgendwo im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehören in der Frühen Neuzeit Religion und Politik so eng zusammen wie in der Kurpfalz. In kaum einem anderen deutschen Territorium war die Religion, genauer gesagt: die Konfession, in jener Zeit der wichtigste Bestandteil der Innen- und zeitweise der Außenpolitik, kaum irgendwo wurde die Politik weithin verstanden als Instrument der Religion.“ Eike Wolgast: Religion und Politik in der Kurpfalz im 17. Jahrhundert. In: Mannheimer Geschichtsblätter NF 6 (1999), S. 189–208, hier S. 189. 2 Dieser Beitrag baut auf einem von mir mitverfassten Artikel auf: Maximilian Gamer, Jörg Diefenbacher: Größer und berühmter als Aeneas: Johann Casimir. Zwei Gelegenheitsgedichte des Frankenthaler Apothekers Henric Mirou von 1592 an den kurpfälzischen Hof. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 160 (2012), S. 253–274. Des weiteren: Maximilian Gamer: Trauergedicht auf Johann Casimir und Glückwunschgedicht auf den Regierungsantritt Friedrichs IV. In: Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Hg. von Alfried Wieczorek u. a. Bd. 2. Kat. Nr. A3.08. Regensburg 2013 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim 60), S. 95 f. 3 Zu dieser Positionierung s. z. B. Wilhelm Kühlmann: Ein Heidelberger Dichter wünscht „prädestiniert“ zu sein. Zur Behandlung konfessionalistischer Positionen in der geistlichen Lyrik des deutschen Späthumanismus, ausgehend von einer Ode des Paul Schede Melissus (Meletemata I, 21) von 1595. In: Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. Festschrift für Theodor Mahlmann zum 75. Geburtstag. Hg. von Wilfried Härle, Barbara Mahlmann-Bauer. Leipzig 2009 (Marburger Theologische Studien 99), S. 146–158. AllgeDOI 10.1515/9783110400281-014



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sung war durchdrungen vom Gedankengut des Calvinismus, der mobilsten und, wenn man so will, internationalsten der protestantischen Bewegungen des sechzehnten Jahrhunderts.4 Geographisch wie auch intellektuell stellte die Kurpfalz unter den reformierten Kurfürsten der Linie Pfalz-Simmern gewissermaßen ein Zentrum für die reformierten Gemeinden in West- und Osteuropa dar. Der die Pfalz durchströmende Rhein bildete eine Verbindungslinie für Nachrichten und Ideen zwischen den Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz und der spanischen Niederlande.5 Nach dem Tod von Ottheinrich von der Pfalz, der die lutherische Reformation in der Kurpfalz durchgesetzt hatte,6 im Jahr 1559, war die Herrschaft auf Friedrich III. und die Linie Pfalz-Simmern übergegangen. Da Friedrich zunehmend der calvinistischen Reformation anhing, intervenierte er – vor allem antikatholisch motiviert  – in den spanischen Niederlanden und in Frankreich zugunsten der Hugenotten. Unter seiner Herrschaft wurden Klöster aufgehoben, Gebäude und Besitz teilweise an verfolgte Calvinisten übertragen. Die Pfalz wurde für diese zu einem sicheren Hafen, so dass ab 1562 eine Reihe von Exulantengemeinden auf aufgelöstem Klosterbesitz wie etwa in Schönau oder Frankenthal entstanden.7

meiner: Gerrit Walther: Humanismus und Konfession. In: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Hg. von Notker Hammerstein, Gerrit Walther. Göttingen 2000, S. 113–127. 4 Calvinism was the most dynamic and disruptive religious force of the later sixteenth century. Its emergence on the international scene shattered the precarious equilibrium established in the first generation of the Reformation, and precipitated three generations of religious warfare. Andrew Pettegree u. a.: Calvinism in Europe 1540–1620. Cambridge 1994, hier S. i. 5 Vgl. Hermann Wiegand: Der zweigipflige Musenberg. Die Literatur der Kurpfalz im Zeitalter des Humanismus. In: Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz. Hg. von Hermann Wiegand. Ubstadt-Weiher 2000 (Historische Schriften  / Rhein-Neckar-Kreis 2), S. 11–28, hier S. 19–22; Dieter Mertens: Hofkultur in Heidelberg und Stuttgart um 1600. In: Hammerstein, Walther (Anm. 3), S. 65–83. Ein Überblick über den politischen Hintergrund findet sich bei Eike Wolgast: Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter. Heidelberg 1998 (Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 10); Wilhelm Kreutz u. a. (Hgg.): Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution. Regensburg 2013; Volker Press: Die „Zweite Reformation“ in der Kurpfalz. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Hg. von Heinz Schilling. Gütersloh 1985 (Schriften des Vereins für Religionsgeschichte 195), S. 104–129. Kulturgeschichtliches bei: Karla Apperloo-Boersma, Herman J. Selderhuis (Hgg.): Macht des Glaubens. 450 Jahre Heidelberger Katechismus. Göttingen 2013. 6 Zum Beginn der Reformation in der Kurpfalz: Wolgast (Anm. 5), S. 17–32. 7 Vgl. Wolgast (Anm. 5), S. 33–73; Anton Schindling: Die reformierten Kurfürsten aus der Linie Pfalz-Simmern. In: Kreutz (Anm. 5), S. 14–43, hier S. 18–23.

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 Maximilian Gamer

Abb.: Jacques Granthomme: Henric Mirou, 1612. Standort unbekannt.8

8 Reproduktion nach Jörg Diefenbacher: Anton Mirou 1578 – vor 1627. Ein Antwerpener Maler in Frankenthal. Landau 2007, S. 12.



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Das aus der Universität herausgelöste Heidelberger Collegium Sapientiae wie auch das Umfeld des Hofes entwickelten sich zu theologisch-intellektuellen Zentren.9 Bleibende Wirkung auf die reformierten Kirchen erzielte hier vor allem der 1563 verfasste Heidelberger Katechismus. Unterbrochen wurde diese Entwicklung durch die lutherische Zwischenphase unter Ludwig VI. (1567–1583), der bereits drei Monate nach dem Tod seines Vaters begann, das Land vom calvinistischen Einfluss zu säubern.10 Der Versuch, die Universität mit der Konkordienformel wieder auf lutherische Linie zu zwingen, führte zur Abwanderung vieler Gelehrter  – eine Ausweichstelle wurde das Casimirianum in Neustadt, das als reformierte Hochschule Heidelberg zwischenzeitlich ersetzte.11 Johann Casimir, der in seinem Herrschaftsbereich als Pfalzgraf von Lautern die calvinistische Linie seines Vaters beibehalten hatte, führte nach dem Tod seines Bruders als Vormund für dessen Sohn schließlich die reformierte Konfession für die gesamte Kurpfalz wieder ein.12 Diese häufigen Richtungswechsel hinterließen Spuren in den Biographien und Werken der Kurpfälzer Autoren. Exemplarisch zeigt die Biographie des Paul Schede Melissus, des bekanntesten Vertreters der Wahl-Heidelberger, eindrucksvoll, wie die pro-calvinistische Politik die Kurpfalz zum überregionalen Anziehungspunkt für Gelehrte machte, wie diese unter dem Lutheraner Ludwig VI. die Pfalz verließen und nach der Wiedereinführung des Calvinismus durch Johann Casimir zurückkehrten.13 Allgemein sind der hohe Stellenwert der Konfession und die gemeinsame Basis griechisch-lateinischer Bildung, vielfach als Weg zum sozialen Aufstieg, Kennzeichen des deutschen Humanismus. Sie finden sich auch in der Biographie und dem Werk einer Randfigur der zweiten großen humanistischen Blütezeit

9 Vgl. Eike Wolgast: Das Collegium Sapientiae in Heidelberg im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 147 (1999), S. 303–318. 10 Vgl. Wolgast (Anm. 5), S. 74–81; Schindling (Anm. 7), S. 23–28. 11 Vgl. Wolgast (Anm. 5), S. 76–78; Eike Wolgast: Die Statutenveränderungen der Universität Heidelberg zwischen 1558 und 1786. In: Kreutz (Anm. 5), S. 187–204, hier S. 195–198; Gustav Adolf Benrath: Das Casimirianum, die reformierte hohe Schule in Neustadt an der Haardt (1578–1584). In: Ruperto Carola. Heidelberger Universitätshefte 75 (1986), S. 31–37. 12 Vgl. Wolgast (Anm. 5), S. 82–90; Schindling (Anm. 7), S. 23–28; Paul Warmbrunn: Pfalz-Lautern. Grundzüge der Territorial-, Konfessions- und Geistesgeschichte. In: Kreutz (Anm. 5), S. 63–79. 13 Vgl. Eckart Schäfer: Paulus Melissus Schedius (1539–1602). Leben in Versen. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Hg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 239–263. Weitere Literatur bei: Jörg Robert: Heidelberger Konstellationen um 1600. Paul Schede Melissus, Martin Opitz und die Anfänge der Deutschen Poeterey. In: Kreutz (Anm. 5), S. 373–387, hier S. 375. „Mit Schede-Melissus strebt der lateinische Gipfel des zweigipfligen Musenbergs [Heidelberg] gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts einem nicht wieder erreichten Höhepunkt zu.“ Wiegand: Humanismus (Anm. 5), S. 21.

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Heidelbergs im Kreis um Schede Melissus: Henric Mirou (1551–1621), Apotheker und Gelegenheitsdichter der Exulantengemeinde in Frankenthal. Mirou, heute weitgehend unbekannt, kann exemplarisch den engen Bezug von Literatur und insbesondere Dichtung zur konfessionellen Politik aufzeigen. Daher beschäftigt sich dieser Beitrag, nach einer kurzen biographischen Einordnung und einem Überblick über Mirous erhaltenes Œuvre, mit der konfessionellen Aussage der beiden Gedichte Mirous anlässlich des Todes Johann Casimirs und des Wechsels der Herrschaft auf Friedrich IV. Mirou lebte spätestens ab 1586 als Apotheker in Frankenthal, wo er bis zu seinem Tod 1621 verblieb. Weiteres erfahren wir durch seinen Vermerk in Lotichius’ Bibliotheca Poetica: Henricus Mirolæus, Francothalensis, Poeta Elegiaco-Rhytmicus. PHARMACIA doctus eras & CARMINA grata palato Ingenua dextre deproperare manu. […].14 [Henri Mirou aus Frankenthal; elegisch-rhythmischer Dichter Du warst ausgebildet in der Arznei, und Gedichte, die wohltuend für den Gaumen sind, Eilten gewandt aus deiner freien Hand.]

In der Bibliotheca ist er wider Erwarten nicht im Kreis der Germaniae et Belgii Poetae des dritten Bandes, sondern im vierten Band der gefeierten Dichter verschiedener Nationes mit einigen Beispielen seines Wirkens aufgeführt. Mit sechs Seiten ist seine Biographie eine der umfangreicheren unter den 114 in der Bibliotheca behandelten neulateinischen Poeten, und sie lässt auf ein bewegtes Leben schließen. Lotichius zufolge wurde Mirou 1551 in Antwerpen geboren und studierte nach einer ersten Ausbildung in den Grundlagen u. a. in Bologna. Er nahm am Afrikafeldzug Karls V. teil und kehrte danach zunächst in die spanischen Niederlande zurück, emigrierte aber im Zuge einer weiteren Verschlechterung der Verhältnisse für Reformierte in die Kurpfalz nach Frankenthal. Bei der Zuordnung des Afrikaabenteuers machte Lotichius allerdings einen Fehler. Aufgrund von Mirous Lebensdaten kommt für ihn erst die Kampagne des Don Juan de Austria im Jahr 1573, während der Herrschaft Philipps II. von Spanien, in Frage und nicht der Tunisfeldzug Kaiser Karls V. im Jahr 1535. Für Mirous Selbstbild jedenfalls war seine Teilnahme an der Expedition offenbar zentral. Sein Porträt, das er 1612 von dem für seine Radierungen bekannten Spezialisten Jacques Granthomme anfertigen ließ, ist mit einem entsprechenden Epi-

14 Johann Peter Lotichius: Bibliotheca poetica […]. Bd. 4. Frankfurt 1628, S. 103–108.



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gramm unterschrieben.15 Vier Hexameter (nicht Distichen wie man sie von Mirou erwarten würde) fassen sein Leben zusammen: Ecce Miroulæi sine carne & sanguine vultus Belgica quem primum tellus, quemque Africa vidit Pæonia nunc arte tenet Germania clarum Ille decus Phœbi & Francorum gloria vallis.16 [Siehe das Antlitz des Mirou ohne Fleisch und Blut, den die belgische Erde zuerst, den Afrika sah, Germanien hält nun den durch seine Heilkunst berühmten. Jener ist eine Zierde des Apollon und der Ruhm Frankenthals.]

Eine geordnete Ausgabe von Mirous Dichtung existiert nicht. Das heute erhaltene und bekannte Material verteilt sich auf drei Quellen: 1. Die Beispiele in Lotichius’ Bibliotheca. Es handelt sich dabei um einige Verse an Johannes Lucas, der als Mirous Mäzen bezeichnet wird. Lotichius nennt Lucas als Quelle für seine Informationen über Mirou. Dazu kommt ein Trauergedicht auf den Tod des nach Hannover emigrierten Antwerpeners Paul Pelsius.17 2. Ein Druck, der von Frankenthaler Honoratioren anlässlich der Durchreise von Friedrich V. und Elisabeth Stuart 1613 herausgegeben wurde, mit vier Epigrammen Mirous, die jeweils einen der ersten vier Kurfürsten mit Namen Friedrich behandeln.18 3. Eine elfseitige Flugschrift mit zwei Gedichten: Threnodia in Illustrissimi Invictique Herois ac Ducis, Domini Ioannis Casimiri Comitis Palatini ad Rhenum Ducis Bavariæ, &c. Tutoris et Administratoris Palatinatus Electoralis, Obitum Luctuosissimum […] Item, Carmen Gratulatorium in Illustrissimi, Potentissimique Principis, Domini Friderici IIII. Comitis Palatini Rheni, S. Romani Imperii Archidapiferi & Electoris, Ducis Bavariæ, &c. Franckenthaliam ingredientis felix auspicium.19

15 Siehe Abbildung. 16 Ebenfalls abgedruckt bei Lotichius (Anm. 14), S. 108. 17 Vgl. Lotichius (Anm. 14), S. 106–108. 18 Kurtze und eigentliche Beschreibung alles dessen, Was dem eintritt des Durchleuchtigst. F. und H. H. Friedrich Churf. Pfalzg. bei Rhein. Hertzog in Beyern &c. miet derselben C. Gn. Königlich Ehegemahl Fraw Elisabethen princessin zu groß Britannien, zu Frankenthal ahngestellt und gehalten worden. Frankenthal 1613, S. 55. 19 Das einzige bekannte erhaltene Exemplar ist heute im Besitz der Bayrischen Staatsbibliothek, Signatur: Res/P.o.lat. 168 q.

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Die Flugschrift ließ Mirou von dem Neustädter Drucker Harnisch anlässlich des Antrittsbesuchs Friedrichs IV. in Frankenthal im Jahr 1592 besorgen. Entsprechend sind darin ein Glückwunschgedicht an den nun amtierenden Kurfürsten und ein Trauergedicht auf dessen gerade verstorbenen Onkel Johann Casimir enthalten. Diese beiden Gedichte sind nicht nur formell der bedeutendste Teil von Mirous erhaltenem Œuvre, sondern auch der inhaltlich interessanteste, da der Autor darin deutlich seine Position als reformierter Exulant vertritt. Auch können sie im Kontext einer ganzen Reihe vergleichbarer, politisch motivierter Trauerdichtungen auf Johann Casimir betrachtet werden. Der Tod des Administrators der Kurpfalz im Januar 1592 und der Wechsel der Herrschaft zu Friedrich IV. führten zu einer größeren Zahl von Drucklegungen in der Kur- und Oberpfalz. Ein Überblick, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, umfasst neben lateinischen Trauerreden, deutschsprachigen Trauerpredigten und „Beschreibungen des Abgangs“20 vor allem eine Vielzahl von lateinischen, aber auch einige grie-

20 Bereits Mertens (Anm. 6), S. 73 Anm. 24 verwies auf die im Vergleich große Menge an Drucklegungen zu Casimirs Tod. Die nachfolgend genannten Drucke befinden sich im Besitz der Universitätsbibliothek Heidelberg. Die Trauerreden: Quirinius Reuter: Oratio de Vita et Morte Illustrissimi ac Potentissimi Principis & Domini Iohannis Casimiri Palatinati Rheni, Tutoris & Electoralis Palatinatus Administratoris, Ducis Bavariæ Patris Patriae. Heidelberg 1592; Iacob Kimedoncius: Oratio Lugubris: Memoriæ Illustrissimi Principis et Domini Iohannis Casimiri, Comitis Palatini ad Renum, Ducis Bavariæ, &c. Tutoris, & Adiministratoris Electorii Palatinatus: Patris Patriæ, Ecclesiarum et Scholarum nutricii, in primis verò inclytæ Academiæ heidelbergensis Patroni ac mecoenatis benignissimi. Heidelberg 1592; Daniel Tossanus: Oratio Funebris Memoriae Illustrissimi et Fortissimi Principis Ioannis Casimiri Comitis Palatini ad Rhenum, Tutoris et Electorii Palatinatus Administratoris, Ducis Bavariæ, […]. Heidelberg 1592. Die Predigten/Beschreibungen: Ungenannt, Melchior Anger: Exequiæ Casimirianæ. Beschreibung des tödtlichen Abgangs und Begrebnus / des Durchleuchtigsten / Hochgeborenen Fürsten und Herren / Herren Johanns Casimiri / Pfalzgraffen bey Rhein / Vormunden und Administratorn der Churfürstlichen Pfalz / Herzogen in Bayern / &c. Christlicher gedechtnuß. Sampt angehengter Leichpredig Melchioris Angeri Hoffpredigers / gehalten in der Churfürstlichen Stadt Heydelberg / im Stifft zum H. Geist / den 26. Januarii / dieses lauffenden 1592. Jars / als die Fürstliche Leych daselbst zu der Erden bestattet worden. […] Heidelberg 1592; Balthasar Copius: Siehe auff Gott. Ein Predigt / Gehalten zu Newstadt an der Hardt / den 26. Januarii im Jahr 92. Als die Leich deß Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Johann Casimirn / Pfalzgraffen bey Rhein / und Herzogen in Bayern / &c. Gewesenen Vormundt / und der Churfürstlichen Pfalz Administratoren, Unsers Gnädigsten Fürsten und Herrn / und frommen und getrewen Pflegers und Lehrers der Kirchen Christi / und rechten Vaters des Vaterlandes / hochseligster Christmiltester Gedächtenuß / zu Heydelberg in der Kirchen zum H. Geist mit grossem trawren und klagen ist zur Erden bestattet worden. Neustadt an der Hardt 1592; Georg Lupichius: Eine Klagpredigt Über den Tödtlichen Abgang / weiland des Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Johann Casimirs  / Pfalzgrafens bey Rheyn  / Vormunds und der Churfürstlichen Pfaltz Administratoris, Hertzogen in Bayrn  / &c. Christseliger gedechtnus  / So den 6. Januarii dises 92. jars  / umb 6.



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chische Trauer- und Glückwunschgedichte. Diese thematisch identischen, formal und inhaltlich nahestehenden Werke bieten sich zur vergleichenden Lektüre an, um die beiden politischen Dichtungen Mirous genauer einzuordnen und zu bewerten. Sie finden sich in den folgenden Sammlungen oder Einzeldrucken: – Parentalia in Obitum Iohannis Casimiri, Comitis Palatini ad Rhenum, Ducis Boiorum, Administratoris Archipal. Principis et Fortissimi et Optimi: Qui decessit Haidelbergæ in Arce. Die VI Ian. Antiqui. von Paul Schede Melissus, Marquard Freher, Johannes Posthius und weitere Heidelberger.21 – Carmina Funebria In Obitum Luctuosissimum Ilustrissimi Fortissimi et nunquam satis Laudati Principis et Herois, Iohannis Casimiri, Comitis Palatini ad Rhenum, Ducis Bavariæ, &c. Tutoris et Electorii Palatinatus Administratoris Fidelissimi, domini nostri clementissimi, ac de Republica et Ecclesia Orthodoxa eximie atque præclare: de Scholis Palatinatus plusquam Paterne promeriti. Darin vertreten sind die geistigen Honoratioren Neustadts.22 Als jeweils eigene Ausgaben existieren: – Lacrimae in obitum præmaturum, funus luctuosissimum, memoriam sempiternam, honorem meritissimum Iohannis Casimiri […] von Lambert Ludolf Helm.23

uhr gegen tag / zu Heydelberg im Schloß seliglich in Gott entschlaffen. Gehalten zu Amberg in S. Martins Kirchen. Durch Georgium Lupichium. Sampt / einem Deutschen Klaglied/ und etlichen Lateinischen Epitaphiis. Amberg 1592; Iohannes Strackius: Eine Christliche Leichpredigt Über dem Tödlichen abgang weiland des Durchleuchtigsten und Hochgeborenen Fürsten und Herren / Herrn Iohan Casimirs, der Churfürstlichen Pfalz Administratorn unnd Vormund / Pfalzgrafen beim Rein / und Herzogen in Baiern / welches F. G. in der Churfürstlichen Stat Heidelberg den 6 Januarii / Anno 1592, des morgens zwischen fünff und 6 uhren im Herrn seelig entschlaffen. Gehalten zu Cassel im Fürstenthum Hessen / in der Pfarkirchen auff der Freiheit / den 18 Januarii. […] Heidelberg 1592; Ungenannt: Ware Beschreibung / Von dem tödtlichen Abgang und Begrebnuß / des Durchleuchtigsten Hochgeborenen Fürsten und Herrn / Herrn Johann Casimiri / Pfalzgraffen bey Rhein / Vormündern und der Churfürstlichen Pfalz Administratoris / Herzogen in Beyern / etc. Geschehen in der Churfürstlichen Stadt Heydelberg / in der Stifftskirche zum heiligen Geist / den 26. Januaris / Anno 1592. Sampt erzehlung irer F. G. Kranckheit und Trostsprüchen / so. I. F. G. biß am letzten Ende gebraucht habe / auch was vornemen Fürsten / Herrn und Adelspersonen erschienen / und Legaten / so ire F. Leyche begleitet haben / Beneben des Texts / so bey irer Fürstl: Leych gehalten worden. [Mit illustrierenden Kupferstichen]. Heidelberg 1592. 21 Parentalia […]. O. O. 1592. Melissus gab bereits 1588 einen Druck mit Gedichten an Casimir und Friedrich IV. heraus: Paulus Melissus-Schede: Odæ Palatinæ. Ad serenissimos illustrissimosque Principes Ioannem Casimirum Administratorem, et Fridericum IV. […]. Heidelberg 1588. 22 Carmina Funebria […]. Neustadt an der Hardt 1592. 23 Lambert Ludolf Helm: Lacrimae […]. Heidelberg 1592.

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– Iusta Funebria in Obitum Illustrissimi ac Fortissimi Memoriæ Sanctissimæ Principis ac Domini, Domini Iohannes Casimiri […] von Johann Kahl.24 – Memoriae Illustrissimi herois Domini Iohannis Casimiri […] & Honori Florentissimi principis Domini Friderici Quarti […] von Georg Remus, als Besonderheit weitgehend zweisprachig griechisch/lateinisch gehalten.25 Eine Sammelausgabe der meisten dieser und weiterer Trauergedichte erschien noch im gleichen Jahr.26 Die Autoren eint ihre pro-reformierte Haltung, auch wenn diese in unterschiedlichem Maße sichtbar wird.27 Da sie thematisch und formell gebunden waren, verwendeten die Autoren dieser Dichtungen jeweils ähnliche Motive und die Gedichte weisen folglich innerhalb des Korpus viele Parallelen auf. Mirou steht etwas außerhalb dieser Gruppe durch die anlassbedingt spätere Veröffentlichung Mitte des Jahres 1592, für einen Besuch Friedrichs IV. in Frankenthal. Auch Mirou beginnt zunächst mit einem Trauergedicht. Seine Threnodia besteht aus 30 elegischen Distichen, die (ungewöhnlich für die Trauerdichtung für Casimir) ein doppeltes Akrostichon bilden, und zwar Namen und Titel des Beklagten Ioannes Casimirus comes palatinus, administrator palatinatus electo[r]. Das Gedicht ist chronologisch aufgebaut von den Vorzeichen für den Tod, über diesen selbst mit dem Trauerzug vom Heidelberger Schloss zur Heiliggeistkirche bis zu einer Würdigung der Lebensleistung des Verstorbenen. Auffällig ist mehr die wenig verklausulierte politisch-konfessionelle Positionierung des Autors. Auch wenn der Konflikt zwischen Lutheranern und Reformierten, der die Kurpfalz knapp zehn Jahre zuvor beschäftigt hatte, wie im Folgenden gezeigt nur vage angedeutet wird, steht am Ende der Threnodia explizit der Wunsch nach einem reibungslosen Übergang der Herrschaft auf Friedrich IV. ohne eine weitere Administratur eines möglicherweise pro-lutherischen Vormunds. Diese Hoffnung klingt auch in den Trauerdichtungen anderer Autoren an.28 Die konfessionelle

24 Johann Kahl: Iusta funebria […]. Heidelberg 1592. 25 Georg Remus: Memoriae […]. O. O. 1592. 26 Memoriæ nunquam satis laudatæ Christiani Saxoniæ Ducis et Iohannis Casimiri Comitis Palatini Rheni […]. O. O. 1592. 27 Dies ist wenig verwunderlich, da viele der Autoren ein öffentliches Amt innehatten. Tatsächlich war der Rückhalt für die reformierte Politik in der Kurpfalz weitgehend auf die Intellektuellen beschränkt, während die weite Bevölkerung mehr lutherisch orientiert war. Vgl. Wolgast (Anm. 5), S. 86. 28 Vgl. Dieter Cunz: Die Regentschaft des Pfalzgrafen Johann Casimir in der Kurpfalz 1583–1592. Limburg an der Lahn 1934, S. 100 f. Als Beispiel dieser Position in der Dichtung bietet sich Melissus-Schede an, siehe hier Anm. 36, 37.



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Positionierung innerhalb des Gedichts findet auf zwei Ebenen statt: Im lobenden Nachruf auf den Verstorbenen sowie in einer Ansprache an Friedrich IV. Mirou stellt die Kriegszüge Casimirs direkt in den konfessionellen Bezug. Er lobt die aktive, also militärische Vorgehensweise Casimirs, sei es im Auftrag seines Vaters oder in eigener Sache. Interit Aeneas nulli pietate secundus Tum, cùm humeris ferret sacra, patremque suis. Maior at ille fide pietateque clarior olim Obtulit hostili cum patre sacra gregi.29 [Aeneas, der niemand an Pflichtbewusstsein nachstand, ging damals verloren, als er die Hausgötter und seinen Vater auf den Schultern trug. Dieser aber [Casimir], größer an Glaube und Pflichtbewusstsein, hat einst mit dem Vater die Heiligtümer vor der feindlichen Horde bewahrt.]

Auch in den anderen Nachrufen auf Casimir werden dessen militärischen Leistungen hervorgehoben,30 allerdings ohne diese dabei so direkt mit der Konfessionspolitik zu verknüpfen wie bei Mirou. Zudem stellt dieser die kriegerischheroischen Taten, entsprechend dem Selbstverständnis der in Heidelberg residierenden Wittelsbacher,31 in einen mythologischen Kontext. Der Betrauerte habe Herakles und Hektor geglichen,32 an Tugend sogar Aeneas übertroffen. Umgesetzt ist dies in der Antithese von ferre  / offerre: Während Aeneas seinen Vater und die Penaten aus dem brennenden Troja lediglich in Sicherheit trug (Verg. Aen. 2,717 f.), leistete Casimir nicht nur erfolgreich Widerstand, sondern

29 Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 4. Ndr.: Gamer (Anm. 3), S. 260, V. 21–24. 30 Besonders elegant gelöst ist dies bei Lambert Helm (Anm. 23): Ingens bellicrepis tu metus hostibus, / Tu, tu terror eras; Matrona, Arar, Liger, / Renus tergemino gurgite spumeum / Mergens Occeano caput, / Forti bella gerentem te animo & manu, / Viderunt grege pro, legeque patria, / Hostem fœdifragum aduersús & impium, / Supremi auxilio Dei; S. 4 f. Helm gibt mit den Flussnamen sogar die Regionen der einzelnen Kampagnen an, anstatt nur formelhaft auf die Kriegszüge Casimirs zu verweisen, wie dies die anderen Autoren handhaben, beispielsweise im Carmen […] luctuosum obitum in den Carmina Funebria (Anm. 22): In bellis quatuor potuit nec lædere Mavors. In heutiger Bewertung gilt Casimir als erfolgloser Feldherr: „Damit zeigte sich schon früh ein weiterer prägender Wesenszug [Casimirs]: seine Vorliebe für das Kriegshandwerk. In seiner Persönlichkeit war er von den Sitten des Feldlagers geprägt. Freilich stand dieser Feldzug – wie auch alle weiteren militärischen Unternehmungen Johann Casimirs – unter keinem glücklichen Stern.“ Warmbrunn (Anm. 12), S. 66. 31 Stein geworden im Bildprogramm des Ottheinrich-Baus im Heidelberger Schloss mit seinen allegorischen, mythologischen und biblischen Heldenfiguren, s. Apperloo-Boersma, Selderhuis (Anm. 5), S. 358–364. 32 Vgl. Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 3. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 260, V. 19.

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trägt den Glauben dem Feind entgegen. Zusätzlich bietet Mirou dieses Bild von Casimir und seinem Vater für seine politische Inhaltsebene die Möglichkeit, einen Bezug zu Friedrich III., dem Großvater Friedrichs IV., herzustellen. Dieser Verweis ist durchaus wichtig, da Casimir außerhalb der Erbfolge stand und daher nur bedingt als legitimierendes Vorbild für den jungen Friedrich dienen konnte. Das Gewicht des gerade für die Exulanten so bedeutsamen Großvaters als Vorbild baut Mirou in seinem Gedicht dabei weiter aus. Gilt das Lob zunächst nur dem verstorbenen Casimir, zielt es in den oben zitierten Versen bereits auf Casimir und seinen Vater zugleich. Nachdem Mirou zu einer direkten Anrede an den jungen Friedrich gewechselt hat, stellt er diesen unmittelbar in die Nachfolge seines gleichnamigen Vorgängers. Das Vorbild Casimirs übergeht er zwar nicht direkt, sein Schwerpunkt liegt aber tatsächlich mehr auf einer Kontinuität zwischen dem Großvater und dem Enkel. Der Großvater war es, der den reformierten Glauben in der Kurpfalz etablierte: Maximus interiit fidei defensor auitæ, Impiger Ausonii dogmatis hostis obit. Exulibus spes certa viris Casimirus, & (eheu) Nunc iacet auxilium, præsidiumque scholæ. Sanctaque (defuncto Propugnatore fideli, Acrior hoc, nullus cùm superesset, erat) Principis exequias Ecclesia cantibus orna, Terra tegat cineres. […]33 [Der größte Verteidiger des großväterlichen Glaubens ist dahingegangen, der unermüdliche Feind der römischen Lehre ist tot. Casimir, die sichere Hoffnung und Hilfe für die verbannten Männer, ach, und Stütze der Schule liegt nun darnieder. Auch du, heilige Kirche, (beharrlicher als dieser gestorbene Vorkämpfer des Glaubens war zu seinen Lebzeiten niemand) […].]

Mirou zeigt sich hier offen antikatholisch. Die primäre Bedrohung für die Reformierten sieht er in den gegenreformatorischen Bestrebungen. Nur indirekt nimmt er dagegen die inner-protestantischen Spannungen auf. Der Schutz für die Exulanten und die Stütze der (reformierten) Schule, die Casimir gewährte, bewahrten diese immerhin keineswegs vor katholischen Übergriffen, sondern vor der lutherischen Politik Ludwigs VI.34 Nicht zuletzt die abschließende direkte Anrede

33 Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 4. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 260 f., V. 37–42. 34 Die Lutheranisierung unter Ludwig VI. verursachte für die rechtsrheinischen Exulantensiedlungen in Schönau und Heidelberg große Probleme. Vgl. Gerhard Kaller: Die Anfänge der kurpfälzischen Exulantengemeinden Frankenthal, Schönau, Heidelberg und Otterberg (1562–1590).



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Mirous an Friedrich IV. ist von einer aggressiven konfessionellen Polemik gekennzeichnet. Nubila cùm toto regnent densissima mundo, Cultor, vt est, maneat numinis vsque tui. Velatasque sacræ Pietatis imagine laruas, Tartara præcipiti trudat in ima gradu. Sic Patrvi præclara sequens vestigia Princeps. Omine telluri, vt nomine, reddet Avvm.35 [Wenn auch auf der ganzen Welt die dichtesten Wolken herrschen, soll er unverwandt, wie er es jetzt schon ist, der Verehrer deines göttlichen Willens bleiben. Die hinter dem Schein der heiligen Frömmigkeit verschleierten Masken soll er mit entschlossenem Schritt in die tiefste Unterwelt drängen. Indem der Fürst so den berühmten Spuren des Onkels folgt, wird er der Welt im Wirken wie schon im Namen den Großvater zurückgeben.]

Wie oben bemerkt, ist der Wechsel der Herrschaft zu Friedrich IV. ohne eine weitere Administratur ein wesentliches Anliegen der Reformierten in der Pfalz.36 Dieser Wunsch zeigt sich in der betonten Übertragung der Herrschaft auf Friedrich selbst, wie auch in dem wiederkehrenden Motiv einer Kontinuität der vier Kurfürsten mit Namen Friedrich in der hier betrachteten kurpfälzischen Dichtung.37 Der ungeliebte Lutheraner Ludwig VI., Vater des Adressaten und Bruder des Betrauerten, bleibt in der Regel unsichtbar und bei Mirou hinter den dichten Wolken des Irrglaubens verborgen. Während die politischen Wünsche des Dichters in der Threnodia auf die gesamte Kurpfalz und wohl auch auf eine intervenierend pro-reformierte Politik

In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 147 (1999), S. 393–403, hier S. 397–399. Der sichere Hafen der Schule im Casimirianum war für die Intellektuellen der Pfalz allgemein ein wichtiger Punkt. So widmete Johannes Posthius ihm ein eigenes Epigramm, De Casimirano collegio, in den Parentalia (Anm. 21), S. 24. Ndr.: Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand: Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Heidelberg 1983, S. 78 f. Insgesamt nimmt Mirou hier nur sehr zurückhaltend Stellung im inner-protestantischen Streit der Kurpfalz in dem wesentlich schärfer geschrieben wurde. Gipfel dürfte hier das nicht zugeordnete Distichon O Casimire potens, servos expelle Lutheri:/ Ense, rota, ponto, funibus, igne neca! sein, dass sich an verschiedenen Stellen überliefert findet. Hier zitiert nach: Gustav Benrath: Irenik und Zweite Reformation. In: Schilling (Anm. 5), S. 356. 35 Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 4. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 261, V. 55–60. 36 Daher geschah beispielsweise für Melissus der Übergang der Herrschaft auf Friedrich IV. Raro iehovæ consilio Dei, Parentalia (Anm. 21) S. 13. 37 Vgl. Melissus’ Ad Fridericum IV. Septemvirum Palatinum, Parentalia (Anm. 21), S. 38. Hier wünscht er sich, dass der junge Friedrich von jedem seiner gleichnamigen Vorfahren ein Attribut, Victoria, Sapientia und Pietas, übernehme.

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bezogen sind, ist die Stoßrichtung des auf sie folgenden Carmen Gratulatorium einem rein lokalen Interesse geschuldet: der herrschaftlichen Förderung der Stadt Frankenthal (und natürlich auch des Dichters selbst). Das Gedicht widmet sich dem Empfang Friedrichs IV. in Frankenthal und verbindet die an den Herrscher gerichteten Wünsche mit einem Enkomium auf Mirous gewählte Heimatstadt. Wieder wird der nahtlose Übergang der Herrschaft auf Friedrich IV. betont und seine Stellung als comes Palatinus ad Rhenum hervorgehoben. Der Rhein selbst soll ihm seine Aufwartung machen: Rhene pater, tuque, ô, contermine Neccare Rheno Tollite arundineis tempora operta comis. Principis aduentum cursu celebrate retento, Applaudatque suo squamea turba Dvci.38 [Du, Vater Rhein, und du, oh Neckar, Nachbar des Rheines, erhebt eure schilfbekrönten Häupter. Preist die Ankunft des Fürsten durch verminderten Lauf, und euer schuppiges Gefolge soll seinem Fürsten applaudieren.]

Rhein und Neckar prägen die Geographie der Kurpfalz und stehen hier als Personifikation für diese. Das Motiv des ‚Vater Rhein‘ ist gerade bei Mirous erklärtem Vorbild Melissus zu finden.39 Mirou ordnet dem Rhein als Gratulant ersten Ranges eine ganze Reihe von weiteren, über das Reichsgebiet verteilten Flüssen unter (auch solche die nicht Flusssystem des Rheins gehören), die ihre Wasser mit ihm vermischen und dem Fürst ihre Aufwartung machen sollen.40 Die Flussnamen mögen nun der metrischen Notwendigkeit geschuldet sein oder dem Bild des Vater Rhein als erstem unter den Flüssen im Reich, so wie der Pfalzgraf bei Rhein der bedeutendste unter den weltlichen Herrschern des Reichs ist. Ein wesentliches Element des Gedichts ist auch die Stadtbeschreibung, welche von Mirou wiederum zur konfessionellen Positionierung eingesetzt wurde. Die rasch fortschreitende Entwicklung einer Exulantenkolonie zu einer wirtschaft-

38 Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 8. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 267, V. 85–88. 39 S. Melissus’ Ad Rhenum Flumen Germaniæ, in: Paulus Schede-Melissus: Schediasmata Poetica. Paris 1586, S. 229–231. Ndr.: Kühlmann, Wiegand (Anm. 34), S. 82 f. In der Verbindung beider Flüsse trauern Rhein und Neckar zusammen um Casimir in Schedes erster Nænia (Anm. 21), S. 3: Naiades ingeminant planctu suspiria, & altos / Rhenus ab amne tacit, ceu Nicer ipse, sonos. Ähnlich bereits in der ebenfalls an Friedrich IV. adressierten Naenia anlässlich des Todes seines Vaters, des ungeliebten Lutheraners Ludwig VI.: Prolixiorum fimbria, verrens humum. / Occulit Nicer caput, / Caput occulit et Rhenus, / Amnicolaeque Deae. Sed ista te manent, / O puer invicte, incommoda. Paulus Melissus-Schede: Naenia in funere illustrissimi Principis Ludovici Comitis Palatini ad Rhenum, […]. Nürnberg 1583, S. 6. 40 Vgl. Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 8. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 267, V. 89–92.



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lich prosperierenden Stadt rief bei Zeitgenossen und Reisenden Bewunderung hervor. Ein Beleg hierfür ist die bereits Ende 1578 von Daniel Rogers verfasste Elegie Ad Francdaliam Coloniam Belgicam, in Palatinatu.41 Mirou präsentiert in 59 Versen knapp sein als libera vallis bezeichnetes Frankenthal. Zunächst schildert er die Entstehungsgeschichte des Ortes als Exulantenansiedlung, die den vernachlässigten Besitzungen des Augustinerstiftes Zivilisation bringt, dann hebt er die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt für die Herrschaft hervor und bittet um weitere Förderung. Dabei betont er die Rechtgläubigkeit und Rechtschaffenheit der Bewohner – es gilt ihm darzustellen, dass die Besiedlung durch Flüchtlinge kein Makel für die Stadt ist, sondern ihr zur Zierde gereicht.42 Ein literarisches Vorbild und die Vorlage für seine Stadtbeschreibung fand Mirou wiederum in der Aeneis: Die durch die Verbrechen des Pygmalion vertriebene Tyrer um Dido erbauen ihren Zufluchtsort Karthago – der Anblick, der sich Aeneas bietet, wird im ersten Buch, Verse 419–436 geschildert. Mirou nahm aus dieser Passage Gliederung und Vokabular, soweit sie den Verhältnissen angemessen waren, und fand hier weiteren Raum für anti-katholische Polemik, insbesondere im Kontext der Umwidmung des ehemaligen Stiftes. Exiguas ne sperne domos, noua mænia nobis Cernis ab exiguis condita principiis. Antè cucullatis habita fuere cinædis Hæc loca, & impuro contaminata grege Sed fraudes niuea, cernens sub veste latentes, Et scelerata tuus facta perosus AVVS. Diuinum reparans cultum, sit copia fandi Pauca, pecus veteri sede remouit iners. Interea patriis eiectos finibus, oris Appulit his Papæ sæua procella, viros. Omnibus exhaustis iam casibus, omnium egenis Non scelus exilii causa, nefasue fuit,

41 Zu Rogers s. Jan A. Dorsten: Poets, patrons, and Professors. Sir Philip Sidney, Daniel Rogers, and the Leiden Humanists. Leiden 1962 (Publications of the Sir Thomas Brown Institute. General Series 2), S. 9–75. Die genannte Elegie ist nur handschriftlich überliefert: Huntington Library, HM 31188, Bl. 39v–42v. Auszugsweise übersetzt mit Abdruck des vollständigen lateinischen Textes bei: Thea Vignau-Wilberg: Dichter, Denker, Diplomaten. Daniel Rogers’ Ode auf Frankenthal aus dem Jahr 1578. In: Kunst, Kommerz, Glaubenskampf. Frankenthal um 1600. Hg. von Edgar J. Hürkey, Ingrid Bürgy-de Ruijter. Worms 1995, S. 48–52. 42 Dies ist eine deutliche Zuspitzung gegenüber Rogers, der neutraler formuliert: Exulibus constat Belgis, pietatis amore / Externum e patria qui subiere solum. Vignau-Wilberg (Anm. 41), S. 52.

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Sed sincera fides, hominum nullo illita fuco. […]43 [Verachte nicht die kleinen Häuser, du siehst, dass für uns neue Mauern aus kleinen Anfängen erbaut wurden. Zuvor wurde dieser Ort von Kutten tragenden Wüstlingen bewohnt und von der unreinen Herde besudelt. Aber den Betrug, der sich unter weißer Kleidung verbarg, erkannte dein Großvater, dem schurkische Taten verhasst waren. Er stellte den heiligen Kult wieder her und entfernte die träge Herde aus ihrem alten Sitz, was hier nur kurz erwähnt sein soll. Das grausame Stürmen des Papstes verschlug Männer, die inzwischen aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, in dieses Gebiet. Für alle durch die Unbill Erschöpften, die Mangel an allem litten, war nicht Verbrechen oder Frevel Grund des Exils, sondern ihre aufrichtige Frömmigkeit, von keiner menschlichen Verstellung verdorben. […] ]

Als Vergleich bietet sich hier die 14 Jahre ältere Beschreibung der Stadt Frankenthal durch Rogers an. Weit ausgreifend zeichnet der englische Dichter-Diplomat vor dem Auge des Lesers ein lebendiges Bild der Stadt mit all ihren statischen Elementen (wie etwa dem Rheinkanal, der ihm offenbar besonders erwähnenswert schien).44 An so einem detaillierten Panorama der örtlichen Verhältnisse ist Mirou anscheinend nicht sonderlich interessiert. Er verweist im Anschluss an die oben zitierte Passage, und bevor er die wirtschaftliche Potenz der jungen Stadt lobt, lediglich auf die Mehrsprachigkeit der Frankenthaler Gemeinden, indem er die Stadt von sich selbst sagen lässt: Vrbibus aduecti variis, & dispare lingua, Mente, animo, cultu, me statuere pares [Aus verschiedenen Städten zugezogen, von der Sprache her verschieden, aber gleich in Geist, Herz und Glauben haben sie mich erbaut.]45

Die Betonung der wirtschaftlichen Bedeutung, der Bienenfleiß ihrer Bewohner, ist für Mirous Anliegen, fortgesetzte fürstliche Protektion und Förderung zu erhalten, zentral. Ansonsten nutzt er sein Stadtlob für konfessionelle Polemik. Der Frevel der durch ihre weiße Kutte kenntlich gemachten Augustiner Chorherren liegt dabei nur implizit in ihrem Katholizismus. Tatsächlich prangert er in erster Linie Verhaltensweisen an, die auch innerhalb ihres eigenen Wertekanons anstößig wären, so vor allem luxuria, die Geilheit (cinaedis) und acedia, die Faulheit (pecus iners) neben den unspezifischen fraudes. Ihre Anrechte verloren sie

43 Mirou: Threnodia (Anm. 19), S. 9 f. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 267 f., V. 120–132. 44 Scilicet in Rhenum fossam deduxit ab urbe, Vignau-Wilberg (Anm. 41), S. 52. 45 Mirou: Threnodia (Anm. 20), S. 19. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 268, V. 128.



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aber nach Mirou auch weil sie den ihnen anvertrauten Ort verwahrlosen ließen, ein wiederum mehr reformierter Gedankengang: Iam vocor urbs, claustrum putridum, & mapalia quondam [Schon werde ich Stadt genannt, die ich einst ein morsches Kloster und ein paar Hütten war.]46

Mirous Perspektive in diesem Werk ist die eines persönlich Betroffenen, und so drückt er in seiner Stadtbeschreibung einen Antipapismus aus, wie er sich ähnlich auch in der zuvor genannten Trauerdichtung an Casimir bei verschiedenen Autoren findet. Natürlich werden Antipapismus und Antikatholizismus in den Trauergedichten auf den Administrator in den Kontext der Lebensleistung Casimirs gesetzt und die Trauerdichtungen der anderen Kurpfälzer präsentieren ihn als Held und Beschützer der Reformierten: Ille Isræliticus terra committitur Hector Qui Satanæ terror, papæ, & Vbique fuit. [Jener der auserwählten Gottes Hector wird der Erde übergeben, der überall ein Schrecken für Satan und Papst war.]47

um dessen Standarte sich die Rechtgläubigen sammeln konnten: Sicut enim partes miles distractus in omnes Ad numerum refluit cùm su signa videt: Christi militibus sic cedere fortè coactis Ad rabiem mundi Pontificumque minas. [So wie der versprengte Soldat zu seiner Pflicht zurückkehrte, nachdem er sein Feldzeichen sah: Da die Streiter Christi auf diese Weise ermutigt wurden, der Tollheit der Welt und den Drohungen der Priester entgegenzutreten.]48

Für diese Sichtweise gibt es im hier herangezogenen Vergleichskorpus weitere Belegstellen. Für Mirou aber waren diese Elemente Bestandteil einer eigenen

46 Mirou: Threnodia (Anm. 20), S. 19. Ndr.: Gamer (Anm. 2), S. 268, V. 142. Entsprechendes findet sich bereits bei Rogers, aber nicht so scharf formuliert: Cernite, quis credat lustris coijsse duobus / Tot profugos, structos tot profugisque lares. / Ante sacer monachis tantum et sine nomine pagus, / Sorduit excultae forma nec urbis erat. Vignau-Wilberg (Anm. 42), S. 52. 47 Kahl (Anm. 24): Elegiacum, S. 6. 48 M. Mattheus Trogerus: Elegia in obitum illustrissimi ducis Iohannis Casimiri. In: Carmina Funebria (Anm. 22), S. 17.

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Lebensbeschreibung, die sich in den Kontext seiner fragmentarischen Biographie stellen lassen. Konfessionelle Positionierung und Propaganda ist in der Dichtung, die den reformierten Positionen nahesteht, nicht ungewöhnlich. Die Polemik kann dabei sehr aggressiv werden, wie beispielsweise in den Lacrumae Haidelbergenses von 1624, einem Nachruf auf die reformierte Kurpfalz.49 Die Perspektive von 1592 war natürlich noch eine andere. Es galt, die gewünschte Politik optimistisch mitzugestalten. Bei dieser propagandistischen Einflussnahme zeigt sich Henric Mirou im Vergleich zu den Kurpfälzer Intellektuellen als einer der schärfer polemisierenden Dichter. Bei all dem erhofften Eigennutzen ist er in seinen beiden Gedichten dennoch auch Fürsprecher einer ganzen Gruppe, die der niederländischen Exulanten. Seine persönlichen, aber auch die kollektiven Erfahrungen seiner Gemeinde ließen die konfessionsbezogene Verse bei ihm nicht als Beiwerk im Hintergrund werden, sondern wesentliches Element und Anliegen. So bieten seine Threnodia und das Carmen Gratulatorium einen besonders lebendigen Eindruck von dieser durch konfessionelle Spannungen und Umbrüchen geprägten Phase der kurpfälzischen Geschichte.

49 Hermann Wiegand: Lacrumae Haidelbergenses. Eine neulateinische epische Klage über die Eroberung Heidelbergs durch Tilly 1622. In: Wiegand (Anm. 5), S. 127–166.

Michael Hanstein

Regionale Identifikationsangebote im Straßburger Akademietheater Zu den Dramen Julius Caesar und Moses des Caspar Brülow In seinen lateinischen Dramen Julius Caesar (1616) und Moses (1621) richtet sich Caspar Brülow (1585–1627) mit inszenatorischen, sprachlichen und inhaltlichen Identifikationsangeboten an das regionale bzw. städtische Publikum Straßburgs.1 Brülow wirkte als Gymnasiallehrer und Poesie-Professor an der Straßburger Akademie und somit an der bedeutendsten protestantischen Schulbühne des frühen 17. Jahrhunderts. Mit seinen sechs lateinischen Schuldramen über biblische und profane Stoffe in den Jahren 1612 und 1621 gilt er nicht nur als wichtigster Autor am Straßburger Akademietheater, sondern der älteren literaturgeschichtlichen Forschung sogar als „bedeutendste[s] dramatische[s] Talent, das unsere Literatur in der Zeit vor Lessing aufzuweisen hatte“.2

1 Caspar Brülow: Moses, sive exitus israelitarum ex Aegypto, Tragico-Comoedia sacra, Liberationem ex omni malorum pelago solum in Deum sperantibus promittens; tyrannis et seditiosis interitum et poenas denuncians: Ex Pentateucho et Josephi Antiquit. Iud. Desumta. Straßburg 1621 bzw. ders.: Cajus Julius Cæsar. Tragoedia, ex Plutarcho, Appiano Alex.[,] Suetonio, D. Cassio, Joh. Xiphilino etc. maximam partem concinnata, et adversus omnem temerariam seditionem atque tyrannidem ita conscripta, ut […] praecipuas Roman. histostorias [!], ab V. C. ad Imp. usq. Octav. Aug. breviter commemoret. Authore M. Casparo Brülovio […]. Publice exhibita in Academiae Argentor. Theatro, nundinis aestivalibus, Anno fundatae salutis, M.DC.XVI. Straßburg 1616; Ndr.: Caesar. Halle/Saale 1618. Edition der Erstausgabe: Mieczyslaw Grzesiowski: M. Gaspara Brülowa Tragedie O G. Juliuszu Cesarze. In: Meander 11/12 (1991), S. 420–487; 1/2 (1992), S. 63–102; 3/4 (1992), S. 170–206. Edition des Ndr. von 1618 in: Jan-Wilhelm Beck (Hg.): Fabulae Neolatinae. http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_IV/Klass_Phil/Latein/Beck/Fabulae_neolatinae.htm (Juli 2016). 2 Wilhelm Scherer, Ottokar Lorenz (Hgg.): Geschichte des Elsaß. 3.  Aufl. Berlin 1886, S. 315. Ähnlich wird Brülow bewertet von Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock, 1400–1600. Stuttgart 1927, S. 441. – Einleitend zu Brülow vgl. Wilhelm Kühlmann: s. v. In: Killy Literaturlexikon. Hg. von dems. 13 Bde. 2. vollst. überarb. Aufl. Berlin 2008–2012, hier Bd. 2, S. 226–228 (im Folgenden zitiert als „Killy Literaturlexikon“ mit Band- und Seitenzahl) und Michael Hanstein: s. v. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 1. Berlin 2011, Sp. 354–364 sowie die Monographie Michael Hanstein: Caspar Brülow (1585–1627) und das Straßburger Akademietheater. Lutherische Konfessionalisierung und zeitgenössische Dramatik im akademischen und reichsstädtischen Umfeld. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 185). Folgende Dramen, die jeweils in Straßburg gedruckt und aufgeführt wurden, hat Brülow verfasst: Andromede (1612), Elias (1613), Chariclia (1614), DOI 10.1515/9783110400281-015

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Das Straßburger Akademietheater war institutionell an die Hochschule der Reichsstadt gebunden, die aus dem 1538 vom Magistrat gegründeten Gymnasium hervorgegangen war. Durch humanistische Bildung versuchten die führenden Köpfe des Stadtbürgertums, ihre soziale und politische Führungsposition zu sichern und auszubauen. Als Gründungsrektor gewann man den Humanisten Johann Sturm (1507–1589), dessen Erfolg sich schon bald in steigenden Schülerzahlen manifestierte. Bereits in den 1540er Jahren zählte das Straßburger Gymnasium mit ca. 500 Schülern zu den größten Stadtschulen Deutschlands und besaß erst neun, dann zehn Klassen mit jeweils eigenen Klassenpraeceptoren sowie mehrere Lehrstühle für wissenschaftliche Vorlesungen in Theologie, Rechtswissenschaft und philosophischen Disziplinen.3 Im Jahr 1566 verlieh Kaiser Maximilian II. der Stadt Straßburg ein eingeschränktes Hochschulprivileg, das einige korporative Selbstverwaltungsrechte sowie die Graduierungsrechte für den Baccalaureus und Magister umfaßte.4 Erst 1621 erhielt die Straßburger Akademie von Kaiser Ferdinand II. das Universitätsprivileg und somit das Promotionsrecht in allen Fakultäten. Das pädagogische Ziel des Gründungsrektors Johann Sturm bestand in der sapiens atque eloquens pietas, d. h. einer Erziehung zu Weisheit und tugendhafter Frömmigkeit durch humanistische Sprachausbildung, die wiederum auf der Einheit rhetorischer und kognitiver Fähigkeiten der Schüler beruhte.5 Die acht

Nebucadnezar (1615), Julius Caesar (1616) und Moses (1621). Hinzu treten zwei hexametrische Großdichtungen: ein zu den Straßburger Feierlichkeiten des Reformationsjubiläums rezitiertes Luther-Epos: Oratio decima carmen heroicum, de vita rebusque gestis B. Martini Lutheri, recitatum a M. Casparo Brülovio. In: Iubilaeum Lutheranum Academiae Argentoratensis. Straßburg 1617, S. [GG 1v]–LL [1] und ein Rede-Actus über den Propheten Jona: Carmen exegetico-dramaticum, de S. Propheta Jona, et Ninivitarum Conversione. Straßburg 1627. 3 Siehe Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt: Gymnasium und Akademie in Straßburg. 1538–1621. Wiesbaden 1977 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 77), S. 32 sowie die historische Überblicksdarstellung von Bernard Vogler: Straßburg. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Adams und Siegrid Westphal. Berlin 2012, S. 1833–1876. 4 Vgl. Schindling (Anm. 3), S. 44–66 zu Einschränkungen des Universitätsprivilegs, zu denen der Verzicht auf eine eigene Gerichtsbarkeit der Institution aus Sicherheitserwägungen des Straßburger Magistrats zählt. 5 Johannes Sturm: De literarum ludis recte aperiendis liber. Straßburg 1538, S. C 4 bzw. Ndr. in: Die evangelischen Schulordnungen des 16.  Jahrhunderts. Hg. von Reinhold Vormbaum. Bd. 1/1. Gütersloh 1858, S. 653–677, hier S. 661. Zur sapiens atque eloquens pietas vgl. Schindling (Anm. 3), S. 31 f., Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzeptionen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hg. von Notker Hammerstein, August Buck. München 1996, S. 153–196, hier S. 165–167 sowie Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den



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untersten Klassen des Gymnasiums dienten daher dem Erwerb sprachlicher Grundlagen in Latein und Griechisch. Hierfür boten u. a. Sturms Cicero-Ausgabe und seine sechsbändige Anthologie römischer Dichtung Textbeispiele antiker Klassiker.6 Die beiden Oberklassen des Gymnasiums, die Secunda und Prima, widmeten sich verstärkt der Rhetorik, wofür man Reden von Cicero bzw. Demosthenes analysierte und imitierte.7 Theater spielte dabei anfangs keine Rolle in den Überlegungen des Rektors. Erst 1565, knapp 30 Jahre nach seinem Antritt, integrierte Sturm auch Aufführungen antiker Komödien des Terenz und Plautus, die bislang unregelmäßig stattfanden, als regelmäßige Übungen in gesprochenem Latein in den RhetorikUnterricht.8 Allerdings musste er seinen Plan, durch beinahe wöchentliche Inszenierungen die gesamte Palliata in einem Jahreskurs darzubieten, schon bald aufgeben. Stattdessen bildeten die Theater-Aufführungen den feierlichen Schuljahresabschluss in der Osterzeit.9 Seit den späten 1570er Jahren fanden diese Inszenierungen auch zur Johannismesse, d. h. binnen zwei Wochen nach dem 24. Juni (St. Johannes), statt und

deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Bd. 1. 3. Aufl. Leipzig 1919, S. 292. Zu Melanchthons humanistischen Bildungsreformen an Schulen und Universitäten vgl. Eckhard Bernstein: Humanistische Intelligenz und kirchliche Reformen. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Werner Röcke, Marina Münkler. München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 166–197, hier S. 193–197. 6 Siehe etwa die von Sturm zum Unterrichtsgebrauch erstellten Ausgaben: M. T. Ciceronis orationum volumina III. Straßburg 1540 bzw. Poetica volumina VI. Straßburg 1565. 7 Vgl. Sturms Demosthenes-Ausgabe (Aeschinis et Demosthenis Orationes duae contrariae. Straßburg 1550) sowie Schindling (Anm. 3), S. 180–207; die Statuten der Akademie von 1604 bieten Charles Engel, Marcel Fournier (Hgg.): L’Université de Strasbourg et les Académies Protestantes Françaises. Gymnase, Académie, Université des Strasbourg. Paris 1894 [Ndr.: Aalen 1970] (Les statuts et privilèges des universités françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789 IV/1), Nr. 2144 bzw. S. 291–337, hier S. 314–321. 8 Vgl. Sturm (Anm. 5) zu seinen pädagogischen Grundsätzen bei der Gründung des Gymnasiums. Hier bleibt das Theater unerwähnt. Lediglich während der Eröffnungsfeierlichkeiten wurde der Lazarus redivivus des Johannes Sapidus (1490–1561) gespielt. Erst 1565 findet Theater als Praxis des mündlichen Lateins für die obersten drei bzw. vier Gymnasialklassen Aufnahme in Sturms Anleitungsschrift Classicae epistolae (1565) und wird von ihm in seiner Vorrede zu Georg Calaminus’ (1549–1595) Carmius sive Messias in praesepe (1576) erwähnt. 9 Darstellung der Examina am Straßburger Gymnasium nach Schindling (Anm. 3), S. 182 f. sowie nach den Statuten der Straßburger Akademie von 1604 abgedruckt in Engel, Fournier (Anm. 7), S. 325 f. und S. 337; zum Aufführungstermin des Schultheaters im Zusammenhang mit der Osterpromotion siehe August Jundt: Die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Straßburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Schuldramas im 16. und 17. Jahrhundert. Straßburg 1881, S. 24 f.

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richteten sich gleichermaßen an Besucher und Bewohner Straßburgs. Das herausragende Beispiel für die kulturellen Errungenschaften der Freien Reichsstadt und die Demonstration ihres ökonomischen Geltungsanspruchs unterstützten einander. Dieser Transfer in einen außerschulischen Kontext ging vor allem nach Sturms Ausscheiden als Rektor des Gymnasiums (1581) mit inszenatorischen, stofflichen und funktionalen Veränderungen einher.10 Die ursprünglich spartanischen, schulinternen Inszenierungen, die vor allem auf die Deklamation lateinischer Rede ausgerichtet waren, verfolgten nun neben rhetorischen Lernzielen auch kontroverstheologische Absichten. Auf der Bühne wurde die lutherischorthodoxe Konfession der Reichsstadt gegen katholische oder reformierte Positionen verteidigt.11 In ihrem neuen Kontext mussten die Aufführungen zudem einem breiteren Zuschauerspektrum mit heterogenen Lateinkenntnissen angepasst werden. Um das Verständnis des Publikums zu sichern, ließ man deutsche Inhaltsangaben und Dramenübersetzungen anfertigen und entwickelte einen kostüm-, personalund effektreichen Inszenierungsstil, der mit dem des Jesuitentheaters vergleichbar war. Des Weiteren lässt sich ein Wandel im Dramenrepertoire feststellen. Nicht mehr die antiken römischen Komödien der Palliata dominierten die Bühne, sondern meist biblische Sujets in Dramen zeitgenössischer Autoren. So brachte auch Brülow zur Verleihung des Universitätsprivilegs (1621) einen biblischen Stoff auf die Bühne. Sein Moses orientiert sich im Handlungsverlauf wesentlich am Pentateuch, genauer gesagt an den Büchern Exodus, Numeri und Deuteronomium.12 Dabei rafft Brülow die Chronologie der Exodusgeschichte, wenn er die

10 Zu einem ähnlichen Transformationsphänomen, nämlich der Übertragung und Umdeutung des (höfischen) Tanzes in den Kontext des Pariser Jesuitenkollegs, vgl. Hanna Walsdorf: Ritualtransfer zwischen Opéra und Jesuitenkolleg. Tanzikonen des 18. Jahrhunderts auf der Schulbühne in Louis-le-Grand. In: Forum Ritualdynamik 17 (2011). 11 Vgl. Jean-Marie Valentin: Templum (et Musarum quoque?) repurgandum. Orthodoxie et théâtre à Strasbourg (1581–1610). In: Études germaniques 50 (1995), S. 557–594. 12 Zum Moses vgl. Hanstein: Brülow 2013 (Anm. 2), S. 472–552 sowie die älteren Studien von Barbara Lafond: Caspar Brülow (1585–1627). Drama und Theater im Dienste des bürgerlichenprotestantischen Humanismus. Straßburg 1979 bzw. dies.: Die religiöse Polemik im „Moses“ von Caspar Brülow. In: Daphnis 9 (1980), S. 711–718 und Hildegard Schäfer: Höfische Spuren im protestantischen Schuldrama um 1600. Caspar Brülow, ein pommerscher Gelehrter in Straßburg (1585–1627). Oelde [1935], S. 76–82 sowie Günter Skopnik: Das Straßburger Schultheater. Sein Spielplan und seine Bühne. Frankfurt a. M. 1935, S. 146 f. In jüngerer Zeit erschienen Michael Hanstein: Die Verleihung der Universitätsprivilegien im frühneuzeitlichen Schuldrama  – der Molsheimer „Carolus Magnus“ (1618), Caspar Brülows „Moses“ (Straßburg 1621) und Christoph Speccius’ „De Titi et Gisippi Amicitia“ (Altdorf 1623). In: 400 Jahre Hochschulwesen in Hamburg.



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biblischen Plagen in wenigen Auftritten komprimiert oder die Rechtstexte des Pentateuch zugunsten stark soziodidaktisch ausgerichteter oder unterhaltsamer Szenen des Moses zusammenfasst bzw. tilgt. Das bunte, effektreiche Panoptikum, welches der Moses seinen Zuschauern bot, beschreibt der Straßburger Chronist Johann Philipp Abelin (1600–1634) in seinem Bericht über die zweitägige Aufführung vom 16. und 17. August: […] bey dieser Action [ist] sehr lustig zu sehen gewesen/ die Ertränckung der Israelitischen Kinder in Egypten/ die starcke Frondienst der Israeliten/ der brennende Busch/ die Verwandlung des Stabs Mosis in eine Schlang/ und die Verwandlung der Schlangen in einen Stab/ die Verwandlung des Wassers in Blut/ die Frösch/ die Läuß/ die dicke Finsternuß/ der Hagel und Ungewitter/ die Wolckenseul und Fewrige Seul/ wie auch das rothe Meer/ durch welches die Kinder Israel trucknes Fuß durchgegangen/ Pharao aber und seine Zugehörigen/ sampt Pferden und anderm verschlucket worden […]. Den folgenden Tag als den 17. Augusti/ wurde der ander Theil der Comoedi vorgenommen/ da man dann gar zierlich repraesentiret den Felsen an welchen Moses geschlagen, daß Wasser herauß geloffen/ die Gebung der Zehen Gebott Gottes auff dem Berg Sinay/ die Auffrichtung des güldenen Kalbs/ umb welches die Kinder Israel gerannet/ die Anordnung des Levitischen Gesetzes/ Gefäß/ Ceremonien und Instrumente und Auffsperrung der Erden/ welche Core/ Dathan und Abiro verschlucket und in sich gefressen hat/ Bileams Eselin/ welche geredet/ die Auffrichtung der ährinen Schlangen/ allerhand Opfer/ und unterschiedliche kostbare Fewerwerck.13

Die Inszenierung des Moses bildete den Abschluss und Höhepunkt der opulenten Bühnenpraxis des Straßburger Akademietheaters. Der sprechende Esel Bileams bekommt ähnlich wie der Teufel, den seine traditionellen tierischen Attribute wie Hörner und Pferdefuß charakterisieren, seinen Auftritt. Pyrotechnik wird beim brennenden Dornbusch oder der Wolkensäule eingesetzt, welche die fliehenden Hebräer von ihren Verfolgern aus Ägypten trennt. Aus der Oberbühne fallen Frösche und illustrieren die biblischen Plagen in optisch eindrucksvoller Manier, während zur Vernichtung der Rotte Korah und des ägyptischen Heeres, die vom

Das Akademische Gymnasium (gegr. 1613) und seine Bedeutung für die neuzeitliche Wissenschafts- und Bildungsgeschichte. Hg. v. Johann Anselm Steiger et al. (im Druck) sowie Jean-Marie Valentin: Charlemagne ou Moïse? Confession et politique au théâtre ou le conflit entre Molsheim (1618) et Strasbourg (1621). In: Etudes Germaniques 71 (2016), S. 471–488. 13 Johann Philipp Abelin: Theatrum Europaeum […] vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr 1629. Frankfurt a. M. 1662, S. 520. Zu Abelin vgl. die biographische Darstellung von Michael Behnen: s. v. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 1, S. 9 f.; zu Quellen und Autoren des bis 1718 mit insgesamt 19 Bänden verlegten Theatrum Europaeum siehe auch Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum. Ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1909 [Ndr.: Lübeck 1982].

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Roten Meer bzw. dem Erdboden verschluckt werden, die Unterbühne eingesetzt wird. Ein letztes Mal drängte daher das einfache Publikum in den Innenhof des Gymnasiums und auf die Zuschauergalerien der umgebenden Gebäude. Die besten, vor Wind und Wetter geschützten Plätze waren dabei dem Patriziat, hohen Gästen und weiblichen Spectatrices vorbehalten. Sie schauten seit 1590 aus dem Auditorium zu, das man an den Chor der ehemaligen Klosterkirche angebaut hatte, wobei die Damen in der Bücherei des Gymnasiums Platz nahmen und zum Leidwesen der Bibliothekare Verwirrung unter den Beständen stifteten.14 Doch die üblichen baulichen Vorbereitungen reichten 1621 für den Publikumsandrang bei der Inszenierung des Moses nicht aus. Abelin rühmt die Anziehungskraft des Theaters auf die breite Masse und zählt „mehr als zehen tausend Zuseher […] / so / daß auch das Volck auf dem grosen Plan und den auffgeschlagenen Stancketen nicht sitzen können/ sondern im Collegio oben allenthalben die Dächer durchgebrochen“.15 Ihnen allen wurde ein multimediales Spektakel geboten, dessen akustische Gestaltung durch das städtische Musikcorps und Chöre, die mehr als 200 Schüler und Studenten umfassten, weit über das übliche Maß am Akademietheater hinausging.16 Dabei symbolisieren die Unterdrückung der Israeliten in Ägypten und ihr erfolgreicher Exodus in das Gelobte Land die Ängste und Hoffnungen der Protestanten im beginnenden Dreißigjährigen Krieg. Noch 20 Jahre später machte sich der Ulmer Gymnasial-Rektor Johann Konrad Merck (1583–1659) diese Applikation zunutze. Für eine Aufführung in der schwäbischen Reichsstadt fertigte er 1641 eine Übersetzung von Brülows Moses an, dessen Stoff er damit legitimiert, dass das Drama „sich in gar vielen Stucken/ vnd ja fast durchauß auff gegenwärtige Zeit vnd Läuff/ gar wol vnd eigentlich schicket“.17

14 Zu den architektonischen Verhältnissen des Straßburger Gymnasiums und seines Theaters siehe Emil Salomon: Die Gebäude des alten und des neuen Strassburger Gymnasiums. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums zu Straßburg. Hg. von der Lehrerschaft des protestantischen Gymnasiums. 2 Bde. Straßburg 1888, Bd. 1, S. 385–393, hier S. 391 sowie Jundt (Anm. 9), S. 31. 15 Abelin (Anm. 13), S. 520. 16 So erhielt der Musiklehrer und Praeceptor am Gymnasium Christoph Thomas Walliser „wegen seiner laborum mit der action Moisis […] 4 fiertel weitzen zur verehrung“, vgl. die Straßburger Schulherren am 5. Oktober 1621 nach Jundt (Anm. 9), S. 47. Abelin (Anm. 13), S. 520 spricht von Chören mit „mehr als zwey hundert Personen“. 17 Johann Konrad Merck: Moyses/ Oder Eine Tragico-Comoedia/ Von dem Leben und Geschichten Moysis/ besonders von der Außführung deß Jsraelitischen Volcks/ auß der Dienstbarkeit Egypti […] Auß dem Lateinischen Exemplar/ M. Casp. Brülovii, Professoris Poët. bey der Hohenschul Straßburg/ in Teutsche ungebundene Red gebracht/ und auff offentlichen Theatro



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Auf den Dreißigjährigen Krieg spielt daher auch der Untertitel des Moses an, der die religionsdidaktische Rezeption des Dramas leitet: liberationem ex omni malorum pelago solum in Deum sperantibus promittens.18 Zur Soziodidaxe des Publikums aus Bürgern der Reichsstadt und adligen Besuchern werden im Einklang mit dem zeitgenössischen theologischen Schrifttum kontroverstheologische Streitpunkte subtil angedeutet und zentrale Aussagen der lutherischen Obrigkeitslehre für Untertanen und politisches Führungspersonal anhand der Rotte Korah und ihres fehlgeschlagenen Aufstands gegen Moses sowie des tyrannischen Pharaos exemplifiziert. Indem letzterer unbeschränkte Souveränitätsrechte beansprucht, gibt Brülow sogar Einblicke in die Straßburger Bodin-Rezeption.19 Bereits zu Beginn der Aufführung treffen die Bewohner der Freien Reichsstadt auf lokale Figuren mit großem Identifikationspotenzial  – wieder Abelin : „Zu Eingang der Comoedi hat sich/ nach dem man zuvorhero etliche Trompeten tapffer erthönen lassen/ auch Kesseltromler darbey geschlagen/ erstlich der Rhein mit seinen drey Mägden/ deren die eine der Illstrom/ die ander die Kintzig/ die dritte die Preusch gewesen/ praesentiret“.20 Wie aber verknüpft Brülow den Rhein mit einem Moses-Drama? Der Fluss tritt lediglich als Prologsprecher und somit als spielexterne Figur auf, die nicht an der Handlung des Dramas partizipiert. Stattdessen geht der Rhein auf die Aufführungssituation des Moses einschließlich ihrer (reichs-)politischen und lokalen, universitätsgeschichtlichen Implikationen ein. Dabei scheint Brülow mit erstaunten Reaktionen des Publikums auf den Auftritt des Prologus gerechnet zu haben, der mit seinen ersten Versen die Verwunderung der Zuschauer vorwegnimmt: Miramini fortasse, Cives optimi, Quis ego siem? quidve ego velim? Utrumque eloquar: […] Quis ego, rogatis? Alsatia genetrix mea est, Alsatia, Bacchi abundans et Cereris penu.

Gymnasii Ulmens. in Canicularibus an. M. DC. XLI. agiert worden Von Joan. Chunrado Merckio, Rectore, Hist. Prof., Bibliothec. et Direct. Mus. Ulm [1641], S. 1–7. Zu Merck vgl. die biographischen Darstellungen von Wilhelm Scherer: s. v. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. durch die Historische Commission bei der Königlichen [Bayerischen] Akademie der Wissenschaften. 55 Bde. u. Registerbd. Leipzig 1875–1912 [Ndr.: Berlin 1967–1971], hier Bd. 21, S. 399 sowie Franz Müller: Die Schulkomödie in Ulm. Ein Beitrag zur Geschichte des Theaters in Deutschland. Tübingen 1926, S. 28–31. 18 Brülow: Moses (Anm. 1), S. [A 1]. 19 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Hanstein: Brülow 2013 (Anm. 2), S. 530–534. 20 Abelin (Anm. 13), S. 520.

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Illius ego sum filius, per quam genus Derivo nostrum, a summis labens Alpibus. Nondum me nostis? inspicite haec insignia, Urnam sinistra teneo, sceptrum dextera. Nondum me nostis? Ellum, Bruscam et Kintzium Famulos meos a lateribus perquirite. Uno hi loquentur ore: Pater hic Rhenus est, Urbes inter alias qui Argentinam alluit, In qua pietas, Astraea cum Sapientia Cives coronat arte varia splendidos. [(Brülow: Moses, S. [A 6]:) Ihr fragt euch vielleicht, vornehmste Bürger, wer ich bin oder was ich will. Beides werde ich erzählen. Wer ich bin, fragt ihr? Das Elsass ist meine Mutter, das Elsass, das Vorräte an Wein und Brot in Hülle und Fülle genießt. Dessen Sohn bin ich und davon leite ich, der ich von den höchsten Alpengipfeln herabfließe, meine Herkunft ab. Erkennt ihr mich noch nicht? Schaut diese Zeichen an. In der Linken halte ich einen Krug, in der Rechten ein Zepter. Erkennt ihr mich noch nicht? Die Ill, die Breusch und die Kinzig, fragt meine Diener an meinen Seiten aus. Einmütig werden sie sagen: Dies ist der Vater Rhein, der unter anderen Städten an Straßburg heranfließt, wo Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit die Bürger krönen, die vor mannigfaltiger Kunstfertigkeit strahlen.]

Der Rhein beginnt mit zwei Fragen nach seiner Identität und dem Zweck seines Auftrittes – Quis ego siem? Quidve ego velim? –, die im folgenden Monolog sukzessive beantwortet werden. Optisch ist er durch einen Krug (urna) als personifizierter Fluss bzw. Flussgottheit charakterisiert, deren Herrschaftsanspruch ein Zepter (sceptrum) demonstriert. Brülow rezipiert mit diesen Attributen literarische Flussdarstellungen, wie sie seit der Antike Vergil oder Claudian belegen.21

21 Ausführlich zu literarischen Flussdarstellungen seit der Antike Diane Deufert: Matthias Bergius (1536–1592). Antike Dichtungstradition im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2011 (Hypomnemata 186), S. 253, Anm. 229. Hörner, Schilfkranz, Urne, lange Haare und Bart werden als Attribute eines Flusses bzw. Flussgottes bei Vergil Aen. VIII, 77, Verg. Georg. IV, 371 f. sowie Claud. 6 cons. Hon. 148,162–167 überliefert; zu letzterem siehe die reichen Anmerkungen in Michael Dewar: Claudian, Panegyricus de sexto consulatu Honorii Augusti. Ed. with introduction, translation, and literary commentary. Oxford 1996, S. 158 f., 164–167, 171 f. Zur lateinischen Flussdichtung, die seit der Mosella des Ausonius eher kürzere Gattungen (wie Epyllien) bevorzugt, und besonders zur Rheindichtung am Beispiel des Rheinepos Rhenus et eius discriptio elegans von Bernardus Mollerus siehe Beate Czapla: Der Rhein, Europas Strom, nicht Deutschlands Grenze. Bernardus Mollerus’ „Rhenus et eius discriptio elegans“ und die Tradition lateinischer Flußdichtung in Europa. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30 (1998) 2, S. 8–31. Auch Ulrich von Hutten lässt den Rhein eine Lob-Rede halten. In seinem Panegyricus über insgesamt 1300 Hexameter auf die Ernennung Albrechts von Brandenburg zum Erzbischof von Mainz lädt der Rhein alle deutschen Flüsse zu einem Festmahl ein, das mit einer feierlichen Begrüßungsrede auf den Erzbischof eröffnet wird (Ulrich von Hutten: In exceptionem […] Alberti Moguntinensis.



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Um die Identifikation des Straßburger Publikums mit der Bühnenfigur zu vergrößern, unterstreicht der Rhein mehrfach seine Herkunft aus dem Elsass (Alsatia genetrix mea est) bzw. aus den nahen Alpen (a summis labens Alpibus). Zudem weist er auf seine Begleiter hin, die stummen Figuren der Nebenflüsse: Ellum, Bruscam et Kintzium | Famulos meos. Linksrheinisch entspringt die Breusch in den Vogesen und mündet vor Straßburg in die Ill, die wiederum mit ihren beiden Armen das Zentrum der Reichsstadt umfließt; rechtsrheinisch fließt die Kinzig aus dem Schwarzwald bei Kehl in den Rhein. Den Nebenflüssen legt der Prologsprecher seine Anrede als Pater […] Rhenus in den Mund, mit der Brülow eine bei Martial belegte und bei Celtis sowie Fischart prominent verwendete Junktur aufnimmt.22 Außerdem betont der Rhein seine lokale Herkunft durch Verweise auf die Straßburger Rheinbrücke, d. h. auf eine lokale Sehenswürdigkeit und einen wertvollen Standortfaktor. Diese Anspielungen plausibilisieren den Auftritt des Flusses auf der Straßburger Bühne, den intertextuelle Bezüge situativ, konfessionell sowie politisch verankern:

In: Ulrich von Hutten, Opera. Hg. von Eduard Böcking. Leipzig 1862, S. 353–400, hier S. 394 f. bzw. Verse 1095–1131). Zu Huttens zeitgenössischen und antiken Vorbildern (Celtis, Ovid, Vergil, Claudian) vgl. Eckart Schäfer: Ulrich von Hutten als lateinischer Poet. In: Pirckheimer Jahrbuch 4 (1988), S. 57–78. 22 Vgl. zur Junktur pater Rhenus den Beitrag von Stefan Tilg in diesem Band. Während der Rhein bei Martial (X 7,1) noch dem römischen Imperium unterlegen ist, stellt Celtis’ Elegie (Amores III, 13) das „frühest[e] Zeugnis einer patriotisch bestimmten Begeisterung“ für diesen Fluss dar (ebd., V. 55; kommentiert in: Humanistische Lyrik des 16.  Jahrhunderts. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Frankfurt a. M. 1997 [Bibliothek der Frühen Neuzeit 5], S. 114–120, 1009–1014), die sich auch in einer Ode des Paul Schede Melissus Ad Rhenum flumen Germaniae niederschlägt (abgedruckt mit Übersetzung und Kommentar in Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand [Hgg.]: Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Heidelberg 1989, S. 82– 84, 239 f.). Auch Fischart verwendet die Junktur pater Rhenus, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. Leipzig 1854–1971 [Ndr.: München 1984–1991], hier Bd. 25, Sp. 22.

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Brülow, Moses, S. [A 6] Nuper sacrata jura cum Nymphis darem, Qua Pons stupenda gemina nectit littora Mole, atque curvae falcis instar commigrat[,] Cum me circum marinae saltarent Deae, Et quae paludes, quae lacus, quae amnes colunt: Ecce per inane FAMA mobilibus volans Pennis, bono undis attulit omnibus omine:

Sabinus, De nuptiis Polonicis, S. 237 f.23 Forte sub undosi muscoso gurgitis antro Istula coeruleus tumidarum rector aquarum Nymphis iura dabat, qua vertice Carpathus alto Frigida Sarmatiae prospectat iugera […]. Ipse sedens urnamque manu sceptrumque tenebat […]. Naiades circum fontanaque numina stabant, Quaeque lacus, amnesque colunt udasque paludes. Venit mobilibus coeli per inania pennis Fama volans, laetis quae vocibus attulit isthuc Sarmatiae claris Augustum regibus ortum, Esse maritali connubia foedere pactum:

[[Brülow: Moses, S. (A 6):] Als ich neulich mit Nymphen heiliges Recht sprach, wo eine Brücke von bewundernswerter Größe zwei Ufer verbindet und sich wie eine gekrümmte Sichel hinzieht, [und] als Wassergöttinnen, welche die Sümpfe, Seen und Flüsse bewohnen, um mich herum sprangen: Seht, durch die Luft flog Fama mit ihren schnellen Schwingen und überbrachte allen Gewässern eine Nachricht, die Gutes verhieß: […].]

Brülow zitiert Verse aus einem Epithalamium von Georg Sabinus (1508–1560), dem Schwiegersohn von Philipp Melanchthon und ersten Rektor der Universität Königsberg.24 Sabinus bedient sich einer verbreiteten Motivik in lateinischen frühneuzeitlichen Hochzeitsgedichten auf hohe Adlige, wenn er bei der Eheschließung eines Regenten einen Fluss aus dem entsprechenden Herrschaftsgebiet Stellung nehmen lässt.25 In Sabinus’ Epithalamium äußert sich daher der

23 In: Georgius Sabinus: Poemata. [Leipzig: um 1568], S. 237–256. 24 Zu Sabinus vgl. Mario Müller: s. v. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 10, S. 133–137. 25 Abgesehen von Sabinus’ Epithalamium wäre ein Carmen elegiacum (Straßburg 1575) des Johann Premer zur Hochzeit des Herzogs Ludwig von Württemberg mit der Markgräfin Dorothea Ursula von Baden-Durlach anzuführen. Im Gedicht des Durlacher Ratsherrn Premer tritt Pfintius, der Flussgott der an Durlach vorbeifließenden Pfinz, auf, der die Vorfahren Ludwigs auf einem Teppich verherrlicht, den die Flussnymphen gewebt haben. Die Abstammung der Markgräfin besingen dagegen die Neckarnymphen (Neccarides), während Nicer, der Flussgott des Neckar, dem Brautpaar seine Glückwünsche ausspricht; vgl. Walther Ludwig: Frischlins Epos über die württembergisch-badische Hochzeit von 1575 und zwei neue Briefe Frischlins. In: Daphnis 29 (2000), S. 413–464 sowie Deufert (Anm. 21), S. 258. Frischlin selbst lässt in seinem Epithalamium auf die zweite Hochzeit von Herzog Ludwig im Jahr 1585 den Neckar die zukünftige Gattin Ursula von Pfalz-Veldenz beim Durchqueren einer Furt preisen; vgl. Nikodemus Frischlin: Libri quattuor de secundis nuptiis […] Ludovici, Ducis Wirtembergici […] cum […] Ursula, Duce Bavariae, Comite Palatina Rheni, etc. mense Maio anni 1585. Stuccardiae celebratis […]. In: Operum Poeticorum pars epica. Straßburg 1598, S. 249–367, hier S. 275 f.



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Flussgott der Weichsel zur Hochzeit des polnischen Königs Sigismund Augustus und Elisabeth, Tochter des Kaisers Ferdinand I. Um diese Verse in sein Drama übernehmen zu können, modifiziert Brülow seinen Prätext im Moses grammatisch und passt die berichtenden Verse des Hochzeitsgedichtes in der 3. Ps. Sg. an die direkte Rede des Rheins an.26 Außerdem gelingt es durch Tilgungen, Umstellungen und Ersetzungen, die Hexameter der Vorlage in ein jambisches Versmaß zu überführen. So ersetzt Brülow den trochäischen Beginn bei Quaeque lacus, amnesque colunt udasque paludes durch einen synonymen Spondeus, der den Auftakt zu einem effektvollen, in seinen Gliedern parallel gebauten Trikolon bildet: Et quae paludes, quae lacus, quae amnes colunt. Zusammen mit dem prestigeversprechenden Passus eines berühmten neulateinischen Dichters integriert Brülow Verse der antiken Poeten Vergil sowie Ovid. So verwendet Brülow – und zuvor bereits Sabinus – Verse aus einem inhaltlich analogen Kontext der Metamorphosen. Im antiken Epos beschreibt Ovid das Tempe-Tal, in welchem der Flussgott Peneus Gericht hält; bei Brülow spielt die Szenerie unter der Straßburger Rheinbrücke.27 Allusionen auf die berühmte Fama-Beschreibung des Mantuaners28 leiten zur Aufführungssituation des Dramas in der Freien Reichsstadt über: Ecce per inane FAMA mobilibus volans Pennis, bono undis attulit omnibus omine: Urbem Trebocum, ritibus solennibus […] Leges et jura publicasse Academiae, Quae quondam MAXIMILIANUS dedit, Caesar secundus hujus almi nominis: Quae nuper Imperator Augustissimus, Patriae Pater, Spes Austriae, decus imperij Romani, FERDINANDUS, confirmavit, et Clementer auxit pro sua clementia […]. [(Brülow: Moses, S. [A 6 f.]:) Seht, durch die Luft flog Fama mit ihren schnellen Schwingen und überbrachte allen Gewässern eine Nachricht, die Gutes verhieß: Die Stadt der Trebo-

26 Siehe tenebat > teneo, dabat > darem. 27 Siehe auch Ov. fast. 1,398: quaeque colunt amnes solaque rura deae. Zu dem Sabinus-Vers Nymphis iura dabat bzw. jura cum Nymphis darem (Brülow: Moses [Anm. 1], S. [A 6], V. 25) vgl. Ov. met. 1,576: undis iura dabat nymphisque. 28 Vgl. Brülow: Moses (Anm. 1), S. [A 6], V. 30 f.: Ecce per inane FAMA mobilibus volans | Pennis, ein Sabinus-Zitat (Sabinus [Anm. 23], S. 237 f. Venit mobilibus coeli per inania pennis | Fama volans) mit Bezug auf Verg. Aen. IV, 173–177: Extemplo Libyae magnas it Fama per urbes, […] | mobilitate viget virisque adquirit eundo, | parva metu primo, mox sese attollit in auras […]. – Siehe auch Ov. fast. 1,398: quaeque colunt amnes solaque rura deae.

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ker habe mit festlichen Zeremonien die Gesetze und Rechte ihrer Akademie verkündet, die einst Maximilian (der zweite Kaiser dieses segenspendenden Namens) verliehen hat und die neulich Ferdinand, der erhabenste Kaiser, Vater des Vaterlandes, Hoffnung Österreichs und Zierde des römischen Reiches, bestätigt und in seiner Güte gütig vermehrt hat.]

Brülow stellt bedeutsame Stationen und Akteure in der Entwicklung des Straßburger Gymnasiums zur Volluniversität heraus. Um Straßburg als attraktiven Bildungsstandort weiterzuentwickeln, gelang dem Rat der Reichsstadt zweimal eine sukzessiv steigende Privilegierung seiner Schule. Im Jahr 1566 erhielt man von Kaiser Maximilian II. gegen finanzielle Unterstützung beim Türkenfeldzug erste Graduierungsrechte; als Gegenleistung für den Austritt aus der Protestantischen Union, in der Straßburg seit jeher vorsichtig taktiert hatte, schließlich 1621 volle Universitätsrechte.29 Mit der Antonomasie ‚urbs Trebocum‘, d. h. mit dem Namen der Straßburger Ursprungsbevölkerung, den Tribokern, betont Brülow das Alter und die hierüber erworbene Würde der Reichsstadt. Während im Moses die Ureinwohner Straßburgs nur in einer kurzen Anspielung genannt werden, erscheinen sie im Julius Caesar in voller Montur auf der Bühne und machen dem Imperator ihre Aufwartung. Sie illustrieren dessen Erfolge in Gallien und Germanien, die in Brülows fünftem Drama, das die Geschichte Roms von Caesars Regierungstätigkeit, seiner Ermordung und dem beginnenden Prinzipat des Augustus umfasst, ansonsten nicht eigens dargestellt werden. Das Bühnenstück des Pommern zählt somit zu den frühesten Exemplaren des Geschichtsdramas im protestantischen Schultheater auf deutschem Sprachgebiet.30 Wie Brülows andere Dramen dient auch der Julius Caesar zur

29 Die Entwicklung des Straßburger Gymnasiums von der Akademie zur Volluniversität betrachtet Schindling (Anm. 3), S. 44–77. 30 Vgl. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 174), S. 1–40 (umfangreicher Forschungsüberblick, Definition), der jedoch Brülows Julius Caesar bei seiner Auswahl frühneuzeitlicher Geschichtsdramen (S. 57–94) nicht betrachtet. Eine Übersicht zur zeitgenössischen Geschichtsdramatik bietet eine Synthese aus Niefanger (ebd.); Leicester Bradner: The Latin Drama of the Renaissance (1340–1640). In: Studies in the Renaissance 4 (1957), S. 31–54, hier S. 52 f. sowie, v. a. für das 17. Jahrhundert, Elida Maria Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17.  Jahrhunderts. München 1976. Mit Brülows Caesar setzen sich folgende Studien auseinander: Ausführliche linear-narrative Inhaltsangaben des Julius Caesar bieten Julius Janke (Ueber den gekrönten Strassburger Dichter Caspar Brülow aus Pyritz. In: Programm des Gymnasiums der Stadt Pyritz 21 [1879/80]. Pyritz 1880, S. 3–20, hier S. 11–20) und mit vereinzelten Bemerkungen zu einigen Quellen Friedrich Gundolf bzw. Gundelfinger (Caesar in der deutschen Literatur. Berlin 1904 [Palästra 33], S. 51–56). Siehe daneben noch die Bemerkungen von Skopnik (Anm. 12), S. 142–146 und Schäfer (Anm. 12), S. 66–76.



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soziodidaktischen Exemplifizierung der lutherischen Ehe- und Widerstandslehre, wenn Cleopatra dem bürgerlich-lutherischen Rollenbild zuwider als Frau in der Politik agiert oder die Verschwörer um Brutus gleichsam im Rahmen einer göttlichen Strafe Selbstmord begehen. Für die Germanen, die ein sprachlich und inszenatorisch einmaliges Identifikationsangebot für das Publikum bereitstellen, verlässt der Autor sogar die überlieferte Ereignisfolge von Caesars letzten Tagen und knüpft an Tacitus’ Germania und das Bellum Gallicum des Imperators an.31 Beide Werke waren an der Straßburger Akademie insbesondere aus den Vorlesungen des Historikers Matthias Bernegger (1582–1640) bekannt32 und bildeten für Brülow nicht nur Ausgangspunkte der inhaltlichen inventio im Rahmen des Caesar-Stoffes, sondern auch zur Gestaltung inszenatorischer Effekte. So bemühte sich der Autor des Julius Caesar um effektvolle Kostüme, wenn die Germanen-Darsteller in Fellen und mit Tierhäuptern als Kopfbedeckung in voller Kriegsmontur samt Schwert und Schild die Bühne betreten:

31 Auch in Frischlins Helvetiogermani treten Germanen auf, allen voran Ariovist. Im Gegensatz zu Brülows Caesar, in dem sie lediglich in einer Episode erscheinen, stehen sie bei Frischlin im Zentrum des Dramas. Auf ihre Kleidung gibt es keine vergleichbaren Hinweise. 32 Zur Germania-Rezeption in Straßburg vgl. Ulrich Muhlack: Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert. In: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Hg. von Herbert Jankuhn, Dieter Timpe. Teil 1. Göttingen 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse III, 175), S. 128–154, hier S. 151 und Else-Lilly Etter: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17.  Jahrhunderts. Basel 1966 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 103), S. 153–160; Berneggers Germania-Vorlesungen (1614 ff.), in denen er Caesars Kommentaren als Paralleltext genutzt hat (vgl. die Disputationensammlung Matthias Bernegger [Hg]: Ex C. Taciti Germania et Agricola quaestiones Miscellaneae. Straßburg 1640, etwa S. [A 5v]), wird u. a. von Schindling (Anm. 3), S. 284 f. aufgearbeitet.

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Brülow, Caesar, S. 20 f. Caesar: Immane torquent tegimen Hercinij lupi, Setaeque pexum et dentibus cum candidis Terribile visu vertici imponunt suo. Etiam leonum et piscum exuvias gerunt. Cicero: Urique. – Caesar: libros arborum quidam legunt: Quidam boum cum cornibus deformibus, Caudis pilosis, ac aduncis unguibus, Et caprearum sibi cooptant tergora. Sunt tela trunci, galea fit de pellibus: [21] Oblonga vibrant scuta, totam quae tegunt Hominis staturam, gladius ibi rara est avis, Spathasque gestant ad latus dextrum graves.

Verg. Aen. VII, 666-669 Ipse pedes, tegimen torquens immane leonis, terribili impexum saeta cum dentibus albis, indutus capiti, sic regia tecta subibat, horridus Herculeoque umeros innexus amictu.

[(Brülow: Caesar, S. 20 f.:) Caesar: Sie werfen sich das gewaltige Fell eines Wolfes aus dem Schwarzwald über und legen sich dessen gekämmte Mähne und weiße Zähne  – es ist schrecklich anzusehen – auf ihren Kopf. Sie tragen sogar Haut von Löwen und Fischen … – Cicero: … und von einem Auerochs. – Caesar: Manche wählen sogar Baumrinden, manche Rinderhäute mit verformten Hörnern, behaarten Schweifen und krummen Hufen oder Ziegenfelle. Ihre Waffen sind Äste, der Helm wird aus Fellen gefertigt. Sie schwingen längliche Schilde, welche die ganze Statur eines Mannes schützen. Ein Kurzschwert ist dort selten,33 sie tragen zur Rechten schwere Breitschwerter.]

Aus der Germania des Tacitus übernimmt Brülow Angaben zur Kleidung der Germanen, die auch im Unterricht an der Straßburger Akademie behandelt wurde.34 So weisen mehrere Disputationen auf die psychologische Kriegsführung der Germanen anhand ihres Aussehens hin.35 Die weder in den Straßburger Disputationen noch bei Tacitus erwähnten Tierköpfe erklären sich aus adaptierten Vergil-Versen über Herkules’ Sohn Aventinus, dessen Kleidung aus Löwenfell und -kopf Vergil im Katalog der Latiner beschreibt.36 Das Inventar des Straßburger

33 Zur Junktur rara avis vgl. Hor. sat. 2,26. 34 Vgl. Tac. Germ. 6 (Bewaffnung) und 17 (Tierfelle). Zur Bekleidung mit Fischhäuten siehe den Tacitus-Kommentar von Justus Lipsius zu Tac. Germ. 17 anhand eines Zitates von Iustinus über die Skythen: Lanae iis usus ac vestium ignotus: pellibus tantum ferinis aut marinis vestiuntur (C. Cornelius Tacitus, C. Velleius Paterculus: Scripta quae exstant. Paris 1608, S. 130). 35 So die Disputationen An aspectu debellari possit hostis? (Bernegger [Anm. 32], S. Hh 2–Hh 4) sowie Gerunt ferarum pelles (ebd., S. Q 8–R 1), letztere über Tac. Germ. 17,3. 36 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 20 und Verg. Aen. VII, 666–669.



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Akademietheaters bestätigt die Hinweise des Dramentextes; für den Julius Caesar wurden eigens 25 Tierkopfattrappen angeschafft.37 Außerdem präsentieren die Germanen Kampfspiele auf der Bühne und stimmen, unterstützt von Hörnern und Trommeln, ihren Schlachtgesang an.38 In dessen Bezeichnung (Blarritu[s]) folgt Brülow einer seltenen Lesart,39 die der bekannte Germania-Kommentar des Andreas Althamer (ca. 1500–1539?) als plane Teutonica vox zu einer authentischen Schreibweise erklärt.40 Die Ähnlichkeit zu ‚blarre(n)‘41, dem alemannischen Verb für ‚brüllen‘, sorgt als Volksetymologie für eine linguistische Identifikation des Publikums. Diese wird bei den gebildeten Zuschauern noch durch eine historische Anspielung verstärkt, welche die Integration einer Germanenszene auf der Akademie-Bühne überhaupt motiviert haben könnte. Eine häufig angeführte Parallelstelle zum germanischen Schlachtgesang bei Tacitus findet sich nämlich im Bericht des spätantiken Historiographen Ammianus Marcellinus über eine Schlacht zwischen Caesar und Germanen bei Straßburg.42

37 Vgl. die Auflistung von Tierköpfen im Straßburger Theater-Fundus (Straßburg, Archives municipales, 1 AST 330, Consignatio habitus theatralis Acad. Argentoratensis [1626], Rubrik Alia ad theatralem habitum pertinentia) bzw. Skopnik (Anm. 12), S. 145. 38 Vgl. Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 20: Caesar: ululatum hunc ferum | Lingua sua vocare Blarritum solent, | Quo carmine atque flebili armorum sono, | Pertriste cupidi Martis accendunt opus, | Animos suorum territantes hostium. | Conflate vos et buccina et litui sono, | Canora celeri tympana quatite verbere sowie Tac. Germ. 3 (Schlachtgesang) bzw. 24 (Kampfspiele). 39 Vgl. die kurz zuvor erschienene Tacitus-Ausgabe des Heidelberger Historikers Janus Gruter (1560–1627) mit den Anmerkungen zahlreicher früherer Tacitus-Editoren: C. Cornelius Tacitus: Opera quae extant ex recognitione Iani Gruteri […]. Accedunt seorsim ad eundem Emendd. Castigg. Obseruatt. Notae virorum doctissimorum Alciati, Rhenani, Ferretti, Vertranii, Vrsini, Donati, Merceri, Pichenae, Coleri, Gruteri. Frankfurt a. M. 1607, S. 100 (Beatus Rhenanus), S. 347 (Marcellus Donatus), S. 533 f. (Curzio Pichena) sowie die Ausgabe letzter Hand von Justus Lipsius 1607 (Tacitus, Velleius Paterculus: Scripta [Anm. 34], S. 124 mit Verweis auf Althamers TacitusKommentar zur Variante blaritu[s]. Brülow verstößt damit bewusst gegen die zeitgenössische Mehrheitsmeinung über den barditus, die sich auch in Straßburger Disputationen nachweisen lässt (Bernegger [Anm. 32], S. B 6–[B 7v]).  – Zur modernen textkritischen und etymologischen Diskussion über bar(d)itus siehe Rudolf Much: Die Germania des Tacitus. Hg. von Wolfgang Lange. 3. Aufl. Heidelberg 1967, S. 77–80 sowie Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen. München 2012, S. 164 f. 40 Andreas Althamer: Commentarii in […] Taciti […] Libellum de situ […] Germaniae. Amberg 1609, S. 123. – Einführend zu Althamer siehe Johann Anselm Steiger: s. v. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 1, Sp. 108 f. 41 Vgl. Wörterbuch der elsässischen Mundarten. Bearb. von Ernst Martin, Hans Lienhart. 2 Bde. Straßburg 1899–1907, hier Bd. 2, Sp. 164. 42 Amm. 16,43.

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Brülow verbindet daraufhin historisches und sprachliches Lokalkolorit und erreicht, abgesehen von unterhaltsamer Situationskomik, die Identifikation des Publikums mit dem Dramenpersonal auf eine im zeitgenössischen Drama ungekannte Weise. Er lässt Ambiorix, einen Germanen, in einer rekonstruierten, älteren Sprachstufe des Deutschen reden, die dem Stand zeitgenössischer sprachwissenschaftlicher Untersuchungen entspricht:43 Ambiorix: Die Theutischon Liutor, Cundrigi, Wirthmar, eend ale mannem ambacht Thie gvverre, Caesar bittisa gebenio Marche, kovel, rhedecfaha, si perdriter, Karren, tho galeno inth’ Allemannien Ham eend huysen, Theuta Oonse int Thie hemelisa, det Romersstzke [sic!] rigkhia Eend mande, eend quinde, eend merche, So de grisgamse eend gvverre clusio.

Auf unterschiedliche Weise wird die deutsche bzw. germanische Nationalität der Fremden betont. So bezeichnet Ambiorix sich selbst und seine Gefährten mit seinen ersten Worten als „die Theutischon“, was auch Cicero in dem umgebenden lateinischen Dialog auf Nachfrage des Imperators klarstellt: Cae[sar:] Sed quos cedo | Mi Marce reris hosce? – Ci[cero:] Germanos reor.44 Außerdem betont Brülow die Herkunft der Fremden durch eine entsprechende Namensgebung. Die drei Personennamen „Liutor, Cundrigi, | Wirthmar“ stammen aus einem Katalog der v. a. auf antiken Geographen und Historikern basierenden Germania antiqua (1616) des Leidener Gelehrten Philipp Clüver (1580–1622). Er weist Cundrigi und

43 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 16. Ausführlich zu den „germanischen Versen“ Michael Hanstein: Der Germanenmythos im frühneuzeitlichen Straßburg. Funktionen des ästhetischen Atavismus bei Brülow und Moscherosch. In: Simpliciana 35 (2013), S. 329–351. Der elsässische Satiriker und Brülow-Schüler Johann Michael Moscherosch (1601–1669) lässt in seinen weit verbreiteten „Gesichte[n] Philanders von Sittewald“ (Straßburg 1642) den „Ertzkönig“ Ariovist zu Wort kommen, der Philander dafür kritisiert, dass er sich in Verhalten, Kleidung und Sprechweise à la mode ausrichtet: „Laß do Walschon Schalmon harvoara chommon“ (Johann Michael Moscherosch: Gesichte Philanders von Sittewald. Hg. von Felix Bobertag. Berlin [1883] [Deutsche National-Litteratur 32]; [Ndr.: Hildesheim 1974; Auswahlausgabe hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1986], II, 1, S. 129). – Die Sprache der Germanen wurde auch in zeitgenössischen Disputationen untersucht, siehe Bernegger (Anm. 32), S. C 1–C 3: Unde sit ortum Germanicae linguae?, wonach Kontakte zwischen Goten und Griechen sowie griechische Kolonisten in Deutschland Einflüsse auf das Germanische nahelegen. 44 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 16: [Caesar: Aber sag mir, mein Marcus, wer, glaubst du, sind diese da? – Cicero: Ich glaube, es sind Germanen.]



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Liutor als ältere Formen von Lothar und Günther sowie Wirthmar als Variante des bei dem römischen Dichter Properz belegten belgischen Fürsten Virdomari nach.45 Die deutsche bzw. germanische Herkunft der Fremden unterstreicht Brülow durch weitere Angaben wie die Junktur „ale mannem“, die leicht variiert in der geographischen Angabe „Allemannien“ erneut aufgegriffen wird. Der Autor reagiert auf ein regionales Bewusstsein für die elsässische (Früh-)Geschichte. In der Nachfolge Jakob Wimpfelings (1450–1528) vertritt Brülow durch die Germanen-Szene des Julius Caesar patriotische Strömungen der Reichsstadt, wonach das Elsass aufgrund einer originär germanischen Besiedlung seit jeher zu Deutschland zählte.46 Vaterlandsliebe wird sprachlicher Verständlichkeit vorgezogen, indem patriotisch aufgeladene Signalwörter Hinweise zur Perzeption des Vorgetragenen geben. Einen weiteren Anhaltspunkt, den Inhalt des Monologes zu erschließen, bietet der Name ‚Ambiorix‘. Bei ihm handelt es sich um einen Fürsten des linksrheinischen Germanenstamms der Eburonen, der Caesars Truppen die schwerste Niederlage während des gesamten Bellum Gallicum zufügte.47 Ursprünglich ein

45 Properz IV, 10, 41 sowie Philipp Clüver: Germaniae antiquae libri tres. Leiden 1616, I, S. 57, 59. 46 Zu Wimpfelings Position in seiner Germania (1501) und Epitome (1504), die von der damaligen Straßburger Obrigkeit geteilt wurde, vgl. Jacques Ridé: L’image du Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite a la fin du XVIème siècle. 3 Bde. Paris 1977, hier Bd. 1, S. 303–326. Hierzu ebenfalls Dieter Mertens: „Landesbewußtsein“ am Oberrhein zur Zeit des Humanismus. In: Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs. Hg. von Franz Quarthal, Gerhard Faix. Stuttgart 2000, S. 199–216 sowie Eckart Mensching: Caesar und die Germanen im 20.  Jahrhundert. Bemerkungen zum Nachleben des Bellum Gallicum in deutschsprachigen Texten. Göttingen 1980 (Hypomnemata 65), S. 32–44, 96 f. und die grundlegende Darstellung einschließlich der Gegenschriften des Thomas Murner bei Emil von Borries: Wimpfeling und Murner im Kampf um die ältere Geschichte des Elsasses. Ein Beitrag zur Charakteristik des deutschen Frühhumanismus. Heidelberg 1926 (Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich 8). Zu weiteren zeitgenössischen Autoren, die ähnliche Positionen wie Wimpfeling vertreten, vgl. Tobias Bulang: Ursprachen und Sprachverwandtschaft in Johann Fischarts „Geschichtklitterung“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 56 (2006), S. 127–148, hier S. 131. 47 Vgl. Caes. Gall. 5,24–53 und Livius Periochae Librorum A. U. C. 106. Zu Ambiorix siehe Wolfgang Spickermann: s. v. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik, Helmut Schneider. Bd. 1. Stuttgart 1996, Sp. 578 und Otto Seel: Ambiorix. Beobachtungen zu Text und Stil in Caesars Bellum Gallicum. In: Caesar. Hg. von Detlef Rasmussen. Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 43), S. 279–338; zu Ambiorix’ Rede, mit der er Caesars Legaten täuscht, vgl. Ernst Doblhofer: Caesar und seine Gegner Ariovist und Ambiorix. Zur Interpretation von BG I 35–36, 43–44, V 27. In: Der altsprachliche Unterricht 10/5 (1967), S. 35–58. Zu den von Caesar als „Germani cisalpini“ (BG VI 2, 3) bezeichneten Eburonen vgl. die beiden Darstellungen von

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Verbündeter, hat er fünfzehn römische Kohorten 54  v. Chr. in einen Hinterhalt gelockt, fast vollständig aufgerieben und zu weiteren Eroberungen angesetzt. Caesar konnte eine Ausweitung dieses Aufstands nur durch schnelles Einschreiten und seine eigene Präsenz auch während des Winters in Gallien eindämmen. Zur Vergeltung verfolgte er den flüchtenden Ambiorix, der in das rechtsrheinische Germanien floh und dort verschwand. Daraufhin ließ der Römer die Stammesgebiete der Eburonen zerstören und ihre Bewohner ausrotten, um Ambiorix bei seinen überlebenden Landsmännern als Schuldigen allen Unglücks zu brandmarken.48 Zwei Szenen vor dem Auftritt der Germanen rühmt sich Caesar in Brülows Drama mit einer kurzen Bemerkung, seinen gefährlichen Gegner vertrieben zu haben.49 Ambiorix und seine Gefährten lassen sich daher als Eburonen-Gesandtschaft interpretieren. Mit ihrem letzten Satz „So de grisgamse eend gvverre clusio“ beziehen sie sich auf Caesars Vernichtungsfeldzug („gvverre“) bzw. dessen schreckliche Folgen („grisgamse“) und bitten um Einstellung der Kriegshandlungen („clusio“).50 Dabei fehlten Brülow für die germanischen Verse in der zeitgenössischen Dramatik Deutschlands jegliche Vorbilder. Im volkssprachlichen Schuldrama existierten lediglich Beispiele für Passagen in damaligen Dialekten oder in unverständlichem Kauderwelsch; in Frischlins Julius Redivivus treten ein Franzose und Italiener auf, die in ihrer jeweiligen Landessprache parlieren.51 Sprachrealismus in fremden Idiomen war dem humanistisch gebildeten Publikum bestenfalls aus Plautus’ Poenulus bekannt, dessen punische Verse bereits Joseph Justus Scali-

Harald v. Petrikovits: Germani Cisrhenani. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht. Hg. von Heinrich Beck. Berlin 1986 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1), S. 88–106 und Günter Neumann: Germani cisrhenani  – die Aussage der Namen. In: ebd., S. 107–129, hier S. 111 zum Namen Eburones. 48 Caes. Gall. 6,5–9 und 8,24 f. sowie Liv. perioch. 107. 49 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 7 f.: Caesar: Caesar fuit, qui barbaras fudit manus | Vercingetorigis et Ambiorigis perfidi. – Cicero: Quarto haec habet posterior et sexto prior. 50 Bei „gvverre“ lehnt sich Brülow an französisches guerre oder italienisches guerra an; „grisgamse“ kann auf ahd. ‚griscramōd‘ (vgl. Rudolf Schützeichel: s. v. Grimm. Althochdeutsches Wörterbuch. 7. Aufl. Berlin 2012, S. 133) zurückgeführt werden; clusio erinnert an englisches to close, über das Altfranzösische abgeleitet von lat. claudere (J. A. Simpson [Hg.]: The Oxford English dictionary. 20 Bde. Oxford ²1989, hier Bd. 3, S. 346). 51 Vgl. zum Schuldrama Alfred Lowack: Die Mundarten im hochdeutschen Drama bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1905, S. 9 f., etwa den Turbo des Johann Valentin Andreae (Straßburg 1616, II, 3) oder für unverständliche Sätze Wichgreves Cornelius Relegatus (übers. von Sommer. Magdeburg 1605, V, 1).



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ger (1540–1609) korrekt analysiert hatte.52 Aber sowohl bei Plautus als auch im Schuldrama sprachen die Bühnenfiguren in zeitgenössischen Idiomen bzw. Dialekten und nicht in einer früheren Sprachstufe. Erst 30 Jahre nach Aufführung des Julius Caesar findet sich eine Parallele im Werk des neulateinischen Lyrikers und Historiographen Jacob Balde (1604–1668). Der im elsässischen Ensisheim gebürtige Jesuit Balde hatte zur Verherrlichung des zwischen Bayern und Frankreich geschlossenen Friedens von Ulm 1647 die Poesis Osca sive Drama georgicum verfasst, in der sich Bauern in einem von Balde aus antiken Grammatikern und anderen Überlieferungen rekonstruierten Altlatein unterhalten, das von Balde zwar als „Oskisch“ bezeichnet wird, mit dem untergegangenen italischen Dialekt jedoch keinerlei Ähnlichkeit besitzt.53

52 Vgl. Joseph Scaliger: Opus de Emendatione Temporum. 2.  Aufl. Leiden 1629, im Appendix S. 30–32 bzw. Johann Philipp Pareus (Hg.): M. Accii Plauti Comoediae XX Superstites. 2.  Aufl. Speyer 1619, S. 658 (gegenüber Frankfurt a. M. 1610 verbess. Aufl.). Eine kommentierte Paratextedition seiner Plautus-Ausgabe einschließlich Vita und ausführlicher Bibliographie nun in: Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der frühen Neuzeit. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. I/2. Turnhout 2009, S. 626–667. – Die letzte belegte Plautus-Aufführung am Straßburger Akademietheater lag nicht lange zurück; erst 1608 hatte man den Amphitruo inszeniert, vgl. Jundt (Anm. 9), S. 46. – Ausführlich zu den punischen Versen im Poenulus nun Stefan Faller: Punisches im Poenulus. In: Studien zu Plautus’ Poenulus. Hg. von Thomas Baier. Tübingen 2004 (ScriptOralia 127), S. 163–202, dort (S. 170 f.) auch die Hinweise auf Scaliger und Pareus und (S. 163–165) eine Diskussion jener Parallelstellen der griechischen Dramatik, die wiederum Plautus Anregungen gegen haben konnten. 53 Jacob Balde SJ: Poemata. 4 Tle. Köln 1660, hier T. 2, S. 207–311 bzw. ders.: Opera Poetica Omnia. Ndr. d. Ausg. München 1729. Hg. und eingel. von Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand. 8 Bde. Frankfurt a. M. 1990 (Texte der frühen Neuzeit 1, 1–8), hier Bd. 6, S. 337–432. Hierzu bereits Georg Westermayer: Jacobus Balde. Sein Leben und seine Werke. München 1868, S. 163–173 sowie S. 317–319 (deutsche Übersetzung der „oskischen“ Marien-Hymne). Zu den oskischen Versen Baldes siehe Wilfried Stroh: Plan und Zufall in Jacob Baldes dichterischem Lebenswerk. In: Thorsten Burkard u. a. (Hgg.): Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Regensburg 2006 (Jesuitica 9), S. 198–244, hier S. 228–230. Auch in anderen Werken verwendet Balde oskische Passagen, vgl. Stefan Faller: Satirisches in Baldes „De eclipsi solari“. In: Balde und die römische Satire. Hg. von Gérard Freyburger, Eckard Lefèvre. Tübingen 2005 (NeoLatina 8), S. 257–283, hier S. 277–281; daneben integriert Balde auch einen oskischen Brief an die Divis et Deabus in Monte Heliconis in De vanitate mundi (Ausgabe 1729, Bd. 7, S. 206). Jürgen Leonhardt: Philologie in Baldes Drama Georgicum. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann. Bd. 2. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14/2), S. 475–484, hier S. 480 f. sieht Baldes Poesis Osca als Friedensdrama von den entsprechenden Werken des Aristophanes beeinflusst. Dieter Breuer (Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 [Zeitschrift für bayerische Lan-

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Ausgangspunkte, anhand derer man die Vorstellung des 16. und 17. Jahrhunderts über die älteste Sprachstufe des Deutschen rekonstruieren kann, bilden Bemerkungen des Zürcher Humanisten Konrad Gessner (1516–1565) und des barocken Polyhistors und Dichters Justus Georg Schottelius (1612–1676). Sowohl Gessner als auch Schottelius identifizieren Ähnlichkeiten zwischen der germanischen Ursprache und dem Niederdeutschen, die im Konsonantismus auf einem Sprachstand vor der – nach heutiger Terminologie sog. – ‚zweiten Lautverschiebung‘ basieren.54 Als gebürtiger Pommer war Brülow mit niederdeutschen Dialekten vertraut, was die Reversion einer Tenues-Spiranten-Verschiebung beim Hilferuf „helpio“ vereinfacht.55 Die Graphie bei „Thie“ bzw. „tho“, die als Artikel gedeutet werden können, ruft gar altsächsisches bzw. altniederdeutsches Sprachgut herauf, da die korrespondierenden Laute schon im Mittelniederdeutschen, Brülows Geburtsdialekt, zu /d/ verschoben waren.56 Im Vokalismus fällt die im Frühneuhochdeutschen obsolete althochdeutsche Graphie in „Liutor“57 auf, die ebenso wie

desgeschichte, Beiheft. Reihe B 11], S. 222–249) identifiziert Distanzierungsversuche Baldes zum Münchner Kurfürsten Maximilian I. 54 Vgl. Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache. Braunschweig 1663, S. 173 (hierzu Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17.  Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1984, S. 62) und Konrad Gessner: Mithridates (sive) de differentiis linguarum. Zürich 1555, S. [41v]: Et fere quaecunque vetera Germanice scripta apud nos etiam reperiuntur, inferioris Germanicae dialectum prae se ferunt (dazu Manfred Peters: Der Linguist Conrad Gesner und seine Bemühungen um die althochdeutschen Sprachdenkmäler. In: Sprachwissenschaft 2 [1997], S. 470–485, hier S. 476 f.). Beobachtungen zu einzelnen Lautverschiebungen macht bereits Melchior Goldast: Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1606, hier Bd. 1, S. 206–208, dazu Bernhard Hertenstein: Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast. Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock. Berlin 1975 (Das Althochdeutsche von St. Gallen 3), S. 167. Unzutreffend die Bemerkungen zu den betreffenden Passagen bei Schäfer (Anm. 12), S. 74 sowie Thorsten Fitzon: „Brutus die König hat verjagt.“ Antiker Republikanismus auf bürgerlichen Bühnen. Caspar Brülow, Josua Wetter und Andreas Gryphius im Vergleich. In: Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Hg. von Ulrich Heinen in Verbindung mit Elisabeth Klecker. Bd. 1. Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 47), S. 291–309, hier S. 299, Anm. 33. 55 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 16. Einführend zum Niederdeutschen Dieter Stellmacher: Niederdeutsche Sprache. Bern 1990 (Germanistische Lehrbuchsammlung 26). 56 Vgl. Stellmacher (Anm. 55), S. 54 sowie Agathe Lasch: Mittelniederdeutsche Grammatik. 2. Aufl. Tübingen 1974 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A, 9), § 318 (zur Tenuis) bzw. 406 (zum Artikel). 57 Vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik. Hg. von Robert Peter Ebert u. a. Tübingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A, 12), § L 25, 29.



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der rege Gebrauch von ‚a‘ und ‚o‘ in den Endsilben einen Archaismus darstellt. Das Lexem „rigkhia“ („Reich“) illustriert diese rückgängig gemachte Endsilbenabschwächung und durch den Langvokal ‚i‘ bzw. /i:/ die revidierte frühneuhochdeutsche Diphthongierung (/i:/ > /ei/). Beides, Endsilbenabschwächung und Diphthongierung, kann man seit Gessner als bekannte Charakteristika älterer deutscher Sprachstufen voraussetzen.58 Dadurch, dass ihre Phonetik bewusst archaisiert wurde, ist die Sprache der Germanen für damalige Zuschauer, heutige Rezipienten, aber auch für Caesar und Cicero als Dramenfiguren meist unverständlich.59 Brülow erreicht zudem einen paradoxen, humoristischen Effekt, wenn trotz aller Bemühungen eine Kommunikation nicht recht gelingen will und sich ein Germane auf Französisch an den Imperator wendet (Parl’ Allemann o Caesar); auf Französisch, das im 16. und frühen 17. Jahrhundert an privaten Instituten und vereinzelt auch am Gymnasium in Straßburg gelehrt wurde.60 Allerdings sind die Äußerungen der Germanen nicht mit der Intention gestaltet, als Exempel sprachlicher perspicuitas zu gelten. Im Gegenteil! Einzelne verständliche Lexeme wie „ale mannem“, „Allemannien“ und „Romersstzke rigkhia“ zielen als Signalwörter auf die Identifikation des Publikums durch die Demonstration der Herkunft der Figuren aus dem lokal ansässigen germanischen (und nicht etwa französisch-keltischen) Stamm. Zusammen mit der Kostümierung gelingt Brülow auch durch sprachliche Mittel eine Authentifizierung der Szene.

58 Vgl. Gessner (Anm. 54), S. [37v] bzw. 42. 59 Vgl. Ciceros Kommentar zu den germanischen Eröffnungsworten: O Juppiter portenta quae linguae evomunt! | Satius profecto est esse mutum, quam loqui, | Quod nemo recte intelligat. (Brülow: Caesar [Anm. 1], S. 16). 60 Brülow: Caesar (Anm. 1), S. 19. Die französischen Privatschulen in Straßburg bzw. den Französisch-Unterricht am Gymnasium betrachtet Carl Zwilling: Die französische Sprache in Strassburg bis zu ihrer Aufnahme in den Lehrplan des protestantischen Gymnasiums. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums zu Straßburg. Hg. von der Lehrerschaft des protestantischen Gymnasiums. 2 Bde. Straßburg 1888, Bd. 1, S. 255–304, hier S. 261–279. Zum Einsatz fremdsprachlicher Äußerungen im Drama, welche die Herkunft der Sprecher kennzeichnen oder Komik hervorrufen sollen, schon Lowack (Anm. 43), S. 3 mit zahlreichen Beispielen.

Namenregister Abelin, Johann Philipp 265–267 Adelmann, Bernhard 238 Adelmann, Konrad 238 Aelius, Johannes XI Aesop 76 Alantsee, Lucas 22, 40 f. Alberti, Leon Battista 143 Aleman, Louis 157 Althamer, Andreas 275 Amadeus VIII. (Herzog von Savoyen) s. Felix V. (Gegenpapst) Ambrosius von Mailand 30 f. Amerbach, Bonifacius 220, 235 f. Amerbach, Bruno 64 Ammianus Marcellinus XV, 5 f., 35, 37, 275 Andreae, Johann Valentin 278 Aristoteles 143 Arnolt, Beatus 63 Aronchel, Pierre 149 Augustus (röm. Kaiser) VIII, 272 Aurispa, Giovanni 168 Ausonius, Decimus Magnus 35, 74, 86, 130, 186, 190, 268 Avienus, Postumius Rufius Festus 5 f. Badius, Jodocus (Bade, Josse) 55 Baedeker, Karl 136 f. Balde, Jacob XVI, 69, 106, 108, 110–119, 121 f., 124–127, 279 f. Bartholinus, Riccardus (Bartolini, Riccardo) 25 Bechstein, Ludwig 78, 81 Béda, Noël 232 Bentham, Heinrich Ludolf 217 f. Bernegger, Matthias 273–276 Biondo, Flavio 24 Birckmann, Franz 55 Blount, William (Lord Mountjoy) 54, 57, 60 Bodin, Jean 267 Bracciolini, Poggio 143, 159, 167 f. Brant, Sebastian 61 f., 76, 80, 131 Brassicanus, Johannes Alexander 27 f. Brie, Germain de 227, 240–242 Bronckorst, Everard von 202

Bronkhorst, Agnes von 72 Brülow, Caspar XX, 261, 264, 266–278, 280 f. Bruni, Leonardo 134, 143, 145 Bullinger, Heinrich XI Buschius, Hermann XI Caccia, Stefano 144, 148–150, 153 Caccia, Stefano (Abbreviator) 149 Caccia da Fara, Gaspare 150 Caecilius Natalis 146 Caesar, Gaius Julius VII–VIII, XX, 5, 8 f., 24, 27, 32, 121, 128, 140, 159 f., 272–281 Calaminus, Georg 263 Capito, Wolfgang 225, 227–229, 233, 236 f., 242 Carbonnières, Louis Ramond de 20 Casimir, Johann XIX, 187, 189, 244, 247–256, 259 Catull(us), Gaius Valerius VII–VIII, XVIII, 173, 191 Celtis, Konrad XI, XIII, XVII, 5, 7 f., 10–12, 18, 20, 24–26, 32 f., 37, 82, 106, 130–134, 136–140, 169, 172, 186, 191–193, 269 Ceporinus, Jacobus (Wiesendanger, Jakob) 28 Ceres 63, 120 f. Chrysostomus (Chrysostomos), Johannes XIX, 220–243 Cicero, Marcus Tullius XVII, XX, 30 f., 50, 55, 114, 145 f., 153, 155 f., 162, 165, 168, 221, 263, 274, 276, 278, 281 Claudian(us), Claudius 110, 186, 268 f. Claymond, John 232, 238, 242 Coëtquis, Philippe de 155 Collenuccio, Pandolfo 143 Collimitius, Georgius (Tannstetter, Georg) 40 Condulmer, Gabriele s. Eugen IV. (Papst) Cratander, Andreas XIX, 23, 226 f., 236, 240–242 Crumme, Hermann 172, 181 Cusanus s. Nikolaus von Kues

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 Namenregister

Demosthenes 55, 231, 234 f., 263 Diana 5, 129, 163 Dousa, Janus 199, 202–204 Driver, Johannes Friedrich 100 f. Du Bellay, Joachim 69 Erasmus (von Rotterdam), Desiderius XV, XIX, 33, 53–55, 57–66, 133, 176, 179, 216, 220–228, 231–242 Eremita, Daniel 13–16, 18 Eugen IV. (Papst) XVII, 141–143, 154 f., 164, 168 Facio, Bartolomeo 143 Falck, Peter 42, 46 f. Felix V. (Gegenpapst) XVII, 141, 149, 164 Festus, Sextus Pompeius 162 Fidler, Felix 139 f., 189–191 Filelfo, Francesco 143 Fischart, Johann Baptist XIV, 269, 277 Freher, Marquard 251 Frischlin, Philipp Nicodemus 270, 273, 278 Froben, Johann(es) XIX, 47, 56, 84, 220 f., 223 f., 226 f., 229, 235, 237, 239, 241 f. Froschauer, Christoph XIV Gallus (Heiliger) 36–38 Gellius, Aulus 147, 162 Gerbel, Nikolaus 27 f. Gernler, Lucas 173–175, 178, 181–183 Gessner, Konrad 280 f. Glarean(us), Heinrich XII, 11 f., 14, 18, 27 f., 42 f., 47–49, 52, 83 f. Goldast, Melchior 280 Gothofredus, Dionysius 205 Gourmont, Gilles de 54 Grasser, Johann Jakob 170–172, 177, 183 f. Gresemund, Dietrich 133 Griffolini, Francesco 240 Gruter(us), Jan(us) 187, 201, 204 f., 207, 275 Guarini, Guarino 159 Guicciardini, Lodovico 216 Guillimannus, Franciscus 11, 13 Gunthar (Erzbischof) 163 f. Gwalther, Rudolf XIV, 74 Hannibal 158 f. Hegenitius, Gottfried 199

Heinrich VII. (König von England) 53 Heinrich VIII. (König von England) 54 Helm, Lambert Ludolf 251, 253 Herodot XVI, 81 Hessus, Helius Eobanus 133, 135, 138, 174, 176, 179 Hieronymus, Sophronius Eusebius 147, 149, 152, 225, 228 Hölderlin, Friedrich 3–5, 21, 138 Homer 55, 77, 84, 97, 173 Hövel, Heinrich von 70, 72, 74 Horaz, i.e. Quintus Horatius Flaccus 5, 31, 106, 122, 124–126, 129, 188 f., 222 Hutten, Ulrich von 58, 192 f., 268 f. Iunius, Hadrianus 203, 212 Johannes von Salisbury 162 Kahl, Johann 252, 259 Karl VII. (König von Frankreich) 155, 164 Keck, Johannes 142 Kirchhof, Hans Wilhelm 8 0 Kirher, Johann 63 Klein, Johann August 136 Lachner, Wolfgang 224, 226 Laktanz, i.e. Lucius Caecilius Firmianus Lactantius 162 Landino, Cristoforo 143 Le Franc, Martin 144, 148–150 Le Sauvage, Jean 57 Lemnius, Simon 11, 179 Lenz, Jakob Michael Reinhold 20 Lipsius, Justus 201 f., 204, 274 f. Listrius, Gerhard 64 Lobetius, Johannes 205 Loschi, Antonio 168 Lothar II. 163 Lotichius Secundus, Petrus 173, 188, 192 f., 248 f. Loys, Georg XVIII, 199–219 Luca, Friedrich 217 Luder, Peter 65 Lukian von Samosata 55, 234 Luther, Martin 80, 109, 232

Namenregister 

Macrobius, Ambrosius Theodosius 161–163 Magdalius, Jakob XII Mallant, Jordan (Rektor der Universität Köln) 142 Manderscheid, Ulrich von 150 Manutius, Aldus 55 Margarete von Hennegau 215 Martial(is), Marcus Valerius IX, XVIII, 106, 114, 128 f., 131, 138–140, 186, 189 f., 269 Maximilian I. (deutscher Kaiser) 9, 26, 39, 45, 83 f., 114 Maximilian von Burgund 237 Mela, Pomponius X, XV, 5, 12, 14, 22–27, 29, 31, 34, 40, 48 Melanchthon, Philipp 27, 61, 173, 176, 263, 270 Melissus, Paulus s. Schede, Paul Merck, Johann Konrad 266 f. Merula, Paul 202 Meursius, Jacobus 216 Meyer, Albrecht 214 Meyer, Johann Heinrich 4, 20 Minucius Felix 146 Mirabellius, Nanus 207 Mirou, Henric XIX, 244, 246, 248–260 Mollerus, Bern(h)ardus (Moller, Bernhard) XV–XVI, 69–77, 80–82, 85–105, 268 Mountjoy, Lord s. Blount, William Moscherosch, Johann Michael 276 Münster, Sebastian 13–16, 42, 78, 83, 85 Murmellius, Johannes XI Myconius, Oswald 42, 47–49, 84 Nigellus, Ermoldus 130 Nikolaus von Kues (Cusanus) 133, 144, 148, 150 f., 153, 156, 160 Obrecht, Georg 205 Oekolampad, Johannes XIX, 221, 225, 227, 229 f., 232 f., 235–243 Ovid, i.e. Publius Ovidius Naso XVI, 97, 103, 121 f., 128 f., 173, 176, 269, 271 Otto von Freising (Historiker) 130, 163 Palgmacher, Johannes 236 Pareus, Johann Philipp 279

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Persius, Aulus P. Flaccus 128, 162 Petrarca, Francesco XII Peutinger, Konrad 59 Pfefferkorn, Johannes 61 Phrygio, Paulus 63 Piccolomini, Enea Silvio s. Pius II. Pius II. (Papst) XVII, 10, 16, 18, 134–136, 141–157, 162–169 Plantin, Jean Baptiste 13–16 Platina, Bartolomeo 143 Platner, Tileman 133 Platon XVII, 145, 154 f. Plinius, Gaius P. Secundus (d. Ä.) 163 Plutarch 55, 261 Pontano, Giovanni 69, 77, 143, 175 Posthius, Johannes 189, 251, 255 Premer, Johann 270 Prüm, Wandalbert von 130 Pyrckmair, Hilarius 208–211, 213–215, 218 f. Räbmann, Hans Rudolf 13, 15 Ramus, Petrus 205 Recutitus, Peter 79 Remus, Georg 252 Reuchlin, Johannes 27 f., 59, 61 Rhenanus, Beatus IX, 27, 42, 48, 60, 63 f., 133 Rötel, Johannes (Rhaetelius, Johannes) 180, 185 Rogers, Daniel 257–259 Ronsard, Pierre de XVIII, 187, 192–194 Rustici, Cencio de’ 168 Sabinus (Schuler), Georg XX, 270 f. Salutati, Coluccio 168, 231 Sannazaro, Jacopo 69 Sapidus, Johannes 63, 263 Scaliger, Joseph Justus 194, 201–204, 279 Scaliger, Paul s. Skalich, Paul Schede, Paul (Melissus, Paulus) X–XI, XVIII– XIX, 136, 138 f., 186–195, 201, 203 f., 247 f., 251 f., 255 f., 269 Schedel, Hartmann 8, 82 Scheuchzer, Johann Jakob 13, 15, 18 f. Schin(c)kel, Antonius 172 f., 181 Schlegel, August Wilhelm von XII Schobinger, Heinrich 172

286 

 Namenregister

Schottelius, Justus Georg 280 Schürer, Matthias 62 f. Screta (Schotnovius a Zavorzitz), Johannes 177 f., 183 Seidel, Wolfgang 200–203, 205 f. Servion, Jean 149 Sigismund (deutscher Kaiser) 150 Sigismund I. (König von Polen) 271 Skalich, Paul (Scalichius / Scaliger) 73, 90–92 Spanheim, Friedrich 174 Spiegel, Jakob 25, 63 Statius, Publius Papinius IX, 173 Storck, Johann 63 Strabon 5, 29, 84 Strauss, Johann Rudolf 174 f., 182 Stumpf, Johannes 12, 14, 16 Sturm, Johann 262–264 Sulpicius, Servius S. Rufus 162 Tacitus, Publius Cornelius VII–X, XVII, 5, 24, 32, 110 f., 273–275 Tannstetter, Georg s. Collimitius, Georgius Terenz, i.e. Publius Terentius Afer 147, 162 f., 263 Thilo, Valentin(us) 179 f., 184 f. Tinctoris, Johannes 141, 166 Toelmann, Simon 201 f. Trebatius, Gaius T. Testa 162 Tschudi, Ägidius 11 f., 14–16, 42, 84 f., 89 f. Tudeschis (Tedeschi), Niccolò de’ 157 Turler, Hieronymus 200, 209 Uffenbach, Zacharias Conrad von 217 Ursinus Velius, Caspar 28 f., 31 Utenhove, Karel von 201 f., 204

Vadian(us), Joachim (Joachim von Watt) X, XV, 12, 14, 22–52 Valla, Lorenzo 143 van Busleyden, Hieronymus 238 Venantius Fortunatus 130 Vendramin, Francesco 206–208 Vergil, i.e. Publius Vergilius Maro VII, XVII, 55, 84, 97, 129 f., 146, 153 f., 161 f., 173, 186, 268 f., 271, 274 Vergilius, Polydorus 231 f., 237 Visconti, Bartolomeo 149 f., 154 f. Visconti, Filippo Maria 150 Visconti, Giangaleazzo 168 Wagner, Johann Jakob 13, 18 f. Walahfrid Strabo 36 Warham, William (Erzbischof von Canterbury) 54 Warsenius, Nicolaus 108, 118 Wary, Nicolaus 234, 238 Wattenwyl, Niklaus von 237 Weinreich, Melchior 179 Werth, Johannes von 117 Weyhe, Eberhard von 208 Widman, Enoch 211 Wiesendanger, Jakob s. Ceporinus, Jacobus Wildenstein, Albert von 205 Wimpfeling, Jakob 60–64, 277 Winterthur, Johannes von 79 Wurmser, Bernhard 205 Zäsy, Ulrich 220 f., 235 Zwinger, Theodor 179, 184 f., 200 f., 208–210, 214 Zwingli, Huldrych (Ulrich) 27 f., 42 f., 47 f.

Topographisches Register Aa 74 Aare 3, 14, 72, 84 f., 89, 92, 176, 183 Aduas / Adula / Adulas (Berg in den Alpen) 5 Alpen VII–VIII, 3, 5, 7–9, 11 f., 14–16, 22, 29 f., 34, 41, 49, 65, 92, 132, 168 f., 191, 269 Alpenrhein XV, 3, 6, 8, 34, 85, 89, 134 Andernach 75 Appenzell 84 Arras 149 Athen 145, 200 Aumale (Normandie) 148 Bacharach 132, 194 Basel (Basilea) IX, XV, XVII–XIX, 9–13, 18, 23, 46, 53, 55, 57 f., 61, 64 f., 83 f., 91, 132–134, 141 f., 144 f., 149 f., 153, 156, 160, 169–185, 200, 222–225, 227, 229, 236, 243 Baumberg 69, 74 Bergen 13, 18, 35, 39, 57 f., 85, 120 Bern 46, 84, 174, 176 Biel 92 Bludenz 89 Bodensee XV, 3, 5 f., 8, 35, 37, 90, 92, 132, 189 Bonn 75 Boppard 66 Brabant 57 Bregenz 36, 89 Bremen 74, 172 Breusch 268 f. Bronkhorst 72 Burgund 65, 164 Calais 57 Cambridge 54 Cassiciacum 146 Chur 14, 89, 189 Deutschland X, XVIII, 7, 10, 14, 26 f., 33, 37, 42, 55, 62, 65, 80, 86, 106–110, 113, 117, 132, 134, 140, 153 f., 169, 175, 186, 193, 236, 262, 276–278 Diessenhofen 89

Donau VIII, 22, 29, 31 f., 87, 106, 108, 112, 114, 116 f., 120 f., 125, 129 f. Drei Bünde 10 f., 34 Eglisau 89 Eidgenossenschaft X, 10–12, 14 f., 20, 26 f., 34, 36, 40–43, 45, 49, 52, 84, 229 Eifelseen 73, 75 Elsass XI, XVI, 115–119, 121 f., 124, 126 f., 268 f., 277 Ems 74 England 53–55, 57, 59 f., 65, 150, 187, 238 Ensisheim XVI, 106, 119, 122, 279 Feldkirch 89 Florenz 134, 168 Frankenthal XIX, 245, 248–250, 252, 256 f. Frankreich XI, XVI, 45, 108, 117 f., 134, 140, 155, 163 f., 175, 183, 188, 192, 245 Freiburg 46 f., 84, 224 Freising 79 Gallien VIII, 23 f., 29 f., 128, 130, 137, 193, 272, 278 Genf 148 f., 187 Germania VII–X, XIII, XVIII, 7 f., 11, 23–29, 31 f., 34, 51 f., 82, 107, 110 f., 136, 139, 149, 153 f., 216, 229, 248 f., 269, 273–277 Germania superior 128 Glarus 46, 84 Hammes 57 f. Heidelberg 65, 73, 111, 172, 174, 187–189, 201, 203 f., 208, 247 f., 253–255 Helvetia 8, 11–14, 17, 43, 46–49, 52, 83–85, 119, 122, 183 Hochrhein XV, 8, 85, 89, 133 f. IJssel 72 Ilissos 145, 169 Ill 72 f., 115, 268 f. Inn 108, 116 Italien XIII, 9, 12, 20, 27 f., 37, 53, 65, 108, 125, 130, 153 f., 187, 224

288 

 Topographisches Register

Jülich 132 Kinzig 268 f. Koblenz 3, 72, 75, 85, 132, 136 Köln XV, XIX, 13, 55, 69–79, 85 f., 132, 134–136, 141–143, 151, 156–158, 164, 166, 169, 199–203, 218 f. Konstanz 12, 36, 89, 160, 189 Krakau 143 Kurpfalz XIX, 244 f., 247 f., 250, 252, 254–256, 260 Lek 72, 74, 212 Leutesdorf 75 Liège 57 f. Limburg-Styrum 72 Limmat 10, 72 f., 84, 89 Lindau 89 Linz 75 Lippe 72–74, 86 Lobith 132 Löwen 57 f., 234, 238 Loreley 132 f., 136 Luzern 46, 84 Maienfeld 10, 89 Mailand 30, 45, 47, 149 f. Mainau 89 Mainz XV, 8, 57 f., 65, 132–136, 140, 186, 227, 229, 236 Mannheim 72, 85 Marignano 42, 44–46, 52 Melk 142 Memphis 84 Meurthe 75 Mincio 108 Minden 74 Mortagne 75 Mosel 72, 75, 77, 86, 127, 133, 186, 189 Münster XV, 69–74, 81 Murten 92 Neckar XIX, 72 f., 127, 245, 256, 270 Neuss 132 Niederlande XIX, 33, 65, 132, 216, 245 Novara 149 Nürnberg 153

Oder 73 Oppenheim 73 Osnabrück XV, 70, 74, 85, 99 Ostia 146 Paderborn XV, 70 f., 73 f., 85 Paris 54, 91, 188, 200 Pavia-Siena 149 Po XVIII, 108, 130 Reichenau 89 Reuss 14, 72 f., 84, 89 Rheidt 75 Rheinfall (bei Schaffhausen) 16 f., 19, 89, 124, 133 Rhone 12, 14, 21 f., 34, 43 Rom(a) VIII, 9, 28, 112, 118, 124 f., 129, 149 f., 168, 189 f., 272 Rot an der Rot (Prämonstratenserkloster) 79 Roulers (Rusella) 57 f. Ruffenheim 73 Ruhr 72 f. Saint-Omer 58 Sargans 89 f. Schaffhausen 16 f., 20, 47, 84, 89, 124 Schlettstadt XI, 58, 62–64 Schönau 245, 254 Schollberg 90 f. Schottland 150 Schwarzwald 269, 274 Schweinfurt 73 Schweiz XIX, 4 f., 9–14, 18 f., 21, 41–43, 49, 83–85, 89, 92, 120–122, 124, 148, 175, 183, 191, 229, 236, 245 Schwyz 84 Siebengebirge 75 Sieg 72 f., 75, 86 Solothurn 47, 84, 119–121, 124 St. Gallen 22 f., 26, 36–38, 40 f., 45, 48, 52, 172 Steckborn 89 Stever 74 Straßburg XIV–XV, XX, 7, 55, 58, 61 f., 115, 205 f. 261 f., 264 f., 268 f.



Tegernsee 142 Thur 84 Tiber XVIII, 108, 112, 124, 128 f., 138–140, 186, 189 f. Tirol XII, 117 Todi 150 Trier 132, 134 Tübingen 65 Ulm 279 Unterwalden 84 Uri 84 Utrecht 74 Vechte 72 Verden 74

Topographisches Register 

 289

Via Mala 16 f., 18–21 Vogesen 269 Vreden 71 f. Waal 72 Wasgau 130 Wessum 70–72 Wien 12, 22 f., 40 f., 52, 91, 150, 167, 169, 186 Worms 87, 132 f. Xanten XV Zürich XIV, 12 f., 28, 46, 84, 280 Zug 46, 84 Zurzach 89