Kunstreligion: Band 2 Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850 9783110299571, 9783110299304

The concept of “Art as Religion” that arose in the late 18th century became radicalized after 1850 in the perspective of

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Kunstreligion: Band 2 Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850
 9783110299571, 9783110299304

Table of contents :
Vorwort
Poesie und Wissenschaft als Religion Kunstreligiöse Konzepte im 19. Jahrhundert
Fiktionen des heiligen Textes: Nietzsche und Kafka
Kunstreligion intermedial. Richard Wagners Konzept des musikalischen Dramas und seine frühe literarische Rezeption
Ästhetik der Prophetie. Theodor Däublers allzu schöner Weltentwurf Van Orphisches Intermezzo
Dichterische Sinnstiftung als logozentrisches Verfahren Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Licht von George Steiners ›real presences‹
Zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹. Elementare Kunstreligion in Hugo von Hofmannsthals Märchen Die Frau ohne Schatten
Daniel in der Dachkammer. Ironisierung der Kunstreligion in Thomas Manns Erzählung Beim Propheten
Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Ernst Barlach und Wassily Kandinsky
Arnold Schönbergs Moses und Aron Vertiefung oder Aufhebung der kunstreligiösen Diaektik?
Die ›heidnische Möglichkeit‹. Grundlagen der symbolistischen Kunstreligion bei Malarmé und George
»...du bist ein gott der nähe«. Religion der Gestalt und Gestalt der Religion in der Platon-Forschung des George-Kreises
Georg Heyms Religion der Kunst
Wenn der Künstler zum Demiurgen wird. Der Kubismus und Bebuquin von Carl Einstein
Sakralisierung durch Dichtung bei Rainer Maria Rilke und Georg Trakl
Zertrümmerung der Aura – Aura der Zertrümmerung. Benjamins Ambivdenz gegenüber der kunstreligiösen Thematik
Eine Kunstreligion für Europa? Heidegger und Hölderlin
Max Reinhardts Theaterreligion
Das Konzept ›Kunstreligion‹ im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels
Personenregister
Autorinnen und Autoren

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Kunstreligion Band 2

Kunstreligion Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung

Band 2 Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850 Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Ge´rard Laudin unter Mitwirkung von Viktoria Haß, Aiko Kempen, Martina Schwalm und Ingo Vogler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-029930-4 e-ISBN 978-3-11-029957-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt ALESSANDRO COSTAZZA / GÉRARD LAUDIN / ALBERT MEIER Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 CLAUDIA STOCKINGER Poesie und Wissenschaft als Religion Kunstreligiöse Konzepte im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 BERND AUEROCHS Fiktionen des heiligen Textes: Nietzsche und Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 FABIAN LAMPART Kunstreligion intermedial. Richard Wagners Konzept des musikalischen Dramas und seine frühe literarische Rezeption . . . . . . . . . 59 LARS KORTEN Ästhetik der Prophetie. Theodor Däublers allzu schöner Weltentwurf Pan. Orphisches Intermezzo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 DAVIDE DI MAIO Dichterische Sinnstiftung als logozentrisches Verfahren Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Licht von George Steiners ›real presences‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 CRISTINA FOSSALUZZA Zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹. Elementare Kunstreligion in Hugo von Hofmannsthals Märchen Die Frau ohne Schatten . . . . . . . . . . . 105 CHRISTOPH DEUPMANN Daniel in der Dachkammer. Ironisierung der Kunstreligion in Thomas Manns Erzählung Beim Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 MOIRA PALEARI Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Ernst Barlach und Wassily Kandinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

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Inhalt

LAURE GAUTHIER Arnold Schönbergs Moses und Aron Vertiefung oder Aufhebung der kunstreligiösen Dialektik? . . . . . . . . . . . 155 LUDWIG LEHNEN Die ›heidnische Möglichkeit‹. Grundlagen der symbolistischen Kunstreligion bei Mallarmé und George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 GIANCARLO LACCHIN »… du bist ein gott der nähe«. Religion der Gestalt und Gestalt der Religion in der Platon-Forschung des George-Kreises . . . . . . . . . . . . . . . 227 STEFANIA SBARRA Georg Heyms Religion der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 LILIANE MEFFRE Wenn der Künstler zum Demiurgen wird Der Kubismus und Bebuquin von Carl Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 GERALD STIEG Sakralisierung durch Dichtung bei Rainer Maria Rilke und Georg Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 MARKUS OPHÄLDERS Zertrümmerung der Aura – Aura der Zertrümmerung Benjamins Ambivalenz gegenüber der kunstreligiösen Thematik . . . . . 279 ALBERTO L. SIANI Eine Kunstreligion für Europa? Heidegger und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 MARIELLE SILHOUETTE Max Reinhardts Theaterreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 ANNE CHALARD-FILLAUDEAU Das Konzept ›Kunstreligion‹ im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

Vorwort … ein Gott ist ein eingebildetes Wesen, ein Wesen der Phantasie; und weil die Phantasie die wesentliche Form oder das Organ der Poesie ist, so kann man auch sagen: die Religion ist Poesie, ein Gott ist ein poetisches Wesen. Ludwig Feuerbach … l'art [...] c'est la continuation du sacré par d'autres moyens … Marcel Gauchet Der Begriff ›Kunstreligion‹ ist in zweifacher Hinsicht historisch: Er entsteht nicht nur in einer bestimmten Zeit, sondern will ursprünglich auch nur für bestimmte Epochen gelten. Um 1800 prominent zum Einsatz gebracht (einmal in Schleiermachers Reden über die Religion 1799 und dann wieder in Hegels Phänomenologie des Geistes 1808), bezieht sich das Konzept im ersten Fall auf ein herbeigesehntes Stadium der Religion, im zweiten auf eine unwiederbringlich vergangene Konstellation im antiken Griechenland. Trotz dieser konträren Verweisung, die vom Zeitpunkt der Begriffsbildung wegzuführen scheint, wurzelt das Phänomen - wie die erste Villa-Vigoni-Tagung zur Kunstreligion 2009 belegt – im 18. Jahrhundert, um sich am Übergang zum 19. Jahrhundert in seiner reichen Mehrdeutigkeit zu etablieren. Die Ursachen für die Entwicklung einer Vorstellung von ›Kunstreligion‹ gerade am Ausgang der Aufklärung sind zweifellos mannigfaltig, lassen sich jedoch insgesamt im Prozess der so genannten ›Säkularisierung‹ verorten, als die Religion für bestimmte Lebensbereiche ihren absoluten Geltungsanspruch aufgeben musste. Komplementär dazu ist das gesellschaftliche Teilsystem ›Kunst‹ autonom geworden und übernimmt dieser Unabhängigkeit wegen umso besser Aufgaben und Funktionen, die zuvor Sache der Religion gewesen sind. Man hat daher wiederholt von einer Funktions- bzw. Strukturanalogie zwischen Kunst und Religion gesprochen und die Kunst − im positiven wie im negativen Sinne − als ›Ersatzreligion‹ bezeichnet. Dass die Idee der Kunstreligion sich folglich auch auf die Kunst des ›säkularen‹ 19. Jahrhunderts (des Zeitalters Feuerbachs und Nietzsches also, die Religion übereinstimmend als eine poetische Projektion des Menschen verstanden haben) mit Gewinn anwenden lässt, kann kaum verwundern. Umso leistungsfähiger ist dieses Konzept für die Kunst und Literatur des Ästhetizismus um 1900 sowie für die darauf folgenden Avantgarden, wie die in vorliegendem Band enthaltenen Beiträge zur

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zweiten Tagung zur ›Kunstreligion‹ demonstrieren, die vom 29. März bis 1. April 2010 wiederum in der Villa Vigoni stattgefunden hat. Diese aus unterschiedlichen Perspektiven argumentierenden Untersuchungen zeigen, dass die Idee der ›Kunstreligion‹ zwar nicht zur unbestimmten Metapher herabsinken darf, wenn sie nicht jede Distinktionsschärfe verlieren will; als heuristische Kategorie bewährt sie sich jedoch gerade dann am besten, wenn ihrem Geltungsbereich keine allzu engen Grenzen gezogen werden. Selbstverständlich muss es dennoch übergreifende Charakteristika geben, um die Verwendung des Begriffs zu rechtfertigen. Auf den Spuren von Schleiermachers Verständnis gehören hierzu die Vermittlung bzw. Offenbarung eines Absoluten bzw. Transzendenten oder Numinosen im Medium der Kunst ebenso wie die damit zusammenhängende Erhebung des Künstlers zum prophetischen Mittler der jeweiligen Wahrheit. Offen bleibt hingegen, wie sich die Kunstreligion zur positiven oder gar zur christlichen Religion verhält: im Sinne der Konvergenz, der Konkurrenz oder der Unabhängigkeit. Ebenso umstritten ist auch die Frage gewesen, ob jede ›echte‹ Kunstreligion ein Erlösungsversprechen enthalten soll oder wirklich dazu tendieren muss, sich als ›Lehre‹ zu behaupten. Die Sakralisierung des Künstlers als Schöpfer, als Demiurg, als Priester des Schönen oder als Prophet (ob von ihm selbst betrieben oder von seinem Publikum) ist − als Erbe der Romantik − unzweifelhaft die auffälligste Erscheinung der Kunstreligion um 1900. Man begegnet ihr etwa in der deutschen Rezeption Rembrandts, im deutschen und französischen Wagnerkult, im George-Kreis bis hin zum Selbstverständnis Hugo von Hofmannsthals, Rainer Maria Rilkes, Wassily Kandinskys, Georg Heyms, Carl Einsteins, Theodor Däublers und Arnold Schönbergs. Dabei muss sich der Dichter oder Künstler nicht immer als Religionsstifter betrachten; viel öfter geht es um die schöpferische Macht des Wortes, die konstruktive Kraft der bildenden Künste oder die ins Unendliche weisende Macht der Musik. Bei dieser Sakralisierung spielt selbstverständlich auch der Leser, Zuhörer oder Betrachter eine zentrale Rolle. Seine wahrhafte Vergöttlichung erfährt er im Laufe des 19. Jahrhunderts besonders in der Figur des Philologen, der selber zum auserwählten Vermittler der göttlichen Botschaft des Künstlers wird. Die Heiligung des Künstlers und seine damit zusammenhängende Verehrung von Seiten des Publikums werden in der ironischen, ja satirischen Darstellung bei Thomas Mann bestätigt, der vor allem auf die Gefahren einer religiösen Überhöhung der Kunst aufmerksam macht. Der Sakralisierung des Künstlers entspricht eine Sakralisierung des künstlerischen Werkes als solches: aufgrund seiner Totalität und seiner Lebendigkeit, die es über Form und Inhalt hinaus zum Mittler einer

Vorwort

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Offenbarung des Unendlichen und Göttlichen machen. Dies lässt sich vom Helldunkel Rembrandts ebenso behaupten wie von Kandinskys Verständnis von Kunst als Offenbarung des Göttlichen. Am deutlichsten drückt sich der ›numinose‹ Charakter des Kunstwerks jedoch im Begriff der ›Aura‹ aus. Gerade Walter Benjamins Versuch, die der Kunst abhanden gekommene Aura in der Allegorese aus ihren Trümmern wieder auferstehen zu lassen, zeugt hinlänglich vom Überdauern der Idee des Göttlichen im Ästhetischen. In Martin Heideggers Lektüre von Hölderlins Dichtungen gelangt hingegen die Idee vom Kunstwerk als Sichtbarmachung bzw. Entbergung der Wahrheit des Seienden zu ihrem höchsten Ausdruck. Hölderlins Poesie soll weniger einen neuen Gott als vielmehr die Abwesenheit der Götter ins Bewusstsein rufen; gerade das Schicksalhafte, das Heidegger ihr zuspricht, ist jedoch mit einer philosophischen Überforderung der Kunst verbunden, die katastrophale Folgen zeitigen sollte. Eine solche Offenbarung des Göttlichen im Kunstwerk ist nicht immer leicht von den religiösen Inhalten zu unterscheiden, wie etwa Hugo von Hofmannsthals Beispiel zeigt, der seine Auffassung von Kunst − insbesondere von der Poesie als einem Mittelding zwischen Geist und Leben − zum Inhalt seiner Frau ohne Schatten gemacht hat. Aber auch bei Rainer Maria Rilke und Georg Trakl werden religiöse Inhalte säkularisiert und zugleich höchst profane Themen wie Sexualität oder Krieg sakralisiert. Religiöse Motive erscheinen schließlich im Werk von Ernst Barlach, der Kunst als ein Analogon der Mystik versteht. Demgegenüber ist in Arnold Schönbergs Moses und Aron der Bibel-Bezug vielleicht weniger zentral als die musikalische Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen, das Göttliche zum Ausdruck zu bringen. In den Bereich des Kunstreligiösen führen überdies auch formale Aspekte. Bezeichnend ist hierfür die Übernahme bestimmter rhetorischer und linguistischer Topoi des Evangeliums in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, und manche Erzählung Franz Kafkas hat das Moment der Überlieferung und des Kommentars heiliger Texte zum Vorbild. Doch auch der prophetische Ton einiger Gedichte Georg Trakls lehnt sich an den alttestamentlichen Psalm an, während Ernst Barlachs sprachliche Gestaltung der Ausdrucksweise Meister Eckharts wie der Mystik überhaupt nahekommt. Abschließend findet sich die Idee einer Kunstreligion auch im Medium selbst, wie Richard Wagners Festspielidee mit ihrer Funktionalisierung religiöser Rituale und Praktiken am eindringlichsten demonstriert. Gerade die Intermedialität des kunstreligiös gedachten Gesamtkunstwerks bezweckt allerdings, die von der christlichen Religion mitbedingte Entfremdung des modernen Menschen zu überwinden und die griechische

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Tragödie als Ausdruck eines kollektiven Gemeingeistes wiederherzustellen. Die Religion wird somit durch das Gesamtkunstwerk unterwandert, überwunden und zugleich ersetzt. Der Versuch des Rückgriffs auf eine Kunstreligion in Hegels Sinn leitet auch Max Reinhardts ›Theaterreligion‹, d. h. seine Retheatralisierung der Bühne, die von einer Auffassung des Theaters als Heiligtum und der Theateraufführung als Mysterium ausgeht. Die hier zusammengefassten Möglichkeiten, die Idee ›Kunstreligion‹ auf alle Dimensionen künstlerischer Kommunikation zu übertragen, stellen die hermeneutische Produktivität dieses Konzepts außer Frage. Es eröffnen sich neue und differenzierte, synchrone wie diachrone, zugleich medienspezifische und medienübergreifende Perspektiven auf ein für die Moderne wie für die Postmoderne gleichermaßen wichtiges Kulturphänomen.

* Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fondation Maison des Sciences de l’Homme (MSH) sowie der Villa Vigoni in Verbindung mit der Università di Trento wissen wir uns für die neuerlich großzügige Förderung zu Dank verpflichtet. Unser Dank für die immer wieder erwünschte Gelegenheit, an einem der schönsten Orte der Welt tagen zu dürfen, gilt zugleich der Leitung und allen Mitarbeitern der Villa Vigoni, namentlich ihrem Generalsekretär Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira sowie unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Caterina Sala Vitale. Zu danken haben wir aber auch dem Verlag Walter de Gruyter, der nun diesen zweiten Band unserer Serie zur Kunstreligion an die Öffentlichkeit bringt. Mailand – Paris – Kiel, Dezember 2011

Alessandro Costazza Gérard Laudin Albert Meier

CLAUDIA STOCKINGER

Poesie und Wissenschaft als Religion Kunstreligiöse Konzepte im 19. Jahrhundert (Henry James, Theodor Storm) Der Beitrag behandelt die Frage nach den kunstreligiösen Konzepten des 19. Jahrhunderts in wissenschafts- und autorgeschichtlicher Perspektive. Die These lautet: Die sich in dieser Zeit profilierenden neuphilologischen und autorschaftlichen (poetologischen) Modelle lassen sich mit Hilfe der Kunstreligion begründen. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen demnach die Austauschbeziehungen zwischen den sozialen Subsystemen resp. Handlungsbereichen Kunst/Poesie, Religion und Wissenschaft. Nach den frühromantischen Absetzbewegungen der Kunst von der Religion1 ist spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die funktionale Ausdifferenzierung beider Bereiche abgeschlossen; Kunst und Religion sind voneinander abgekoppelt und operieren autonom. Zugleich setzen sich im 19. Jahrhundert jene (romantischen) Tendenzen fort, in denen die Kunst die Funktionsstelle der Religion übernimmt. In der sich etablierenden bürgerlichen Öffentlichkeit umgibt sie sich mit einer »Rhetorik des Hochheiligen oder des Letztgültigen«, die den Sinnlosigkeitsvermutungen der Moderne Paroli bietet und der Kunst selbst einen »Nimbus die Gegenwart überschreitender Wahrheit« verleiht.2 Vergleichbares lässt sich für die Philologie beobachten. Erstens gehe ich davon aus, dass der Aufstieg der neuphilologischen Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert und die Ausbildung spezifischer Autorbilder unter den Bedingungen der Moderne komplementär erfolgen. Sowohl die Philologie als auch die Poesie treten dabei mit parareligiösem _____________ 1

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Die Kunst schiebt sich hier an die Stelle der vakant gewordenen Position der ›Gottheit‹ als des Objekts einer ursprünglich religiösen Verehrung: »[Ich] verehre die Kunst, ja ich kann sagen, ich bete sie an, es ist die Gottheit, an die ich glaube« (Ludwig Tieck an August Wilhelm Schlegel, 23. Dezember 1797; in: Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel: Briefe. Auf der Grundlage der von Henry Lüdeke besorgten Edition neu herausgegeben und kommentiert von Edgar Lohner. München 1972, S. 24-27, hier S. 25). Schmidt, Thomas E.: Mit der Rasierklinge ins Auge. Kunst ist Schock, Schmerz, Verweigerung. Die Erwartungen des Staates, der sie fördert, kann sie nur enttäuschen. Sie dient nicht der Gesellschaft, sondern nur sich selbst; in: Die Zeit Nr. 8, 12. Februar 2004, S. 37 (»Wir schlittern in eine Epoche, die uns lehren wird, wieder das Knie zu beugen«).

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Claudia Stockinger

Anspruch auf. Sie zielen auf die Vermittlung allgemeingültiger Wahrheiten, die nicht länger von einem bestehenden religiösen System vorgegeben werden. Zweitens nehme ich an, dass in Autorschaftskonzepten wie denjenigen Theodor Storms oder Henry James’ beide Momente zusammenkommen: die kunstreligiöse Begründung der Philologie und die kunstreligiöse Begründung der Poesie. Sowohl Autoren als auch Philologen im so genannten ›bürgerlichen Zeitalter‹3 eignen sich mithin Begründungsmuster und Haltungen an (bzw. bilden ihr je eigenes Profil über Begründungsmuster und Haltungen aus), die dem Bereich der Religion entnommen sind. Poesie und (die diese vermittelnde) Philologie substituieren Religion, ohne dass beide zu ihr in einem agonalen Verhältnis stehen müssten. Im Rahmen der Beschreibung einer historischen Abfolge liegt es auf dem ersten Blick nahe, von einer Ablösung der Religion durch Poesie und Philologie zu sprechen. Allerdings ginge eine solche Beschreibung an der historischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts vorbei: Zwar macht die Religion einen Status- und Funktionswechsel durch; im politischen, sozialen und kulturellen Leben der Zeit kommt ihr aber nach wie vor eine zentrale Rolle zu. Für Poesie und Philologie stellt die Religion ein Bildund Themenreservoir bereit, das beide auf diskursiver Ebene insofern nutzen, als sie zur Religion in einem strukturanalogen Verhältnis stehen. Kollidieren die Bereiche Poesie/Philologie und Religion in der Rede, wird das Konkurrenzverhältnis als solches sichtbar; Poesie und Philologie beanspruchen dann eine Funktionsäquivalenz zur Religion. Ob nun in Konkurrenz oder nicht: Welche Auswirkungen hat es auf die Selbstbeschreibungen von Poesie und Philologie, wenn diese sich strukturanalog zur Religion verhalten, teilweise deren Funktionen übernehmen oder unter bestimmten Bedingungen sogar an die Stelle der Religion treten? Auf diese Frage möchte die folgende Betrachtung der Schnittstelle von Philologie, Kunst und Religion im komplexen gesellschaftlichen Gefüge des 19. Jahrhunderts eine erste Antwort skizzieren. Ich lege dafür jenes bereits angedeutete strukturanaloge Verhältnis von Kunst und Religion zugrunde: Kunst und Religion sind insofern strukturell vergleichbar, als beiden die zeichenhafte Repräsentation von Abwesendem eigen ist. Das religiöse und das ästhetische Faktum sind nicht beweisbar, sondern gleichermaßen Objekte des Glaubens. Kunstwerke und Sakral-Objekte gilt es in erster Linie zu verehren, nicht zu verstehen. Die Theologie und die Philologie fungieren (bei aller Differenz) _____________ 3

Vgl. Kocka, Jürgen: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten; in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Herausgegeben von Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Ute Frevert. München 1988. Band 1, S. 11-76.

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jeweils als Vermittlungsinstanzen. Die Aufgabe des Philologen besteht demnach darin, auf den numinosen Status der Poesie aufmerksam zu machen und diesen so zu erzeugen. Zum einen tritt der Künstler (Dichter) an die Stelle des Priesters, des Märtyrers, des Propheten oder des Mittlers zwischen Numinosem und Welt (Modell 1: Der Autor als Mittler). Zum anderen übernimmt der Philologe diese Position und der Künstler (Dichter) selbst rückt an die leer gewordene Funktionsstelle Gottes (Modell 2: Der Philologe als Mittler). Schon sehr früh greift Wilhelm Hauff beide Modelle in poetischer Form auf. In seinem zweibändigen Roman Mittheilungen aus den Memoiren des Satan (1826/27) macht er aus der Figur des Teufels das poetische Prinzip schlechthin, das fortwährend eine Art ›Rauschen des Diskurses‹ erzeugt und, indem »die Freude selbst ihren Einzug« bei den Zuhörern hält und »ihre heiligsten Festtage« feiert,4 auf eine funktionslose höhere Wahrheit verweist (1. Der Autor als Mittler). Im ironisierenden Entlarvungsgestus des Textes heißt es genauer, die teuflische Rede rauschte »in so fessellosen Strömen, daß man nachher wenig mehr davon wußte, als daß man sich ›göttlich‹ amüsiert habe«.5 Ihre Vermittlung übernimmt ein Herausgeber, den der Satan als Übersetzer seiner Memoiren gewinnt. Über deren ›Dechiffrierung‹6 wird er zum einerseits edierenden, andererseits kommentierenden und interpretierenden Philologen (2. Der Philologe als Mittler).7 Durch den Kunstgriff der Herausgeberfiktion des Romans stellt sich der Philologe damit in den Dienst Satans, der sich (wie es in seiner Natur liegt) als »das negierende Prinzip« entwirft8 – allerdings nicht mehr als Negation der Position Gottes, sondern als Negation der Position eines ›göttlichen‹ Autors, nämlich Goethes. In wörtlicher Übernahme von Mephistopheles’ Bemerkungen über ›den Herrn‹ in der FaustSzene ›Prolog im Himmel‹ beschreibt auch Hauffs Satan das Verhältnis einer unentwegten Attraktion (das Zitat ist im Text gekennzeichnet). Indessen bezieht sich Satan damit nicht länger auf den Schöpfer der Welt; _____________ 4

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Hauff, Wilhelm: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan; in: Hauff, Wilhelm: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion und Anmerkungen von Sibylle von Steinsdorff. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Helmut Koopmann. Band I: Romane. München 1970, S. 349-604, hier S. 355. Hauff: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (Anm. 4), S. 356. »Er […] fragte mich, ob ich mich entschließen könnte, die Memoiren eines berühmten Mannes […] zu übersetzen? ›Vorausgesetzt, daß Sie dechiffrieren können, ist es eine leichte Arbeit für Sie, da ich Ihnen den Schlüssel dazu geben würde‹« (Hauff: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (Anm. 4), S. 373). Vgl. zu den Anfängen der philologischen Arbeit (Ordnung und Selektion) den Kommentar am Ende der einleitenden Bemerkungen des fünften Kapitels sowie die Fußnoten des ›Herausgebers‹ (Hauff: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (Anm. 4), S. 378f.). Hauff: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (Anm. 4), S. 490.

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Claudia Stockinger

er bezieht sich vielmehr auf den Schöpfer des Faust, dem er wie so viele seiner literaturbegeisterten Zeitgenossen in Weimar seine Aufwartung gemacht hat: »›Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern, | Und hüte mich mit ihm zu brechen‹«.9

I. Kunst und Religion im Prozess ihrer ›Verbürgerlichung‹ Die radikalen Umgestaltungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Industrie im 19. Jahrhundert beziehen den Bereich der Religion massiv mit ein – das betrifft insbesondere die Frage nach deren Relevanz für die je individuelle Lebensgestaltung. Allgemein lässt sich sagen, dass das religiöse Bekenntnis des Einzelnen zunehmend zur Privatsache wurde. Die ›Krise‹ des Idealismus10 in Positivismus, Naturalismus, Materialismus oder Evolutionslehre bzw. Darwinismus gehörte zu den einschlägigen Epochenerfahrungen der Zeitgenossen; ein wie immer selbstverständlicher Umgang mit Religion wurde so immer weniger wahrscheinlich. Folgerichtig galten nicht Geistliche, Theologen oder Philosophen als Träger des epochalen Fortschrittsoptimismus, sondern Naturwissenschaftler und Ingenieure. In Frankreich hatte die Französische Revolution als äußerste Konsequenz der Aufklärung die Fundamentalopposition Religion vs. Aufklärung bzw. Glaube vs. Wissen begründet,11 und im deutschen Reichsgebiet wurde die Trennung von Staat und Religion spätestens mit dem Reichsgesetz vom 9. März 1874 besiegelt, demzufolge in personenstandsrechtlichen Belangen wie Geburt, Heirat oder Tod nicht länger die Kirche, sondern allein der Staat zuständig war.12 Wenn also das 19. Jahrhundert als »Zeitalter der Säkularisierung und Rationalisierung« bezeichnet wird,13 dann mag sich das auf diese Befunde beziehen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts »im Zeichen der Romantik« eine »katholische Erneuerung« vollzog, die über Konversionen (Adam Müller, 1805; Friedrich und _____________ 9 10 11 12 13

Hauff: Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (Anm. 4), S. 460. Friedrich, Martin: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 185-191. Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 139. Vgl. dazu Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin 2010, S. 25-35. Frevert, Ute / Haupt, Heinz Gerhard: Einführung. Der Mensch des 19. Jahrhunderts; in: Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben von Ute Freyert und Heinz-Gerhard Haupt. Frankfurt/M. – New York 1999, S. 9-18, hier S. 13.

Poesie und Wissenschaft als Religion

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Dorothea Schlegel, 1808; Zacharias Werner, 1811) und Neuausrichtungen am katholischen Glauben (Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff) gemeinsam mit den in der Kirche erstarkenden Strömungen des Ultramontanismus und Integralismus14 für den »Wiederaufstieg der katholischen Kirche zur Volkskirche« verantwortlich zeichnete.15 In katholischen Gegenden hatten Formen der Volksfrömmigkeit wie Wunderglaube, Wallfahrten und Heiligenverehrung, Marien- und Herz-Jesu-Kulte Konjunktur; und auch das Vereinswesen spielte im gesellschaftlichen Leben eine große Rolle.16 Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass sich die französische Aufklärung von der deutschen insofern unterscheidet, als letztere institutionell und konzeptionell mit den Belangen zumal des deutschen Protestantismus grundsätzlich konform ging.17 Dass die Modernisierung von Wirtschaft und Wissenschaft in enger Verzahnung mit dem Protestantismus verlief, überrascht daher nicht. Der sogenannte Kulturprotestantismus (ausschlaggebend für dessen Ausgestaltung waren die Arbeiten des Theologen Albrecht Ritschl) setzte der offensichtlichen Tendenz zur Privatisierung christlicher Frömmigkeit die Forderung entgegen, christliches Wirken habe sich in der Öffentlichkeit von Beruf und Gesellschaft, Familie und Politik zu bewähren.18 Mit Blick auf die zunehmende Konfessionalisierung gesellschaftlich relevanter Auseinandersetzungen zwischen den Bekenntnissen seit den 1830er Jahren19 bis in den Kulturkampf der 1870er Jahre (der sich systemstabilisierend auf die katholischen Gemeinden auswirkte)20 wird das vermeintlich säkulare _____________ 14 15 16

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Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 171-178. Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 152; vgl. auch Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2009, S. 631. Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918. München 1988; Blaschke, Olaf: Das 19. Jahrhundert. Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?; in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 26 (2000), S. 38-75, hier S. 45; Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Herausgegeben von Peter Dinzelbacher. Band 5: 1750 bis 1900. Herausgegeben von Michael Pammer. Paderborn – München – Wien – Zürich 2007, S. 451-458. Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 139; Synthesen begründen Schleiermacher und Hegel (ebd., S. 143-149). Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 195-199; vgl. auch Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970. Frankfurt/M. – Bern – New York 1984. Ein Beispiel hierfür ist der Kölner Mischehenstreit (Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 67-71). Morsey, Rudolf: Bismarck und die deutschen Katholiken. Friedrichsruh 2000, S. 19; Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (Anm. 10), S. 113-116.

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19. Jahrhundert in der Forschung inzwischen sogar als ›Zweites Konfessionelles Zeitalter‹ bezeichnet.21 Während einerseits rechtliche Zuständigkeiten von der Kirche auf den Staat verlagert wurden, waren andererseits Staat und Kirche, Politik und Religion trotz aller damit einhergehenden funktionalen Verschiebungen eng miteinander verwoben. Mit Friedrich Wilhelms IV. Regierungskonzepten, die sich an Vorstellungen eines idealisierten mittelalterlichen Lehnswesens ausrichteten und romantische Staats- und Rechtsauffassungen reaktivierten, spielte seit den 1830er Jahren auch die Kunst in diese Verflechtungen hinein.22 Zugleich verlor die Religion zugunsten einer politisch aktivierten Kunstreligion ihre tradierte Rolle. Aus kritischer Perspektive lieferte die Philosophie der Zeit hierfür eine – zeitgleich auch in politischer Hinsicht (Arnold Ruge, Karl Marx, Henri de Saint-Simon) – einflussreiche Begründung: Ludwig Feuerbach erklärte Religion zu einer besonders wertvollen und einflussreichen Form der künstlerischen Selbstvergewisserung des Menschen. Der Mensch erfindet eine ihm übergeordnete göttliche Instanz, indem er diese als Projektionsfläche seiner eigenen Wesenszüge entwirft, um sich dann selbst zu deren Objekt zu erklären. ›Gott‹ als ein derart »eingebildetes Wesen«, als ein »Wesen der Phantasie«, ist demnach ein poetisches Produkt. Da »die Phantasie […] das Organ der Poesie ist, so kann man auch sagen: die Religion ist Poesie, ein Gott ist ein poetisches Wesen«.23 Feuerbachs anthropologische Herleitung des Christentums gehört zu den wirkmächtigsten Spielarten von Kunstreligion im 19. Jahrhundert. Sie ist im engeren Sinn als Poesie-Religion zu beschreiben. In Feuerbachs Entwurf tritt Poesie an die Stelle von Religion, deren auf Transzendenz ausgerichtete Wahrheiten als phantasmatische Konstrukte entlarvt und dadurch zugleich bewahrt werden. Eine andere Art von ›Religionsersatz‹ stellen die besonders im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts virulenten Vorstellungen von Bildung und Kultur

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Vgl. Blaschke: Das 19. Jahrhundert. Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? (Anm. 16); vgl. auch Blaschke, Olaf: Der »Dämon des Konfessionalismus«. Einführende Überlegungen; in: Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter. Herausgegeben von Olaf Blaschke. Göttingen 2002, S. 13-69, hier S. 2528. Müller, Ernst: ›Religion/Religiosität‹; in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Band 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart – Weimar 2003, S. 227-264, hier S. 254. Ludwig Feuerbach's sämmtliche Werke. Achter Band: Vorlesungen über das Wesen der Religion. Nebst Zusätzen und Anmerkungen. Leipzig 1851, S. 232.

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bereit.24 Der vierzehnjährige Harry Graf Kessler, bis dato in England erzogen, beschreibt 1882 den in einem Hamburger Pastorenhaushalt betriebenen »Kult der Bildung« als »etwas Mystisches«. Seinem fremden Blick auf die Zustände mutete die hier beobachtbare »Rolle der ›Bildung‹« ganz und gar »sonderbar« an, was noch dadurch verstärkt wurde, dass ihr »eigentlicher Gegenstand nicht zu fassen war und kaum je aus einem allgemeinen Nebel hervortrat«.25 Überhaupt definierte sich das sehr heterogene Bürgertum der Zeit nicht über die Zugehörigkeit zu einer einheitlichen gesellschaftlichen Schicht (die es so ohnehin nicht gab), sondern über gemeinsame kulturelle Wert- und Deutungsmuster. Neben der herausragenden Bedeutung, die Arbeit und Beruf, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder familiärer Solidität zugemessen wurde, gehörte hierzu auch die Vorstellung, Bildung − also die Beschäftigung mit Kunst als ein Teil derselben − sei höher zu schätzen als die Religion.26 Nipperdey bezieht Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert gerade auf das Interesse an der Rezeption und Produktion von Gegenständen der Kunst, genauer der Bildenden Kunst, der Musik und der Poesie. Kunst in diesem Verständnis ist autonom und bürgerlich zugleich, d. h. »sie ist der Menschheit verpflichtet, und sie ist sich selbst verpflichtet«.27 Als »Mittel der Lebensinterpretation« erhält sie eine »quasi religiöse Funktion«.28 Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert etwa die Verlagswerbung für Prachtausgaben im 19. Jahrhundert, die vor Bezeichnungen wie ›Buch der Bücher‹ oder ›weltlich’ Evangelium‹ nicht zurückschreckte. Über die Hallbergersche Ausgabe der Werke Schillers heißt es, sie dürfe »in Deutschland den Ehrenplatz neben der Bibel beanspruchen«.29 Demnach erklärt sich das Bedürfnis nach Kunst nicht zuletzt daraus, dass Religion als Sinn gebende Instanz nicht länger die allein maßgebliche Rolle spielte. Dass sie gar keine (oder kaum mehr eine) Rolle spielte, kann man jedenfalls so nicht sagen. Friedrich Theodor Vischer setzte die Kunst _____________ 24 25 26 27 28 29

Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. – Leipzig 1996, S. 220. Zitiert nach Bollenbeck: Bildung und Kultur (Anm. 24), S. 160. Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt/M. 1990, S. 159. Nipperdey, Thomas: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Berlin 1988, S. 34. Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand (Anm. 27), S. 24. Zitiert nach Wittmann, Reinhard: Das literarische Leben 1848 bis 1880 (mit einem Beitrag von Georg Jäger über die höhere Bildung); in: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Herausgegeben von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann. Band 1: Einführung in den Problemkreis, Abbildungen, Kurzbiographien, annotierte Quellenbibliographie und Register. Stuttgart 1976, S. 161-257, 292-308, hier S. 184.

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in die »Mitte zwischen Religion und Philosophie«: »sie hebt die Innerlichkeit der Religion auf, indem sie das Gegenbild zu einem deutlichen Aeußern macht, entwirft aber ebendadurch eine freiere Innerlichkeit; sie ist objectiver als die Religion und ebendadurch subjectiver«.30 Weil das Bedürfnis nach Sinnstiftung angesichts der zunehmend ›fragmentierten‹, also ausdifferenzierten »Arbeits- und Wissenschaftswelt, ja der Lebenswelten« insgesamt keinesfalls geringer wurde,31 liegt es aus dieser Perspektive nahe, dass Tendenzen im Protestantismus (etwa Albrechts Ritschls Kulturprotestantismus) bürgerliches Ethos und religiöse Praxis systematisch zur Übereinstimmung zu bringen versuchten. Inwiefern handelt es sich beim ›langen 19. Jahrhundert‹ um den Beginn eines ›säkularen Zeitalters‹? Lässt sich die Diagnose der Säkularität angesichts der bemerkenswerten Verflechtungen von Öffentlichkeit (u. a. Politik, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft) und Religion (Kirche, Glaubenspraxis) überhaupt aufrechterhalten? Der Sozialphilosoph Charles Taylor unterscheidet drei Stufen der Säkularität, um zu einer genaueren Bestimmung des ›säkularen Zeitalters‹ zu gelangen: Zuallererst setzt Säkularität die Trennung einer Öffentlichkeit ohne Gott von einer nichtöffentlichen Sphäre, in der Gott durchaus eine Realität sein kann, voraus (Säkularität 1); dann bezeichnet Säkularität die Abkehr von Gott sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich (Säkularität 2); schließlich ist der Status einer dritten Form von Säkularität erreicht, wenn der (christliche) Glaube als eine Option unter vielen anderen (religiösen oder nichtreligiösen) Optionen existiert und akzeptiert wird (Säkularität 3) – nach Taylor ein angemessenes Beschreibungsmuster für die Situation des 21. Jahrhunderts.32 Für das 19. Jahrhundert allerdings spielen alle drei Formen der Säkularität m. E. keine Rolle; es sind hier höchstens erste Tendenzen einer Trennung von Öffentlichkeit und Religion (im Sinne der oben beschriebenen Trennung von Staat und Kirche) zu beobachten oder einzelne atheistische Bekenntnisse, die durchaus auf gänzlich areligiöse politische Utopien zielen. Dagegen lassen sich Jan Assmanns Überlegungen zur Säkularisierung, die er im Kontext seiner Studien zu den Grundlagen der Religionen Ägyptens und Israels formuliert, mit Gewinn auf die ›deutschen‹ Verhältnisse des 19. Jahrhunderts übertragen. Sie setzen auf der ersten Stufe die Aussonderung von Nichtreligiösem aus dem Bereich des Religiösen voraus (Säkularität 1). Erst wenn ein Bereich als profan markiert ist, kann _____________ 30 31 32

Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Band 1 (Erster Theil): Die Metaphysik des Schönen. Reutlingen – Leipzig 1846, S. 25. Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand (Anm. 27), S. 31. Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 15), S. 13f.

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dieser Bereich sich selbst wieder auf religiöse Konzepte und Funktionen beziehen (Säkularität 2), und dies geschieht im 19. Jahrhundert, wie angedeutet, auf allen Ebenen: auf der Ebene der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, des gesellschaftlichen Lebens bzw. der Kultur. Wenn das religiöse Erbe bewusst aktiviert wird, wie sich dies etwa in der Säkularisierung des neutestamentlichen Liebesgebots in der Religionskritik Feuerbachs, in der Liebesreligion Storms oder in dessen Philologie der Offenbarung beobachten lässt, wird eine dritte Stufe der Säkularität erreicht (Säkularität 3).33 Zwischenbilanz Im Jahrhundert zunehmender »Verbürgerlichung der Künste«34 erheben die maßgeblichen Literaturprogramme ebenso wie zentrale philologische Konzepte den Anspruch, durch ihre Arbeit eine hinter der Oberfläche der Erscheinungen verborgene Wahrheit zu entbinden und damit die Ebene des augenscheinlich Sichtbaren zu transzendieren. Die in zahlreichen poesiologischen Schriften des literarischen Realismus geforderten Prinzipien der Verklärung, der Läuterung oder der Idealisierung35 deuten schon in ihrer Metaphorik auf einen »kunstreligiösen Subtext« hin, in dem »die schöne Literatur« die Funktion erhält, eine poetische »Erlösung der Wirklichkeit« vorzubereiten.36 Kunst ersetzt demnach nicht die Religion; sie tritt entweder zu ihr in Konkurrenz, indem sie alternative Welterklärungsmodelle zur Verfügung stellt, oder sie korrespondiert mit der Religion, indem sie als Medium der Sinnstiftung auf deren Zielsetzungen, Ausdrucksformen und Wirkungen verwiesen bleibt. Auch wenn viele Autoren ein einsinnig religiöses Weltdeutungsmodell ablehnten, arbeiteten sie sich doch in ihren Texten sowohl an der christlichen Religion und der christlichen Überlieferung als auch an der Institution Kirche ab. Für die intellektuelle, bürgerliche und künstlerische Sozialisation der Autoren insgesamt spielten ›Glaube‹, ›religiöse Überlieferung‹ oder ›Kirche‹ eine enorme Rolle. _____________ 33 34 35

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Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München – Wien 2000, v. a. S. 15-31; vgl. dazu Weidner, Daniel: Zur Rhetorik der Säkularisierung; in: DVjs 78 (2004), S. 95-132, hier S. 97f. Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand (Anm. 27), S. 10. Vgl. z. B. Plumpe, Gerhard: Vorbemerkung / Einleitung; in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger. Band 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. Herausgegeben von Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München – Wien 1996, S. 7-83, hier S. 50-57. Ort, Claus-Michael: Was ist Realismus?; in: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Herausgegeben von Christian Begemann. Darmstadt 2007, S. 11-26, hier S. 21.

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Allgemein gilt für das 19. Jahrhundert: Während Kunstreligion im engeren Sinn einen spezifischen – nämlich künstlerischen – Zugang zu religiös begründeten Wahrheiten ermöglicht, die wahlweise als ›Gott‹ oder ›das Absolute‹, als ›die Transzendenz‹ oder ›das Unendliche‹, als ›der letzte Grund‹ oder ›das Heilige‹ bezeichnet werden (primäre Kunstreligion),37 setzt sie im weiteren Sinn auf ein neu zu bestimmendes Heiliges oder Wahres, das als Objekt der verehrenden Zuwendung oder Hingabe kaum geringeren Status beansprucht als die religiös gesetzte Instanz ›Gott‹ (sekundäre Kunstreligion). Im Modell der primären Kunstreligion steht die Kunst in einem engen funktionalen Zusammenhang zu Kultus und Liturgie derjenigen Religion, deren Wahrheiten sie repräsentiert und vergegenwärtigt;38 im Modell der sekundären Kunstreligion steht die Kunst im Dienst je eigens zu bestimmender Wahrheiten, die Absolutheitsanspruch erheben. Dies mag in dezidierter Absage an institutionalisierte religiöse Begründungsmuster geschehen (Kunstreligion steht hier in Konkurrenz zur Religion, an deren Vorgaben sie sich zugleich orientiert) und/ oder auf eine programmatische Selbstheiligung der Kunst hinauslaufen, die für autonom erklärt und damit sowohl Werkzeug als auch Fokus der verehrenden Zuwendung wird – bis dahin, dass die poetische ›Form‹ die Funktionsstelle der Wahrheit einnimmt.39 In jedem Fall aber zielt die Poesie des 19. Jahrhunderts – und dies gilt m. E. ebenso für die sich in dieser Zeit konstituierende Philologie – auf die Vermittlung von zwar überzeitlich gültigen, aber immanenten Wahrheiten. Im ersten Punkt der überzeitlichen Gültigkeit konvergieren sowohl Poesie als auch Philologie mit der ihnen vorgängigen Religion, im zweiten Punkt der ImmanenzForderung unterscheiden sie sich von ihr. _____________ 37

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Zirker, Hans: ›Religion‹. I. Begriff; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Herausgegeben von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner, Horst Bürkle, Klaus Ganzer, Karl Kertelge, Wilhelm Korff, Peter Walter. Achter Band: Pearson bis Samuel. Sonderausgabe (durchgesehene Ausgabe der 3. Auflage 1993-2001). Freiburg 2009, Sp. 1034-1036, hier Sp. 1035f. Bürkle, Horst: ›Kunst‹. II. Religions- u. kulturgeschichtlich; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Herausgegeben von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner, Horst Bürkle, Klaus Ganzer, Karl Kertelge, Wilhelm Korff, Peter Walter. Sechster Band: Kirchengeschichte bis Maximianus. Sonderausgabe (durchgesehene Ausgabe der 3. Auflage 1993-2001). Freiburg 2009, Sp. 531-533, hier Sp. 531. In diesem Sinn spricht Gottfried Benn von einem »fast religiöse[n] Versuch, die Kunst aus dem Ästhetischen zum Anthropologischen zu überführen«, genauer zum »anthropologischen Prinzip des Formalen«, »der reinen Form«, der »Unwirklichmachung des Gegenstandes« – und er verweist dabei zugleich auf die »Möglichkeit einer neuen Ritualität« (Benn, Gottfried: Die Lehre; in: Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Vier Bände. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand. Band 2: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1984, S. 392-394, hier S. 392).

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II. Der Philologe als Mittler Das Leitbild ›Der Philologe als Mittler‹ geht auf die romantischen Anfänge der Philologie um 1810 zurück, genauer auf den ›doppelten Ursprung‹ der Germanistik in Poesie und Altphilologie, die wissenschaftsgeschichtlich und konzeptionell selbst wieder aus der philologia sacra, der Theologie, hergeleitet wird. »Im Rekurs auf das Sakrale bzw. auf die Bibel-Philologie kommt die Philologie zu ihrem theoretischen Fundament«, betont Nikolaus Wegmann mit Blick auf den Altphilologen Friedrich August Wolf, für den die Gegenstände beider Wissenschaften, die Bibel und die Werke des Altertums, »funktional äquivalent« sind:40 »[Die Werke des Alterthums] sind der Grund dieser Wissenschaft, wie der Grund der Theologie die Bibel ist«.41 Zugleich reagiert das philologische Programm entsagungsvoller, asketischer Lektürearbeit auf die Entstehung eines Massenpublikums im Verlauf des 19. Jahrhunderts, das die Konsolidierung der Nationalphilologie ebenso befördert wie – in Aushandlung damit – das Programm elitärer Wissenschaftlichkeit. Die Popularisierung der Lesekultur im Zuge fortschreitender Alphabetisierung wird zur Herausforderung für die wissenschaftliche Selbstbegründung im Übergang von der disziplinären zur universitären Gemeinschaft: Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts haben sich die Philologen im engeren Sinn – etwa gegen die Literarhistoriker, Bibliothekare und andere ›Popularisatoren‹ von Literatur – institutionell durchgesetzt:42 »In universitären Zusammenhängen«, so _____________ 40

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Wegmann, Nikolaus: Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung; in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Mit Beiträgen von Uwe Meves, Rainer Kolk, Herbert H. Egglmaier, Ulrich Hunger, Rüdiger Krohn, Nikolaus Wegmann, Hans-Martin Kruckis, Holger Dainat, Cornelia FiedeldeyMartyn, Jürgen Fohrmann, Maximilian Nutz, Christian Grawe, Detlev Kopp. Stuttgart – Weimar 1994, S. 334-450, hier S. 358. Wolf, F. A.: Vorlesungen über die Encyclopädie der Althertumswissenschaft. Herausgegeben von J. D. Gürtler. 5 Bände. Leipzig 1831-1835. Band 1, S. 16; zitiert nach Wegmann: Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? (Anm. 40), S. 358f. – Zugespitzt bei Thomas Steinfeld: »Hinter einer in diesem Interesse betriebenen historischen Philologie lockt der Wunsch, den Kanon, ja die Heilige Schrift auf dem Boden der Kunst neu zu erfinden« (Steinfeld, Thomas: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform. München – Wien 2004, S. 91); die Philologie liest dasselbe immer wieder (neu), die ›Wiederholung‹ aber »ist das tragende Element einer jeden Liturgie. Die Wiederholung ist der erste Ausdruck eines ritualisierten Dienstes an einem Höheren« (ebd., S. 147). Fohrmann, Jürgen: Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik; in: IASL 16 (1991), S. 110-125, hier S. 113f.

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Jürgen Fohrmann, »herrschte dann auf lange Zeit die philologische Theorie des ›sauberen Arbeitens‹ vor«.43 Sie wurde zugleich als eine ›Ethik‹ des wissenschaftlichen Arbeitens entworfen, die die ästhetischen Gegenstände des Fachs mit der Forderung nach charakterlicher Integrität des Forschers im Dienst der Wissenschaft koppelte.44 Durch die Eigenart philologischer Lesefähigkeit gelingt es den ›professionellen Lesern‹, sich von den ›Laien‹ (der ›Laie‹ steht hier für den ›Normalleser‹) zu unterscheiden. Die sich institutionalisierende Philologie musste demnach Techniken (er)finden, dort Probleme zu sehen, wo der ›Normalleser‹ selbst keinerlei Schwierigkeiten vermuten konnte.45 Vergleichbares gilt nach Luhmann für die religiöse Kommunikation: Sie wird »tabuisiert und ritualisiert, und damit in einer Weise unsichtbar/sichtbar gemacht, die im täglichen Leben als Differenz wirkt und sich dann in Richtung auf Abweichungsverstärkung ausbauen läßt«.46 Zu den philologischen Techniken der ›Abweichungsverstärkung‹ gehören die Fähigkeit zur Problematisierung von Textverhältnissen auf den Ebenen Heuristik, Quellenkritik und Interpretation; der asketische Habitus des Philologen, der die umfassende Deutungskompetenz professioneller Lektüre im Dienst einer höheren Wahrheit beglaubigt; eine breite Literaturkenntnis und ein universaler Deutungsanspruch;47 eine detaillierte Textkenntnis und das ›Vergnügen‹ an Kleinigkeiten (genauer: das Interesse eines Liebenden an dem scheinbar Unwichtigen und Nebensächlichen);48 sowie der methodisch kontrollierte Umgang mit diesem Material: »Eine umfassende, methodisch angeordnete Sammlung der Varianten wird uns mannigfache Gelegenheit bieten, die Kunst des Dichters im Kleinen und Kleinsten zu studiren, und dies Kleine wird uns oft genug auf die Erwägung der _____________ 43 44 45 46 47 48

Fohrmann: Organisation, Wissen, Leistung (Anm. 42), S. 117. Kolk, Rainer: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert; in: IASL 14 (1989), S. 50-73. »The main effect of theory is the disputing of ›common sense‹: common-sense views about meaning, writing, literature, experience« (Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford – New York 1997, S. 4). Luhmann, Niklas: Die Ausdifferenzierung der Religion; in: Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt/M. 1989, S. 259-357, hier S. 273. »Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend [...]« (Scherer, Wilhelm: Goethe-Philologie; in: Im neuen Reich 7 (1877), S. 161-178, hier S. 161). »Diese verweilen theilnehmend auch bei geringfügigen Einzelheiten, nicht etwa weil ihr Sinn nur an dem Kleinen sich vergnügt, sondern weil sie die Verpflichtung und zugleich die Lust empfinden, alles, das Kleinste wie das Größte, das von den Meistern unserer Litteratur ausgeht oder zu ihnen hinführt, zu beachten und je nach seiner Bedeutung zu würdigen. Sie wollen jedes Wort eines Autors geschützt wissen, weil ja nur durch das Wort sein Geist für uns fortwirkend lebendig bleibt« (Bernays, Michael: Die Urschriften der Briefe Schillers an Dalberg (1887); in: Bernays, Michael: Zur neueren Litteraturgeschichte. Stuttgart 1895, S. 395-449, hier S. 432).

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bedeutsamsten Fragen hinlenken, die eben so wohl den Autor als sein Werk betreffen«, sagt Michael Bernays 1866 in Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes.49 Durch unterschiedliche Verfahren der Langsamkeit und Gründlichkeit, die auf der Basis von detaillierter Textkenntnis und methodischer Kontrolle gesicherte Ergebnisse erlauben, wird der Gegenstand sakralisiert, dem eine für den ›Normalleser‹ undenkbare Aufmerksamkeit zukommt. Für die philologische Methode ist daher vor allem zweierlei charakteristisch: die akribische, wiederholte Lektüre, die sich noch für die ›kleinsten Details‹ interessiert, sowie die in existentieller Hinsicht ›bescheidene‹ Forscherexistenz, die Wissenschaft als eine ethisch begründete ›Haltung‹ erfahrbar macht. In der noch jungen Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts findet sie ihr Vorbild in Karl Lachmann, den eine »Aura als Hohe-Priester der Wissenschaft« umgab.50 Lachmann steht mit seiner Person für »eine bestimmte Verklärung des Ursprünglichen, des ›reinen‹ Textes«; zugleich stellte er »die eigene Haltung als ›Treue‹ und als quasi-moralischen ›Dienst‹ am Wort« vor – »ein Selbstverständnis«, so Daniel Weidner, »das für uns Spätere auffällig an die protestantische Vorstellung einer treuen Verwaltung von Gottes Wort erinnert, dem sie historisch auch zu einem guten Teil entstammt«.51 In einem bemerkenswerten Rechtsstreit mit den Verlegern der Vossischen Buchhandlung in Berlin über unautorisierte Separatabdrucke (Nachdrucke) der von ihm herausgegebenen Ausgabe von Lessings Sämmtlichen Schriften (Berlin 18381840) geht Lachmann sogar noch einen Schritt weiter: Indem er für den wissenschaftlichen Bearbeiter Autorschaftsrechte einklagt, erklärt er die philologischen Tugenden »Fleiß, Sorgfalt, Urtheil, Scharfsinn« für »schöpferisch«52 – eine Kategorie, die im Urheberrecht den Schutz des Autors gewährleistet, im christlichen Verständnis aber allein Gott (als dem Schöpfer aller Dinge) zukommt.53 _____________ 49 50 51

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Vgl. Bernays, Michael: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 85. Wegmann: Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? (Anm. 40), S. 406-408. − Vgl. dazu Stockinger, Claudia: Der Philologe Friedrich Nietzsche; in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 53 (2006), S. 74-84. Weidner, Daniel: Bibel und Literatur um 1800. Habilitationsschrift (Ms.). Berlin 2008, S. 75 (im Kontext von Lachmanns Verfahren in der Ausgabe des Neuen Testaments seit 1831). – Zum protestantischen Pfarrhaus als Schule der Poesie vgl. Schöne, Albrecht: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage, Göttingen 1968. Lachmann, Karl: Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken. Eine Warnung für Herausgeber. Berlin 1841; in: Lachmann, Karl: Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie. Herausgegeben von Karl Müllenhoff. Berlin 1876, S. 558-576, hier S. 567. Mit dem Doktortitel der philosophischen und der theologischen Fakultät ausgestattet, zudem als gläubiger Christ (der sich auch als Herausgeber des Neuen Testaments betätigte),

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Die Philologie des 19. Jahrhunderts verschrieb sich wie die Theologie der Aufgabe, Wahrheit zu vermitteln; und der Philologe verstand sich durchaus als eine Art Apostel, der seiner Kirche, der Wissenschaft, diente: »Es war ihm heiliger Ernst um die Wahrheit«, schreibt Wilhelm Scherer 1876 über den Kollegen Karl Lachmann.54 Wissenschaft als Religion – Wissenschaft als Kirche: Welche Elemente sind darin enthalten? Welches gesellschaftliche Selbstverständnis ergibt sich daraus? Eine so verstandene Wissenschaft verpflichtet ihre Vertreter erstens zu Zeugenschaft und Verkündigung (Martyria) sowie zweitens zum Dienst am Wort (Liturgie) – die Erfüllung der philologischen Aufgaben wird dadurch zu einer Art Gottesdienst. Das dritte Element von Kirche,55 die Diakonia, bleibt, bezogen auf das Wissenschaftsverständnis der Zeit, einerseits ausgeklammert, sofern man darunter den karitativen Dienst an der Philologie für den Menschen versteht. Denn die Philologie als Wissenschaft institutionalisiert sich über Ausgrenzung bzw. Ausschluss der sogenannten Dilettanten oder Liebhaber als eine elitäre Einrichtung.56 Andererseits wird Wissenschaft, bezogen auf die Position der Literaturkritik, popularisiert. Vom Bildungsbürgertum ausgehend, dient sie (ihrem Selbstverständnis nach) der gesamten Nation, allen gesellschaftlichen Klassen und Schichten – ganz im Sinne der gelegentlich als viertes Element von Kirche genannten Koinonia,57 bei der es um das ›Leben der Gemeinden‹ geht, um den Dienst an der Gemeinschaft (in diesem Fall der Nation).58 _____________

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wusste Lachmann, wovon er hier sprach (vgl. dazu Scherer, Wilhelm: Karl Lachmann [1883]; in: Scherer, Wilhelm: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Herausgegeben von Konrad Burdach. Berlin 1893, S. 99-111, S. 103). Scherer, Wilhelm: Kleinere Schriften von Karl Lachmann [1876]; in: Scherer, Wilhelm: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Herausgegeben von Konrad Burdach. Berlin 1893, S. 92-99, hier S. 93. Kasper, Walter: ›Kirche‹. III. Systematisch-theologisch; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Herausgegeben von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner, Horst Bürkle, Klaus Ganzer, Karl Kertelge, Wilhelm Korff, Peter Walter. Fünfter Band: Hermeneutik bis Kirchengemeinschaft. Sonderausgabe (durchgesehene Ausgabe der 3. Auflage 1993-2001). Freiburg 2009, Sp. 1465-1474, hier Sp. 1469f. Vgl. Kolk, Rainer: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts; in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (Anm. 40), S. 48-114. Zerfass, Rolf: ›Kirche‹. VII. Praktisch-theologisch; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Herausgegeben von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner, Horst Bürkle, Klaus Ganzer, Karl Kertelge, Wilhelm Korff, Peter Walter. Fünfter Band: Hermeneutik bis Kirchengemeinschaft. Sonderausgabe (durchgesehene Ausgabe der 3. Auflage 1993-2001). Freiburg 2009, Sp. 1479f., hier Sp. 1479. Wolf-Daniel Hartwich bezeichnet die Rezeption der deutschen Mythologie v. a. im Musiktheater, aber auch in der Philologie des 19. Jahrhunderts treffend als »Erfindung einer nationalen Kunstreligion« (Hartwich, Wolf-Daniel: Deutsche Mythologie. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion. Berlin – Wien 2000, S. 13).

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Dass die Arbeit auch im Mittelpunkt des bürgerlichen Selbstverständnisses der Zeit steht, ist hierfür insgesamt bezeichnend. Der Journalist und Autor Gustav Freytag, den der Literaturkritiker Rudolf Gottschall einen »Apostel des deutschen Bürgerthums« nennt,59 illustrierte das bürgerliche Arbeitsethos in seinem Erstlingsroman Soll und Haben (1855) am Beispiel des Kaufmannsstandes; der Schriftsteller Otto Ludwig wählte dafür in seiner langen Erzählung Zwischen Himmel und Erde (1856) das Beispiel des Dachdeckerhandwerks; und auch Freytags zweiter Roman, Die verlorene Handschrift von 1864, nimmt sich ein Arbeitsfeld der Zeit vor: die Wissenschaft, genauer die Philologie. Diesen Wechsel des Arbeitsfeldes hält Rudolf Gottschall in seiner Besprechung des Romans für durchaus konsequent. Denn, so Gottschall, das »Bürgerthum vertritt […] auch die geistige Arbeit, bei dieser geistigen Arbeit sucht der neue Roman das deutsche Volk. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gehört dem Bürgertum; die höhern Kreise der Gesellschaft können nur von ihm empfangen […]«.60 Ins Detail einer Wissenschaft als Religion geht der Philologe und Literaturhistoriker Michael Bernays ebenfalls im Rahmen einer Rezension zu Freytags Die verlorene Handschrift. Die »geistige Arbeit«, auf die es dabei ankomme, fordere, so Bernays, »eine unbedingte, ja leidenschaftliche Hingabe«, »und zwar in einem höhern Maße« als jede andere Arbeit, denn: sie locke nicht »mit der Aussicht auf glänzende Belohnung«. Weiter heißt es: Die wissenschaftliche Thätigkeit muß frei sein von jedem Eigennutz, von jedem eigennützigen Nebengedanken. Wer der Wissenschaft dient, steht im Dienste der Wahrheit und ihm liegt die heilige Pflicht ob, nach dem Maße seiner Kräfte das Reich der Wahrheit auszubreiten. Nur wer diese Pflicht anerkennt, […] nur der ist würdig, ein Jünger, ein Pfleger der Wissenschaft zu heißen. 61

Diese ›Jünger‹ erkennen »allein« die Wissenschaft als »ihre Herrin« an; der »wirklichen Welt« erscheinen sie deshalb nicht selten »entfremdet«.62 _____________ 59

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(Gottschall, Rudolf): Gustav Freytag’s neuer Roman. (Rez. Freytag: Die verlorene Handschrift, Leipzig 1864.); in: Blätter für literarische Unterhaltung. Jg. 1865, Nr. 1 und 2, 1. und 12. Januar, S. 7-10, 17-21 (zitiert nach Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Herausgegeben von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Band 2: Manifeste und Dokumente. Stuttgart 1981, S. 346349, hier S. 347). Gottschall: Gustav Freytag’s neuer Roman (Anm. 59), S. 347. Bernays, Michael: Charakteristik von Gustav Freytags Roman Die verlorene Handschrift. (1865); in: Bernays, Michael: Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte, aus dem Nachlaß herausgegeben von Georg Witkowski. (Band 4:) Zur neueren und neuesten Litteraturgeschichte II. Berlin 1899, S. 209-252, hier S. 219-224 (zitiert nach: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Herausgegeben von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Band 2: Manifeste und Dokumente. Stuttgart 1981, S. 349-352, hier S. 350). Bernays: Charakteristik von Gustav Freytags Roman Die verlorene Handschrift (Anm. 61), S. 351.

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Dementsprechend ordnet Freytags Philologieprofessor Felix Werner sein ganzes Leben der Arbeit am Text unter; sinnfällig wird dies in der beinahe manisch zu nennenden Suche nach einer unbekannten Handschrift des Tacitus. Er blendet nicht nur die eigenen Bedürfnisse aus, sondern auch diejenigen seiner Frau Ilse, die ihm darüber beinahe verloren geht. Am Ende findet er zum einen den Einband der Handschrift (allerdings nicht diese selbst), zum anderen seine Frau Ilse wieder. Dem Selbstverständnis des Philologen nach ist es nicht länger Gott, der allein ›genügt‹,63 sondern die Wissenschaft. Sie muss durch nichts außerhalb ihrer selbst gerechtfertigt werden. Bereits ihre Pflege ist (mit Michael Bernays) der ›Lohn‹ des Gelehrten, der »keiner Brodwissenschaft zugethan sein« darf, sondern in »reinste[m] Verhältniß zur Wissenschaft« zu stehen hat. Oder anders: »[Er] durfte nicht zu denen gehören, deren Studien auf das gesellschaftliche und staatliche Leben Bezug haben oder in dasselbe einzugreifen bestimmt sind«.64 _____________ 63

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Nach einem Teresa von Avila zugeschriebenen Wort: »Nichts soll dich ängstigen; nichts dich erschrecken! | Alles vergeht; Gott bleibt derselbe; Geduld erreicht alles. | Wer Gott besitzt, dem kann nichts fehlen; Gott nur genügt« (Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu. Band 5: Die Seelenburg der heiligen Theresia von Jesu [Innere Burg], übersetzt und bearbeitet von Aloysius Alkofer. München – Kempten 1938, S. 342). Bernays: Charakteristik von Gustav Freytags Roman Die verlorene Handschrift (Anm. 61), S. 351). – Der mit Philologen wie Bernays initiierte kunstreligiöse Zugriff der germanistischen Literaturwissenschaft differenzierte sich im Zuge ihrer methodischen Entwicklung bis in die 1960er Jahre noch aus, wurde also zunächst keineswegs zurückgenommen. Die literaturwissenschaftliche Geistesgeschichte etwa zielte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Vermittlung allgemeingültiger Werte des ›Menschseins‹; sie behauptete ein Ethik- und Erkenntnisangebot, was ihrer Attraktivität gerade nach 1945 zugute kam. Man erwartete viel von Literatur in dieser Zeit (»Alles, was zählte, kreiste um das Zentrum der Literatur« (Eibl, Karl: Autonomie und Funktion, Autopoiesis und Kopplung. Ein Erklärungsangebot für ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches Problem; in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Herausgegeben von Martin Huber und Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 175-190, hier S. 177), und man erwartete viel von denjenigen, die sich professionell mit Literatur beschäftigten. Die religiöse Semantik der Selbstbeschreibung von maßgeblichen Vertretern der nach 1945 sich durchsetzenden Werkimmanenz spiegelt diese Erwartungshaltung wider bzw. zeigt, dass eine solche Erwartungshaltung bereitwillig bedient wurde. Wolfgang Kayser erklärte das Kunstwerk zum Numinosum, dem sich der Interpret mit einer »›heilige[n] Nüchternheit‹« zu nähern habe: »Jeder, der eine Stiluntersuchung durchführt, wird erleben, wie er bei der Arbeit von Ehrfurcht und Begeisterung ergriffen wird« (Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literatur-wissenschaft. 12. Auflage. Mit nachgeführter Bibliographie. Bern – München 1967 [Erstausgabe 1948], S. 329). Emil Staiger erklärte gar die Literaturwissenschaft selbst zum Objekt ›liebender Aufmerksamkeit‹, vermittelt durch ihren Gegenstand, die Literatur: »Sind wir aber bereit, an so etwas wie Literaturwissenschaft zu glauben, dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unserer Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl« (Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 1955, S. 13; Hervorhebung C. S.).

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Bernays beschreibt den Beruf des Philologen als eine Berufung, die uneingeschränkte Hingabe an den Gegenstand erfordert. Den Gegenstand selbst – die Literatur – definiere sie nicht über dessen Leistungen für andere Systeme (auf die sie nebenbei durchaus aufmerksam machen könne), sondern über seine genuinen Funktionen. Die Aufgabe des Philologen besteht demzufolge darin, nach der Autonomie der Literatur zu fragen, danach also, nach welchen Kriterien Literatur für das Kunstsystem (nicht etwa für die Politik, die Wirtschaft, das Recht etc.) relevant ist.65 Sie wird um ihrer selbst willen ausgeübt, also uneigennützig und interesselos; der ideelle Gewinn rangiert weit vor dem materiellen. Der Wissenschaftler versteht sich als Diener der Sache, die er in einem liturgischen (= methodischen) Ritus sakralisiert, denn er geht einer heiligen Pflicht nach, die auf die Erschließung von Wahrheit zielt. In dieser Selbstbeschreibung eines Philologen des 19. Jahrhunderts finden sich die grundlegenden Merkmale von Religion im Allgemeinen wieder: erstens die Glaubensüberzeugung, die sich auf ein ›Heiliges‹ als »Gegenstand« der Zuwendung bezieht;66 zweitens die Glaubenspraxis, die einen methodischen (ritualisierten) Zugang zum ›Geheimnis‹ fordert,67 dessen Gültigkeit von einer (institutionalisierten) Gruppe Gleichgesinnter _____________ 65

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Werber, Niels: Es gibt keine Literatur – ohne Literaturwissenschaft; in: Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Herausgegeben von Anne Bentfeld und Walter Delabar. Opladen 1997, S. 176-194, hier S. 185f. (über die Funktion der Literaturwissenschaft): »Sie zeigt, daß literarische Texte primär nicht kritisieren, beleidigen, belehren, erbauen, bilden usf. wollen, sondern daß dies nur ihre Leistungen sind. Es ist die Funktion der Literaturwissenschaft, an die Funktion der Literatur zu erinnern. Nur die Literaturwissenschaft hat – außer der Literatur selbst – ein Interesse an der Funktionsautonomie des Literatursystems – ihre Umwelt begnügt sich damit, sie als Ware, Rechtsform, Propaganda, physisches oder psychisches Stimulationsmittel oder Narkoticum, didaktisches Instrument usf. zu behandeln oder zu verwerten«. – Vgl. dazu Claudia Stockinger: ›Lektüre‹? ›Stil‹? – Zur Aktualität der Werkimmanenz; in: 1955–2005. Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute. Herausgegeben von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum. Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt/M. – New York – Oxford – Wien 2007, S. 61-85, hier S. 71f. Schmidinger, Heinrich M.: Religion. II. Anthropologisch-philosophisch; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. Herausgegeben von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner, Horst Bürkle, Klaus Ganzer, Karl Kertelge, Wilhelm Korff, Peter Walter. Achter Band: Pearson bis Samuel. Sonderausgabe (durchgesehene Ausgabe der 3. Auflage 1993-2001). Freiburg 2009, Sp. 1036-1039, hier Sp. 1038. »Das Geheimnis kann als ein willkürliches Geheimnis geschaffen werden mit der Folge, daß eine Offenlegung es zerstört. Es kann aber auch als ein sich selbst schützendes Geheimnis angeboten werden, und das besagt dann, daß die Kommunikation über das Geheimnis wenig besagt. Man darf, man soll sogar kommunizieren, aber die Kommunikation vermittelt wenig Überzeugungskraft, wenn man nicht schon zuvor glaubt. Das Geheimnis wird mit dieser semantischen Spezifikation zum Indikator der Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft und instituiert dann die Differenz von Wissenden und Nichtwissenden als sekundäre Differenz« (Luhmann: Die Ausdifferenzierung der Religion (Anm. 46), S. 273f.).

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geteilt wird.68 Die Analogie von Poesie bzw. Philologie und christlicher Religion im Besonderen lässt sich im 19. Jahrhundert etwa mit Blick auf die Inhalte der Glaubensüberzeugungen begründen, die jeweils ein umfassendes Liebesgebot formulieren, das die Liebe als eine in sich gerechtfertigte, für sich gültige Größe versteht. Die Form der hier geforderten liebenden Aufmerksamkeit (= die Glaubenspraxis) sieht einen existentiell entschiedenen, absoluten, auf das Ganze in all seinen Teilen bezogenen Dienst an der Wahrheit vor, die Gegenstand der Glaubensüberzeugung ist. Diese Liebe steht auch im Zentrum der Poesiologie und Poesie Storms, der religionskritischen Philosophie Feuerbachs oder der inneren Berufung Bernays’ zur Philologie – um nur einige Beispiele zu nennen. Kunst und Philologie als Religion unterscheiden sich allerdings von Religion im primären Sinn durch die Essenz des avisierten Wahren. Die für Religion systemische Codierung transzendent/immanent69 gilt keinesfalls für Zugriffe auf eine Wahrheit, deren Wirklichkeit den innerweltlichen Erklärungsraum selbst dann nicht verlässt, wenn sich Künstler oder Philologen explizit nicht mit der bloß sichtbaren Oberfläche der Erscheinungen zufrieden geben können – wie das bekanntlich im programmatischen Realismus der Fall ist. Das poetische oder philologische Objekt der Verehrung (mit dem Ziel der Annäherung an die poetische Aussage von ›Wahrheit‹ in der Poesie oder an die ›Wahrheit‹ der poetischen Aussage in der Philologie) existiert nicht unabhängig von diesem Zugriff; dieses Objekt ist nicht (wie der christliche Gott) Beziehungs- oder Gesprächspartner70 des Poeten oder Philologen; vor allem aber ist es nicht zugleich der »Schöpfer«71 von Poesie und Philologie, sondern wird von beiden gleichermaßen, wenngleich auf unterschiedlichen Wegen, erst hervorgebracht. _____________ 68

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›Religion‹ meint mit Emile Durkheim ein »solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige […] Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören« (Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts [Titel der Originalausgabe: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1968]. Frankfurt/M. 1981, S. 75). − Vgl. außerdem: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. Herausgegeben von Johann Figl. Innsbruck 2003, v. a. S. 62-80. Luhmann: Die Ausdifferenzierung der Religion (Anm. 46), S. 313. – In theologischer Semantik ist es zentrales »Merkmal dieses Paradigmas«, »daß es die dem Menschen zugängl. Wirklichkeit als v. einer anderen Wirklichkeit getragen u. abhängig erfährt, die sich als bleibendes Geheimnis u. Heiliges, d. h. als das Unfaßbare u. Unverfügbare schlechthin, kundtut« (Schmidinger: Religion. II. Anthropologisch-philosophisch (Anm. 66), Sp. 1038f.). Das »›absolute personale Du‹« (Vorgrimler, Herbert: Neues theologisches Wörterbuch. 6. Auflage des Gesamtwerkes. Freiburg – Basel – Wien 2008, S. 248). Vorgrimler: Neues theologisches Wörterbuch (Anm. 70), S. 250.

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Ein aufschlussreiches Beispiel für die enge Verflechtung von Kunst, Philologie und Religion im 19. Jahrhundert stellt die Novelle The Aspern Papers (1888) des amerikanischen Schriftstellers Henry James dar. Sie handelt von einem leidenschaftlichen Philologen aus Amerika, der sich (in Übereinstimmung mit einem englischen Kollegen namens John Cumnor) auf der Suche nach Nachlasstexten des von ihm verehrten Autors Jeffrey Aspern nach Venedig begibt. Er quartiert sich dort bei einer alten Frau (›Miss Bordereau‹) ein, die zu Jugendzeiten die Geliebte des Dichters gewesen war, um – koste es, was es wolle – in den Besitz der Papiere Asperns, die auch als dessen »Reliquien« und als dessen »geheiligte Hinterlassenschaft« bezeichnet werden,72 zu gelangen. Um Asperns willen wird der Philologe zum Verbrecher; er begeht ›Niederträchtigkeiten‹, indem er sich der alten Dame ›scheinheilig‹ und ›doppelzüngig‹ nähert;73 auf der Suche nach ›Beweisen‹74 zieht er in den Kampf;75 er ›maskiert‹ sich;76 er zeigt sich – mit kriminalistischem Instinkt ausgestattet – grundsätzlich misstrauisch;77 er überschreitet Grenzen, hinter die er nur schwer wieder zurück kann, so dass ihm die eigene Aufgabe als eine große Herausforderung und gelegentlich schwer erträgliche Bürde erscheint.78 Den besonderen ›Eifer‹ des Philologen bringt gleich zu Beginn der Erzählung ein Gespräch mit einer Mrs. Prest zum Ausdruck, die der junge Amerikaner in sein Vorhaben einweiht. Für ein »Bündel mit Jeffrey Asperns Briefen« verzichte er sogar auf »die Antwort auf das Geheimnis des Universums«, weil er sich davon den »größere[n] Segen« erwarte, behauptet der Philologe. Er bezeichnet Aspern an dieser Stelle als ›seinen Gott‹.79 Nicht der Dichter gilt hier als Prophet religiöser Botschaften; vielmehr führt sich der Philologe als »Priester« des Dichters ein, der als immanent gedachtes Funktionsäquivalent zu Gott fungiert (Konkurrenzmodell sowie Modell ›Der Philologe als Mittler‹): Die Welt hatte, wie ich zu sagen pflege, Jeffrey Aspern anerkannt, aber Cumnor und ich […] haben uns als Priester dieses Tempels berufen gefühlt. […] Er hatte nichts von uns zu befürchten, weil er nichts von der Wahrheit zu befürchten hatte, die zu ergründen, aus einem solchen zeitlichen Abstand heraus, unser einziges Interesse sein konnte.80

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James, Henry: Die Aspern-Schriften. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Blumenberg. München 2003, S. 58. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 18. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 19. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 20, vgl. auch S. 51, 181. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 21. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 131. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 176. Vgl. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 10. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 11f.

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Zugleich setzt sich auf diese Weise das ›Leben‹ des bereits verstorbenen Dichters in der Existenz des Philologen fort, wenn dieser die ›Reliquien‹ des Autors berührt und dadurch ein »nur Eingeweihten zugängliche[s] Wissen« erwirbt, wie es in der Novelle heißt.81 Der Text inszeniert den Autor als einen Abwesenden. Die durch den Autor bezeichnete Leerstelle ist vielfältig besetzbar, und das ›Göttliche‹ seiner poetischen Produkte lässt sich demnach gerade an ihrer Vieldeutigkeit ablesen: an ihrer »Schönheit«, wodurch sie »unsterblich« werden.82 Im Verlauf der Recherchen des Philologen wird deutlich, dass sich das Geheimnis, das Numinose, das Mysterium der als absent vorgeführten Autorschaft aus der fortgesetzten, u. a. mit wissenschaftlichen Methoden vollzogenen Spekulation über das Abwesende ergibt. Erst in der Rede darüber wird sie erzeugt. Was geschieht, wenn sich der Philologe seiner Berufung entzieht? »[W]as wird dann aus all den wunderbaren Dingen?«, so lautet die rhetorische Frage des Amerikaners: »Was wird aus den Werken, von denen ich eben gesprochen habe, den Werken der großen Philosophen und Dichter? Es sind alles nur leere Worte, wenn es nichts gibt, woran man sie messen kann«.83 Die persönliche Begegnung mit jener Frau, die als Asperns Muse gilt und dem Philologen bislang lediglich als Objekt zahlreicher Gedichte des Autor-Gottes bekannt war, löst bei ihrem Besucher (der auf eine Begegnung mit etwas Numinosem von vornherein gestimmt ist) ein unmittelbar religiöses Erlebnis aus, d. h. eine Glaubenserfahrung, die sich als Erfahrung der Realpräsenz des bereits verstorbenen Dichters in der noch lebenden Juliana Bordereau beschreiben lässt (Konvergenzmodell): »[A]ls sie aber dort vor mir saß, schlug mein Herz so heftig, als hätte sich das Wunder der Auferstehung gerade vor meinen Augen ereignet. Ihre Gegenwart schien die seine auf unerklärliche Weise mit einzuschließen«.84 Wenngleich der Nachgeborene die ›verführerische‹ »Stimme« des Dichters nicht mehr selbst hören kann,85 berührt ihn doch der Atem oder Hauch ›seines Gottes‹, und zwar im Gespräch mit Juliana. Wie später in der Religionsphilosophie u. a. von Henry James’ Bruder William beschrieben,86 kennt die Begegnung mit dem Heiligen auch hier _____________ 81 82 83 84 85 86

James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 58. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 64. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 116. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 33. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 12. James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut. Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk. Frankfurt/M. – Leipzig 1997, v. a. S. 95f.; S. 383-424 (erstmals erschienen 1901/02).

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zum einen Momente der Attraktion und der Faszination (»mysterium fascinosum«), zum anderen Momente des Abgestoßenseins und der Furcht (»mysterium tremendum«).87 In der Novelle analysiert der Philologe im Nachhinein seine »Empfindungen und in welcher Reihenfolge sie auftraten«: Hierbei handelt es sich um ein »seltsames leichtes Erbeben«, begleitet von heftigem »Herzklopfen«;88 zudem drängt sich der abschreckende »Eindruck« auf, die »göttliche Juliana« verberge hinter einem »scheußlichen grünen Schirm«, der ihre Augen schützt, einen »schauerliche[n] Totenkopf«. Diese widersprüchliche »Gefühlswallung« lässt den Philologen verstummen.89 In unmittelbarer Konfrontation quasi-religiöser mit traditionellreligiösen Wissensordnungen tritt nicht der Künstler, sondern dessen Mittler, also der Philologe, zur Religion in Konkurrenz. Der Philologe bringt den Autor (als die ›Wahrheit‹) hervor; ohne den Philologen bleiben die Werke des Dichters, wie zitiert, »nur leere Worte, wenn es nichts gibt, woran man sie messen kann«.90 Über sein Verhältnis zu Aspern sagt der junge Amerikaner: »Ich hatte ihn heraufbeschworen, und er war gekommen; die meiste Zeit sah ich ihn vor mir schweben«. Mit allen anderen, »die in der Vergangenheit im Dienste der Kunst gestanden« und diesen Dienst als »Berufung« erfahren hatten, fühlt er sich in »mystische[r]« Gemeinschaft verbunden.91 Auf die Leidenschaft des Philologen reagiert die Umwelt (›der Normalleser‹) einerseits mit Unverständnis, wie Julianas Nichte Tina, die das Verhalten des Untermieters ihrer Tante mit einiger Verwunderung kommentiert, indem sie feststellt, er gebe »in Venedig ganz allgemein eine Menge Geld für Dinge« aus, »die im Grunde nicht viel wert sind«;92 und tatsächlich ist der junge Mann bereit, sich für die Sache, die ihn antreibt, finanziell zu ruinieren.93 Schließlich gibt Tina explizit zu, den Philologen und seine Bedürfnisse nicht zu ›verstehen‹.94 Andererseits muss das Vorgehen des Philologen einer traditionell-religiösen Perspektive als hybride, anmaßend, blasphemisch gelten. In der Novelle ist es Miss Bordereau, die die Konkurrenz der Systeme explizit zur Sprache bringt: »Die Wahrheit _____________ 87 88 89 90 91 92 93 94

Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 2. Auflage. Breslau 1918, S. 14-21, 34-45. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 33. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 34. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 116. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 57. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 44. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 46, 117f. James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 81.

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steht Gott zu, nicht den Menschen; wir sollten lieber die Finger davon lassen. Wer kann darüber urteilen? Wer vermag es zu sagen?«.95

III. Der Autor als Mittler Parallel zur Philologisierung der Wissenskultur und in Reaktion darauf vollzieht sich im 19. Jahrhundert eine Philologisierung der Poesie – diese These bezieht sowohl Autor- als auch Textprogramme ein. Das Leitbild ›Der Autor als Mittler‹ behandelt die Frage nach der Arbeit an der Poesie unter den Bedingungen germanistischer Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert, wobei ›Germanistik‹ in diesem Zusammenhang als relevante Umwelt für das Literatursystem im Ganzen verstanden werden soll. Den Autoren, die wie der habilitierte Philologe Gustav Freytag oftmals selbst eine wissenschaftliche Sozialisation und Ausbildung durchlaufen haben, steht zunehmend vor Augen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihren Arbeiten denkbar ist, und diese Perspektive hat Auswirkungen auf ihre poesiologischen Programme und ihre poetische Produktion. Die Autoren werden sich gleichsam schon zu Lebzeiten selbst ›historisch‹. In diesem Sinne lässt sich die germanistische Philologie, die sich in diesen Jahren institutionalisiert, als eine Art ›Erfüllungsgehilfin‹ autorschaftlicher Strategien beschreiben, die an der eigenen literarhistorischen Positionierung und Epochalisierung arbeiten. Darauf rekurrieren u. a. auktoriale Interessen an der Beschreibung der eigenen Werkgenese, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf Kleinigkeiten lenkt und rezeptionsleitende Perspektiven auf das eigene Werk aufzeigt, die philologische Gründlichkeit, mit der poetische Prozesse vorbereitet werden, sowie die philologischen Ansprüche, die das vollendete (bzw. permanent ›verbesserte‹) Produkt erhebt.96 Dieser Begründungszusammenhang setzt den Autor als professionellen Leser des eigenen Werks ein und kann in einen umfassenden – weltanschaulichen und in diesem Sinn parareligiösen – Deutungsanspruch transformiert werden. Ein Beispiel hierfür stellt etwa Theodor Storms Lyriktheorie und -praxis des ›Erlebnisses‹ dar, die wiederum zeitgleiche philologische Forderungen an die Kategorie spiegelt, wie sie beispielsweise _____________ 95 96

James: Die Aspern-Schriften (Anm. 72), S. 116. Vgl. dazu grundlegend Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin – New York 2007, v. a. S. 371-444 (Die Poesie der Philologie I: Ludwig Tieck), S. 444-513 (Die Poesie der Philologie II: Johann Wolfgang Goethe).

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von Wilhelm Scherer oder Erich Schmidt im unmittelbaren Umfeld Storms erhoben werden. Dabei wird der performative Charakter von Storms Kunstreligion sichtbar, die sich auf der Ebene der Rezeption erfüllt, und zwar im affektiven Nachvollzug des Überzeitlich-Gültigen, d. h. in der emotionalen Reproduktion jenes Autor-Erlebnisses, das der Produktion vorausgegangen ist. Im Folgenden möchte ich diese Perspektive auf Storms Werk abschließend (und zugleich kursorisch) behandeln: an Storms Lyriktheorie, an Storms Philologie und an Storms Religion der Liebe. Storms Verhältnis zur (christlichen) Religion ist vielfältig beleuchtet worden.97 Dass »die Literatur des Bürgerlichen Realismus« keine »Fragen nach dem göttlichen Sinn des Lebens« kenne, wie Sabina Becker mit Verweis auf den Feuerbach-Schüler Keller meint,98 trifft auf Storm m. E. jedenfalls nicht zu. Er arbeitet sich in seinem Gesamtwerk immer wieder gerade auch an diesen Fragen regelrecht ab. Zusammenfassend lässt sich dazu sagen: Nach eigener Aussage wurde Storm im Elternhaus mit der christlichen Religion nicht weiter behelligt.99 In institutionell-konfessioneller Hinsicht ist er als Mitglied der protestantischen Kirche aufgewachsen und hat in diesem Zusammenhang die zeitüblichen Einblicke in deren Glaubenslehren und Heilige Schriften bzw. Traditionsräume erhalten; dass biblische Motive und religiöse Inhalte in Storms Gedichten und Novellen _____________ 97

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Exemplarisch zu nennen sind die Arbeiten von Jackson, David A.: Storms Stellung zum Christentum und zur christlichen Kirche; in: Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms. Herausgegeben von Brian Coghlan und Karl Ernst Laage. Berlin 1989, S. 41-99 (insbesondere zu Storms religiöser Sozialisation und einer Lebenspraxis, die sich in personenstandsrechtlichen Hinsichten von kirchlichen Reglementierungen soweit wie möglich befreien möchte; außerdem zur Kontinuität religiöser Fragen im Gesamtwerk Storms – ausgehend von der These, Storm betreibe Religionskritik in aufklärerischer Absicht und sei, wenngleich nicht positivistisch nachweisbar, von Feuerbachs Ideen beeinflusst) und Christian Demandt, der im Anschluss an Ansätze Bolls, Deterings, Jørgensens, Laages, Pastors und Stuckerts davon ausgeht, gerade am »religiöse[n] Suchen« und »religionskritische[n] Verwerfen« Storms lasse sich das komplexe und nicht widerspruchsfreie Verhältnis von Religion und Religionskritik im 19. Jahrhundert exemplarisch aufzeigen (Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm. Berlin 2010, S. 12) und der dafür genauer die Gedichte Größer werden die Menschen nicht und An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ behandelt sowie die Brautbriefe und die Erzählungen Im Schloß, Waldwinkel und Der Schimmelreiter; vgl. hier auch die ausführliche Forschungsdokumentation zum Thema, ebd. S. 9-30). Becker, Sabina: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter. 1848-1900. Tübingen – Basel 2003, S. 77. »Erzogen wurde wenig an mir; aber die Luft des Hauses war gesund; von Religion oder Christentum habe ich nie reden hören; […] ich habe durchaus keinen Glauben aus der Kindheit her« (Theodor Storm an Emil Kuh, 13. August 1873; in: Theodor Storm. Briefe. Herausgegeben von Peter Goldammer. Band 2: Briefe. 1870-1888. 2., durchgesehene Auflage. Berlin – Weimar 1984, S. 63-68, hier S. 67).

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einen großen Stellenwert einnehmen, lässt sich biographisch auf diese Sozialisation zurückführen – die Forschung spricht dabei bevorzugt von der »Säkularisierung«100 oder der »Kontrafaktur« dieser Motive und Inhalte in Storms Werk.101 Früh wird Storm über seinen Studienkollegen Theodor Mommsen mit dem Atheismus konfrontiert worden sein. Dass er aber die für seine Zeitgenossen bahnbrechenden Schriften Feuerbachs gelesen habe, lässt sich nicht belegen. In einigen Punkten kommen Storms Texte den Positionen Feuerbachs zwar sehr nahe (etwa im Postulat einer Liebes- und Lebensreligion, das sich explizit gegen eine unterstellte Sinnenfeindlichkeit der christlichen Religion richtet, oder in der Vorstellung, der christliche Glaube sei menschliches Konstrukt); in anderen Punkten unterscheidet sich Storm jedoch von der Philosophie Feuerbachs (etwa in der grundsätzlich pessimistischen Einstellung zum Tod, dessen Endgültigkeit nach Storm den Blick auf das an sich äußerst lebenswerte Leben notwendig verdunkelt). Wie Christian Demandt gehe ich davon aus: Bei Storm »tritt nicht einfach Aufklärung an die Stelle von Glauben und Humanismus an die Stelle von Theologie: sondern es tritt Religion an die Stelle von Religion«.102 Bezogen auf die oben (in Punkt 2) festgehaltene Arbeitsdefinition von ›Religion‹ gehe ich weiterhin davon aus, dass sich die dabei zum einen geforderte Glaubensüberzeugung Storms auf die um ihrer selbst willen gelebte Liebe (z. B. zweier Partner zueinander) richtet und dass zum anderen Storms Glaubenspraxis den Dienst am (poetischen) Wort als Dienst an dieser Wahrheit betreibt. Im vielzitierten Brautbrief an Constanze Esmarch nennt Storm die Liebe »eine göttliche Offenbarung«, ohne dabei noch einen ›Gott‹ als Urheber (Offenbarung Gottes als Genitivus subjectivus) oder Erkenntnisziel (Offenbarung Gottes als Genitivus objectivus) anzunehmen, denn: »Liebe ist unmittelbare Gottheit. Liebe ist Andacht, ja Liebe ist schon Religion«.103 Dies meint nicht ausschließlich die Liebe zwischen verheira_____________ 100 Jackson: Storms Stellung zum Christentum (Anm. 97), S. 47. 101 U. a. Jackson: Storms Stellung zum Christentum (Anm. 97), S. 65 (Veronica als »humanistische Kontrafaktur zur Agonie und Verklärung Jesu Christi im Gethsemanegarten, zu Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt«); Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm (Anm. 97), S. 75-90 (Storms Liebesreligion als ›Kontrafaktur der Soteriologie‹); Deupmann, Christoph: Hans und Heinz Kirch. Kontrafaktur der Heilsgeschichte; in: Interpretationen. Theodor Storm. Novellen. Herausgegeben von Christoph Deupmann. Stuttgart 2008, S. 88-103. 102 Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm (Anm. 97), S. 102. 103 Theodor Storm an Constanze Esmarch, 24.04.-27.04.1844; in: Storm – Briefwechsel. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Gerd Eversberg. Band 15/1: Theodor Storm –

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teten (oder unverheirateten) gegengeschlechtlichen Partnern. In der späten Novelle Hans und Heinz Kirch stellt Storm die Figur der Wieb als Ideal seines Konzepts einer Liebesreligion vor, deren pflegerische Zuwendung zum alten und kranken Hans Kirch den »Strahl jener allbarmherzigen Frauenliebe« sichtbar macht, »die allen Trost des Lebens in sich schließt«.104 Von diesem Konzept lässt sich schon früh der Rezensent Storm leiten, wenn er in einer Besprechung der Lieder der Liebe von M. Ant. Niendorf (1854) die Poesie eine »Offenbarung« der Liebe nennt, der mit bloßem Handwerk nicht beizukommen sei. Sie erschließe sich »wie bei Allem, was heilig ist« nur dann auch dem dafür »empfänglichen Leser«, wenn, so Storm, der poetischen ›Reproduktion‹ ein tatsächliches »Erlebnis« vorausgegangen sei.105 Mit der Formel »dass wir begreifen, was uns ergreift« wird die literaturwissenschaftliche Werkimmanenz im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts dieses Konzept auf einen methodisch einflussreichen Punkt bringen.106 Doch bereits die zeitgenössische Philologie kennt Zugriffsweisen, die auf Storms Forderungen an ›gute Lyrik‹ (i. e. Lyrik, die ›phrasenhaftes‹ Sprechen vermeidet)107 applizierbar sind. Im Briefwechsel mit Storm spricht der Philologe Erich Schmidt 1878 von den »Grundbedingungen der Lyrik, vom innerlich erlebten«.108 Sein _____________ 104

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Constanze Esmarch. Briefwechsel (1844-1846). Teil 1 (13.4.1844 – 6.11.1845). Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Regina Fasold. Berlin 2002, S. 40-44, hier S. 42. Storm, Theodor: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 3: Novellen. 1881-1888. Herausgegeben von Karl Ernst Laage. Frankfurt/M. 1988, S. 58-130, hier S. 129 (vgl. dazu Stockinger, Claudia: »die Spuren einer früh zerstörten Anmut«. Der Realismus des Hässlichen oder das Martyrium der Kindsbraut bei Storm; in: Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Herausgegeben von Malte Stein, Regina Fasold und Heinrich Detering. Berlin 2010, S. 133-150). – Auch darin geht Storm über Feuerbach hinaus, in dessen Das Wesen des Christentums es heißt: »Wunder wirkt namentlich die Liebe, und zwar die Geschlechterliebe. Mann und Weib berichtigen und ergänzen sich gegenseitig, um, so vereint, erst die Gattung, den vollkommnen Menschen darzustellen« (Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums; in: Ludwig Feuerbach. Gesammelte Werke. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer. Band 5: Das Wesen des Christentums. Dritte, durchgesehene Auflage. Bearbeitet von Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich (†). Berlin 2006, S. 273). Storm, Theodor: Lieder der Liebe von M. Ant. Niendorf; in: Storm, Theodor: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 4: Märchen. Kleine Prosa. Herausgegeben von Dieter Lohmeier. Frankfurt/M. 1988, S. 330335, hier S. 335, 331f. Staiger, Emil: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich 1953 (3. Auflage 1963), S. 11. Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4 (Anm. 105), S. 391. Erich Schmidt an Theodor Storm, 7. Juli 1878; in: Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Erster Band: 1877-1880. Herausgegeben von Karl Ernst Laage. Berlin 1972, S. 95-97, hier S. 96.

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Claudia Stockinger

Erkenntnisinteresse zielt auf das für die Werkentstehung entscheidende ›innere Erlebte‹; äußere Einflüsse oder Kontexte kommen im literaturwissenschaftlichen Positivismus als ›Erlerntes‹ in den Blick, sind Schmidt zufolge aber nur von nebenrangiger Bedeutung. Es handelt sich genauer um eine Methode, die »eine Gemeinsamkeit, eine Wanderung und allmähliche Ausbildung der Motive, eine innere Entstehung der Schöpfung, annimmt und verfolgt«, nicht etwa »so recht äußerlich fragt: woher hat der Dichter das, Entlehnung, Reminiszenz etc.«. Zur Kategorie der ›inneren Entstehung‹ fügt Scherer in einer Fußnote erläuternd hinzu, dass neben Fragen der inneren und äußeren Entstehung, des Inhalts (Motive etc.) und der Form (Stil, Fassungen etc.) gerade auch die Wirkung auf Produzenten und Rezipienten in der Analyse berücksichtigt werden.109 Ob der Text und seine Aussage auf ein ›innerlich Erlebtes‹ zurückgehen oder nicht, zeigt sich schließlich erst an der Wirkung des Gedichts auf den Leser, die nur dann eintreten wird, wenn Inhalt und Form auf eine möglichst angemessene Weise überein kommen. Am 17. Oktober 1885 schreibt Storm an Schmidt: Noch einmal, und, wenn auch zum hundertsten Male: Für schöne lyrische Form ist das Coincidiren von Inhalt und Wortklang absolut nothwendig; der geistige Inhalt, und nur dieser muß in den Worten klingen, vor dem bloßen schönen Wortklang habe ich nicht den mindesten Respect.110

Storm zufolge muss das Erlebnis keinesfalls notwendig auf einer realen, sondern kann ebenso gut auf einer »selbsterfundene[n] Situation« beruhen. Entscheidend ist nur, dass auch diese »unmittelbar […] vom Leben« gegeben ist, dass sie also ein authentisches Zeugnis dessen darstellt, was sie abzubilden beansprucht.111 Storms Überlegungen zur Poesie als dem Medium der Offenbarung von Liebe bleiben ungenau. Das Konzept ist auf Plötzlichkeit hin angelegt und spitzt das Phänomen auf einige zentrale Symptome zu, ohne die Liebe zu kontextualisieren und damit zu komplizieren. Es würde sich vor diesem Hintergrund lohnen, die kunstreligiöse Begründung von Poesie und Wissenschaft im 19. Jahrhundert auch auf die konfessionellen Aushandlungen und Dichotomien der Zeit zu beziehen, ließe sich doch der symptomatisierende, hedonistische, ungenaue Zugriff

_____________ 109 Erich Schmidt an Theodor Storm, 1. und 2. Januar 1878; in: Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Erster Band (Anm. 108), S. 73-77, hier S. 75f. 110 Theodor Storm an Erich Schmidt, 17. Oktober 1885; in: Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Zweiter Band: 1880-1888. Herausgegeben von Karl Ernst Laage, Berlin 1976, S. 114-116, hier S. 116. 111 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4 (Anm. 105), S. 332, 331.

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als katholische Eigenart beschreiben,112 wohingegen die genuin asketische sowie selektionslose, detaillierte Aufmerksamkeitshaltung des Philologen protestantische Wurzeln hat.113 Den Katholizismus hatte Storm bekanntlich in seiner Heiligenstädter Zeit kennengelernt. Er hielt nicht viel davon, weil er den katholischen Glauben als eine die Menschen entmündigende, naive Spielart des christlichen Bekenntnisses missverstand, das sich etwa mit der Beichte in die für Storm heilige Beziehung zwischen Mann und Frau einmische.114 Gegenüber dem Protestantismus, der Storm zufolge bereits von Beginn an die Grundlagen seiner eigenen Selbstaufhebung enthält und deshalb eine fortgeschrittene Stufe des Religiösen darstellt,115 wertete er den Katholizismus zeitlebens ab. Seine Poesiologie der Offenbarung in der Lyrik aber kommt einem alle Sinne einbeziehenden Religionsverständnis ziemlich nahe, das auf die persuasive Kraft des performativen Akts in der Liturgie setzt. Storm erwartet nicht nur von der Poesie, was die Religion seiner Ansicht nach nicht mehr leisten kann. Aus dieser Perspektive drängt sich vielmehr sogar der Eindruck auf, Storm entwerfe mit seinem Konzept der Erlebnislyrik einen gleichwertigen Ersatz für den aus seiner Sicht obsoleten Katholizismus. Auch der Philologe Storm nähert sich nolens volens und mit »Trüffelhund-Instinkt«116 diesem Programm. Bei den Sammlungskriterien für seine Lyrik-Anthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius (erstmals 1870), die Storm explizit als sein Credo, sein »poetisches Glaubensbekenntnis«, bezeichnet,117 steht »das Charakteristische« im Mittelpunkt. _____________ 112 Angeregt zu dieser Überlegung wurde ich durch einen Vortrag von Christoph Schmälzle, der als zentrale Kodierungen des Kunstdiskurses um 1800 die Dichotomien römischzentralistisch / protestantisch und griechisch-föderal / katholisch nahe legt (nicht zuletzt deshalb sei Fontane später dem ›Griechen Raffael‹ mit einigem Unverständnis begegnet); vgl. Schmälzle, Christoph: Klassizismus zwischen Renaissance und Griechenkult: Raffael als Ideal; in: Klassizistisch-romantische Kunst(t)räume. Imaginationen im Europa des 19. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Band 2: Raffael als Paradigma. Rezeption, Imagination und Kult im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Gilbert Heß, Elena Agazzi und Elisabeth Décultot. Berlin – Boston 2012, S. 97-122. 113 Vgl. u. a. Weidner: Bibel und Literatur um 1800 (Anm. 51). 114 In Novellen wie Veronica (1861) oder Pole Poppenspäler (1874) zog Storm hieraus die Konsequenz einer säkularisierten Beichtpraxis: Die katholischen Ehefrauen ›beichten‹ schließlich nicht mehr einem Priester, sondern ihren Ehemännern (›Beichte‹ hier im Sinne von ›Rede über intime Angelegenheiten‹). 115 Vgl. dazu Jackson: Storms Stellung zum Christentum (Anm. 97), S. 67. 116 Theodor Storm an Paul Heyse, 13. September 1871; in: Storm – Briefwechsel. Band 1: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Erster Band: 1853-1875. In Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft herausgegeben von Clifford Albrecht Bernd. Berlin 1969, S. 34-36, hier S. 35. 117 Theodor Storm an Gustav Hoerter, 1. April 1878; in: Storm: Briefe. Band 2 (Anm. 99), S. 151-156, hier S. 152.

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Claudia Stockinger

Es geht Storm weder um »Vollständigkeit« noch um jedes Detail, sondern vor allem um jene Gedichte, »welche die Bedeutung, die ihnen etwa zuzugestehen ist«, ›in‹ sich haben, die einen »unmittelbaren Ausdruck der Empfindung« dokumentieren und deshalb den Leser »wie vom Leben« «unmittelbar« ›berühren‹ – weil sie (wie jede sinnliche und auch jede Gotteserfahrung) auf postkognitiven Dispositionen beruhen:118 »[A]m vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt«.119 Neben der Liebe geht es in Storms Kunstreligion also um das Leben: Die Poesie – und darauf ziele auch seine Auswahl, so Storm – habe »nicht mit Gedanken über das Leben« zu tun, sondern »mit der Darstellung des Lebens« selbst.120 Bei Storm hat diese Aussage nicht nur poesiologische Gültigkeit; sie bezieht die gesamte Existenz des Dichters und Menschen mit ein. Die 1865 (also bereits nach Constanzes Tod) entstandenen Verse Größer werden die Menschen nicht erklären die »Schönheit des Lebens« zum einzigen Wertmaßstab einer Existenz, die »[o]hne Hoffnung künftigen Seins« auskommt.121 Den christlichen Unsterblichkeitsgedanken lässt dieses Konzept lediglich als ein Konstrukt gelten: Selbsternannte Jünger haben das realhistorisch belegte Leiden eines einzelnen Menschen am Kreuz monumentalisiert und als ein »Bild der Unversöhnlichkeit« bis in die heutige Zeit tradiert. Des ›gequälten‹ Toten habe sich allein die »jungfräulich reine Natur« erbarmt, indem sie »das Schreckensbild« ›verwehte‹122 – jene Natur, von der Feuerbach in seinen Vorlesungen über das Wesen der Religion angenommen hat, dass sie das »dem Menschen vorausgesetzte Wesen« sei, »das Wesen, welches die Ursache oder der Grund des Menschen ist, welchem er sein[e] Entstehung und Existenz verdankt«.123 Der christliche Glaube an die jungfräuliche Geburt Jesu wird in Storms Bild der stets jungfräulichen (unschuldigen, unberührten, reinen) Natur _____________ 118 »Religiöses Erleben setzt in der Regel eine religiöse Überzeugung voraus, die unsere emotionale Reaktionsbereitschaft anregt, sich mit ihr verbindet und sie so zu einer religiösen Emotion macht. […] Der Geist kann nur wehen, wo man an ihn glaubt und sich für ihn bereit macht« (Grom, Bernhard: Der Heilige Geist und die menschliche Psyche. Ein Gespräch zwischen Psychologie und Theologie; in: Stimmen der Zeit 135 (2010), H. 3, S. 182-195, hier S. 187). 119 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4 (Anm. 105), S. 393. 120 Theodor Storm an Paul Heyse, 13. September 1871; in: Storm: Briefe. Band 2 (Anm. 99), S. 33-36, hier S. 34. 121 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 1: Gedichte. Novellen. 1848-1867. Herausgegeben von Dieter Lohmeier. Frankfurt/M. 1987, S. 265, V. 16, 14. 122 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1 (Anm. 121), S. 67, V. 12, V. 3f. 123 Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion (Anm. 23), S. 26.

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umgekehrt, die das an einem Menschen begangene Unrecht gnädig vergessen ließe, wenn die christliche Überlieferung dies nicht erfolgreich verhindert hätte. Schon 1852 heißt es in Im Zeichen des Todes: »Und niederschauend von des Todes Warte, | Kam mir der Drang, das Leben zu bestehn«.124 Doch anders als bei Feuerbach, der sub specie vitae dem Tod keine bzw. lediglich eine naturgegebene Relevanz einräumt und aus dieser Perspektive das Leben feiert (hierin folgen ihm Gottfried Kellers Gedichte, die über den irrelevant gewordenen Tod regelrecht triumphieren),125 erscheint das Leben in Storms Texten sub specie mortis begrenzt. Das ›dunkle Auge‹ des Todes liegt stets auf einem Leben, das sich gegen den tödlichen »Feind« im Sinne eines ›Dennoch‹ behaupten muss (Im Zeichen des Todes).126 Mit dem Tod unmittelbar konfrontiert, fällt das Leben schwer: »Es schaut | Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage | Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt«, lautet die eindrückliche Diagnose von Geh nicht hinein auf den Tod des erst 16-jährigen Theodor Reventlow (1879).127 Weil der christliche Trost nicht mehr greift (den Glauben daran habe »die Todesangst« im »Gehirn der Menschen ausgebrütet«, heißt es in Ein Sterbender von 1864), hilft gegen die »rätselhafte Nacht« nur die Liebe. Sie als Einzige ist es, die, laut Storm, für »alle Bitternis und Not des Lebens« »tausendfach« entschädigt und zum Dienst am Leben befähigt.128 Der Literaturwissenschaftler Erich Schmidt sieht darin Storms »lyrisches Evangelium« niedergelegt. Der Autor arbeite einerseits selbst als ein »Alterthumsforscher«, andererseits sei er jenem ›priesterlichen‹ Dichterbild zuzuordnen, das kein Geringerer als Goethe entworfen habe: »[E]insam gehe der gemüthvolle Dichter als ein Priester der Natur umher, berühre jede Staude mit leiser Hand und weihe sie zu Gliedern einer liebevoll übereinstimmenden Familie«.129 _____________ 124 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1 (Anm. 121), S. 63, V. 41f. 125 »Alles bekommt man zuletzt satt, selbst das Leben, und der Mensch wünscht sich daher endlich auch den Tod. Der normale, naturgemäße Tod, der Tod des vollendeten Menschen, der sich ausgelebt hat, hat daher auch gar nichts Erschreckliches« (Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion (Anm. 23), S. 360). – Kellers Gedichte machen die Genugtuung zum Programm, den christlichen Unsterblichkeitsgedanken endgültig verabschiedet zu haben; sie feiern das Leben und setzen die Natur (als deren Urgrund und Ziel) an die frei gewordene Stelle Gottes (Beispiele: Am Himmelfahrtstage 1846, Stille der Nacht, Wetternacht, Ich hab in kalten Wintertagen, Wir wähnten lange recht zu leben). 126 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1 (Anm. 121), S. 63, V. 43. 127 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1 (Anm. 121), S. 94, V. 33-35. 128 Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1 (Anm. 121), S. 81, V. 56; S. 80, V. 43f.; S. 81, V. 82. 129 Schmidt, Erich: Theodor Storm (1880); in: Schmidt, Erich: Charakteristiken. Erste Reihe. Zweite Auflage. Berlin 1902, S. 402-440, hier S. 425, 404, 423f.

BERND AUEROCHS

Fiktionen des heiligen Textes: Nietzsche und Kafka Hoffnungslos steckte ein kleines Segel auf und lehnte sich friedlich zurück. Franz Kafka

I Nietzsche und Kafka zählen zu den wirkungsmächtigsten Schriftstellern der Moderne. Über Nietzsche lernt man, dass er mit einer Aufsehen erregenden Geste der Fundamentalkritik die gesamte philosophische Tradition des Abendlandes und ihre Fixierung auf Wahrheit in Frage gestellt hat. Sein Werk gilt als von Widersprüchen gezeichnet, die gelegentlich zwar in historischer, speziell werkgeschichtlicher Perspektive auflösbar erscheinen,1 jedoch auch nach solcher Historisierung genug an Paradoxien und Unvereinbarem zurücklassen, um die breite Rezeption des Autors quer über feindliche Lager und politische Gegnerschaften hinweg verständlich zu machen. Es gab eine jüdische und eine − nicht im selben Atemzug gesagt – antisemitische Anknüpfung an Nietzsche, eine christliche und eine atheistische, eine völkische und eine sozialistische; einen Nietzsche derjenigen, die begeistert in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs zogen, einen feministischen Nietzsche, einen Nietzsche der Vegetarier und einen Nietzsche für den Zirkel der Lebensreformer auf dem Monte Verità in Ascona.2 Es ist mehr als Philosophenruhm, der Nietzsche zuteil wurde; die Neigung, ihn als kulturelles Ereignis aufzufassen, das eine geschichtliche, und nicht nur philosophiegeschicht-

_____________ 1 2

Man denke etwa an gegensätzliche Motive des Werks, die in unterschiedlichen Werkphasen unterschiedlich stark hervortreten: Hass auf und Liebe zu Sokrates, Hass auf und Liebe zu Jesus Christus etc. Für einen umfassenden Überblick über die Nietzsche-Rezeption (allein im deutschsprachigen Raum) vgl. Aschheim, Steven E.: The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. Berkeley − Los Angeles – Oxford 1992.

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liche, Zäsur bedeutet, war groß und wirkt immer noch nach.3 Ähnlich steht es um den Ruhm Franz Kafkas. Kafka hat uns exemplarisch etwas gelehrt, dessen Konsequenzen kaum jemand nachzuleben wagt: die moderne Welt, in der wir leben, als Rätsel aufzufassen und nichts in ihr als selbstverständlich zu akzeptieren. Das hat ihn zu einer zentralen Figur der Moderne, und nicht nur der literarischen Moderne, gemacht. Nur ein − wenngleich nicht ganz unbeachtlicher − Teil dieser umfänglichen Rezeption der beiden Autoren verläuft in der religiösen Richtung. So hat man früh begonnen daran zu arbeiten, Nietzsche zum Verkünder einer neuen Religion zu stilisieren.4 Die ersten Schriften von Max Brod, Willy Haas und Hans Joachim Schoeps über Kafka hätten durchaus in eine vergleichbare Richtung führen können; Walter Benjamins Mahnung, Kafka sei kein »Religionsstifter« gewesen, verweist auf eben diesen Hintergrund der frühen Kafka-Rezeption.5 Sucht man nach Elementen des Werks, die bei Nietzsche wie bei Kafka die religiöse Richtung der Rezeption hervorlocken konnten, so stößt man bald darauf, dass beide sich in ihren Schriften in einer reflektierten Weise des Modells ›heiliger Text‹ bedienen. Die folgenden Ausführungen werden zunächst dieses Modell skizzieren, um anschließend seinen unterschiedlichen Anverwandlungen bei Nietzsche und bei Kafka nachzugehen. Dabei wird uns sowohl der paradoxe Versuch, in der Moderne selbst heilige Texte zu schreiben, als auch das Nachdenken über die Paradoxien dieses Versuchs begegnen.

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Der anspruchsvollste Versuch, in diesem Sinn einen Nietzsche-Mythos zu konstruieren, entstammt dem George-Kreis: Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. Vgl. Hart, Julius: Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert. Florenz ― Leipzig 1899; Kalthoff, Albert: Zarathustrapredigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung Friedrich Nietzsches. Leipzig 1904; Maurenbrecher, Max: Über Friedrich Nietzsche zum deutschen Evangelium. Gottesdienste, Andachten und religiöse Auseinandersetzungen. Dresden 1926. − Vgl. auch den Überblick im Kapitel ›After the Death of God: Varieties of Nietzschean Religion‹ in: Aschheim, Steven E.: The Nietzsche Legacy (Anm. 2), S. 201–231. »Kafka war auch ein Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht.« ― »Er war kein Mantiker und auch kein Religionsstifter« (Benjamin, Walter: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages [1934]; in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II. 2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 409–438, hier S. 424f.).

Fiktionen des heiligen Textes

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II Heilige Texte haben innerhalb der Tradition, in der sie als solche gelten (oder bei denen, die Kenntnisse dieser Tradition besitzen), eine gewisse unverwechselbare Kenntlichkeit. Sie zeigen eine sie von anderen Texten klar unterscheidende sprachliche Physiognomie, die sich an ihrer Rhetorik, an ihrer Syntax und vor allem auch an ihrer Semantik festmachen lässt − bis hinunter zu spezifischem Vokabular, das sich gelegentlich nur mehr in den heiligen Texten einer bestimmten religiösen Tradition antreffen lässt. Diese Eigenschaft bedeutet, dass bei denjenigen, die in diesem Bereich kundig sind, eine Glocke läutet, sobald eine bestimmte Sprache angeschlagen wird. Nehmen wir etwa das folgende Beispiel: Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.6

Wer auch nur ein wenig Kenntnis entweder der jüdischen oder der christlichen Tradition hat, wird ohne große Mühe erkennen, dass hier das prophetisch-messianische Register benutzt wird, und zwar mit Hilfe eben jener Floskeln und Formeln, in denen sich dieses Register im Judentum wie im Christentum ausgeprägt hat. Wer mit hohem, ernstem Pathos im abendländischen Kulturkreis von einer gewaltigen Umwälzung aller Dinge, nach der nichts mehr sein wird wie zuvor, zu reden gedenkt, ist gut beraten, wenn er diese Sprache verwendet. Wer darüber hinaus – um ein zunehmend archaisch klingendes Wort zu gebrauchen – bibelfest ist, wird wissen, dass sich der eben zitierte Text in der Bibel nirgends findet. Er stammt aus Rainer Maria Rilkes Feder und gehört den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge an; Rilke hat sich das prophetisch-messianische Register für seinen Text anverwandelt. Die Übernahme dieses Sprachduktus ist bei Rilke durchaus ernst, nicht parodistisch. Trotzdem macht sie allein aus Rilkes Worten noch keinen heiligen Text. Das Bewusstsein, dass man einen Roman liest, lenkt das Verständnis der Zeilen Rilkes; man wohnt der Entfaltung der inneren Geschichte des Malte Laurids Brigge bei und nimmt seinen pathetischen Ausbruch als Teil der komplexen subjektiven Selbstcharakteristik einer _____________ 6

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910); in: Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 3: Prosa und Dramen. Herausgegeben von August Stahl. Frankfurt/M. − Leipzig 1996, S. 453-635, hier S. 490.

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fiktiven Romanfigur – ein Gedankenspiel, an dem man seine Freude haben kann, das aber die Freude nicht zu etwas anderem als einem Gedankenspiel macht. Man kann hier auch die Gegenprobe vornehmen und sich fragen, ob es möglich wäre, einen überlieferten heiligen Text als Fiktion aufzufassen, ohne dass der Text dadurch die Eigenschaft verlöre, heiliger Text zu sein. Nehmen wir an, die Evangelien wären ein hübscher kleiner griechischer Roman, mit den wichtigsten aufregenden Bestandteilen der Gattung wie Wanderpredigten, Gerichtsverhandlungen, Scheintoden und Rettungen aus Grabkammern. Die zentralen Gehalte der christlichen Religion wären der tief ironischen Phantasie eines begabten antiken Romanschriftstellers entsprungen, eines zweiten Lukian von Samosata. Jemand, der bereit wäre, dies zu akzeptieren, wäre kein Christ mehr. Man sieht, wie sich ›Fiktion‹ und ›heiliger Text‹ aneinander reiben. Gerade die Transposition des heiligen Textes ins Medium der Literatur durch sprachliche imitatio macht es also unwahrscheinlich, dass Rilkes Text als heiliger Text aufgefasst werden kann. Sie auratisiert ihn als literarischen Text, lässt es aber zugleich gar nicht erst zu, dass er dem Leser als heiliger Text entgegentritt. Man könnte immer sagen, um sich vor der gewaltigen Sprache des Dichters in Sicherheit zu bringen: ›Das ist nur Rilke. Das steht in einem Roman. Das ist bloße Literatur‹. Der Grund für die Möglichkeit dieser Abwehr liegt darin, dass Rilke sich beim Fingieren eines heiligen Textes auf die sprachliche imitatio beschränkt hat. Er hat den institutionellen Rahmen nicht mitfingiert, auf den heilige Texte angewiesen sind. Im Gegenteil hat er einen anderen institutionellen Rahmen − den der Literatur − ganz selbstverständlich akzeptiert, einen Rahmen, in dem Romane geschrieben, veröffentlicht und gelesen werden. In diesen Romanen mag stehen, was will (auch Anleihen bei den heiligen Schriften einer Offenbarungsreligion): Sie werden, im Rahmen der Institution ›Literatur‹, in dem sie stehen, nicht als heilige Texte wahrgenommen werden. Das ist also die eine Möglichkeit, wie man heilige Texte fingiert: Man imitiert sie sprachlich im Medium der Literatur. Verzichtet man freilich darauf, sich auch um den institutionellen Rahmen zu kümmern, in dem heilige Texte stehen, so wird aus diesen Texten niemals etwas anderes werden als eben − Fiktion. Warum aber ist der institutionelle Rahmen für heilige Texte so wichtig? Heilige Texte gelten zunächst und vornehmlich als Offenbarung einer göttlichen Autorität, die ihnen ihre absolute Geltung sichert bzw. sichern soll. Zwar gibt es unterschiedliche Auffassungsweisen einer solchen Offenbarung, z. B. verschiedene Grade der Vermitteltheit der Inspiration, die für die Entstehung heiliger Texte verantwortlich gewesen sein soll. Und diese göttliche Autorität kann selbstverständlich bezweifelt werden, wie sie auch immer bezweifelt worden ist − nicht erst in der

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modernen Religionskritik, sondern auch schon in den wechselseitigen Auseinandersetzungen der Offenbarungsreligionen untereinander. Dennoch kann die Inanspruchnahme der Offenbarungsautorität als Kennzeichen heiliger Texte gelten, weil sie ein quasi weltliches Pendant auf Ebenen hat, die auch für ein völlig ungläubiges Bewusstsein beobachtbar sind. Heilige Texte gehören in den Buchreligionen zu einem geschlossenen, genau umgrenzten Kanon von Schriften. Diese Schriften, die heilige Schrift der jeweiligen Religion, stiften eine Gemeinschaft von Gläubigen, die ihre individuelle Identität wesentlich, wenn auch in der Regel nicht ausschließlich, durch dieses Textkorpus beglaubigen. Die kollektive Identität einer solchen religiösen Gemeinschaft wird in der Geschichte dadurch bewahrt, dass man sich kontinuierlich auf die gründenden heiligen Texte zurückbezieht. Der stete Rückbezug bildet nach und nach eine Tradition aus, deren Kern der Kommentar darstellt: die deutende Aneignung des alten (und immer älter werdenden) heiligen Textes für die jeweilige Gegenwart, die die ansonsten drohende Gefahr abweist, der Text könne versteinern, als abgestorbenes, unverständliches, den Zeitgenossen nichts mehr zu sagen habendes »Fossil«7 zurückbleiben. Der autoritative Status heiliger Texte wäre nicht möglich, wenn diese Texte nicht in ihrer Gesamtheit die Fähigkeit beweisen würden, als Grundlage einer (religiösen) Lebensführung zu dienen. Man richtet sich nach ihnen, gibt vor, sich nach ihnen zu richten, oder versucht es wenigstens. In der praktischen Bedeutsamkeit der heiligen Texte liegt wohl auch der Grund dafür, dass Wahrheitsansprüche zwar in aller Regel von heiligen Texten erhoben werden, diese sich aber trotzdem im Bewusstsein von Gläubigen einer eigentümlichen Immunität gegenüber Falsifikationen erfreuen. Der heilige Text ähnelt hierin mehr der Nahrung als anderen Texten mit propositionalem Gehalt. Ist Brot wahr? Ich esse es täglich und es nährt mich gut, wird der Gläubige sagen. Nach dem bislang Gesagten scheint es verhältnismäßig leicht, die mimetische Angleichung an die Physiognomie des heiligen Textes zu versuchen. Man borgt erfolgreich die semantische Intensität des alten heiligen Textes für die eigenen, anders gearteten modernen Zwecke, z. B. für die andeutende Prophezeiung einer künftigen Poetik. Hingegen scheint es verhältnismäßig schwer, Erfolg beim Versuch zu haben, den ganzen für heilige Texte relevanten institutionellen Rahmen neu zu erschaffen: mit göttlicher bzw. quasigöttlicher Autorität zu sprechen, eine Gemeinschaft von Gläubigen zu bilden und deren Identität zu begründen, eine Kommentartradition ins Leben zu rufen und schließlich – last but not least – eine zumindest eine gewisse Anzahl von Menschen überzeugende Anleitung zur Lebensführung zu bieten. Das ist der zweite, anspruchsvollere _____________ 7

So bei Agus, Aharon Ronald Ellis: Heilige Texte. München 1999, S. 42.

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Sinn, den man dem Ausdruck ›Fiktionen des heiligen Textes‹ geben kann. Hier steht hinter dem Fingieren des heiligen Textes der Anspruch, den eigenen Text tatsächlich als heiligen Text durchzusetzen. Und von Fingieren kann man weniger sprechen, weil hier ein spielerisches Element (und damit Unernst) im Spiel ist, als vielmehr, weil neue heilige Texte naturgemäß erst einmal noch nicht als solche akzeptiert werden. Die Schwierigkeit dieses zweiten Projekts, heilige Texte nicht nur – in Mimikry an ältere heilige Texte – zu schreiben, sondern ihnen auch ihre institutionelle Verwurzelung zu sichern, hat in der Moderne einige wenige nicht davon abgehalten, sich an diesem Projekt die Zähne auszubeißen: z. B. Richard Wagner, Stefan George oder Friedrich Nietzsche. Ihre Motive stellen sich im Rückblick als ausgesprochen verwandt dar. Sie teilen die Überzeugung, dass sich die überlieferten religiösen Traditionen verbraucht oder gar als unheilvoll erwiesen haben. Sie sehen das Bedürfnis nach einem neuen kulturellen Fundament für die Gegenwartsgesellschaft, und sie stellen – großzügig, wie Wagner, George und Nietzsche nun einmal waren – kulturell fundierende Texte bereit, die eine neue Kultur oder, wenn man so möchte, eine neue Religion zu tragen imstande wären. Freilich gibt es signifikante Unterschiede innerhalb dieses Triumvirats. Sowohl Wagner als auch George hatten eine gewisse intensive Aufmerksamkeit für ihr institutionelles Umfeld, und sie beackerten es fleißig: Wagner mit der Festspielidee und Bayreuth, George mit seinem Kreis.8 Nietzsche hingegen setzte ganz auf sich selbst, als umstürzendes Ereignis in der Geschichte des menschlichen Geistes.

III Obwohl Nietzsche bekanntlich ein Gegner des Historismus war, hat er sich doch nicht völlig davon lösen können. Einer der Restbestände des Historismus ist die Art und Weise, wie Nietzsche im Spätwerk seine eigene Größe imaginierte. Er sah sich als eine, ja als die Gestalt an der Grenze zweier Epochen, die der vergangenen Epoche mit großer Geste den Abschied gibt und die neue einleitet, die alten Tafeln zerbricht und die neuen, die keine Tafeln mehr sein sollten, hervorholt. Der Haupttext, _____________ 8

Vgl. Spotts, Frederic: Bayreuth. Eine Geschichte der Wagner-Festspiele. Aus dem Englischen von Hans J. Jacobs. München 1994; Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995; Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945. Tübingen 1998.

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in dem dieses Geschehen sowohl inszeniert wie bezeugt werden sollte, ist Also sprach Zarathustra. Nietzsches Zarathustra ist ein offenkundiges Beispiel für das, was ich die sprachliche imitatio, also die Angleichung an die Physiognomie heiliger Texte, genannt habe. Biblisch getönte Sprache begegnet einem in diesem Buch auf Schritt und Tritt; als relevantes Gattungsmuster ist vornehmlich auf die Evangelien zu verweisen: mit der Erzählung der Lebensgeschichte ihres Helden unter Zuhilfenahme nicht weniger Apophthegmata und Parabeln. Ergänzend könnte man die Beobachtung hinzufügen, dass Zarathustra eine Gestalt aus der Reihe der großen politischen und religiösen Gesetzgeber ist, die der Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts nützliche Dienste bei der Profilierung der so genannten ›natürlichen Religion‹ leisteten – noch bevor man mit AnquetilDuperrons Zend-Avesta (1771) Kenntnisse der persischen Religion aus erster Hand zur Verfügung hatte und die Doktrin von ›le Tems sans Bornes‹ mit seinem Namen verband. Indes ist Also sprach Zarathustra kein so harmloses Beispiel für die Mimesis heiliger Texte wie die bereits herangezogene Stelle aus Rilkes Malte Laurids Brigge. Die Evangelien-Imitation im Zarathustra soll nicht nur semantische Intensität hergeben; es geht Nietzsche tatsächlich darum, einen neuen heiligen Text zu produzieren, die alten Autoritäten zu stürzen und sich selbst an ihre Stelle zu setzen. Die archaischen Darstellungsweisen im Zarathustra, speziell die stilisierte Mündlichkeit aller dort thematisierten Lehrzusammenhänge, weisen freilich darauf hin, dass in der Moderne die einem heiligen Text gemäße Entfaltung innerhalb einer Gemeinde erschwert sein könnte. Nietzsche selbst sieht voraus, dass sein Zarathustra nach der Veröffentlichung notwendig falsch kategorisiert würde: als bloße Literatur. »Mich ekelt davor«, schreibt er an Heinrich Köselitz, »daß Z als UnterhaltungsBuch in die Welt tritt; wer ist ernst genug dafür! Hätte ich die Autorität des ›letzten Wagner‹, so stünde es besser. Aber jetzt kann mich Niemand davon erlösen, zu den ›Belletristen‹ geworfen zu werden. Pfui Teufel! ―«.9 In Briefen aus den 1880er Jahren klagt er verschiedentlich über seinen Mangel an Schülern, die seine neue Lehre fruchtbar machen würden.10 _____________ 9

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Nietzsche an Heinrich Köselitz, 6. April 1883; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in acht Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München − New York 1986. Band 6: Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin – New York 1986, S. 357-359, hier S. 359 (im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Angabe der Sigle ›KSB‹ sowie der Band- und Seitenangabe zitiert). Nietzsche an Heinrich Köselitz, 26. August 1883: »Worum ich Epicur beneide, das sind seine Schüler in seinem Garten« (KSB 6, 436); an Franz Overbeck, 6. November 1884: »Denn ich habe, kurz gesagt, noch bei Lebzeiten Jünger nöthig« (KSB 6, 554); an Franz Overbeck, 31. März 1885: »Mein Verlangen nach Schülern und Erben macht mich hier und da ungeduldig« (KSB 7, 34). − Zur Problematik des Schüler-Habens (oder Nicht-Habens)

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Und doch ist diese neue Lehre keine, der mit der Gründung einer Gemeinde wirklich gedient wäre. Sie verlangt eine Nachfolge, die mit dem Prinzip der Nachfolge bricht; sie bezeugt sich in einem ›heiligen Text‹, der das Ende aller heiligen Texte bedeuten soll. Am Ende des ersten Teils des Zarathustra artikuliert der von seinen Jüngern scheidende Zarathustra die Paradoxie seiner intendierten Wirkung klar: Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! | Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. | Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. 11

Zweideutig ist die Aufforderung an die ›Jünger‹: Wer an Zarathustra ›glaubt‹, wird ihm und seiner Lehre nicht gerecht. Wer sich aber von ihm abkehrt – woran soll man merken, dass es Zarathustra war, dem er etwas verdankt? Zweideutig ist aber auch die Sprache. Sie spricht eine Forderung aus, die aus dem Munde eines philosophischen Lehrers kommen könnte, dem an der Selbständigkeit seiner Schüler alles gelegen ist. Aber sie bedient sich dabei eines herrischen Archaismus (›Ich heiße euch‹), und sie deutet an, mit der Anspielung auf die Verleugnung Petri, dass die verlangte Abkehr der Schüler das Martyrium des Lehrers, den Beginn seiner Passion bedeutet. Die Spannung zwischen einem Selbstverständnis als Philosoph und einem als Messias begleitet Nietzsche nach dem Zarathustra bis an das Ende seines bewussten Lebens, wobei der Schwerpunkt der eigenen Erfahrung sich zunehmend dem leidenden Messias zuneigt.12 In diesem Rahmen rückt die Präsentation seiner selbst in den Mittelpunkt von Nietzsches Schreiben. Nachdem mit dem Zarathustra der entscheidende heilige Text verfasst und in die Welt ausgesandt worden ist, versucht Nietzsche gleichsam den institutionellen Rahmen, dessen heilige Texte bedürfen, selbst zu erschaffen und mindestens den Anfang einer Kommentartradition zu begründen, die in eine unabsehliche Wirkung seiner

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vgl. das immer noch lesenswerte Sokrates-Kapitel in Bertram: Nietzsche (Anm. 3), S. 308340. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [Erster Teil]; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 4: Also sprach Zarathustra. München 1980, S. 101 (aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle ›KSA‹ sowie der Band- und Seitenangabe). Mit dieser Entwicklung befasst sich Detering, Heinrich: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Göttingen 2010 (vgl. dort insbesondere das Kapitel ›Kreuztragung‹, S. 138-145).

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Person zu münden bestimmt ist.13 Dies tut er, indem er die eigene literarische Praxis, speziell den Aphorismus, zur Praxis einer knappen Rede stilisiert, die eines Kommentars bedarf und seiner würdig ist; dieser Kommentar aber sichert ihr die Ewigkeit. In Götzen-Dämmerung heißt es etwa: Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? ― Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein ― ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ›Ewigkeit‹; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, ― was jeder Andre in einem Buche nicht sagt... | Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. ― 14

Und in der im Sommer 1887 in Sils Maria niedergeschriebenen Vorrede zur Genealogie der Moral heißt es, wieder mit Bezug auf den Zarathustra: Was zum Beispiel meinen ›Zarathustra‹ anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts geniessen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ›entziffert‹; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle ›Auslegung‹ nenne: ― dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist ― und darum hat es noch Zeit bis zur ›Lesbarkeit‹ meiner Schriften ―, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ›moderner Mensch‹ sein muss: das Wiederkäuen...15

In solchen Ausführungen über das eigene Werk sucht Nietzsche einige Rahmenbedingungen für seine neuen heiligen Texte zu fixieren. Die Struktur von Text und Kommentar, die die Bedeutung des zu kommen_____________ 13

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»Und gewiß ist Dies: ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden, und es kann so kommen, daß einmal ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun« (Nietzsche an Malwida von Meysenbug, erste Juniwoche 1884, KSB 6, 510). Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. KSA 6, 55-161, hier 153. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. KSA 5, 245-412, hier 255f. − Gemeint ist die ›Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?‹ (KSA 5, 339412), der ein Aphorismus aus Also sprach Zarathustra als Motto vorangestellt ist.

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tierenden Textes sichert, indem sie ihm eine kaum auszuschöpfende Sinnfülle zuspricht, steht hier im Vordergrund. Wichtig ist aber auch der mit dem Wiederkäuen von Kühen gegebene Hinweis auf die (ältere) Praxis der Wiederholungslektüre, die, statt, wie die moderne Bildung es verlangt, sich auf immer neue Bücher zu stürzen, ein und denselben Text (vorzugsweise einen heiligen) um und um wendet und wieder und wieder dem intensivsten Studium unterzieht. Die Emphase auf Ewigkeit, Tradition und Kommentar, mit der Nietzsche in diesen Passagen seine eigenen Texte zu auratisieren versucht, steht aber auch in unverkennbarer Spannung zu Elementen, die sich der Neuproduktion von heiligen Texten nicht so leicht assimilieren lassen. Hier wäre zunächst die auffällige Konzentration auf die Gattung Aphorismus zu nennen. Zwar verträgt sich die Kürze und Prägnanz, die traditionell dem Aphorismus zugeschrieben wird, gut mit der (erst durch einen Kommentar zu erschließenden) verborgenen Sinnfülle des heiligen Textes; und Spruchgut (Weisheitsliteratur) findet sich immer wieder in den überlieferten Kanones heiliger Schriften. Die literarisch-philosophische Gattungsgeschichte des Aphorismus – und gerade ihre für Nietzsche besonders relevanten Abschnitte in der französischen Moralistik – zeigt jedoch auch eine besondere Vorliebe für Ironie, Skepsis und Kritik (und nicht selten Religionskritik). Auch der aus den zitierten Passagen sprechende artistische Schriftstellerstolz Nietzsches, der sich auf den (nur vom gebildeten ›Kenner‹ ganz zu würdigenden) funkelnden intellektuellen Glanz seiner modernen Aphorismen richtet, fügt sich nicht recht in das Pathos der Zeitenwende, ebenso die merkwürdige Evokation der Aktualität und des literarischen Marktes, auf die Nietzsche in diesem Zusammenhang nicht verzichten zu können scheint: Kaum ist der Menschheit ihr tiefstes Buch gegeben worden, steht als Sequel schon die nächste Sensation, das unabhängigste Buch, unmittelbar bevor. Die Amalgamierung des Alten mit dem Neuen, die zu leisten ist, will man in der Moderne statt bloßer Literatur heilige Texte machen, bleibt eben eine schwierige Angelegenheit, selbst für einen willensstarken Geistesheros wie Nietzsche.

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IV Dass sich auch Kafka16 – mindestens einmal in seinem Leben – an einer für die Menschheit bedeutsamen Zeitenschwelle situierte, ist vielleicht weniger bekannt als bei Nietzsche. Das mag daran liegen, dass Kafka bescheidener war, obwohl es ihm – einem weitverbreiteten Vorurteil entgegen – nicht an Selbstbewusstsein mangelte. Wenn Kafka den Satz niederschreibt: »Ich bin Ende oder Anfang«, so klingt er gleich ganz anders, als er bei Nietzsche klingen würde – weniger gewaltsam, weniger herrisch, selbstverständlicher, glaubwürdiger.17 Kafka nannte keine ikonoklastische Geisteshaltung sein eigen; er dachte nicht daran, das Alte unter die Füße zu treten; und das Neue, Unerhörte, auf das Nietzsche so ungeheuren Wert legte – Kafka (der »Schüler Kafka«, wie Brecht als ›Laotse‹ ihn passenderweise nannte)18 hätte gar keine Auskunft darüber geben können, worin dieses Neue denn bestehen sollte. Hingegen beunruhigte es ihn, je älter er wurde, desto mehr, dass das Alte nicht nur an Autorität verloren hatte, sondern gleichsam nur noch gerüchtweise bekannt, von der Gefahr des gänzlichen Verschwindens bedroht oder jedenfalls in der Moderne nur noch in entstellter Fratzengestalt wahr_____________ 16

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Die Kafka-Forschung hat die Thematik des heiligen Textes bislang vorwiegend auf die Heiligung des Schreibens überhaupt und damit auf den esoterischen Charakter von Kafkas ›Schrift‹ bezogen: auf seinen »unentwegten Willen zur Schrift«, seine »Selbstaufopferung im Schreiben« (vgl. Schärf, Christian: Franz Kafka. Poetischer Text und heilige Schrift. Göttingen 2000, S. 44). − Die Gesichtspunkte, unter denen im Folgenden Kafkas Fiktionen heiliger Texte betrachtet werden, haben demgegenüber weit weniger Aufmerksamkeit gefunden, sind allerdings für Walter Benjamins, Gershom Scholems und Elias Canettis Auffassungen von Kafkas Werk durchaus zentral gewesen. »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang« (Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Bd. 2. Herausgegeben von Jost Schillemeit. Frankfurt/M. 1992, S. 98; im Folgenden wird aus der Kritischen Kafka Ausgabe des S. Fischer Verlages [KKA] unter Angabe der Siglen ›D‹ für die ›Drucke zu Lebzeiten‹ und ›NuF 1/2‹ für die ›Nachgelassenen Schriften und Fragmente‹ sowie der Seitenangabe zitiert). − Die »Aufgabe«, von der Kafka in dieser denkwürdigen Reflexion spricht (den »Mangel des Bodens, der Luft, des Gebotes« zu ersetzen und Boden, Luft, Gebot wieder zu schaffen), ist »schon gewiß oft gestellt worden« (NuF 2, 98), also gerade nicht zum ersten Mal ausschließlich für ihn. Die entscheidende geschichtliche Entwicklung – womöglich das einzige, was als geschichtliche Entwicklung wirklich zählt – ist der Traditionsverlust, das ›Abirren‹ der Forschungen eines Hundes (NuF 2, 456). Benjamin, Walter: Gespräche mit Brecht. Tagebuchaufzeichnungen. Svendborg, 5. August 1934; in: Benjamin, Walter: Versuche über Brecht. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1978, S. 156-158, hier S. 157.

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nehmbar war. Spätestens seit dem novellistischen Versuch In der Strafkolonie hat Kafka immer wieder in seinem Werk das Verhältnis von Tradition und Moderne thematisiert, und die Unzugänglichkeit und die Entstellung (oder auch die »Erkrankung«, wie Benjamin sagte)19 der Tradition sind wichtige Themen sowohl in seinem mittleren wie vor allem auch in seinem späten Werk. Dementsprechend unternimmt Kafka keinen Versuch, seine Texte den Zeitgenossen als neue heilige Texte aufzuzwingen. Stattdessen thematisiert er die Problematik des heiligen Textes in der Moderne, indem er fiktionale Arrangements schafft, in denen vorgeblich alte Überlieferung als autoritative und kommentarwürdige Stimme aus der Vergangenheit in gegenwärtige Reflexionszusammenhänge hinüberreicht. Kafka gibt also die von ihm mit Sorgfalt als alt erfundene Überlieferung zusammen mit ihrem brüchig gewordenen institutionellen Rahmen. Man bekommt hier nicht mehr als erratische Bruchstücke zu sehen, die als Spuren des vergessenen autoritativen Alten gelten könnten, auffällig häufig aber auch die Wahrheit über die moderne Situation sagen. Als Muster kann der Landarzt-Band von 1920 gelten. Er wird eingeleitet von dem denkwürdigen Stück Der neue Advokat, in dem Dr. Bucephalus, seines Zeichens einst Streitross Alexanders des Großen, aufgenommen wird in das moderne Kollektiv einer Beamtenschaft. Nicht Alexander, der große historische Held, hat überlebt; nicht einmal seinen Typus gibt es mehr in der Moderne. Das Pferd hingegen, das Tier, das dem Helden zu Diensten war, ragt als Relikt in die Moderne hinein − selber ein abgesprengtes Bruchstück der Vergangenheit, studiert es die Tradition. Von Dr. Bucephalus heißt es: »[…] bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher« (D 252). So unscheinbar dieser letzte Halbsatz klingt, so sehr lohnt es sich, ihm Wort für Wort Aufmerksamkeit zu schenken. Es sind ›alte Bücher‹, also eine reich verzweigte Überlieferung, die einer Gemeinschaft angehören und für diese wichtig sind. ›Blätter‹ mag an den verstreuten Charakter dieser Überlieferung erinnern sowie an die besondere Aura der Handschriftenkultur.20 ›Wenden‹ schließlich – hin und her, immer erneut studieren – ist eine talmudische Vokabel. »Wende sie [die Tora] um und um, denn alles _____________ 19 20

Benjamin an Gershom Scholem, 12. Juni 1938; in: Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Bd. 6: 1938-1940. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M. 2000, S. 105-115, hier S. 112. Schriften wurden schon ›Bücher‹ genannt, lange bevor die Druckerpresse ihre segensreiche Wirkung entfaltete. Die Zählung von älteren Schriften orientiert sich häufig am Blatt, nicht an der Seite – so beim Talmud, bei dem die zusätzliche Angabe von Vorder- (recto) und Rückseite (verso) des jeweiligen Blattes, wie auch sonst in diesen Fällen üblich, durch die kleinen Buchstaben a bzw. b erfolgt.

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ist in ihr«, heißt der als Aufforderung zum intensiven Studium gern zitierte Satz der Mischna aus dem Traktat Avot.21 Der neue Advokat ist das allererste Stück des Landarzt-Bandes. Ihn als Proömium und Ankündigung für alles Folgende aufzufassen, mag nicht allzu weit hergeholt erscheinen. Der letzte Halbsatz des kurzen Stücks (»liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher«) würde demnach den Gedanken erlauben, alles Nachfolgende seien vereinzelte Bruchstücke der Tradition, in der Moderne wiederentdeckt durch Studium. Wie auch immer es sich damit verhalten mag: Drei der weiteren Texte von Ein Landarzt sind in ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang ›heilige Texte‹ (›Sagen‹ bzw. ›Legenden‹), die als Teil einer größeren Überlieferung präsentiert werden. Einmal handelt es sich dabei um die Parabel Vor dem Gesetz. Im Process-Roman führt sie der Geistliche, bevor er sie Josef K. vorträgt, damit ein, dass er K. darauf aufmerksam macht, die Geschichte, die er hören werde, stehe »in den einleitenden Schriften zum Gesetz«.22 Die Parabel wird damit als ein Text charakterisiert, der einem umfassenderen autoritativen Textkorpus angehört, zu dem gewiss nicht nur die einleitenden Schriften zum Gesetz, sondern auch die Gesetzesschriften selbst gehören. Dass sich eine reiche Kommentarliteratur allein schon an diesen Text anschließt (wie erst an das imaginäre Textkorpus, als dessen Teil Vor dem Gesetz vorgestellt wird), zeigt das Gespräch, in das der Geistliche nach seiner Erzählung Josef K. verwickelt. Ironischerweise spricht die mit dem Prunk der überlieferten Autorität inszenierte Parabel gerade die moderne, traditionsentblößte Situation an, in der sich Josef K. befindet, jene »Grenze zwischen Religion und Nihilismus«, von der Gershom Scholem in Bezug auf Kafka sprach.23 Und in potenzierter Ironie erweist sich der Moderne, Josef K., für die Deutung seiner Situation, die ihm geliefert wird, als nicht ansprechbar.24 Die beiden anderen Texte, Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes Blatt, gehören dem Komplex Beim Bau der chinesischen Mauer an: dem Entwurf einer stark von Traditionen bestimmten, aber in ihrem Traditionalismus unsicher und ratlos gewordenen Gesamtgesellschaft durch einen kleinen Amateurgelehrten, der gerade einmal »die oberste Prüfung der untersten _____________ 21 22 23 24

Mischna, Traktat Avot 5, 25. Kafka, Franz: Der Proceß. Herausgegeben von Malcolm Pasley. Frankfurt/M. 1990, S. 292. Scholem, Gershom: Zehn unhistorische Sätze über Kabbala; in: Scholem, Gershom: Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/M. 1970, S. 264-271, hier S. 271. Eine ausführliche Interpretation von Vor dem Gesetz im Kontext der hier nur skizzierten Überlegungen findet man in Auerochs, Bernd: Innehalten vor der Schwelle. Kafkas Vor dem Gesetz im Kontext der traditionellen Parabel; in: Lauterbach, Dorothea / Spörl, Uwe / Wunderlich, Uli (Hrsgg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Mit fünf Abbildungen. Göttingen 2002, S. 131-149.

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Schule« (NuF 1, 340) abgelegt hat und in der gewaltigen chinesischen Hierarchie einen eher unteren Rang zu bekleiden scheint. Man hat in den letzten Jahrzehnten, was dieses Textkonvolut angeht, vermehrt Kafkas Anschluss an den europäischen Orientalismus und dessen China-Diskurs betont.25 Dieser Anschluss betrifft vornehmlich einen Punkt: die europäische Phantasie von der chinesischen Geschichtslosigkeit. Sie besteht in der Vorstellung eines rationalen Aufbaus von Staat und Gesellschaft, der durch eine über Jahrhunderte konstant bleibende und tief verwurzelte Leitideologie, den Konfuzianismus, gefördert und bewahrt worden ist. Die Einfälle der Barbaren, die es in China genauso wie in Europa gibt, führen, anders als in Europa mit seinem Decline and Fall of the Roman Empire, nicht zur Entstehung neuer Reiche und zum Umbau der gesellschaftlichen Ordnung, mithin zu ›Geschichte‹. Nicht die Chinesen werden in China zu Barbaren; immer wieder assimilieren sich die Barbaren und übernehmen die unveränderliche chinesische Zivilisation. Nicolas Freret, der Sekretär der Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres im frühen 18. Jahrhundert, hat dieses (natürlich stark revisionsbedürftige) China-Bild Europas zusammengefasst: »Dans le système Chinois, tout est éternel, rien ne commence ni ne cesse d’exister«.26 Kafka benutzt diesen Vorstellungskomplex aus dem europäischen China-Diskurs im Sinne einer Unterwanderung des Prinzips Geschichte, deren Kern er in Nr. 6 der Zürauer Aphorismen in die Worte fassen wird: »denn es ist noch nichts geschehn«.27 Mit federleichter Komik entwirft er »das unendliche China« (NuF 1, 342), in dem die maßlosen Ausdehnungen in Raum und Zeit dazu geführt haben, dass jede Ordnung der Geschichte durcheinandergebracht wurde. Tote Kaiser gelten als lebende, lebende als tote; an alte Verordnungen hält man sich, und die aktuellen werden heimlich verlacht (vgl. NuF 1, 352-354). Damit kann sich die Gegenwart aber nicht mehr als eine machtvolle Zeit etablieren, die sich stolz von den Vergangenheiten abhebt, die sie abgelöst hat. Die Vergangenheit ist immer noch da. Wir sind nie modern gewesen. Gerade die Gegenwart hat in _____________ 25

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Vgl. Goebel, Rolf J.: Constructing China. Kafka’s Orientalist Discourse. Columbia 1997. − Der methodische Fehler dieser Literatur liegt häufig darin, dass sie aus Kafkas Anknüpfung zugleich dessen Projekt macht. Wenn Goebel etwa meint, es wäre Kafkas Absicht gewesen »to critique the Western project of representing the Orient« (S. 2), so verwandelt er Kafka in einen kleinen, ehrgeizigen kritischen Literaturwissenschaftler der Ära nach Edward Said, was er denn vielleicht doch nicht gewesen ist. Mémoires de Littérature tirés des Registres de l’Académie Royale des Inscriptions et BellesLettres. La Haye 1719-1724; Amsterdam 1724ff. Bd. 9, S. 362 (zitiert nach Pocock, John G. A.: Barbarism and Religion. Volume One: The Enlightenments of Edward Gibbon, 1737-1764. Cambridge 1999, S. 165). »Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehn« (NuF 2, 114).

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einer durcheinandergebrachten Zeit keine unbestrittene Geltung mehr; Kafkas Chinesen führen »ein Leben, das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht« ( NuF 1, 354f.).28 Die beiden ›heiligen Texte‹29 aus dem China-Komplex, Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes Blatt, thematisieren auf unterschiedliche Weise eben diese geschichtslose Situation, die sich von einer sehr alten Vergangenheit im Grunde nie hat lösen können. Ein altes Blatt unterläuft die für jede Fortschrittsgeschichte elementare Opposition von Barbarei und Zivilisation. Nicht nur, dass die eingefallenen Nomaden den zivilisierenden Schritt vom Rohen zum Gekochten noch nicht vollzogen haben; in ihrer unbezähmbaren Gier essen sie, wie das Beispiel des ihnen vom Fleischer vorgeworfenen Ochsen zeigt, sogar das Lebendige (vgl. NuF 1, 360).30 Und sie sind mitten unter uns: im Zentrum der Zivilisation lagernd vor dem kaiserlichen Palast. Eine kaiserliche Botschaft macht den heiligen Text und seine kommunikative Struktur offensichtlich selbst zum Thema. Indem die ›Sage‹ Raum und Zeit (»und soweiter durch Jahrtausende«, NuF 1, 352; D 281f.) endlos dehnt, macht sie die Unwahrscheinlichkeit bewusst, die darin liegt, dass eine orientierende Offenbarung aus fernster Vergangenheit die unscheinbare Gegenwart überhaupt erreichen könne. Die Gegenwart ist so wenig großartig, wie sie es immer ist; der Kaiser wird längst tot sein, wenn seine Botschaft jemals ankommen sollte. Die Struktur des heiligen Textes wird damit als die »Botschaft eines Toten an einen Nichtigen« (NuF 1, 352)31 fassbar. Und doch mündet deren Unwahrscheinlichkeit im letzten Satz der Erzählung in das Bedürfnis nach _____________ 28

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Ähnlich das kurze, von Max Brod unter dem Titel Nachts veröffentlichte Prosastück aus dem Jahr 1920, das von der »unschuldige[n] Selbsttäuschung« der Menschen spricht, »daß sie in Häusern schlafen«, und damit die zivilisatorischen Errungenschaften für Schein erklärt: »in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später einmal in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde« (NuF 2, 260f.). Eine kaiserliche Botschaft wird ›Sage‹ genannt und, wie bei Parabeln üblich, wie im Falle von Vor dem Gesetz, zur Erläuterung und Klärung eines Sachverhalts erzählt: »Es gibt eine Sage, die dieses Verhältnis gut ausdrückt« (NuF 1, 351); Ein altes Blatt lässt schon von seinem Titel her an den letzten Halbsatz von Der neue Advokat zurückdenken. Die Herausgeberfiktion, die Kafka für diesen Text notiert, betont den Charakter eines versprengten Bruchstücks aus der Vergangenheit, dessen Kontext unrekonstruierbar ist: »Diese (vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuscriptblätter stellt uns ein Freund der Aktion zur Verfügung. Es ist ein Bruchstück. Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte besteht nicht« (NuF 1, 361). – Den Charakter einer alten, ehrwürdigen Überlieferung hat auch das Gleichnis, das auf S. 345f. erzählt wird. Vgl. Gen. 9, 4 (»Allein esset das Fleisch nicht, das noch lebt in seinem Blut«) und die zugehörige talmudische Überlieferung. Der ›Nichtige‹ ist so sehr nichtig, dass er im Druck im Landarzt-Band fortgelassen wurde: »Botschaft eines Toten« heißt es dort nur noch. (D 282)

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ihr: »Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir wenn der Abend kommt« (NuF 1, 352; D 282). Generell nehmen die Kollektiverzählungen des Spätwerks Kafkas, ob sie nun von Chinesen, vom Volk der Hunde oder von dem der Mäuse handeln, das Problem der autoritativen Überlieferung und ihres Verfalls immer wieder ins Zentrum ihrer Reflexionsarbeit auf. Dass damit Kafka insgesamt im Hinblick auf das Problem ›heiliger Texte‹ in der Moderne mehr analytisch-reflektierte Distanz und weniger emphatischen Durchsetzungswillen als Nietzsche aufbringt, scheint mir unbestreitbar. Vielleicht wäre aber auch derjenige im Irrtum, der bei Kafka nur analytischreflektierte Distanz sehen wollte und nicht auch die Hoffnung, das eigene Werk könne gerade in seiner schonungslosen Ratlosigkeit so etwas wie die Fortführung der autoritativen Überlieferung sein. Die erhabene beruhigte Heiterkeit der Josefine-Erzählung stammt vielleicht nicht nur daher, dass hier jemand seinen Frieden mit dem eigenen Sterben gemacht hat, sondern auch daher, dass ganz am Ende dieser Erzählung die Möglichkeit aufscheint, das Verschwinden selbst sei, wie immer paradox, eine Gestalt der Überlieferung.

V Resümierend können wir festhalten, dass es Nietzsche womöglich darum ging, radikal mit aller Tradition zu brechen und etwas ganz Neues zu stiften, Kafka hingegen darum, einen Anfang damit zu machen, die ganze verlorengegangene oder verlorengehende Tradition neu zu erfinden. Beide hatten gewiss ein Recht, ihre jeweilige Aufgabe ungeheuer zu nennen, auch wenn diese Aufgaben grundverschieden, ja gegensätzlicher Natur waren.32 Und der Erfolg? Man wird den Gedanken nicht ganz von sich _____________ 32

Das (hier nicht thematisierte) Verhältnis von Kafka zu Nietzsche hat inzwischen eine einlässliche Forschungsgeschichte hinter sich. Max Brod wollte nichts davon wissen, dass Nietzsche von irgendeiner Bedeutung für Kafka gewesen sein könnte. Patrick Bridgwater hingegen behauptete in seiner einflussreichen, aber auch viel angefehdeten Studie Kafka and Nietzsche (Bonn 1974), der Königsweg für ein Verständnis von Kafkas Werk führe über Nietzsche. Damit waren die Pole eines Forschungsfeldes markiert. In der Folge hat sich die Forschung – in einer merkwürdigen Einengung ihres Gesichtskreises – vorwiegend auf die mögliche geistige Verwandtschaft von Kafka mit Nietzsche und auf die Frage von Motivübernahmen konzentriert. Motivübernahmen sind allenfalls für In der Strafkolonie und eventuell – allerdings mit weit geringerer Evidenz, als die Forschung annimmt – für Ein Bericht für eine Akademie gesichert (vgl. zusammenfassend Oschmann, Dirk: Philosophie; in: Engel, Manfred / Auerochs, Bernd (Hrsgg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.

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weisen können, dass die kulturellen Differenzierungen der Moderne sowohl für Nietzsche als auch für Kafka ein Hindernis bei ihren jeweiligen Projekten bedeuteten. Die kulturellen Kanones für große Philosophen und große Schriftsteller (und beide waren in einem gewissen Sinn beides) berücksichtigen sehr stark tendenziell unideologische Kriterien wie Reflexionsvermögen und Sprachkraft; anders als beim Religionsstifter spielt das Kriterium der gelingenden Gemeinschaftsbildung keinerlei Rolle. Umgekehrt wurden erfolgreiche Religionsstiftungen in der Moderne von Personen geleistet, die nicht für einen Platz in einem anderen kulturellen Kanon in Frage kamen und die Reflexionsstandards, die für solche kulturellen Kanones angesetzt werden, unterboten. Man denke an die Gründung der Mormonen im 19. Jahrhundert oder an die Erfolgsgeschichte der Gefolgschaft von Ron Hubbard in der Scientology-Sekte. Der Ernst der grundsätzlichen Erneuerung (»Ich bin Ende oder Anfang« – »daß einmal Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun«), mit dem wir uns hier befasst haben, wird somit durch die Eigenart unserer kulturellen Produktion von Kontinuität neutralisiert. Man will etwas ganz Besonderes – und wird in die Reihe der Großen eingestellt, als einer unter so manchen anderen, die alle etwas ganz Besonderes wollten. Vielleicht aber liegt auch von vornherein über all diesem Ernst ein hauchdünner Schleier der Ironie, der weiß und voraussieht, dass das Fingieren von heiligen Texten nur ein raffiniertes Mittel gewesen sein wird, sich den Platz im Kanon, in dem die großen Philosophen und die großen Schriftsteller versammelt sind, zu sichern. Die Sirenen sind, wie wir von Kafka wissen, für einen raffinierten Menschen vielleicht doch nicht raffiniert genug. In Kafkas Landarzt-Band gibt es eine Erzählung mit dem Titel Elf Söhne. Malcolm Pasley, Claude David, Breon Mitchell und Bernhard Böschenstein haben (im Gefolge einer Bemerkung von Max Brod) überzeugend dartun können, dass es sich bei diesen elf Söhnen um elf Geschichten Kafkas handelt.33 Der zehnte Sohn in dieser Reihe ist Vor dem Gesetz. Ihm wird eine ›weit über sein Alter hinaus_____________

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Stuttgart − Weimar 2010, S. 59-64, zu Nietzsche insbesondere S. 60-62). − Die KafkaForschung wäre gut beraten, die Frage, worin Kafka mit Nietzsche denn eines Sinnes hätte sein können, als offene Frage erneut aufzunehmen. Vgl. Pasley, Malcolm: Two Kafka Enigmas. Elf Söhne and Die Sorge des Hausvaters; in: Modern Language Review 59 (1964), S. 73–81; David, Claude: Zu Franz Kafkas Erzählung Elf Söhne; in: The Discontinuous Tradition. Studies in German Literature in honour of Ernest Ludwig Stahl. Oxford 1971, S. 247-259; Mitchell, Breon: Franz Kafka’s Elf Söhne. A New Look at the Puzzle; in: German Quarterly 47, 1 (1974), S. 191-203; Böschenstein, Bernhard: Elf Söhne; in: Franz Kafka. Themen und Probleme. Mit Beiträgen von Beda Allemann, Roger Bauer, Bernhard Böschenstein, Theo Buck, Claude David, Efim Etkind, Ulrich Fülleborn, Eduard Goldstücker, Heinrich Henel, Ingeborg C. Henel, Dominique Iehl, Malcolm Pasley, Claudine Raboin, Walter H. Sokel. Herausgegeben von Claude David. Göttingen 1980, S. 136-151.

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gehende Feierlichkeit‹ zugeschrieben, ein Auftreten »im immer festgeschlossenen Gehrock, im alten, aber übersorgfältig geputzten schwarzen Hut, […] − wer ihn so sieht, denkt: das ist ein grenzenloser Heuchler« (D 290f.). So sieht er also aus: der Text aus der Moderne, der vorgibt, alte Überlieferung zu sein. Man sieht: Der grenzenlose Heuchler ist derjenige, dessen Wahrhaftigkeit vor lauter Heuchelei keine Grenzen mehr kennt.

FABIAN LAMPART

Kunstreligion intermedial Richard Wagners Konzept des musikalischen Dramas und seine frühe literarische Rezeption Richard Wagners intermediale Konzeption des musikalischen Dramas verfolgt einen kunstreligiösen Anspruch,1 den bereits seine theoretischen Schriften um 1850 formulieren.2 Die Art dieser Verschränkung von Kunstreligion und intermedial gedachter Ästhetik ist Gegenstand des ersten Teils folgender Überlegungen. In einem zweiten Schritt wird gefragt, ob das für Wagners Konzept so zentrale Element der Kunstreligion in frühen literarischen Äußerungen der Wagner-Rezeption, die diese Intermedialitätsformationen lebhaft diskutieren, noch sichtbar ist. Die Frage gilt also den Beziehungen zwischen einer ästhetischen Konzeption mit kunstreligiösem Anspruch und Strategien der Medienkombination. Da die funktionale Verknüpfung von Kunst und Religion in Wagners diskursiven Selbstentwürfen eine entscheidende Rolle spielt, geht es dabei auch um das Problem, welche Elemente dieser weltanschaulichen Grundierung bei einer primär ästhetischen Rezeption erhalten bleiben. Zunächst bleibt zu klären, ob die intermediale Modellierung der ästhetischen Entwürfe bei Wagner als bloße Funktion seines Anspruchs auf_____________ 1

2

Zum Konzept ›Kunstreligion‹ vgl. Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Berlin – New York 2011, S. 11-27, sowie Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124-133. – Bernd Auerochs unterstreicht in Bezug auf Wagner und Stefan George das Bedürfnis, »den verpflichtenden Charakter ihrer Kunst besonders herauszustellen«, weshalb ihr ›ein institutioneller Apparat‹ an die Seite gestellt werden müsse (Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 99). – Im Folgenden wird nicht die Institutionalisierung der Festspielidee verfolgt, sondern die Frage aufgeworfen, inwieweit Wagners Vorstellung, eine intermediale ästhetische Konzeption könne die Funktionen der Religion als weiterer symbolischer Form übernehmen (vgl. ebd., S. 21-33), in der literarischen Rezeption Wagners erhalten bleibt. Vgl. Kunze, Stefan: Der Kunstbegriff Richard Wagners. Voraussetzungen und Folgerungen. Regensburg 1983.

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gefasst werden kann, mit dem musikalischen Drama die gesellschaftliche Funktionsstelle der Religion auszufüllen, oder ob nicht vielmehr die Kombination medialer Strategien und Praktiken im sozialrevolutionär konzipierten ›Kunstwerk der Zukunft‹ neben anderen Aspekten auch kunstreligiöse Elemente impliziert. Diese Frage wird hier im Anschluss an eine intensive Forschungsdiskussion mit Blick auf Wagners theoretischästhetische Schriften rekonstruiert, die zwar gegenüber der Praxis seiner Musikdramen durch einen gewissen Postulat-Charakter gekennzeichnet sind, jedoch auch wesentliche Elemente eben dieser Praxis benennen und somit für eine primär literarische Rezeption zugänglich machen. Nicht zufällig beziehen sich die Diskussionen der französischen WagnerAnhänger in den 1880er Jahren, wie sie in der Revue Wagnérienne geführt werden, auch auf die theoretischen Schriften Wagners. Die Konzeption eines kunstreligiös gedachten Gesamtkunstwerks liefert zumindest bestimmte Ansatzpunkte, die es erlauben, das Verhältnis von Religion und Kunst in Wagners theoretischen Selbstentwürfen zu rekonstruieren und damit das diskursiv-produktive Verständnis Wagners in den Diskussionen der frühen französischen Wagner-Rezeption weiterzudenken. Die Anziehungskraft von Wagners ganzheitlich orientierten Konzepten wird wirkungsästhetisch immer wieder mit der intermedialen Verfasstheit seines musikalischen Dramas in Verbindung gebracht. Fraglich ist dabei, ob in der literarischen Diskussion und Transformation des Wagnerschen Konzepts auch Qualitäten des darin angelegten kunstreligiösen Anspruchs erhalten bleiben oder ob sie modifiziert werden. Kann man (und sei es in einer angesichts des damit verbundenen Medienwechsels noch so indirekten Art und Weise) eine Art Re-Import der ästhetischen Ansprüche von Wagners intermedial projektiertem Musikdrama in die Literatur konzipieren und dabei die ideellen oder ideologischen Fermente der kunstreligiösen Grundkonzeption vollständig ausblenden? Im Folgenden gilt es dementsprechend, zunächst das Verhältnis von Kunstreligion und Intermedialität – oder genauer: von kunstreligiösem und intermedialem Anspruch – in den diskursiven Verlautbarungen Wagners zu rekonstruieren. Danach wird mit einem Blick auf frühe Varianten der WagnerRezeption skizziert, wie dieses Verhältnis bei den frühen wagnéristes der Gruppe um die Revue Wagnérienne ausgesehen hat. Methodisch wäre anzumerken, dass sich die hier vorgebrachten Überlegungen hinsichtlich der Intermedialitätsdebatte an den Begrifflichkeiten orientieren, die Irina O. Rajewski unter dem Stichwort ›intermediale Bezüge‹ verhandelt.3 Denn es geht bei den betreffenden Fällen in erster _____________ 3

Bei intermedialen Bezügen handelt es sich um »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen

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Linie um Referenzen der programmatischen Texte auf andere Medien, d. h. um Entwürfe, Projektionen und Programme. Allerdings kann man bis zu einem gewissen Grad für Wagners bekanntlich sperrige und in mancherlei Aspekten inkohärente theoretische Verlautbarungen beanspruchen, dass sie durchaus bestimmte ästhetische Praktiken seiner musikdramatischen Werke sowie privilegierte Rezeptionsmodi seiner musikalischen Dramen charakterisieren und begrifflich fassbar machen. Diese schwache Relation zwischen den theoretischen Äußerungen und der Wahrnehmung der Musikdramen erlaubt sowohl eine Weiterführung in Richtung der musiktheoretischen und musikalischen Analyse4 als auch die Präzisierung und Kontextualisierung theoretischer Konzepte.5 In jedem Fall rechtfertigt eine solche Grundannahme neben der Rekonstruktion kunstreligiöser Elemente in Wagners theoretischem Denken, dass man von dort aus in einem zweiten Schritt die zeitgenössischen Versuche erläutert, den intermedialen Kunstanspruch Wagners, der natürlich zunächst in seinen Musikdramen wahrgenommen wird, seinerseits wiederum in literarische Konzeptionen zu übersetzen.

I. Religion und Kunst in den ›Zürcher Kunstschriften‹ Inwieweit spielt der Anspruch, vermittels einer ästhetischen Konzeption quasi-religiöse oder ehemals vermeintlich im Bereich der Religion angesiedelte Wirkungen zu erzielen, bei Wagner eine Rolle? Es gibt zwei Ansätze, dieses Verständnis von Kunstreligion zu fassen, die trotz mancher Berührungspunkte prinzipiell unterscheidbar sind. Einmal ist dabei die Funktionsstelle zu nennen, die Religion vor allem in den so genannten ›Zürcher Kunstschriften‹ einnimmt, also eine systemisch angelegte Konzeption von Kunstreligion im Rahmen von Wagners ästhetischer Theorie. Zum anderen ist die Umfunktionalisierung religiöser Rituale und Praktiken zu medialen Ausdrucksmitteln anzuführen, die pro_____________ 4 5

Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent« (Rajewski, Irina O.: Intermedialität. Tübingen – Basel 2002, S. 19). Hierzu grundlegend Dahlhaus, Carl: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas (Erstausgabe 1971). München – Kassel – Basel – London – New York 1990, sowie Dahlhaus, Carl: Richard Wagners Musikdramen (Erstausgabe 1971). Stuttgart 1996. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung. Stuttgart 1982, sowie Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. Frankfurt/M. 2002. – Für eine stärker theoriegeschichtliche Akzentuierung vgl. Bermbach, Udo: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. Frankfurt/M. 1994.

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duktionsästhetisch in den Kontext des Bühnenweihfestspiels transponierbar sind; dieser Aspekt wird in der Forschung mit Bezug auf den Aufsatz Religion und Kunst aus dem Jahr 1880 diskutiert. Solche Strategien sollen im Sinne von Wagners theoretischer Konzeption eine Freilegung der von zivilisatorischen Degenerationsprozessen verdeckten und in den im Zuge der Säkularisierung zusehends sinnentfremdeten religiösen Ritualen und Praktiken nicht mehr erkennbaren anthropologisch-ontologischen Wahrheiten bewirken.6 Das weite, systemische Konzept von Kunstreligion, das hier diskutiert wird, ist in Wagners Schriften eng mit dem intermedialen Programm des musikalischen Dramas verknüpft. Wagners Anspruch auf eine autonome Kunst, die unter anderen institutionalisierten Systemen auch die Funktion der Religion übernehmen soll, ist eines der zentralen Themen in seinen großen, im Umkreis der Linkshegelianer und Ludwig Feuerbachs ausgearbeiteten theoretischen Schriften aus den Jahren 1849 bis 1851.7 In den ›Zürcher Kunstschriften‹, also in Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und Drama,8 geht es – darauf hat Udo Bermbach hingewiesen9 – zunächst jedoch um eine Klärung des Politikverständnisses. Zugleich ist die damit zusammenhängende Konzeptionalisierung von Religion und Kunst bereits deutlich zu beobachten. Wagners theoretisches Denken ist zeittypisch von triadischen Modellen geprägt, in denen gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen geschichtsphilosophisch analogisiert werden. Die Bezeichnungen für die Phasen dieses Modells unterscheiden sich in Details und je nach dominierenden philosophischen Orientierungen, sind aber auf einen Dreischritt von antikem Griechentum, moderner Zivilisation und Gesellschaft der Zukunft zurückzuführen. So ist auch die entwicklungsgeschichtliche Matrix aus Die Kunst und die Revolution aus dem Jahr 1849 strukturiert. Sie erfährt freilich in der Folge einige Umakzentuierungen, eine davon in Das _____________ 6

7 8

9

Zusammengeführt werden die beiden Stränge bei Hofmann, Peter: Richard Wagners politische Theologie. Kunst zwischen Revolution und Religion. Paderborn – München – Wien – Zürich 2003; vgl. auch Kienzle, Ulrike: …daß wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen. Würzburg 2005. Vgl. Hofmann: Richard Wagners politische Theologie (Anm. 6), S. 149-170, bes. S. 156165. Textnachweise aus diesen Schriften werden im Folgenden unter den Siglen ›KuR‹, ›KdZ‹ bzw. ›OuD‹ geführt. Die Seitenzahlen beziehen sich dabei auf Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Band 3. Faksimiledruck der Ausgabe von 1887. Hildesheim 1976, S. 8-41 (Die Kunst und die Revolution), S. 42-177 (Das Kunstwerk der Zukunft), S. 222-320 (Oper und Drama. Erster Theil. Die Oper und das Wesen der Musik.). Vgl. Bermbach, Udo: ›Ästhetische Weltordnung‹. Zum Verhältnis von Politik, Kunst und Kunstreligion bei Richard Wagner; in: Sorg, Reto / Bodo, Stefan (Hrsgg.): Gott und Götze in der Literatur der Moderne. München 1999, S. 221-234, hier S. 222.

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Kunstwerk der Zukunft (1850): Dort folgt auf den Naturzustand im Sinne Ludwig Feuerbachs10 eine Phase der Vergesellschaftung – ein kultureller Zustand also, »in dem der Mensch von der ›Natur‹ entfremdet ist« und sich »›Wissenschaft‹ und ›Leben‹, ›Intellektualität‹ und ›Sinnlichkeit‹ unvermittelt gegenüberstehen«.11 Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Dynamik entwickelt sich auch die Kunst, wobei dem »gesellschaftliche[n] Partikularismus und ›Egoismus‹«12 die Vereinzelung und Trennung der ehemals verbundenen Künste und ihre Pervertierung zum Konsumgut entspricht. Erst in einer ›großen Menschheitsrevolution‹ (vgl. KuR 29) kann dieser defiziente Zustand in der ästhetischen Utopie des Gesamtkunstwerks überwunden werden.13 Detaillierter hat Wagner diese Konstellation in der Vorgängerschrift Die Kunst und die Revolution behandelt. Dort geht er vom Gegensatz zwischen antiker Polis und moderner Zivilisation aus, wobei in der Polis der Einzelne und die Gesellschaft im Einklang gestanden hätten, während die Moderne von einem scharfen Gegensatz zwischen privaten und kollektiven Interessen gekennzeichnet sei.14 Freilich gilt auch die Idealität der griechischen Gesellschaft und Kultur nur als eine scheinhafte, denn ihre ökonomische Grundlage war in Wagners Augen die Sklaverei, die sich in der modernen Gesellschaft zur Sklaverei aller unter dem Kapital gewandelt habe. Dennoch ist nach Wagner die Stellung der Kunst in der Polis gegenüber dem modernen Gesellschaftszustand bis zu einem gewissen Grad vorbildhaft, weil sie immerhin »im öffentlichen Bewußtsein vorhanden« war, »wogegen sie heute nur im Bewußtsein des Einzelnen, im Gegensatze zu dem öffentlichen Unbewußtsein davon, da ist« (KuR 28). Daher rührt auch Wagners Kennzeichnung der gegenwärtigen Kunst als revolutionär, wenn sie sich gegen die in der »gültigen Allgemeinheit« (KuR 28) herrschenden Verhältnisse stelle. Diese Dichotomie wird im Vergleich der antiken Tragödie mit dem gegenwärtigen Theater- und Opernwesen durchgespielt, das – verbürgerlicht und privatisiert, kommerzialisiert – zu einem Produkt des allgemeinen Konsum- und Luxusdenkens degeneriert _____________ 10

11 12 13 14

Jürgen Kühnel spricht von einer »Variation im Sinne des ›anthropologischen Materialismus‹ Feuerbachs« (Kühnel, Jürgen: Wagners Schriften; in: Richard-Wagner-Handbuch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler herausgegeben von Ulrich Müller und Peter Wapnewski. Stuttgart 1986, S. 471-588, hier S. 504). Kühnel: Wagners Schriften (Anm. 10), S. 504. Kühnel: Wagners Schriften (Anm. 10), S. 505. Stefan Kunze erkennt eine »Doppelpoligkeit« der »utopische[n] und […] historische[n] Begründung des musikalischen Dramas« (Kunze: Der Kunstbegriff Richard Wagners (Anm. 2), bes. S. 128-152, hier S. 129). Laut Die Kunst und die Revolution kann dieser Zustand wiederum erst in der ›großen Menschheitsrevolution‹ (vgl. KuR 29) überwunden werden.

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sei: Dem Künstler bleibe von seiner Kunst nur der »abstrakte Geldeswerth« (KuR 25) und er habe keine darüber hinausgehende sinnhafte Befriedigung. Worauf zielt Wagner ab? Auch wenn er in der antiken Polis beileibe keine vollkommene Gesellschaftsform sieht, hat die griechische Tragödie in Bezug auf die moderne Kunst doch einen Vorbildcharakter, der sich sowohl auf ihren gesellschaftlichen Stellenwert als auch auf ihre ästhetische Faktur bezieht. Die griechische Tragödie als Ausdruck eines kollektiven Gemeingeistes – das Volk ›sammelt‹ sich vor dem »gewaltigsten Kunstwerke«, in dem es »mit seinem Wesen, seiner Genossenschaft, seinem Gotte sich in die innigste Einheit« (KuR 11) verschmilzt – ist ein ›großes Gesamtkunstwerk‹ (vgl. KuR 12), in dem sich der ›Gemeingeist‹ und entsprechend »die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandtheile« (KuR 12) verbinden. Diese in der Antike funktionierende Kombination aus ästhetischen und religiös-kultischen Elementen löste sich, sobald der »Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte« (KuR 12), auf in ihre Einzelelemente Tanz bzw. Mimik, Musik und Dichtung sowie »Bildhauerei, Malerei, Musik« (KuR 29). Die medialen Grundbestandteile des antiken Gesamtkunstwerks erzeugen also das moderne Nebeneinander von Oper, Schauspiel und Ballett, das Wagner mit seiner Neukonzeption des dramatischen Kunstwerks zu überwinden strebt. In Bezug auf die ›Oper und das Wesen der Musik‹ sowie auf das ›Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst‹ spielen die ersten beiden Teile von Oper und Drama (1851) die historischen Konsequenzen dieser kulturgeschichtlichen Konstruktion durch. Zentral bleibt bei alledem der Grundgedanke einer Trennung der Künste, die der als kulturelle Verfallsdynamik verstandenen Ausdifferenzierung der Gesellschaft entspricht. Sie wird im Kunstwerk der Zukunft überwunden, das die ›große Menschheitsrevolution‹ (vgl. KuR 29) begleiten und unterstützen soll: Es kommt zur Erneuerung der antiken Tragödie. Carl Dahlhaus zufolge impliziert dieser Vorgang sowohl ein restauratives als auch ein utopisches Element.15 Er ist restaurativ im Sinne einer Wiederherstellung der Einheit von Wort, Ton und Gebärde, utopisch aber in Bezug auf die Funktionalisierung des Kunstwerks als notwendige Voraussetzung zur Herbeiführung der zukünftigen Gesellschaft. Die Verbindung der fragmentierten Einzelkünste wird auch den verlorenen Öffentlichkeitscharakter der Kunst neu und diesmal vollkommen wiederherstellen, die somit wieder ihren kollektiven, zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelnden Charakter zurückgewinnt. Das Kunstwerk der Zukunft be_____________ 15

Vgl. Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas (Anm. 4), S. 10.

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schreibt diese Restauration der antiken Tragödie mit dem Terminus ›Gesammtkunstwerk‹: Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er [der ›Geist‹] nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft. (KdZ 60)

Der utopistische Grundton ist unverkennbar. Zwar ist das ›Gesamtkunstwerk‹ vorrangig als synkretistische Vermittlungsinstanz zur Aufhebung der kulturellen Selbstentfremdung des Menschen projektiert; seine mediale Realisierung ist aber nur denkbar, wenn die verschiedenen Gattungen der Kunst, die sich in Wagners geschichtsphilosophischer Ästhetik nach der Idealsituation der griechischen Tragödie getrennt haben, wieder vereinigt werden. Diese Einzelkünste sind im Sinne einer ästhetischen Anthropologie die drei »reinmenschlichen Kunstarten […] Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst« (KdZ 67). Sie haben für Wagner die Grundbestandteile des antiken Dramas gebildet und sich danach zu einzelnen Gattungen getrennt, was zum Niedergang der Einzelkünste führte. Ästhetisch äußert sich das darin, dass die Einzelkünste zum Selbstzweck geworden sind und nicht mehr im Dienst des als multimediale Einheit verstandenen Dramas stehen. Ein Beispiel ist die Oper: »[D]er Irrtum in dem Kunstgenre Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war« (OuD 231). Diese Vereinzelung und Partikularisierung der Künste soll überwunden werden durch ihre Kombination im Drama der Zukunft, das als Synthese aus Mimik (als weiterentwickelte Form der Tanzkunst), Dichtkunst und Tonkunst zu verstehen ist. Im weiteren Verlauf werden auch die drei ›bildenden‹ Künste Architektur (für den Theaterbau), Malerei und Skulptur (für die Ausstattung der Bühne) in das Konzept eingearbeitet. Die Zusammenführung der einzelnen Künste mit ihren jeweiligen medialen Qualitäten in einem Öffentlichkeitsraum ist in diesem als theatralische Metagattung zu verstehenden Drama zentral:16 Wagner geht es nicht um Effekte intermedialer Verschmelzung, sondern um die »durchgehende Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die sämtlich _____________ 16

Vgl. Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas (Anm. 4), S. 12f.: Kunst sei für Wagner »nichts anderes als ›Verwirklichung‹«, der Mimik und Gestik bzw. »das mimisch-szenische Moment« am nächsten kommen; das Werk des bloßen Wortsprachdichters steht hierarchisch wohl auf der niedrigsten Stufe der von Wagner umgekehrten klassischen Hierarchie der Künste, die Musik in der Mitte.

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im entstehenden Produkt materiell präsent sind«.17 Bei Wagner freilich konvergieren diese weiterhin in ihren distinkten Qualitäten funktionalisierten Medien wirkungsästhetisch, was ebenfalls zur Überwindung des Gesellschafts- und Kulturzustandes der Gegenwart beitragen soll. An dieser Stelle tritt der kunstreligiöse Anspruch in den Vordergrund, da das Kunstwerk im Rahmen der sozialutopisch-ästhetischen Gesamtkonzeption nun religiöse Funktionen übernimmt. Die Partikularisierung der Gesellschaft und der Künste erstreckt sich durchaus auch auf die Religion: Bereits in Kunst und Revolution konstatiert Wagner, dass einzelne Elemente des vollkommenen Dramas der Antike in religiösen Kontexten zweckentfremdet und missbraucht werden: »Die Pfaffen bemächtigten sich der Rhetorik für die Kanzeln, der Musik für den Kirchenchor« (KuR 29). Solche Beobachtungen stehen im Einklang mit Wagners vehementer Verdammung der institutionalisierten christlichen Religion, die für ihn die allgemeine Sklaverei in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ideologisch mitbegründet hat, indem sie den Menschen suggerierte, »ein elendes Diesseits geduldig um ein besseres Jenseits hinzugeben« (KuR 27). Wenn die Kunst ihren Öffentlichkeitscharakter verloren habe, dann sei die Religion dafür mitverantwortlich, denn sie habe die Menschen, so Udo Bermbach, »aus ihrer ursprünglichen sinnlichen Anschauung der Natur herausgerissen und sei zur Rechtfertigungsideologie der bestehenden politischen Zustände verkommen«.18 Die christliche Religion hat in Wagners Augen also wesentlich zur Entfremdung des Menschen von der Natur beigetragen und wird deshalb auch für den der Natur entfremdeten Zustand der modernen Kunst verantwortlich gemacht.19 Ganz entsprechend hat das Christentum in Wagners Gegenwartsdiagnose die Funktion, die auf einem sklavereiähnlichen Utilitarismus _____________ 17

18 19

Rajewski: Intermedialität (Anm. 3), S. 19. – Am Beispiel ›Tanz‹ wird ersichtlich, dass die Künste ihre singulären Qualitäten behalten sollen: »So erreicht im Drama die Tanzkunst ihre höchste Höhe und ihre vollste Fülle, entzückend wo sie anordnet, ergreifend wo sie sich unterordnet; immer und überall sie selbst, weil immer unwillkürlich und deshalb nothwendig, unentbehrlich: nur da, wo eine Kunstart nothwendig, unentbehrlich ist, ist sie zugleich ganz das, was sie ist, sein kann und sein soll« (KdZ 76). Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 222. Entsprechende Passagen finden sich am Anfang von Die Kunst und die Revolution: »Die Kunst ist die höchste Tätigkeit des im Einklang mit sich und der Natur sinnlich schön entwickelten Menschen; der Mensch muß an der sinnlichen Welt die höchste Freude haben, wenn er aus ihr das künstlerische Werkzeug bilden soll; denn aus der sinnlichen Welt allein kann er auch nur den Willen zum Kunstwerk fassen. Der Christ, wenn er wirklich das seinem Glauben entsprechende Kunstwerk schaffen wollte, hätte umgekehrt aus dem Wesen des abstrakten Geistes, der Gnade Gottes, den Willen fassen und in ihm das Werkzeug finden müssen, – was hätte aber dann seine Absicht sein können? Doch nicht die sinnliche Schönheit, welche für ihn die Erscheinung des Teufels war? Und wie hätte je der Geist überhaupt etwas sinnlich Wahrnehmbares erzeugen können?« (KuR 15f.).

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basierende bürgerliche Gesellschaft ideologisch zu stützen. Religion ist laut Wagner als Institution für die Zerstörung der öffentlichen Sphäre und die Herrschaft von privatistischen Partikularinteressen verantwortlich und verweist somit auf die Selbstentfremdung des Menschen bzw. auf seine Distanz zur Natur und zur reinen Sinnlichkeit, die immer wieder anklingt: »Wahr und lebendig ist aber nur, was sinnlich ist und den Bedingungen der Sinnlichkeit gehorcht« (KdZ 45). Es gehört zum sozialutopischen Geltungsanspruch des ›Kunstwerks der Zukunft‹, dass die Kunst auch die verlorene Funktion der Religion als Instanz der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft übernehmen soll. Freilich wird diese Konsequenz in den frühen Revolutionsschriften nur mitgedacht: Wichtiger ist, dass die Kunst an Stelle der degenerierten ›Politik‹ tritt – in Wagners Verständnis ist Politik ein Synonym für das Überwiegen von Einzelinteressen und moralische Korrumpierbarkeit.20 Hier geht es zunächst darum, ein neues dramatisches Kunstwerk an die Stelle der Politik zu setzen, da die Religion unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft als Integrationsinstanz nicht mehr verfügbar ist. So gesehen übernimmt das ›Kunstwerk der Zukunft‹ die sozialintegrative Funktion der antiken oder frühchristlichen Religion und substituiert sie. Damit wäre Wagners erstes Verständnis von ›Kunstreligion‹ charakterisiert: Der Religion kommt − zumindest im systematischen Horizont der ›Zürcher Kunstschriften‹ − eine wichtige Funktion zu, da Wagners nachrevolutionäre Argumentation in erster Linie von einem politischgesellschaftlichen Verfallszustand ausgeht, der durch den ästhetischen Ganzheitsanspruch des restituierten Dramas, das die verlorene Einheit der Künste wiederherstellt, überwunden wird. In dieser Überwindung übernimmt die Kunst die Funktion kultisch-ritueller Selbstversicherung der Gesellschaft, die die Religion als ideologische Stütze der ökonomischen Partikularisierung der Gesellschaft verspielt hat. Hinzufügen ließe sich, dass Wagners Konzept des gesellschaftlich integrativen Kunstwerks auch in der 1864 für König Ludwig II. verfassten Schrift Über Staat und Religion nicht aufgegeben wird. Zwar ist darin der revolutionäre Impetus zurückgedrängt21 und die Religion insgesamt positiver wieder als Instanz der Überwindung gesellschaftlicher Gegensätze _____________ 20

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Während ihm die griechische Polis »als Ideal einer alle Lebensbereiche des einzelnen integrierenden Gemeinschaft« gilt, d. h. »als der Ort, an dem Volk, Staatsversammlung, Gerichte, religiöser Kult und Theater« (Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 223) in einer funktionalen Einheit aufeinander bezogen sind, ist die moderne Gesellschaft für Wagner von einer entsprechend degenerierten ›Politik‹ geprägt. Die Rolle des Monarchen wird als eine Art ›heiliger Vermittler‹ im Zustand der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung herausgearbeitet; vgl. Kühnel: Wagners Schriften (Anm. 10), S. 540-543, bes. S. 541; vgl. auch Hofmann: Richard Wagners Politische Theologie (Anm. 6), S. 209-220.

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gezeichnet; am Endpunkt der Entwicklung steht jedoch die Erlösung aller durch die Kunst. Letztlich geht auch in diesem Modell die Religion nach Überwindung des gegenwärtigen Verfallszustands systemisch in der Kunst auf. Diese seit den Zürcher Kunstschriften sichtbare Funktionalisierung des medienkombinatorischen Kunstwerks als Überwindung der Religion wird im späten Aufsatz Religion und Kunst weitergeführt.22 Dort wiederholt sich zunächst die Idee der Entfremdung der Einzelmedien von ihrem Zweck im Zusammenhang der griechischen Tragödie, geht aber in der Folge darüber hinaus. Vor allem in Hinblick auf Parsifal kommt zur Sprache, wie bestimmte Elemente der Religion, die im Rahmen des gesellschaftlichen Verfalls ihre sinnstiftende Funktion verloren hat, als Ausdrucksmittel in der ästhetischen Utopie des Wagnerschen Kunstwerks wieder zu refunktionalisieren sind. Die zentrale These dieses Aufsatzes wird in den ersten Sätzen formuliert: Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werthe nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.23

Wagner konkretisiert die Rolle der Religion im intermedialen Programm des ›Kunstwerks der Zukunft‹. Zunächst wird nochmals die geschichtsphilosophische Grundfigur aufgerufen, nach der die Religion in der Gegenwart ihre ursprüngliche Funktion als Instanz der Vermittlung heilsgeschichtlicher Wahrheiten eingebüßt hat. Die Religion ist künstlich geworden, weil sie »sich in Kirchen institutionalisiert hat und damit in eine unmittelbare Beziehung zu Staat und Gesellschaft eingetreten ist«.24 Im Fortgang liegt das Gewicht auf der Frage, wie die Religion, die bislang immer nur eine jener Institutionen war, die in der ästhetischen Utopie durch die Kunst überwunden werden sollten, vermöge ihrer spezifischen medialen Verfasstheit zu dieser Selbstaufhebung beitragen kann.25 _____________ 22

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24 25

Vgl. Hofmann: Richard Wagners Politische Theologie (Anm. 6), S. 267-291; vgl. auch Hartwich, Wolf-Daniel: Religion und Kunst beim späten Richard Wagner. Zum Verhältnis von Ästhetik, Theologie und Anthropologie in den Regenerationsschriften; in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 40 (1996), S. 297-323; vgl. auch Kunze: Der Kunstbegriff Richard Wagners (Anm. 2), S. 161-168. Wagner, Richard: Religion und Kunst (1880); in: Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Band 10. Faksimiledruck der Ausgabe von 1887. Hildesheim 1976, S. 211-253, hier S. 211 (Textnachweise aus Wagners Kunst und Religion werden im Folgenden unter der Sigle ›RuK‹ geführt). Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 228. »Während dem Priester alles daran liegt, die religiösen Allegorien für thatsächliche Wahrheiten angesehen zu wissen, kommt es dagegen dem Künstler hierauf ganz und gar nicht an, da er offen und frei sein Werk als seine Erfindung ausgiebt. Die Religion lebt aber nur

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Die mythischen Symbole haben nach Wagner, der hier wiederum Feuerbach folgt, im Lauf der Geschichte zuerst ihre Wirkkraft und dann ihre Gültigkeit verloren. Zunächst sei der Verlust über die sinnliche Unterstützung dieser Symbole durch die Kunst kompensiert worden. Diese »Mithilfe der Kunst« (RuK 211) habe aber weder der Religion genützt, deren Symbole durch die Ästhetisierung nicht tiefer, sondern dogmatisch-oberflächlicher geworden seien, noch der Kunst, die im Dienst der Religion Gefahr laufe, sich als bloßes Versinnlichungsmedium zu erschöpfen. Andererseits habe sich die Kunst, wenn es ihr in ton- oder bildkünstlerischen Verfahren gelungen sei, den »inneren Kern« einer »göttlichen Wahrheit« auszusprechen, schon aus dem Bereich der Religion entfernt; stattdessen deute sie nun die »mythischen Symbole« in einer Verlagerung der semiotischen Relation auf die Ebene des mittelbaren Verweises als sinnbildlich für eine tiefere Wahrheit. Die Religion, in der der Mythos als buchstäblich wahr geglaubt werden soll, ist von der Kunst unterwandert. Die ›mythischen Symbole‹ werden aus dem Kontext einer heilsgeschichtlichen Deutung gelöst und dem ästhetischen Ausdruck unterworfen, der zwar mittelbar ist, im Gegensatz zur entfremdeten Religion aber zu einer tieferen Wahrheit vorzustoßen vermag. Die Kunst kann die Religion in der Erkundung dieser tieferen Wahrheit auch deshalb substituieren, weil beide in ihrer Zielerkenntnis konvergieren:26 Denn jene Lehre entsprang erst der vorangehenden Erkenntniß der Einheit alles Lebenden, und der Täuschung unserer sinnlichen Anschauung, welche uns diese Einheit als eine unfaßbar mannigfaltige Vielheit und gänzliche Verschiedenheit vorstellte. (RuK 224)

Da die Religion diese ›Erkenntniß‹ in Symbolen und Ritualen wirkungsvoll vergegenwärtigt, integriert der Theatraliker Wagner die entsprechenden Mittel in den Kontext des Musikdramas. In seiner geschichtsphilosophischen Ästhetik ist die für die Religion zentrale und charakteristische Vermittlung heilsgeschichtlicher Wahrheit auf die Kunst und damit auf Wagners intermedial konzipiertes Drama übergegangen.27 _____________

26 27

noch künstlich, wann sie zu immer weiterem Ausbau ihrer dogmatischen Symbole sich genöthigt findet, und somit das Eine, Wahre und Göttliche in ihr durch wachsende Anhäufung von, dem Glauben empfohlenen, Unglaublichkeiten verdeckt. Im Gefühle hiervon suchte sie daher von je die Mithilfe der Kunst, welche so lange zu ihrer eigenen höheren Entfaltung unfähig blieb, als sie jene vorgebliche reale Wahrhaftigkeit des Symboles durch Hervorbringung fetischartiger Götzenbilder für die sinnliche Anbetung vorführen sollte, dagegen nun die Kunst erst dann ihre wahre Aufgabe erfüllte, als sie durch ideale Darstellung des allegorischen Bildes zur Erfassung des inneren Kernes desselben, der unaussprechlich göttlichen Wahrheit, hinleitete« (RuK 211f.). Vgl. Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 229. Vgl. Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen (Anm. 4), S. 206.

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Wagners aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Medien begründetes Drama erweist sich damit als religiös funktionalisiert. Religiöse Rituale und Praktiken werden in den Kontext des Dramas transponiert und unterstützen seine multimediale Wirkung, ja das Drama selbst kann als religiöser Ritus verstanden werden. Wagner überhöht sein ›Kunstwerk der Zukunft‹ sakral, weil es ihm darum geht, wie Bermbach formuliert, »den Wahrheitsanspruch der ›freien Erfindung‹ des Künstlers auch rezeptionsästhetisch zweifelsfrei deutlich werden zu lassen«.28 Da die für das Kunstwerk einsetzbaren medialen Qualitäten am besten konserviert sind in religiösen und besonders in katholischen Riten, werden sie aus diesen übernommen.29 Die systemisch angelegte Funktion der Kunstreligion erweitert sich um die mediale Funktionalisierung religiöser Symbole und Praktiken.

II. Kunstreligion und Intermedialität bei den Wagnéristes Es wäre nun möglich, die Formationen dieser sakralen Überhöhung ästhetischer Praktiken im Parsifal zu verfolgen und darüber nachzudenken, wie in der Konzeption dieses vor allem »durch die Nähe und Affinität zum Ritual und zum Tableau«30 charakterisierten Bühnenweihfestspiels die Integration religiöser Symbole und Praktiken in das musikalische Drama aussieht.31 Ebenso könnte man das Weiterleben der im Bühnenweihfestspiel angelegten Sakralisierung der Festspielidee erläutern.32 Vor allem die damit verbundene Reservierung der Aufführungsrechte des Parsifal für Bayreuth nach Wagners Tod ließe sich als reduzierte und zu einer Art ›theatralisierter Religion‹33 korrumpierte Version des ehemals kunstreligiö_____________ 28 29

30 31 32

33

Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 229. Aufgrund ihres Anspruchs auf die religionsähnliche oder religionsanaloge »Vermittlung eines Unbedingten« (Detering: Kunstreligion und Künstlerkult (Anm. 1), S. 124) ist der Bezug auf oder die Integration verschiedener medialer Praktiken in kunstreligiösen Konzepten und Verfahrensweisen implizit angelegt; vgl. auch Detering: Was ist Kunstreligion? (Anm. 1). Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen (Anm. 4), S. 216. Vgl. Hofmann: Richard Wagners Politische Theologie (Anm. 6), S. 233-266; Kienzle: Religion und Philosophie (Anm. 6), S. 189-229. Zum Bühnenfestspiel vgl. Dahlhaus, Carl: Richard Wagners Bühnenfestspiel. Revolutionsfest und Kunstreligion; in: Das Fest. Herausgegeben von Walter Haug und Rainer Warning. München 1989, S. 592-609. – Den Schwerpunkt ›Bayreuther Theologie‹ behandelt die Zeitschrift wagnerspectrum 5 (2009/2). Vgl. Bermbach: ›Ästhetische Weltordnung‹ (Anm. 9), S. 232.

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sen Anspruchs verstehen. Solchen Möglichkeiten, die Wirkmächtigkeit der Wagnerschen Kunstreligion in deren kulturellen Transformationen zu zeigen, wird hier eine Alternative gegenübergestellt: die Frage nämlich, ob und in welcher Form in der literarischen Wagner-Rezeption Residuen des kunstreligiösen Anspruchs erhalten bleiben. Zu überlegen ist dabei (als starke Hypothese), ob der Aspekt der Kunstreligion auch bei der Adaptation des Wagnerschen Programms bzw. bestimmter Teile dieses Programms in rein sprachlich-literarischen Medien weiter transportiert wird und in säkularisierten Varianten als Vorstellung ästhetischer Autonomie erhalten bleibt. Die schwache Hypothese wäre demgegenüber, dass Wagners intermedial-kunstreligiöses Programm am Beginn eines ästhetischen Diskurses steht, in dem über Möglichkeiten nachgedacht wird, bestimmte Aspekte einer auf intermedialen Effekten basierenden musikdramatischen Überwältigungsästhetik – die zunächst in Analogie zur oder gar als Substitut der Religion projektiert war – wieder für sprachbasierte Medien zu reklamieren und gewissermaßen zu retextualisieren. Dabei würde die Verbindung von kunstreligiösem Anspruch und Intermedialität zwar identifiziert und diskutiert und sogar Teil des ästhetischen Selbstverständnisses, deshalb aber nicht unbedingt produktiv wirksam. Diese Fragen gilt es am Beispiel der frühen Wagner-Rezeption in Frankreich zu verfolgen und dabei drei Stationen anzudeuten, die versuchsweise mit den Begriffen Identifikation, Exploration und Transformation bezeichnet werden und jeweils kurze Verdeutlichungen dieser Überlegungen bieten. Als Identifikation kann man die reflexive Erschließung von Wagners Ästhetik durch Charles Baudelaire fassen. In Richard Wagner et ›Tannhäuser‹ à Paris (Ende April und Anfang Mai 1861 mehrfach publiziert),34 versucht Baudelaire bekanntlich eine Verteidigung von Wagners Kunst nach dem Tannhäuser-Skandal an der Pariser Grand Opéra im März 1861. Baudelaires Text gilt als eines der frühesten Zeugnisse des wagnérisme, ist inhaltlich allerdings bei weitem nicht so ergiebig, wie seine literarhistorische Prominenz vermuten ließe. Abgesehen von der Polemik gegen die WagnerGegner nähert sich der Autor dem Gegenstand Richard Wagner an, indem er dessen Theorie resümiert – freilich aufgrund selektiver und vermittelter Kenntnisse35 – und die drei frühen musikalischen Dramen Tannhäuser, Lohengrin und Der fliegende Holländer bespricht, um schließlich über den _____________ 34

35

Zur Publikationsgeschichte vgl. den Kommentar zu Richard Wagner und der ›Tannhäuser‹ in Paris; in: Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Band 7: Richard Wagner. Meine Zeitgenossen. Armes Belgien! 1860-1866. Übersetzt von Friedhelm Kemp und Ulrike Riechers. München – Wien 1992, S. 416-431. Zu den Details von Baudelaires wohl mehrfach vermittelter Kenntnis der theoretischen Schriften vgl. wiederum den Kommentar zu Richard Wagner und der ›Tannhäuser‹ in Paris (Anm. 34), bes. S. 423f.

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möglichen Erfolg von Wagners Programm nachzudenken. Am folgenreichsten sind die Bemerkungen zum Lohengrin-Vorspiel, in dessen Musik Baudelaire eine imaginativ hervorgerufene Verbindung von Klängen, Farben, Melodie und Gedanken erkennt. Ausgehend vom Hörerlebnis liefert er eine sprachliche Beschreibung der intermedialen Ästhetik Wagners und hebt dabei hervor, dass die Musik in dieser Ästhetik nur eine Funktionsstelle bildet. Berührungen mit anderen Medien werden auf der Basis der bereits versprachlichten Rezeption der Musik thematisiert. Zudem werden Baudelaires Überlegungen in einer Rhetorik vorgetragen, in der die vermeintliche Negation der Möglichkeit einer Medienüberschreitung diese im Rezeptionsvorgang geradezu suggeriert: […] car ce qui serait vraiment surprenant, c’est que le son ne pût pas suggérer la couleur, que les couleurs ne pussent pas donner l’idée d’une mélodie, et que le son et la couleur fussent impropres à traduire des idées; les choses s’étant toujours exprimées par une analogie réciproque, depuis le jour où Dieu a proféré le monde comme une complexe et indivisible totalité.36

Der Text ist ein Dokument dafür, dass die medienkombinatorische Ästhetik von Wagners musikalischem Drama nicht nur identifiziert wurde, sondern auch als ein attraktives ästhetisches Angebot erschien, das zumindest postulatorisch für den Re-Import in die Literatur reklamiert und zur diskursiven Unterstützung des eigenen Schreibens instrumentalisiert werden konnte. Nicht zufällig zitiert Baudelaire im unmittelbaren Anschluss die beiden berühmten Quartette des Sonetts Correspondances aus den Fleurs du Mal, in denen die symbolistische Grundformel – »La nature est un temple où de vivants piliers | Laissent parfois sortir de confuses paroles«37 – formuliert wird; sie dienen ihm als Beispiele für ein analoges ästhetisches Unternehmen, das materiell gesehen zwar auf die Sprache beschränkt bleibt, aber den Anspruch erhebt, vergleichbare medienüberschreitende Suggestionen zu produzieren, und damit Wagners Medienkombinatorik gleichwertig ist. Die Entsprechungen, die Baudelaire zwischen den verschiedenen medial bedingten Imaginationen ausmacht, erkennt er auch in den sprachlichen Analogiebeziehungen, die seiner Poetik symbolistischer Lyrik zugrunde liegen. Die Gesamtheit der Welt, die Wagners Musik in solchen Analogien angeblich abbilde, wird von Baudelaire deshalb mit dem Ganzheitsanspruch seiner sprachlichen Schöpfung der Welt identifiziert. Dieser Totalitätsgedanke ist ein erstes Residuum der Verknüpfung _____________ 36

37

Baudelaire, Charles: Richard Wagner et Tannhäuser à Paris (1861); in: Baudelaire, Charles: Curiosités esthétiques. L’art romantique et autres Œuvres critiques. Textes établis avec introduction, relevé de variantes, notes et bibliographie par Henri Lemaitre. Paris 1962, S. 689-728, hier S. 696f. Baudelaire: Wagner et Tannhäuser (Anm. 36), S. 697.

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des kunstreligiösen Anspruchs mit der ästhetischen Konzeption intermedial imprägnierter Textstrategien. Die Exploration der kunstreligiös tingierten Ästhetik Wagners lässt sich vor allem in der Revue Wagnérienne beobachten, jener Zeitschrift, in der zwischen 1885 und 1887 unter Édouard Dujardins Herausgeberschaft symbolistische Essayisten und Literaten Wagner und sein Werk regelrecht erkundeten. Die Ausrichtung der Texte variiert, aber fast immer steht der intermediale Charakter als Faszinosum im Mittelpunkt. Das geschieht zum einen »in dichterischen Paraphrasen Wagnerscher Musik«,38 aber auch in teilweise recht ausführlichen theoretischen Abhandlungen, die vor allem von Téodore de Wyzéwa und von Dujardin selbst stammen (auch Mallarmés Prosagedicht Richard Wagner, rêverie d’un poëte français39 findet sich in der Zeitschrift). Argumentativ ist es sowohl eine Distanzierung von Wagner als auch die Auseinandersetzung mit dessen Ästhetik als dem »Modell einer den neuen Wahrnehmungsweisen […] angepaßten Kunst«.40 Unter den Stichworten La peinture wagnérienne, La littérature wagnérienne und La musique wagnérienne versuchte Wyzéwa seinerseits, die ästhetischen Qualitäten der Künste auf der Basis der Wagnerschen Medienkombination neu zu bestimmen. Über die Literatur heißt es beispielsweise, dass sie gegenwärtig genau die von Wagner erkannte Bestimmung habe: nämlich die Schaffung einer ›höheren Realität‹ und, mehr noch, eines künstlerischen Lebens: La littérature, art des notions, eut toujours […] une même destination, la destination reconnue par Wagner à toute forme de l’Art: elle voulut créer, au dessus de la réalité habituelle, la réalité supérieure et plus réelle d’un vie artistique41

Zudem wird eine erneute Vermischung der Künste propagiert, die diesmal allerdings von der Literatur ausgehen soll. Unter dem Schlagwort ›gefühlsbetonte Künste‹ (›arts émotionnels‹) überschreite die Literatur in der sprachlichen Fundierung die einzelnen medialen Systeme ebenso, wie das _____________ 38 39 40

41

Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin – New York 1973, S. 75. Mallarmé, Stéphane: Richard Wagner, rêverie d’un poëte français; in: Revue Wagnérienne VII (1885), S. 195-200. Vgl. Rommel, Bettina: Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmés kritischen Schriften; in: Mallarmé, Stéphane: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Herausgegeben von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Übersetzt von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Christine Le Gal. Mit einer Einleitung und Erläuterung von Bettina Rommel. Gerlingen 1998, S. 315-380, bes. S. 347-349, hier S. 348; vgl. außerdem Rommel, Bettina: Mallarmé – Wagner. Korrespondenz und Konkurrenz der Medien; in: Les Symbolistes et Richard Wagner. Die Symbolisten und Richard Wagner. Herausgegeben von Wolfgang Storch. Mitarbeit Josef Mackert. Berlin – Bruxelles 1991, S. 157-163 und S. 215-216. Wyzéwa, Téodore de: Notes sur la littérature wagnérienne et les livres en 1885-1886; in: Revue Wagnérienne V (1886), S. 150-171, hier S. 161.

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in der Malerei geschehe: »la littérature a produit un art symphonique, la Poésie, évoquant l’émotion par l’agencement musical des rythmes et des syllabes«.42 Gleichzeitig beschäftigt sich Wyzéwa im Aufsatz La religion de Richard Wagner et la religion du comte Léon Tolstoï43 mit dem kunstreligiösen Anspruch Wagners und leitet daraus den religiösen Charakter der Kunst ab – deutlich in Formulierungen wie »l’Art est sacré, s’il est un moyen à nous faire chercher notre bonheur«.44 In der Revue findet anlässlich der Diskussion von Wagners theoretischen Werken also ein gleichzeitiges Aufarbeiten des intermedialen und des kunstreligiösen Bezugs statt und führt zu Formulierungen, die man als Varianten einer ästhetizistischsymbolistischen Sakralisierung der Kunst als Ersatzreligion verbuchen kann. Ein Element der Transformation dieser Verschränkung einer intermedialen Ästhetik mit kunstreligiösen Denkansätzen findet sich in Édouard Dujardins Roman Les lauriers sont coupés aus dem Jahr 1887. Dieser Roman ist bekanntlich schon allein deshalb literaturhistorisch bedeutsam, weil er eine Art Gründungsdokument des ›inneren Monologs‹ ist, auf den sich später James Joyce berief, was in den 1920er Jahren dem relativ vergessenen Dujardin einen neuen Popularitätsschub verschaffte. 1931 verfasste Dujardin die Abhandlung Le Monologue intérieur, in der er sich selbst auf dem Rücken von James Joyce in die Literaturgeschichte einschrieb. Dujardin bekräftigt hier, was angesichts seiner Aktivitäten in der Revue Wagnérienne nachvollziehbar und auch in der Forschung unbestritten ist: dass der ›innere Monolog‹ in Entsprechung zu Wagners unendlicher Orchestermelodie entworfen worden sei.45 Präzis hat das Michael Niehaus 1994 dargelegt,46 indem er die Parallelität zwischen dem musikalischen Leitmotiv, das immer eine emotionale Bedeutung aufweise,47 und dem Leitmotiv im ›inneren Monolog‹ erläutert, das einen textuellen Speicher des flüchtigen Figurenbewusstseins darstelle. Von da aus lässt sich im Detail untersuchen, wie diese Analogien zwischen Wagners musikalischem Drama und einem Roman funktionieren und wie somit eine aus _____________ 42 43 44 45 46 47

Wyzéwa: Notes sur la littérature wagnérienne (Anm. 41), S. 161. Wyzéwa, Téodore de: La religion de Richard Wagner et la religion du comte Léon Tolstoï; in: Revue Wagnérienne VIII–IX (1885), S. 237-256. Wyzéwa: La religion de Richard Wagner (Anm. 43), S. 251. Koppen, Erwin: Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen; in: Richard-Wagner-Handbuch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler herausgegeben von Ulrich Müller und Peter Wapnewski. Stuttgart 1986, S. 609-624, hier S. 623. Niehaus, Michael: Die Vorgeschichte des inneren Monologs; in: Arcadia 29 (1994/3), S. 225-239. Dujardins entsprechende Formulierung lautet: »une phrase isolée qui emporte toujours une signification émotionnelle« (Dujardin, Édouard: Le Monologue intérieur, son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce. Paris 1931, S. 55).

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der Wagnerschen Medienkombination herrührende Technik, die auf dem Einsatz der Musik als ›Ausdruck von emotionalen und psychologischen Zuständen‹ beruht, in den literarischen Text re-importiert wird. Die Konsequenzen solcher Versuche für den modernen Roman, nicht nur für Joyce, sind bekannt.48 In Dujardins Roman, in dem ein eher langweiliger Tag des eher konventionellen Helden Daniel Prince im Paris des Jahres 1887 beschrieben wird,49 ist mindestens der Beginn auffällig (gerade angesichts des Kontrasts mit dem Rest des Textes). Inszeniert wird die Selbstkonstitution des Ich: Un soir de soleil couchant, d’air lointain, de cieux profonds; et des foules confuses; des bruits, des ombres, des multitudes; des espaces infiniment étendus; un vague soir... Car sous le chaos des apparences, parmi les durées et les sites, dans l’illusion des choses qui s’engendrent et qui s’enfantent, un parmi les autres, un comme les autres, distinct des autres, semblable aux autres, un le même et un de plus, de l’infini des possibles existences, je surgis; et voici que le temps et le lieu se précisent; c’est l’aujourd’hui; c’est l’ici; l’heure qui sonne; et, autour de moi, la vie; l’heure, le lieu, un soir d’avril, Paris […].50

Es wurde darauf hingewiesen, dass dieser absolute Anfang, in dem sich das »Subjekt des inneren Monologs als Unterschiedenes« aus der »Ununterscheidbarkeit, aus dem Rauschen«51 konstituiert, dem Selbstschöpfungsakt im Vorspiel von Wagners Rheingold ähnelt. In der sprachlichen Selbstermächtigung des Subjekts, der im Rest des Romans freilich die Unfähigkeit des Protagonisten folgt, aus den Konventionen des eigenen Lebens und meist auch der eigenen Wahrnehmungen auszubrechen, lässt sich eine Figuration erkennen, die dem kunstreligiösen Anspruch Wagners vergleichbar ist. Der Heterogenität von Alltagswahrnehmungen kann der Held nicht als Handelnder begegnen, aber sie zumindest in der subjektiv gefilterten Abbildung der Wirklichkeit reflektieren. Der Partikularisierung und Säkularisierung der Gegenwart hoffte Wagner mit einer intermedial reaktivierten Sakralität des musikalischen Dramas zu begegnen. Dujardin führt an seinem Protagonisten Daniel Prince vor, wie in einer aus dem musikalischen Drama entwickelten, sprachlich inszenierten Innenschau das Subjekt sich zumindest reflexiv in der nicht beherrschbaren Wirklichkeit der Großstadt verorten kann. _____________ 48 49 50 51

Vgl. McKilligan, Kathleen M.: Édouard Dujardin: Les Lauriers sont coupés and the interior monologue. Hull 1977, bes. S. 52-85. Zur Diskussion des Protagonisten als ›unvollkommener Dandy‹ vgl. Buck, Stefan: Edouard Dujardin als Repräsentant des Fin de siècle. Würzburg 1987, S. 66-103. Dujardin, Édouard: Les lauriers sont coupés. Préface de Valéry Larbaud. Introduction par Oliver de Magny. Paris 1968, S. 29. Vgl. Niehaus: Die Vorgeschichte des inneren Monologs (Anm. 46), S. 228.

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In einer weiteren Passage wird aus der synästhetisch aufgeladenen Evokation der Nacht über der Stadt eine Unterbrechung und Überschreitung der alltäglichen Gedanken des Helden geknüpft und in der Imagination erotischer Erfüllung mit seiner Geliebten ein Erfahrungshorizont angedeutet, der über die, trotz des inneren Monologs, sonst ganz auf das reale Diesseits des Stadtlebens konzentrierte Erzählung hinausreicht: La nuit mi-obscure; nuit blanchie des premières étoiles; demies ombres indistinctes; nuit claire; […] je respire largement le soir, vaguement je regarde le beau dehors; le beau, l’ombré, le mélancolique, le gracieux lointain de l’air; la beauté de la nuit; […] l’air tiède; nul vent; l’air chaud; les haleines de mai naissant; un bien-être, chaudement, dans l’atmosphère caressante et nocturne; […] Léa, ma tendre chère, ma petite Léa, mon aimée, ma Léa! les ténèbres de la nuit emmêlent toutes les choses; […] dans cette nuit, sur le balcon fuyant, sur l’indistinct des murs lointains, dans l’air tiède et nocturne, parmi l’alentour qui s’efface, tu es belle et tu es gracieuse; gracieuse divinement […] ta mince robe flotte, le crêpe crémeux, l’ondoiement du crêpe où tombe un ruban de soie, le crêpe aux plis ceignant tes seins et les hanches et le puéril corps, et tu meus doucement tes lèvres, mon amie; moi je t’aime; l’ombre des grands feuillages monte au ciel, très haut; mienne, tu transparais de l’ombre claire, souriante, ingénue, bonne et charmante; moi je t’aime purement; je ne veux d’elle que son amour; et, son baiser, je le veux de son amour… Ah! Je l’ai eue, je l’ai eue qui ne m’aimait pas!… La nuit; l’obscurité des arbres; le rayonnement des étoiles croissantes; la nuit montante […]52

Vor allem mit den Mitteln der Synästhesie und der assoziativen Wiederholung bestimmter symbolischer ›Leitmotive‹ (die Nacht als Zustand der Entdifferenzierung von Formen und ablenkenden Einzelheiten der Stadtwirklichkeit, der schließlich auch imaginativ die Distanz zur geliebten Léa aufheben kann) wird eine kurzzeitige Überwindung der Realität inszeniert. Man könnte von der Schwundstufe einer Transzendenzerfahrung sprechen, die als mediale Transformation der ›unendlichen Melodie‹ Wagners in die Sprache der Erzählung projektiert ist. Darin wirkt auch Wagners Anspruch auf eine sinnstiftende religiöse Dimension nach. Sie wird im Text – natürlich mit Bezug auf die Nacht- und Liebesmotivik in Tristan und Isolde – reflektiert als eine in der sinnlich-ganzheitlichen Wahrnehmung der Nacht nur augenblicksweise evozierbare individuelle Erfüllung in der Liebe. Auch bei Dujardin liegt die Aufmerksamkeit auf der Frage, unter welchen Bedingungen Effekte der ästhetischen Intermedialität für die Literatur, hier für die Erzählung, produktiv gemacht werden können. Aber die textuelle Transformation dieser Effekte geht offenbar vorerst nicht ohne die Aktivierung eines gewissen diskursiven Ballasts vor sich, der sich in säkularisierten Residuen der Wagnerschen Kunstreligion in den Texten ablagert. Er bleibt weiterhin als schwach _____________ 52

Dujardin: Les lauriers sont coupés (Anm. 50), S. 61-63.

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konturierter Gegenentwurf zu einer bei Wagner wie bei den Wagnéristes als heterogen, partikularisiert und veränderungsbedürftig diagnostizierten Gegenwart der Moderne erkennbar.

III. Vorläufiges Resümee In der frühen Rezeption gibt es verschiedene diskursive Strategien der Retextualisierung des intermedialen Anspruchs von Wagners Drama. Identifiziert und formuliert wird dessen intermedialer Charakter von Baudelaire im Modus der Bezugnahme auf andere mediale Systeme in der Sprache; erkundet und diskutiert wird er unter ausführlicher Bezugnahme auf Wagners theoretische Selbsterläuterungen in der Revue Wagnérienne; Dujardins Les lauriers sont coupés transformieren ihn in literarische Strategien. Zumindest im Sprechen über Wagners mit kunstreligiösen Sinnstiftungsmodellen aufgeladene intermediale Ästhetik scheinen religiöse Implikationen und Absolutheitsansprüche noch in modifizierter Form reflektiert zu werden. In Les lauriers sont coupés ist in der Konstitution des erzählenden Ichs am Anfang eine quasi-religiöse, säkularisierte Version subjektiver Selbstermächtigung festzustellen. Wagners Kunstreligion stellt sich also in Hinsicht auf die literarische Rezeption Wagners als ein Diskurs dar, der in den Diskussionen über die Re-Literarisierung intermedialer Konzepte mittransportiert wird und so in entsakralisierten Formationen überdauert. Mit Blick auf die ästhetizistischen Poetiken der Jahrhundertwende, in deren Selbstverständnis die Musik als absolute Kunst zu einem der Orientierungsmedien erhoben wird, wäre zu verfolgen, inwiefern die Funktionsstelle von Wagners ehemals sozialrevolutionärem kunstreligiösen Anspruch weiter nachwirkt.

LARS KORTEN

Ästhetik der Prophetie Theodor Däublers allzu schöner Weltentwurf Pan. Orphisches Intermezzo Theodor Däublers Pan. Orphisches Intermezzo ist ein Zwischenstück des 1910 erstveröffentlichten, mehr als 30.000 Verse umfassenden Epos Das Nordlicht.1 Däublers Arbeit daran bestimmt beinahe sein ganzes Leben: Angeblich »am Fuße des Vesuv«2 beginnt der zweiundzwanzigjährige Theodor Däubler im Winter 1898 mit den ersten Versen, schließt im Sommer 1903 den ersten Teil sowie das Intermezzo Pan ab, im Frühjahr 1906 dann den zweiten Teil. Überarbeitungen, finanzielle Not und die Verlagssuche erlauben eine Veröffentlichung im Verlag Georg Müller erst 1910 (›Florentiner Ausgabe‹). Zum Jahreswechsel 1921/22 erscheint die überarbeitete Fassung im Insel-Verlag (›Genfer Ausgabe‹). Im Nachlass des 1934 verstorbenen Däubler findet sich schließlich eine weitere, zum Druck bestimmte Fassung mit umfangreichen Korrekturen (›Athener Ausgabe‹). Das Nordlicht als Lebensthema (mithin der frühe Wunsch, ein ›Sonnenimperium‹ zu verfassen)3 mag einer schon früh als spannungsreich empfundenen Religiosität geschuldet sein4 – als Prophet blieb Däubler jedoch weitgehend wirkungslos. Kleinere, von ihm selbst geringgeschätzte Prosaarbeiten dienten ihm als Broterwerb, während das hochgeschätzte Nordlicht von der Kritik zwar wohlwollend aufgenommen, vom breiten Publikum aber gemieden wurde. Nicht selten erschien Däubler bloß als Kuriosum: _____________ 1 2 3 4

Das Nordlicht gliedert sich in die (in mehrere Kapitel unterteilten) Abschnitte Das Mittelmeer und Sahara, die vom zunächst separat gebundenen Intermezzo unterbrochen werden. Theodor Däubler. 1876–1934. Eine Chronik. Bearbeitet von Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin; in: Marbacher Magazin 30 (1984), S. 9-54, hier S. 13. Vgl. Däubler-Chronik (Anm. 2), S. 12. In den Erinnerungen Däublers von 1933/34 heißt es: »Meinem Wesen nach war ich unbedingt religiös. Doch gab es Jahre, wo diese Neigung nur ganz gelegentlich durchbrach, während ich mich sonst als ganz ungläubig gebärdete. Jedenfalls waren die Konflikte seit zu früher Kindheit vorhanden« (Däubler-Chronik (Anm. 2), S. 11).

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Er ähnelte Pan selber, kolossalisch wie ein Gebirge, der Gipfel bewaldet: er trug langwallendes Haar und einen lockigen Vollbart. (Dix hat ihn vortrefflich gemalt, den Mann mit dem Löwenhaupt.) Alles an ihm war maßlos, nicht nur die Zahl seiner Verse. Spielend verschwanden im Gestrüpp seines Bartes Schüsseln voll belegter Brote, und man bemerkte es kaum, denn er hörte dabei nicht auf, in unendlichem Fluß zu deklamieren.5

Immerhin hat die Konzentration auf Däublers Körperbau den Dichter nicht ganz vergessen lassen. Als beispielhaft mag etwa die SimplicissimusKarikatur Olaf Gulbranssons6 anlässlich der Wahl in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste (Januar 1928) gelten: ›Theodor Däubler hebt die Statistik‹ lautet die Überschrift, und die Erläuterung führt aus: »Die deutsche Dichterakademie ergibt mit 31 Mann ein Gesamt-Lebendgewicht von 55,1 Zentnern. Der derzeitige Ernährungszustand der deutschen Literatur ist demnach als durchaus zufriedenstellend zu bezeichnen«. Das Gewicht Däublers ist für die Karikatur aber nur ein Merkmal unter anderen: Däubler wird als urwüchsiger Dichter dargestellt, als Lyraspieler mit Pegasus-Stab, nackt, mit behaartem Körper und hufartigen Füßen. Derartige Rückgriffe auf die Ursprünglichkeit einer rauschhaft-festlichen Poesie sind jedoch auch jenseits der Satire auf erstaunliche Weise frei von Pathos. Die Qualität von Däublers poetischem Weltentwurf lässt man gelten, auch wenn diesem nur geringe Strahlkraft zugestanden wird. Kasimir Edschmid vermerkt in seinen 1961 erschienenen Darstellungen und Erinnerungen Lebendiger Expressionismus: Er schien, physisch vor allem, eine gewisse Verbindung zu kosmischen Dingen zu haben oder deren Wirkung auszustrahlen. Er war, ich weiß, für viele der Jünglinge und Epheben, die ihn begleiteten, ein naher Freund. Ich spürte diese Nähe nie, was schließlich kein Verlust war. In Däubler war etwas von verhülltem Hellenentum, das mehr über die Schicksalsläufte wußte als wir. Ich respektierte es. Vielleicht war Däubler ein halbdämonischer Flurgott, zum Scherz oder Warnung auf die kleine Erde gesandt.7

_____________ 5 6 7

Seewald, Richard: Der Mann von gegenüber. Spiegelbild eines Lebens. München 1963, S. 208. Simplicissimus 32 (1928/45) vom 6. 2. 1928, S. 616, zitiert nach der ›Simplicissimus Online-Edition‹ von Hans Zimmermann; hier: http://www.simplicissimus.info/uploads/ tx_lombkswjournaldb/pdf/1/32/32_45.pdf (letzter Zugriff: 16. 8. 2011). Edschmid, Kasimir: Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen. Gestalten. Erinnerungen. Mit 31 Dichterportraits von Künstlern der Zeit. Basel – München – Wien 1961, S. 250.

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I Pan darf mit seiner Untertitelung Orphisches Intermezzo als deutlich von den eigentlichen Nordlicht-Teilen ›Das Mittelmeer‹ und ›Sahara‹ abgesetzt gelten: Die Forschung hat in diesem Zwischenstück gar das ›geheime Zentrum‹8 des Epos verortet. Wie beim Haupttext handelt es sich bei Pan um einen narrativ (lose) gebundenen Gedichtzyklus: Eine Vielzahl (nicht betitelter) Einzelgedichte formt die bildhaft komplexe, einsträngige Erzählung, die durch ihre umfangreiche Darstellung epischen Charakter gewinnt. Das einleitende Gedicht preist das Sonnenlicht als Schöpfungsmacht und Lebenselixier, das die Erde täglich neu beseelt und dem Menschen innerlichst zu eigen ist. Erst mit dem zweiten Gedicht wird Pan eingeführt: Er ist »Gottheit der Wälder«, aber auch »Allnatur«, die dafür sorgt, dass die kosmisch-irdischen Kräfte nicht entfliehen, sondern »in Halme gebunden | Und hurtig am Erdrücken weitergetragen« werden.9 Im weiteren Verlauf des Zyklus wird Pan vom Ich angerufen zu erscheinen und es zu belehren (Pan 440), denn der »Stern in uns will übersinnlich Gott erreichen, | Und sein Bewußtsein läßt er durch den Äther schweifen, | Die Fernen sieht er plötzlich schroff und jäh erbleichen, | Weil ihre Nähen in den Menschen übergreifen« (Pan 442). Pan gilt dem Ich als Ruhestifter ziel- und zügelloser menschlicher Vitalität; als »Erdgott« (Pan 445) beherrscht er die ursprüngliche Natur und ist Verwalter des irdischen ›Sonnenreiches‹ (Pan 455). Diese Zusammenhänge ahnt auch der »Jünglingsmensch« (Pan 458) mit seinem Weib, »das erste Menschenpaar« (Pan 465): Er »war überglücklich, als er fühlte: | Ich trage zartverknüpft das Weltall im Verstand, | Er wußte nur, wieviel sein Lichtgefühl bespülte, | Und daß er holden Sonnenstolz in sich empfand« (Pan 458). Das wandernde Paar freundet sich mit der Natur an, muss bald aber feststellen, dass in ihm zwar das Sonnenreich fortlebt, Tier und Urwald jedoch dem »wüsten Lande« (Pan 471) zu weichen haben. Nach der Vereinigung von Weib und Mann _____________ 8 9

Vgl. Schmitz, Walter: ›Theodor Däubler: Das Nordlicht‹; in: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. Band 4: ChuDud. Stuttgart – Weimar 2009, S. 420f., hier S. 421. Däubler, Theodor: Pan. Orphisches Intermezzo; in: Theodor Däubler. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Paolo Chiarini, Stefan Nienhaus und Walter Schmitz. Band 6.1: Das Nordlicht. Erster Theil/Das Mittelmeer. Pan. Orphisches Intermezzo. Herausgegeben von Stefan Nienhaus und Dieter Werner. Dresden 2004, S. 429–583; hier S. 437 (Textnachweise aus Theodor Däublers Pan werden im Folgenden unter der Sigle ›Pan‹ geführt).

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wird ein Kind geboren (Pan 479), die Menschen werden sesshaft (Pan 482). Mit der Abenddämmerung und dem Schwinden des Lichts beklagt das Ich seine innere Leere, und es ertönt das leidvolle Lied von Orpheus und Euridike (Pan 486): Orpheus beklagt auf langer Wanderschaft die tote Gattin, bis ihm die einst »verpönten Erdenfreuden« (Pan 504) begegnen, die er aber alsbald fortschickt. Er wird danach von einer Ur-Maschine verschlungen, die das Licht verneint und den Tod bejaht; Orpheus solle Euridike in Frieden ruhen lassen (Pan 517). Nach der Aufzählung irdischen Trübsals wird die Frage nach dem Sinn des Menschseins gestellt, und die Maschine rät Orpheus: »Folgt der Sonne, denn Ihr werdet leben, | Wie Ihr es verlangt, weil Ihr es müßt: | Sonnenhoch wird Euch der Geist erheben, | In Euch selbst erglüht ein Lichtgerüst!«. Die Maschine verschwindet, und Orpheus bemerkt, dass er »selber laut gesprochen« hat, was zunächst zur Überwindung aller »Lebensekel« führt (Pan 521), die ihn jedoch wieder ergreifen, als Geister und Skelette um Fürsprache bitten: »Doch bevor wir ganz in Nacht und Nichts vergrauen, | Bitten wir, laß unsere Worte laut erschallen, | Daß wir, ihnen nach, uns noch am Licht erschauen« (Pan 524). Es folgen Bacchanten, die Orpheus beschimpfen, dann weitere Spukgestalten. Am Nordstrand angekommen trifft Orpheus auf einen anderen, lebensbejahenden Sänger: »Ich war von Anfang an der Menschen Kraftverkünder, | Und jetzt bin ich die stärkste Widerspruchssynthese, | Ich liebe Eure nordlichtüberstrahlten Länder | Und hoffe, daß der Mensch durch seine Lust genese« (Pan 540). Der Fremde sammelt sich und wird schließlich zum Verkünder der Naturgottheit: »Höre denn Mensch, Pan ist erwacht!« lautet der Refrain der nächsten Strophen. Auch der Himmlischen wird gedacht, die »Macht der Olympier« sei »herrlich erglommen« (Pan 544); der Mensch schließlich sei frei, individuell und habe die Kraft, den Tod zu überwinden. Die beiden Dichter trennen sich wieder, Orpheus errichtet einen Sonnenaltar, wird von einem Jüngling beobachtet und erklärt diesem, dass die Macht der Sonne nicht schrecklich sei, sondern ein »Liebesbund« zwischen Menschen und Kosmos bestehe (Pan 555). Orpheus’ Gesang von der ewigen, sündenlosen Liebe wird jedoch unterbrochen vom Auftritt bacchantischer Mänaden, die die Kette der Liebe vom »singenden Dichter zurück bis zur Wildniß« spannen (Pan 568); dem Gott der Räusche und Tanzopfer wird gehuldigt, Pan wird beschworen (Pan 571). Die Mänaden eifern darum, Orpheus zum »Wollustentschluß« zu bewegen – Orpheus jedoch spricht ihnen die Naturhaftigkeit ab, da sie nur geisterhafte »Entschleicher der Gräber« seien (Pan 573). Unter wiederholter Anrufung Pans beginnt Orpheus, das Wesen der Mänaden zu erkennen; er sieht Jünglinge von der Hand der

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Mänaden fallen, zugleich die »Flammen der Liebe« aus diesen Opfern entstehen (Pan 575). Im Sterben beschwört der singende Orpheus seine Liebe und die Kraft seines Gesangs. Visionär erblickt er: »Ein nordlichtgestaltetes, sprühendes Leben, | Ein mündiges Volk mit beflügeltem Streben | Verleiblicht mein brünstig empfundenes Lied, | Und seht doch, schon seh ich wie alles geschieht!« (Pan 577). Orpheus zähmt die Tiere, bestimmt sich als Stammvater der Hellenen (Pan 578), Pan wird beschworen, und Orpheus behauptet seinen für die Ichwerdung notwendigen Opfertod. Die Mänaden hingegen erklären Orpheus’ Gesang für wirkungslos: Orpheus lebt und enträtselt das Geheimnis des Dionysos. Dieser sei der »Ewigkeit alles durchdringendes Walten« (Pan 582), worauf Orpheus von ihm Eingang zu erhalten erbittet zum »Reich des Empfangens und Wonneverlangens: | Es will sich der Wandrer zu Wartenden legen!« (Pan 583).

II Das Intermezzo ist bestimmt von vier ›Prinzipien‹: Pan, Orpheus, das erste Menschenpaar und die Sonne nebst kosmischen Erscheinungen wie das Nordlicht. Erzählerische Ausgestaltung erhalten sowohl die Wanderungen des Menschenpaares als auch diejenigen Orpheus’, mit denen sich zumindest ansatzweise auch ein Weltschöpfungsmythos konturiert. Pan und die kosmischen Erscheinungen hingegen werden als weltumfassende Kräfte eingeführt, die zwar wesentlicher Teil der Entstehungsgeschichte sind, hier aber gleichsam lyrische Chiffren bilden, die den epischen Handlungsgang nicht ereignishaft mittragen. In der mythischen Hierarchie von Pan steht an erster Stelle das Sonnenlicht, dem auch das erste Gedicht des Intermezzo gewidmet ist. Pan gilt als irdische Allnatur mit der Kraft, das Sonnenstreben des Irdischen zu beruhigen. Später wird er mit dem Bacchuszug in Verbindung gebracht, müsste damit also das gegenteilige Prinzip des Rauschhaften und Zügellosen verkörpern. Orpheus wird eingeführt, nachdem das erste Menschenpaar nach langer Wanderung den ›Urwald‹ verlassen, sich vereinigt und schließlich angesiedelt hat. Er scheint weniger vom Liebesleid um die tote Gattin Euridike bestimmt als vielmehr von grundsätzlichen Zweifeln und Leiderfahrungen. Das Vertrauen in die Sonnenmacht und die Kraft des eigenen Gesangs lassen ihn schließlich das irdische Dasein überwinden, wenngleich unklar bleibt, ob er tatsächlich geopfert wird und somit Stammvater der Hellenen sein kann. Zuletzt vertraut er sich Dionysos mit

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dem Wunsch an, von der Wanderung auszuruhen: Dieser ›letzte Wille‹ steht dem ursprünglichen Wesen Pans nahe. Wenngleich die Geschichte Orpheus’ einen wesentlichen Teil des Intermezzo ausmacht, legt der Titel doch nahe, dem Pan-Komplex eine größere Bedeutung zuzuschreiben und das Zwischenstück vor allem insofern als orphisch zu bewerten, als es mehr den Gesang charakterisiert als auf die Figur abzielt. Doch damit fallen Kunst und Religion nicht in eins, da die poetische Beschwörung des Sonnenkultes kaum als Anleitung zum religiösen Leben taugt.10 Zur Bestimmung des kunstreligiösen Status von Pan. Orphisches Intermezzo eignet sich die epochale Kontextualisierung. Expressionistische Anerkennung erfährt Däubler auf vielfache Weise − schon zu Lebzeiten etwa mit der Aufnahme in Kurt Pinthus’ Anthologie Menschheitsdämmerung (1920), die siebzehn Gedichte Däublers enthält. Auch die epochale Selbsteinschätzung ist eindeutig, wie ein Tagebucheintrag vom 2. Juni 1932 zeigt: im Grunde hat es nur zwei expressionistische Dichter gegeben: Rimbaud, mich. Becher und Herzfelde sind zu klein. Heute ist niemand darauf gestimmt. Rimbaud ist durch. Meine Grossleistungen überragen die des Jünglings bestimmt. Wird man sie einst zusammenlesen?11

Freilich stimmen die zeitgenössischen expressionistischen Kategorien wenig mit denen späterer literaturgeschichtlicher Forschung überein, und auch Carl Schmitts Diktum dürfte heute kaum Bestand haben: Was der europäische Impressionismus des 19. Jahrhunderts, was Futurismus, Kubismus und Expressionismus in vielen chaotischen Ansätzen aufgebrochen hatten, fand in der deutschen Sprache eine unerwartete Erfüllung. Das deutsche Gedicht wurde ein neues Wunderwerk von Klang und Farbe und Gedanke. Es wurde zu einer Partitur, deren tonale und koloristische Fülle durch den Leser und Hörer fortwährend intoniert, interpretiert und dirigiert wird. Viele Dichter waren an der sprachlichen Wandlung beteiligt, darunter große Namen wie Stefan George und Rainer Maria Rilke. Aber erst durch Däubler ist die deutsche Sprache zu dem reinen Wunderinstrument einer neuen Tonalität geworden…12

Kaum zu unterschätzen sind Däublers Bemühungen um die bildende Kunst des Expressionismus: 1916 erscheint Der neue Standpunkt mit Essays zur modernen Kunst und Künstlerportraits; 1919 folgt der zu Lebzeiten _____________ 10

11 12

Zu all diesen Zusammenhängen vgl. auch die Selbstdeutungen in: Theodor Däubler. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Paolo Chiarini, Stefan Nienhaus und Walter Schmitz. Band 6.3: Das Nordlicht. Apparatband. Herausgegeben von Stefan Nienhaus und Dieter Werner. Dresden 2004, S. 55-110. Däubler-Chronik (Anm. 2), S. 51. Schmitt, Carl: Der Dichter des Nordlicht, der aus dem Süden kam; in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 33 (15. 8. 1976), S. 12 (zitiert nach Däubler-Chronik (Anm. 2), S. 51).

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immerhin in sieben Auflagen erschienene Band Im Kampf um die moderne Kunst. Däubler hat über Futurismus, Expressionismus und Simultaneität generell geschrieben, aber auch spezifisch über Munch, Chagall, Marc, Macke, Kandinsky und viele andere. Für den 1916 erschienenen EssayBand Mit silberner Sichel waren schließlich Radierungen von Paul Klee vorgesehen, doch haben sich nur drei aquarellierte Federzeichnungen erhalten.13 Wohl nicht nur aufgrund seiner erstaunlichen Statur, sondern auch aufgrund dieses Einsatzes für die Kunst wurde Däubler häufig portraitiert. Neben den Darstellungen von Otto Dix und Ernst Barlach können etwa Zeichnungen von George Grosz (›Herrn Kunstkritiker Däubler zur Erbauung und Anregung‹) und Portraits wie das von Heinrich Maria Davringhausen angeführt werden.14 Den Geist der Zeit wird man auch in Pan-Versen erkennen wie etwa: »Huren, die aus Fenstern nicken, | Alle Laster einer Stadt, | Kann man über sich erblicken, | Wenn man Orpheus Augen hat« (Pan 500). Ferner: »Sicherlich ist das eine Maschine | Und zugleich ein fürchterlicher Götze, | Mumien heizen ihn, und goldene Klötze | Lodern rußend durch die Erzkamine« (Pan 511). Und: »Es will die Seele lauter Fesseln sprengen, | Da sie ihr Dasein selber überdacht, | So mag der Geist sich aus den Massen engen, | Denn es gelüstet ihn nach Eigenmacht« (Pan 456). Mit diesen Formen gesteigerter Ausdruckskunst dürfte man Pan. Orphisches Intermezzo wohl durchaus als religiöses Programm für eine ›konstruktive Gestaltung der Realität‹ lesen (so die Forderung Kasimir Edschmids »in einer vielbeachteten Rede ›Über den dichterischen Expressionismus‹«, 1917),15 doch ist fraglich, ob man Däublers immerhin schon 1902/03 entstandenen Versen damit vollauf gerecht wird.

_____________ 13 14

15

Vgl. Däubler-Chronik (Anm. 2), S. 26-28. Vgl. Däubler, Theodor: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin. Darmstadt 1988. – Laur, Elisabeth: Ich bin in meinem Leben schon ein halbes Jahr gesessen. Theodor Däubler in Porträts von Künstlern seiner Zeit. In: Ernst Barlach. Theodor Däubler. Die Welt versöhnt und übertönt der Geist. Herausgegeben von Volker Probst und Helga Thieme. Güstrow 2001, S. 15–30. Beetz, Manfred: ›Expressionismus‹; in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Band I: A-G. Herausgegeben von Klaus Weimar. Berlin – New York 1997. S. 550-554, hier S. 551.

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III Die zitierten drei Strophen folgen drei unterschiedlichen Metren: dem 4hebigen Trochäus (»Huren, die aus Fenstern nicken«), dem 5-hebigen Trochäus (»Sicherlich ist das eine Maschine«) und dem 5-hebigen Jambus (»Es will die Seele lauter Fesseln sprengen«). Die Bedeutung des Metrums bzw. des bis ins 20. Jahrhundert hinein häufig synonym verstandenen Rhythmus sollte für Pan. Orphisches Intermezzo nicht geringgeschätzt werden. Pan wird als »Anhalt und Lebenszweck rhythmischer Kreisung« bezeichnet (Pan 437); er sammelt, was ins Chaos zu stürzen droht, auf rhythmische Weise (um es dann wieder entschlüpfen zu lassen; vgl. Pan 438). Der Pulsschlag des Menschen richtet sich nach dem »Sonnenrhythmus« (Pan 453), wie überhaupt das Dasein »nach eigenen Rhythmen« geordnet sei (Pan 474). Über den Dichter Orpheus heißt es schließlich, er finde seine Weisen zu »des Herzens Rhythmenschlag« (Pan 497). Kosmische und biologische Rhythmusvorstellungen werden somit in einer dem Wohlklang verpflichteten Poesie rückgebunden.16 Als bedeutsames poetisches Klangmittel ist des Weiteren (und neben zahlreichen Alliterationen, Assonanzen etc.) der Reim zu nennen, der Pan. Orphisches Intermezzo durchgängig strukturiert: Enjambements sind vermieden, Vers-Schlüsse (und damit Reimworte) beenden eine Sinn-Einheit, Strophen-Schlüsse (und damit Abschlüsse der meist 4-versigen Reimgruppe) fallen mit dem Satzende zusammen: »Lichter müssen rings zersplittern, | Gold erschimmert im Geäst, | Und die Lispelblätter zittern, | Weil die Sonne uns verläßt« (Pan 483). Potenziert klingt das wie folgt: Im Urwalde regt sich bereits das Verlangen, Das irdische Fordern, sich anzubequemen, Durch innige Lichtrhythmen rings zu verfehmen: Vom Erdfeuer Inhalt und Werth zu empfangen: Um langsam den Drang, was sich bietet, zu nehmen, Durch glimmende Seelenbeginne zu lähmen! (Pan 446)

Auf diese Weise – zumal eingedenk resignativer Poetologie wie »Es mußten die Sänger am Liede erkranken, | Denn stets liegt bei Dichtungen Gram auf der Lauer, | Die Wehmut beginnt jeden Wunsch zu umranken, | Und Lieder des Glaubens sind Lieder der Trauer« (Pan 474) – erfüllt sich wohl weniger das ästhetische Programm des Expressionismus als vielmehr ein Wort Hugo von Hofmannsthals: »Da gibts keinen Zweifel, das ist schön, neu, original und schön, merkwürdig, bizarr und schön, vor _____________ 16

Vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungen Theodor Däublers gegenüber Arthur Moeller van den Bruck im Brief vom 28. 12. 1905 (Theodor Däubler. Kritische Ausgabe, Band 6.3 (Anm. 10), S. 99-104, hier S. 102).

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allem schön«.17 Hofmannsthal wollte das Lob zwar explizit nicht auf das Nordlicht richten (sondern auf die 1916 erschienene Gedichtsammlung Das Sternenkind), doch ist der sinnliche Gestus in Däublers epischen Versen nicht grundsätzlich verschieden von dem der lyrischen.18 Däublers Verse sind Gesang, der jede Programmatik vergessen macht. In eben diesem Sinne kann wohl auch ein Tagebucheintrag Paul Klees aus dem Jahr 1915 verstanden werden: Der prächtige dicke Däubler gibt mir seine weiche Hand: »Sie sind ein futuristisches Temperament in Deutschland. Mit der Kultur der Tradition verbundener Futurismus. Ich bin auch schon Futurist. Ich reime nur noch.« (Vielleicht ist es schade, daß er noch reimt?)19

Bedauern über den Reim (und den Rhythmus) muss sich nur dann einstellen, wenn der Futurismus das Maß der Dinge ist. Das 1902/03 geschriebene ›Orphische Intermezzo‹ Pan kann durchaus als ausgesprochen modern gelten, und zwar im Sinne des Ästhetizismus der Jahrhundertwende. »[A]llseitige Pflege der Kunst im Sinne einer organischen Kunstauffassung, die das gesammte Bereich des künstlerisch Schönen umfasst«20 ist Richtschnur für Pan, die wohl wirkmächtigste Kunst-Zeitschrift dieser Jahre, und die Blätter für die Kunst bezeichnen im fünften Jahrgang ihre Kunst als »frei von jedem dienst«, »eine kunst aus der anschauungsfreude aus rausch und klang und sonne«.21 In diesem Fall konkurriert die Kunst mit der Religion, und die Kunst setzt sich selbst als absolut. Damit sei das Nordlicht jedoch nicht apodiktisch auf seine Form22 festgelegt: Mythologie und Mystik, Symbolik und Ausdeutungen von gnostischer bis zu christlicher Stimmigkeit sind für Theodor Däublers Epos durchaus mögliche und keineswegs unplausible _____________ 17 18 19 20 21 22

Hugo von Hofmannsthal an Katharina Kippenberg, 23. 5. 1916; in: Hofmannsthal, Hugo von: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag. 1901–1929. Herausgegeben von Gerhard Schuster. Frankfurt/M. 1995, Sp. 644f., hier Sp. 644. Hofmannsthal beklagt allerdings die »barocke Härte« des Nordlicht gegenüber den GedichtVersen (Hugo von Hofmannsthal an Katharina Kippenberg, 23. 5. 1916 (Anm. 17), Sp. 644). Klee, Paul: Tagebucheintrag Nr. 955; in: Tagebücher von Paul Klee 1898-1918. Herausgegeben und eingeleitet von Felix Klee. Köln 1957, S. 319. Pan 1 (1895/1) [vor S. 1]. Blätter für die Kunst. Herausgegeben von Carl August Klein. Dritte Folge, 1. Band (1896), S. 2. Vgl. Schmitt, Carl: Theodor Däublers Nordlicht. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. Unveränderte Ausgabe der 1916 bei Georg Müller in München erschienenen Erstauflage. Berlin 1991, S. 55: »Soviel die schöne Form bedeutet, soviel an ihr bewußt erarbeitet werden kann, das Wesentliche ist Offenbarung, Geschenk, Gnade.« – Zu Schmitts Däubler-Studien vgl. Nienhaus, Stefan: Denker und Sprecher und kosmische Strahlung. Theodor Däubler in der Interpretation Carl Schmitts; in: Werner, Dieter (Hrsg.): Theodor Däubler – Biographie und Werk. Die Vorträge des Dresdner Däubler-Symposions 1992. Mainz 1996, S. 85-97.

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Lektüreschwerpunkte. Solchen Lesarten, die dann den expressionistischen Gehalt betonen müssten, mag allerdings die ästhetizistische und somit wahrhaft kunstreligiöse beigesellt werden.

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Dichterische Sinnstiftung als logozentrisches Verfahren Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Licht von George Steiners ›real presences‹ Im frühen Essay Poesie und Leben (1896) erläutert Hofmannsthal, was er unter ›Poesie‹ versteht: daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen.1

Des Weiteren heißt es dort: Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. […] Das Element der Dichtkunst ist ein Geistiges, es sind die schwebenden, die unendlich vieldeutigen, die zwischen Gott und Geschöpf hangenden Worte. (PL 16-19)

Mögen solche Äußerungen in der Tat ›sehr radikal‹2 geklungen haben (»Man lasse uns Künstler in Worten sein«; PL 17), erlauben sie doch umso mehr, den Ausgangspunkt von Hofmannsthals Poetik daran abzulesen. _____________ 1

2

Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 8: Reden und Aufsätze I. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 13-19, hier S. 15f. (Textnachweise aus Hofmannsthals Poesie und Leben werden im Folgenden unter der Sigle ›PL‹ geführt). »Bei Hofmannsthal, der doch zumindest in seiner letzten Periode bewußt die Verbindung zu Kult, Bildung und Nation aufnahm, fand ich eine sehr radikale Äußerung: ›es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie‹« (Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik; in: Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Dieter Wellershoff. Band 4: Reden und Vorträge. Wiesbaden 1968, S. 1058-1096, hier S. 1073).

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Das ist zugleich die Poetik des ›fundamentalistischen‹ Ästhetizismus im fin de siècle, den Paul Bourget folgendermaßen zusammengefasst hat: Un style de décadence est celui où l’unité du livre se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la page, où la page se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l’indépendance du mot.3

Das legt die Folgerung einer völlig autonomen und in sich geschlossenen (modernen) Dichtung im Kontext der Reflexion über die Kunstreligion nahe, vor allem wenn man auf deren Anspruch verweist, ein ›Außer dem Leben‹, ein ›Außenweltliches‹ auszudrücken:4 eine »Realitätsverdoppelung«5 also im Sinne von Niklas Luhmann, wenn man so will, deren Verfahren per se einen transzendentalen bzw. religiösen Gehalt hat. Die Unterscheidung zwischen Wort und Leben (bzw. Welt) führt jedoch zu weiteren Überlegungen, von denen hier in Hinsicht auf den frühen Hofmannsthal und seinen ›Chandos-Brief‹ die Rede sein soll. In diesem Zusammenhang gilt es auf den – in Deutschland weit intensiver als in Italien diskutierten – Essay Real Presences (1989) von George Steiner zu verweisen, speziell auf die dort vorgenommene Reflexion der Unterscheidung zwischen ›signifiant‹ und ›signifié‹ in der Literatur der abendländischen Moderne. Steiner sieht »one of the very few genuine revolutions of spirit in Western history and which defines modernity itself« eben im »break of the covenant between word and world« und bezeichnet die darauf folgende Phase ›after the word‹ als ›epilogue‹.6 Sie hat sich einerseits in der Folge von Arthur Rimbauds »deconstruction of the first person singular« (St 94) ergeben und andererseits (was in diesem Zusammenhang von größerer Bedeutung ist) angesichts der »repudiation of the covenant of reference« durch Stéphane Mallarmé, demzufolge das, »which endows the word rose, that arbitrary assemblage of two vowels and two consonants, with its sole legitimacy and life force« nichts anderes ist als »l’absence de toute rose« (St 96). Die Befreiung des Wortes »from the servitude of representation« verleiht der »word-world« die Möglichkeit, »via poetry and the poetics of thought in philosophy […] its magic, its formal and categorical infinity« wiederzugewinnen (St 97f.). Sprachphilosophie, Sprachwissenschaft, Psychoanalyse und Sprachkritik sind laut Steiner die Konsequenzen einer »truth of the word«, verstanden als »absence of the world« (St 96), worin all die dekonstruktivisti_____________ 3 4 5 6

Bourget, Paul: Essais de psychologie contemporaine. Paris 1892, S. 25. Vgl. Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124-133. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 229. Steiner, George: Real Presences. London 1989, S. 93f. (im Folgenden unter Angabe der Sigle ›St‹ zitiert).

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schen Systeme gipfeln. Steiner verweist eloquent auf deren oft »repulsive jargon«, d. h. auf den »contrived obscurantism« und die »specious pretensions to technicality which make the bulk of post-structuralist and deconstructive Theory and practice [...] unreadable« (St 115f.). Die Lösung liegt für ihn einzig in der Rückkehr zur Auffassung von einer ›sinnvollen‹ Sprache (bzw. deren Wiederentdeckung), die auf der Annahme beruhen muss, »that ›God‹ is«, und auf die These hinausläuft, dass die Voraussetzung, der Begriff ›Sinn‹ habe einen Sinn, »a wager on transcendence« sei (St 4). Insofern erweist sich die Kunst laut Steiner als die »maximalization of semantic incommensurability in respect of the formal means of expression« (St 83). Doch was bedeutet das nun für den ›Chandos-Brief‹? 1902 schickt Hofmannsthal seinem Freund Leopold von Andrian eine »Arbeit« nicht aufgrund von deren »Bedeutung«, sondern »einmal weil sie, bei ihrer Kleinheit, wirklich fertig ist, […]; dann aber auch weil gerade dieser Arbeit, die keine dichterische ist, das Persönliche stark anhaftet«.7 Es handelt sich dabei um den Text, den Hofmannsthal am 18./19. Oktober 1902 – nach einer schon reichen dichterischen Produktion ab 1891 – in der Berliner Tageszeitung Der Tag veröffentlicht8 und der unter der Bezeichnung ›Chandos-Brief‹ von der Literaturkritik als eines der repräsentativsten Beispiele für sprachkritische Überlegungen der Jahrhundertwende in Anspruch genommen wird.9 Es stimmt zwar, dass hier eine sprachliche, dichterische und existenzielle Krise des fiktiven jungen Landedelmanns und Dichters Philipp Lord Chandos beschrieben wird, der sich am 22. August 1603 an den befreundeten Philosophen Francis Bacon wendet. Aber eben aufgrund des fiktiven10 Charakters des Briefes lässt sich über die erste narrative Schicht _____________ 7 8

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Hugo von Hofmannsthal an Leopold von Andrian, 9. 9. 1902; in: Hofmannsthal, Hugo von / Andrian, Leopold von: Briefwechsel. Herausgegeben von Walter H. Perl. Frankfurt/M. 1968, S. 157. Zur Entstehung vgl. die Varianten und Erläuterungen zu Ein Brief in Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 277-300, hier S. 277-281. Vgl. Helmstetter, Rudolf: Entwendet. Hofmannsthals Chandos-Brief, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003/3), S. 446-480. Vgl. Tarot, Rolf: Hugo von Hofmannsthal – Daseinsformen und dichterische Struktur. Tübingen 1970, S. 360-383; Kobel, Erwin: Hugo von Hofmannsthal. Berlin 1970, S. 142; Riedel, Wolfgang: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin – New York 1996, S. 3; vgl. auch Gerke, Ernst-Otto: Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal; in: Germanische Studien 236. Herausgegeben von John C. Kunstmann, Hans-Joachim Mähl, Karl Konrad Polheim, Ulrich Pretzel, Walter H. Sokel. Lübeck – Hamburg 1970, sowie Magris, Claudio: Der Zeichen Rost. Hofmannsthal und Ein Brief; in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 6 (1975), S. 53-74; Busch, Walter /

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hinausgehen. Anzunehmen ist, dass es hier nicht nur um eine ›Sprachkrise‹ oder – in biographischer, unter Umständen beschränkter Perspektive – um das Geständnis einer ›Wende‹ von der dichterischen, selbstreferentiellen und deshalb ›egoistischen‹ Tätigkeit des Dichters hin zu einer sozial und politisch engagierten11 geht, sondern um die reflektierte und in dichteri-scher Form vollgezogene Beschreibung einer sprachlichen wie poetologischen Problematisierung, in der der Dichter und seine Funktion im Vordergrund stehen. Denn wenn sich Hofmannsthal hier auch innerhalb der bekannten Sprachskepsis der Moderne bewegt (man denke an Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner, Ludwig Wittgenstein, Gustav Landauer, Ludwig Klages, Karl Kraus oder Ernst Bloch), so ist paradoxerweise ebenfalls richtig, dass er aus eben dieser Skepsis eine Form von Glauben an das – inzwischen mystifizierte12 und verabsolutierte – Wort ableitet, indem er ihm eine Form eigener Existenz zuschreibt: »Wenn das Dasein eines Wortes keine Gewähr für die Existenz seines Wortinhalts bietet und Sprach- und Denkgewohnheiten in tyrannischer Weise den Menschen bestimmen«, so Martina Wagner-Egelhaaf, »kann nur der Glaube an das Wort hoffen machen, daß ein ihm entsprechender Inhalt gefunden werden kann«.13 Unter den Koordinaten einer solchen Verabsolutierung sowohl des Wortes – infolge von Skepsis und Verleugnung oder infolge von Liebe und Glaube – als auch des Dichters, der ohne tatsächlich zu schweigen14 _____________ 11 12 13

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Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Der Gestus des Verstummens – Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief; in: Literatur für Leser 4 (1986), S. 212-222. Vgl. Pestalozzi, Karl: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich 1958; Brinkmann, Richard: Hofmannsthal und die Sprache; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961/1), S. 69-95. Vgl. Mähl, Hans-Joachim: Die Mystik der Worte – Zum Sprachproblem in der modernen deutschen Dichtung; in: Wirkendes Wort 13 (1963), S. 289-303, hier S. 292. »Auf diese Weise hielten die Alchimisten an ihrem wortrealistischen Aberglauben fest, den Begriffen ›Stein der Weisen‹ oder ›Lebenselixier‹ entspreche irgendwo eine Realität, die nur gesucht werden müsse, ebenso wie die Mystiker sich auf das Dasein des Wortes ›Gott‹ stützen. Glaube in diesem Sinne verbindet auch die Religion mit der Kunst: Wie der Christ am Feiertag an das religiöse Dogma glaubt, […] muß der Kunstfreund für die Dauer eines Theaterabends an die Wahrheit auf der Bühne glauben« (Wagner-Egelhaaf, Martina: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 34); vgl. auch Braungart, Wolfgang: Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen; in: Braungart, Wolfgang / Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hrsgg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Band II: Um 1900. Paderborn – München – Wien – Zürich 1998, S. 15-29, hier S. 20. »Es ist töricht zu denken, daß ein Dichter je seinen Beruf, Worte zu machen, verlassen könnte« (Hofmannsthal, Hugo von: Macht der Worte im Allgemeinen; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd

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eine ›Rhetorik des Schweigens‹15 produktiv inszeniert, lässt sich im ›Chandos-Brief‹ die Problematisierung einer »positiven«,16 unter Umständen nie preisgegebenen17 und machtvollen dichterischen Sprachauffassung erkennen, in der das Wort nicht auf die Beschwörung jener »unbekannten heiligen Welt«18 im (deutschen) romantischen Sinne zielt;19 das Wort kreist vielmehr um das Problem der Präsenz von ›Sinn‹. Ausgehend von der Erfahrung des Verlusts an Referenzialität, die Chandos bei den ›leeren‹ (Begriffs-) Worten gemacht hat, lässt sich somit ein Bogen bis zur Präfiguration ›sinnvoller‹ und (in der Dichtung) autonomer Worte verfolgen, die Chandos zwar noch nicht findet, jedoch schon ersehnt.20 Claudio Magris zufolge erzeugen sie die »Aura eines unaussprechbaren Sinnes, der sich um die Dinge sammelt und alle Elemente durchdringt«.21 Das religiöse Element »innerhalb der Arbeit des Dichters« hervorhebend, hat Bernhard Böschenstein im Gespräch über Gedichte (1903) einen »Ausweg aus _____________ 15

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Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 414f., hier S. 414). Vgl. Härter, Andreas: Der Anstand des Schweigens. Bedingungen des Redens in Hofmannsthals Brief. Bonn 1989; Osterkamp, Ernst: Die Sprache des Schweigens bei Hofmannsthal; in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 2 (1994), S. 111137. Donald G. Daviau hat betont, »that Hofmannsthal’s view of language remains consistently positive throughout his life and contains no inconsistencies« (Daviau, Donald G.: Hofmannsthal and Language. A Positive View; in: Wir sind aus solchem Zeug wie das zu träumen... Kritische Beiträge zu Hofmannsthals Werk. Herausgegeben von Joseph P. Strelka. Bern – Berlin – Frankfurt/M. – New York – Paris – Wien. 1992, S. 285-304, hier S. 302). Vgl. Hoppe, Manfred: Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. Berlin 1968; Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 142. Novalis: Heinrich von Ofterdingen; in: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Dritte, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Erster Band: Das dichterische Werk. Darmstadt 1977, S. 193-334, hier S. 289. Vgl. Mähl: Die Mystik der Worte (Anm. 12), S. 294. − Zur Beeinflussung durch Novalis vgl. auch Wilke, Tobias: Poetiken der idealen und möglichen Sprache. Zu den intellektuellen Bezügen zwischen Novalis’ Monolog und Hofmannsthals Chandos-Brief; in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 248-264. Insofern scheint Hofmannsthals Unterscheidung zwischen ›Unzulänglichkeit‹ und ›Transponieren‹ eines Ausdrucks treffend: »Die Welt der Worte eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Daher keine ›Unzulänglichkeit‹ des Ausdrucks denkbar, es handelt sich um ein Transponieren« (Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 1895; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 400). Magris, Claudio: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur. Aus dem Italienischen von Christine Wolter. Frankfurt/M. 1987, S. 59.

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der Sprachkrise« Chandos’ gesehen, der »mit einer Zuflucht zu traditionellen Vorstellungen vom Dichterberuf zusammenzuhängen« scheint.22 Diesem lohnenden Hinweis wird im Folgenden nachgegangen, um eine mögliche Antwort auf Chandos’ ›Sehnsucht‹ zu finden. Chandos hat eine erste Phase ›vor‹ der Krise erlebt, in der ihm »das ganze Dasein als eine große Einheit«23 erschien. Biographisch gesehen, lassen sich hier die Konturen neuromantischer Tendenzen des frühen Hofmannsthal24 erkennen (man denke etwa an das hypertrophische, stark von Nietzsche25 beeinflusste Ich-Bewusstsein). In Bezug auf den fiktiven Zeitraum des ›Briefes‹ lässt sich aber gleichfalls erkennen, dass das Früh.werk des Bacon-Schülers in der ebenso rhetorisch wie theologisch geprägten Zeit der Renaissance wurzelt bzw. in einer Zeit »der Initiation subjektivistischen Denkens in der Philosophie, sowie der Hinwendung der Kunst zur Darstellung des Individuums, […] der Voraufklärung also«:26 _____________ 22

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Böschenstein, Bernhard: Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900; in: Braungart, Wolfgang / Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hrsgg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Band II: Um 1900. Paderborn – München – Wien – Zürich 1998, S. 111-121, hier S. 117. Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief; in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991 S. 45-55, hier S. 47 (im Folgenden unter der Sigle ›B‹ nachgewiesen). »Als junger Mensch sah ich die Einheit der Welt – das Religiöse – in ihrer Schönheit; die vielfältige Schönheit aller Wesen ergriff mich, die Kontraste, und daß alle doch auf einander Bezug hatten. Später war es das Einzelne und die hinter der schönen Einheit wirksamer Kräfte, das ich darzustellen mich gedrungen fühlte, aber von dem Gefühl der Einheit ließ ich nie ab« (Hofmannsthal, Hugo von: Ad me ipsum (1916-1929); in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 597-627, hier S. 618). »Es gibt keine Erlebnisse, als das Erlebnis des eigenen Wesens« (Hofmannsthal, Hugo von: Über Charaktere im Roman und im Drama. Ein imaginäres Gespräch; in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 27-39, hier S. 32); vgl. Meyer-Wendt, Jürgen H.: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg 1973; Bosse, Heinrich: Die Erlebnisse des Lord Chandos; in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 11 (2003), S. 171-207; Lohmeier, Anke-Marie: Der Gott in der Gießkanne. Hofmannsthal und die Moderne; in: Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Internationales Kolloquium an der Universität des Saarlandes 3.-5. Dezember 1998. Herausgegeben von Pierre Béhar. Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt/M. – New York – Oxford – Wien 2003, S. 129-144, hier S. 133f. Bomers, Jost: Der Chandosbrief – Die Nova Poetica Hofmannsthals. Stuttgart 1991, S. 24; vgl. auch Günther, Timo: Hofmannsthal: Ein Brief, München 2004, S. 21-43.

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Um mich kurz zu fassen: Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden. […] überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: Oder es ahnte mir alles wäre ein Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der andern, und ich fühlte mich wohl den, der imstande wäre, eine nach der andern bei der Krone zu packen und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen Buche zu geben dachte. (B 47)

Eine ›analytisch vorfindbare‹27 Welt ist auch eine ›lesbare‹ und darüber hinaus eine beschreibbare. Aus eben diesem Grund beruft sich der ›Monist‹28 Chandos auf jene enzyklopädische »Sammlung ›Apophtegmata‹«, deren Grundlage eben jene »große Einheit« ist. Vertrauen in die Einheit des Ganzen heißt dann auch Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Sprache und deren Zusammenhang mit der Dingwelt bzw. mit dem Existenten – nicht von ungefähr schreibt Chandos seinen Brief an einen Philosophen, der an die (adamitische) Universalsprache29 glaubt. Die zweite Phase ›inmitten der Krise‹ kreist um den Verlust der Fähigkeit, »über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen« (B 48). Die jetzt von Chandos erlebte Welt ist eine zersplitterte, in der jeder Allgemeinheitsanspruch verloren gegangen ist. Der hier – unverkennbar unter dem Einfluss des zeitgenössischen, auch von Hofmannsthal rezipierten Phänomenalismus Ernst Machs30 – beschriebene Zustand betrifft die semiotische Funktionalität des Ich als solche. Die ›Lebenswelt‹, in der das ›semiotische Netz‹31 noch unversehrt war, verfügt jetzt über keine innere Einheit mehr, und vor dem betrachtenden Subjekt verschwindet jeder stringente Zusammenhang zwischen Welt, Ding und _____________ 27 28

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Vgl. Wunberg, Gotthart: Francis Bacon, Der Empfänger des Lord-Chandos-Briefes von Hugo von Hofmannsthal; in: German Life and Letters 15 (1962), S. 194-201, hier S. 196. Vgl. Braungart, Georg: Die Fremdheit der Sprache am Beginn der Moderne. Lebenskult, Ritual, Remythisierung, Mystik; in: Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses Tokyo 1990. Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Herausgegeben von Eijirō Iwasaki. Band 6: Sektion 10: Die Fremdheit der Literatur. Sektion 11: Rezeption. Herausgegeben von Yoshonori Shichiji. München 1991, S. 117-127, hier S. 123. Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1981, S. 86f. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Dritte vermehrte Auflage. Jena 1902; zum Einfluß Machs auf Hofmannsthal vgl. Magris: Der Zeichen Rost (Anm. 10), S. 65-70; Göttsche, Dirk: Aufbruch der Moderne. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Kontext der Jahrhundertwende; in: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Herausgegeben von Thomas Althaus und Stefan Matuschek. Münster – Hamburg 1994, S. 179-206, hier S. 200; Spörl, Uwe: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Paderborn – München – Wien – Zürich 1997, S. 356f.; Bosse: Die Erlebnisse des Lord Chandos (Anm. 25), S. 186-190. Brand, Lennart: A semiotic approach to the pathology of literary Décadence; in: Semiotica, 171 (2008/1), S. 291-309.

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Wort: »Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen« (B 49). Sogar das Vermögen, die Welt durch die ›üblichen‹ Denkkategorien zu begreifen, ist Chandos abhanden gekommen. Die Worte sind ohne Leben, ›abstrakt‹ derart, dass sie ihm »im Munde wie modrige Pilze« (B 48f.) zerfallen. Jene frühere Auffassung einer allgemeinen Lesbarkeit des ›Buches Gottes‹, nach der jeder Teil im Einklang mit allen anderen steht (laut Assmann die »hieroglyphische Weltsicht«),32 ist verloren, und stattdessen herrschen Verwirrung und Krise: Aber, mein verehrter Freund, auch die irdische Begriffe entziehen sich […]. Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. (B 48; Hervorhebungen D. D. M.)

Dingwelt und Wortwelt schließen sich damit vor dem subjektiven, insofern dichterischen Ich aus. Hier geht die zweite Phase in die dritte über, in der von ›freudigen und belebenden Augenblicken‹ die Rede ist, in denen Gegenstände wie eine »Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlichen Kirchhof« (B 50) sich sinnerfüllt darstellen: Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. (B 50)

Was bleibt Chandos nun angesichts dieser machtvollen, fast vernichtenden Evidenz der Gegenwart? Eben eine solche unmittelbare und sinnliche33 Wahrnehmung der Wirklichkeit außerhalb des Zeichensystems, die ›mystische‹34 Konturen annimmt, indem sich – Karl Heinz _____________ 32 33

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Assmann, Aleida: Hofmannsthals Chandos-Brief und die Hieroglyphen der Moderne; in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 11 (2003), S. 267-279, hier S. 273. Man denke insbesondere an die Erwähnung des Todeskampfes von Ratten, der Chandos noch stärker und eindrucksvoller erscheint als jene »wundervoll[e] Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius«: Es »war mehr, es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste Gegenwart« (B 51); vgl. Hofmannsthals Tagebuchaufzeichnung vom 26. 8. 1917: »Hier wird minutiöses durch überspitzte intensität der empfindung riesengross: die proportionen gehn verloren« (Varianten und Erläuterungen zu Hofmannsthals Ein Brief (Anm. 8), S. 294f., hier S. 294). »Aber auch für Chandos ist mit dem Zusammenbruch seiner bisherigen Welt die Chance neuer Erkenntnis und Erfahrung verbunden. Während nämlich die opak gewordenen Worte in die Ferne rücken, rücken für ihn umgekehrt die Dinge ›in eine unheimliche Nähe‹. Dabei kommt die komplementäre Seite der neuen Sprachtheorie zum Vorschein, die ich hier als ›Mystik der Moderne‹ bezeichnen möchte. In dieser Mystik geht es um eine Form der Wahrnehmung, die auf die Eigensprache der Dinge gerichtet ist. Die Auffassung von Sprache als einem immanenten System ist somit nur die eine Seite der Medaille, deren

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Bohrer zufolge – die »Priorität« des »Draußen«35 offenbart. Dadurch werden wir in die autonome ›Offenbarung‹ bzw. in den »epiphanischen Augenblick«36 geführt, dessen Evidenz die ›sinn-volle‹ Präsenz der Dinge erzeugt, vor die sich bisher die ›leeren‹ Worte »gestellt«37 hatten. An dieser Stelle nun gilt es, auf die eingangs erwähnte Spannung zwischen Wort und Welt zurückzukommen. Denn auch wenn die Trennung stets aufrechterhalten wird, geht sie bei Hofmannsthal doch – anders als bei einem fundamentalistischen Ästhetizismus – in der Suche nach einem authentischen und wahren Wort auf. Dies führt in der dichterischen Entwicklung Hofmannsthals zur Prosa und vor allem zur performativen Sprache des Theaters. Was im ›Chandos-Brief‹ problematisiert wird, ist insofern das Versagen jener Sprache, deren sich Chandos bisher bedient hat: einer erstarrten Sprache, die Steiner zufolge weder »the deeper truths of consciousness« artikulieren« noch »the sensory, autonomous evidence of the flower, of the shaft of light, of the birdcall at dawning« (St 111) vermitteln kann. Und wenn ›alle Poesie‹ laut einer Äußerung Hofmannsthals von 1894 heißt, das »Leben erobern, mit dem Leben fertig werden, in sich fertig werden, den Dingen ihre Seele abgewinnen, in ihre Blutwärme untertauchen, aus ihnen mit den naiven Augen ihrer Liebe herausschauen«,38 _____________ 35

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Rückseite die Auffassung von der Wirklichkeit als einer mystischen Sphäre verborgenen Seite ist« (Assmann: Hofmannsthals Chandos-Brief (Anm. 32), S. 274). Bohrer, Karl Heinz: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/M. 1994, S. 73. − Eine Spur davon lässt etwa jenes ›ungeheure Bestreben‹ erkennen, sich »der Gegenwart zu bemächtigen«, das Hofmannsthal schon 1895 dem Vater offenbarte (Hugo von Hofmannsthal an seinen Vater, 7. 7. 1895; in: Hofmannsthal, Hugo von: Briefe 18901901. Berlin 1935, S. 147f., hier S. 148); nicht von ungefähr heißt es in der späteren Aufzeichnung von 1897: »Ich weiß keine Art von Kunst als diese: die sich aus der Tiefe her der Oberfläche des Lebens bemächtigt« (Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 1897; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 420). Braungart: Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? (Anm. 13), S. 21. »Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt« (Hofmannsthal, Hugo von: Eine Monographie. Friedrich Mittenwurzer von Eugen Guglia (1895); in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 8: Reden und Aufsätze I. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 479-483, hier S. 479). Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 1894; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 382.

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dann manifestiert sich Chandos' Sprachverleugnung umso mehr als eine anspruchsvolle Herausforderung. Indem Chandos die ›Gegenwart‹ der Dinge erfährt, experimentiert und problematisiert er deren ›existierenden‹ Sinn und somit die Tatsache, dass sie trotz allem da sind und »jenseits des Wortes«39 stets etwas bedeuten. Aus Bacons Skeptizismus gegenüber den Worten (gemeint als »Zeichen für Begriffe«40 und nicht für Dinge) und aus dem Versagen des begrifflichen Denkens im Brief resultiert der ersehnte Anspruch auf die »mächtige[n] vielbeschwörende[n] Zauberworte, deren letztes, einfachstes Gott weiss, Gott ist«. Auf diese spielt Hofmannsthal in einer viel sagenden Aufzeichnung an: »Gedicht. – Wonnen des Denkens. Sich loswinden aus den Banden der Begriffe«.41 Nicht nach ›Wirbel‹-Worten, »durch die hindurch man ins Leere kommt« (B 49), sehnt sich Chandos, sondern nach denen, »die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen« (B 54). Die Frage, auf welche ›Wirbel‹ Hofmannsthal hier deutet, kann vielleicht eine Passage des reiferen Essays Der Dichter und diese Zeit (1906) beantworten, in der Hofmannsthal präzisiert, er meine »es nicht als das Sich-verlieren in der phantastischen Bezauberung des Gedichteten, als ein Vergessen des eigenen Daseins über dem Buche, eine kurze und schale Faszination«; vielmehr sei »das Wort in der ganzen Tiefe seines Sinnes zu nehmen − in seiner vollen religiösen Bedeutung« als ein »Fürwahrhalten über allem Schein der Wirklichkeit, ein Eingreifen und Eingriffensein in tiefster Seele, ein Ausruhen im Wirbel des Daseins. So glauben die Dichter das was sie gestalten, und gestalten das was sie glauben«.42 Solche Worte wären es, von denen Chandos weiß, sie würden – fände er sie denn – ›jene Cherubim‹, die den Eingang zum Paradies hüten, »niederzwingen«43 und die Erbsünde überwinden.44 Aber auf welches _____________ 39 40 41

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Magris: Der Zeichen Rost (Anm. 10), S. 71. Brøndsted, Tom: Das Versagen der begrifflichen Denkweise. Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (1902) als Beispiel einer Poetologie der Moderne; in: Germansk Instituts Publikationer 36 (1984), S. 8. Hofmannsthal, Hugo von: Gedicht (1893/94); in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwelsch, Heinz Rölleke, Ernst Zinn. Band II: Gedichte 2. Herausgegeben von Andreas Thomasberger, Eugene Weber (†). Frankfurt/M. 1988, S. 99. Hofmannsthal, Hugo von: Der Dichter und diese Zeit (1906); in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom freien deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch (†), Anne Bohnenkamp, Mathias Mayer, Christoph Perels, Edward Reichel und Heinz Rölleke. Band XXXIII: Reden und Aufsätze 2. Herausgegeben von Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt/M. 2009, S. 97-148, hier S. 145f. Bomers: Der Chandosbrief (Anm. 26), S. 84

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Paradies wird überhaupt angespielt? Es ist das der harmonischen »großen Einheit«, worin Adam − legitimiert von Gott, der als Schöpfer der Welt auch Garant ihrer Bedeutung ist – jedem Geschöpf einen Namen gegeben hat.45 Deutlich zeigen sich daran die Konturen einer ›Sprache der Präexistenz‹ (um einen bekannten Terminus Hofmannsthals zu benutzen),46 worin der ursprüngliche Zusammenhang der Wörter und der Dinge auf der Grundlage einer ursprünglichen ›Garantie‹ von Sinngehalt und Bedeutung (d. h. die Referenz) gegeben wäre: ›ursprünglich‹ eben deshalb, weil »semantic sign« und »divinity«, so Steiner Jacques Derrida zitierend, »›have the same place and time of birth‹« (St 119). Erhellend kann hier die kurze, 1894 niedergeschriebene Besprechung von Alfred Bieses Philosophie des Metaphorischen sein, in der Hofmannsthal über jenes Metaphorische der Sprache schreibt, das »manchmal mehr entzückt, manchmal mehr beängstigt«,47 und seine Erwartung einer »Philosophie der subjektiven Metaphorik« zum Ausdruck bringt: eine Betrachtung des metaphernbildenden Triebes in uns und der unheimlichen Herrschaft, die die von uns erzeugten Metaphern rückwirkend auf unser Denken ausüben, – anderseits der unsäglichen Lust, die wir durch metaphorische Beseelung aus toten Dingen saugen. Eine hellsichtige Darstellung des seltsam vibrierenden Zustandes, in welchem die Metapher zu uns kommt in Schauer, Blitz und Sturm: die plötzlichen blitzartigen Erleuchtung, in der wie einen Augenblick lang den großen Weltzusammenhang ahnen, schauernd die Gegenwart der Idee spüren, dieses ganzen mystischen Vorganges, der uns die Metapher leuchtend und real hinterläßt, wie Götter in den Häusern der Sterblichen funkelnde Geschenke als Pfänder ihrer Gegenwart hinterlassen.48

Unter der Voraussetzung, dass Hofmannsthal zwischen Allegorie, Metapher und Symbol keine strikte Trennung vornimmt,49 lassen sich an dieser Stelle die Umrisse einer Metaphern-Konzeption erkennen, die »das _____________ 44 45 46 47

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Vgl. Bomers: Der Chandosbrief (Anm. 26), S. 84f. Vgl. dazu Härter: Der Anstand des Schweigens (Anm. 15), S. 96 sowie Resch, Margit: Das Symbol als Prozeß bei Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts. 1980, S. 43f. Vgl. Bomers: Der Chandosbrief (Anm. 26), S. 83; vgl. auch Brinkmann: Hofmannsthal und die Sprache (Anm. 11), S. 72. Hofmannsthal an Fritz Mauthner, 3. 11. 1902; in: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 286f., hier S. 286. Hofmannsthal, Hugo von: Philosophie des Metaphorischen (1894); in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 8: Reden und Aufsätze I. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 190-193, hier S. 192. Vgl. Renner, Ursula: Die Zauberschrift der Bilder. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg/Br. 2000, besonders S. 74-87.

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Begriffliche ins Symbolische«50 überträgt. Noch deutlicher wird dies einige Zeilen später, wo Hofmannsthal sich junge Menschen vorstellt, deren einer vor den Schönheiten des Volksgartens erstaunt ausruft: »Wie schön ist das! Wie lebendig, erfaßbar, wie wirklich!«. Hofmannsthal zufolge sind die Worte hier »lebendige Wesen«, die »vor Begriffen fliehen […] wie vor großen schwarzen Hunden«.51 Hilfreich sollte in diesem Zusammenhang Margit Reschs Gedanke vom ›Symbol als Prozess‹ bei Hofmannsthal sein: »ein lebendiges Wesen, das nach organisch-dynamischen Prinzipien in der Atmosphäre des höchsten Augenblicks das Licht der Welt erblickt, abstirbt und unter dem belebenden Blick des Lesers, wiederum in Gestalt eines symbolischen Erlebnisses, zu neuem Leben erweckt wird«.52 Nicht von ungefähr spricht Hofmannsthal in einer Aufzeichnung vom ›Seienden als Symbol‹, wonach die ›Existenzlegimität‹ des Seins auf dem ›Verstandenwerden‹ gründet: Worte sind versiegelte Gefängnisse des göttlichen Pneuma, der Wahrheit, Götzendienst, Anbetung eines ε’ίδoλoν, Sinnbildes, das einmal für einen Menschen lebendig war, Mirakel gewirkt hat, durchflammende Offenbarung des göttlichen Geheimnisses der Welt gewesen ist; solche ε’ίδoλα sind die Begriffe der Sprache. Sie sind für gewöhnlich nicht heiliger als Götzenbilder, nicht wahrhaftiger ›reich‹ als eine vergrabene Urne, nicht wahrhaftiger ›stark‹ als ein vergrabenes Schwert. Alles was ist, ist, Sein und Bedeuten ist eins, folglich ist alles Seiende Symbol.53

Im ›höchsten Augenblick‹ wird eine Weltdeutung ermöglicht, da den Weltdingen ein Sinn zuwächst: Sie sind da, eben weil sie Sinn gewinnen. Übertragen wir das in den Bereich der Kunst, dann zeigt sich, warum es um einen sinn- bzw. form- und existenzverleihenden Akt geht: Sinnstiftung als schöpfender Akt.54 In einem solchem Kontext schaffen die _____________ 50

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Pestalozzi: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal (Anm. 11), S. 74; Bomers: Der Chandosbrief (Anm. 26), S. 95; Streim, Gregor: Das Leben in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996, S. 139f.; Grundmann, Heike: Mein Leben zu erleben wie ein Buch. Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal. Würzburg 2003, S. 104. Hofmannsthal: Philosophie des Metaphorischen (Anm. 48), S. 193. Resch: Das Symbol als Prozeß bei Hugo von Hofmannsthal (Anm. 45), S. 3. Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 1894-95; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 390f. »Macht des Gebetes, der Zauberformel als poetischer Stoff. […] Es ist eine Macht in dem vertrauend ausgesprochenen Wort« (Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 189091; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 317). − Vgl. Müller-Richter, Klaus /

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Worte Hofmannsthals ›Sinn‹, und der Dichter erweist sich als ›GegenSchöpfer‹ (vgl. Steiners Begriff der »counter-creation«; St 203). Die beschreibende bzw. mimetische Funktion der Sprache tritt dabei zugunsten einer gewissermaßen ›aktiven‹, darstellenden55 Funktion in den Hintergrund. Indem der Dichter – so Renner – »den chaotischen […] Raum des Lebens« (re-)codiert, ermöglicht er »lebendige Kommunikation, eine dynamische Semiose. Der ästhetische Code […] schafft erst eigentlich Realität«.56 In Hofmannsthals Terminologie übersetzt heißt das: Der echte Dichter, der gute Erzähler lässt »etwas vor unseren Augen wie gegenwärtig geschehen«.57 Aus diesem Grund ist die symbolische Stärke der dichterischen Worte derart groß, dass sie durch ihre Sinnstiftung auch noch die ›Gegenwart des Unendlichen‹ wie etwa in der elementaren Wahrnehmung einer ›Gießkanne‹ heraufbeschwören können – Worte, deren symbolischer Charakter »einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem« voraussetzt.58 Weder um die schon bekannte rhetorische bzw. klassische noch um »die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische« Sprache geht es hier also, sondern um eine, »in welcher die stummen Dinge« (B 54) sprechen. Chandos allerdings verfügt, wie gesagt, noch nicht über eine solche Sprache, die stark symbolisch geprägt ist und sich deshalb als religiöse entfaltet. In diesem Zusammenhang gilt es – im Unterschied zu Jost Bomers, der das Libretto Ägyptische Helena (1928) in Anspruch nimmt, um die Verwirklichung des »Ideals dichterischen Sprechens« und die zum Symbol gewordene Rhetorik Hofmannsthals zu ermitteln59 − einen früheren Text Hofmannsthals heranzuziehen: das schon erwähnte Gespräch über Gedichte, _____________

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Larcati, Arturo: Kampf der Metapher! Studien zum Widerstreit des eigentlichen und uneigentlichen Sprechens. Zur Reflexion des Metaphorischen im philosophischen und poetologischen Diskurs. Wien 1996, S. 307. Vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 51-72 sowie Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. Renner: Die Zauberschrift der Bilder (Anm. 49), S. 37. Hofmannsthal, Hugo von: Buch der Freunde; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 233299, hier S. 290. »[W]eil das Symbol keine beliebige Zeichenannahme oder Zeichenstiftung ist, sondern einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraussetzt« (Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Band 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 79). Bomers: Der Chandosbrief (Anm. 26), S. 95.

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das zeitlich (1903) wie inhaltlich dem Brief nahe steht.60 Dort wird die Idee einer dichterischen Sprache ›entwickelt‹, die ähnlich einer sakralen Sprache die Präsenz des Bezeichneten in poetischer bzw. symbolischer Form erzeugt, die darauf fußt, dass die Poesie eine »gesteigerte Sprache […] voll von Bildern und Symbolen« sei, die niemals »eine Sache für eine andere [setzt], denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen«.61 In einer solchen Sprache, in der nicht eine Sache für eine andere steht, ist jenes ›Seiende Symbol‹. So fragt Clemens im Gespräch »Und diese Schwäne? Sie sind ein Symbol?«. Sie bedeuten, antwortet Gabriel, nichts anderes als das, was sie eigentlich sind, nämlich Schwäne, aber freilich gesehen mit den Augen der Poesie […] Gesehen mit diesen Augen sind die Tiere die eigentlichen Hieroglyphen, sind sie lebendige geheimnisvolle Chiffren, mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt geschrieben hat. Glücklich der Dichter, daß auch er diese göttlichen Chiffren in seine Schrift verweben darf – […] Darum ist Symbol das Element der Poesie, und darum setzt die Poesie niemals eine Sache für eine andere: sie spricht Worte aus, um […] der magischen Kraft willen, welche die Worte haben, unseren Leib zu rühren.62

Indem der Dichter für Hofmannsthal »ein umgekehrter Midas« ist, der das, »was er Erstarrtes berührt«, »zum Leben«63 erweckt, erfüllt er die transzendentale Aufgabe, neue dichterische Wirklichkeiten zu kreieren, da die ›Worte‹ des Dichters in der Poesie das sind, »was im Leben die Materie _____________ 60

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Zur Entstehungsgeschichte des Textes vgl. die Varianten und Erläuterungen zu Hofmannsthals Das Gespräch über Gedichte; in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 316-349, hier S. 316319; vgl. Lönker, Fred: Die Wirklichkeit der Lyrik. Zu den Dichtungskonzeptionen Hofmannsthals und Benns; in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 17 (2009), S. 227-252 sowie Schings, Hans-Jürgen: Lyrik des Hauchs. Zu Hofmannsthals Gespräch über Gedichte; in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 11 (2003), S. 311-339. Hofmannsthal, Hugo von: Das Gespräch über Gedichte (1903); in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1991, S. 74-86, hier S. 77. Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte (Anm. 61), S. 79-81 (Hervorhebungen D. D. M.). Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen von 1891; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1980, S. 338.

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des Lebens ist«.64 Im Dichterischen bzw. im Künstlerischen ereignet sich somit das ›Ins-Sein-Treten‹ – wie George Steiner im Schatten der Ästhetik Heideggers formuliert – des Verbalisierten bzw. künstlerisch Gestalteten. Es handelt sich um »re-enactments, reincarnations via spiritual and technical means of that which human questioning, solitude, inventiveness, apprehension of time and of death can intuit of the fiat of creation, out of which, inexplicably, have come the self and the world into which we are cast« (St 215). Hier zeichnet sich die Vorstellung von einem Dichter ab, der in einer verabsolutierten selbstbewussten und solipsistischen Rolle mit den Worten der Apokalypse sagen könnte: »ich mache alles neu« (Offb 21, 5); frei von jeglicher moralischen oder dogmatischen Instanz bringt er eine »Neubeschreibung«65 der Dinge zum Ausdruck. Nicht von ungefähr stellt Steiner, wie schon erwähnt, die Hypothese eines Kunstwerks als »countercreation« (St 203) auf, derzufolge der ästhetische Akt »an imitatio, a replication on its own scale, of the inaccessible first fiat« ist (St 201). Hofmannsthal hat in Der Dichter und diese Zeit geschrieben: Denn ihm [dem Dichter] sind Menschen und Dinge und Gedanken und Träume völlig eins: er kennt nur Erscheinungen, die vor ihm auftauchen und an denen er leidet und leidend sich beglückt. […] In ihm muß und will alles zusammenkommen. Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft. In ihm oder nirgends ist Gegenwart. […] Wie der innerste Sinn aller Menschen Zeit und Raum und die Welt der Dinge um sie her schafft, so schafft er aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge. Er schafft.66

In einer solchen transzendentalen Macht der dichterischen Sprache gründet offenbar auch Gabriels Forderung nach einer Art ›verifikationstranszendentem‹ (vgl. St 214) Vertrauen auf das (symbolische) Wort des Dichters bzw. nach dem Glauben, dass was niemals da war, nie sich gab, jetzt ist es da, jetzt gibt es sich, ist Gegenwart, mehr als Gegenwart; was niemals zusammen war, jetzt ist es zugleich, ist es beisammen, schmilzt ineinander die Glut, den Glanz und das Leben.67 Und weiter: _____________ 64

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Hofmannsthal, Hugo von: Eines alten Malers schlaflose Nacht (1903-06); in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Heinz Otto Burger, Rudolf Hirsch, Detlev Lüders, Heinz Rölleke und Ernst Zinn. Band XXIX: Erzählungen 2. Aus dem Nachlass herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1978, S. 162-167, hier S. 165. »Die ›Sache selbst‹ kann vergegenwärtigt, verkörpert – und nicht nur benannt oder aufgerufen – werden, weil sie in einer Neubeschreibung gegeben wird« (Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 55), S. 57). Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit (Anm. 42), S. 138. Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte (Anm. 61), S. 86.

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Aber es wirklich zu glauben, zu glauben, daß es wirklich so ist! Diese Magie ist uns so furchtbar nahe: nur darum ist es so schwer, sie zu erkennen. Die Natur hat kein anderes Mittel, uns zu fassen, uns an sich zu reißen, als diese Bezauberung. Sie ist der Inbegriff der Symbole, die uns bezwingen. Sie ist, was unser Leib ist, und unser Leib ist, was sie ist. Darum ist Symbol das Element der Poesie […]. 68

Die Überwindung des sprachlichen Referenzverlustes, wie sie sich in Hofmannsthals Brief abzeichnet, wird hier durch die Profilierung einer Sprache der symbolischen ›Worte der Dichtung‹ möglich. Durch eine solche Wortauffassung, die auf den Referenz-Charakter der ›wahren‹ dichterischen Sprache, so wie ihn Gabriel erläutert, zurückgeführt wird, wird ein Anspruch auf den darin mitgeteilten Sinngehalt erhoben, welcher sich direkt auf das transzendentale Postulat der Logos-Existenz beruft und für den der Dichter zuständig ist. Walter Benjamin hat 1924 in einem Brief an Hofmannsthal bemerkt, dieser teile seine eigene Überzeugung: »Jene Überzeugung nämlich, daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat, daß er aus den ältesten λογοι errichtet ist«.69

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Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte (Anm. 61), S. 81. Walter Benjamin an Hugo von Hofmannsthal, 13. 1. 1924; in: Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Band II: 1919-1924. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1996, S. 409-412, hier S. 409.

CRISTINA FOSSALUZZA

Zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹ Elementare Kunstreligion in Hugo von Hofmannsthals Märchen Die Frau ohne Schatten1 Das ist neue Religion. Das Sakrament der Ehe, doch nicht bürgerlich, auch nicht priesterlich, sondern elementar.2

Im Jahr 1914, knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, schreibt Hugo von Hofmannsthal das Libretto der Frau ohne Schatten zu Ende: eine Oper, die auf der dreijährigen Zusammenarbeit mit Richard Strauss beruht und erst am 10. Oktober 1919 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt wird. Dieses Werk bezeichnet der Dichter nicht nur als »die einzige richtige Oper«, die er in seinem Leben vermutlich schreiben werde;3 vielmehr steht das Thema der Frau ohne Schatten Hofmannsthal so nahe, dass er schon 1912 das Bedürfnis verspürt hat, den eben als Operntext bearbeiteten Stoff auch genuin literarisch aufzugreifen und dessen Problematik in Erzählform weiterzuentwickeln. Daraus entsteht das in der ästhetischen Tradition der romantischen Kunstreligion verankerte Märchen Die Frau ohne Schatten, an dem Hofmannsthal im Laufe der Kriegsjahre arbeitet (mit teils sehr kritischen Schaffensphasen oder gar Unterbrechungen) und erst 1919 zum Abschluss bringt.4 _____________ 1 2

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Überarbeitete Fassung des Kapitels zum Märchen Die Frau ohne Schatten in meiner italienischen Monographie zum späten Hofmannsthal; vgl. Fossaluzza, Cristina: Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal. Venezia 2010, S. 178-201. Pannwitz, Rudolf: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten; in: Hofmannsthal, Hugo von / Pannwitz, Rudolf: Briefwechsel 1907-1926. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv herausgegeben von Gerhard Schuster. Mit einem Essay von Erwin Jaeckle. Frankfurt/M. 1993, S. 588-594, hier S. 592. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 10. 1917; in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 126-130, hier S. 127. Die ersten drei Kapitel schließt Hofmannsthal 1914 ab, während die letzten vier Kapitel von 1916 bis 1919 verfasst werden. Zur Entstehungsgeschichte von Hofmannsthals Märchen vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten; in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Heinz Otto Burger, Rudolf Hirsch, Detlev Lüders, Heinz Rölleke und Ernst Zinn. Frankfurt/M. 1974ff., Bd. XXVIII:

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Dabei gilt es zu bemerken, dass Hofmannsthal zwischen ›Oper‹ und ›Märchen‹ stets streng unterscheidet und die beiden Werke daher eindeutig als zwei zwar stofflich verwandte, jedoch getrennte Kapitel innerhalb seines künstlerischen Schaffens betrachtet. Der Grund hierfür liegt weniger in einem rein philologischen Willen, an Gattungsmerkmalen festzuhalten, als in einer eminent ästhetischen Reflexion über Stil und Wirkung beider Kunstformen: Während die Oper auf die Tradition des barocken Theaters zurückgreift, dessen Bühnenbild durch Illusion und trompe-l’œil charakterisiert ist, muss sich die Erzählung – wie Hofmannsthal im Oktober 1917 in einem Brief an den deutschen Kulturphilosophen Rudolf Pannwitz schreibt5 – von der Üppigkeit barocker Theaterarchitektur sowie vom musikalischen Rahmen ihrer Entstehung in Opernform loslösen, um die strengere Form einer »märchenartigen Erzählung«, ja einer »mythischen Erfindung« anzunehmen, die ganz andere »Tiefenausmessungen« als die Oper habe und demzufolge auch »viel schöner« zu werden verspreche.6 Eine Erzählung und ein Musikdrama seien zwei »in sich geschlossene Gebilde, ja geschlossene magische Welten«, wie Hofmannsthal im November 1919 in einem Brief an Raoul Auernheimer bekräftigt; beim Märchen handle es sich daher um ein »völlig Neues«, ein in sich selbst geschlossenes ästhetisches Ganzes, das nicht wie die Oper im immanenten Rahmen des »durchaus Menschenhaften«,7 der Psychologie und der Moral, sondern in der übersinnlichen Sphäre des Magischen und Symbolischen ihr ideelles Zuhause habe. Mitten im Weltkrieg, in einer durch den Konflikt bestimmten, so kritischen wie entscheidenden Phase seiner Schriftstellerlaufbahn, wendet sich Hofmannsthal dem typisch romantischen Genre des Kunstmärchens zu. Das mag als die explizite Abkehr eines lebensfernen ›Ästheten‹ von der komplexen politischen und geschichtlichen Realität seiner Zeit erscheinen. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass Hofmannsthals Erzählung bei genauer Betrachtung kein ›Produkt des Elfenbeinturms‹ ist, sondern geradezu ein gegenwartsbezogenes Werk darstellt: Nicht zuletzt wegen des ihm zu Grunde liegenden ästhetischen Konzepts, das auf die romantische Kunstreligion zurückgreift, drückt Hofmannsthals Märchen die subtile Reflexion seines Autors über die Kriegszeit und die ›soziale‹ Mission der Kunst in _____________ 5 6 7

Erzählungen 1. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1975, S. 270-445, hier S. 270-282. Zur Bedeutung des kulturellen Austausches zwischen Pannwitz und Hofmannsthal in den Kriegsjahren (beginnend mit Hofmannsthals Lektüre von Pannwitz’ Krisis der europaeischen Kultur von 1917) vgl. Fossaluzza: Poesia e nuovo ordine (Anm. 1), S. 118-134. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 10. 1917 (Anm. 3), S. 127. Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 426.

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Zeiten des Umbruchs aus. Wenden wir uns aber zunächst Hofmannsthals Text und dessen Bezügen zur Romantik zu. Es ist alles andere als ein Zufall, wenn Hofmannsthal im schon zitierten Brief an Rudolf Pannwitz vom 4. Oktober 1917 seine Frau ohne Schatten mit Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung Undine vergleicht.8 Die Verwandtschaft zwischen beiden Werken geht weit über die in diesem Brief erwähnten Dimensionen hinaus,9 da Hofmannsthals Märchen auch viele symbolische und motivische Ähnlichkeiten mit der romantischen Erzählung aufweist. Wie Fouqués Undine stellt Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten eine übersinnliche und zugleich elementare phantastische Figur dar, die ›zwischen Himmel und Erde‹ schwebt; wie die seelenlose Wasserfrau kommt auch Hofmannsthals schattenlose Geisterprinzessin in die menschliche Welt und heiratet einen Sterblichen. Während Undine dadurch eine Seele erlangt, dann jedoch von den Menschen betrogen wird und ins Wasserreich zurückkehren muss, gestaltet sich das Abenteuer der Frau ohne Schatten im Menschenreich – wenngleich zuletzt weniger tragisch10 – doch viel schwieriger und komplizierter. Einerseits spiegelt sich die höhere Komplexität von Hofmannsthals Märchen in dessen narrativer Struktur wider, in der neben der Thematik der Liebe und der Ehe auch das neue Element der Zeugung und der Fruchtbarkeit seinen Platz findet. Andererseits wird diese Komplexität aber auch in ihrer konzeptuellen Struktur sichtbar: Während Fouqués Undine gewissermaßen zweidimensional ist und durch eine irdische und eine überirdische Ebene gekennzeichnet ist, weist Hofmannsthals Märchen einen dreidimensionalen Aufbau auf, der zwischen ›Himmel‹ und ›Erde‹ auch jene neue, dritte _____________ 8

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Vgl. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 10. 1917 (Anm. 3), S. 127. – Hofmannsthal hat die seit langem geschätzte Erzählung Fouqués schon 1912 in das für den Verlag Insel herausgegebene Lesebuch Deutsche Erzähler aufgenommen. Für weitere Quellen von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten (z. B. Mozarts Zauberflöte oder Goethes Faust) vgl. Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 273-282; zu Mozarts Einfluss auf Hofmannsthals Oper vgl. auch Riccardo Concetti: La donna senz’ombra di Hugo von Hofmannsthal come luogo di memoria mozartiano; in: Mozart nel mondo delle lettere. A cura di Biancamaria Brumana, Riccardo Concetti e Uta Treder. Perugia 2009, S. 52-77. Vgl. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 10. 1917 (Anm. 3), S. 127. − Das Interesse am UndineMythos ist bei Pannwitz ähnlich ausgeprägt wie bei Hofmannsthal. Nicht zufällig hatte auch der Kulturphilosoph in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein dieser Figur gewidmetes Versepos in Angriff genommen, das Hofmannsthal während der Arbeit am Märchen als Inspirationsquelle benutzte; vgl. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 10. 1917 (Anm. 3), S. 127 sowie Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 437f. – Zu Pannwitz’ Undine vgl. auch die kritische Edition von Gabriella Rovagnati: Pannwitz, Rudolf: Undine. Ein nachgelassenes Versepos. Mit einem Essay zu Leben und Werk des Dichters herausgegeben von Gabriella Rovagnati. Nürnberg 1999. Während bei Hofmannsthal die Ehe von Kaiser und Kaiserin am Ende gerettet wird, muss Undines Ehe bei Fouqué an der Treulosigkeit ihres Mannes, des Ritters Huldbrand von Ringstetten, scheitern.

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ideelle Ebene kennt, welche sich im Palast des Kaisers der Südöstlichen Inseln konkretisiert, womit Hofmannsthals Märchen einsetzt. Zwischen dem ätherischen, höchst symbolischen Reich des Geisterkönigs Keikobad, aus dem die Frau ohne Schatten kommt und das in der Erzählung meistens verschleiert im Hintergrund bleibt, und der einfachen, manifesten Welt der Färberfamilie, die in der ästhetischen Semantik des Märchens die Sphäre zwar des Sekundären, aber auch des ›Lebens‹11 darstellt, befindet sich der blaue Palast des Kaisers und der Kaiserin. Dieser versinnbildlicht den Raum der Synthese zwischen ›Geist‹ und ›Leben‹ – einer symbolischen Synthese, welche unmittelbar Reminiszenzen an die romantische Ästhetik weckt und sich in der sinnbildlichen Bedeutung dieses Palastes als Ort der ›Ehe‹ widerspiegelt. Die Ehe, die auch in Hofmannsthals Komödien der Kriegsjahre ein zentrales Thema ausmacht, wird beim österreichischen Dichter in erster Linie weder als gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft (als konservativ-bürgerliche Institution) noch als Teil des ›Gesellschaftsvertrags‹ verstanden, sondern einerseits im konservativ-religiösen Sinne als ein höheres, heiliges Sakrament gedeutet, andererseits aber auch als ein ursprüngliches Phänomen des Lebens schlechthin, d. h. als elementare, naturhafte Bindung jenseits aller Gesetze.12 In dieser Auffassung der Ehe wird auch Hofmannsthals ästhetisches Konzept erkennbar, das seine Wurzeln offensichtlich in der romantischen Lebensphilosophie und Kunstreligion hat. Dieses Konzept – von Pannwitz in seinem Aufsatz über Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten (1919) explizit als »neue Religion« bezeichnet,13 versteht die ästhetische Sphäre – ja die ›Poesie‹ als Inbegriff der Kunst und zugleich als existentielle Form einer romantisierten Welt – als Mittelding zwischen ›Geist‹ und ›Leben‹. Somit wird die _____________ 11 12

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Zum äußerst vielschichtigen Begriff ›Leben‹ bei Hofmannsthal, der schon in der Ästhetik des Frühwerks präsent ist, vgl. Streim, Gregor: Das ›Leben‹ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996. Eine ähnliche Ehe-Auffassung findet sich zu dieser Zeit auch in Thomas Manns Aufsatz Über die Ehe von 1925 (Mann, Thomas: Über die Ehe. Brief an den Grafen Hermann Keyserling; in: Mann, Thomas: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Die textkritische Durchsicht der Gesammelten Werke erfolgte mit Hilfe des Thomas Mann-Archivs der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Herausgegeben von Hans Bürgin, Ernst Bürgin und Peter de Mendelssohn. Berlin − Frankfurt/M. 1960-74. Band X: Reden und Aufsätze 2. Berlin − Frankfurt/M. 1960, S. 191-207): Auch Mann begreift die Ehe nicht als »bürgerliche Einrichtung« (S. 192), sondern als ›übergesellschaftliche Institution‹, die »urinstitutionelle Dauer im Wandel der Zeiten« habe (S. 202). Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 592. – Dieser Aufsatz erscheint auf Hofmannsthals Wunsch in der Münchner Zeitschrift Der neue Merkur; vgl. Hofmannsthals Brief vom 6. 11. 1919 an den Redakteur Ephraim Frisch (Hofmannsthal an Pannwitz, 6. 11. 1919: in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 418-422, hier 418f.).

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Ehe in Hofmannsthals Erzählung zur Allegorie der Poesie14 bzw. zum Sinnbild eines ästhetischen Sakraments, in dem sich sowohl »ein neues Ethos« als auch »ein neuer Eros« entfalten: Die Ehe als die vollkommene mit den Seelen die Sinne tragende und in der Verschlingung die Zukünftigen einbegreifende und also eigentlich von ihnen bereitete und geleitete Vereinigung der Geschlechter. [... Es] ist eine ausschöpfendere, synthetischere, komplexere, vollkommenere Liebe, es fordert nicht, die Ehe heilig zu halten, sondern es zeigt, was Ehe (jenseits aller Begriffe und Gesetze und Bindungen) bei den Elementen ist [...].15

Diese allegorische Bedeutung wird auch durch die Farbe Blau unterstrichen, die den Palast des Kaisers als Sphäre der Ehe kennzeichnet und Hofmannsthals ganzes Märchen leitmotivisch durchzieht – eine Farbe, die an Novalis’ Symbolik der blauen Blume im Heinrich von Ofterdingen16 erinnert und darauf hinweist, dass die mittlere Sphäre von Hofmannsthals Erzählung im Sinne der Romantik nicht zuletzt als der ideelle Ort der Poesie zu interpretieren ist. Wenn Novalis in einem Fragment das ›Dichten‹ explizit dem ›Zeugen‹ gleichstellt,17 so muss auch in Hofmannsthals Märchen die Ehe als Allegorie der Poesie unbedingt ›fruchtbar‹ werden, um nicht zur Versteinerung bzw. Verwüstung oder zum Tod der Hauptfiguren zu führen. So wird die Mutterschaft (anders als in Fouqués Undine) zum absolut zentralen Thema in Die Frau ohne Schatten, und Pannwitz schreibt in diesem Sinne sehr prägnant, dass das, was Hofmannsthals Erzählung darstelle, nichts anderes als das »Reich der Zeugung« sei,18 womit natürlich nicht zuletzt die ›künstlerische Zeugung‹ gemeint ist. Demzufolge seien die wahren Helden des Märchens gerade ›die Ungeborenen‹, die im vierten Kapitel (dem Mittelpunkt von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten) in der Begegnung _____________ 14

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Der gleichen Auffassung ist Thomas Mann im erwähnten Aufsatz Über die Ehe, worin er die »eigentümlich reziproken Beziehungen des Geistigen und Fleischlichen in der Ehe« mit »Wesen und Verhältnis der Kunst« in direkte Beziehung bringt (vgl. Mann: Über die Ehe (Anm. 12), S. 202. Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 592. Zu den Beziehungen zwischen Novalis’ Roman und Hofmannsthals Märchen vgl. Endres, Johannes: Hofmannsthal und Novalis. Zur Ambivalenz des Erbes; in: Blüthenstaub. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis. Herausgegeben von Herbert Uerlings. Tübingen 2000, S. 311-337, insbesondere S. 332-337. »Dichten ist zeugen. Alles Gedichtete muß ein lebendiges Individuum seyn« (Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Stuttgart 1960-75. Zweiter Band: Das philosophische Werk I. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit HansJoachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965, S. 534. Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 592.

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mit dem Kaiser zu Wort kommen und die poetische, zugleich ›soziale‹ Ästhetik ihres Autors zum Ausdruck bringen. Kehren wir aber zuerst zur Tochter des Geisterkönigs und ihrer Suche nach dem Schatten als Allegorie der Mutterschaft in den ersten drei Kapiteln der Erzählung zurück. Diese Suche kann im blauen Palast nicht erfolgreich sein – die Ehe mit dem Kaiser bleibt hier fast zwölf Monate lang unfruchtbar. So muss die Kaiserin, um den Geliebten nicht zu verlieren, in Begleitung ihrer Amme in der Sphäre des Lebens und des Menschlichen ihr Glück versuchen, denn nur die ›Erde‹ vermag ihr den Schatten zu geben: Führe mich zu dem Menschen, dem sein Schatten feil ist, daß ich ihn kaufen kann, ich will seine Füße küssen. ― Wahnwitziges Kind, rief die Amme, weißt du, was du sagst! Schauderts dich nicht vor ihnen bis in deine Träume hinein, so wenig du von ihnen weißt? Und nun ― hausen willst du mit ihnen! Handeln mit ihnen? [...] Ihnen dienen? Denn auf das läufts hinaus. Grausts dich nicht? ― Ich will den Schatten, rief die Kaiserin, hinab mit uns, daß ich ihrer einem diene um den Schatten.19

Obwohl die Geisterkönigstochter die Menschen noch gar nicht kennt, findet sie diese genau so vulgär und abscheulich wie die Amme,20 nicht zuletzt weil die irdische Welt von der skrupellosen, auf den Nutzen gerichteten Logik des Soll und Haben dominiert ist und vom Humanen und Selbstlosen nichts weiß. Indes muss sich die Kaiserin dieser rein materiellen Logik zunächst unterordnen, um den Schatten zu gewinnen: Insofern muss sie mit den Menschen ›handeln‹ und ihnen ›dienen‹. Das Dorf der Färber stellt somit nicht nur eine Allegorie des ›Lebens‹ dar, sondern es spiegelt auch das verzerrte Bild einer Gesellschaft wider,21 die bereit ist, aus Eitelkeit oder Gier sich selbst zu entfremden und ›kommerziellen‹ Prinzipien ihre ganze Menschlichkeit preiszugeben. Somit wird im _____________ 19

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Hofmannsthal, Hugo von: Die Frau ohne Schatten; in: Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke,. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Heinz Otto Burger, Rudolf Hirsch, Detlev Lüders, Heinz Rölleke und Ernst Zinn. Frankfurt/M. 1974ff., Bd. XXVIII: Erzählungen 1. Hrsg. von Ellen Ritter. Frankfurt/M. 1975, S. 107-196, hier S. 116. Schon im ersten Moment, als sie im Dorf der Färber ankommt, verspürt die Kaiserin ein tiefes Unbehagen: »Das Fürchterliche in den Gesichtern der Menschen traf sie aus solcher Nähe, wie noch nie. Mutig wollte sie hart an ihnen vorbei, ihre Füße vermochten es, ihr Herz nicht. Jede Hand, die sich regte, schien nach ihr zu greifen, gräßlich waren so viele Münder in solcher Nähe. Die erbarmungslosen, gierigen, und dabei, wie ihr vorkam, angstvollen Blicke aus so vielen Gesichtern vereinigten sich in ihrer Brust. Sie sah die Amme vor sich, die nach ihr umblickte, sie wollte nach, sie ging fast unter in einem Knäuel von Menschen, auf einmal war sie vor den Hufen eines großen Maulesels, der wissende, sanfte Blick des Tieres traf sie, sie erholte sich an ihm« (Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 118f.). Versinnbildlicht wird diese Entstellung der Gesellschaft besonders durch die Figuren der drei Brüder des Färbers Barak: das ›Einaug‹, der ›Einarm‹ und ›der Buckel‹.

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Märchen nicht nur Hofmannsthals ästhetisches, auf der romantischen Kunstreligion basierendes Konzept sichtbar, das in der Poesie ein Mittelding zwischen Geist und Leben erkennt, sondern als Gegenstück dazu auch die scharfe Kritik des Autors an der entfremdeten modernen Gesellschaft und an ihren Grundpfeilern. In diesem Sinne wird Die Frau ohne Schatten auch zu einem antimodernen und dadurch ›politischen‹ Text, der sich gegen die ökonomisch-bürgerliche Gesellschaft richtet und doch eine andere Moderne herbeisehnt, die auf einer neuen ästhetischen Kultur oder – mit Pannwitz’ Worten – auf einer ›neuen Religion‹ gründen soll. Um diese Kultur-Utopie auszudrücken, benutzt Hofmannsthal den Begriff des ›Sozialen‹, den er dem Bürgerlichen entgegensetzt und in einer Aufzeichnung der Sammlung Ad me ipsum direkt in Bezug auf das Märchen bringt: »Die Frau ohne Schatten: Triumph des Allomatischen. Allegorie des Sozialen«.22 Hofmannsthals Allegorie der Poesie stellt also nicht nur ein raffiniertes, im Grunde selbstbezogenes Geflecht von Zeichen und Symbolen, ja ein gelungenes ästhetisches Experiment dar, sondern sie ist ausdrücklich auch als eine ›Allegorie des Sozialen‹ zu verstehen: als das Sinnbild einer zu realisierenden ästhetischen und zugleich ethischen Gesellschaft, die (genau wie die Kunst) insofern ein neues religiöses Fundament besitze, weil sie Ethos und Eros, Geist und Leben zu verbinden vermag. Wie Hofmannsthal am 6. November 1919 an Pannwitz schreibt, soll dieses soziale Element, das der österreichische Dichter für den gemeinsamen Nenner seiner Werke der Kriegsjahre hält,23 demzufolge nicht oberflächlich betrachtet und mit der bürgerlichen Ethik verwechselt werden.24 Das Soziale – wie auch Hofmannsthals philosophische Auffas_____________ 22 23

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Hofmannsthal, Hugo von: Reden und Aufsätze II (1914-1924); in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 603 So z. B. in einem Brief Hofmannsthals an Pannwitz über das soziale Element in seinen Werken als Vermählung des ›Geistigen‹ mit dem »Weltstoff«: »Es ist da [in der Komödie Der Schwierige] wie dort [in der Komödie Cristinas Heimreise] ein Drittes, das niemand so zu fassen versteht, wie Sie, an einer socialen Welt materialisiert, diesmal wie damals mit dem charme der nuance. Absurd, Ihnen dies sagen zu wollen, aber ganz sonderbar dass irgend etwas Sie auf den Gedanken bringen kann, die Art, die nun einmal meine ist, das Geistige mit dem Weltstoff zu vermälen [sic], könne bei mir wechseln« (Hofmannsthal an Pannwitz, 17. 11. 1920; in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 553-556, hier S. 555). Bezeichnend für Hofmannsthals ›soziales‹, antimodernes Konzept von Ästhetik und Kultur ist die Abwesenheit von bürgerlichen Gestalten in seinen Werken der Kriegsjahre (im Märchen ebenso wie in den Komödien), wo nur Figuren des Adels und des Volks dargestellt werden. Nicht nur durch die Ehe-Thematik, sondern auch durch die Polarität einer höheren und einer niedrigeren sozialen Ebene werden die theoretischen Grundlagen von Hofmannsthals Ästhetik – ›Geist‹ und ›Leben‹ – sowie deren implizit ›politische‹ Botschaft in diesen Werken allegorisch versinnbildlicht. Hervorzuheben ist, dass auch der Adel als ›geistiges‹ und ›kulturelles‹ Konzept in der Romantik entsteht; vgl. die Studie von Strobel,

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sung der Ehe als höhere Notwendigkeit des Lebens, ja als ›elementares Sakrament‹ zeigt – sei nur scheinbar deckungsgleich mit dem Bürgerlichen, der »sogenannten Wirklichkeit«,25 und gehöre vielmehr der selbständigen, überlegenen Sphäre der »wirkliche[n] Wirklichkeit«26 an: Ich hatte mich gerade etwas verlassen gefühlt und bedacht wie von den dreißig Leuten, an die ich Exemplare des Märchens geschickt hatte, auch nicht einer mir darüber etwas geschrieben hatte [...] – da können Sie denken, wie Ihre Briefe, zuerst der eine, dann der andere, mich wirklich bis fast an die Thränen ergriffen u[nd] gerührt haben. Alles was Sie aussprechen, ist mir nicht nur schön, sondern auch faßlich; daß sich mein Kreis mit dem bürgerlich-sittlichen in dieser Weise fast zu decken scheint, hat mich auch mehrmals bedenklich gemacht, doch glaube ich, wie Sie es andeuten, der eine Kreis schwebt über dem anderen [...]. 27

In diesem Sinne versteht sich Hofmannsthals Märchen als zwar unzeitgemäßes und antimodernes, zugleich jedoch engagiertes, mehr noch politisches Werk, das programmatisch gegen die Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft sowie der Kulturlandschaft seiner Zeit gerichtet ist und für eine neue ästhetisch-ethische Kultur, ja für eine andere Moderne plädiert. Es ist daher keineswegs ein Zufall, wenn Pannwitz gleich am Anfang seines Aufsatzes über Die Frau ohne Schatten (wenn auch zunächst auf die Oper bezogen) Hofmannsthals Sonderposition als einzelgängerischer moderner Dichter betont, d. h. als unzeitgemäßer Dichter, der sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewege bzw. zwischen einer sonst verloren gegangenen ›lebendigen Kultur‹ und einem neuen, noch utopischen Kulturideal für die kommende Zeit: Die Zeit hat geglaubt, Hofmannsthal sei stehen geblieben, in Wirklichkeit ist er weiter gegangen, aber niemand mitgekommen. [...] Hofmannsthal ist, leicht scheinend, um so schwerer; er ist Österreicher; er ist persönlich kompliziert; er setzt eine komplizierte, doch in ihm naiv lebendige Kultur voraus, die niemand mehr hat; er ist, nur scheinbar verflochten, in Wahrheit einsam, ganz für sich stehend und auf einem Wege, den außer ihm niemand geht.28

Der österreichische Dichter befinde sich somit in dem Niemandsland »zwischen einer Gesellschaft, die nicht mehr da ist und einer Gesellschaft, die noch nicht da ist«, wie Pannwitz 1918 in seinem Aufsatz über _____________ 25 26

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Jochen: Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen ›Adeligkeit‹ und Literatur um 1800. Berlin 2010. Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 424. Die ausdrückliche Gegenüberstellung von ›sogenannter‹ und ›wirklicher‹ Wirklichkeit findet man in Hofmannsthals Brief vom 23. 8. 1919 an Berta Zuckerkandl, den der Dichter während einer intensiven Arbeitsphase am Märchen schreibt (Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 424). Hofmannsthal an Pannwitz, 6. 11. 1919; in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 13), S. 418-422, hier S. 418. Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 588.

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Hofmannsthals Komödien formuliert.29 Gerade in diesem unzeitgemäßen Sinne wird Hofmannsthals Märchen indirekt zu einem politischen Werk, ja zu einem »im Innersten der Epoche widerstrebende[n] Stück Poesie«,30 das zu seiner Zeit kritisch Stellung nimmt und dabei ein alternatives Kulturmodell für die Moderne entwerfen möchte. Auch dieses kulturkritische Moment in Hofmannsthals Erzählung, genauso wie das ihr zugrundeliegende ästhetische Konzept, mit dem dieses Moment unzertrennlich verbunden ist, geht auf die Romantik zurück.31 Vor diesem Hintergrund drückt Hofmannsthals Märchen das Kulturprojekt seines Autors aus – ein Projekt, das sich zwischen kultureller Überlieferung und Kulturutopie, Vergangenheit und Zukunft, bewegt und in dem sich ›Ästhetik‹ und ›Politik‹ vereinigen. Somit ist das Märchen nicht an die Gesellschaft von Hofmannsthals Zeit gerichtet, sondern geradezu nietzscheanisch an eine ideelle neue Jugend, die fähig sein werde, auf das ästhetisch-politische Erbe der Romantik rekurrierend eine andere Moderne zu erschaffen. Demzufolge schließt Pannwitz seinen Aufsatz gerade mit der Hoffnung ab, dass eine stärkere Generation mit ausgeprägten ›Sinnesorganen‹ für Hofmannsthals Kunstmärchen sowie allgemein auch für dessen Projekt einer für die Gesellschaft wieder sinnstiftenden (Kunst-)Religion schon bald kommen könnte: Vielleicht ist der Zeitpunkt, zu dem unsere allerseltsamste erzählende Dichtung uns geschenkt wird, der ungünstigste, der möglich war, da etwa noch alle Sinne für sie fehlen. Vielleicht ist schon eine Jugend da, die stark genug ist, die etwas Klassisches und mehr als Gebändigtes, edelste Überlieferungen Vollendendes, aushalten, und davon lernen kann und sogar will. 32

Hofmannsthals ästhetisches Projekt ist insofern als ›politisch‹ zu betrachten, weil darin sowohl eine stark konservative Botschaft als auch ein ausdrückliches revolutionäres Potential zu erkennen sind. Diese beiden Seiten von Hofmannsthals Ästhetik, die an sich widersprüchlich erscheinen, verbinden sich in seiner Erzählung (und in seinen späten Werken überhaupt, besonders in und nach der Kriegszeit) aufs Engste und nehmen somit schon in den 1910er Jahren seiner erst 1927 in der Münchner Rede explizit zum Ausdruck gebrachten Idee einer ›konservativen Revolution‹ vorweg.33 _____________ 29 30 31 32 33

Pannwitz, Rudolf: Hofmannsthals Komödien; in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 579-587, hier S. 580. So Hofmannsthal in einem Brief vom 22. 10. 1919 an Raoul Auernheimer ( Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Die Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 424). Vgl. Merlio, Gilbert: Kulturkritik in der politischen Romantik; in: Euphorion 104 (2010), S. 43-65. Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 594. Hofmannsthals Konzept einer ›konservativen Revolution‹ ist auf ein weitreichendes kulturphilosophisches Projekt zurückzuführen, das sich in den Jahren um den Ersten

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Das Revolutionäre an Hofmannsthals Märchen ist nicht primär politischer, sondern eher philosophischer Natur und mit einem Begriff vom ›Leben‹ verbunden, der auf die (spät-)romantische Philosophie zurückgreift. Im Sinne einer organischen Auffassung, die in der Geschichte genau so wie in der Natur Bewegung und Verwandlung impliziert, betrachtet Hofmannsthal etwa das größte Ereignis seiner Zeit, den Ersten Weltkrieg, als einen »Bergsturz«,34 d. h. als eine Naturkatastrophe, die aber eine epochale geistige Bedeutung habe und zu einer Wiedergeburt der europäischen Kultur unter österreichischem Vorzeichen führen könne.35 Auch wenn Hofmannsthals Idee des ›Sozialen‹ insofern für revolutionär zu halten ist, als diese mit einer scharfen Kritik an der bürgerlichen Zivilisation und an deren Grundpfeilern (Ökonomie, Technik und Fortschritt) sowie mit dem Wunsch nach radikaler kultureller Veränderung Hand in Hand geht, möchte sein Kulturprojekt im Grunde keineswegs die traditionell hierarchische Ordnung der Gesellschaft in politischem Sinne auf den _____________

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Weltkrieg entwickelt – nicht zuletzt infolge der ›schicksalhaften‹ Begegnung mit Rudolf Pannwitz. Der umstrittene Begriff einer ›konservativen Revolution‹ hat gewichtige und folgenreiche politische Implikationen, doch wird man der Tragweite dieses Projekts mit streng politischen Kategorien nicht gerecht, sondern eher vor der Folie des eminent ästhetischen Instrumentariums der romantischen Lebensphilosophie. Konzeptuell muss ›konservative Revolution‹ daher als ein genuin ästhetischer Begriff betrachtet werden, den 1921 zuerst Thomas Mann im Essay Russische Anthologie in Bezug auf Nietzsches Philosophie benutzt hat (vgl. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Frankfurt/M. 2001ff. Band 15.1: Essays II 1914-1926. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 2002, S. 333-347, besonders S. 341), auch wenn er dann erst mit Hofmannsthals Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation bekannt wurde; vgl. Osterkamp, Ernst: Konservative Avantgarde?; in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 8 (1998) H. 1, S. 7f., hier S. 7. − Zu Hofmannsthals Rede und ihren politischen Implikationen vgl. ausführlicher Fossaluzza, Cristina: Poesia e nuovo ordine (Anm. 1), S. 77-96. So Hofmannsthal u. a. in seinem Aufsatz Krieg und Kultur (1915); in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979-1986. Band 9: Reden und Aufsätze II. 1914-1924. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch Ungekürzte, neu geordnete, um einige Texte erweiterte Ausgabe der 15 Bände. Frankfurt/M. 1986, S. 418. − Zu Hofmannsthals Kriegspublizistik vgl. Streim, Gregor: Deutscher Geist und europäische Kultur. Die ›europäische Idee‹ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz; in: Germanisch-romanische Monatsschrift, N.F. 46 (1996), S. 174197. Vgl. Fossaluzza, Cristina: Phönix Europa? Krieg und Kultur in Rudolf Pannwitz’ und Hugo von Hofmannsthals europäischer Idee; in: Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent. Edited by Sascha Bru, Jan Baetens, Benedikt Hjartarson, Peter Nicholls, Tania Ørum and Hubert van den Berg. Berlin − New York 2009, S. 113-125.

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Kopf stellen. So gilt zum Beispiel das Volk, das in Hofmannsthals Werken dieser Jahre (als Vertreter des ›Lebens‹) als ein zentrales Element zu betrachten ist, in diesen Werken nie als wahrer politischer Akteur, sondern vielmehr und ausschließlich als eine genuin philosophische Allegorie.36 Genau auf dieser philosophischen und ästhetischen Ebene begegnen sich die konservative sowie die revolutionäre Seite von Hofmannsthals Denken in einer vor- und antimodernen Dimension des Politischen.37 Während das Revolutionäre als ein primär (lebens-)philosophischer Begriff zu verstehen ist, ist das Konservative bei Hofmannsthal nicht unbedingt mit einem politisch-reaktionären Denken gleichzusetzen, sondern wird vielmehr als ästhetische Allegorie einer vormodernen Ordnung konzipiert bzw. als ›geistiger Raum‹ in einer poetisierten und romantisierten Welt verstanden, in der ›Geist‹ und ›Politik‹ zu einer Einheit verschmelzen sollen.38 In dieser zugleich konservativen und ›revolutionären‹ Auffassung offenbart sich Hofmannsthals ästhetisch-politisches Programm im Spätwerk – besonders ab der Kriegszeit – geradezu als Manifest seiner Kunstreligion. Denn in dieser, wie es Hofmannsthal selbst bezeichnenderweise 1927 in seiner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation formulieren wird, sei das höchste Ziel, »daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: [daß man] zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation« gelangt.39 Gerade dies ist die Quintessenz _____________ 36 37

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Man denke z. B. an die Figur des Dieners Pedro in der Komödie Cristinas Heimreise und natürlich auch an die Färberfamilie in Die Frau ohne Schatten; zur Figur des Pedro als philosophische Allegorie vgl. Hofmannsthal an Pannwitz, 17. 11. 1920 (Anm. 23), S. 555. In diesem Sinne ist Hofmannsthal sicher auch als ein moderner Vertreter der ›politischen Romantik‹ zu betrachten. − Zu Carl Schmitts Definition und der Frage nach deren Aktualität in der Moderne vgl. Fossaluzza, Cristina: Poesia e nuovo ordine (Anm. 1), S. 9-19; zum Begriff des ›Politischen‹ nach der Romantik vgl.: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Herausgegeben von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München 2003. Sehr eindeutig schreibt Hofmannsthal in seinem Aufsatz Die Bejahung Österreichs (1914): »[...] man vergißt allzu oft, daß Politik und Geist identisch sind« (Hofmannsthal, Hugo von: Die Bejahung Österreichs. Gedanken zum gegenwärtigen Augenblick; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 19791986. Band 9: Reden und Aufsätze II. 1914-1924. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch Ungekürzte, neu geordnete, um einige Texte erweiterte Ausgabe der 15 Bände. Frankfurt/M. 1986, S. 356-359, hier S. 356). Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927; in: Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979-1986. Band 10: Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Herausgegeben von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch.

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von Hofmannsthals politischer Ästhetik als Symbiose von ›Geist‹ und ›Leben‹ – einer Symbiose, die im zentralen vierten Kapitel des Märchens Die Frau ohne Schatten, das die Begegnung des Kaisers mit seinen sieben ungeborenen Kindern thematisiert, vielleicht ihren höchsten poetischen Ausdruck findet. Dieses vierte Kapitel, das von Hofmannsthals intensiven Gesprächen mit Pannwitz im Oktober 1917 auf Freifrau Gabriele von Oppenheimers Ramgut stark beeinflusst und in der Zeit zwischen November 1917 und Januar 1918 verfasst wird,40 besitzt in der Opernfassung der Frau ohne Schatten kein Äquivalent. Dieses Kapitel ist als eine Allegorie von Hofmannsthals Ästhetik als Mittelding zwischen ›Geist‹ und ›Leben‹ konzipiert und somit ganz besonders auch als eine genuin metapoetische Reflexion seines Autors zu betrachten. Vor diesem Hintergrund werden dessen Hauptgestalten, die Ungeborenen, als keine realistischen Figuren entworfen, sondern vielmehr als symbolische Erscheinungen oder besser platonische ›Ideen‹41 ausgearbeitet, ja als Sinnbilder von Kunstwerken in nuce, die darauf warten, geschaffen zu werden. So wird die Allegorie der Zeugung innerhalb der Ehe, wie in den ersten drei Kapiteln des Märchens thematisiert, explizit auch zu einem Gleichnis des künstlerischen Prozesses, das in diesem zentralen Kapitel in dem vom ungeborenen Mädchen gewobenen Teppich einen überaus eloquenten ästhetischen Ausdruck findet: Das Mädchen war am oberen Ende des Tisches niedergekniet, sie breitete den Teppich aus und lud ihn ein, sich darauf niederzulassen. Das Gewebe war unter seinen Füßen, Blumen gingen in Tiere über, aus den schönen Ranken wanden sich Jäger und Liebende los, Falken schwebten darüber hin wie fliegende Blumen, alles hielt einander umschlungen, eines war ins andere verrankt, das Ganze war maßlos herrlich [...]. ― Wie hast du es zustande gebracht, dies zu entwerfen in solcher Vollkommenheit? ― [...] Ich scheide das Schöne vom Stoff, wenn ich webe; das was den Sinnen ein Köder ist und sie zur Torheit und zum Verderben kirrt, lasse ich weg. ― Der Kaiser sah sie an. ― Wie verfährst du? [...] Ich sehe

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Ungekürzte, neu geordnete, um einige Texte erweiterte Ausgabe der 15 Bände. Frankfurt/M. 1980, S. 24-41, hier S. 40. Vgl. dazu Hofmannsthals Brief an Pannwitz (21. 10. 1917) in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 135f.) und Hofmannsthal: Varianten und Erläuterungen: Frau ohne Schatten (Anm. 4), S. 271. − Im Oktober 1917 liest Hofmannsthal Pannwitz auch seine Entwürfe des vierten Kapitels vor, vgl. Pannwitz an Hofmannsthal, 28. 1. 1918; in Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 199f.). Vgl. Pannwitz: Hofmannsthals Erzählung Die Frau ohne Schatten (Anm. 2), S. 592. − Nicht zufällig kennen Hofmannsthals Ungeborenen die temporale Ebene noch nicht: »Die Zeit? sagte das Mädchen und sah ihn mit verlegenem Ausdruck an. Wir kennen sie nicht, aber es ist unser ganzes Begehren, sie kennen zu lernen und ihr untertan zu werden« (Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 149).

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nicht was ist, und nicht was nicht ist, sondern was immer ist, und danach webe ich.42

In diesen Zeilen wird das Konzept theoretisiert, auf dem Hofmannsthals Ästhetik (und in einem weitesten Sinne auch eine der Haupttendenzen der modernen Ästhetik seit der Romantik überhaupt) gründet: das Konzept einer ›unendlichen Semiose‹.43 Es handelt sich um ein antimimetisches Konzept, das vom Postulat der imitatio naturae eindeutig Abschied nimmt: Da das ungeborene Mädchen die Zeit nicht kennt, widmet sie ihre Aufmerksamkeit nicht den Dingen bzw. dem, »was ist und was nicht ist«; dagegen stellt ihr Gewebe ein komplexes, raffiniertes Netz von schönen Zeichen dar, die sich von den Phänomenen loslösen und verselbstständigen, um mit Blick auf einen transzendenten Horizont (›was immer ist‹) neue, unendliche Sinnrelationen zu anderen Zeichen zu bilden und somit eine ›primäre‹, poetisierte Parallelwelt zur ›sekundären‹ Welt (mit Hofmannsthals schon zitierten Worten: der »sogenannte[n] Wirklichkeit«),44 zu erschaffen. Doch gelingt das vom ungeborenen Mädchen beschriebene ästhetische Experiment im vierten Kapitel des Märchens nicht: Der Kaiser versteinert, die Ungeborenen kommen nicht aus der ›Präexistenz‹ heraus45 und das poetische Werk vollendet sich nicht – die versuchte Synthese von ›Geist‹ und ›Leben‹ bleibt vorerst aus. Dieses Scheitern, das nicht zuletzt durch die Abwesenheit der Kaiserin im ganzen Kapitel hervorgehoben und durch die Kälte der einsamen Statue ihres Gatten an dessen Ende prägnant symbolisiert wird, ist kein Zufall. Vielmehr ist es darauf zurückzuführen, dass der Kaiser sich unfähig zeigt, die Selbstbezogenheit zu überwinden und seinen ungeborenen Kindern Gehör und Leben zu schenken: Dreimal überhört er ihre Aufrufe46 und ihre Bitten47 und verpasst so die Gelegenheit, diejenige ethische Entscheidung zu treffen, die _____________ 42 43

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Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 147. Zum Begriff einer ›unendlichen Semiose‹ seit der Romantik vgl. Baioni, Giuliano: L’alchimia, la chimica e il fiore androgino; in: Goethe, Johann Wolfgang von: Le affinità elettive. A cura di Giuliano Baioni, übersetzt von Paola Capriolo. Venezia 1999, S. 9-92; La poesia dell’età romantica. Lirismo e narratività. A cura di Andreina Lavagetto. Roma 2002. So Hofmannsthal im schon erwähnten Brief vom 23. 8. 1919 an Berta Zuckerkandl (Anm. 26), S. 424. Zum Begriff der ›Präexistenz‹ bei Hofmannsthal vgl. Zampa, Giorgio: Prefazione e Cronologia; in: Hofmannsthal, Hugo von: Narrazioni e poesie. A cura di Giorgio Zampa. Milano 1972, S. XI-LIV, insbesondere S. XVIIf. – Zu diesem Begriff in Hofmannsthals Turm vgl. auch Nicolaus, Ute: Souverän und Märtyrer. Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen. Würzburg 2004, S. 170-194. »Es ist an dem!« (Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 145, 149, 157). »Oh nur ein Gran von Großmut!« (Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 156f.).

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notwendig wäre, um seine Ehe fruchtbar werden zu lassen und damit zu einer gelungenen, sowohl ästhetischen als auch ›sozialen‹ Synthese von ›Geist‹ und ›Leben‹ zu kommen. Genau so blind und selbstbezogen wie das Verhalten des Kaisers im vierten Kapitel erweist sich auch die Entscheidung der Färberin im fünften und sechsten Kapitel: Aus Eitelkeit, wenn auch durch übersinnliche Kräfte verführt,48 übergibt diese der Amme ihren Schatten und opfert somit ihre ungeborenen Kinder. Nach diesem zweiten narzisstischen Moment kommt das in Hofmannsthals Märchen dargestellte ästhetische und ›soziale‹ Experiment im siebten und letzten Kapitel aber zur Vollendung. Mit feuergleichem Drang und Impetus möchte hier die Kaiserin ihr Unrecht an der Färberfamilie unbedingt wieder gutmachen.49 Nach der klassischen Struktur des Märchens50 muss sie zu diesem Zweck eine harte Probe bestehen, d. h. entweder das goldene Wasser aus einer ihr angebotenen Schale trinken, das sie der Mutterschaft und einer glücklichen, fruchtbaren Ehe mit dem Kaiser versichert, oder selbstlos handeln und darauf verzichten, um der Färberin ihren Schatten und ihre ungeborenen Kinder zurückzugeben: Die Kälte wehte zu ihr herüber bis ins Innerste und lähmte sie. Sie konnte keinen Schritt tun, nicht vor- noch rückwärts. Sie konnte nichts als dies: trinken und den Schatten gewinnen oder die Schale ausgießen. Sie meinte, vernichtet zu werden und drängte sich ganz in sich zusammen; aus ihrer eigenen diamantenen Tiefe stiegen Worte in ihr auf, deutlich, so als würden sie gesungen in großer Ferne; sie hatte sie nur nachzusprechen. Sie sprach sie nach, ohne Zögern. ― Dir Barak bin ich mich schuldig! sprach sie, streckte den Arm mit der Schale gerade vor sich hin und goß die Schale aus vor die Füße der verhüllten Gestalt. 51

Gerade indem die Kaiserin sich selbst vergisst, rettet sie ihre Ehe und ihre Kinder und besteht die Probe. Nur diese ›Entsagung‹ sichert ihr die Mutterschaft sowie die Rückkehr ihres versteinerten Gatten und ermöglicht es, die im vierten Kapitel angekündigte, doch zunächst gescheiterte Synthese zu erreichen – eine Synthese zwischen dem Prinzip des ›Lebens‹, das die Kaiserin bei dem Volk kennengelernt hat und ohne das der ›Geist‹ unfruchtbar bleiben würde, und dem ›Adel des Geistes‹, den sie von Geburt an kennt und ohne den das Leben zu einem blinden Naturtrieb werden würde. _____________ 48 49 50 51

Die Färberin wird durch die Figur des Efrit verführt; zu dieser komplexen Gestalt vgl. Hofmannsthal an Pannwitz, 4. 8. 1918; in: Hofmannsthal/Pannwitz: Briefwechsel (Anm. 2), S. 254f. Vgl. Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 179. Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Herausgegeben von Karl Eimermacher. München 1972. Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 191.

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So wird die Entscheidung der Kaiserin am Ende von Hofmannsthals Märchen zum allegorischen Gipfelpunkt der ästhetischen Reflexion ihres Autors – einer antimimetischen Reflexion, die sich zwischen den konzeptuellen Polen ›Geist‹ und ›Leben‹ bewegt und die Grundlage für das im Märchen ausgedrückte Konzept einer ›elementaren Kunstreligion‹ bildet. Es ist gerade dieses kunstreligiöse Konzept, wovon Hofmannsthals in den Kriegsjahren entwickeltes ›soziales‹ Projekt einer neuen, modernen ästhetischen Kulturgesellschaft beseelt wird, die sich als Alternative zur ›bürgerlich-sittlichen‹ Gesellschaft versteht. In diesem ästhetisch-sozialen Projekt, das sich allegorisch im abschließenden Bild des verwandelten Talismans an der Brust der Kaiserin konkretisiert,52 offenbaren sich schon in diesen Jahren einerseits Hofmannsthals Antimodernismus und seine ›konservative‹ Abkehr vom Geist seiner Zeit, andererseits aber auch sein Engagement für die Moderne und die impliziten politischen Intentionen seines ›revolutionären‹ ästhetischen Programms.

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Die Kaiserin »wußte nicht, daß auf dem Talisman an ihrer Brust längst die Worte des Fluches ausgetilgt und ersetzt waren durch Zeichen und Verse, die das ewige Geheimnis der Verkettung alles Irdischen priesen« (Hofmannsthal: Die Frau ohne Schatten (Anm. 19), S. 196).

CHRISTOPH DEUPMANN

Daniel in der Dachkammer Ironisierung der Kunstreligion in Thomas Manns Erzählung Beim Propheten In einem der wenigen theoretisch-essayistischen Texte, in denen er sich ausführlich zum Thema ›Kunstreligion‹ äußert (im Versuch über das Theater, dessen kürzere Vorarbeit im Berliner Morgen vom Juni 1907 noch Das Theater als Tempel hieß), hat Thomas Mann sich mit der nationalcharakteristischen »Ehrfurcht« auseinandergesetzt, die den Deutschen »vor dem Theater eingeboren« sei.1 Es geht darin um die Rechtfertigung des Romans als ästhetisch überlegener Kunstform im Vergleich zur sinnlichen Plumpheit von Theater-Effekten, die jede Szene ins Symbolische steigern. Es geht aber auch um das Theater als Ort der Kunstreligion, den der Romanschriftsteller Thomas Mann in einer narrativen Passage seines Essays so beschreibt: Und so macht man sich denn auf zur Tempelbude, diesem musischen Staatsinstitut. Man wirft sich in Schwarz, man hat Gesellschaftsfieber. Es trifft sich vielleicht schlecht, man ist vielleicht müde, verstimmt, ruhebedürftig; aber man hat sechs Tage vorher unter bedeutenden Opfern an Zeit und Bequemlichkeit sein Billett von einem Beamten erstanden und ist gebunden. Man wallfahrtet per Droschke zur Gnadenstelle. Man kämpft den Kampf der Garderobe, legitimiert mehrmals, das Billett in der Hand, sein Recht auf Kunst und bekommt seinen Sammetsitz in der Menge angewiesen. Parfums, Geschwätz, Atlastaillen, die in den Nähten krachen, schlechte Menschengesichter, – Gesichter von Menschen, denen man es ansieht, daß sie weder eines guten Satzes noch einer guten Handlung fähig wären. Und dann dort oben das Ideal, zu dem man, rasch trunken von Musik, emporstarrt, die Scham und Frage im Herzen: Ist das gut, ist es hoch, da es all denen auch gefällt? (VT 140)

Der Ort dieses von Inkommodität, Unvollkommenheit der technischen Mittel und Ablenkung ständig bedrohten ›Kunstgenusses‹ ist durchaus _____________ 1

Mann, Thomas: Versuch über das Theater; in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Band 14.1: Essays I 1893-1914. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 2002, S. 123-168, hier S. 153. – Textnachweise aus Thomas Manns Versuch über das Theater werden im Folgenden unter der Sigle ›VT‹ geführt.

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prekär: eine »Tempelbude«, wie Thomas Manns paradox zusammengesetzter Ausdruck lautet, angesiedelt zwischen Jahrmarkt und Weihestätte,2 Kirmes und Kirche. Auch die heterogen zusammengesetzte Theater-Gemeinde erhöht die Andacht des Besuchers nicht. Was dem Essayisten dabei vor Augen steht, ist nichts Geringeres als das Musiktheater Richard Wagners. In Bayreuth habe das Theater nach Jahrtausenden zum zweiten Male – wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen […]. Auf jeden Fall ist es dem hieratischen Genie Richard Wagners gelungen, ein Theater, ein bestimmtes, sein Theater zu einer Weihestätte, einem über alles gemeine Theaterwesen erhöhten Haus der Mysterien zu machen […]. Das Theater […] ist recht häufig nur ein ›Lokal‹; aber sein Ehrgeiz, ein Tempel zu sein, wird immer wieder erwachen, und er ist gut in seinem Wesen gegründet. (VT 153f.)

Das Theater als »Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formwesens« führe »mit Notwendigkeit ins Zelebrierend-Kirchliche zurück«. Diese Sakralisierung bestimme auch den Gebrauch der theatralischen Mittel wie des wagnerschen Leitmotivs: »denn das ›Leitmotiv‹ ist eine Formel, – mehr noch: es ist eine Monstranz, es nimmt eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch« (VT 157). »Kirche und Theater« seien »doch stets durch ein geheimes Band verbunden geblieben; und ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, musste sich schließlich als Bruder des Priesters, ja, selbst als Priester fühlen« (VT 158). Thomas Mann unterzieht die Kunstreligion einer Kritik, die ganz der Distanzierung Nietzsches von Wagners Musikdrama im Fall Wagner (1888) folgt: Die Re-Sakralisierung des Theaters gehe auf Rechnung seiner außerordentlichen »Wirkungssucht«, die es veranlasse, »an alle erreichbaren Glocken« zu schlagen. Im Anschluss an Schillers Überlegungen zur ›Schaubühne als moralischer Anstalt‹ hält Thomas Mann es zwar für möglich, »daß in irgend einer Zukunft, wenn es einmal keine Kirche mehr geben sollte, das Theater allein das symbolische Bedürfnis der Menschheit zu befriedigen haben –, dass es die Erbschaft der Kirche antreten und _____________ 2

Mit einer »Jahrmarktsbude« wird auch in Wälsungenblut (1905/1921) das Theater anlässlich einer Aufführung von Wagners Walküre verglichen (Mann, Thomas: Wälsungenblut; in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Band 2.1: Frühe Erzählungen 1893-1912. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004, S. 429-463, hier S. 454); auch in Mario und der Zauberer (1930) steht der Ausdruck ›Bretterbude‹ für den Schauplatz eines ins Demagogische getriebenen Künstlertums (vgl. Mann, Thomas: Mario und der Zauberer; in: Mann, Thomas: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen. Frankfurt/M. 1960, S. 658-711, hier S. 671).

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dann allen Ernstes ein Tempel sein könnte« (VT 158). Dazu bedürfe es allerdings einer Volkstümlichkeit, einer Exoterik, wie sie Thomas Manns eigenes Werk bei aller ästhetischen Durchbildung stets mit angestrebt hat;3 und ob im Theater der Zukunft das Werk Wagners, dieses ›Apostels seiner selbst‹, noch eine Rolle spielen wird, beurteilt er zu diesem Zeitpunkt skeptisch. Denn das Wagnersche Musiktheater setze zu sehr auf Dekor, Effekt und »Zauberei«, als dass es vor den ästhetischen Maßstäben einer ›reinen und strengen‹, vereinfachten Kunst noch bestehen könnte, in deren Richtung die theaterreformatorischen Bestrebungen der Gegenwart tendieren.4 In den zwischen 1909 und 1912 entstandenen Notizen für den Essay Geist und Kunst hat Thomas Mann die Auseinandersetzung mit der Kunstreligion unter der Bezeichnung einer ›überspannten‹ »Höhen-« oder »Tempelkunst« weitergeführt. Gegen die »ohnmächtige Ungenügsamkeit nach dem Großen, Dichterischen, Überlitterarischen, Hohen« verteidigt er jetzt den psychologisch scharfsichtigen, intellektuellen und handwerklich versierten Literaten (und damit erneut sein Metier als Erzähler): Heut will niemand ein guter Romanschriftsteller sein; man heißt sich Epiker – das klingt unliterarischer. Schreiben können gilt nichts, aber was lallend aus orphischen Tiefen kommt oder zu kommen vorgiebt, wird sehr geschätzt. 5

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»Mich verlangt auch nach den Dummen« (Thomas Mann an Hermann Hesse, 1. 4. 1910; in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Band 21: Mann, Thomas: Briefe I 18891913. Ausgewählt und herausgegeben von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002, S. 447-449, hier S. 448). In den Notizen zum Essay Geist und Kunst heißt es über die zeitgenössische Theaterentwicklung und Wagner: »Nach Allem, was ich höre und sehe, sind die jüngsten TheaterReformatoren und -Versucher einig darin, daß nicht von Wagners Kunstwerk eine neue Entwicklung anknüpfen wird. Niemand glaubt mehr an die Addition von Malerei, Musik, Wort und Gebärde, die Wagner für die Erfüllung aller künstlerischen Sehnsucht auszugeben die Unbefangenheit hatte. Niemand glaubt mehr an eine Rangordnung der Gattungen, in welcher der Tasso dem Siegfried nachstünde ...« (Wysling, Hans: Geist und Kunst. Thomas Manns Notizen zu einem Literatur-Essay; in: Scherrer, Paul / Wysling, Hans: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern – München 1967, S. 123233, hier S. 198 (Nr. 89). – Die Passage kehrt wörtlich in Leiden und Größe Richard Wagners wieder. Wysling: Geist und Kunst (Anm. 4), S. 158 (Nr. 12).

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Im April 1904 hat Thomas Mann sich schon einmal eindringlich mit der zeitgenössischen Kunstreligion auseinandergesetzt – allerdings nicht im Medium des Essays, in dem er gegen die zeitgenössische ›Literatenfeindschaft‹ argumentiert, sondern im Medium der Erzählung. Die erzählende Form, so lässt sich von den polemischen Notizen zu Geist und Kunst her begründen, stellt die Mittel bereit, die theoretisch abgelehnte ›Tempelkunst‹ besonders wirksam zu demontieren. Dort heißt es mit Blick auf den Dichter Richard Schaukal, einen Repräsentanten des elitären Ästhetizismus: »Größe. Grimasse und Gequäle. Lächerlicher Gegensatz bei Schaukal von Produktion und Gethue«.6 Dieser Differenz zwischen prätentiösem Anspruch und unzulänglicher Inszenierung gewinnt Thomas Manns Erzählung ihre komische Seite ab. Aus der so gewonnenen ironischen Distanz zum Pathos der Kunstreligion fragt die Erzählung zugleich nach den Bedingungen des literarischen Künstlertums. Beim Propheten, eine Auftragsarbeit für die Osternummer der Neuen Freien Presse, die dann mit Verspätung an Pfingsten 1904 erschien, entstand im unmittelbaren Anschluss an eine Lesung der Proklamationen des katholischen Mystikers Ludwig Derleth in der Karwoche 1904. Derleth gehörte bei betonter Eigenständigkeit in den Umkreis der Schwabinger ›Kosmiker‹ um Ludwig Klages, Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Stefan George, in dessen Blättern für die Kunst er seit 1902 Gedichte veröffentlichte; die Proklamationen erschienen als erste selbständige Publikation im Jahr der Lesung 1904.7 Bis in Einzelheiten verarbeitet die Erzählung den Eindruck des ›exzentrischen‹ Ereignisses: Am 1. April, dem Karfreitag, war Thomas Mann der Einladung in Derleths Dachgeschosswohnung in der Münchner Destouchesstraße 1 gefolgt, wo der Text in Abwesenheit des Dichters von einem »Jünger« »aus der Schweiz«,8 wie es in der Erzählung heißt (tatsächlich hat es sich um den Schweizer Germanisten Rudolf Blümel gehandelt), _____________ 6

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Wysling: Geist und Kunst (Anm. 4), S. 158 (Nr. 12). – Richard Schaukal hatte in Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser (1907) den Typus des elitären Dandys entworfen. Er hatte Thomas Mann nach Erscheinen der Erzählung Der Weg zum Friedhof seine Werke zugeschickt und dieser widmete ihm im Jahr 1900 die Erzählung Luischen. Zu Ludwig Derleth vgl. v. a. Jost, Dominik: Ludwig Derleth. Gestalt und Leistung. Stuttgart 1965. – Vgl. auch Aler, Jan: Ludwig Derleth (1870-1948), ein katholischer Mystiker, der auch auf Nietzsche und Kierkegaard hörte; in: Gestalten um Stefan George. Gundolf, Wolfskehl, Verwey, Derleth. Herausgegeben von Jan Aler. Amsterdam 1984, S. 89-137 und 138-161 (Anhang). Mann, Thomas: Beim Propheten; in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Band 2.1: Frühe Erzählungen 1893-1912. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004, S. 408-418, hier S. 411. – Beim Propheten wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›BP‹ zitiert.

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an insgesamt drei Abenden vorgetragen wurde. – Bereits der Aufstieg im »banalen Mietshause« zur Mansarde des Dichters, der in der Erzählung den Namen des Propheten Daniel trägt, ist wie der Aufstieg zu einer Stätte dichterischer Offenbarungen angelegt, zu der am Ende des »halbdunklen« Treppenhaus-›Schachts‹ ein »Schein aus letzter Höhe« lockt; und die »leibliche Wohnstätte des Propheten« (BP 408f.) ist wahrhaftig eine »Tempelbude«: die Wohnung eines Bohemiens am sozialen wie topografischen Rand der großstädtisch-bürgerlichen Gesellschaft, ausgestattet mit allen Requisiten einer religiösen Kult- und Weihestätte. Kerzenlicht von »verschiedenen Leuchtern auf einem mit verblichenen Altardeckchen belegten Tischchen« empfängt die Gäste »zu Häupten der Treppe«, und der ›mäßig große‹ Wohnraum ist in die »schwankende und flimmernde Helligkeit« von »zwanzig oder fünfundzwanzig brennenden Kerzen« (BP 409f.) getaucht: Zur Rechten des Einganges erhob sich ein altarartiger Schrein, auf welchem zwischen Kerzen […] eine bemalte Heiligenfigur mit aufwärts gerichteten Augen ihre Hände ausbreitete. Eine Betbank stand davor, und näherte man sich, so gewahrte man eine kleine, aufrecht an einem Fuße des Heiligen lehnende Amateurphotographie, die einen etwa dreißigjährigen jungen Mann mit gewaltig hoher, bleich zurückspringender Stirn und einem bartlosen, knochigen, raubvogelähnlichen Gesicht von konzentrierter Geistigkeit zeigte. (BP 411)9

Daniels »Bildnis«, wie es der Erzähler schildert, gleicht in der asketischstarren Pose auffällig einer der vielen Porträtfotografien Stefan Georges; für Thomas Mann war auch der reale Derleth »geistig wie kostümlich ein Ableger« des Dichters.10 Im »halb als Kabinett, halb als Kapelle« eingerichteten »Gelaß« steht neben antik geformten Öllampen und Armleuchtern ein »weiß gedeckter Tisch«, der »ein Kruzifix, einen siebenarmigen Leuchter, einen mit rotem Weine gefüllten Becher und ein Stück Rosinenkuchen auf einem Teller« trägt: Versatzstücke einer religiössynkretistischen Inszenierung, der es ganz offenbar auf den sinnlichsymbolischen Effekt ankommt. Der zu verlesende Text selbst, »ein Stapel beschriebenen Papiers in Folioformat«, liegt auf einer »vergoldete[n] Gipssäule, deren Kapitäl von einer blutrot-seidenen Altardecke überhangen wurde« (BP 412). Derselbe Eklektizismus prägt auch die Galerie der Musterheroen an den Wänden: Neben einer groben Kreidezeichnung von ›Napoleon in der Schlacht bei Waterloo‹ (vgl. BP 411) sind »die Porträte _____________ 9

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Viktor Mann hat Derleth, dessen Schwester gelegentlich Einladungen seiner Mutter Hedwig Pringsheim folgte und dort »kaum etwas anderes als von ihm, dem ›Atler‹, wie sie ihn nannte«, gesprochen habe, entsprechend beschrieben: »Tatsächlich hatte er ein raubvogelähnliches Asketen- und Fanatikergesicht« (Mann, Viktor: Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. 4., revidierte Auflage. Konstanz 1986, S. 98). Thomas Mann, zitiert nach Marx, Friedhelm: Ich aber sage Ihnen .... Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt/M. 2002, S. 72, Anm. 114.

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von Luther, Nietzsche, Moltke, Alexander dem Sechsten, Robespierre und Savonarola im Raume verteilt ...« (BP 412); ein Bilderkabinett militärischer, geistiger und geistlicher Größen, das dem bohemienhaften Atelier Derleths in der Schwabinger Destouchesstraße nur ungefähr entsprach.11 Die erzählte Ausstattung dieses »billig und bedeutungsvoll geschmückte[n] Ateliers« (BP 408) dokumentiert eine aufbruchsbereite Improvisation in kunstreligiöser Erwartung, die von Stefan George in einem Gedicht An Derleth im Siebenten Ring als Zeichen ihrer Verwandtschaft aufgefasst worden ist: In unsrer runde macht uns dies zum paare: Wir los von jedem band von gut und haus: Wir einzig können stets beim ersten saus Wo grad wir stehn nachfolgen der fanfare.12

Im Erzähltext überlagert sich eine detailgetreue, mimetische Realistik mit einer Imagination, die bis zur Groteske reicht.13 Indem die Erzählung den alttestamentlichen Propheten Daniel (beziehungsweise dessen ›Jünger‹) in die zusammengesuchte Kulisse eines improvisierten Tempelbudenzaubers versetzt, entlarvt sie die gewollt kunstsakrale ›Aura‹ als Theaterdekoration – »zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt« (anstelle eines glaubhaften ›Ganzen‹), wie Nietzsche über Wagners Musiktheater schrieb.14 Wie »ernüchtert« müsse der Leser sein, mutmaßt Thomas Manns literarisches alter ego Tonio Kröger in der Erzählung von 1903, »wenn er je einen Blick hinter die Coulissen thäte«.15 Die Einsetzung des ›Rosinenkuchens‹ in die Eucharistie-Topik von Brot und Wein bricht den Ernst der kunstreligiösen Inszenierung, indem sie das Pathos des Sakralen ins Kulinarische abbiegt (und so die parodistische ›Vision‹ der »Schinkensemmel« durch den Novellisten am Ende der Erzählung vorbereitet). Mit _____________ 11

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Zu Derleths Atelier vgl. Kreuzer, Helmut: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Mit einem Errataverzeichnis versehene, sonst textlich unveränderte Studienausgabe von 1968. Stuttgart − Weimar 2000, S. 164. – Auch auf Thomas Manns Schreibtisch stand übrigens von Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit an ein Napoleon-Bildnis. George, Stefan: An Derleth; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band VI/VII: Der siebente Ring. Stuttgart 1986, S. 172. Vgl. auch Zimmermann, Rolf Christian: Der Dichter als Prophet. Grotesken von Nestroy bis Thomas Mann als prophetische Seismogramme gesellschaftlicher Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts. Tübingen – Basel 1995, S. 95 und S. 105. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888); in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 6: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce Homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. 2., durchgesehene Auflage. München 1988, S. 9-53, hier S. 27. Mann, Thomas: Tonio Kröger; in: Mann: Frühe Erzählungen 1893-1912 (Anm. 2), S. 243318, hier S. 271.

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der symbolischen Verdichtung der ›beredten‹ Dinge demonstriert die Erzählung übrigens zugleich, was der drei Jahre später verfasste Versuch über das Theater als überlegenes Vermögen der Prosa über das Drama herausgehoben hat: »daß der erzählende Dichter nicht nur durch die Personen, sondern auch durch die Dinge sein Inneres« – bzw. dasjenige erzählter Figuren – »ausspricht« (VT 131). Das Registrieren der ›bedeutungsvoll‹ arrangierten Details errichtet ein stark überdeterminiertes und daher als ironisch kenntliches System religiöser Verweisungen, das auch die erzählten Figuren einbezieht. Als Wächter am Eingang stehen ein »breitköpfiger, freundlich blickender«, stummer Knabe sowie die ›Schwester des Dichters‹, Maria Josefa, »rein und töricht von Angesicht«, von der es ausdrücklich heißt: »Sie betete Daniel an« (BP 410). Sie ist der dem Dichter verehrungsvoll ergebenen Schwester Derleths, Anna Maria, nachgebildet. Im »ganzen etwa zwölf Personen« (BP 413) finden sich zum literarischen »Konvent« ein: darunter ein »Lyriker«, ein langer, schwarzbärtiger Semit [potenziell der Judas im Kreis der Apostel, C.D.] mit seiner schweren, bleichen und in hängende Gewänder gekleideten Gattin, eine Persönlichkeit von zugleich martialischem und kränklichem Aussehen, Spiritist und Rittmeister außer Dienst, und ein junger Philosoph mit dem Äußern eines Känguruhs. (BP 408f.)

Hinzu kommen noch ein phantastischer Zeichner mit greisenhaftem Kindergesicht, eine hinkende Dame, die sich als »Erotikerin« vorstellen zu lassen pflegte, eine unverheiratete junge Mutter von adeliger Herkunft, die von ihrer Familie verstoßen, aber ohne alle geistige Ansprüche war und einzig und allein auf Grund ihrer Mutterschaft in diesen Kreisen Aufnahme gefunden hatte, eine ältere Schriftstellerin und ein verwachsener Musiker […]. (BP 413)

Mit der Freiheit der Fiktion verwandelt die Erzählung reale Gegebenheiten und Personen (wie die Gräfin Franziska zu Reventlow)16 in Elemente eines grotesken Tableaus, das mit den Merkmalen zeitgenössischer Dekadenz, mit pathologischer Erschlaffung, Deformation, hysterischer Übersteigerung und Exzentrik ausgestattet ist. Auch die erzählte Physiognomie des vortragenden ›Jüngers‹ kennzeichnet ein »unheimliches _____________ 16

Eine gendertheoretische Kritik am ›Portrait‹ Franziska zu Reventlows in der Erzählung Beim Propheten, die Thomas Mann als »Agenten und Vollstrecker der patriarchalen Ordnung« und (mit Hedwig Dohms Worten) »verdammte[n] alte[n] Anti-Feministe[n]« ausmacht, unternimmt Elsaghe, Yahya: Beim Propheten. Portrait und Ideologie in Thomas Manns Frühwerk; in: Neophilologus 88 (2004), S. 417-427, hier S. 426. – Zur Rolle Franziska zu Reventlows unter den Münchner Kosmikern vgl. Faber, Richard: Männerrunde mit Gräfin. Die Kosmiker Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des Schwabinger Beobachters. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1994.

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Gemisch von Brutalität und Schwäche« (BP 415). Unter dem Stichwort »Zur modernen ›Größe‹« notierte sich Mann bei der Arbeit am Essay Geist und Kunst eine Passage aus Willy Raths Essay über Stefan George: St. G., will mir scheinen, ist ein Prototyp jener Naturen, die aus ihrer Schwäche ihre Stärke machen. […] Der selbstverständliche Aristokratismus des Künstlers entartet zum göttisch-cäsarischen Höhenwahn, umgiebt sich buchstäblich mit imaginären Tempelhallen, mit priesterhafter Weihe.17

Auch im Fontane-Essay von 1910 weist Thomas Mann die priesterliche Pose des »Heiligen Stefan« ironisch zurück, indem er ihr die ›heitere‹ und ›freie‹, »tapfere Modernität« Fontanes entgegenhält.18 Die Steigerung der Kunst ins Religiöse ist mehr Symptom der Dekadenz als deren Überwindung.19 Eine weitere, »plötzlich« hinzukommende Figur löst indes den apostolischen Kreis der Zwölf auf: die »reiche Dame«, die nur »aus Neugier, aus Langeweile« »solche Veranstaltungen zu besuchen pflegte« (BP 413) und insofern am ennui der décadents Anteil hat. Sie gehört offenbar ebenso wenig zur kunstreligiösen Gemeinde wie der »Novellist«, »ein Herr mit steifem Hut und gepflegtem Schnurrbart«, der »niemanden« kannte (BP 409). Seine Attribute weisen ihn (auch in psychoanalytischer Lesart) als Träger sexueller Ambitionen aus, die sich auf die Tochter der Dame richten. Ihre Überzähligkeit bzw. Unzugehörigkeit stellt beide Figuren außerhalb der kunstreligiös codierten Ordnung; vom Novellisten heißt es ausdrücklich: »er kam aus einer anderen Sphäre« (BP 409). Mit der Figur des Novellisten stellt die Erzählung darüber hinaus dem ›Propheten‹ und Künstler-Scharlatan den Typus des ›Literaten‹ gegenüber und trägt damit ein Gegenkonzept zur ›Tempelkunst‹ in die erzählte Welt ein. Es handelt sich um eine kaum verrätselten Autor-Maske Thomas Manns, der so auf gedoppelte Weise – mit und in seinem erzählenden Text – ironische Distanz zur Kunstreligion markiert. Was die Lesung des ›Propheten‹ und seinen Text, die Proklamationen, selbst betrifft, macht die Erzählung den Novellisten zum Zeugen einer kunstreligiösen Selbstinszenierung, deren Theatralik die Tendenz zur Regression ins »Zelebrierend-Kirchliche«, von der der Versuch über das Theater im Blick auf Wagner spricht, mit allem Nachdruck vorführt: Es waren Predigten, Gleichnisse, Thesen, Gesetze, Visionen, Prophezeiungen und tagesbefehlartige Aufrufe, die in einem Stilgemisch aus Psalter- und Offenbarungston mit militärisch-strategischen sowie philosophisch-kritischen Fachausdrücken in bunter und unabsehbarer Reihe einander folgten. Ein fieberhaftes und furchtbar gereiztes Ich reckte sich im einsamen Größenwahn empor und

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Thomas Mann, zitiert nach Marx: Ich aber sage Ihnen … (Anm. 10), S. S. 70. Mann, Thomas: Der alte Fontane; in: Mann: Essays I (Anm. 1), S. 245-274, hier S. 265. Vgl. auch Marx: Ich aber sage Ihnen … (Anm. 10), S. 71.

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bedrohte die Welt mit einem Schwall von gewaltsamen Worten. Christus imperator maximus war sein Name, und er warb todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs, erließ Botschaften, stellte seine unerbittlichen Bedingungen, Armut und Keuschheit verlangte er, und wiederholte in grenzenlosem Aufruhr mit einer Art widernatürlicher Wollust immer wieder das Gebot des unbedingten Gehorsams. Buddha, Alexander, Napoleon und Jesus wurden als seine demütigen Vorläufer genannt, nicht wert, dem geistlichen Kaiser die Schuhriemen zu lösen … (BP 415)

Die gedrängte, atemlose Parataxe imitiert den fanatisch-autoritären Duktus und alttestamentlich manierierten Stil von Ludwig Derleths Proklamationen; innerhalb von Thomas Manns erzählerischem Frühwerk erinnert sie an die Schimpfreden Lobgott Piepsams in Der Weg zum Friedhof (1900) oder des Mönchs Hieronymus in Gladius Dei (1902). Der Sprecher der Derlethschen Proklamationen nimmt gleich in den ersten Sätzen die Rolle des einsamen, infamierten Propheten eines apokalyptischen Endkampfs um die Weltherrschaft in Anspruch: »JESUS MARIA. | Ich wachte und erschienen mir drei Zeichen: der Blitz, der Adler und der Stern. | Ich, Ludwig Derleth, bin allein und habe alle verbündet gegen mich und erkläre im Namen Jesus von Nazareth den Krieg«.20 Die autoritäre, bellizistische, anti-intellektuelle, anti-demokratische und anti-bürgerliche Suade des Dichter-Sehers insistiert auf den bedingungslosen Gehorsam seiner Anhänger im Zeichen eines Christentums ohne Liebe.21 Der prophetische Status sichert sich ab durch die Verbindung von radikalem IchBekenntnis (»Ich, Ludwig Derleth«) und Selbstzurückstellung des Sprechers, der im Namen einer anderen, höheren Instanz von ultimativem Autoritätsanspruch (»Christus imperator maximus«) spricht; dass der Prophet selber abwesend ist und einen ›Jünger‹ mit der Lesung seiner Proklamationen beauftragt, wiederholt diese Figur der Stellvertretung im theatralischen Akt der Lesung und entzieht ihre fordernde Autorität jeder unmittelbare Befragbarkeit. Die »Wirkung« solcher Forderungen »auf die Zuhörer« steht freilich nicht einfach zu des Sprechers Verfügung; umso weniger natürlich das, was Thomas Manns Erzählung daraus macht. Hatte Viktor Mann berichtet, die »Gläubigen« seien »in Verzückung«22 gefallen, _____________ 20

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Derleth, Ludwig: Die Proklamationen; in: Derleth, Ludwig: Das Werk. Sechs Bände. In Verbindung mit Christine Derleth herausgegeben von Dominik Jost. Band I: Das Frühwerk. Bellnhausen über Gladenbach 1971, S. 43-89, hier S. 45 (Manuskript von 1904). – In der Druckfassung der Proklamationen von 1919 ist der Name ›Ludwig Derleth‹ gestrichen. Vgl. dazu auch das bereits zitierte Gedicht Stefan Georges, das am Ende der ersten Strophe bezeichnenderweise die ›Liebe‹ anmahnt: »Du fällest um dich her mit tapfrem hiebe | Und stehst nun unerbittlicher verlanger. | Wann aber führt dich heim vom totenanger | Die täglich wirksame gewalt der liebe?« (George: An Derleth (Anm. 12), S. 172). – Vgl. dazu auch Beßlich, Barbara: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914. Darmstadt 2000, S. 138f. Mann, Viktor: Wir waren fünf (Anm. 9), S. 98.

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so berichtet die Erzählung nur von einer gelähmten Stille, die das tathafte Begehren der verlesenen Botschaft23 ins Leere laufen lässt: »Einige blickten, weit zurückgelehnten Hauptes, mit erloschenen Augen zur Decke empor; andere hielten, tief über ihre Knie gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben« (BP 416). Vor allem in der erzählten Rezeption durch den Novellisten wird der visionäre Gestus des Vortragenden und seines Textes auf parodistische24 Weise zuschanden: »Um zehn Uhr kam ihm die Vision einer Schinkensemmel, aber er verscheuchte sie mannhaft« (BP 416). Der Novellist hält es wie Tonio Kröger mit den ›Wonnen der Gewöhnlichkeit‹, die auf das prophetische Pathos eine ernüchterndvernichtende Wirkung haben. Der Text kann den Schluss von Derleths Proklamationen daher wörtlich zitieren, weil er sich der Komik des Kontrasts zwischen Anspruch und erzählter Wirklichkeit sicher sein darf: »Soldaten! […] Ich überliefere euch zur Plünderung – die Welt!« (BP 416). Hugo von Hofmannsthal hat Ludwig Derleth unter die »1001 falschen Propheten« gerechnet, »die doch ein Körnchen von ewiger Wahrheit in sich tragen«.25 Gerade in der verzerrten, verstiegenen Gestalt des DichterPropheten erscheint die ›Wesensart‹ des Künstlers zur Kenntlichkeit gesteigert, wie Thomas Mann sie um 1900 begreift: Der priesterhafte Dichter Daniel (bzw. sein Stellvertreter) offenbart bei aller Lächerlichkeit »seine Charlatanerie und seinen heiligen Funken«, wie es in der Erzählung Das Wunderkind (1903) heißt.26 Damit wird deutlich, dass es bei der ironischen Vorführung der Kunstreligion in Beim Propheten auch um die Bedingungen des Künstlertums überhaupt geht – also nicht zuletzt um Probleme des Selbstverständnisses des jungen Autors Thomas Mann, die er sich mit den Begriffen ›Kunst‹, ›Geist‹ und ›Leben‹ auszulegen sucht. Mit Hilfe der Figur des Novellisten wird eine kunstreligiöse Haltung auf ironische Distanz gebracht, die Thomas Mann offenbar mehr anging, als die bis ins Groteske getriebene Darstellung auf den ersten Blick vermuten lässt. »Ich war nicht ohne Kontakt mit den Hängen und Ambitionen der Zeit […], mit Strebungen, die zwanzig Jahre später das Geschrei der Gasse wurden«, heißt es rückblickend im Essay Bruder Hitler (1938).27 Aber _____________ 23 24 25 26 27

Vgl. dazu Derleths Proklamationen: »Statt der Worte in einem Satz eine Reihe von Handlungen hinstellen, die beweisen ein neues Gesetz« (Derleth: Die Proklamationen (Anm. 20), S. 47). Zur Parodie vgl. Marx: Ich aber sage Ihnen … (Anm. 10), S. 70. Hofmannsthal an Carl Jacob Burckhardt, 22. 1. 1928; in: Hofmannsthal, Hugo von / Burckhardt, Carl J.: Briefwechsel. Herausgegeben von Carl J. Burckhardt. Frankfurt/M. 1956, S. 273. Mann, Thomas: Das Wunderkind; in: Mann: Frühe Erzählungen 1893-1912 (Anm. 2), S. 396-407, hier S. 404. Mann, Thomas: Bruder Hitler; in: Mann, Thomas: Essays. Nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und herausgegeben von Hermann Kurzke und

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schon die Notizen zu Geist und Kunst halten fest, wie sehr die an spezifischen Formen des Künstlertums geübte »Zeitkritik im Grunde Selbstkritik« ist: Viele der kritisierten Tendenzen auch in mir. Damit, daß man sie klarstellt, verneint man sie noch nicht, und doch bringt die Reizung u. Irritation durch die Erkenntnis, die Schärfe des Wortes einen polemischen, scheinbar feindseligen Ton mit sich. Bosheit gegen das Unbewußte.28

Das gilt umso mehr, als Thomas Mann bei der Auseinandersetzung mit dem modernen Künstlertum auch den Gegentypus zum ästhetizistischen Dichter-Priester, den ›Literaten‹ als »Künstler der Erkenntnis«, durch die Annäherung an das Heilige aufgewertet hat: Der Literat ist […] ehrenhaft bis zur Heiligkeit, ja, als Wissender und Richtender den Propheten des alten Bundes verwandt, stellt er in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar, als irgendein Anachoret einfacherer Zeiten.29

Ohne religiöse Stilisierung kommt im Umfeld der Kunstreligion um 1900 auch die Empfehlung des analytisch-kritischen, psychologisch-skeptischen Literatentums offenbar nicht aus. Aber es ist mehr eine aufgeklärte, ethisch-humanistische als eine kultische oder mystische Verwandtschaft, die den Literaten in die Denkfigur der ›heiligen Kunst‹ einbezieht. Die Erzählung hat diese grundsätzliche Relevanz ihres Themas einerseits verborgen, indem sie die eher zufällige Hospitanz des Novellisten in der Dachkammer des ›Propheten‹ nur mit der persönlich interesselosen Bereitschaft begründet, »zu würdigen, was zu würdigen war« (BP 411). Andererseits hat sie die tiefe Differenz der ästhetischen Konzepte deutlich markiert, indem sie den Novellisten gleich dreimal – leitmotivisch – mit den Worten charakterisiert: »Er hatte ein gewisses Verhältnis zum Leben« (BP 409, 414 und 418). Mit dieser Inanspruchnahme der von Wagner entlehnten Leitmotiv-Technik konterkariert die Erzählung das kunstreligiöse Paradigma auch formal: Hatte Wagner das Leitmotiv als »Monstranz« empor gehalten, so holt der Erzähler (der, nach Thomas Manns Aussage im Versuch über das Theater, nicht einzusehen vermag, dass es dem Dramatiker allein gehöre) das Leitmotiv in die unpathetische Prosa des ›Lebens‹ zurück. Was die Erzählung so in der ironischen Darstellung des kunstreligiösen Ereignisses herauszuarbeiten versucht, ist die Verfehlung des Lebens durch eine ästhetizistisch verabsolutierte Kunst, der gegenüber der ›Novellist‹ einen Typus des Geistes repräsentiert, welcher die Fühlung mit _____________ 28 29

Stephan Stachorski. Band 4: Achtung, Europa! 1933-1938. Herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1995, S. 305-312, hier S. 310. Wysling: Geist und Kunst (Anm. 4), S. 219 (Nr. 142). Mann, Thomas: Der Künstler und der Literat; in: Mann: Essays I (Anm. 1), S. 358-362, hier S. 362.

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dem Leben behält. Auch wenn die Erzählung jede auktoriale Wertung vermeidet und durch die ironische Erzählhaltung ersetzt, legt sie am Ende dem Novellisten die explizite Kritik dieser Art von lebensohnmächtigem Ästhetizismus in den Mund: »Ja, was ist das Genie«, sagte er nachdenklich. »Bei diesem Daniel sind alle Vorbedingungen vorhanden: die Einsamkeit, die Freiheit, die geistige Leidenschaft, die großartige Optik, der Glaube an sich selbst, sogar die Nähe von Verbrechen und Wahnsinn. Was fehlt? Vielleicht das Menschliche? Ein wenig Gefühl, Sehnsucht, Liebe? Aber das ist eine vollständig improvisierte Hypothese …« (BP 417)

Ohne dieses menschliche ›Maß‹ gerät die Beschwörung des Unbedingten zur Pose, zum leeren »Gethue«, wie auch die angestrebte »Größe« nicht durch rhetorische Beschwörung erreicht werden kann: »Man vergisst«, heißt es in den Notizen zu Geist und Kunst, »daß das Große niemals gewollt werden darf, sondern unter den Händen entsteht«.30 – Tonio Kröger hatte in der im Vorjahr erschienenen Novelle ganz ähnlich wie der ›Novellist‹ in Beim Propheten die »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« als Bedingung des literarischen Schreibens ausgemacht – und damit auch schon den Dichter-Propheten des späteren Textes umso mehr getroffen, als er es mit den Worten des Korintherbriefs sagt (1 Kor 13,1): Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der geschrieben steht, daß Einer mit Menschen- und Engelszungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei.31

In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hat Thomas Mann eine allgemeine Definition des Ästhetizismus gegeben: »Ästhetizismus ist die gestenreich-hochbegabte Ohnmacht zum Leben und zur Liebe«.32 Die Figur, die zwischen Geist und Leben vermittelt, heißt bei Thomas Mann ›Ironie‹; sie ist kraft der Distanzierung von allem Extremismus mit der Idee der Bürgerlichkeit verbunden. Seine Bejahung des Lebens (und sein Verlangen danach) macht die Erotik des Ironikers aus: »Ironie ist Erotik«, wie es in den Betrachtungen lapidar heißt.33 Der ›Novellist‹ ist ein Ironiker und Erotiker im Wortsinn. Auf seine ironische Haltung der Kunstreligion gegenüber ist der personal erzählte Text als ganzer gestimmt; sein persön_____________ 30 31

32 33

Wysling: Geist und Kunst (Anm. 4), S. 158 (Nr. 12). Mann: Tonio Kröger (Anm. 15), S. 318. – Thomas Mann zitiert die Stelle wörtlich in den Betrachtungen eines Unpolitischen. – Die Stelle im Korintherbrief lautet weiter (1 Kor 13,2): »Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts«. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Nachwort von Hanno Helbling. Frankfurt/M. 1983, S. 545. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen (Anm. 32), S. 569.

Daniel in der Dachkammer

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liches Interesse gilt der erotischen Werbung um die Tochter der reichen Dame, Sonja, die ihm geradezu als »unglaubhafter Glücksfall«, »Wunder an allseitiger Ausbildung« und »erreichtes Kulturideal« (BP 414) gilt: als leibhafte Synthese von ›Geist‹ und ›Leben‹. Dass dieses Ideal indes nicht nur einer religiös amplifizierten Kunst, sondern auch der modernen, ironisch gestimmten Prosa nicht unmittelbar zugänglich ist, deutet sich implizit dadurch an, dass es als Figur in der Diegese selber abwesend bleibt.

* Im Doktor Faustus (1947), der nicht zuletzt in der Schwabinger Bohème angesiedelten Biografie des fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn, kehrt der Verfasser der Proklamationen noch einmal wieder. Unter dem Namen ›Daniel Zur Höhe‹ schildert der Erzähler Serenus Zeitblom »einen in geistlich hochgeschlossenes Schwarz gekleideten hageren Dreißiger mit Raubvogel-Profil und von hämmernder Sprechweise«,34 der dem Daniel in der Dachkammer aus der über vierzig Jahre zuvor entstandenen kurzen Erzählung aufs Haar gleicht; auch die frühere Charakterisierung seines ›prophetischen‹ Textes hat Thomas Mann im Wesentlichen übernommen. Daniels »Dichterträume«, heißt es hier, galten einer in blutigen Feldzügen dem reinen Geiste unterworfenen, von ihm in Schrecken und hohen Züchten gehaltenen Welt, wie er es in seinem, ich glaube, einzigen Werk, den schon vor dem Kriege auf Büttenpapier erschienenen Proklamationen, beschrieben hatte, einem lyrisch-rhetorischen Ausbruch schwelgerischen Terrorismus, dem man erhebliche Wortgewalt zugestehen musste. Der Signatar dieser Proklamationen war eine Wesenheit namens Christus imperator maximus, eine kommandierende Energie, die todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs warb, tagesbefehlartige Botschaften erließ, genießerisch-unerbittliche Bedingungen stipulierte, Armut und Keuschheit ausrief und sich nicht genugtun konnte in der hämmernden, mit der Faust aufschlagenden Forderung frag- und grenzenlosen Gehorsams. »Soldaten!« schloß die Dichtung, »ich überliefere euch zur Plünderung – die Welt!« (DF 528)

_____________ 34

Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde; in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. Band 10.1. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 2007, S. 528. – Textnachweise aus Thomas Manns Doktor Faustus werden im Folgenden unter der Sigle ›DF‹ geführt.

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Im Roman wird Daniel durch seine »stereotype« Redeweise ironisiert, die ihn als Persönlichkeit ähnlich ›verwischt‹ wie Mynheer Peeperkorn im Zauberberg (1924): »›Jawohl, jawohl, so übel nicht, o freilich doch, man kann es sagen!‹, wobei er immerfort nervös und inständig mit dem Fußballen auf den Boden klopfte« (DF 528). Anders als in der Erzählung werden die ›Dichterträume‹ des Propheten jedoch vom auktorialen Erzähler ausführlich und unironisch kommentiert. In den Proklamationen, meint der Erzähler Zeitblom, spricht sich ein verantwortungsloser Ästhetizismus aus, der Religion und Gewalt, die Topik von ›heiligem Krieg‹ und christliche Opfermystik für die maximale Steigerung seiner Wirkung einsetzt: Dies alles war »schön« und empfand sich selber sehr stark als »schön«; es war »schön« auf eine grausam und absolut schönheitliche Weise, in dem unverschämt bezuglosen, juxhaften und unverantwortlichen Geist, wie eben Dichter ihn sich erlauben, – der steilste ästhetische Unfug, der mir vorgekommen«. (DF 528)

Die ›Unverantwortlichkeit‹ des Dichters spricht ihn nicht davon frei, die reale Gewalt mit vorbereitet zu haben: Auch wenn es sich bei den Bekenntnissen des Ästheten zum heiligen Krieg nur um »symbolische Poesie« (DF 529) handelt, geben sie die Werte der »bürgerlichen Tradition« auf denen auch die Verfassung der Weimarer Republik beruht, unbekümmert preis: »Bildung, Aufklärung, Humanität«, die »Hebung der Völker durch wissenschaftliche Gesittung« (DF 530). Die ›kulturkritische Avantgarde‹ (DF 531) des Kridwiß-Kreises, in dem der Erzähler eine ähnlich unzugehörige Stellung hat wie der Novellist in der Erzählung Beim Propheten, wendet diesen antidemokratrischen, antibürgerlichen Ästhetizismus in die Politik, wo die komödiantische Demagogie, die Nietzsche dem Musiktheater Wagners vorwarf, auf allzu fruchtbaren Boden fällt: wohl überflüssig ist es dabei, zu sagen, daß die uns Deutschen durch die Niederlage zuteilgewordene Staatsform, die uns in den Schoß gefallene Freiheit, mit einem Wort: die demokratische Republik auch nicht einen Augenblick als ernstzunehmender Rahmen für das visierte Neue anerkannt, sondern mit einmütiger Selbstverständlichkeit als ephemer und für den Sachverhalt von vornherein bedeutungslos, ja, als ein schlechter Spaß über die Achsel geworfen wurde. (DF 530)

Die ästhetizistischen Intellektuellen genießen den »perversen Reiz« (DF 530) des Verrats an der sie selbst fundierenden Bildung; sie umwerben Krieg, Gewalt und Diktatur mit einer Art höherer Koketterie, die um 1904 noch unschuldig erschien: »Auf Diktatur, auf Gewalt lief ohnehin alles hinaus«. Daniels formelhaft-stammelnde Affirmation – »›Recht wohl! Recht wohl! O freilich doch, man kann es sagen!‹ versicherte Zur Höhe und schlug dringlich mit dem Fuße auf« – schlägt gleichsam den ästhetischen Takt zu der »heraufziehenden Barbarei« (DF 531).

Daniel in der Dachkammer

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Die Wiederaufnahme der Figur des ästhetizistischen Ekstatikers Daniel im Kontext des Doktor Faustus-Romans zeigt, wie sehr gegenüber der 40 Jahre zuvor erschienenen Erzählung Beim Propheten der »Höhen-« oder »Tempelkunst« eine politische Dimension zugewachsen ist. An die Stelle der ironischen Auseinandersetzung mit der halb »juxhaft« aufgefassten Kunstreligion tritt die Reflexion der Rolle des politisierten Ästhetizismus bei der Abschaffung der humanitären Ordnung. Es geht, wie Thomas Mann am 1. April 1950 an den Rechtsanwalt und DerlethSchüler Otto Reeb schrieb, um die unheimliche Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei […]. So kam es, daß sich mir unwillkürlich eine Figur wie der Dichter Zur Höhe mit ihren an Derleth erinnernden Zügen unter die bedrohlichen, prae-faschistischen Gestalten des Romans drängte.35

Der verirrte Künstler schließlich, den der Essay Bruder Hitler zeichnet, repräsentiert die Gestalt der Kunstreligion vollends »auf der Stufe der Verhunzung«.36 Bei der Lektüre des zweiten Bandes von Arthur Eloessers Literaturgeschichte von 1931 versah Thomas Mann den Satz »Der Kultus um den Dichter war Tempeldienst« am Rand mit dem Stichwort ›Hitler‹, und im Hinblick auf Albert Verweys Erinnerungsbuch Mein Verhältnis zu Stefan George (1936) notierte er in einem Brief aus dem kalifornischen Exil am 30. Mai 1939 an Friedrich Walter Lenz: »wieviel ›Hitler‹ in der Figur Georges auf sehr hohem Niveau schon präexistent war, darüber ist nicht gut nachdenken«.37 Von der religiösen Überhöhung der Kunst zur faschistischen Ästhetisierung der Politik ist es offenbar nur ein Schritt.

_____________ 35 36 37

Thomas Mann an Otto Reeb, 1. 4. 1950; zitiert nach Jost: Ludwig Derleth (Anm. 7), S. 53. Mann: Bruder Hitler (Anm. 27), S. 307. Thomas Mann an Friedrich Walter Lenz, 30. 5. 1939, zitiert nach Marx: Ich aber sage Ihnen ... (Anm. 10), S. 71, Anm. 109.

MOIRA PALEARI

Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Ernst Barlach und Wassily Kandinsky Es klafft ein Abgrund, der nicht tiefer sein kann. […] So als Barbar will ich dem redlichen Mann glauben, daß ihm aus Punkten, Flecken, Linien, Tupfen à la Seite 48, 88 tieferes (d. h. über das Geschmackserlebnis am Ornamentalen hinausgehendes) seelisches Erschüttertwerden widerfährt, aber eben nur glauben, und dann – guten Tag! Wir könnten uns tausend Jahre unterhalten ohne Verständigung. Ich bin nämlich nicht unbewandert, habe selbst Zeiten gehabt, wo ich saß und saß und Linien »schuf«. Das waren dann die Intervalle, die Pausen, in denen wohl Hirn und Hand erbötig, aber alles andere wie verblödet schien. […] Ich glaube nicht, daß man eine neue Kunstweise logisch darstellen kann so, wie der Herr Kandinsky denkt – […]1

Mit diesen Worten äußert sich Ernst Barlach 1911 in einem Brief an den Verleger Reinhard Piper, der ihm ein Exemplar von Wassily Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst zugeschickt hat. Seine kritische Haltung dem Künstlerkollegen gegenüber ändert Barlach auch später nicht. Barlachs Urteil über Kandinsky mag zwar nur subjektiven, beinahe bekenntnishaften Wert haben, scheint in seiner Eindeutigkeit und Explizitheit aber keine Widerrede zuzulassen. Bei allem Unverständnis, das der deutsche Bildhauer der Programmatik des russischen Malers entgegenbringt, gibt es bei beiden Künstlern jedoch auch gewichtige Anhaltspunkte für ein übereinstimmendes Verständnis der Funktion von Kunst. Dieses Gemeinsame findet sich in der Verbindung von ästhetischem Gehalt und religiöser Erfahrung, der sowohl in Barlachs als auch in Kandinskys Einstellung zur Kunst eine entscheidende Bedeutung zukommt. Beide setzen sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit Kunst und Religion in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen intensiv auseinander. Ihre Kunst bezieht nicht nur wesentliche Anregungen aus religiösen Ideen und Motiven, sondern wurzelt auch in der zur Zeit der Moderne verbreiteten Auffassung, ein Kunstwerk biete die durch _____________ 1

Ernst Barlach an Reinhard Piper, 28. 12. 1911; in: Barlach, Ernst: Die Briefe 1888-1938 in zwei Bänden. Herausgegeben von Friedrich Droß. Band I: 1888-1924. München 1968, S. 393-396, hier S. 394f.

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den Künstler eröffnete Möglichkeit, Höheres bzw. Heiliges mehr oder weniger offenkundig darzustellen oder gar zu offenbaren.2 Um feststellen zu können, inwieweit Kunst und Religion bei Barlach und Kandinsky miteinander verflochten sind (wo, wie und inwiefern ihre Kunst also religiöse Funktionen zu übernehmen vermag), werden die kunsttheoretischen Äußerungen beider Künstler analysiert. Als Gegenstand der Untersuchung dienen dabei einige ihrer ›nichtfiktionalen‹ Texte wie essayistische Versuche, kurze Abhandlungen und Briefe, die am deutlichsten die jeweilige Kunst- und Künstlerpoetik vermitteln und zugleich den Künstler »als empirische Person«3 offenbaren. Dabei richtet sich der Fokus auf die Kernmotive des ›Mystischen‹ bzw. ›Geistigen‹ im Verständnis Barlachs und Kandinskys während der Jahre 1900-1920.

Ernst Barlach und das Mystische Barlachs plastisches, graphisches und literarisches Werk weist eine ausdrückliche Hinwendung zum Spirituellen und Mystischen auf, worin der Künstler mit vielen seiner Berufskollegen übereinstimmt. Zahlreiche Autoren haben sich um 1900 mit dem Phänomen der Mystik auseinandergesetzt. Da ihre Mystik-Rezeption auf unterschiedliche Quellen und Traditionen zurückgeht, lassen sich Mystik und Mystizismus in den Werken nicht immer voneinander abgrenzen.4 Ihr Interesse gilt jedoch vorwiegend der Suche nach einer persönlichen Verbindung des Subjekts mit dem Göttlichen. Dies führt zum einen zur »Individualisierung religiösen Erlebens«; zum anderen muss das Subjekt »alles Individuelle […] ablegen«, um diese direkte Verbindung im Sinne einer »unio mystica erfahren zu können«.5 Beide Reaktionen deuten auf eine Krisenerfahrung der Intellektuellen hin: Denn mit der gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierung sowie mit der in Nietzsches Philosophie erklärten ›Umwertung aller Werte‹ geht ein allgemeines Krisenbewusstsein einher, das auf der einen Seite zur religiösen Orientierungslosigkeit und zur Säkularisierungs_____________ 2 3 4 5

Vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 13f. King, Martina: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Göttingen 2009, S. 10. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne (Anm. 4), S. 9.

Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Barlach und Kandinsky

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tendenz führt, auf der anderen jedoch durch eine Rückkehr zur Tradition der Mystik gekennzeichnet ist.6 Unter den von Intellektuellen zu Rate gezogenen Auffassungen herrscht Thomas von Aquins Verständnis der Mystik als cognitio Dei experimentalis – als Erkenntnis Gottes durch die Erfahrung des Subjekts – vor. Große Bedeutung wird auch dem Phänomen der unio mystica, dem Erlebnis einer Vereinigung von Mensch und Gott, beigemessen, wie es in Meister Eckharts Schriften exemplarisch zum Ausdruck kommt.7 Die Verbreitung solcher Ideen geschieht nicht zufällig. Vielmehr lässt sich darin die Erfahrung des modernen Subjekts erkennen, das einerseits »ja nur eine Fiktion«8 geworden ist, andererseits jedoch in einer neuen Konstellation sich selbst wieder (er)findet: als metaphysisches Ich9 auf der Ebene ›des Anderen‹. Der Eklektizismus dieses mystischen Denkens lässt sich auch in Barlachs Werk feststellen, das von unsystematischen, teils widersprüchlichen Äußerungen zur Religion geprägt ist und »eine metaphysische, jenseitsorientierte wie auch vitalistische, diesseitige Weltsicht«10 zeigt. _____________ 6

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Um 1900 steigt nicht nur die Anzahl der Editionen mystischer Werke aus aller Welt deutlich an, sondern auch Philosophen und Literaten der Epoche lassen sich von mystischen Gedanken inspirieren und sind bemüht, mystisches Wissen zu verbreiten: Martin Buber, der mit seinem Sammelband Ekstatische Konfessionen (1909) dem Leser eine Anthologie bekannter mystischer Texte zur Verfügung stellt; Rudolf Steiner, der in Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung die Fundamente seiner anthroposophischen Doktrin legt, die ausgehend vom mystischen Gedankengut – insbesondere von der Lehre Meister Eckharts – die innere Erfahrung, die Erkenntnis des Selbst, als Weg zur Welterkenntnis versteht; schließlich Ludwig Wittgenstein mit seinem Tractatus logico-philosophicus (1922), der in Ergründung der Grenzen der begrifflichen Sprache deren Unfähigkeit hervorhebt, die Wirklichkeit zu erfassen, und lediglich in der visionären Kraft des Unaussprechlichen, das sich im (transzendenten) Bereich eines entkonfessionalisierten, nicht-theologischen Mystischen befindet (also außerhalb der Logik), eine Möglichkeit der Spracherfahrung erkennt (vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne (Anm. 4), S. 28-61). Zur Wiederentdeckung Meister Eckharts im 20. Jahrhundert vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne (Anm. 4), S. 28-30. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. Band 12: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. München 1999, S. 398. So interpretiert Jürgen Doppelstein auch den extremen Subjektivismus des Expressionismus als einen Versuch, »das ›unrettbare Ich‹ durch den Rückgriff auf ein metaphysisches Ich zu rekonstituieren« (Doppelstein, Jürgen: »Wir sollen die Werke heiligen«. Zum Verhältnis von Kunst und Religion bei Ernst Barlach und anderen; in: Ernst Barlach Gesellschaft / Doppelstein, Jürgen / Stockhaus, Heike (Hrsgg.): Ernst Barlach – Mystiker der Moderne. Hamburg 2003 (= Katalog der gleichnamigen Ausstellung der Ernst Barlach Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Hauptkirche St. Katharinen Hamburg), S. 36-53, hier S. 40). Beloubek-Hammer, Anita: Ernst Barlach und die Avantgarde; in: Ernst Barlach – Artist of the North. Herausgegeben von Jürgen Doppelstein, Volker Probst und Heike Stockhaus,

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Diese Verbindung unterschiedlichen Gedankenguts hat Theologie-, Philosophie- und Literaturhistoriker lange in Verlegenheit gebracht.11 Seit den 50er Jahren wurde Barlach in der Forschung als »Gottsucher«12 oder »Visionär«13 etikettiert, wobei man sein Werk als Zeugnis des religiösen Erlebnisses interpretierte;14 erst in jüngster Zeit ist es gelungen, Barlachs Verständnis der Mystik auf der Basis eines Vergleichs zwischen seinen Texten und Dokumenten mystischer Tradition konkreter herauszuarbeiten.15 Trotz aller Interpretationsunterschiede können aus den kontroversen Ansätzen drei übereinstimmende Punkte herauskristallisiert werden: a) Barlach entlehnt die religiösen Motive seiner Werke vorwiegend der christlichen Tradition (so bezeugen viele seiner Plastiken schon im Titel die Bezugnahme auf die christliche Welt).16 Dabei ist das Interesse hauptsächlich auf die Darstellung einer zeitlosen, universal-menschlichen Eigenschaft gerichtet, der das Christentum nur als thematische Folie dient − in diesem Zusammenhang sind beispielsweise Der Sonnenanbeter (1910/11), Der Ekstatiker (1911/12), Moses (1918/19) oder später Der Asket (1925), Christus und Thomas – Das Wiedersehen (1926), Der Pilger (1930) sowie Singender Klosterschüler (1931) zu nennen. In Barlachs literarischem Werk lassen sich ebenfalls zahlreiche explizit christliche Motive aufspüren: Im Drama Der tote Tag (1912), das ganz »im Zeichen einer Rückbindung des Menschen an eine metaphysische Instanz« _____________

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Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg, Ernst Barlach Stiftung Güstrow. Hamburg – Güstrow 1998 (= Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung der Kunsthalle Rostock, 24. 10. 1998 – 3. 1. 1999), S. 28-30, hier S. 28. Zu Barlachs Mystik in der Forschung vgl. Sroka, Anja: Zwischen Himmel und Erde. Ernst Barlach. Mystik und Kunst oder die Revision des Christentums. Herausgegeben von Jürgen Doppelstein für die Ernst Barlach Gesellschaft, Hamburg 2000, S. 38-40. Meridies, Wilhelm: Ernst Barlach. Ein Gottsucher unserer Zeit; in: Meridies, Wilhelm: Inneres Alphabet. Literarische Porträts aus vier Jahrzehnten. München 1974, S. 42-52. Lazarowicz, Klaus: Nachwort; in: Barlach, Ernst: Das dichterische Werk in drei Bänden. Erster Band: Die Dramen. Herausgegeben von Klaus Lazarowicz in Gemeinschaft mit Friedrich Droß. München 1956, S. 575-620, hier S. 579. Vgl. z. B. Hollmann, Werner: Das religiöse Erlebnis bei Ernst Barlach; in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 42 (1950), S. 1-8. Einen wesentlichen Impuls hierfür haben Anja Srokas Dissertation (vgl. Anm. 11) sowie der 2003 erschienene Ausstellungskatalog Ernst Barlach – Mystiker der Moderne (vgl. Anm. 9) gegeben. Wie Sroka zu Recht betont, darf Barlachs Religiosität nicht als christlich-konform verstanden werden, obwohl sich der Künstler in seinen Werken oft christlicher Motive bedient; sie spricht stattdessen von ›individueller Religiosität‹ (vgl. Sroka: Zwischen Himmel und Erde (Anm. 11), S. 47). − Wichtige Quellen sind in diesem Zusammenhang Barlachs Äußerungen im Brief vom 3. Dezember 1932 an Pastor Johannes Schwartzkopff (in: Barlach, Ernst: Die Briefe 1888‒1938 in zwei Bänden. Herausgegeben von Friedrich Droß. Band II: 1925-1938. München 1969, S. 335-338, hier S. 336).

Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Barlach und Kandinsky

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steht,17 wird die Vaterfigur, der ›blinde Seher‹, mit Gott und dem Geistigen verglichen; Die Sündflut (1923) spielt Szenen des Alten Testaments nach, wobei die prekäre Beziehung zwischen Gott und Menschen im Vordergrund steht; durch den Roman Der gestohlene Mond (bis 1937)18 ziehen sich leitmotivisch die Akzeptanz körperlichen Leidens als Voraussetzung für Erhebung und Erlösung sowie der Gedanke des Wortes Gottes als Grundlage für eine geistige Erneuerung.19 b) Barlachs Rezeption der Mystik geht auf das religionshistorische Phänomen der christlichen Mystik als erfahrungshafter Erkenntnis Gottes zurück20 und entspricht somit der in der Moderne verbreiteten Haltung zur Mystik. Dabei misst der Künstler der unio mystica, dem Ineinanderfließen von Geschöpf und Schöpfer, dem Eintauchen in die Natur als Raum der Gottverbundenheit sowie der ständigen Suche des Menschen nach Ewigkeit besondere Bedeutung bei. So wird in vielen der frühen Prosaskizzen auf diese Erkenntnis des Subjekts als Teil eines Ganzen hingewiesen:21 Der Ich-Erzähler – nicht selten ein sich selbst suchender Künstler – erlebt stets Geheimnisvolles, das sich nur durch das Eingreifen einer unerkennbaren transzendentalen Kraft erklären lässt, dabei aber wie selbstverständlich zu seinem Alltag gehört. Weiterhin kulminiert das Stück Die Sündflut in einer Art unioErlebnis,22 wenn die Figur Calan, dem eine Ratte die Augen herausgerissen hat, mit inneren Augen Gott schaut.23 Ebenso durchdringt im Romanfragment Der gestohlene Mond einer der Protagonisten (Wau) die Welt mit einem erhöhten ›Sehvermögen‹: einer Fähigkeit, die ihm erlaubt, nicht nur das »Aufblitzen der Transzendenz« wie »in der mystischen Schau« zu

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Vietta, Silvio / Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. Nachdruck der 6., unveränderten Auflage. München. 1997, S. 198. Der gestohlene Mond, an dem Barlach 1936/37 gearbeitet hat, ist Fragment geblieben. Vgl. Sroka: Zwischen Himmel und Erde (Anm. 11), S. 128-130. Zu Barlachs Auseinandersetzung mit Quellen der Mystik vgl. Sroka: Zwischen Himmel und Erde (Anm. 11), S. 24-33. − Es ist belegt, dass sich Barlach mit Siderische Geburt (1910) von Volker (Pseudonym für Erich Gutkind) beschäftigte, welcher die mittelalterlichchristliche Mystik rezipierte (vgl. Barlachs Brief an Arthur Moeller van den Bruck vom 15. 3. 1913; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 410f.). Vgl. z. B. Gründe, weshalb ich Europa verlassen und die Hottentotten zu meinen Mitbürgern gewählt habe (1891), Gebet (1902) und So, so scheint mir (1903); vgl. hierzu Stockhaus, Heike: Ernst Barlach. Mystiker und Eremit der Moderne; in: Ernst Barlach – Mystiker der Moderne (Anm. 9), S. 54-72. Vgl. Sroka, Anja: Ernst Barlach. Mystik und Kunst; in: Ernst Barlach – Mystiker der Moderne (Anm. 9), S. 114-140, hier S. 114-118. Barlach, Ernst: Die Sündflut; in: Barlach, Ernst: Das dichterische Werk I (Anm. 13), S. 319-383, hier S. 382f.

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erfahren24 und als Sprachrohr Gottes zu dienen, sondern auch sich selbst als Teil dieser Transzendenz zu begreifen. c) Barlachs Werke greifen nicht nur zentrale Motive der Mystik auf, sondern sind auch hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestaltung im Zeichen der Auseinandersetzung des Künstlers mit der Mystik zu verstehen.25 Die stete Verwendung von Abstrakta sowie von Gleichnissen, Metaphern und Allegorien erinnert an die bildhafte Sprache Meister Eckarts;26 gleichzeitig geht es aber auch um einen Beweis der Unzulänglichkeit des Wortes, Begriffe wiederzugeben. Diese Wechselwirkung von abstrakten und bildlichen Wörtern, die das Werk Barlachs von Anfang an charakterisiert und sich im letzten Roman deutlich verstärkt,27 dient dem Künstler dazu, die Aufmerksamkeit der Leser auf die Begrenztheit der Sprache zu lenken. Barlach behauptet mehrfach in seinen Briefen, er würde »oft tagelang mit einem einzigen Wort«28 kämpfen, und sieht »ähnlich wie viele Mystiker« darin doch »nur einen ›elenden Notbehelf, ein schäbiges Werkzeug‹«.29 Das Wort scheint nicht zu genügen, um den ›Visionen‹ des Schriftstellers gerecht zu werden;30 so greift dieser u. a. zu symbolischen oder allegorischen Bildern, in denen das Abstrakte in einem konkreten Bildgefüge als ›real‹ und damit fassbar erscheint. Diese faktische Allgegenwärtigkeit von religiösen Motiven und mystischen Tendenzen bestätigt Barlachs Interesse an religiösen Phänomenen. Reicht dies jedoch aus, um die Aufgabe der Kunst in den Augen Barlachs darzulegen? Soll die Kunst nur religiöse Inhalte vermitteln oder besitzt sie die Fähigkeit, ›etwas vom Göttlichen‹ zu offenbaren? _____________ 24

25 26 27 28 29 30

Schweizer, Heinz: Ernst Barlachs Roman Der gestohlene Mond. Bern 1959, S. 10. – Auffällig ist, dass sich Barlach zahlreicher Worte aus dem semantischen Feld ›Auge‹, ›Sehen‹, ›Blick‹, ›Vision‹ bedient und das Auge sowohl als Organ der sinnlichen als auch der intellektuellen Wahrnehmung betrachtet; zum ›mystischen Sehen‹ in der Literatur vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne (Anm. 4), S. 10-13. Zur Sprache Barlachs vgl. u. a. Wagner, Horst: Ernst Barlach und das Problem der Form. Diss. Münster 1955; Fleischhauer, Peter: Die Metaphernsprache im Werk Ernst Barlachs. Untersuchungen zur frühen Prosa und zu ausgewählten Dramen. Diss. Köln 1975. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne (Anm. 4), S. 28-30. Vgl. Schweizer: Ernst Barlachs Roman Der gestohlene Mond (Anm. 24), S. 120f. Ernst Barlach an Karl Barlach, 26. 12. 1924; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 743-747, hier S. 744. Schweizer: Ernst Barlachs Roman Der gestohlene Mond (Anm. 24), S. 117. Schweizer: Ernst Barlachs Roman Der gestohlene Mond (Anm. 24), S. 117; vgl. auch Fromm, Andrea: Traum und Vision bei Ernst Barlach; in: Barlach-Studien. Dichter, Mystiker, Theologe. Die Referate der Güstrower Tagung (29. 12. 1994 – 1. 1. 1995) der Evangelischen Akademie Nordelbien anläßlich von Barlachs 125. Geburtstag am 2. Januar 1995. Herausgegeben von Wolfgang Beutin und Thomas Bütow. Hamburg 1995, S. 85110.

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Barlachs Äußerungen zu seiner Kunstauffassung, die in Aufzeichnungen und Briefen unsystematisch verstreut sind, eröffnen in diesem Zusammenhang eine bereichernde Perspektive. 1906, als Barlach die Reise ins südliche Russland unternimmt, die für sein Lebenswerk einen entscheidenden Wendepunkt darstellt,31 notiert er seine Gedanken zur Kunst in ein ›Taschenbuch‹,32 das nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, aber als ein programmatisches Manifest seiner Kunst betrachtet werden kann. In diesen kurzen Passagen nimmt der Künstler zur Funktion der Kunst und zur Rolle des Künstlers Stellung. Künstlern komme als religiös empfindenden Persönlichkeiten eine »erhebende« Aufgabe zu, nämlich als »Zukunftsmenschen«33 den Adressaten der Kunst Höheres zu vermitteln: Nun, aber dann müssen wir hohe Individuen zu Künstlern haben. Solche, die uns erheben, die uns groß(e) Begriff(e) geben. Und wer können solche Naturen sein außer Religiöse und Religiös-Veranlagte?34

Dem Bildhauer, der im Plastischen die ›Urgestalt der Menschenseele‹ findet,35 schreibt Barlach ferner die Möglichkeit zu, das »schlechthin Erhabene der Überzeugung zu predigen«36 und gleichzeitig »das Bewußtsein des absoluten Ichs zu entblößen«.37 Der künstlerische Vorgang ist somit ein Prozess, in dem sich eine Immanenz/Transzendenz-Struktur – genauer gesagt: eine Struktur der immanenten Transzendenz – erkennen lässt. Bei Barlach stellt das Erhabene, wenn auch nicht näher religionsphilosophisch definiert, die durch den Künstler erfahrbare verborgene Schönheit der Natur und des Menschen dar; diese Schönheit erfasst der Künstler, indem er den Gehalt des Inneren durch seine Kunst nach außen trägt, ihn ästhetisch darstellt und somit sein Ich enthüllt. Das Mittel, das dem Bildhauer erlaubt, diese Wirklichkeit wahrzunehmen und darzustellen, ist sein ›plastischer Blick‹.38 Es handelt sich dabei um ein freudiges Schauen der Natur, durch das der Bildhauer Zeit und Ewigkeit wahr_____________ 31

32

33 34 35 36 37 38

Nach der Russlandreise schafft Barlach die ersten Plastiken, denen bis heute für seine Produktion als Bildhauer eine große Bedeutung beizumessen ist; zu Barlachs Russlandreise als entscheidendes Erlebnis für dessen ›mystische‹ Kunst vgl. u. a. Stockhaus: Ernst Barlach. Mystiker und Eremit der Moderne (Anm. 21), S. 60-65. Barlach, Ernst: Aus einem Taschenbuch (1906); in: Barlach, Ernst: Prosa aus vier Jahrzehnten. Herausgegeben mit einem Nachwort sowie Anmerkungen und Erläuterungen von Elmar Jansen. Berlin (Ost) 1963, S. 323-327. Weitere Teile in Barlach, Ernst: Ehrlichgemeinte eigene Überzeugung; in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 41 (1989) H. 1, S. 183-200. Barlach: Ehrlichgemeinte eigene Überzeugung (Anm. 32), S. 186. Barlach: Ehrlichgemeinte eigene Überzeugung (Anm. 32), S. 185. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 323. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 323. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 323. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 324.

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nimmt und Visionen schaffen kann. Damit erzeugt der Plastiker eine höhere Kunst, und die Plastik erzielt eine »beruhigende Absolutheit«.39 Barlach drückt es folgendermaßen aus: Das Schaffen in Visionen ist göttliche Kunst, Kunst in höherem und also besserem Sinne als die Wirklichkeits-Kunst, die sich vom bloßen Können ableitet. Visionen haben ist Fähigkeit des sinnlichen Blicks. Sollte dieses ›Fest des Schauens‹ nicht ein höheres Sakrament sein als das andere?40

Das Ergebnis dieser ›höheren‹ Kunst subsumiert Barlach interessanterweise unter den Begriff des Mystischen: Wenn der Künstler das Mystische so sinnlich gestaltet, daß es vertraute Welt wird, so hat er erhoben: durch das Gewöhnliche zum Unendlichen. Und hat gezeigt: sieh, die ganze Welt ist großartig, überall, denn der mystische Gehalt geht vollauf im Gewöhnlichen auf.41

In ausdrücklicher Anlehnung an das religiöse Verständnis des Mystischen wird hier der Begriff des visionsfähigen Künstlerblicks wie in der mittelalterlichen Mystik erfasst. Der Gedanke einer Beziehung zwischen Kunst und Mystik − genauer: zwischen Bildhauerei und Mystik − geht auf das Konzept des wahren Sehens bei Dionysius Areopagita zurück, der im 5. Jahrhundert Neuplatonismus und Christentum in seiner Lehre zusammengefügt hat. Dionysius Aeropagita setzt die mystische Theologie mit der Bildhauerei in Verbindung. In seinen Augen findet der Bildhauer »durch das Bearbeiten eines Steinblocks zu einer konkreten Gestaltung«; der mystische Theologe hingegen kann »nur ex negativo auf die verborgene Schönheit des Göttlichen hinweisen«.42 Barlach entwickelt diese Auffassung insofern weiter, als er dem Bildhauer nicht nur die Fähigkeit zuschreibt, etwas Konkretes zu schaffen, sondern auch die in der Natur verborgene Schönheit zu zeigen und somit durch das Gewöhnliche zum Unendlichen zu gelangen.43 Mehr noch: Im Werk sind »Schöpfer und _____________ 39

40 41 42

43

Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 324. – Die Auffassung, dass der Künstler ›im großen schöpferischen Geschehen‹ eine Funktion ausübt, begleitet Barlach bis in seine späten Jahre; vgl. z. B. Dichterglaube (1930/31) in: Barlach, Ernst: Das dichterische Werk in drei Bänden. Band III: Die Prosa II. Herausgegeben von Friedrich Droß. Mit einem Nachwort von Walter Muschg. München 1959, S. 407-409. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 325. Barlach: Aus einem Taschenbuch (Anm. 32), S. 326. Herrmann, Jörg: »Wir sind Bildhauern gleich«. Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung; in: Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. Herausgegeben von Jörg Herrmann, Andreas Mertin, Eveline Valtink. München 1998, S. 87-105, hier S. 91. »Wenn der Künstler aber das Mystische so sinnlich gestaltet, daß es vertraute Welt wird, so hat er erhoben: durch das Gewöhnliche zum Unendlichen, das Endliche dem Menschen ins Unendliche gesetzt« (Barlach: Ehrlichgemeinte eigene Überzeugung (Anm. 32), S. 185).

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Geschöpfe eins«.44 Das künstlerische Schaffen wird teilweise als »zwingende, ja, zwangsmäßige Auswirkung eines andern Wesens« verstanden, und der Künstler erweist sich dabei als dessen »Medium«.45 Im Kunstwerk enthüllt sich das absolute »Ich« des Bildhauers: »ein dunkles Wunder«, aus dessen »innerem Erleben« Wahres keimt.46 Das Innere tritt nach außen bzw. Innen und Außen werden aufgrund der schöpferischen Kraft des Künstlers gleichzeitig wahrgenommen, reflektiert und gestaltet. Dieser Auffassung bleibt Barlach auch in den folgenden Jahren treu. Die Gestaltung seelischer Erlebnisse und die Vorstellung einer ›nach innen schauenden‹ Kunst bilden weiterhin das Fundament seiner Darstellung der menschlichen Figur und der Natur als »Erlebnisraum mystischer Gottverbundenheit«47. Insbesondere in den zahlreichen Verbildlichungen des Menschen spiegeln sich das »Ur-Wesenhafte«,48 »stilisiertes Menschentum«49 sowie die übermenschliche »Göttlichkeit«50 wider. So stehen im Zentrum von Barlachs plastischer Produktion vorwiegend menschliche Figuren wie Bettler, Mönche und Asketen, die emphatisch und besessen nach einem höheren geistigen Zustand streben, in welchem Körper und Geist eine Synthese erlangen. Die Art und Weise der Gestaltung des Menschen bestätigt Barlachs mystische Grundhaltung: Seine antiklassischen Gewandfiguren bieten dem Betrachter nicht nur Beispiele elementarer Formen, die durch die Verwendung konkaver und konvexer Massen und Linien dynamisch wirken, sondern sie tragen auch eine tiefere Bedeutung in sich. Der Künstler ›entkörperlicht‹ sie, so dass das ›andere Auge‹ hinter dem sichtbaren Gewand den unsichtbaren Körper aufspüren kann. 1911 fasst Barlach sein ›Kunstprogramm‹ in Glücksmomente im höheren Reich prägnant zusammen: Ich sehe sein [des Lebens] anderes, seine wahre Seite dazu, sehe es, wie ich das sichtbare Gewand eines unsichtbaren Körpers betrachten würde. Das Gewand wäre mir die sinnliche Vermittlung. Nur ist es vor meinen Augen; aber seine Falten, seine Züge, seine Köstlichkeit wären nur Andeutungen des Wahren […].

_____________ 44 45 46 47 48 49 50

Ernst Barlach an Karl Barlach, 20. 5. 1916; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 484-486, hier S. 485. – In diesem Brief werden außerdem Dichter, Künstler und Mystiker auf der gleichen Ebene wie Propheten betrachtet. Ernst Barlach an Karl Weimann, 4. 11. 1919; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 556f., hier S. 557. Barlach an Karl Barlach (Anm. 44), S. 485. Tarnowski, Wolfgang: Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich. Ernst Barlachs Bild vom verborgenen Gott und vom ›Werden‹ des Menschen; in: Ernst Barlach – Mystiker der Moderne (Anm. 9), S. 74-112, hier S. 101. Ernst Barlach an Wilhelm Radenberg, 8. 8. 1911; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 375378, hier S. 376. Barlach an Radenberg, 8. 8. 1911(Anm. 48), S. 377. Ernst Barlach an Karl Barlach, 27. 9. 1924; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 729-732, hier S. 730.

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Und ich gehe weiter: der Leib, der in dem Kleid steckt, ist meinem Sinn unsichtbar, sei es ein Gott, der mir erschienen ist, so ist sein Gewand das, woraus ich mit den Augen den Gott spüre. – 51

In dieser Perspektive sieht der Künstler mit dem ›seelischen Auge‹,52 d. h. mit dem Geist, der »den Wert aller Dinge« erkennt.53 Somit erweist er sich als ein »ahnungsvolles Subjekt«,54 dessen Ziel es ist, eine geeignete Formensprache zu finden, die ihm erlaubt, die »Situation des Menschen als Prozeß zwischen Himmel und Erde«55 künstlerisch auszudrücken. Barlach äußert sich dazu – betont programmatisch – im eingangs zitierten Brief an Reinhard Piper: Wenn ich also ein seelisches Erlebnis nachfühlen soll, so muß es eine Sprache sprechen, in der ich das Tiefste und Verborgenste nacherleben kann, meine Muttersprache ist die geeignetste, und meine künstlerische Muttersprache ist nun mal die menschliche Figur oder das Milieu, der Gegenstand, durch das oder in dem der Mensch lebt, leidet, sich freut, fühlt, denkt.56

Barlachs Verständnis des Mystischen setzt sich letztlich aus einer Fülle unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Äußerungen zusammen. Aber gerade in dieser Differenziertheit, die u. a. auf seine Rezeption zahlreicher Quellen der Mystik divergierender Traditionen zurückzuführen ist, lässt sich der Geist der Moderne erkennen. Von der mystischen Gedankenwelt übernimmt Barlach das, was er in seiner Kunst ästhetisch verarbeiten kann: Die visionäre Schau wird zu einer reinen Eigenschaft des Künstlers und der von ihm geschaffenen Figuren. Der Künstler bedarf eines transzendenten Bezugs, insofern er diese Transzendenz konkret mit den eigenen Erfahrungen verbinden kann.

Kandinsky und das Geistige Sucht Barlach das Mystische in der figürlichen Darstellung der Natur und des Menschen, so sieht Kandinsky vorwiegend im Übergang zur Abstrak_____________ 51 52 53 54 55 56

Barlach, Ernst: Glücksmomente im höheren Reich; in: Barlach, Ernst: Fragmente. Jahresgabe der Ernst Barlach Gesellschaft zum 2. Januar 1970. Hamburg 1970, S. 9-14, hier S. 11. Barlach: Glücksmomente im höheren Reich (Anm. 51), S. 12. Barlach: Glücksmomente im höheren Reich (Anm. 51), S. 13. »Ich bin allewege zuviel Mystiker, ahnungsvolles Subjekt […]« (Ernst Barlach an Julius Cohen, 22.‒28. 4. 1916; in: Barlach: Die Briefe I (Anm. 1), S. 480-484, hier S. 482). Ernst Barlach an Fritz Endres, 16. 2. 1924; in: Barlach: Die Briefe II (Anm. 16), S. 795f., hier S. 796. Barlach an Piper, 28. 12. 1911(Anm. 1), S. 395.

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tion die beste Möglichkeit für den Künstler, das Geistige zu entfalten, zu konkretisieren und zum Ausdruck zu bringen.57 Was aber versteht Kandinsky unter dem Begriff des Geistigen? Die Klärung dieses Begriffs ist eine oft diskutierte Frage der Kandinsky-Forschung,58 die sich bisher wegen der schwer zu bewältigenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der sich im Laufe der Zeit auch wandelnden Aussagen des Künstlers einer genauen Antwort und Abgrenzung entzogen hat. Fest steht, dass Kandinsky im Geistigen ein kosmisch-mystisches Prinzip erkennt, welches er mit der Seele – dem Inneren – gleichsetzt und als Gegensatz zum Äußeren, zur Materie begreift.59 Das Geistige soll Inhalt der neuen Kunst sein und in subjektiver Setzung der Form durch den Künstler erschaffen werden, der von der inneren Notwendigkeit, von einem inneren Drang, von dem Gefühl angetrieben wird; dabei sei dieses ›Gefühl‹ sein einziger »Richter, Lenker und Abwäger«.60 Deshalb brauche der Künstler nicht nach den richtigen formalen Mitteln zu suchen; das wahre Kunstwerk entstehe vielmehr auf »eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise […] ›aus dem Künstler‹«61 selbst, so dass alle Mittel berechtigt sind: Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind. Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren Notwendigkeit stammen.62

Die Darstellungsform, bei der die innere Notwendigkeit am Reinsten zur Geltung kommt, ist das Abstrakte. Die Abstraktion identifiziert der _____________ 57

58

59 60 61 62

Es darf dabei nicht übersehen werden, dass Kandinsky »von Anfang an in der ›großen Realistik‹ eine legitime Alternative zur Abstraktion« gesehen hat (Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 8). Vgl. u. a. Ringbom, Sixten: The Sounding Cosmos. A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting. Åbo 1970 (Acta Academiae Aboensis, Ser. A, Vol. 38 nr 2); Washton Long, Rose-Carol: Kandinsky. The Development of an Abstract Style. Oxford 1980 (speziell Kap. 2: Visions of a New Spiritual Realm, S. 13-41); Hentschel, Barbara: Kandinsky und Goethe. Über das Geistige in der Kunst in der Tradition Goethescher Naturwissenschaft. Berlin 2000; Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky. Band I: Darstellung / Band II: Dokumentation. Berlin 2002. Vgl. Kandinsky, Wassily: Über die Formfrage; in: Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler. Herausgegeben und kommentiert von Max Bill. 3. Auflage. Stuttgart 1973, S. 17-47, hier S. 22. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. 10. Auflage, mit einer Einführung von Max Bill. Bern 1973, S. 75; vgl. auch S. 39: »Der in das Reich von morgen führende Geist kann nur durch Gefühl […] erkannt werden«. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 132. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 84.

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Künstler dank einer besonderen »in ihn gepflanzte[n] Kraft des ›Sehens‹«63 als das neue bildnerische Sprachmittel, das ihm erlaubt, die innere Bedeutung des Gegenstandes ästhetisch darzustellen.64 Kandinsky verbreitet diese Gedanken sowohl in seinem 1910 verfassten Werk Über das Geistige in der Kunst als auch in seinem 1912 im Almanach Der blaue Reiter veröffentlichten Aufsatz Über die Formfrage, wo er seine Thesen der Öffentlichkeit erneut mit großem Nachdruck präsentiert. Es sind die Jahre, in denen sich Kandinsky – nach einer Periode des Experimentierens und der intensiven Anregungen auf Reisen (19031907)65 – in München bzw. Murnau aufhält und mit Franz Marc den Blauen Reiter gründet (1911). In dieser Zeit vollzieht sich schrittweise Kandinskys ästhetische Revolution:66 Die figurative Malerei wird durch die abstrakte verdrängt und ersetzt. Kandinsky hält diese Wendung in seinen kunsttheoretischen Schriften fest, wobei er diese keineswegs als theoretisierende »Gehirnarbeit«,67 sondern als »Resultate von Beobachtungen und Gefühlserfahrungen«68 versteht. Seine Gedanken bringt der Künstler auf unterschiedlichen Ebenen vor: Er beobachtet zum einen die historischen und kulturellen Phänomene seiner Epoche und wertet sie sowohl mittels feiner Intuition als auch mittels rationaler Einschätzung aus; zum anderen erläutert er, ausgehend von dieser direkten Beobachtungserfahrung, die Aussichten (s)einer neuen Kunst, die er zugleich visionär und messianisch verkündet, und verdeutlicht weiterhin die bildnerischen Möglichkeiten, Form und Farbe im Zeichen des Prinzips der inneren Notwendigkeit einzusetzen. So spricht Riedl treffend von den verschiedenen Argumentationsebenen in Kandinskys Werk Über das Geistige in der Kunst: von der Meta-Ebene »der ins Mystisch-Prophetische gesteigerten Auseinandersetzung mit den Mächten des Verfalls und Erneuerung«, der Ebene der intuitiven Erkundung von Form und Farbe und der Ebene der »rationalen Einschätzung bildnerischer Wirkungsmöglichkeiten und Auswertung historischer und zeitgeschichtlicher Anregungen«.69 Den Hauptzweck seiner Lehre fasst Kandinsky folgendermaßen zusammen: _____________ 63 64 65 66 67 68 69

Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 27. Vgl. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 115. Vgl. Riedl: Wassily Kandinsky (Anm. 57), S. 22. Vgl. Ruhrberg, Karl / Schneckenburger, Manfred / Fricke, Christiane / Honnef, Klaus: Kunst des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Ingo F. Walther. Köln 2000, S. 103. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 6. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 17. Riedl: Wassily Kandinsky (Anm. 57), S. 49.

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Mein Buch ›Über das Geistige in der Kunst‹ und ebenso ›Der blaue Reiter‹ hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken.70

Die Fähigkeit, das Geistige zu erleben, wird dem Künstler bzw. dem Maler zugeschrieben, der dank seiner Intuition den ›inneren Klang‹ der Dinge zum Ausdruck bringen kann.71 Dabei bildet der Künstler nicht mehr die Natur ab, sondern befindet sich mit dem Ganzen der Natur, mit der Weltseele, in direkter Verbindung. Er interpretiert ihre kosmischen Gesetze und deckt sie auf, schafft dabei jedoch eine neue ›reale‹ Kunstwelt, die neben der Naturwelt existiert und in der das Göttliche manifest wird. Bei der Ausführung dieses für die Zukunft notwendigen Auftrags bedient sich der Maler ›mystischer‹ Methoden, die das ›Unbewußte‹, das Gefühl, aufrufen.72 Über das Geistige in der Kunst stellt Kandinskys wohl umfassendste, wenn auch terminologisch nicht überall klare Abhandlung über seine Kunstanschauung dar. Das Buch gliedert sich in zwei Teile (Allgemeines und Malerei), die durch das eigentliche Thema zusammengehalten werden: die Begründung einer neuen Kunst der Zukunft, die »eine weckende prophetische Kraft, die weit und tief wirken kann«73 in sich birgt. Kennzeichnend für diese neue Kunst, die Kandinsky als ›geistige Wendung‹ bezeichnet,74 sind die Idee der inneren Notwendigkeit sowie die Auffassung des Künstlers als eines Priesters des Schönen, das »nur durch den Maßstab der inneren Größe und Notwendigkeit zu messen«75 ist. Der Gedanke der inneren Notwendigkeit, der genauso wie der Begriff des Geistigen schwer zu deuten ist, erscheint in Kandinskys Verständnis als das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Traditionen. Sicherlich sind darin Echos der Romantik zu vernehmen wie beispielsweise Schellings Auffassung vom Künstler, der dem in seinem Herzen getragenen Gesetz Gottes und der Natur zu folgen habe;76 ferner ist auf die platonische Vorstellung des von göttlicher Inspiration geleiteten Künstlers zu verweisen,77 die Kandinsky mit dem christlichen Gedanken der Kunst als Offenbarung des Geistes verbindet und ästhetisch umwan_____________ 70 71 72 73 74 75 76 77

Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 6. Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 60. Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 66-112. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 26. So der Titel des III. Kapitels im ersten Teil des Werks Über das Geistige in der Kunst. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 136. Vgl. das Nachwort von Elena Pontiggia zu Kandinskij, Vasilij: Lo spirituale nell’arte. Milano 2005, S. 122f. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 92.

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delt.78 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Kandinsky der Theosophie: Das Interesse des russischen Malers gilt in dieser Hinsicht vor allem den Ansichten von Rudolf Steiner und Helena Petrowna Blavatsky, deren Werke Theosophie (1904)79 und The Key to Theosophy (1889)80 zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Anklang finden. Kandinsky setzt sich insbesondere mit Steiners anthroposophischen Theorien auseinander,81 die er minuziös durcharbeitet. Seine Aufmerksamkeit richtet der Künstler vor allem auf Steiners Deutung des Geistes und auf dessen teilweise durch Goethe beeinflusste Aussagen zur inneren Notwendigkeit. Unter dieser ›inneren Notwendigkeit‹ versteht Steiner die Gedankenkraft, die in den Dingen und Ereignissen liegt, sie vorwärtstreibt und dadurch die Erkenntnis des Inneren, des Geistes erlaubt. Der Geist stellt die Welt hinter den Dingen dar, in der sich Farben und Klänge vom Gegenständlichen befreien und im Raum frei schweben. Das Element des inneren Klangs, das Steiner in seinen Artikeln in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis herausarbeitet, findet sich bei Kandinsky wieder: Der Künstler verspürt den ›inneren Klang‹, wenn er sich gegen das Äußere, die ›praktischzweckmäßige Dimension‹ des Lebens, wendet und sich bereit macht, den inneren Wert der Dinge zu erfassen. Die beste Art und Weise, den inneren Klang zum äußeren Ausdruck zu bringen, bildet die abstrakte Kunst, denn die abstrakten Formen sind »noch nicht mit dem Sinn des PraktischZweckmäßigen belegt«.82 Selbstverständlich wird der Künstler dabei von der inneren Notwendigkeit geleitet. Kandinsky misst ihr infolgedessen einen »Unbedingtheitscharakter«83 zu, der bei Steiner in dieser Weite nicht vorhanden ist. Die innere Notwendigkeit wird zu einem universal gültigen Prinzip, durch das der Künstler das »Ewig-Objektive […] im ZeitlichSubjektiven« darstellt.84 Dabei folgt er drei »mystische[n] Notwendigkeiten«85 (dem Element der Persönlichkeit, dem des Stiles (Sprache der Epoche und Sprache der Nation) und dem des Rein- und Ewig-Künstlerischen), wobei die Verbindung der drei Elemente dem Maler erlaubt, Farben und Formen miteinander zu kombinieren.86 Farbe und Form _____________ 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Vgl. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 221-225. Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 42. Vgl. Ringbom: The Sounding Cosmos (Anm. 58), S. 48 (die deutsche Ausgabe ist 1907 unter dem Titel Der Schlüssel der Theosophie erschienen). Vgl. Ringbom: The Sounding Cosmos (Anm. 58), S. 57-141. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 440. Riedl: Wassily Kandinsky (Anm. 57), S. 50. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 82. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 80, vgl. Ringbom: The Sounding Cosmos (Anm. 58), S. 110. Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 80-85; vgl. auch Kandinsky: Über die Formfrage (Anm. 59), S. 20f.

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werden somit zu geistig-seelischen Äußerungen bzw. inneren Ausdrucksqualitäten. In diesem Zusammenhang bedient sich Kandinsky auch zahlreicher Beispiele aus dem Bereich der Musik: So vergleicht er die Form mit der Taste eines Klaviers und das Klavier mit seinen vielen Saiten mit der Seele des Künstlers, der durch Farbharmonien und gemäß dem Prinzip der inneren Notwendigkeit die menschliche Seele vibrieren lasse.87 Bei dieser Verbindung von Farbe und Ton nimmt Kandinsky u. a. Anregungen aus der Literatur auf, in der sich ebenfalls eine – ohne Nietzsche undenkbare – geistige Wendung bemerkbar macht.88 Zu den literarischen Modellen, auf die sich Kandinsky bezieht, gehört vor allem der belgische Dichter Maurice Maeterlinck, der ihm als einer »der ersten Propheten« gilt und dessen Werk durch seine symbolische Kraft »zur Seele spricht«.89 Kandinskys direktestes Vorbild ist jedoch der Komponist Arnold Schönberg, dessen Musik er als ›Zukunftsmusik‹ bezeichnet, weil sie in ein neues Reich führe, in dem die musikalischen Erlebnisse keine akustischen, sondern rein seelische seien.90 Diese quasi-sakrale Einstellung zum Metier des Künstlers hebt Kandinsky mehrfach hervor: Der Künstler sei derjenige, welcher der Menge das ›geistige Brot reiche‹,91 »das Mystischnotwendige zum Ausdruck zu bringen« habe,92 den »schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches« fortsetze und die Epoche des großen Geistigen ankündige bzw. offenbare.93 Dabei sei der Künstler »kein Sonntagskind des Lebens«;94 als »Diener höherer Zwecke« habe er vielmehr präzise, große und heilige Pflichten zu erfüllen,95 wozu insbesondere die Pflicht gehöre, die neue Kunst zu verkünden. Dadurch erweise sich der Künstler immer wieder auch als »Ausführungsorgan eines Vorhabens, dessen eigentlicher Sinn ihm überhaupt nicht klar ist»;96 er folge dem Diktat einer inneren Stimme, einem verborgenen Gesetz, und könne somit das Innere offenbaren. Kandinsky nimmt auf die dem christlichen Gedankengut entlehnte Idee der Offenbarung bzw. auf den Prozess der Offenbarung des Geistes in seinen Rückblicken (1913) vermehrt Bezug. Er spricht hier insbesondere _____________ 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 69. Vgl. hierzu Hentschel: Kandinsky und Goethe (Anm. 58), S. 74. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 43. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 44 und 47. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 49. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 30. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 84. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 143; zu den Merkmalen der großen geistigen Epoche vgl. Kandinsky: Über die Formfrage (Anm. 59), S. 23-31. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 135. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 135. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 145.

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von der »›dritten‹ Offenbarung«, worunter er die kommende Epoche des Geistigen versteht.97 Ausgehend vom dreistufigen Evolutionsmodell des Joachim von Fiore – Vater-Sohn-Geist98 – scheint Kandinsky den Anspruch zu haben, seiner Kunst eine »religiös verankerte Legitimation«99 zu verleihen: Die Kunst ist in vielem der Religion ähnlich. […] Wäre das Neue Testament ohne das Alte möglich? Wäre unsere Zeit der Schwelle der ›dritten‹ Offenbarung ohne die zweite denkbar? […] Der einfache, präzise und harte Gedanke wird also nicht umgestürzt, sondern als Vorstufe für weitere daraus erwachsende Gedanken gebraucht. […] Hier liegt die Wurzel der weiteren Umwertung der Werte, die ununterbrochen, also auch heute, langsam weiter schafft und zur selben Stunde die Wurzel der Verinnerlichung ist, die wir auch im Reiche der Kunst allmählich erreichen. Zu unserer Zeit in einer stark revolutionären Form.100

Diese Vorstellung vom Künstler als dem messianischen Verkünder einer neuen Epoche unterstreicht Kandinsky im Schlußwort101 seines Werkes Über das Geistige in der Kunst noch einmal ausdrücklich. Zunächst ordnet er – in Anlehnung an die Musik – bekannte Beispiele aus der Kunstgeschichte wie das Mosaik Die Kaiserin Theodora und ihre Dienerinnen (San Vitale, 4. Jahrhundert) und Paul Cézannes Die Badenden (1895-1905) jeweils den Kategorien der einfachen, melodischen Komposition und der komplizierten symphonischen Komposition zu. Mit einem deutlichen Selbstbezug bewertet er sodann seine Impressionen, Improvisationen und Kompositionen als Muster für die neuen symphonischen Kompositionen und somit als das geeignete Instrument für den »Neubau des neuen geistigen Reiches«,102 d. h. für die Verwirklichung der neuen Kunst, in der Künstlerisches und Geistiges deckungsgleich sind.

_____________ 97

Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 173-184, hier S. 173. 98 Zu den Inkonsistenzen des Modells vgl. Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 174f. 99 Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 176. 100 Kandinsky, Wassily: Rückblicke; zitiert nach Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky I (Anm. 58), S. 173. 101 Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 139-143. 102 Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (Anm. 60), S. 143.

Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Barlach und Kandinsky

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Künstlerprophetentum und künstlerische Individualität Die dargelegten Positionen Barlachs und Kandinskys zur Funktion von Kunst und Künstler ergeben sicherlich kein geschlossenes Bild. So vielförmig sie auch sein mögen, gelingt es doch – jenseits der Grenze der für die Realisierung der Kunstwerke individuell eingesetzten Gestaltungsmittel – zwischen ihnen eine Verbindung hinsichtlich ihres künstlerischen Schaffens und Argumentierens nachzuweisen. Bei aller Formenvielfalt wird die Übereinkunft von Barlach und Kandinsky im Hinblick auf deren Kunstauffassung sichtbar: 1. Die Kunst sowohl Barlachs als auch Kandinskys nimmt auf religiöse Motive und Ideen Bezug und wurzelt vorwiegend in einer religiösen Erfahrung christlicher Prägung. 2. Die religiösen Quellen sind nicht immer genau identifizierbar. Christliche, platonische, theosophische Gehalte werden miteinander verschmolzen, was auf eine für die Moderne typische Überwindung traditioneller Religionen hindeutet. Der Künstler bildet sich eine individuelle religiöse Welt, welche die durch die Traditionen vermittelten Inhalte zwar aufnimmt, über diese aber hinausgeht. Gleichzeitig weist das gezielte Auswählen religiöser Begriffe jedoch auf das Streben nach einer ›Transzendenzerfahrung im Innern‹ hin (wenn auch jenseits der etablierten Religion). 3. Die Aufnahme religiöser Gedanken dient Barlach wie Kandinsky u. a. zur Bestimmung der Funktion der eigenen Kunst. Kunstwerke werden dabei keineswegs um ihrer selbst willen erschaffen; statt einer auf sich selbst fixierten Kunst tritt vielmehr deren vermittelnder Charakter in den Vordergrund. Der Künstler erweist sich in diesem Prozess als das schöpferisch tätige Subjekt einer neuen Kunstmetaphysik. Seiner Kunst kommt die ›erhebende‹ Funktion zu, dem Adressaten Höheres zu ›offenbaren‹. 4. Kandinsky fühlt sich als ›Prophet, Richter und Lenker‹, ist sich der Aufgabe als Erzieher eines kommenden geistigen Reichs bewusst und verkündet seine kunsttheoretischen Gedanken mit Nachdruck in der Öffentlichkeit. Obwohl Barlach die Radikalität seines Künstlerkollegen bei der Verkündung seines Kunstprogramms fehlt und er seine kunsttheoretischen Gedanken lediglich unsystematisch und verstreut in seinen Taschenbüchern und Briefen äußert, ist auch er davon überzeugt, dass die Kunst seiner Zeit eine neue geistige Epoche einleitet und dass dem Künstler die Rolle des Vermittlers höherer Wahrheiten zukommt. 5. Beide Künstler betonen nachdrücklich die Notwendigkeit, seelische Erlebnisse ästhetisch zu erfassen, indem sie u. a. auf die Darstellung her-

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kömmlicher Schönheit verzichten. Nur ihre Gestaltungsformen erweisen sich als antipodisch: Der deutsche Bildhauer bleibt dem Figürlichen treu, der russische Maler hingegen bedient sich vorwiegend der Abstraktion. Jenseits der Gestaltungsform will Kandinskys Verwendung der Abstraktion prinzipiell nicht anders bewertet sein als Barlachs Festhalten am Figurativen. Beides erweist sich als Instrument, um das Innere bzw. das Geistige auszudrücken. Dies scheint Barlach in der eingangs zitierten Passage seines Briefes an Piper übersehen zu haben. Genauer gesagt: Der deutsche Künstler verschweigt ein grundlegendes Element der Kunst Kandinskys, das nicht nur einen Angelpunkt der Kunstauffassung des russischen Malers darstellt, sondern auch den Beweis für die Gemeinsamkeit zwischen Barlach und Kandinsky liefert: Die abstrakten Gebilde von Kandinskys Malerei entstehen nicht durch logisches Denken, sondern sind Ausdruck des Inneren bzw. des Geistigen. In seinem Werk ist somit jenes Gleichsetzungsmuster zwischen Innen und Außen vorhanden, das in Barlachs Werk ebenso werkbestimmend wirkt. Der russische Bahnbrecher des Neuen und der norddeutsche Einzelgänger treffen sich insofern dort, wo sich ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung begegnen – dort nämlich, wo der Kunst eine religiöse Funktion zugesprochen wird.

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Arnold Schönbergs Moses und Aron Vertiefung oder Aufhebung der kunstreligiösen Dialektik? MOSES Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott …! DIE STIMME AUS DEM DORNBUSCH Lege die Schuhe ab: bist weit genug gegangen; Du stehst auf heiligem Boden; nun verkünde! MOSES Gott meiner Väter, Gott Abrahams,Isaaks und Jakobs, der Du ihren Gedanken in mir wiedererweckt hast, mein Gott, nötige mich nicht, ihn zu verkünden.1

Arnold Schönbergs letzte, unvollendete Oper in drei Akten, die er zwischen 1930 und 1935 komponierte,2 beginnt mit der Selbstoffenbarung Gottes im Dornbusch und inszeniert sowohl einen wortkargen, beinahe sprachunfähigen Moses, der Gottes Gedanken empfängt, ihn aber nicht zu vermitteln vermag, als auch einen wortgewandten und tatkräftigen Aron, der zwar mit dem auserwählten Volk Israel kommunizieren kann, dafür aber die Idee Gottes verunreinigt. Diese Dialektik zwischen unreiner Tat und reinem Gedanken erstreckt sich über drei Akte und mündet in eine Aporie: Wer die Reinheit des Gedankens an Gott bewahren will, ist von der Welt abgeschieden und wird, so wie Moses am Ende des 2. Aktes, von den Seinigen nicht verstanden; wer hingegen im Namen seiner Liebe _____________ 1

2

Schönberg, Arnold: Moses und Aron. Das definitive Texttyposkript; in: Schönberg, Arnold: Sämtliche Werke. Unter dem Patronat der Akademie der Künste Berlin, begründet von Josef Rufer, herausgegeben von Rudolf Stephan unter Mitarbeit von Reinhold Brinkmann, Richard Hoffmann, Leonard Stein und Ivan Vojtěch. Abteilung III: Bühnenwerke. Reihe B. Band 8. Teil 2: Moses und Aron. Oper in drei Akten. Entstehungsgeschichte. Texte und Textentwürfe zum Oratorium und zur Oper. Herausgegeben von Christian Martin Schmidt. Mainz – Wien 1998, S. 225-239, hier S. 225 (I. Akt, 1. Scene [I 1.]). – Textnachweise aus Schönbergs Moses und Aron werden im Folgenden unter der Sigle ›MA‹ geführt. Den ersten Akt komponierte Schönberg zwischen dem 17. Juli 1930 und dem 14. Juli 1931, den 2. Akt zwischen dem 20. Juli 1931 und dem 10. März 1932, während er den dritten Akt in Amerika zwischen dem 21. Juni 1934 und dem 5. Mai 1935 entwarf.

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zu Gott und seinen Mitmenschen handelt und sich auf Kompromisse einlässt (so wie Moses in der Episode mit dem goldenen Kalb), der kompromittiert den Gedanken Gottes. Aron stirbt im 3. Akt, während der allein in der Wüste zurückbleibende Moses den einzigen Ausweg in der Selbstversenkung erblickt. In der Wüste soll – »vereinigt mit Gott« (MA 239: III 1) – das Ziel erreicht werden und der Mensch zum ›unvorstellbaren ewigen einzigen‹ Gott finden. Dieses Ende im Zeichen der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu Gott mag überraschen in einer Periode, in der Gottes Tod durch Nietzsche schon längst verkündet worden war. Handelt es sich in Schönbergs biblischem Fragment um eine Re-Sakralisierung von Kunst etwa im Sinne des sich um die Jahrhundertwende behauptenden Hermetismus oder umgekehrt um eine eigentliche Rückkehr zur Religion? Fungiert in Moses und Aron die Musik als Propädeutik der Religion in einer Epoche der radikalen Kunstautonomie, in der sich die Kunst an die Stelle der Religion setzt und der Künstler als Priester gefeiert wird? Der mit Schönberg befreundete Theodor W. Adorno sieht in dem nie zu Ende komponierten Dreiakter, den er als ›sakrales Fragment‹ bezeichnet, den Versuch des Komponisten, eine heilige Kunst zu retten in einer Periode, die dies nicht mehr erlaubt.3 Schönbergs Bearbeitung der Geschichte von Mose und Aaron wäre also die abgewandelte und unzeitgemäße Wiederaufnahme eines biblischen Themas zum Zweck der Rettung des Gedankens an das Absolute in einer materialistischen, gottlos gewordenen Moderne. Die Inanspruchnahme biblischer und metaphysischer Stoffe für seine Libretti ist in Schönbergs vokalen Werken schon ab den späten 1910er Jahren zu verzeichnen. Ab diesem Zeitpunkt lässt das Interesse des Komponisten an fin de siècle-Themen nach, die die früheren Werke wie Pierrot Lunaire oder Die glückliche Hand noch beherrschten. In diesen Jahren distanziert er sich nicht nur vom Erbe des bewunderten Richard Wagner, (indem er u. a. die althergebrachte Tonalität aufgibt);4 er nimmt zugleich auch Abstand von den Zeit- und Künstlerproblemen zugunsten metaphysischer Fragen. Im zwischen 1917 und 1922 komponierten Oratorium Die Jakobsleiter sucht der Wiener Komponist nach einem transzendentalen Ausweg für den orientierungslosen Menschen der Moderne: Der Erzengel Gabriel lädt die Seelen ein, sich auf den langen Weg zu Gott zu begeben, _____________ 3

4

Adorno, Theodor W.: Sakrales Fragment. Über Schönbergs Moses und Aron; in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schiften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 16: Musikalische Schriften I-III. Frankfurt/M. 1998, S. 454-475. Zur ›atonalen‹ Wende Schönbergs in den 1910er Jahren vgl. Ringer, Alexander L.: Arnold Schönberg. Das Leben im Werk. Mit einem Nachwort von Thomas Emmerig. Kassel – Stuttgart – Weimar 2002, S. 184-195.

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denunziert aber zugleich das bloße Handeln, das die Totalität Gottes nicht zu erfassen vermag, und ebenso die bloße abstrakte Anschauung Gottes, die sich als Hirngespinst entpuppt. Die Dialektik von Tat und Gedanke kann nur im Gebet zu Ende geführt werden. Was vom Göttlichen übrig bleibt, ist bloß das menschliche Streben nach Höherem. Im zionistischen Drama Der biblische Weg (1926/27 verfasst, aber unvollendet geblieben) spielt die Dialektik von Tat und Gedanken ebenfalls eine strukturgebende Rolle.5 Max Aruns, Chef einer Bewegung in Wien mit dem Ziel, in Afrika ein Neues Palästina zu gründen,6 will Moses und Aron in einem sein. Dieser Versuch, gleichzeitig kompromissbereit und rein zu handeln, kann nur scheitern. Wenn sich das Ideal auf Erden auch nicht realisieren lässt, so bleibt am Ende doch ein Schimmer Hoffnung: Der Mensch soll lernen, an den einzigen, ewigen, unvorstellbaren Gott der Thora zu denken. Er soll sich weiter vergeistigen, das Materielle hinter sich lassen, sich reinigen. Der Gedanke an Gott ersetzt damit dessen Präsenz oder gar Existenz, von der nirgends die Rede ist (es gibt allein den Traum von einem Gott). Was übrig bleibt, ist also auch hier ein Gebet – ein Gedanke, selbst wenn dieses Absolute nicht unbedingt Wahrheitscharakter besitzt, sondern womöglich nur noch eine Fiktion ist: Asseino: […] Wir wollen uns geistig vervollkommnen, wollen unsern Gottestraum träumen dürfen -- wie alle alten Völker, die die Materie hinter sich haben.7

In der Rezeption von Moses und Aron haben sich zwei Argumentationsstränge behauptet. Das Werk wird entweder als Drama über die Dialektik des zwischen Tat und Theorie innerlich zerrissenen Künstlers oder als eine biblische Oper betrachtet, die die Hinwendung Schönbergs zum jüdischen Gott in der Zeit des aufkommenden Nazismus zum Ausdruck bringt. In einem 1930 veröffentlichten Artikel des Groves Dictionary identifizierte ein Kritiker Moses mit dem geistigen und Aron mit dem materiellen Prinzip, wobei die biblischen Brüder als zwei Gegenpole des künstlerischen Schaffens aufgefasst wurden. 1968 nahm der amerikanische Musikwissenschaftler David Lewin diese These wieder auf und präzisierte _____________ 5

6

7

Der Text liegt als Manuskript im Arnold Schönberg Center in Wien vor: Der Biblische Weg. 4. Fassung. Schauspiel in 3 Akten von Arnold Schönberg [Manuskript, Signatur: T 11.01]; er wurde 1994 im Journal of the Arnold Schoenberg Institute veröffentlicht: Der Biblische Weg; in: Journal ofthe Arnold Schoenberg Institute 17 (1994/1), S. 162-328. Vgl. v. a. Hermand, Jost: Der biblische Weg. Zur Radikalität von Schönbergs zionistischer Wende; in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft. Arnold Schönberg – Neuerer der Musik. Duisburg, 24. bis 27. Februar 1993. Im Auftrag der Gesellschaft herausgegeben von Rudolph Stephan und Siegrid Wiesmann unter Mitarbeit von Matthias Schmidt. Wien 1996, S. 195-206; Revaultd’Allonnes, Olivier: Aimer Schoenberg. Paris 1992, S. 118-126. Replik aus Asseinos Schlussrede in Arnold Schönbergs Der biblische Weg (III 10); in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute 17 (1994/1), S. 328.

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die Behauptung, indem er in Moses Schönberg selbst wiederzuerkennen glaubte: das Modell des geistigen Künstlers, des Erfinders der ZwölftonTechnik, der von der Menge nicht verstanden wird.8 Seit den 80er Jahren wird Moses und Aron dagegen häufiger als ein Zeichen der Hinwendung Schönbergs zum Judentum interpretiert.9 Die Behandlung des biblischen Stoffes gilt als wichtige Etappe auf diesem inneren Prozess: als eine Wende also, die mit dem Oratorium Die Jakobsleiter einsetzte, sich mit dem zionistischen Drama Der biblische Weg sowie 1930 mit Moses und Aron entfaltete und dann während der Nachkriegszeit in der Komposition des in hebräischer Sprache gesungenen Psalm 130 (1951) oder des traditionellen jüdischen Gebets Kol Nidre gipfelte.10 Zeitlebens sträubte sich Schönberg gegen die Fokussierung der Kritik auf die bloße Künstlerproblematik, die er als repräsentativ für das Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete, nicht aber für sein Schaffen: In Groves Dictionary of Music ist ein ganz guter Artikel, der auch Moses und Aron bespricht. Zum Teil unsinnig; nämlich den Künstler hineinzuziehen. Das ist Ende des 19ten Jahrhunderts, aber nicht ich.11

Diese abweisende Geste Schönbergs in Richtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist als Absage an jene Überbewertung des Künstlers zu _____________ 8 9

10

11

Lewin,David: Moses und Aron: Some General Remarks and Analytic Notes for Act I, Scene 1; in: Perspectives of New Music 6 (1967f./1), S. 1-17. Vgl. v. a. Fubini, Enrico: Herméneutique et judaïsme chez Schœnberg; in: Le siècle de Schœnberg. Textes réunis et présentés par Danielle Cohen-Levinas. Paris 2010, S. 177-194; Mäckelmann, Michael: Arnold Schönberg und das Judentum. Der Komponist und sein religiöses, nationales und politisches Selbstverständnis nach 1921. Hamburg 1984; Ringer, Alexander L.: Arnold Schoenberg. The Composer as Jew.Oxford 1990; Sichardt, Martina: Deutsche Kunst – jüdische Identität. Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron; in: Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik. In Zusammenarbeit mit der Staatsoper Unter den Linden herausgegeben von Hermann Danuser und Herfried Münkler. Schliengen 2001, S. 367-383. Die Betonung eines Zusammenhangs zwischen den musikalischen Ideen Schönbergs und seiner jüdischen Identität beeinflusste auch die Aufführungspraxis. So kam es dazu, dass die nie komponierte Musik des 3. Akts bei Aufführungen durch die Musik von A Survivor from Warsaw op. 46 (1947) ersetzt wurde. Die Idee des Stückes wurde in mehreren Inszenierungen auch in die einseitige Richtung gelesen, das Volk Israel als Ghetto-Insassen oder KZ-Häftlinge umzingelt von Stacheldraht zu repräsentieren – man denke an die Produktion von Niels Peter Rudolph in der Nürnberger Oper 1995 oder an die Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle im Rahmen der Salzburger Festspiele (1987), wo die Israeliten den gelben Judenstern tragen. Allgemeiner wurden der Serialismus und v. a. das serielle Werk Schönbergs nach 1945 als ›antifaschistisch‹ gedeutet, was zu einem ›Mythos‹ geführt hat, der das Verständnis des Werkes erschwert. −Vgl. hierzu Lanz, Doris: Dodekaphonie als ›Mythos‹. Zur Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts; in: Musik und Mythos – Mythos Musik um 1900. Zürcher Festspiel-Symposium 2008. Herausgegeben von Laurenz Lütteken. Kassel 2009, S. 205-219. Arnold Schönberg an Josef Rufer, 13. 6. 1951; in: Schönberg, Arnold: Ausgewählte Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Erwin Stein. Mainz 1958, S. 298.

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deuten, der in der Kunst der Moderne als neuer, post-christlicher Priester oder Prophet gefeiert wurde, wenn er sich nicht selbst zur neuen Gottheit stilisierte. Die Kunstreligion mündete bekanntlich um die Jahrhundertwende in einen Künstlerkult, eine religiöse Überhöhung des Schaffenden,12 die – im Bereich der Musik – im Wagner-Kult kulminierte.13 Auch wenn Schönberg selbst gesteht, lange unter dem Einfluss des ›NachWagnerianismus‹ gestanden zu haben,14 setzt er sich in den 1920er und 1930er Jahren mit diesem Erbe und der darin enthaltenen Künstlerpose kritisch auseinander. In der alttestamentlichen Oper sei es ihm dagegen in erster Linie darauf angekommen, die Gedanken des ›unvorstellbaren Gottes‹, des auserwählten Volkes und des Volksführers zu erarbeiten.15 Sein Anliegen dabei bezeichnet er in einem Brief an den Freund Walter Eidlitz als »rein religionsphilosophisch«.16 Meint ›rein religionsphilosophisch‹ hier eine Reflexion über das Wesen der Religion, in der die Kunst außer Acht gelassen wird? Von den ersten Akkorden an ist in Moses und Aron der Gedanke Gottes eng mit der Musik verbunden. Während sich am Anfang der Oper die Stimme Gottes in einem aus sechs Stimmen zusammengestellten Chor manifestiert, spielt das Orchester die Grundreihe: vier Akkorde von drei Tönen, wobei zwei Gruppen aus vier Noten bestehen, die die Töne B, A, C, H ausmachen.17 Somit wird die Offenbarung mit der Offenbarungskraft der Musik in Verbindung gebracht und dadurch implizit die Tradition der sakralen Musik einbezogen und mit reflektiert. Nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die religiöse Kunst wird hier programmatisch bemüht. Die erste durchweg in der Reihen-Technik komponierte Oper Schönbergs enthält eine vielschichtige Reflexion über die Macht der _____________ 12

13 14 15 16 17

Vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2/2009, S. 14-18, sowie Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne; in: Meckenstock, Günter (Hrsg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen 2006, S. 13-34, speziell S. 30. Vgl. v. a. Friedrich, Sven: Der Prophet seines Volkes. Der Wagner-Mythos um 1900; in: Musik und Mythos – Mythos Musik um 1900. Zürcher Festspiel-Symposium 2008. Herausgegeben von Laurenz Lütteken. Kassel 2009,S. 14-71. Vgl. Schönberg, Arnold: Kriterien für die Bewertung von Musik; in: Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Herausgegeben von Ivan Vojtěch. Nördlingen 1976, S. 123-133, hier S. 128. Vgl. Arnold Schönberg an Walter Eidlitz, 15. 3. 1933; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 188. Vgl. Schönberg an Rufer, 13. 6. 1951(Anm. 11). Vgl. Wörner, Karl H.: Gotteswort und Magie. Die Oper Moses und Aron von Arnold Schönberg. Heidelberg 1959; vgl. auch Schönbergs Kommentar zum B-A-C-H-Motiv in Schönberg, Arnold: Komposition mit zwölf Tönen; in: Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Herausgegeben von Ivan Vojtěch. Nördlingen 1976 (Anm. 14), S. 72-96, hier S. 94-96.

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Musik in einem materialistischen Zeitalter. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, wie die Offenbarungs- und Erlösungskraft der Musik in Moses und Aron im Zuge einer Fiktionalisierung des biblischen Stoffes hinterfragt wird und wie Schönberg dabei auf einige Debatten eingeht, die die Musikphilosophie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts prägen: von der ›Metaphysik der Instrumentalmusik‹, wie Tieck und Wackenroder sie um 1800 postulierten,18 bis zu den zwischen den Neudeutschen und den Formalisten geführten Debatten zur absoluten Musik. Moses und Aron, dessen Sujet die Vermittlung der Idee des einzigen unsagbaren und unvorstellbaren Gottes an das auserwählte jüdische Volk durch Moses und Aron ist, erweist sich in dieser Perspektive als eine höchst komplexe und veränderte Wiederaufnahme der kunstreligiösen Dialektik, die durch den Filter des Kultur- und Sprachpessimismus der spätenModerne sowie des politischen Pessimismus eines jüdischen Künstlers in Anbetracht des aufkommenden Nationalsozialismus bedingt und vertieft wird.

Fiktionalisierung der Bibel Die Episoden des von Schönberg selbst verfassten Librettos sind vornehmlich dem 2. Buch Mose (Exodus) und dem 4. Buch Mose (Numeri) entlehnt19 und dadurch zugleich Teil der jüdischen Thora wie des Pentateuch der christlichen Bibel: die Selbstoffenbarung Gottes an Mose,20 die Begegnung der Brüder Mose und Aaron in der Wüste, die Verkündigung des einzigen allmächtigen Gottes durch Mose und Aaron, die Episode des goldenen Kalbs, der Zorn Moses und das Zerbrechen der Gesetzestafeln sowie schließlich der Tod Aarons. Anders als bei Oratorien wird der Bibel-Text in Schönbergs Libretto kaum wörtlich übernommen, sondern als fiktives Material gehandhabt und bühnenreif gemacht. Bei der Niederschrift des Librettos ist es Schönberg weder um die Verkündung des heiligen Wortes noch um die Exegese der Heiligen Schrift gegangen. Der Komponist, der zugleich Librettist ist, _____________ 18 19

20

Zur Musikphilosophie der Frühromantiker vgl. v. a. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel – München 1994, S. 91-105. Dem Exodus entlehnt sind vor allem die Episode von Moses und dem Dornbusch (3 und 4, V. 1-17), das Treffen in der Wüste (4, V. 27-33), die Wunder, die Moses und Aron vor dem Pharao vollbringen (Buch 7) sowie die Szene mit dem goldenen Kalb; den Numeri entnommen sind der Zorn des Volkes (14, V. 1-4) und der Tod Arons (20). Im vorliegenden Beitrag bezeichnen die Namen ›Mose‹ und ›Aaron‹ die biblisch-historischen Figuren, ›Moses‹ und ›Aron‹ aber die Figuren Schönbergs.

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bedient sich der biblischen Brüder, um dem dialektischen Gedanken − der Polarität von Endlichem und Unendlichem, von Materiellem und Geistigem − eine allgemeingültige philosophische Kraft zu verleihen. Was vom biblischen Text in dem Libretto bleibt, sind kaum »Anklänge«, wie Schönberg in einem Brief vom 5. August 1930 an Alban Berg zum Ausdruck bringt.21 In gewisser Hinsicht arbeitet Arnold Schönberg in Moses und Aron an der Bibel, so wie Richard Wagner im Ring des Nibelungen am germanischen Mythos gearbeitet hat: an einer Urgeschichte, die immer neu erzählt wird. Für den Wiener Schönberg, der in einer jüdischen Familie aufgewachsen und 1898 vom mosaischen zum protestantischen Glauben konvertiert ist, war die Auseinandersetzung mit dem Alten Testament und der Thora von vorrangiger Bedeutung. Für den jüdischen Komponisten, der sich sehr früh der fatalen Auswirkungen des aufkommenden Faschismus bewusst wurde und schon 1930 ins Exil ging, von wo aus er 1933 zum Judentum zurückkehrte,22 durfte es darüber hinaus zur Zeit des aufflammenden Antisemitismus in einer Oper zu keiner Verherrlichung der germanischen Mythen mehr kommen. Es bleibt anzumerken, dass die Verabschiedung des christlichen Paradigmas zugunsten des jüdischen schon einer der Grundzüge der Wiener Moderne war. Diese drückte sich in einer doppelten Krise – der sexuellen und der jüdischen Identität – aus und stellte die Werte, die man traditionell mit dem Weiblichen und Männlichen sowie mit dem Christlichen und Jüdischen zu assoziieren pflegte, wieder in Frage.23 Die Arbeit an Moses und Aron ist in gewisser Hinsicht eine Arbeit am Mythos der jüdischen Urgeschichte, die Schönberg neu schreibt, ohne je eine Exegese des kanonischen Textes vornehmen zu wollen. Aber bei Schönberg ist nicht nur der Glaube an die göttliche Kraft des biblischen Wortes beeinträchtigt, sondern auch der an die heilige Kraft des Mythos. Im Libretto selber wird der alttestamentlich inspirierte Text dem Zuschauer als Fiktion präsentiert, und im von der Kritik bisher wenig beachteten Zwischenspiel, das Schönberg zwischen die ersten beiden Akte einfügt, fallen die Masken:

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Arnold Schönberg an Alban Berg, 5. 8. 1930; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 154. Zu Schönbergs Bekehrung vgl. Halbreich, Harry: Arnold Schoenberg et le judaïsme; in: L’Avant-Scène Opéra n° 167: Moïse et Aaron. Schoenberg. Paris 1995, S. 68-79, hier S. 69. Vgl. Le Rider, Jacques: Modernité viennoise et crises de l’identité. Paris 1990, S. 195-219.

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Zwischenspiel Vor dem Vorhang ist ein kleinerer Chor, im Finstern unsichtbar, so aufgestellt, daß er den Dirigenten gut sieht, daß aber die verschiedenen Stimmgattungen deutlich von verschiedenen Plätzen herklingen.24

Durch das Hinzufügen dieses Zwischenspiels wird jegliche Illusion abgeschafft, und Moses und Aron lassen sich vom Publikum als fiktive Klangfiguren wahrnehmen, die ihre Existenz der Kunst verdanken. Die Szene spielt sich bei gefallenem Vorhang ab, was den fiktiven Charakter des biblischen Bruderpaars hervorhebt. Diese fiktionalisierende Distanz von der biblischen Vorlage wird auch an der Charakterisierung der beiden Brüder ersichtlich, die sehr stark vom heiligen Text abweicht. Schönbergs Moses unterscheidet sich radikal vom biblischen Mose, der wiederum dem opernhaften Aron im Großen und Ganzen gleicht.25 Die Texte klaffen auch in Bezug auf die Wunder weit auseinander, die vollbracht werden, um das Volk Israel von der Existenz des unsagbaren und einzigen Gottes zu überzeugen. In der Bibel will Gott »viele Zeichen und Wunder im Land Ägypten tun« (Ex 7, 3), damit der Pharao seine Macht erkennt und das Volk Israel an ihn glaubt: Mose soll selber Wunder vollbringen26 oder Aron soll den Befehlen Moses gehorchen und Wunder vollbringen.27 In der Oper ist Moses derjenige, der die Idee Gottes empfängt und an der Reinheit dieses Gedankens festhält, ohne irgend einen Kompromiss eingehen zu wollen, um ihn zu vermitteln, während sich allein Aron bemüht, dem Volk den einzigen Gott anschaulich und zugänglich zu machen. Er redet nicht nur in Bildern, damit das Volk sich ihn konkret vorstellen kann, sondern vollbringt auch selbständig Wunder. Wenn er den Stab Moses in eine Schlange (vgl. MA 229f.: I 4) und dann das Wasser des Nils in Blut verwandelt (vgl. MA 231: I 4), so tut er das nicht wie in der Bibel auf Befehl von Mose, sondern von sich aus, während der Bruder – über die Reaktion des Volkes verzweifelnd – im Hintergrund dasteht und des Sprechens wie des Handelns unfähig ist. Während die Bibel der Begegnung der Brüder in der Wüste wenig Aufmerksamkeit schenkt, wird diese Episode im Libretto zu einem strukturgebenden, religionsphilosophischen Konflikt ausgearbeitet: Moses und Aron verkörpern unversöhnliche Haltungen dem Unendlichen gegenüber. Man könnte den einen Blick als individuell und vertikal bezeichnen, _____________ 24 25

26 27

Schoenberg, Arnold: Moïse et Aaron; in: L’Avant-Scène Opéra n° 167 (Anm. 22), S. 37. In einem Brief an Walter Eidlitz, dessen Buch Der Berg in der Wüste die Geschichte Moses behandelt, betont Schönberg die Originalität seiner eigenen Dichtung und deren Abhängigkeit von der biblischen Vorlage: »Mein Aron wird eher Ihrem Moses gleichen« (Schönberg an Eidlitz, 15. 3. 1933 (Anm. 155). Vgl. Nm 4-9. Vgl. z. B. die erste Plage: Ex 7, 19-20.

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den anderen als kollektiv und horizontal. So bedeutet Auserwählt-Sein für Moses einen individuellen Prozess: den Versuch also, sich der Reinheit der Idee Gottes zu nähern. Dieser Prozess setzt eine zwingende geistige Anstrengung voraus, die Gott vom Menschen fordert, um das Materielle und Endliche in sich zu überwinden. Aron hingegen vertritt eine affektive Auffassung vom Göttlichen: Er will Gott fühlbar und zugänglich, quasi appetitlich machen. Infolgedessen stellt er das Auserwählt-Sein als ein Geschenk dar, das Gott dem noch unmündigen Volk macht. In diesem Punkt ähnelt seine Haltung nicht nur derjenigen des biblischen Mose, sondern auch der des alttestamentarischen Gottes, der die ›Kinder Israels‹ beschenkt und straft, um ihnen den Weg zu zeigen: ARON[…] Der Allwissende weiss, dass ihr ein Volk von Kindern seid; und er erwartet von Kindern nicht, was Grossen schwierig. Er rechnet damit, dass alle Kinder reifen und alle Greise weise werden. […] Er wird es euch auch in der Wüste an Speise nicht fehlen lassen. Der Allmächtige verwandelt Sand in Frucht, Frucht in Gold, Gold in Wonne, Wonne in Geist. (MA 231: I 4)

Der dritte Akt, der den Tod Arons zeigt, weicht am meisten vom Wortlaut der Bibel ab. In diesem Zusammenhang hat die Vorlage Schönberg erheblich zu schaffen gemacht, weil sie der von ihm in den beiden ersten Akten zugespitzten Polarität zwischen dem sowohl handelnden als auch sprechenden Aron einerseits und dem wortkargen, weil denkenden Moses andererseits zuwiderläuft. In der Bibel befiehlt Gott nämlich Mose einmal auf den Felsen zu schlagen, damit das Wasser hervorquillt (Ex 7, 5-6), und einmal gemeinsam mit seinem Bruder den Stein anzusprechen (Nm 20,812). Durch die Anrede des Felsens soll dem Volk die Wunderkraft des immateriellen Worts im Unterschied zur materiellen Handlung beispielhaft vor Augen geführt werden. In der Oper steht allerdings einzig und allein Aron auf Seiten der Tat. Moses wirft Aron in der Szene III 1 vor, gegen den Stein geschlagen zu haben, also gehandelt statt gesprochen zu haben:

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MOSES […] Da schlugst du auf den Felsen, statt zu ihm zu sprechen, wie dir befohlen, dass Wasser aus ihm fliesse … Aus dem nackten Felsen sollte das Wort Erquickung schlagen… (MA 238: III 1)

»O Wort, du Wort, das mir fehlt« Unsagbarkeitstopos und Sprachskepsis Diese erste von der Bibel inspirierte Polarität zwischen materiellem Akt und immateriellem Wort tritt in der Oper zugunsten einer zweiten zwischen dem Denken und dem Handeln in den Hintergrund. Der Bogen zwischen Handeln und Denken wird im ersten Akt gespannt und mündet im zweiten in eine komplexe Konfiguration, in der sich die Bedeutungsebenen überlagern. Das Volk tanzt um das goldene Kalb und bringt dem neuen Gott Opfer dar (vgl. MA 235: II 4), während Moses, nachdem er sich seit dem Ende des ersten Aktes zurückgezogen hat, wieder auftaucht, wütend die Gesetzestafeln zerbricht und verzweifelt vor der Blindheit des Volkes und der eigenen Ohnmacht ausruft (MA 237: II 5): »O Wort, du Wort, das mir fehlt«. Dass die Sprache defizitär bleiben muss und man das Unendliche im endlichen Sprachmaterial nur ahnen kann, war im Kern schon im Unsagbarkeitstopos der Frühromantik enthalten. Novalis sowie Tieck und Wackenroder waren sich bewusst, dass Texte oder Worte in empirische Bedingtheiten verstrickt sind, und doch bestand die Möglichkeit, durch Poesie – ihrer endlichen Form zum Trotz – das Absolute erblicken zu lassen. Das poetische Wort konnte ins Immaterielle gesteigert werden. In Moses und Aron ist die Skepsis gegenüber der magischen Kraft des Wortes radikaler. Die metaphysische Grundlage der Sprache wird angezweifelt und unterscheidet sich dadurch von den symbolistischen Werken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zwischen der Dichtung Mallarmés, die den Autor zum »Vermittler eines Numinosen avancieren lässt, das nun kein höheres Wesen mehr ist, sondern nur die Sprache«,28 und Moses und Aron liegen Jahrzehnte, ein verheerender Weltkrieg, der Schatten des Faschismus, der sich über ganz Europa ausbreitet sowie der Einfluss der Sprach_____________ 28

Detering: Kunstreligion und Künstlerkult (Anm. 12), S. 28.

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skepsis vor allem des 1921 von Wittgenstein veröffentlichten Tractatus logico-philosophicus, der unter der berühmt gewordenen Leitlinie »die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« unter anderem die materielle Seite des Wortes, d. h. dessen Unfähigkeit, das Absolute zu fassen, thematisiert. Es soll hier auf die Nähe zwischen der These des Sprachphilosophen und der Argumentationslinie, die sich im 2. und 3. Akt der Oper abzeichnet, hingewiesen werden. In Moses und Aron wird die Sprache nämlich wie im Tractatus stets mit den Bildern und mit den Fakten in Verbindung gebracht, denn die sprachlichen Bilder sind nicht minder als die Fakten endliche Erscheinungen. Für Wittgenstein gibt die Sprache ein Abbild von der Welt, wobei die Abbilder Teil der Welt und damit ebenso Fakten sind. Das Abbild ist eine Tatsache; es ist »mit der Wirklichkeit verknüpft« und reicht ›nur‹ bis zu ihr. Weil das Abbild etwas mit dem Abgebildeten gemein haben soll, könne man kein Abbild von Gott oder dem Absoluten geben.29 Die Sätze der Ethik oder der Metaphysik geben ein Abbild von etwas ab, was sie nicht fassen können, von einem Höherem, das »außerhalb der Welt« liegt,30 die sie aber durch Worte, die alle auf materielle Erscheinungen verweisen, auszudrücken gedenken. Von daher sei alle Metaphysik absurd, denn die Sprache vermöge nicht in Worte zu fassen, was der menschliche Geist nicht denken könne. In Schönbergs Oper erscheint das durch Gott inspirierte Wort nicht als immateriell, sondern als materiell und kompromittiert, weil mit konkreten Bildern behaftet, die unmöglich das Absolute zum Ausdruck können. Die Bilder werden in der Oper schon im ersten Akt als konkrete sprachliche Erscheinungen präsentiert, so wie die Schlange oder das goldene Kalb konkrete Vorstellungen eines begrenzten menschlichen Geistes sind, die dem Gedanken Gottes nicht entsprechen. Die höchst metaphorische Bibelsprache, in der Gleichnisse, Parabeln, Allegorien und Wundergeschichten aneinandergereiht sind, erscheint in dieser Perspektive als der Versuch, die Idee des unvorstellbaren einzigen Gottes in Bildern anschaulich zu machen; durch ihre bildliche Bedingtheit vermag diese Sprache jedoch nichts als ein unvollständiges Ab-Bild des göttlichen Gedankens wiederzugeben. Das Unendliche solle man aber nicht endlich ausdrücken, geschweige denn sich bildhaft vorstellen. Bild und Tat sind in der Person Arons vereinigt, während Moses die Reinheit des Gedankens und die Vormacht des Geistes verkörpert. Die Nähe zu der von Ernst Mach initiierten und von _____________ 29 30

Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus (2.1511 u. 2.17); in: Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1984, S. 7-85, hier S. 15. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Anm. 29), S. 82f. (6.41).

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Wittgenstein verbreiteten Sprachskepsis ist besonders am Ende des zweiten Aktes und im dritten Akt von Moses und Aron zu verzeichnen. Dort geht es um die Polarität von reinem bildlosen Gedanken und bildhafter Sprache. Moses wirft Aron vor, Gott in endlichen Bildern zu beschreiben und dabei den Gedanken Gottes zu verunreinigen. Die bildhafte Sprache Arons entspricht dem Versuch, das Unvorstellbare, Unsagbare und Unendliche in einer materiellen und daher sowohl unreinen als auch begrenzten Form zu verkörpern. Durch diese Haltung hat Aron »Gott an die | Götter [verraten], den Gedanken an die Bilder, dieses auserwählte | Volk an die andern, das Außergewöhnliche an die Gewöhn- | lichkeit« (MA 238: III 1). Schönberg kombiniert hier auf höchst komplexe Weise den romantischen Unsagbarkeitstopos mit dem jüdisch-mosaischen Bilderverbot und zugleich mit der modernen Sprachskepsis. In der Oper ist Gott nicht nur unsagbar und unsichtbar, was der biblische Gott ebenfalls ist, sondern überdies unvorstellbar:31 eine negative Eigenschaft, die zwar in der Bibel nirgends zu finden ist,32 von Schönberg aber im schon erwähnten Brief an Eidlitz (15. 3. 1933) als Hauptgedanke des eigenen Projektes bezeichnet wird.33 Die Hervorhebung des unvorstellbaren Charakters Gottes, von dem man sich also nicht nur keine materiellen Bilder oder Statuen machen darf, sondern den man auch nicht sprachlich erfassen kann, mag als Radikalisierung der Trennung zwischen dem Menschen und dem Absoluten im fortgeschrittenen bürgerlichen Zeitalter gelten. Handelt es sich in Moses und Aron um eine bloße Liquidierung des göttlichen Gedanken oder lässt sich für Schönberg das Unsagbare durch die Musik ausdrücken?

Die göttliche Kraft der Reihe Die Polarität zwischen Moses’ Denken an Gott und Arons Handeln im Namen Gottes für seine Mitmenschen, also die Diskrepanz zwischen Moses’ Theozentrismus und Arons Anthropozentrismus, wird in den ersten zwei Akten von Moses und Aron musikalisch untermauert. Sie nimmt die Gestalt einer Auseinandersetzung zwischen zwei Singarten an: _____________ 31 32 33

»Moses: Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer | und unvorstellbarer Gott…« (Moses und Aron, MA 225: I 1). Vgl. Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung in Schönbergs Moses und Aron; in: Moses und Aron. Oper in drei Akten von Arnold Schönberg. Herausgegeben von der Staatsoper Unter den Linden. Berlin 2004, S. 15-24, hier S. 16. Schönberg an Eidlitz, 15. 3. 1933(Anm. 15).

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zwischen dem Sprechgesang – dem Modus Moses’ – und dem Belcanto – dem Modus Arons. Aron verführt das Volk sowohl durch einladende sprachliche Bilder als auch durch den Wohlklang seiner Stimme. Um das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft zu erretten, übt er seine sprachliche Verführungskunst aus, die musikalisch dargelegt wird. Gleich bei seinem ersten Auftritt in der Wüste begleitet ihn eine zierliche Kammermusik: ein Grazioso-Motiv mit Flöte, Harfe und gedämpfter Violine.34Voll melodischem Schwung verkündet Aron dem Volk seine Liebe, wobei die sich sanft hinziehende, an manchen Stellen fast tonale Musik die gefühlsmäßige und diesseitsorientierte Anschauungswelt Arons wiedergibt: »Ich liebe dieses Volk,| ich lebe für es | und will es erhalten!« (MA 236: II 5). Der Sprechgesang – ein dem Sprechen angenäherter Gesang bzw. dem Gesang angenähertes Sprechen – charakterisiert dagegen Moses. Moses glaubt nicht mehr an die Fähigkeit der Sprache, den göttlichen Gedanken auszudrücken. Sein Sprechgesang spiegelt die moderne Unfähigkeit wider, die Harmonie zu besingen. Er verkörpert die Haltung des modernen Menschen, dem der sich drastisch ausdehnende Machtbereich des Prosaischen bewusst ist. Sein Singen, das Prosahaftes und Lyrisches vermengt, bringt diese sich radikalisierende Trennung zwischen dem reinen Gedanken und dem Materiellen zum Ausdruck. Beide Singarten markieren die unversöhnlichen Weltanschauungen der biblischen Brüder. Die Kontroverse zwischen Moses und Aron ist nicht nur religionsund sprachphilosophisch angelegt, sondern auch ästhetisch-musikphilosophisch. Sie mündet nämlich in eine Konfrontation von Belcanto und Sprechgesang, Tradition und Moderne, Melodie und Harmonie, Gefühlsästhetik und absoluter Musik. Die Haltung Arons, der mit seiner verführerischen und in diesem Augenblick quasi tonalen Stimme das ängstliche Volk beruhigt, indem er verspricht, ihm seine Götter wiederzugeben (vgl. MA 226: I 2), entspricht der Haltung derjenigen Komponisten, die sich an der Tradition festklammern (in diesem Fall am tonalen System) und dadurch das Publikum beschwichtigen wollen, indem sie ihm seine alten Götter, das heißt die traditionelle Kunst, wieder auftischen. Moses’ Sprechgesang entspricht dagegen einer künstlerischen Haltung, die das Publikum meidet, weil es nicht daran gewohnt ist. Diese gesanglich zum Ausdruck kommenden Gegensätze erschöpfen sich bei weitem nicht in einer Opposition zwischen traditionellem Belcanto und Sprechgesang; sie knüpfen vielmehr an musikphilosophische Debatten an, die sich seit dem ausgehenden 18. über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckten. Während _____________ 34

Vgl. Schoenberg: Moïse et Aaron (Anm. 24), S. 16.

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Aron mit seinem Schöngesang Akkorde anschlägt, die eine melodische Gefühlsästhetik verkörpern, drückt Moses seine Liebe zu Gott abstrakt aus und lässt sich somit in die frühromantische Traditionslinie vor allem Wackenroders und Friedrich Schlegels stellen, für welche die Instrumentalmusik Gefühle in abstracto zum Ausdruck bringt. Hier soll es nicht um die Behauptung historisch belegbarer Abhängigkeiten gehen, sondern um den Aufweis ideengeschichtlicher Zusammenhänge, die auf eine strukturelle Nähe zwischen gewissen Aspekten der frühromantischen Musikphilosophie und der Auffassung der Instrumentalmusik Schönbergs um 1930 aufmerksam machen. Der Begriff ›Kunstreligion‹ bezeichnet um 1800 sehr divergierende Auffassungen von Kunst. Dies lässt sich auch im Bereich der Musikphilosophie behaupten. Auf der einen Seite setzte sich Schleiermacher für eine heilige Musik im Palestrina-Stil ein, die das Religionsgefühl mitteilte;35 auf der anderen Seite definierten die Frühromantiker eine Metaphysik der Instrumentalmusik, die etwas später in den Symphonien Beethovens zugleich ihre konkrete Realisierung und ihre Krönung fand. In Schleiermachers Reden über die Kunst (1799) erscheint die Kunst als ein Mittel, um zum Wesen der Religion zu gelangen. Unter allen Künsten gilt die Musik als diejenige Kunst, die diese Vermittlungsfunktion am besten erfüllen kann: Sie führt zur Religion hin. Musik und Religion werden in den Reden als verwandt beschrieben, wobei die Religion durch die Musik-Metaphorik als Anschauung und vor allem als Gefühl erscheint.36 Die sakrale Musik – hier ist die Vokalmusik gemeint – fungiert als Propädeutik zur Religion. Im Gesang äußert sich das Religionsgefühl, das das Gefühl der Einigkeit der Gemeinde stärkt: In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte nur lose und luftig anhängen, wird ausgehaucht, was die bestimmte Rede nicht mehr fassen kann, und so unterstützen sich und wechseln die Töne des Gedankens und der Empfindung bis Alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen.37

Die Frühromantiker teilten mit Schleiermacher die Meinung, dass die Kunstreligion sich nirgends deutlicher als in der Musik zeige. Wie bei Friedrich Schlegel handelt es sich aber bei Tieck und Wackenroder nicht mehr in erster Linie um heilige Vokalmusik im Palestrina-Stil, sondern vor allem um ›moderne‹ Instrumentalmusik: _____________ 35 36 37

Scholtz, Gunter: Schleiermachers Musikphilosophie. Göttingen 1981. −Allgemeiner zum Bezug zwischen Kunst und Religion bei Schleiermacher vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 12), S. 438-482. Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 35), S. 20-25. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Herausgegeben von Hans Joachim Rothert. Hamburg 1958, S. 102.

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Denn die Tonkunst ist gewiß das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte Religion. Mir ist es oft, als wäre sie immer noch im Entstehn, und als dürften sich ihre Meister mit keinen andern messen.38

Carl Dahlhaus hat auf den Unterschied zwischen der Gefühlsästhetik des späten 18. Jahrhunderts (Musik solle in den Hörern Mitgefühl hervorrufen) und der Musikästhetik der Frühromantiker hingewiesen, die eine von Texten, Programmen und Funktionen befreite Instrumentalmusik postulieren.39 Im Aufsatz Symphonien40 geben nämlich Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck der Instrumentalmusik den absoluten Vorrang gegenüber der Vokalmusik. Sie definieren hier die Instrumentalmusik als Organon der Metaphysik, denn losgelöst von »sprachlichen und funktionalen Bedingtheiten« erhebe sie sich »über die Begrenztheit des Endlichen«, der Materie, »zur Ahnung des Unendlichen«.41 Dieser romantische Diskurs über Musik weist Gemeinsamkeiten mit demjenigen über die Poesie auf, der sich durch eine bewusste Abkehr von der bürgerlichen Gefühlsästhetik auszeichnet. Während Novalis der Ansicht war, die Affekte sollten aus der Dichtung wie Krankheiten entfernt werden,42 geraten sie bei Friedrich Schlegel unter Trivialitätsverdacht. Die Musik solle daher Gefühle in abstracto ausdrücken. Gerade indem die Instrumentalmusik auf Programme oder Funktionen verzichte, befreie sie sich von endlichen Bedingtheiten und erlange dadurch philosophische Bedeutung.43 Mit der Tonkunst, die sich zur Religion erhebt, ist primär die Gattung ›Symphonie‹ gemeint. Während Tieck und Wackenroder die Fundamente für eine Metaphysik der Instrumentalmusik legten, war es E. T. A. Hoffmann, der über die Verlängerung dieser Theorie in die Praxis mehrere Aufsätze schrieb. Er betrachtete die ›heilige Tonkunst‹ als etwas unwiederbringlich Vergangenes aus der Zeit zwischen Palestrina und _____________ 38 39 40 41 42

43

Wackenroder, Wilhelm Heinrich / Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. Herausgegeben von Ludwig Tieck. Hamburg 1799, S. 254. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18), S. 7-23 sowie S. 74. Vgl.Wackenroder / Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (Anm. 38), S. 249-269. Vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18), S. 63. »Daß die Poesie keine Affekte machen soll ist mir klar – Affekten sind schlechterdings etwas Fatales, wie Krankheiten« (Novalis: Fragmente und Studien 1799-1800; in: Novalis: Werke. Herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schulz. Zweite, neubearbeitete Auflage. München 1981, S. 519-567, hier S. 524). Vgl. insbesondere Schlegel, Friedrich: Athenäum-Fragment Nr. 444; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band: Charakteristiken und Kritiken I. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn – Wien 1967, S. 254; vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18), S. 73 und S. 79f.

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Händel.44 1814 vermerkt Hoffmann im Essay Alte und neue Kirchenmusik, die christliche Glorie sei von der Erde verschwunden und die heilige Musik nur noch ein Werk der Erinnerung; die Schrumpfung der christlichen Substanz im romantischen Zeitalter hindere jedoch nicht daran, dass die romantischen Komponisten, allen voran Beethoven, »an technischer Fertigkeit« die »alten weit übertreffen«.45 In der 1810 veröffentlichten Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung wurden Beethovens Symphonien als höchster musikalischer Ausdruck des »modernen, christlichen romantischen Zeitalters« gepriesen.46 Trotz des Verlustes an christlicher Substanz komme es zu einem Fortschritt in der Musik gerade dadurch, dass diese sich vergeistige und die Kompositionskunst mathematischer werde; die Fertigkeit des Komponisten, sein Umgang mit der Harmonielehre, kompensiere insofern den Verlust an christlichem Glaubensinhalt. Die romantische Auffassung der Instrumentalmusik, derzufolge Musik und Religion in einem Verhältnis der Funktionsäquivalenz stehen, Musik sich sogar an die Stelle der Religion setzt, ist während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Debatte um die absolute Musik gemündet, die eine veränderte Form der Metaphysik der Instrumentalmusik ist.47 Für den Formalisten Eduard Hanslick erfüllte die Musik keine hinführende Funktion mehr; sie sei an sich – als Ton – rein, objektlos und absolut, wobei ›absolut‹ keinen metaphysischen Gehalt mehr bezeichne, sondern etwas rein Formales denotiere.48 Den Formalisten gegenüber standen die Neudeutschen, allen voran Richard Wagner, der sich gegen die Idee einer absoluten, gegenstandslosen und funktionslosen Musik zur Wehr setzte. In seinen früheren Arbeiten definierte Wagner die Musik als Funktion des Dramas, knüpfte jedoch in seinen späteren Aufsätzen an die Musikphilosophie Schopenhauers und damit an die romantische kunstreligiöse _____________ 44 45 46

47 48

Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18), S. 94. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18), S. 95. Recension./Sinfonie pour 2 Violons, 2 Violes, Violoncelle et Contre-Violon, 2 Flûtes, petiteFlûte, 2 Hautbois, 2 Clarinettes, 2 Bassons, Contrebasson, 2 Cors, 2 Trompettes, Timbales et 5 Trompes, composée et dédiée etc. par Louis van Beethoven. À Leipsic, chez Breitkopf et Härtel, Oeuvre 67. No. 5. des Sinfonies. (Pr. 4 Rthlr. 12 Gr.), in: Allgemeine musikalische Zeitung 1810, Nr: 40, S. 630-642 , sowie Allgemeine Musikalische Zeitung 1810, Nr. 41, S. 652-659. Vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18). Vgl. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 1. Auflage, Leipzig 1854. Darmstadt 1965. −Zu Hanslick vgl. Candoni, Jean-François: Penser la musique au siècle du romantisme. Discours esthétiques dans l’Allemagne et l’Autriche du XIXe siècle. Paris 2012, speziell Kap. 6.

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Metaphysik der Instrumentalmusik an49 und behauptete in seiner 1870 verfassten Beethoven-Abhandlung, dass die Musik »das innerste Wesen der Gebärde« bzw. des ›Szenisch-Mimetischen‹ zum Ausdruck kommen lasse.50 Die Musik sei also das Wesen, das Innere und das Drama das sinnliche Scheinen. Zur Zeit Schönbergs, d. h. nach Nietzsches Verkündung des Todes Gottes, nach dem ersten Weltkrieg und angesichts eines aufkommenden faschistischen Antisemitismus, ist es mit der christlichen Glorie endgültig aus. Wenn die Zeit des schönen Gesangs und des tönenden Wohlklangs vorbei ist und das christliche Zeitalter endet, dann bricht mit der Zwölftonmusik und der Reihenkomposition eine neue musikalische Ära an. So wie die Kunst Beethovens um 1800 – in einem Zeitalter also, in dem die Religion gefährdet war – eine geoffenbarte Religion anbot und Wagners Leitmotiv eine Zeit lang der Moderne einen künstlerisch verheißungsvollen Weg bahnte, so soll mutatis mutandis Schönbergs ›Reihe‹ den Gedanken an das Absolute retten: in einem Zeitalter, dem die heilige Kunst, wie Adorno anmerkt, unmöglich geworden ist.51 Die Reihe sprengt die endlichen Kategorien des menschlichen Geistes und rettet so das EwigGeistige, das sonst in der Moderne ganz unterzugehen droht. Schönberg bezeichnete seine Erfindung als eine innere Notwendigkeit, die er mit der Erfindung des Leitmotivs durch Wagner verglich.52 Wagners Lösung gehöre aber der Vergangenheit an: »Eine neue Technik mußte geschaffen werden«.53 Schönberg fühlte sich berufen, diesen neuen Weg zu eröffnen. Die Reihenkomposition fasste Schönberg als Vision auf. Der Künstler, behauptete er im 1935 in den USA gehaltenen Vortrag Komposition mit 12 Tönen, sei ein Schöpfer, der eine Vision von dem habe, was noch nicht existiere, und aus einer inneren Notwendigkeit heraus eine neue Form erfinde.54 Der künstlerische Akt – als irdische Schöpfung begriffen –sei ein Analogon der himmlischen Schöpfung mit dem Unterschied freilich, dass der irdische Schöpfer, anders als Gott, »einen beschwerlichen Weg« zu gehen habe, d. h. den »langen Weg zwischen Vision und Ausführung _____________ 49

50 51 52 53 54

Zum Zusammenhang zwischen der Musiktheorie Schopenhauers und der romantischen Auffassung von der Instrumentalmusik vgl. Sans, Eduard: Richard Wagner et Schopenhauer. Toulouse 2000; ebenso Lessing, Theodor: Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Einführung in moderne deutsche Philosophie. Herausgegeben und bearbeitet von Detlef Weigt. Leipzig 2008. Siehe Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 18),S. 39. Adorno: Sakrales Fragment (Anm. 3), S. 466. Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (Anm. 17), S. 96. Schönberg: Kriterien für die Bewertung von Musik (Anm. 14), S. 127. Komposition mit zwölf Tönen wurde als Vortrag in der University of Southern California im Sommer 1935 gehalten (vgl. Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (Anm. 17), S. 72 und S. 484).

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zurücklegen« und sich mit dem Materiellen auseinandersetzen müsse.55 Die ›Reihe‹ ist der schöpferische Akt Schönbergs, die praktische Ausführung seiner Vision. Die Reihenkomposition organisiert das musikalische Material, macht es fasslich und ermöglicht dadurch eine absolute Wahrnehmung.56 Diese absolute Erfahrung der Wahrnehmung vergleicht Schönberg – in einer Anspielung auf Honoré de Balzacs Séraphita – mit dem Himmel Swedenborgs.57 Die künstlerische Vision begreift er als eine mystische Erfahrung und knüpft durch seine Auffassung von der Musik als einer Metasprache, die eine mystische Erfahrung ermögliche, nicht nur an die frühromantische Metaphysik der Instrumentalmusik an, sondern auch an das Ende von Wittgensteins Tractatus, der hinter der Sprache die Existenz eines mystischen Bereichs nicht ausschließen will.58 Die aporetischen Antinomien, die im Libretto der dreiteiligen Oper zum Vorschein kommen, werden durch die Reihenkomposition mindestens partiell – d. h. in den zwei durchkomponierten Akten – aufgehoben. Die Reihenkomposition hat Schönberg als eine Technik definiert, die ermögliche, den musikalischen Gedanken auszudrücken und somit über die Ebene der historisch geprägten Stile hinaus zu gelangen. Der Rückgriff auf diese Kompositionsart soll auch in Moses und Aron die Kluft zwischen Tradition und Moderne, Gedanken und Gefühl überwinden, denn die Reihe nimmt sowohl traditionelle Formen wie z. B. den Walzer oder das Rondo als auch den Sprechgesang in sich auf. Die gesamte Partitur der ersten zwei Akte basiert auf einer einzigen Reihe.59 Moses und Aron ist zugleich ein Experiment – der erste Versuch Schönbergs eine vollständige Oper seriell zu schreiben – und ein Plädoyer für die Reihenkomposition, die für ihren Schöpfer einem musikalischen Gedanken unendliche Ausdrucksmöglichkeiten anbieten sollte. Da die Grundreihe von zwölf Tönen in beiden Dimensionen benutzt werden konnte (als aufeinanderfolgende Klänge in der horizontalen und als gleichzeitige Klänge in der vertikalen Dimension),60 sollte sie imstande sein, den _____________ 55 56 57

58 59 60

Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (Anm. 17), S. 72. Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (Anm. 17), S. 82. Balzac hat seinen phantastischen Roman Séraphita 1834 veröffentlicht: Séraphitus-Séraphita wächst bei Eltern auf, die Verfechter der rationalistischen Mystik von Swedenborg sind; diese stellte bekanntlich einen Versuch dar, das Unsagbare in Worte zu fassen und in ein rationales System zu integrieren. – Zum Einfluss Balzacs und Swedenborgs auf Schönberg vgl. Horn, Friedemann / Wörner, Karl H.: Von Swedenborg über Balzac zu Schönberg; in: Offene Tore 38 (1994/6), S. 239-248. »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« (Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Anm. 29), S. 85 (6.522). »[I]ch konnte sogar eine ganze Oper, Moses und Aron, auf einer einzigen Reihe basieren lassen« (Schönberg: Stil und Gedanke (Anm. 17), S. 80). Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (Anm. 17), S. 77.

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Gegensatz zwischen Moses’ Theozentrismus und Arons Anthropozentrismus, d. h. zwischen der horizontalen und der vertikalen Dimension, zu überwinden. Die Antithese wird im Libretto vertieft, in der Partitur der zwei ersten Akte aber dialektisch aufgehoben. Es gibt keine Identität zwischen Gott und der Musik, aber eine Ähnlichkeit. Die Musik ist nicht das Absolute, hat jedoch etwas Absolutes an sich: Sie besitzt hinführenden Charakter, ist »auf Totalität angelegt« und ein »Gleichnis des Absoluten«.61 Auch wenn das Absolute gefährdet ist und man manchmal nicht weiß, ob es nicht nur noch als Traum existiert, hält Schönberg 1930 doch an dem um 1800 formulierten Glauben fest, die Musik erhebe sich über die Befangenheit der Wortsprache im EndlichBildhaften. Er schließt an eine philosophische Auffassung der Musik an, die mit Tiecks und Wackenroders Metaphysik der Instrumentalmusik anfängt und über Schopenhauers Theorie der Musik als An-Sich aller Erscheinungen bis hin zu Wagners Text Kunst und Religion62 führt. Für Schönberg ist das biblische Wort kompromittiert und vermag das Absolute nicht mehr zu fassen, während die serielle Instrumentalmusik, durch ihren Verzicht auf die traditionellen Repräsentationsarten und die Erfindung neuer Raum- und Zeitkoordinaten, noch als einzige eine Idee des Unendlichen geben, dem Streben nach etwas Höherem Ausdruck verleihen kann. Nicht von ungefähr ist die Grundreihe, die die Selbstoffenbarung Gottes im brennenden Dornbusch begleitet, als Hommage an den von Schönberg hoch verehrten Johann Sebastian Bach gedacht.63 Schönberg offenbart das Absolute durch die Grundserie wie einst Bach. Schon in den ersten Akkorden wird die Offenbarung Gottes in eine analogische Verbindung mit der musikalischen Schöpfung gebracht. Aufgrund der zunehmenden Modernisierung der Gesellschaft, des Fortschreitens des BloßMateriellen, ist aber die Musik um 1930 nicht mehr in die Lage, eine andauernde, gar romantisch enthusiastische Ahnung des Unendlichen zu zu eröffnen, sondern sie lässt das Absolute nur noch sporadisch auf_____________ 61 62

63

»Jede auf Totalität angelegte Musik, als Gleichnis des Absoluten, hat ihren theologischen Aspekt, auch wenn sie nichts davon ahnt; auch wenn sie, indem sie als Schöpfung sich aufwirft, widertheologisch wird« (Adorno: Sakrales Fragment (Anm. 3), S. 461). In seinem letzten Aufsatz Religion und Kunst behauptet Wagner, dass »da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten« (Wagner, Richard: Religion und Kunst (1880); in: Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Band 10. Faksimiledruck der Ausgabe von 1887. Hildesheim 1976, S. 211-253, hier S. 211). Schönberg hat Bach als einen Bahnbrecher geehrt und bezeichnet ihn aufgrund seines originellen Umgangs mit den 12 Tönen als ›ersten Zwölftonkomponisten‹ (vgl. Schönberg, Arnold: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke; in: Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Herausgegeben von Ivan Vojtěch. Nördlingen 1976, S. 2534, hier S. 28).

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blitzen. Der Text wird an gewissen Stellen transparent, die Reihe offenbart zugleich sich und den Gedanken an das Göttliche: Dies ist der Fall in der Exposition der Grundserie B-A-C-H, und auch dann, wenn Moses ein einziges Mal den singenden Modus seines Bruders übernimmt. Karl H. Wörner hat gezeigt,64 dass Moses gerade dann singt (vgl. MA 226: I 2), wenn er nicht mehr im Stande ist, rhetorisch neue Argumente vorzubringen, um den Bruder vom absoluten Vorrang des Gedankens, des Wahren, des Ewigen, zu überzeugen. In diesem Augenblick kommt es zu einer Umkehrung der Grundreihe: MOSES Reinige Dein Denken, lös es von Wertlosem, weihe es Wahrem: (MA 226: I 2)

Die Bedrohung durch die Materie oder die Radikalisierung der Gefahren Wenn die Reihe den Kern des gefährdeten religiösen Gedankens noch zu retten vermag, so inszeniert die Oper nichts desto weniger eine Radikalisierung der – zumal politischen −Gefahren. Es droht eine Katastrophe; eine Finsternis bricht herein, die auf neue ›Bartholomäusnächte‹ – so Schönberg in einem Brief von 1923 an Kandinsky – hinausläuft. Schon damals ahnte Schönberg die verheerenden Konsequenzen des sich durchsetzenden Antisemitismus, das Aufkommen eines Totalitarismus.65 Diese Bedrohung ist im gesamten zweiten Akt unterschwellig präsent.66 Der zweite Akt, der der Errichtung, der Anbetung und schließlich der Zerstörung des Goldenen Kalbs gewidmet ist, bildet den Höhepunkt der Oper und stellt die Gefährdung des Geistigen durch das Materielle dar. Anstatt sich zum einzigen Gott zu wenden, betet das Volk das BloßMaterielle – die Statue aus goldenem Metall – an. Was Schönberg leistet, ist weniger die Denunzierung zeitlicher Ereignisse als vielmehr eine Reflexion über die Mechanismen der Massen_____________ 64 65 66

Wörner: Gotteswort und Magie (Anm. 17). Vgl. Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky, 20. 4. 1923; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 91-96, hier S. 92. Adorno hatte als erster auf den Einfluss des nationalsozialistischen Kontextes aufmerksam gemacht, wollte aber den ›Wahrheitsgehalt‹ des Werkes nicht darauf reduzieren; vgl. Adorno: Sakrales Fragment (Anm. 3).

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psychologie. Er inszeniert, wie Massen blindlings einem Volksführer folgen und wie letzterer auf die Masse einwirkt. Schönberg selbst nennt Aron einen »Volksführer«67 und charakterisiert ihn als Demagogen, dem es vor allem darum geht, von allen verstanden und geliebt zu werden. Er hat Erfolg beim Volk, denn er appelliert nie an die Vernunft der Individuen, sondern kommuniziert mit den Emotionen des Kollektivs und schmeichelt dabei dessen verborgensten Instinkten. Die Szene mit dem Kalb inszeniert die orgiastische Entfesselung der Triebe; die überschäumende Menge wird zugleich von Lust, Habgier und Herrschsucht ergriffen: 4 NACKTE JUNGFRAUEN Oh goldener Gott, Oh Priester goldener Götter, das Blut jungfräulicher Unberührtheit, gleich Goldes metallischer Kälte, zur Frucht nicht erwärmt – O Götter, entzückt eure Priester, entzückt uns zu erster und letzter Lust, erhitzt unser Blut, dass es zischend am kalten Golde verrauche! O rotes Gold! (Die Priester stürzen auf die Jungfrauen zu,| umarmen und küssen sie lange. – Hinter jedes Paar | stellt sich ein Mädchen, das ein langes Schlachtmesser | und ein Gefäß zum Auffangen des Blutes in Händen | hält.) (MA 234: II 3)

Die Situation entgleitet schließlich Arons Kontrolle und gipfelt in der Zerstörung der zivilisierenden Tafeln Moses’. Die Darstellung dieser biblischen Episode weist Gemeinsamkeiten mit der beinahe gleichzeitig formulierten Kulturkritik in Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (1929) auf, worin der Psychoanalytiker der Abwehr der Kultur phylogenetisch auf den Grund ging und die Gefahr eines anbrechenden Totalitarismus in der Schwebe ließ. In Moses und Aron führt die Entfesselung der Triebe ins Verderben. Kurz nach Errichtung des Totems, des materiellen Goldenen Kalbes, kommt es zu einem Tanz der Schlächter, und bald wird das Volk von sexueller und mörderischer Wut in Besitz genommen: Es ist hin- und hergerissen zwischen Eros und Thanatos. Jegliche Rückzugsmöglichkeit ist gefährdet durch eine nicht mehr nur private, sondern kollektive und politische Gefahr. Die in Moses und Aron inszenierte Dialektik zwischen dem reinen Gedanken an Gott und der diesseitsorientierten Tat lässt die Frage offen, ob eine politische Handlung zwangsläufig in Demagogie und kollektiven Wahn ausarten muss oder ob sich der reine Gedanke retten lässt, auch _____________ 67

Vgl. den schon erwähnten Brief Schönbergs an Eidlitz, 15. 3. 1933 (Anm. 15).

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wenn man sich kompromisshalber auf die faktische Ebene begibt. Was ist zwingender: das politische Engagement, die praktizierte Religion − nämlich der Zionismus, auf die Gefahr eines Populismus hin − oder der Rückzug aufs Innere und die Anschauung Gottes, trotz der Gefahr einer völligen Vereinsamung? Diese Frage nach der Möglichkeit eines Kompromisses transponiert Schönberg in eine musikästhetische Debatte. Wie viele Kompromisse soll ein Künstler eingehen, um vom Volk bzw. vom Publikum verstanden zu werden? Auf die Oper übertragen heißt dies: Wie viel Materie, wie viel Szenisch-Mimetisches verträgt eine Oper? Fördert das Szenische die Rezeption des musikalischen Gedankens oder kompromittiert es ihn? Hier knüpft der Komponist an alle Debatten des 19. Jahrhunderts zur Reinheit der Instrumentalmusik und insbesondere an Wagners Definition des Musikdramas an. In seinen drei ersten Opern hat Schönberg weitgehend auf aufwändige Inszenierungen verzichtet, die er als bloße ›Hilfsorgane‹ auffasst, und den Tanz stuft er auf dem Niveau ›primitivster ProgrammMusik‹68 ein. Deren zunehmende Eigenmächtigkeit im frühen 20. Jahrhundert denunziert er in einer deutlichen Absage an die erste Periode Wagners, in der das Ausdrucksvermögen der Instrumentalmusik einer Erlösung durch Worte und szenische Vorgänge bedurft habe.69 Ihm ist aber 1932 – als er die Szene ums Goldene Kalb niederschrieb – klar geworden, dass erst das Szenisch-Effektvolle die Idee seines Stückes einem breiteren Publikum zugänglich machen kann. Auch wenn er von der absoluten göttlichen Kraft der Reihe überzeugt bleibt, macht ihm der ausbleibende Erfolg seiner letzten Kompositionen, der Variationen für Orchester op. 31 und der Oper Von heute auf morgen, stark zu schaffen.70 In einem Brief an Anton Webern fasst er den Tanz in Moses und Aron daher als notwendiges Übel auf, damit das Publikum »auf seine Rechnung« kommen und einen Teil der Intentionen verstehen kann.71 Zwingt die Moderne den Künstler und den Menschen zum ästhetischen und politischen Kompromiss und macht sie dabei den Zugang zu Gott unmöglich? _____________ 68

69 70

71

»Du weißt, daß ich für den Tanz nicht viel übrig habe. Seine Ausdruckskraft steht im Allgemeinen auf keinem höheren Niveau als die primitivste Programm-Musik; und seine ›Schönheit‹ ist mir in ihrer versteinerten Mechanik odios« (Arnold Schönberg an Anton Webern, 12. 9. 1931; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 164f., hier S. 165). Schönberg an Webern, 12. 9. 1931 (Anm. 68), S. 165. »Ich aber wünsche nichts sehnlicher (wenn überhaupt), als daß man mich für eine bessere Art von Tschaikowsky hält – um Gotteswillen: ein bisschen besser, aber das ist auch alles. Höchstens noch, daß man meine Melodien kennt und nachpfeift« (Arnold Schönberg an Hans Rosbaud, 12. 5. 1947; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 254f., hier S. 255). Schönberg an Webern, 12. 9. 1931 (Anm. 68), S. 164f.

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Das Wüstenmotiv: Selbstversenkung oder Stimme hinter dem Gesang? Die Musik zum dritten Akt ist nie komponiert worden, so wie die meisten Werke Schönbergs mit biblischem Stoff – etwa Die Jakobsleiter oder Der biblische Weg – unvollendet geblieben sind. Es handelt sich um Fragmente, die eine Ahnung des Göttlichen verleihen, und nicht um heilige Kunstwerke, die Gott verkünden und dessen Glorie im letzten Akt besingen. Während Schönberg die beiden ersten Akte im europäischen Exil zwischen Juli 1930 und März 1932 verfasste,72 zog sich die Niederschrift der Dialoge zum dritten Akt bis zum 5. Mai 193573 hin und fand im amerikanischen Exil statt. Unter anderem aus Protest gegen die inzwischen erfolgte Machtergreifung durch die Nazis konvertierte der bis dahin lutherisch gesinnte Komponist im März 1933 zum Judentum. Die Auswanderung aus Europa, die Machtergreifung durch die Nazis sowie seine Bekehrung blieben nicht ohne Einfluss auf die Niederschrift des letzten Aktes, dem eine Art Schwellenstatus zukommt. Er ist am äußersten Ende einer durch die romantischen Kunstphilosophie beeinflussten Periode angesiedelt, die einen Anspruch auf Totalität, auf die Rettung des Kerns der Religion durch das Kunstwerk erhebt, und lässt durch die Konzentration auf die Stimme und das Schweigen neue Paradigmen aufschimmern, die sich erst in der sog. Zweiten Moderne durchsetzen werden. Das Libretto endet mit dem Tod Arons und Moses’ Ausruf: Aber in der Wüste seid ihr unüberwindlich und werdet das Ziel erreichen: Vereinigt in Gott. (MA 239: III 1)

Das Motiv der Wüste – ein Echo auf den Unsagbarkeitstopos, der den zweiten Akt abschließt – ist hier zweischneidig. Es handelt sich zum einen um eine kollektive religionspolitische Lösung: Die jüdische Gemeinde soll vor dem Pharao (bzw. vor den Nazis) die Flucht ergreifen, die Heimat hinter sich lassen und den Weg nach Palästina bzw. Neupalästina gehen. In diesen Zeilen knüpft Schönberg an das zionistische Projekt aus Der biblische Weg an.74 Die Anspielung auf die Notwendigkeit zur Flucht für die deutschen und österreichischen Juden geht noch deutlicher aus den zwei anderen Fassungen des dritten Aktes hervor, die jedoch nie gespielt _____________ 72 73 74

Der erste Akt entstand zwischen dem 17. 7. 1930 und dem 15. 7. 1931 in Lugano und Territet, der 2. Akt zwischen dem 20. 7 1931 und dem 10. 3 1932 in Barcelona. Schönberg erwähnt die Abfassung des 3. Aktes allerdings schon am 12. September 1931 (vgl. Schönberg an Webern, 12. 9. 1931 (Anm. 68), S. 164f.). Vgl. Halbreich: Arnold Schoenberg et le judaïsme (Anm. 22), S. 74.

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worden sind.75 Die Wüste ist aber zugleich ein Ort der Stille, der geistigen Anstrengung und schließlich der Selbstversenkung. Dieser Prozess soll zugleich eine individuelle Erfahrung und ein kollektives Erlebnis sein, ähnlich dem Gebet in Die Jakobsleiter. Erst auf diesem Weg kann der Mensch zum unvorstellbaren, ewigen und einzigen Gott finden. Aufgrund der sich vertiefenden Dissoziation von Materie und Geist vermag aber dieses Mal keine atonale Musik den Weg vom Endlichen ins Unendliche zu weisen: Die Orchestermelodie verstummt im dritten Akt. Da der dritte Akt nie zu Ende komponiert worden ist, bleibt die Frage offen, ob Schönberg die Reihe auch dort als mögliche Aufhebung der Antithese vorgesehen hatte. Es bleibt nämlich dahingestellt, ob die Musik nach der Zerstörung der Gesetztafeln tatsächlich schweigen sollte. Von der Antwort auf diese Frage hängt die Deutung des Verklingens der Musik ab. Bekannt ist, dass Schönberg kurz vor seinem Tod ein Stipendium zur Vollendung der Arbeit am dritten Akt beantragte, das er aber nicht erhielt. In einem Brief an Francesco Siciliani schrieb der Komponist 1950, man könne den dritten Akt auch »nur gesprochen« aufführen.76 Gertrud Schönberg, seine zweite Frau, hat ihrerseits behauptet, der unvollendete Charakter des Werkes entspreche dem Wunsch Arnold Schönbergs.77 Man kann die Hypothese aufstellen, dass Moses und Aron dem – bei Kandinsky entlehnten und für Schönberg wichtigen – Prinzip der ›inneren Notwendigkeit‹ gehorchend ein Fragment bleiben musste, weil die Gefährdung der Zeit zu groß war. Der Musik blieb nur der Verzicht: Die Dialektik zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, zwischen dem Handeln und dem Denken, zwischen Wort und Ton konnte 1935 nur noch vertieft werden, nicht aber aufgehoben. Im letzten Akt vermag die _____________ 75

76 77

Eine der Textfassungen des dritten Aktes inszeniert Krieger, die alte, lesende Juden töten; es kommen aber immer wieder neue Juden, die an der Errichtung einer neuen Stadt arbeiten. Die Krieger tragen sowohl antike als auch zeitgenössische Kostüme und versinnbildlichen dadurch die Pogrome, die es über Jahrhunderte gab. Am Ende heißt es, dass Moses und Aron zwar sterben, das jüdische Volk aber in der Wüste frei sein wird (vgl. Nono-Schœnberg, Nuria: Schœnberg avait un sens très prononcé de la responsabilité…; in: Le siècle de Schœnberg. Textes réunis et présentés par Danielle Cohen-Levinas. Paris 2010, S. 15-35, hier S. 23f.). Vgl. Arnold Schönberg an Francesco Siciliani, 27. 11. 1950; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 295; hiernach ist der dritte Akt »ein Dialog zwischen Moses und Aaron, dem nach Aarons Tod, ein langer Monolog Moses’s folgt« (ebd.). Vgl. Revault d’Allonnes: Aimer Schoenberg (Anm. 6), S. 122. – Schönbergs Tochter Nuria Nono-Schönberg hat ihrerseits in einem Interview (Venedig, Oktober 1994) behauptet, es sei schwierig zu bestimmen, ob ihr Vater im dritten Akt auf Musik verzichten wollte: »C’est difficile à dire. Il avait tout de même proposé qu’on l’imprime ou qu’on le récite. Il faut tenir compte de la durée totale de l’opéra, et de la difficulté d’en donner une représentation complète. […] Mais il n’est pas certain que Schœnberg le voulait vraiment, mis à part ces quelques phrases prononcées pour une occasion particulière« (Nono-Schœnberg: Schœnberg avait un sens très prononcé de la responsabilité…(Anm. 75), S. 25).

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Instrumentalmusik, deren göttliche Kraft angezweifelt wird, nicht mehr die Widersprüche zu überwinden. Musste die Musik im dritten Akt nicht verstummen, nachdem sie zuvor beinahe orgiastisch den ganzen akustischen Raum in Anspruch genommen und sich dabei kompromittiert hatte? Im dritten Akt soll Aron sterben, weil er »Gott an die | Götter, den Gedanken an die Bilder«(MA 238: III 1) verraten hat, und die Musik soll aufhören, weil sie dem Szenisch-Faktischen, d. h. dem Bildlichen, in einem derartigen Ausmaß erlegen ist, dass sie den reinen musikalischen Gedanken verunstaltet. Hier dürfte es sich um einen Seitenhieb auf die Musikdramen Wagners handeln, an denen Schönberg kritisierte, dass er die Stimmen in den Hintergrund zwang.78 Zwar erkennt Schönberg 1930 in einem Essay über die Neue Musik an, dass der Opernkomponist das Vokale zum Teil an den Erfordernissen des Orchesters, des Dekors und der dramatischen Charaktere orientieren solle; jedoch bezeichnet er den vokalen Teil als das Wesen der Oper, aus dem das innere Wesen des Werkes hervorgehen solle.79 Schon im Intermezzo, das sich zwischen den beiden ersten Akten von Moses und Aron vor gefallenem Vorhang abspielt, hebt Schönberg die Bedeutung der Stimmen vor dem Szenischen und dem Textuellen hervor. Der schon erwähnte ›kleine Chor‹ – »im Finstern | unsichtbar, so aufgestellt, dass er den Dirigenten gut | sieht, dass aber die verschiedenen Stimmgattungen deut- | lich von verschiedenen Plätzen herklingen« (MA 231: Zwischenspiel) – erscheint ohne jegliches szenische Beiwerk, so dass er als der Kern der musikalischen opernhaften Schöpfung, als das Innere des Werkes, betrachtet werden kann. Im dritten Akt aber verstummt nicht nur die Orchestermelodie. Es stirbt der wortgewandte Prophet, der als einziger vermochte, mit dem Volk zu kommunizieren und Gottes Gedanken zu vermitteln. Mit dem Propheten stirbt nicht nur die Hoffnung auf eine Vermittlung, sondern auch der Schöngesang. Die Orchestermusik nimmt die Stimmen nicht mehr auf – was bleibt, sind die bloßen ›Stimmen hinter dem Gesang‹,80 d. h. der Sprechgesang Moses’. Es ist nämlich anzunehmen, dass der Sprechgesang im dritten Akt weiterhin Moses’ Modus kennzeichnet, wovon auch Straub und Huillet ausgegangen sind, als sie die Oper inszenierten und verfilmten.81 Genau so, wie die Zwölftonmusik die Orchestermelodie von innen heraus sprengt, zerlegt der Sprechgesang die gesungene _____________ 78 79 80 81

Vgl. Schönberg: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke(Anm. 63), S. 31. Schönberg: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke(Anm. 63), S. 31f. Die Formulierung geht auf Danielle Cohen-Levinas zurück; vgl. Cohen-Levinas, Danielle: La voix au delà-du chant. Une fenêtre aux ombres. Paris 2006. Vgl. die Moses und Aron-Verfilmung von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub aus dem Jahr 1974 (2007 auf DVD veröffentlicht).

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Melodie und rettet dadurch auch im dritten Akt die Inkantationskraft der Musik, diesmal der vokalen. Der Sprechgesang erinnert an Gesang, lässt diesen aber nicht mehr voll zum Tragen kommen. Er markiert eine Schwellensituation, die die Zeit- und Raumbestimmungen der Musik in Frage stellt und dem Zuhörer eine neue Wahrnehmung abverlangt. Der Stimme wohnt ein Paradoxon inne: Sie ist das Endlichste an der Musik und weist zugleich auf das Unendliche. Sie ist endlich in ihrem Ursprung im Körper, und sie ist unendlich im Moment der inneren Grenzüberschreitung, die die Selbstversenkung vollzieht.82 Weil die Stimme zugleich endlich und unendlich ist, kann sie zugleich heilig und profan sein, und sie kann zudem eine Alternative, einen dritten Weg ›jenseits des Gesangs‹, anbieten.83 Es besteht eine Analogie zwischen Moses, der auf der Suche nach dem unvorstellbaren Absoluten heimatlos durch die Wüste wandert, und der als Material aufgefassten Stimme, deren »Ursprung sich fortbewegt, wie ein Individuum ohne Heimat«.84 In Moses und Aron wird diese materielle Heimatlosigkeit der Sprache anhand des biblischen Materials hervorgehoben. Auch wenn die Stimme heimatlos ist, bildet sie den letzten Anker für eine gefährdete Existenz. Je gefährdeter die Integrität des Menschen ist, desto wichtiger wird die Stimme als größtmöglicher Rückzug in das Innere. Die Stimme ist unveräußerlich; sie ist die letzte Heimat, wenn auch eine wandernde, die einzige stabile Verankerung. Aus diesem Grund intensivierten sich nach der Shoah die klangzentrierten Vokalkompositionen – man denke an Luigi Nonos Arbeiten und vor allem an die Vokalkompositionen von Karlheinz Stockhausen.85 Der dritte Akt von Moses und Aron erweist sich mit seinem Sprechgesang ohne instrumentale Begleitung als wegweisend für diese späteren Arbeiten. Moses’ Stimme ruft aus der Wüste, weil es diese Wüste ist, die mitten im Körper danach trachtet, das Unendliche zu finden. Von daher vermengt sie die frühromantische Auffassung der Musik als »das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte _____________ 82

83 84 85

Zum Verhältnis zwischen Stimme und Körper vgl. auch Barthes, Roland: Le grain de la voix (1972); in: Barthes, Roland: Œuvres complètes.Tome IV: 1972-1976. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Paris 2002, S. 148-156 (als ›grain d’une voix‹ versteht Roland Barthes das Körperliche, das in der Stimme singt: den Körper also, der sich durch die Stimme ausdrückt). Cohen-Levinas: La voix au delà-du chant (Anm. 80), S. 19. »[Au fond, le compositeur est confronté à un matériau] dont l’origine se déplace comme un sujet sans terre« (Cohen-Levinas: La voix au delà-du chant (Anm. 80), S. 23). Karlheinz Stockhausen hat einen absolut klangzentrierten Vokalkompositionsstil ohne Wortgrundlage geschaffen (vgl. seinen Gesang der Jünglinge im Feuerofen für Chor und Elektronische Instrumente (1956), in dem Gesangsfetzen elektronisch verändert werden).

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Religion«,86 wie Wilhelm Heinrich Wackenroder es formulierte, mit neuen Paradigmen, die nach der Katastrophe und sogar in der sog. Postmoderne entwickelt werden − man denke an Julia Kristevas Theorie des ›sprechenden Körpers‹ und vor allem an Jean Luc Nancys Text Vox clamans in deserto.87

* Kunst und Religion stehen in Schönbergs vierter Oper in einem vielschichtigen Verhältnis zueinander. Der Glaube an eine vom ›materiellen Schmutz‹ befreite Instrumentalmusik als Metasprache, die − in der Auffassung von Wackenroder und in seiner Folge von E.T.A Hoffmann − zum Absoluten hinführt und eine Ahnung des Unendlichen vermittelt, besteht in veränderter Weise in den ersten zwei Akten von Moses und Aron fort; 1930 vermag jedoch die Musik den Zuhörer in keine erfüllende Sehnsucht mehr zu versetzen. Ein Kultur- und Sprachpessimismus hat sich über die Epoche ausgebreitet und tiefe Spuren in Schönbergs Bibeloper hinterlassen. Der biblische Text ist nur noch ein fiktives Material, das zu einem Libretto umgearbeitet wird. Es handelt sich nicht darum, bibeltreu die Propheten darzustellen, sondern die Dialektik zwischen Handeln und Denken, Endlichem und Unendlichem anschaulich zu machen. Gott wird von Aron als Gefühl wahrgenommen, von Moses aber als Gedanke erlebt. Die gefühlsmäßige Wahrnehmung Arons entpuppt sich letztendlich als Verrat an Gottes unvorstellbarem Charakter, während die abstrakte Herangehensweise Moses’ in Vereinsamung mündet. Das Wort, sogar das biblische, vermag das Unvorstellbare Ewige nicht auszudrücken. Nur noch die Kunst, hier die serielle Musik, ist imstande, die Dialektik zwischen Endlichem und Unendlichem momentan zu sprengen. Erst wenn man den dritten Akt gelesen hat, in dem es zu einer komplexen Wieder-in-Frage-Stellung des Status sprachlicher Bilder kommt, leuchtet ein, dass das Unvorstellbare, Ewige, Unsagbare weniger in dem biblischen Bild des Dornbusches liegt, das angezweifelt wird, als im Sprechgesang der sechs Stimmen − in der Vokalmusik also − und in der seriellen Partitur. Das einzige, was eine Ahnung des Unvorstellbaren vermitteln _____________ 86 87

Wackenroder / Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (Anm. 38), S. 254. Vgl. Burger, Rodolphe: La voix de Jean-Luc; in: Vacarme (2004) (http://www. vacarme.org/article1519.html; letzterZugriff: 21. 8. 2011).

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kann, ist die Kunst. Dadurch, dass sie neue Raum- und Zeit-Koordinaten anbietet, rettet die Reihe als einzige Musik in der Moderne den Gedanken an das Göttliche, das Streben nach etwas Höherem, wenn auch nur sporadisch. Indem Schönberg in Moses und Aron den künstlerischen Akt mit der göttlichen Schöpfung analogisiert, steht die Oper in der Tradition der um 1800 formulierten frühromantischen Kunstreligion, wenn auch in veränderter Form. Nicht nur, dass die ›christliche Glorie‹, von der E. T. A. Hoffmann gesprochen hat, endgültig vorbei ist und ein jüdisches Paradigma das christliche ersetzt hat: Die biblische – zugleich christliche und jüdische – Vorlage wird als menschlich und fiktiv herausgestellt, und sogar die Propheten erweisen sich als bloße Klangstimmen, die außerhalb der Kunst nicht existieren. Schönberg schreibt nicht nur nach der Verkündung von Gottes Tod, sondern auch in der Periode des aufkommenden Faschismus. Wenn das Spektrum der Barbarei den zweiten Akt in der Form des Goldenen Kalbes überschattet, so hält Schönberg noch an der Hoffnung auf die göttliche Kraft der Musik fest, die die Dialektik zwischen Kunst und Religion überwindet. 1935, als er die erste Szene des dritten Aktes niederschreibt, ist diese Hoffnung stark beeinträchtigt. Kann die Kunst 1935 das Absolute noch besingen, und kann der Mensch den Weg ins Unendliche noch finden? Vermag die Musik noch eine Vorstellung vom Unendlichen, Unvorstellbaren zu verleihen? Die halb singende und halb sprechende Stimme Moses’ manifestiert diese Ambivalenz. Die Kunst ist gefährdet und halb mundtot gemacht worden – dennoch rettet dieses Mal die bloße Stimme die Zauberkraft der Musik. Sogar in der völligen Vereinsamung, in der Wüste, klingt noch die Stimme wegweisend hervor. Der Mensch soll sich trotz allen Zweifeln an der Existenz Gottes in den Glauben an einen unsagbar Höheren vertiefen und sich vergeistigen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedete Schönberg die Idee nicht, der zufolge die Musik einen Weg ins Absolute weisen könne, wenngleich dieses Absolute dem Menschen unvorstellbar sei. Wovon sich der Komponist nach der Shoah abzuwenden scheint, ist weniger der Glaube an die göttliche Kraft der Kunst als die Hoffnung, die deutsche Kultur könne darin eine vorrangige Rolle spielen. 1945 distanziert er sich weniger von einem Ideal der Kunst als eher von einem Ideal eines Kulturguts. Dies manifestiert sich zunächst im Rekurs auf nicht mehr nur alttestamentarische Quellen, sondern auf spezifisch jüdische Texte. Zudem wird diese Abwendung durch den Verzicht auf die deutsche Sprache unterstrichen, die in den nach 1933 komponierten Werken immer mehr durch das Englische und das Hebräische ersetzt wird. Die deutsche Sprache bleibt als bloßes Gebrüll eines KZ-Aufsehers in A Survivor from Warsaw präsent. Nach Auschwitz komponiert Schönberg noch, schreibt

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aber seltener in der Sprache der Henker. Nicht mehr die ›deutsche‹ Musik, zu deren Erneuerung er über Jahrzehnte hinweg beitragen wollte, soll nun diese hinführende Funktion erfüllen, sondern die jüdische, gar die israelische. Noch 1951 drückte Schönberg in einem Brief wenige Monate vor seinem Tod den Glauben an die politische Möglichkeit einer Kunstreligion aus, d. h. den Glauben daran, dass die Musiker und Komponisten Israels die neuen Priester seien, die die Welt verbessern können. Diese Utopie unterbreitet er Frank Pelleg, der ihm vorschlug, die Stelle als Direktor des Israel Academy of Music in Jerusalem anzunehmen: Aus einem solchen Institut müssen wahre Priester der Kunst hervorgehen, die der Kunst mit der selben Weihe entgegentreten, wie der Priester Gottes Altar. Denn wie Gott Israel als das Volk auserwählt hat, dessen Aufgabe es ist, trotz aller Verfolgungen, trotz aller Leiden den reinen, wahren mosaischen Monotheismus aufrecht zu erhalten, so ist es Aufgabe der israelitischen Musiker, der Welt als Vorbild zu geben, das allein imstande ist, unsere Seelen wieder funktionieren zu machen, wie es die Höherentwicklung der Menschheit erfordert. 88

_____________ 88

Arnold Schönberg an Frank Pelleg, 26. 4. 1951; in: Schönberg: Ausgewählte Briefe (Anm. 11), S. 297f., hier S. 298.

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Die ›heidnische Möglichkeit‹ Grundlagen der symbolistischen Kunstreligion bei Mallarmé und George I. Zur Problematik des Begriffs Die Anwendung des Begriffs ›Kunstreligion‹ auf die beiden in dieser Hinsicht wahrscheinlich herausragenden Werke des französischen und deutschen Symbolismus – das Stéphane Mallarmés und das seines ›Schülers‹ Stefan George – scheint auf den ersten Blick selbstverständlich, ist in Wahrheit jedoch nicht unproblematisch. Die erste Schwierigkeit ist methodologischer Art. ›Kunstreligion‹ ist ein philosophisches Konzept, das nicht aus dichterischer Praxis, sondern aus theoretischer Spekulation bei Schleiermacher und vor allem bei Hegel hervorgegangen ist. Dagegen handelt es sich bei Mallarmé und George um genuine Dichter. Deren Werke enthalten zwar auch theoretische Elemente (wie Mallarmés Divagations oder Georges ›Merksprüche‹ der Blätter für die Kunst), und vor allem berührt die theoretische Reflexion von Seiten der jeweiligen Schüler oft religiöse Aspekte; dennoch ist der Unterschied entscheidend, ob eine Reflexion begrifflicher Spekulation oder dichterischer Praxis entstammt, und es kann zu Missverständnissen führen, wenn man ihn vernachlässigt. Insofern hieße es einer Art von Begriffsmythologie zu huldigen, wenn man sich vorstellte, es gäbe ein gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingeführtes ›Konzept‹ der Kunstreligion, an das im Symbolismus angeknüpft würde. Gewiss erhofft sich Schleiermacher in seinen Reden über die Religion für die Zukunft eine ›Kunstreligion‹, die auf der ›inneren‹ und bisher nur ›geahndeten‹ »Verwandtschaft« von Kunst und Religion beruht,1 doch gibt er den Begriff schon wenige Zeit später, wohl seiner großen Unbestimmt_____________ 1

Scholz, Gunter: Schleiermacher und die Kunstreligion; in: 200 Jahre Reden über die Religion. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft. Halle 14. − 17. März 1999. Herausgegeben von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener. Berlin – New York 2000, S. 515-533, hier S. 522.

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heit halber, wieder auf und wird fortan eher dazu neigen, die prinzipielle Verschiedenheit beider Domänen zu betonen.2 Gunter Scholz hebt hervor, dass Schleiermacher im Gegensatz zu seinem Umfeld (zu Friedrich Schlegel und den Anhängern einer neuen Mythologie) stets »die Religiosität als das Grundlegende, erste und die Kunst als deren Artikulationsorgan, als das zweite verstanden wissen« wollte.3 Dagegen tendierten die anderen Romantiker dazu, die Religion durch die Kunst zu ersetzen – allerdings rein spekulativ, in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Ernsthaftigkeit. Davon abzuheben ist wiederum Hegels Auffassung der ›Kunstreligion‹ als sinnenhaftes Erscheinen des Göttlichen in der antiken griechischen Kunst, welche Schleiermacher wahrscheinlich eher als künstlerisch erhöhte Naturreligion einstufte. Bei genauerem Hinsehen scheint vor allem bei Hegel der Begriff mehr als eine vage, auf Analogisierung und Metaphorisierung beruhende Redewendung zu sein und wirklich als ›Religion‹ im vollen, allerdings vorchristlichen Sinne verstanden zu werden. Auch wenn die Verbindung von Kunst mit ›Religiösem‹ im Symbolismus wieder besonders aktuell zu werden scheint und Kunst zumal bei betont nicht-christlichen Dichtern wie Mallarmé und George offenbar als neue Religion auftritt, könnte eine rein historische Betrachtungsweise, als bildeten die Autoren des Symbolismus etwa bewusst den im deutschen Idealismus aufgetauchten Begriff weiter, sich dennoch als irreführend erweisen. Zwar gibt es manche Bezüge, die historisch mit einiger Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können: so etwa den ›hegelschen‹ Einfluss, den Mallarmé über seinen Freund Villiers de l’Isle-Adam empfangen hat, oder den etwas konfusen Fichteismus sowie den Einfluss Schopenhauers bei den französischen Wagnerianern, mit dem sie mallarmésche Gedanken vermischen, um zu einer besonderen Art von Kunstreligion zu gelangen. Doch so wie man sich George nur schwerlich als aufmerksamen Leser von Hegels Phänomenologie des Geistes vorzustellen geneigt ist, sollte auch Mallarmés sehr indirekte Prägung durch den deutschen Idealismus nicht überschätzt werden. Diese horizontale und bildungsmäßige Perspektive würde gerade in Bezug auf die ›religiöse‹ Thematik Gefahr laufen, von Anfang an methodisch zu vernachlässigen, dass ›kunstreligiöse‹ Motive bei den Dichtern, zumindest aus Sicht der Beteiligten, sui generis aus ihrer eigenen schöpferischen Erfahrung mit Sprache hervorgehen können und durchaus als überhistorisch (sei es im Sinne einer ›anthropologischen Konstante‹) aufzufassen sind; der geschichtliche Charakter wäre demzufolge gerade in einem neu- oder wiederentdeckten Verhältnis zur Sprache _____________ 2 3

Scholz: Schleiermacher und die Kunstreligion (Anm. 1), S. 525, Anm. 34. »Kunstreligion ist in den Reden sich künstlerisch artikulierendes Religionsgefühl« (Scholz: Schleiermacher und die Kunstreligion (Anm. 1), S. 531).

Symbolistische Kunstreligion bei Mallarmé und George

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und Dichtung zu suchen, so sehr man auch berechtigt ist, das Erscheinen der Idee einer ›Kunstreligion‹ historisch mit Protestantismus, Säkularisierung, Aufklärung und Romantik, deren letzter Ausläufer der Symbolismus wäre, in Verbindung zu bringen. Zumindest sollte eine um Sachlichkeit bemühte Untersuchung sich nicht a priori jeder überhistorischen Perspektive verschließen, die eine historische Kontextualisierung ja nicht ausklammert, sondern lediglich nicht absolut setzt. Daher ist es ratsam, zuerst das Verhältnis von ›Kunst‹ und ›Religion‹ im jeweiligen Werk zu untersuchen. Meistens wird jedoch nach wie vor, wenn es sich um Stefan George handelt, von einer in seinem Kreis vorab und nicht aus dem Werk gewonnenen Auffassung von Kunstreligion ausgegangen, anhand derer es dann ein leichtes ist, Paradoxien und nicht erfüllte Ansprüche zu entdecken.4 Denn ein weiteres Problem des Begriffs ›Kunstreligion‹ besteht darin, dass die Teilanalogie, auf die sie sich meistens beschränkt, totalisiert wird: indem man z. B. unterstellt, die Dichter hätten tatsächlich Religion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durch eine ›Kunstreligion‹ ersetzen wollen und diese müsste der den dogmatischen Religionen entlehnten ›Offenbarungsauthentizität‹ oder ›-autorität‹ gerecht werden, wie das besonders gern anhand des Maximin-Mythos dargelegt wird. Dafür gibt es in den Werken − wenn man sich bemüht, sie aus ihren eigenen Voraussetzungen her zu verstehen − keine ernstzunehmenden Anhaltspunkte, und derartige Behauptungen schreiben sich in eine weit verbreitete polemische Grundeinstellung gegen den Dichter ein. Naiver als Schleiermacher, welcher meinte, von einer »Kunstreligion, die Völker und Zeitalter beherrscht hatte, habe [er] nie etwas vernommen«,5 dürfte George in solchen Belangen gewiss nicht gewesen sein. Zu schnell wird die religiös anmutende Dimension der Werke (bei George) oder deren Thematisierung (bei Mallarmé) mit Absichten einer allgemeingültigen Religionsstiftung verwechselt, anstatt etwa mit Heidegger länger bei einer Reflexion über den ›stiftenden‹ Charakter von Dichtung zu verweilen. Zwar gibt es bei Mallarmé tatsächlich einige, eher seltene, Stellen im Werk, die einen Kultus der Zukunft nicht nur für einen kleinen Kreis, sondern auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vage skizzieren, in dem das dichterische Element eine bedeutende Rolle spielen würde; das erlaubt es allerdings kaum, Mallarmé als Religionsstifter zu bezeichnen. Bei George muss zugleich nachdrücklich betont werden, dass zwar Schüler wie Gundolf oder Wolters von einer ›Religion Georges‹ sprechen konnten (was letztlich eine banale Ausdrucksweise ist), es sich aber nie um den allgemeingültigen Ver_____________ 4 5

So in der, von den George gewidmeten Seiten abgesehen, kenntnisreichen Monographie von Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, bes. S. 99-108. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, S. 168.

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such einer wirklichen ›Religionsgründung‹ handelte. Solche Zumutungen hat der Dichter berechtigterweise von sich gewiesen, auch wenn die Behauptung seit Max Weber anscheinend ununterbrochen eine Lieblingsvorstellung der Kritik geblieben ist. Ernst Müller schreibt zu Recht, dass der Begriff der ›Kunstreligion‹ eher geeignet sei, »theoretische Differenzen zu verdecken als sie zu markieren«, und dass der »schillernde Begriff« auf die Abwesenheit dessen verweise, was er bezeichne: Er verdanke seine Semantik »kaum einmal einer Gegenwartsbeschreibung, sondern fast immer kritischen Verabschiedungs- bzw. Distanzierungsgesten oder aber utopischen Programmen«.6 Müller denkt in diesem Zusammenhang wahrscheinlich vor allem an Schleiermacher (utopisches Programm) und Hegel (Verabschiedungsgeste); seine Aussage trifft aber erst recht auf die kritische Verwendung des Begriffs als ›Verabschiedungs- oder Distanzierungsgeste‹ zu, die in der bundesrepublikanischen George-Forschung vorherrscht. Was hier endgültig verabschiedet werden soll, ist das anscheinend immer noch spukende Gespenst eines ›Geheimen Deutschland‹. Neben dieser Ausrichtung, die man polemisch oder ideologisch eher als objektiv und beschreibend nennen kann und die in einem ersten Teil kurz angesprochen werden soll, ist der Begriff der Kunstreligion, so wie ihn zum Beispiel Hegel entwickelt hat, in unpolemischer Verwendung durchaus hermeneutisch gerechtfertigt und kann für das Verständnis und die Verdeutlichung eines wirklichen Zusammenhangs, so wie er von den Dichtern erfahren und ansatzweise von Philosophen wie Hegel und Heidegger beschrieben wurde, nützlich sein.

II. Zur Kritik der George-Forschung Wir werden also im Folgenden eine kritische und polemische Dimension in der Verwendung des Begriffs ›Kunstreligion‹ in einer spezifischen, allerdings dominanten Tendenz der George-Forschung skizzenhaft aufweisen, die ihn in die Nähe von verwandten, eindeutig wertenden Begriffen wie ›Ersatzreligion‹ oder ›sekundäre Religiosität‹ bringt, bevor wir uns von Hegel und Heidegger zu einer philosophischeren Auffassung des Problems anleiten lassen. _____________ 6

Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004, S. 234.

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In Arbeiten, die − wie Stefan Breuers vielbeachtete Studie aus dem Jahre 1995 − vor der politischen Gefahr von Georges ›Fortschreibung der Kunstreligion um 1800‹, deren ästhetischer Fundamentalist er geworden sei, warnen wollen,7 oder anderen, die wie die Interpretation Georges durch Bernd Auerochs sich vornehmen, das ›Scheitern‹ der vermeintlichen Kunstreligion im George-Kreis nachzuzeichnen, fällt auf, dass die religiösen Kategorien, die auf das Werk projiziert werden, der eigentlichen literarischen Werkanalyse vorausgehen oder diese größtenteils sogar ersetzen. Das ist besonders deutlich bei Breuer, der sich von vornherein für ›ästhetische‹ Fragen unzuständig erklärt, obwohl er George gerade des ›ästhetischen Fundamentalismus‹ bezichtigt.8 Außerdem sollte der eindeutig polemische Charakter seiner Studie, in der anhand einer eher undifferenziert gehandhabten Narzissmus-Theorie einer ganzen Reihe von George mehr oder weniger nahestehenden Dichtern in journalistischer Zitierweise ›IchStörungen‹ nachgewiesen werden, davon abhalten, ihren wissenschaftlichen, eher an Max Nordau erinnernden Charakter zu überschätzen − gewinnt man doch den Eindruck, Dichtung sei vor allem ein pathologisches Phänomen. Dass eine George-Parodie das Schlusswort ersetzt, ist vielsagend genug. Keine wirklich geringere Voreingenommenheit gegen seinen Untersuchungsgegenstand finden wir bei Bernd Auerochs, wo das zumindest erstaunliche Urteil zu lesen steht, Gundolf sei »vielleicht der einzige im Georgekreis« gewesen sei, »der die intellektuelle Kraft hatte, sich dieses Phantasma [einer Kunstreligion] nicht nur als Phrase zu eigen zu machen, sondern es auch konsequent zu durchdenken«.9 Bernd Auerochs fasst die kunstreligiöse Interpretation von Kunst vor allem als den gescheiterten Versuch auf, »die sehr traditionelle Aufgabe, zu einer letzten Wahrheit durchzudringen und sie mit gebieterischer Autorität zu artikulieren, von den alten heiligen Texten der positiven Offenbarungsreligionen auf Kunstwerke zu übertragen, denen man unter den Bedin_____________ 7 8

9

Vgl. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 5. Dem Einwand Dirk von Petersdorffs, dass man von einem Soziologen nicht verlangen dürfe, sich um ästhetische Fragen zu kümmern, wäre zuzustimmen, wenn sich Breuer nicht mit angeblich ›ästhetischem‹ Fundamentalismus befassen würde; vgl. Petersdorff, Dirk von: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist?; in: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Herausgegeben von Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold, Wolfgang Graf Vitzthum. Berlin – New York 2005, S. 49-58. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 100. − Was die ›Konsequenz‹ des rein begrifflichen Denkens in weberschen ›Idealtypen‹ angeht, so sollte nicht vergessen werden, dass deren befriedigende Schlüssigkeit auch im Sinne ihres Urhebers nicht mit der Komplexität der Wirklichkeit (der Religion, der Dichtung) verwechselt werden darf. Nietzsches Warnung, Denken sei immer ein Vereinfachen, sollte in gewissen Bereichen etwas mehr Zurückhaltung anmahnen.

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gungen der Moderne eine größere Eindringlichkeit und Faszination zuschreibt«.10 Da aber die bloße »Offenbarungsanalogie als Fundament für eine Kunstreligion« nicht ausreiche und »eine ausschließlich an die Spontaneität von Individuen gebundene Offenbarung nicht ein leeres Wort«11 bleiben solle, müsse die »behauptete Identität von Kunst und Religion« auf noch »etwas anderes gestützt« werden: auf andere Analogien zur historischen Religion, d. h. auf »Autorität, Gemeinschaft und Verbindlichkeit«; George vollziehe diesen Schritt in kunstreligiöser Logik, die er nicht habe »aufgeben« wollen, indem er »die Kunst über sich selbst, über ihre in der Moderne selbstverständlichen Begrenzungen« hinauszwingen wollte.12 Was für Auerochs eine in der Moderne ›selbstverständliche Begrenzung‹ ist, war für George alles andere als ›selbstverständlich‹. Wie sehr Auerochs einem bloßen Begriff zuliebe an den inneren Werkzusammenhängen vorbeisieht, zeigt seine schwer nachzuvollziehende Frage, ob »die Behauptung, Kunst offenbare etwas Göttliches, auch einen inhaltlichen Sinn« habe bzw. ob sie »ernst gemeint« sei.13 Eine religiöse Dimension, die Göttliches in der Kunst sieht, selbst wenn sie als wesentlich empfunden wird, muss noch keine ›Religion‹ im hier allgemein verstandenen Sinne sein. Es ist schon richtig, dass die Georgeaner aus dem ›Glauben‹ an die Dichtung lebten, in der sich für sie Göttliches ausdrückte; das leitet sich bei ihnen aber ebenso wie die »Autorität, Gemeinschaft und Verbindlichkeit« aus der in ihren Voraussetzungen zuerst genauer zu untersuchenden Dichtung selbst ab und nicht aus primär religiösem Bedürfnis. Und selbst wenn man mit Blick auf die George-Schüler aus Desinteresse am eigentlich Dichterischen beides, Religion und Dichtung, oft verwechselte, oder selbst wenn beide tatsächlich nicht zu unterscheiden wären, hieße das noch lange nicht, dass sie die Dichtung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für ›identisch‹ oder ›austauschbar‹ mit Religion hielten. ›Kunstreligiös‹ anmutende Züge in Georges Werk und Wirken rühren nicht von einem gewaltsamen Über-sich-hinaus-Heben der Kunst her, sondern von deren Vertiefung. Das besser zu verstehen hilft der Mallarmé-Bezug, der dazu in wesentlichem Ausmaße das Fundament gelegt hat. Ebenso erklärt sich die Kreisbildung nicht aus dem Bemühen, »den verpflichtenden Charakter«14 von Georges Kunst besonders herauszustellen, sondern aus demjenigen, die Kunst, die seinen Ansprüchen entsprach, überhaupt erst, unter den Bedingungen der ›Moderne‹, zu ermög_____________ 10 11 12 13 14

Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 511. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 98. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 99. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 98. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 99.

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lichen. Wie für Breuer, so lassen sich auch für Auerochs an George und seinem Kreis »die um 1900 voll entfalteten Aporien des Projekts Kunst als Ersatzreligion«15 besonders gut beschreiben. Dabei wird Gundolfs George-Buch zugrunde gelegt, dessen scharfe Schleiermacher-Kritik jedoch an keiner Stelle zur Kenntnis genommen. Zu jenen Aporien gehöre, zusammengefasst, dass bei George, im Gegensatz zu »traditioneller Religion«, die »Ritualität selbst zur Substanz der Religion« werde,16 was einerseits die Konsubstanzialität des Rituals in ›traditionellen‹ Religionen verkennt und andererseits George gleichzeitig vorwirft, Religion zu betreiben und nicht ›religiös‹ genug zu sein, nur leere Rituale zu bewegen. Hauptsächlich an Breuer und Weber knüpft die Klage an, dass es dieser Religion, d. h. der Offenbarung des ›schönen Lebens‹ in der ›Feierlichkeit‹, an »Gehalt«17 fehle; Maximin könne »doch für nichts anderes gelten als für ein Geschöpf des Dichters«,18 wobei unberücksichtigt bleibt, dass paradoxerweise George selbst ja bemüht ist, ihn als sein eigenes Geschöpf darzustellen. Ebenso werkfremd, aber im Grunde das gleiche Argument, ist der mit Breuer und Weber wiederholte Vorwurf des »rein formalen Prophetentums« ohne ›Inhalte‹,19 sowie des »völlige[n] Fehlen[s] einer substantiellen religiösen Tradition«.20 Auch hier würde der Verweis auf Mallarmé zeigen (obwohl Auerochs selbst genügend Beispiele ähnlicher Gedankengänge anführt),21 dass die Vertiefung des dichterischen Prinzips aus Sicht der _____________ 15 16 17 18 19 20 21

Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 99. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 102. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 102. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 104. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 107; vgl. Max Weber an Dora Jellinek, 9. Mai 1910 (zitiert nach Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, S. 465-467, hier S. 466). Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus (Anm. 7), S. 3. Es ist zu bedauern, dass seine gelehrsame Darstellung der ›Kunstreligion um 1800‹ den Autor nicht dazu geführt hat, in dieser Tradition anderes als nur »ein Monstrum, hervorgegangen aus der unheiligen Hochzeit von Religion und Religionskritik« (Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 502) zu sehen. An mehreren Stellen drückt Auerochs seine Verwunderung darüber aus, dass es für die Kunst als ›Kunstreligion‹ eine der Religionskritik vergleichbare Kritik nicht gegeben habe und nicht gebe, und er scheint sich mitunter selbst diese Aufgabe vorgesetzt zu haben, zumal er tendenziell die Kunstreligion der aufklärerischen Religionskritik zuschlägt und damit die Eigendynamik der Kunst verkennt (so sei »das Bedürfnis nach einer liberaleren Religion« am Ende des 18. Jahrhunderts »ausgerechnet auf die Kunst als neue Offenbarung« verfallen, ebd., S. 510). Dass das, um den Gedanken eines Novalis (und darüber hinaus eines nicht nur auf die Romantik begrenzten Dichtungsverständnisses) gerecht zu werden, zu kurz greift, zeigen seine eigenen objektiven historischen Ausführungen zu Genüge. Wenn der Autor mit zweifelhaftem Überlegenheitsgestus vermerkt, dass Adornos »apotropäische Geste« und sein »flehentliches Insistieren darauf, daß ein Rest von Offenbarung [in der Kunst] doch sein

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Dichter eben darin bestand, auf den Ursprung jeder religiösen Tradition zurückzugehen. Man kann das kritisieren oder nicht – zuerst muss man es sehen und nicht die Dichter an Ansprüchen messen, die sie nie erhoben haben (etwa an demjenigen, sich in eine vorgegebene religiöse Tradition einzuschreiben). Von einer Tradition der Dichtung seit Hölderlin und Mallarmé auszugehen wäre sinnvoller. Schon Weber verirrte sich mit seinem Etikett der ›Erlösungsreligion‹, das er unbedingt auf George anwenden wollte, in eine von ›bürgerlichem‹ Poesieverständnis geprägte und rein reaktiv oder kompensatorisch verstandene Feierabend-Erlösung: Funktion der Kunst sei ›innerweltliche Erlösung‹ vom »Alltag, und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus«.22 Hier kann Georges Werk nur noch denen als ›Religionsstiftungsversuch‹ bzw. als Gegenreligion erscheinen, die ihrerseits den Alltag oder den theoretischen und praktischen Rationalismus zur Religion erhoben haben. Ähnlich begrenzt Auerochs Georges Dichtung auf den Ausdruck lyrischer Subjektivität; dass sich Subjektivität in der Begegnung mit der Sprache entsubjektiviert und das dichterische Selbst mehr und anderes sein kann als die individuelle Person, wird nicht ernsthaft bedacht. Also sei auch »Verbindlichkeit im ethischen Sinne«, beim Rezipienten wie beim Dichter, »bloßer Schein, da der Kreis des eigenen Selbst an keiner Stelle überschritten« werde. »Die eigentliche Problematik einer Kunstreligion«, schließt der Autor, »scheint also darin zu liegen, daß es im Bereich der Kunst ein Analogon für ein religiöses Leben nicht gibt«.23 Die eigentliche Problematik liegt, wie gesagt, darin, dass ein solches Analogon gar nicht angestrebt wurde und auf einer unzureichenden Interpretation des Georgeschen Werkes beruht. Einerseits richtet Auerochs die Dichtung Georges verengend auf rein subjektiven Ausdruck aus, andererseits unterstellt er ihm, Georges eigenen Aussagen entgegen, religionsstiftende Absichten. Das Paradox, das so entsteht, ist einzig das der ins Werk projizierten Axiome. Allgemein wird also – allzu eilfertig ausgehend von der Präsenz von Gottes-, Ritual- und esoterischen Begriffen bzw. Elementen – ›Religion‹ im Werk Georges einfach behauptet und als solche _____________

22

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müsse«, »kein Argument dafür« biete, »daß die Rede von Offenbarung in Bezug auf Kunst legitim sei« (ebd., S. 509), fragt man sich allerdings, was man sich unter einem solchen ›Legitimitätsbeweis‹ vorzustellen habe und ob des Autors Auffassung von Religion (und Kunst) nicht in allzu starren Grenzen von äußerlicher Dogmatik einerseits und Religionskritik andererseits befangen ist. Weber, Max: Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung; in: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Photomechanischer Nachdruck der 1920 erschienenen Erstauflage. 9. Auflage. Tübingen 1988, S. 536-573, hier S. 555. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 108.

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dann nicht von ihren eigenen Voraussetzungen her begriffen, sondern an allzu hergebrachten Vorstellungen der vermeintlich traditionellen und wahren Religion gemessen, gegen die das dichterische Werk nur noch als ein hybrides pseudoreligiöses Machwerk erscheinen kann und soll. Breuer seinerseits hat seine Untersuchungen von Georges ›ästhetischem Fundamentalismus‹ ein paar Jahre später um Betrachtungen ›zur Religion Stefan Georges‹ ergänzt, die abermals den Dichter vor allem an den Kategorien der weberschen Religionssoziologie zu messen unternehmen. Der Soziologe zieht eine webersche Begriffsschublade nach der anderen, um sich am Ende zu wundern, dass George trotz aller Verzerrungen,24 die solches Vorgehen gezwungenermaßen mit sich bringt, in keine wirklich passt. Das führt ihn nun aber keineswegs dazu, die Tauglichkeit seiner Begriffe oder gar die anfängliche Behauptung, es handle sich um Religion, in Frage zu stellen, sondern, wie üblich, eher dazu, dem Dichter selbst konzeptuelles Ungenügen und »ein bisschen zu viel Widerspruch« zum Vorwurf zu machen.25 Das seit Webers – also auch Georges – Zeiten bestehende Anliegen, das Werk und Wollen des Dichters als Ersatzreligion zu brandmarken, ist in jüngerer Zeit von Thomas Karlaufs – ebenfalls auf einem systemati_____________ 24

25

Vgl. Breuer, Stefan: Zur Religion Stefan Georges; in: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Für die Stefan-George-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 225-239. − Indem Breuer z. B an der Idee einer ›Erlösungsreligion‹ festhält, verfällt er wieder einem, übrigens eher unsoziologischen, Psychologismus. Georges Kritik an der technischen Moderne, die die schöpferische Kraft und damit das Leben ersticke, wird als psychologisches Problem einiger ich-schwachen Individuen aufgefasst, aus dem ein persönliches Erlösungsbedürfnis und die entsprechende (Pseudo)-›Religion‹ hervorgegangen seien. Natürlich geht es Breuer dabei vor allem um den fragwürdigen, aber wiederum klassischen Vulgär-Soziologismus, d. h. um den Nachweis, dass man es »mit entwurzelten, politisch entmachteten Intellektuellen zu tun [habe], die ihr Bildungswissen zum Erlösungswissen erheben« (ebd., S. 235), was übrigens im Hinblick auf die Georgeaner falsch ist: Wenn sie überhaupt ›entmachtet‹ waren, was sich bestreiten ließe, dann als Konsequenz ihrer Ideen und nicht umgekehrt. Die Rede vom ›entmachteten Intellektuellen‹ ist kennzeichnend für das gelassene Selbstverständnis einer ›Wissenschaftlichkeit‹, der weniger webersche Wertfreiheit als die Apologie des Individualismus ihrer eigenen Gesellschaft zugrunde zu liegen scheint, in der sie sich allzu komfortabel eingerichtet hat: eine ›Soziologie‹ gewiss nicht ›politisch entmachteter‹, sondern im Heute fest ›verwurzelter‹ Intellektueller, was nicht die beste Voraussetzung für wissenschaftliche Objektivität und Erkenntnis sein könnte. Die offenkundige ideologische Parteilichkeit dieses Pseudo-Begriffes wird auch in den an Breuer anknüpfenden Ausführungen Dirk von Petersdorffs deutlich, für den schon sich »als Teil eines Übergeordneten Ganzen, als Teil eines großen Allgemeinen verstehen« zu wollen Indiz des ›ästhetischen Fundamentalismus‹ ist. Petersdorff macht sich konsequenterweise zum Fürsprecher der ›subjektivistischen Entwurzelung‹, als deren Überwinder Klaus Mann George sah, die der Kritiker aber als »Möglichkeit zur Selbstgestaltung« richtiger bezeichnet wähnt (Petersdorff: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist? (Anm. 8), S. 53). Breuer: Zur Religion (Anm. 24), S. 239.

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schen Verkennen von Georges Wirken beruhenden – Versuch abgelöst worden, das ›Geheimnis‹ des ›Geheimen Deutschland‹ als das von Georges angeblicher Homosexualität zu entlarven. Solche boulevardhaften und mediengesteuerten Ausrichtungen brauchen nicht wirklich ernst genommen zu werden (obwohl sie es leider werden) und tragen in Wirklichkeit nur dazu bei, den Zugang zum Werk zu verstellen und somit das (›schützende‹) Geheimnis, an welchem dem späten George lag, eher zu verstärken als zu entlarven.26 Diese ›Verabschiedungsgesten‹, um den Ausdruck Ernst Müllers noch einmal aufzugreifen, wurden zuallerletzt noch um die Bemühungen Ulrich Raulffs bereichert. In einem Buch, das unter anderem darauf zielt, den Leser davon zu überzeugen, dass mit 1968 das Nachleben Georges und der Idee des ›geheimen Deutschland‹ endgültig erloschen sei, kommt Raulff zu der nicht weiter begründeten Behauptung, die Verbindung zwischen dem 20. Juli und Stefan George sei reine ›Erfindung‹.27 George war sich durchaus bewusst, dass er gesellschaftlich auf verlorenem Posten stand. In Anlehnung an die Termini von Niklas Luhmanns Systemtheorie ließe sich das verkürzt so ausdrücken: Dichtung hat in traditionellen Kulturen den Anspruch eines Ganzsystems, ist aber in der Moderne höchstens noch als Teilsystem mehr schlecht als recht toleriert (wie es sich vor allem in der Beschränkung auf den Begriff der ›Ästhetik‹ ausdrückt) und strebt in Dichtern wie George wieder nach den alten Würden.28 Meistens wird ebenfalls die Systemtheorie dazu benutzt, George illegitimer Grenzüberschreitungen zwischen den Systemen zu zeihen (nicht nur zwischen Gesamt- und Teilsystem, sondern auch zwischen denen der Kunst, Religion, Politik oder Wissenschaft). Insofern würde sich zumindest erklären, warum George vom dichterischen Standpunkt aus die Gesamtgesellschaft in Frage stellt und herausfordert – er betont in der Tat immer wieder die Bedeutung des ›Gesamtgeistigen‹. So würde sich aber auch erklären, warum er anderen Ganzheitsansprüchen philosophischer, romantischer, religiöser Prove_____________ 26

27

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Zur ausführlichen Kritik an Thomas Karlaufs Stefan George. Die Entdeckung des Charisma (München 2007) vgl. Osthoff, Wolfgang / Pieger, Bruno: Eros und Ethos. Gegen Thomas Karlaufs George-Bild; in: Stefan George. Dichtung – Ethos − Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, herausgegeben von Bruno Pieger und Bertram Schefold. Berlin 2010, S. 457-495. Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009, S. 420. – Zur weniger journalistischen, weil mitunter philosophischeren Behandlung des Themas vgl. Riedel, Manfred: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln – Weimar − Wien 2006, sowie Bruno Piegers und Bertram Schefolds Sammelband (Anm. 26). Vgl. Müller, Harro: Ästhetischer Absolutismus I: Stefan George; in: Müller, Harro: Giftpfeile. Zu Theorie und Literatur der Moderne. Bielefeld 1994, S. 184-201.

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nienz kritisch gegenüberstand: nicht aus Konkurrenzdenken, wie von Pierre Bourdieu und ähnlichen Autoren inspirierte Soziologen bevorzugt glauben, sondern nur insofern diese Ansprüche das Dichterische, d. h. das Schöpferische, unberücksichtigt lassen. Dieses Anrecht auf Beurteilung des Gesamtgeistigen einer Gesamtgesellschaft gewinnt das Dichterische in dieser Sichtweise nicht aus Anmaßung, sondern aus seiner innersten Gesetzmäßigkeit. Hans-Georg Gadamer hat an George dargestellt, wie sich im Vers (als reinster Form des Schöpferisch-Gestalthaften) das Ganze als der Nomos, das Maß als das dem Menschen Ein- und Zugeteilte, vermittelt. Gegen Hegel und mit Heidegger erkennt Gadamer, dass das, »was als ein bloßer Nachhall einer ehedem unmittelbaren, religiös durchformten Kultur erscheinen konnte, in Wahrheit eine bleibende menschliche Grundaufgabe, eine Grundmöglichkeit des Menschen wahrnimmt«. In solchen Verhältnissen lasse sich, wie es die Blätter für die Kunst formulierten, das innere Schicksal eines Volkes ablesen.29 Man sieht also, dass es nützlich sein kann, zuerst das Dichterische als solches und in seiner Konkretion im Werk zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Hier sind Autoren wie Hölderlin und Heidegger – und in gewissem Maße in anthropologischer Perspektive gelesenes esoterisches Schrifttum – hilfreicher als Freud und Weber.

III. Heidegger und Hegels Spruch Im eben Skizzierten haben wir uns nicht vom Thema ›Kunstreligion‹ entfernt, sondern im Gegenteil eine Analogie zu Hegels Auffassung derselben berührt, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass dieser sie bekanntlich auf die Antike begrenzte. Heidegger – der in gewissem Sinne als der letzte Vertreter eines erweiterten ›Geheimen Deutschland‹ gelten kann,30 in dessen Zentrum der von George wiederentdeckte Hölderlin steht – zitiert im Nachwort zu seinem berühmten und für unser Thema zentralen Kunstwerk-Aufsatz mehrere diesbezügliche Stellen aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die dessen folgenreiche ›Verabschiedungsgeste‹ zum Ausdruck bringen: »Uns gilt die Kunst nicht mehr«, schreibt Hegel, »als die _____________ 29 30

Gadamer, Hans-Georg: Der Vers und das Ganze (1979): in: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Band 9: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug. Tübingen 1993, S. 249-257, hier S. 254 und 256. Vgl. Trawny, Peter: Und nie mein land den schatz gewann – Bemerkungen zu Heideggers George-Lektüre im Geheimen Deutschland; in: Pieger / Schefold: Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat (Anm. 26), S. 417-429.

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höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft«. »Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.« »In allen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«.31 Das bezeichnet natürlich die Trennung Hegels von Hölderlin, zugleich aber auch diejenige Heideggers von Hegel, da Heidegger betont, dass die Entscheidung über »Hegels Spruch« noch nicht gefallen sei: »denn hinter diesem Spruch steht das abendländische Denken seit den Griechen, welches Denken einer schon geschehenen Wahrheit des Seienden entspricht«.32 Für Heidegger steht demzufolge das »abendländische Denken seit den Griechen« nicht nur im Zeichen der Seinsvergessenheit, sondern − damit eng verbunden − auch der Kunst- bzw. Dichtungsvergessenheit, denn das Erscheinen der Schönheit ist für Heidegger untrennbar von der ›ins Werk gesetzten‹ Wahrheit, die er als »Unverborgenheit des Seienden« versteht.33 Da Wahrheit immer ins Werk gesetzte oder sich ins Werk setzende Wahrheit ist, wächst der Kunst, und der Dichtung in diesem erweiterten Sinne als ihr zugrunde liegendem Prinzip, epochaler, ja epochenstiftender Charakter zu. Was für jede Epoche ›Sein‹ heißt, wird von der Kunst ins Werk gesetzt als ›Feststellung‹ der Wahrheit in die Gestalt. Auf diese Art und Weise bestimmt Heidegger das geschichtliche Wesen der Kunst und findet zu der − isoliert betrachtet hyperbolisch wirkenden – Formel: »Die Kunst ist Geschichte in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichte gründet«34 (und zwar nicht nur die ›Kunstgeschichte‹ im engeren Sinn). In Georges Jahrhundertspruch drückt sich Verwandtes aus: »[…] für zehntausend münder | Hält nur einer das maass. In jeder ewe | Ist nur ein gott und einer nur sein künder«.35 Heidegger trifft sich mit George und der Vorstellung des ›Geheimen Deutschland‹ vor allem darin, dass er den Wahrheitsgehalt von Hegels ›Spruch‹ für die Nachantike anerkennt, dessen Gültigkeit für die Zukunft aber, vor allem dank Hölderlin, noch als offen begreift. In durchaus ver_____________ 31

32 33 34 35

Heidegger, Martin: Holzwege. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. 7., durchgesehene Auflage. Frankfurt/M. 1994, S. 68. − Dass Hegel hier an Stelle von ›Wahrheit‹ genauso gut das ›Göttliche‹ hätte setzen können und somit diese Stellen durchaus als Aussagen zur ›Kunstreligion‹ verstanden werden müssen, belegt auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukács. Herausgegeben von Friedrich Bassenge. Band I. 2. Auflage. Berlin – Weimar 1955, S. 54-57. Heidegger: Holzwege (Anm. 31), S. 68. Heidegger: Holzwege (Anm. 31), S. 68f. Heidegger: Holzwege (Anm. 31), S. 65. George, Stefan: Jahrhundertspruch; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von der Stefan George Stiftung. Band VI/VII: Der Siebente Ring. Stuttgart 1986, S. 182.

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wandtem Sinne hat George behauptet, dass das Dichterische nur einmal mächtig gewesen sei (zur Zeit der Griechen), und die Gottesidee Ludwig Feuerbachs (in der die neuzeitliche kulminiert) andererseits mit Nachdruck von der griechischen unterschieden – eine Unterscheidung, auf die Heidegger im Nachwort zu seinem Kunstwerk-Aufsatz ebenfalls eingeht.36 Die Entscheidung über Hegels Spruch steht also für Heidegger – der Hölderlin, wie man weiß, als ein »Schicksal für die Deutschen« betrachtete, dem diese noch nicht entsprechen37 – noch aus. Auch für George ist die Frage, wie sich die Deutschen zu Hölderlin – und damit zur Dichtung im soeben skizzierten wesenhaften Verständnis – stellen, immer noch offen, doch ist sein Akzent optimistischer. In der Lobrede auf den schwäbischen Dichter spricht er diesen als »eckstein der nächsten deutschen zukunft« und »rufer des Neuen Gottes«38 an; im Stern des Bundes apostrophiert er ihn als »hehren Ahnen«, den »scheu« noch nicht nennen soll.39 Um der Natur dieses Gottes gerecht zu werden, ist es ratsam, anstatt in vorgefertigten religionssoziologischen Kategorien zu räsonieren, Heideggers Aufforderung zu folgen und »den Werkcharakter des Werkes in den Blick zu bringen«.40 Diese Vorgehensweise bringt keine neuen Lösungen für vermeintliche Probleme und wird den ›Rätsel‹-Charakter des Ins-Werk-Setzens nicht erklärend aufheben, sondern bestenfalls vertiefen. Dennoch sollte noch einmal an die oben ausgeführte kritische Unterscheidung erinnert werden. Zwar verwendet Hegel den Begriff ›Kunstreligion‹, und Heidegger wie George sprechen vom neuen Gott. Trotzdem ist Hegels Gebrauch von der neueren, oft polemischen Begriffsverwendung zu unterscheiden. Wenn z. B. Auerochs, wie gesehen, die Kunstreligion als Säkularisierung der positiven Offenbarungsreligionen mit ihren autoritativen ›letzten Wahrheiten‹ auffasst,41 so trifft diese Definition vielleicht auf Hegels Philosophie des absoluten Geistes selbst zu, die nicht _____________ 36

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»›Die Frage, ob Gott eine Hypothese ist oder ob er existiert, ist gar keine Frage. Das ist völlig gleichgültig. Worauf es ankommt, das ist allein der Mensch. Wie der Mensch, so sein Gott.‹ Ich meinte, das könnte man materialistisch, Feuerbachisch deuten. ›Es ist heut alles anders, es ist weder wie im Mittelalter noch wie in der Renaissance. Die einzige Analogie ist mit der Antike‹« (Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf – München 1963, S. 103f.). Vgl. Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 6. Auflage. Frankfurt/M. 1996, S. 7f. George, Stefan: Hölderlin [Lobrede]; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von der Stefan George Stiftung. Band XVII: Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen. Stuttgart 1998, S. 58-60, hier S. 60. George, Stefan: Hier schließt das tor; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von der Stefan George Stiftung. Band VIII: Der Stern des Bundes. Stuttgart 1993, S. 100. Heidegger: Holzwege (Anm. 31), S. 69. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 511.

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von ungefähr als Theologie bezeichnet werden konnte, jedoch kaum auf seine Auffassung von ›Kunstreligion‹, auf die Heidegger rekurriert. Kunstreligion ist für Hegel vor allem ein überwundener, vorchristlicher Modus des Erscheinens der Wahrheit und damit historisiert. Heidegger setzt der »schon geschehenen Wahrheit des Seienden« die Wahrheit als ›Unverborgenheit des Seins‹ entgegen und postuliert die Geschichtlichkeit der Seinsgeschichte. Sowohl Hegels Antike-Bezug als auch Heideggers Fortführung und Offenhaltung des Hegelschen Gedankens zeigen deutlich, dass weder die ›positiven Offenbarungsreligionen‹ noch die Vorstellung einer ›letzten Wahrheit‹ den richtigen Maßstab für diese Art der ›Kunstreligion‹ liefern können. Wir glauben nicht Heideggers Denken zu verzerren, wenn wir seiner Vorstellung von einer geschichtlichen, jeweils sich epochestiftend ins Werk setzenden Wahrheit als, ebenfalls jeweilige, Unverborgenheit des Seins, einen viel einfacheren und bescheideneren Ausspruch Georges gegenüberstellen, den Robert Boehringer in den auf Erinnerungen beruhenden Dialogen Ewiger Augenblick überliefert hat. Er erlaubt es außerdem, die Tragfähigkeit der eben erwähnten Definition von Kunstreligion durch Auerochs für den Fall George in Frage zu stellen: »Es gibt keine ewige wahrheit. Für menschen gibt sie’s nicht. Die ewigkeit ist nur darum so beliebt, weil sie so billig ist. Man hört da keine antwort«. Und etwas später abermals: »Für mich gibt es keine wahrheit immer und überall. Was an dieser wegbiege notwendig scheint, getreulich wiedergeben. Ums andre sorgt nicht viel das Neue Leben« [Hervorhebung L. L.].42 Dieser Ausspruch bietet in der Tat einen Schlüssel zum sogenannten Maximin-Mythos, auf den sich ja alle kunstreligiösen Untersuchungen von Georges Werk stützen, worauf wir hier aber nicht detailliert eingehen können.43 Die Redewendung, dass sich ›ums andre‹ - um die Fragen nach den vermeintlich ›ewigen‹ und ›letzten Wahrheiten‹ bzw. um das, was man ›traditionell‹ unter Religion versteht - das ›Neue Leben‹ nicht viel zu kümmern habe, ist entscheidend. Solche Fragen bleiben für George Spekulationen, die die menschliche Kompetenz und selbst die menschlichen Belange überschreiten; sie sind also fast müßig, wenn nicht gar illegitim, da sie davon abhalten, das Göttliche im Sinnlichen zu sehen, was George »heidnisch« sein nennt.44 Was Jehovah plane, sagt er andernorts, gehe ihn nichts an; ihm selber helfe das »künstlerische«, das »auf beschränkung« _____________ 42 43 44

Boehringer, Robert: Ewiger Augenblick. Düsseldorf -München 1965, S. 10. Vgl. Lehnen, Ludwig: Mallarmé et Stefan George. Politiques de la poésie à l’époque du symbolisme. Paris 2010. Boehringer: Ewiger Augenblick (Anm. 42), S. 33.

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gehe.45 Auf die eigentlich religiösen Bedürfnisse (oder was man gemeinhin darunter versteht) kann sein Werk keine Antwort geben, auch wenn es manchmal – besonders im Erscheinen des ›Gottes‹ Maximin – den Anschein hat. Man kann also nur in die Irre gehen, wenn man die christologischen Züge des letzteren am Maßstab der Offenbarungsreligionen misst, ohne ihre bewusst ›heidnisch‹-dichterische, umdeutende Anverwandlung wahrzunehmen. Georges holländischer Dichterfreund Albert Verwey nahm bekanntlich Anstoß am Maximin-Mythos des Siebenten Ring und behauptete gerne, dass er durch den Umgang mit George belegen könne, dass die Konzeption ›Maximin‹ dem Erscheinen Maximilian Kronbergers im Leben Georges vorausgegangen sei. Der Dichter antwortet ihm in einer Reihe von Spruch-Gedichten in Das Neue Reich. Das dritte der fünf Gedichte bezieht sich auf den Maximin-Mythos und die Zweifel, die er bei Verwey hervorgerufen hat: ›Hier ist der schnitt – hier kann Ich nicht mehr glauben‹ Was? Was ihr berget? Was ihr offen sagt? Dass nochmals wachstum bricht aus toten-welten.. Das andre – Dichter! sei dem dichter leicht.46

Einzig zählt, dass noch einmal Wachstum aus toten Welten bricht, d. h. das Schöpferische sich frei behaupten kann. »Das andre« – hier finden wir den Ausdruck aus Ewiger Augenblick wieder: die konkrete dichterische Gestaltung Maximins und die Verwey ›religiös‹ und heidnisch anmutenden Züge, an denen sich der solide Protestant gestoßen hat (ferner aber auch Verweys eigenes Spekulieren über die genaue Art der Göttlichkeit Maximins: ob er mehr Dichtung, Konzept oder vom Himmel kommender Messias sei) – »sei dem dichter leicht«, ist also (im oberflächlichen Sinne) ›dichterisches‹ Beiwerk oder nur äußere Spekulation, die den Kern verfehlt. Dieser dichterische Kern, der sich bei George als aus toten Welten brechendes Wachstum ausdrückt, muss also in der Untersuchung des Verhältnisses von Dichtung und Religion in den Werken Mallarmés und Georges genauer gefasst werden, bevor man entscheidet, ob es sich bei deren ›Kunstreligion‹ um eine illizite und von Anfang an zum ›Scheitern‹ _____________ 45 46

Boehringer: Ewiger Augenblick (Anm. 42), S. 34, und Landmann: Gespräche mit Stefan George (Anm. 36), S. 196. George, Stefan: Verwey [Sprüche]; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von der Stefan George Stiftung. Band IX: Das neue Reich. Stuttgart 2001, S. 81f. – Im Gegensatz zu Osthoff / Pieger, die diesen Vers eher am Rande erwähnen, ist zu betonen, dass auch der vierte Vers eindeutig, im Zusammenhang des ganzen dritten Gedichtes, auf den Maximin-Mythos zu beziehen ist und nicht etwa auf die Zeitumstände, den Ersten Weltkrieg etc., worauf die anderen vier Gedichte anspielen (vgl. Osthoff/ Pieger: Eros und Ethos (Anm. 26), S. 492). - Dass George den Weltkrieg als Dichter ›leicht‹ genommen hätte, ist kaum anzunehmen.

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verurteilte Übertragung von religiösen Ansprüchen der Offenbarungsreligionen handelt oder ob die Versetzung der Kunstreligion durch Hegel in die Antike nicht auch insofern Berechtigung besitzt, als sie bei Mallarmé, Hölderlin, George und Heidegger eindeutig anti- oder a-christliche, anti- oder a-moderne und ›heidnische‹ Züge ›offenbart‹.

IV. ›Religion‹ bei Mallarmé und George Es verwundert nach dem bisher Skizzierten wenig, dass beide Dichter (und George dezidierter noch als Mallarmé) den Begriff der Religion im herkömmlichen Sinne streng von dem der Dichtung trennen. Über Religion in deren Verhältnis zur Kunst äußern sie sich sehr ähnlich. Mallarmé bezeichnet zum Beispiel die traditionelle Religion als »un moyen offert à tous de se passer de l′art«.47 Für George bleibt gleichermaßen die Religion »für diejenigen, an denen die ästhetische Bildung verloren ist«.48 Die Religion enthalte aber die Kunst, führt Mallarmé weiter aus, jedoch nur in ›embryonärem Zustand‹. Diese Grunderkenntnis des französischen Dichters hat schon Hölderlin formuliert: »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poëtisch«.49 Rein trete, fährt Mallarmé fort, die Kunst erst unabhängig vom Einfluss der Religion hervor. George behauptet ähnlich, dass das Dichterische dem Religiösen im traditionellen Sinn entgegenstehe. Auch hier ist die Religion für ›alle‹, die Masse; »die Religion«, betont er, »ist demokratisch, sie findet für jeden ein Unterkommen, weist jedem seinen Platz, und dies gibt die Befriedigung, aber eine künstlerische Natur würde da ihr Genügen nicht finden«.50 Meistens beziehen sich Georges Abgrenzungen auf die christliche Religion, und er legt Wert auf die Fest-

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Mallarmé, Stéphane: Sur le rôle de l’Art selon Tolstoï; in: Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. Band II. Paris 2003, S. 670f., hier S. 671. Landmann: Gespräche mit Stefan George (Anm. 36), S. 166. Hölderlin, Friedrich: ; in: Hölderlin Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe II. Herausgegeben von Michael Knaupp. München – Wien 1992, S. 51-57, hier S. 57. – Hölderlin fährt an dieser Stelle fort: »Hier kann nun noch gesprochen werden über die Vereinigung mehrerer zu einer Religion, wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren, wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben, die Feier des Lebens mythisch feiern«. Landmann: Gespräche mit Stefan George (Anm. 36), S. 178.

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stellung, dass man nicht gleichzeitig Christ und Dichter sein könne, denn Dichten sei »eine unchristliche Aktion«.51 Doch darüber hinaus weist George, der ausdrücklich vom ›Neuen Gott‹ spricht und dessen religiöser Sprachgebrauch geradezu überdeutlich ist, allgemein den Begriff der ›Religiosität‹ für sein Werk zurück, weil er ihm als eine Vereinfachung und Verharmlosung erschien. Berthold Vallentin berichtet von Georges Reaktion auf die Würdigungen, die 1928 zu seinen Ehren in der Revue d’Allemagne erschienen waren: die Franzosen hätten sich sehr geschickt aus der Affäre gezogen. Sie wüssten, wie man es mache, das Unheimliche und Unsagbare sagbar zu machen. So hätten sie ihn, […], auf die Formel der Religiosität gebracht. Sie sprächen von dem Göttlichen, das nur der Dichter sehe. Auf diese Weise finden sie sich ganz gut mit [ihm] ab, ohne auf das Eigentliche eingehen zu müssen, was für die Franzosen unfassbar sei. Sie finden eben die für ihre Sprache und Art passende Formel, wenn sie hier von dem Göttlichen, das der Dichter sähe, sprechen. Damit vermeiden sie eine Auseinandersetzung über den eigentlichen Gegenstand.52

Natürlich ist der ›eigentliche Gegenstand‹ nicht irgendein vermeintlicher Maximin-Kult, für den die − zumal homosexuelle − Formel ja noch einfacher zu finden wäre als für das ›Göttliche‹; es ist vielmehr, wie George selbst ausdrückt, das »Unheimliche und Unsagbare«, das für ihn nicht in der Formel des ›Religiösen‹ oder ›Göttlichen‹ aufgehen kann. Die Kritik reagiert gerne misstrauisch auf solche Aussagen: George wolle um jeden Preis die Aura des ›Geheimnisses‹ wahren, was in der Zeit von Gottes Tod ja nur als ›imposture‹ gelten könne. Doch genau das war für George das nicht zu überschätzende Verdienst Mallarmés, des letzten französischen Urdichters, wie er ihn nannte.53 Natürlich ist der Begriff des Geheimnisses (›le mystère‹), den Mallarmé vertritt, ebenfalls dem reduktionistischen Furor der Kritik ausgesetzt. So behauptet etwa der Philosoph Jacques Rancière, das Geheimnis Mallarmés habe vor allem ›nichts _____________ 51

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»Das Mittelalter hat keinen Dichter. Es konnte keinen Dichter haben – warum? Weil es keinen christlichen Dichter gibt. Man kann nicht christlich dichten. Wenn man dichtet, ist man kein Christ. Dichten ist eine unchristliche Aktion. Dabei bleibts« (Landmann: Gespräche mit Stefan George (Anm. 36), S. 42). Vallentin, Berthold: Gespräche mit Stefan George 1902-1932. Tagebuchaufzeichnungen; in: Castrvm Peregrini 44-45 (1960), S. 110. – Aus anderen Äußerungen geht hervor, dass den Franzosen − abgesehen höchstens von Baudelaire und Mallarmé (in Georges Augen der erste bzw. der letzte ›wahre Dichter‹ Frankreichs – der Begriff des ›Urdichters‹ fremd sei; insofern wird auch hier das äußerlich als religiös Erscheinende von George an das genuin Dichterische zurückgebunden (vgl. ebd., S. 56); vgl. außerdem Thormaehlen, Ludwig: Erinnerungen an Stefan George. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Walther Greischel. Hamburg 1962, S. 25. Vgl. George, Stefan: Mallarmé [Lobrede]; in: George: Tage und Taten (Anm. 38), S. 46-48, hier S. 48.

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Geheimnisvolles‹ an sich.54 Wir gestehen, dass uns Heideggers Behutsamkeit, »das Rätsel, das die Kunst […] ist«, anzugehen, etwas philosophischer vorkommt: »Der Anspruch liegt fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen«.55 Bei Mallarmé liegt das Rätsel im Bereich der ›Quelle‹, des ›Ursprungs‹, der ›Seele‹ und der ›Sprache‹.56 Es ist das gleiche Geheimnis, das die Dichtung in der Sprache verwaltet und den Religionen im ›embryonären Zustand‹ zugrunde liegt. Dieses Geheimnis zu schützen bemüht sich Mallarmés erster berühmter Prosa-Text aus dem Jahre 1862: Hérésies artistiques. L’Art pour tous.57 Er ist eine zornige und polemische Verteidigungsschrift für das Esoterische der Dichtkunst, das in der modernen Massendemokratie, wo alles von allen beurteilt werde, der Gefahr der Profanierung ausgesetzt sei. Esoterisch sei Dichtung von Natur aus, da nur wenige den Sinn für das Schöne hätten. So lautete auch Georges kunstpolitische Hauptdevise: ›Urteil erfordert Rang‹. Und Friedrich Wolters schreibt in den Richtlinien: Das edelste ist zart, offenbart sich der menge nur im gleichnis und sucht sein geheimstes im kreis der mitschaffenden zu bewahren, solange es kann. Es schafft durch sein wesen selbst notwendig ein esoterisches und ein exoterisches, und eine zeit die für alles die ›breiteste öffentlichkeit‹ verlangt besagt, dass sie kein edles zu hüten hat.58

Diese Lehre ruft auch Georges Gedicht Der Teppich in Erinnerung, wo die »lösung« des ›rätsels‹ »kein schatz der gilde« ist: »Sie wird den vielen nie und nie durch rede | Sie wird den seltnen selten im gebilde«.59 Mallarmé wird dieser Demokratie-Verachtung aus Sicht des Künstlers sein Leben lang treu bleiben.60 Doch beschränken sich seine Gedanken über das _____________ 54 55 56

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Rancière, Jacques: Mallarmé. La politique de la sirène. Paris 1996, S. 31. Heidegger: Holzwege (Anm. 31), S. 67. Selbstverständlich darf man das nicht mit dem Sprachmonismus verwechseln, den die Kritik ihm gerne zuschreibt. Mallarmés einzige explizite ›définition‹ der Dichtung, die sich im Brief an Léo d’Orfer vom 27. Juni 1884 findet, lautet: »La Poésie est l’expression, par le langage humain ramené à son rythme essentiel, du sens mystérieux des aspects de l’existence« (Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. Band I. Paris 1998, S. 782). Mallarmé, Stéphane: Hérésies artistiques. L’Art pour tous; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 360-364. Wolters, Friedrich: Richtlinien; in: Jahrbuch für die geistige Bewegung. Herausgegeben von Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf. Band 1. Berlin 1910, S. 128-145, hier S. 138 George, Stefan: Der Teppich; in: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von der Stefan George Stiftung. Band V: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Stuttgart 1984, S. 36. Vgl. Mallarmés La Cour und Sauvegarde; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 264-272. − Dass George den Standpunkt vertrat, Demokratie habe ›im geistigen Bereich‹ nichts zu suchen, dürfte genügend bekannt sein (vgl. Salin, Edgar: Um Stefan George. Godesberg 1948, S. 47). Da sich George nicht zur Politik äußert, sondern die Übertragung

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Mysterium der Dichtung nicht auf die notwendige äußere Schutzfunktion gegen den profanum vulgus. Das Geheimnis hängt tiefer mit der NichtDiskursivität dichterischen Sagens und seinem »gebilde«-Charakter zusammen, und ist auch für ihn »nach willen nicht«, wie George im TeppichGedicht schreibt. Der französische Dichter findet erst in den Krisen-Jahren zu seiner endgültigen Auffassung vom Vers. Diese Krise ist keine des Nihilismus, zumindest nicht dauerhaft. Mallarmé fällt vom Glauben an den christlichen Schöpfergott und die unsterbliche Seele ab, entdeckt das ›Nichts‹ hinter den Hypostasen der Transzendenz und findet von dort, wie Kurt Wais mit Recht hervorgehoben hat, zu einem neuen ›Glauben‹: dem Glauben an die ›Göttlichkeit‹ des ›irdischen Himmels‹ und an die ›Schönheit‹.61 Der ideale Mensch erscheint ihm jetzt als »la nature se pensant«, in der das Universum (oder die Ewigkeit) zum Bewusstsein seiner selbst gelange.62 Mallarmé gründet das Mysterium der Dichtung also weiterhin auf etwas anderes als eine bloße Fiktion; er sieht darin einen »instinct de ciel« am Werk und die Vermittlungssubstanz mit diesem. Die Buchstaben-, Wort-, Vers- und Buch-Konzeption – ebenso die des Mysterien-Spiels Hérodiade, das sich um den hieros gamos dreht – kann hier nicht genauer dargestellt werden. Nur eine wenig bekannte Aussage aus Mallarmés Besprechung der Gedichte von Léon Dierx aus dem Jahr 1872 sei zitiert, weil hier sein Vers-Verständnis angesprochen wird: »Il faut maintenant parler du Vers, afin de savoir si cette âme par nous définie, mais apte, cependant, à nous surprendre encore par des échappées rares et inattendues, aura trouvé l’expression qui s’impose de soi et directement à l’Éternité, dans un temps où il n’y a pas d’intermédiaire humain pour l’y apporter«63 − der Vers scheint also die Stelle des Mittlers zwischen dem Selbst und der Ewigkeit einzunehmen. In den letzten Notizen zum ›Buch‹-Projekt finden sich die elliptischen Notizen, die Mallarmés Geheimnis der Dichtung festhalten und zur Gleichung Vers = Selbst = Engel tendieren.64 Eine eingehende poetologische Analyse von Georges Vorspiel-Gedichten, _____________

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und Erweiterung des ursprünglich politischen Prinzips auf alle Bereiche des Lebens, also auch die geistigen und intimen, kritisiert, handelt es sich genauer um Demokratismus- statt um Demokratie-Kritik. Stéphane Mallarmé an Henri Cazalis, 3. 4. 1870; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 753f., hier S. 753. Vgl. Stéphane Mallarmé an Eugène Lefébure, 27. 3. 1867; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 716-721, hier S. 720. Mallarmé, Stéphane: L’Œuvre Poétique de Léon Dierx; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 403-409, hier S. 405. Vgl. Mallarmé, Stéphane: Notes en vue du Livre; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 547-626.

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in denen der Engel als abstrakte Präfiguration von Maximin auftritt, könnte leicht Verstheorie und religiöse Motivik an Mallarmé anknüpfend verbinden. Mallarmés Verhältnis zur Religion ist daher, wie oben erwähnt, das einer relativen (prinzipiellen, aber nicht konkreten) Rivalität. Um sich frei zu entfalten, muss das dichterische Prinzip sich ungehemmt vom religiösen Dogma äußern, so auch in einer nachchristlichen Religion. In allen Religionen ist für Mallarmé ein dichterisch-anthropologisches Urprinzip am Werk, das George die ›traumfähigkeit‹ nennen wird. Daher sei es nur Gerechtigkeit, wenn zur Zeit der Dekadenz instituierter Religionen die Dichtung sich das liturgische Gut als angestammtes Erbgut wieder einverleibe (besser: zurückerobere): »exclusivement notre bien propre ou originel«.65 Am Ende von Catholicisme entwirft Mallarmé die Aussicht auf eine religiöse Neugeburt: Wenn man sich das auch nicht vereinfachend als ›Kunstreligion‹ vorstellen darf, ist doch sicher, dass eine neue Religion nur aus ›der Quelle‹ kommen könne, seelen- und wohl auch sprachgebunden sei und demnach vom dichterischen Prinzip mit abhänge. Viel Konkreteres lässt sich, zumindest auf gesellschaftlicher Ebene, kaum erkennen. Sehr aufschlussreich ist aber Mallarmés − an einer Stelle über die hypothetische ›künftige Religion in Frankreich‹66 durch die Textvorstufen nachweisbares − terminologisches Zögern zwischen ›religion d’état‹ und ›religion d’art‹.67 Doch selbst hier, wo der Begriff ›Kunstreligion‹ wörtlich vorkommt, allerdings dann doch zugunsten des einfachen ›religion‹ verworfen wird, muss nicht angenommen werden, dass die Kunst selber Gegenstand des Kultus sei, sondern nur, dass der Kultus wieder dem ›principe d’art‹ gemäß sei, d. h. allein aus der schöpferischen Quelle hervorgehen könne. La Littérature de tout à l’heure, das einflussreiche theoretische Werk von Mallarmés Schüler Charles Morice, enthält einige nützliche begriffliche Zuspitzungen der Prämissen seines Meisters und eröffnet auch für George und seine Schüler eine erhellende Perspektive. So ›definiert‹ Morice, begrifflich ungehemmter als Mallarmé, Gott als »la perfection correspondante aux splendeurs de nos rêves« und das Absolute als nur in unseren ›désirs‹ Wirklichkeit erlangend. George antwortet im Stern des Bundes auf die sich selbst gestellte Frage »Wer ist dein Gott?« mit »All meines traums begehr«: Es ist ein Gott, den »neue mitte aus dem geist gebar«.68 Ferner ist _____________ 65 66 67 68

Mallarmé, Stéphane: Catholicisme; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 238242, hier S. 242. Vgl. Mallarmé, Stéphane: La Musique et les Lettres; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 62-77, hier S. 74. Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 1609 (Anm. ›e‹). George, Stefan: Wer ist dein Gott; in: George: Der Stern des Bundes (Anm. 39), S. 16.

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für Morice die neue Dichtung ein ›bewusstes Zurückgehen an die Quellen der Sprache und der Mythen‹, und er postuliert ein ›anthropomorphes Gottesideal‹, das der ›Logik des unüberwindbaren anthropomorphen Zirkels‹ gehorcht.69 Die auch bei Mallarmé zentrale Typus-Vorstellung wird daraus hervorgehend als »le lien des esprits, le point d’intersection où deux parallèles se rencontreraient, l’achèvement de nos velléités« und »la cause première et universelle, la fin finale et universelle« gefasst.70 In der Sprache schöpft, Mallarmé zufolge, die Dichtung am Quell des Ursprünglichen und bewirkt in der dichterischen Hierophanie das ›Mysterium‹ des ›gegenseitigen Beweises‹ von Mensch und ›authentischem Ort‹ des Seins als ›orphischer Erklärung der Erde‹.71 Man kann es eine Resakralisierung der Erde im Bewusstsein nennen und zugleich – um mit Henry Corbin und Gilbert Durand zu sprechen − eine ›Wiedereroberung des Imaginalen‹.72 Wie ein solches Zurückversetzen der Erde in einen paradiesischen Zustand durch die dichterische Transfiguration im Wort (die oft missverstandene dichterische ›divine transposition‹ in die ›notion pure‹) und im Bewusstsein aussähe, zeigt zum Beispiel das Eingangsgedicht zum Dritten Buch von Der Stern des Bundes, dem in der an Dantes Divina Commedia angelehnten Struktur des Gedichtbandes besondere Bedeutung zukommt, da es als das Eingangsgedicht des ›Paradiso‹ erscheint: eines Paradieses also, das keiner festgeschriebenen absoluten Transzendenz entspricht, sondern vielmehr dem Mesokosmos einer redynamisierten immanenten Transzendenz oder transzendenten Immanenz, der ebenfalls − wie Ernst Kantorowicz ausführt − der ontologische Ort des ›Geheimen Deutschland‹ und der methodologische Kern von Bertrams LegendenKonzeption ist.73

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Vgl. Morice, Charles: La littérature de tout à l’heure. Paris 1889, S. 24, 67 und 28. Morice: La littérature de tout à l’heure (Anm. 69), S. 30f. (Anm. 1). Vgl. Mallarmés Richard Wagner, La Musique et les Lettres und Lettre autobiographique. Vgl. Durand, Gilbert: La reconquête de l’Imaginal (Vorwort zu Corbin, Henry: Face de Dieu, face de l’homme. Herméneutique et soufisme. Paris 2008, S. 9-24). »Es ist ein Reich zugleich von dieser und nicht von dieser Welt.. ein Reich zugleich da und nicht da.. ein Reich zugleich der Toten und der Lebenden, das sich wandelt und dennoch ewig ist und unsterblich – gelenkt von seinen Kaisern und einem Adel, welcher sich nicht aus Zeugungsregeln, sondern durch die Zeugung geheimster Mächte erneuert und somit dem Wirken der Faten noch Raum lässt [Hervorhebung L. L.]« (Kantorowicz, Ernst: Das Geheime Deutschland; in: George-Jahrbuch. Band 3 (2000/2001). Im Auftrag der StefanGeorge-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann. Tübingen 2000, S. 156-175, hier S. 16).

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V. Wolters, das Esoterische und das »Eine das von je war« Es gibt in den Schriften aus dem George-Kreis einige besonders eindringliche Stellen, bei denen deutlich wird, dass sie sich als mehr oder weniger definitive Klarstellung zum Thema ›Religion‹ verstehen. Da sind einmal die Aussagen über das ›Hellenische Wunder‹ in den Blättern für die Kunst sowie die Aphorismen-Folge Über das Feststehende und die Denkformen; ähnlicher Stellenwert kommt einem Passus in Friedrich Wolters’ berühmter ›Blättergeschichte‹ zu, der ihm vom Dichter direkt zudiktiert worden zu sein scheint. Der Hellenist Walter F. Otto schreibt: »Für den Griechen der großen Zeit bedeutet das Schöne die Blüte und Melodie des Wesens, in der das Göttliche sich offenbart, dem alles Leben entquillt«.74 Ähnlich beschreibt Wolters Georges ›Begegnung mit Maximin‹, wobei der Dichter souffliert haben wird. Die Beschreibung seiner Genese – also der Gottgeburt oder Theophanie – ähnelt nicht von ungefähr der des Gedichts, wie sie in vielen Versen Georges selbst beschrieben wird: »Durch die Straßen dieser Stadt [München] gehend hörte George um die Jahrhundertwende einen Ton in seinem Innern, der ihn tief betraf«.75 Hier nimmt Maximin seinen Ausgang, d. h. im schöpferischen Selbst. Etwas später wird hervorgehoben, dass in der sich so ankündigenden Begegnung mit dem Göttlichen der Empfangende mit dem Zeugenden gleicher Artung sein [muss], erst aus beider Kraft wird das ewige Bild ins Irdische geboren und ohne die innere Bereitschaft hätte George den neuen Kömmling nicht gesehen [und könnte man fast hinzufügen: hätte es ihn nicht gegeben], ohne den heldischen Ruf hätte er ihn so nicht sehen können.76

Diesen Vorgang des hieros gamos beschreiben und thematisieren zahlreiche Gedichte vorbereitend im Vorspiel, in wohlüberlegter Komposition im Siebenten Ring und im Stern des Bundes – oder vielmehr sie setzen ihn, nachträglich erst, ins Werk. Dass George hier, bewusst oder nicht, an uraltes esoterisches Wissen anknüpft, ist offensichtlich. Die Bedeutung der ›imagination créatrice‹ im esoterischen Schrifttum wurde von Autoren wie _____________ 74 75 76

Otto, Walter F.: Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit. Düsseldorf – Köln 1955, S. 288. Wolters, Friedrich: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930, S. 310. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 75), S. 310.

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Henry Corbin und Antoine Faivre77 hervorgehoben. Allgemein kann man die Esoterik als eine Reaktion auf den vom ›naiven Bewusstsein‹ (Henry Corbin) zur ›metaphysischen Idolatrie‹ verfestigten dogmatischen Monotheismus verstehen, beruhend auf der Verwechslung der Einheit des Einen, derjenigen des Seins, mit der Vielfalt ihrer Theophanien im Seienden, darin Heideggers ontologischer Unterscheidung vergleichbar, in der das Sein vom Absoluten (das ›Seiendste Seiende‹) unterschieden werden muss.78 Der absoluten Transzendenz gegenüber, die zur Entgöttlichung der Welt und reinen Hypostasierung des Göttlichen führt, wird die Vermittlerfunktion aufgewertet: der ›médiateur plastique‹ bei Éliphas Lévi, der ›plastische gott‹ bei George. Bei Goethe findet man ähnliche Vorstellungen, wenn er Plotin kommentiert: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, | Wie könnten wir das Licht erblicken? | Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, | Wie könnt uns Göttliches entzücken?«.79 An das Göttliche glauben nur die, die es selber sind, heißt es bei Hölderlin.80 Die Bezugnahme auf die Vorstellung der ›integralen Überlieferung‹, wie sie zum Beispiel Wolfgang Frommel stellenweise vornimmt, ist insofern berechtigt, als sich hier synkretistisch die griechische Gestalt-Idee mit der johanneischen Schöpfungs- (der Mensch als Ebenbild ist auch Schöpfer) und Inkarnationslehre durch das Wort, den logos, verbindet und George sie in den Maximin-Gedichten wohl bewusst verwendet. Jacob Böhme beschreibt das Schwangerwerden durch das Wort Gottes kraft der Imagination, aus der die Menschwerdung Gottes hervorgeht.81 Und schließlich erscheint Christus selbst bei Hölderlin als letzter Olympier und insofern auch als Wahrer der Überlieferung und Künder ihrer Rückkehr. Wer einmal die Tiefe dieser Zusammenhänge erkannt hat, kann den modernen Begriff der Kunstreligion, sofern er an die Orthodoxie der Offenbarungsreligionen angelehnt ist, nur als ungenügend betrachten und muss Wolfgang Frommel recht geben, wenn er hervorhebt, dass der MaximinMythos von den Zeitgenossen als absurd empfunden wird, weil sie »längst aller Kategorien religiöser Erfahrung verlustig« sind und rein ›psychologi_____________ 77 78 79

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Vgl. Faivre, Antoine: Accès de l’ésotérisme occidental. Paris 1996. Vgl. Corbin, Henry: Le Paradoxe du monothéisme. Paris 1981. Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil; in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band XIII: Naturwissenschaftliche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. Mit einem Essay von Carl Friedrich von Weizsäcker. München 1981, S. 314-523, hier S. 324. Zu solchen Zusammenhängen, von den Apokryphen und der Orphik bis zu Bezügen zur ›integralen Überlieferung‹ reichend, vgl. am ausführlichsten Frommel, Wolfgang: Templer und Rosenkreuz. Ein Traktat zur Christologie Stefan Georges. Amsterdam 1991, S. 203. Frommel: Templer und Rosenkreuz (Anm. 80), S. 116.

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sche Erklärungsversuche‹ nur zu kurz greifen können.82 Dennoch muss hier hervorgehoben werden, dass diese Art der religiösen Erfahrung von der dichterischen im weiteren Sinne nicht zu trennen ist und ihren gemeinsamen anthropologischen Grund aufweist, wie es die Dichter selbst hervorgehoben haben – gerade dafür ist George durch Mallarmé empfänglich geworden. Bei Wolters findet man auch jenen Passus, der ihm von George direkt zudiktiert worden zu sein scheint und als mise au point das bisher Skizzierte bestätigt: »Es wird das Schwerste für die Menschen sein zu glauben«, sagte der Meister, »daß die göttlichen Mächte ewig sind, aber die Götter sterben können und nur leben, solange der Mensch den lebendigen Glauben an sie in sich trägt und Kraft hat in ihnen das Ewige zu sehen. Sonst bleibt nur ein leerer Name und es muss einer wiederkommen, der die Ewigen mit Leben füllt, sie in neuen Namen und Leibern entstehen lässt, so daß die Ewigen wieder mit den Erstandenen wandeln. Dies zu fassen wird schwer sein, aber mir [George] ist das andre unfassbar, wie ein Gott sein soll wo der Mensch nichts ist und ihn weder glaubt noch darstellt. Ob die ewigen Mächte außer der Menschenwelt noch Gesicht und Erscheinung haben, kann niemand wissen und geht auch mich nichts an, da ich Mensch bin und für Menschen zu sorgen habe.«83

Aufgabe des Dichters ist, nach Gundolf, »die immer neue Leibwerdung göttlicher Kraft«.84 Gedichte wie das schon erwähnte Wer ist dein Gott und zahlreiche andere, besonders im Stern des Bundes, stellen diesen Vorgang dar. Ebenso endet das prophetische Gedicht Der Krieg im Neuen Reich mit der Aufrufung sowohl der ›Erstandenen‹ als auch der ›Ewigen‹ Götter durch die Jugend (deren Symbol Maximin war).85 Diese schon erwähnte ontologische Differenz zwischen dem Einen und seinen zahlreichen Theophanien und Inkarnationen, zwischen den ewigen göttlichen Mächten und den sterblichen Göttern, wird am Eingang des Spätwerks, in den letzten Versen des letzten ›Zeitgedichts‹ des Siebenten Ring deutlich ausgesprochen: Eins das von je war (keiner kennt es) währet Und blum und jugend lacht und sang erklingt.86

In diesem Einen, das keiner kennt, ruht auch der letzte Ursprung der schöpferischen Kraft, und doch ist es als solches, losgelöst, nicht zu erkennen. Auch das Geheimnis des Ursprungs der Dichtung ist für den Dichter selbst in seinem letzten Grunde unerkennbar. Nur seine Erschei_____________ 82 83 84 85 86

Frommel: Templer und Rosenkreuz (Anm. 80), S. 282. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 75), S. 315. Gundolf, Friedrich: Dichter und Helden. Heidelberg 1921, S. 34. Vgl. George, Stefan: Der Krieg; in: George: Das neue Reich (Anm. 46), S. 21-26, hier S. 26. George, Stefan: Das Zeitgedicht; in: George: Der Siebente Ring (Anm. 35), S. 33.

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nung in der Menschenwelt geht ihn an, und vor allem im Erklingen des ›sanges‹ zeigen sich die sterblichen Götter. Für Wolters ist daher der »Dichter [allgemein] der religiöse Mensch schlechthin«.87 Dass der durch die Dichtung in diesem Sinne »geweckte Mensch im vollen Bewusstsein seines hellen Geistes dennoch gläubig war«, fügt er an anderer Stelle hinzu, sei das der heutigen Zeit (wie sie George im Gebildeten-Typus Max Weber entgegentrat) Unverständliche: Für diese »heidnische« Möglichkeit hatten weder Weber noch seine Zeitgenossen eine Lösung und doch: ob gerade diese Möglichkeit für die Deutschen als Volk noch einmal wirklich würde war die einzige wichtige Frage der Zeit über alle Staats- und Wirtschafts-, Bildungs- und Wissenschaftsfragen hinaus.88

Vor der Komplexität dieser Verbindung des Religiösen mit dem Schöpferischen und Dichterischen laufen alle rein historischen Deduktionen Gefahr, zu kurz zu greifen. Denn diese könnten einerseits endlos Vergleichsfälle anführen und genau so viele endlose Nuancierungen anbringen: vom reichen esoterischen Gedankengut, sei es antik, christlich oder islamisch, bis zur Paracelsus-Rezeption bei Goethe, über Böhme bis Hölderlin, Nietzsche, die Kosmiker etc. Liegt es da nicht näher, anstatt alles historisch herleiten zu wollen, eine anthropologische Konstante zu vermuten, die sich sowohl im Theologischen als auch im Dichterischen bewegt? Es handelt sich also nicht nur, wie es allzu oft in naiver Weise heißt, um eine Übernahme der Funktion der Religion durch die Dichtung, die sich dadurch ›übernähme‹ und eine illegitime und hybride Grenzüberschreitung vollzöge, sondern um Aufweisung und Erkenntnis, besonders bei Hegel, Heidegger, Hölderlin und dem Symbolismus, des sie vertikal Verbindenden. Das hat mit Ästhetisierung des Religiösen und Theologisierung des Ästhetischen, wie Gundolf es Schleiermacher vorwarf, nichts zu tun, da das dichterische Prinzip, so wie es Mallarmé zum Beispiel aufgefasst hat, vor dieser Trennung liegt (nicht historisch, sondern prinzipiell). Die ›Emanzipation‹ der Kunst von der Religion ist in dieser Perspektive ein Oberflächenphänomen, das im Grunde wenig erklärt. ›Kunst‹ ist der hier analysierten Auffassung nach eine gleichgebürtige Inkarnation des Göttlichen und die Religion selbst geht aus dem ›künstlerischen‹, ›dichterischen‹ Prinzip hervor, was nur vom monotheistischen Standpunkt aus als Blasphemie (und bloße ›Kunstreligion‹ im Sinne von Pseudo- oder Ersatz-Religion) verstanden wird. Georges Entwicklung vom angeblichen l’art pour l’art-Puristen zum Verkünder des neuen Gottes und unerbittlichen Kritiker der Moderne kann daher auch nur dichterisch einseitig Gebildete ernsthaft in Verwunderung versetzen. So führt auch Karl _____________ 87 88

Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 75), S. 536. Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 75), S. 477.

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Wolfskehl in seinem Jahrbuch-Aufsatz aus, dass es in den Blättern für die Kunst von Anfang an »künstlerisch und damit menschlich« darauf angekommen sei zu zeigen, dass Kunst ein andres ist als spiel oder musse oder ergötzung, dass sie die lezte erscheinungsform göttlichen wesens ist und – dürfen wir halblaut hinzufügen – dass ihr drum noch geheimnisvolle kräfte innewohnen, geheimnisvolle aufgaben gesetzt sind. Aufgaben, die sie auf keine andere weise lösen kann als durch Selbstdarstellung. Je körperhafter desto beseelter. Das ist die form, die inhalt ist. 89

Zu begreifen gilt, dass auch Maximin – zwar nicht als einfache Allegorie, aber dennoch in Georges Durchgestaltung mit exemplarischen Zügen versehen – zugespitzt formuliert auch als Selbstdarstellung der Kunst zu verstehen ist.

VI. Der Antichrist und der Typus Wolters spricht, wie wir gesehen haben, ausdrücklich von der ›heidnischen Möglichkeit‹, die Georges ›Religiosität‹ in seiner Zeit darstelle. Es ist auch kein Zufall, dass Hegel die Kunstreligion in die Antike versetzt bei gleichzeitiger Kritik am romantischen Konzept der Kunstreligion. Bevor wir uns Hegel zuwenden, seien in kurzen Zügen antichristliche Elemente bei Mallarmé und George berührt. George bekämpfte übrigens, im Gegensatz zu Nietzsche, keineswegs das Christentum, da er es durchaus als erledigt betrachtete. Dem Christentum spricht der Dichter – laut Thormaehlen – die Kraft ab, in heutiger Weltstunde noch einmal der Menschheit eine neue Form gründen, neuen Aufbau gestalten, ein neues Ziel setzen zu können. Er sah die Bedeutung christlichen Glaubens nur noch im Erhalten, Schützen und – für eine Weile noch – im Heilerhalten von Substanzen in breiteren Volksschichten.90

Die schöpferische Kraft des Christentums ist versiegt und damit auch seine Fähigkeit, dem Göttlichen heute noch verbindliche und lebendige Gestalt zu geben. George hatte zwar nicht den Anspruch, selbst der neue, das Christentum ablösende Religionsstifter zu sein, konnte sein Werk aber dennoch als »die grösste Häresie der Geschichte« bezeichnen.91 Das Motiv des ›Antichrist‹ spielt in seinem Werk eine gewisse Rolle; zudem scheinen _____________ 89 90 91

Wolfskehl, Karl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur; in: Jahrbuch für die geistige Bewegung (Anm. 58), S. 1-18, hier S. 7. Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George (Anm. 52), S. 80f. Landmann: Gespräche mit Stefan George (Anm. 36), S. 196.

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seine sieben ›heiligen Bücher‹ aus genau 666 Gedichten, der symbolischen Zahl des Antichrist, zu bestehen, was vielleicht bloßer Zufall ist. Beim französischen Dichter konnten zuweilen ähnliche Schauder die Schüler ergreifen. So gibt es ein wenig bekanntes Zeugnis Édouard Dujardins, des Anführers der französischen Wagnerianer, die allerdings mehr noch Mallarmisten waren. Er schreibt an den verehrten Meister: Et, ce dernier Mardi, l’extraordinaire, l’unique magnificence de votre pensée m’était la cause d’une telle émotion. Car ce n’est autre qu’une religion que vous songez. Et cela est si grave et gigantesque. Ainsi je voyais quelque »nous élèverons une tour jusqu’au ciel«, quelque »nous serons comme des dieux«, quelque »je détruirai le temple, et il n’en demeurera pierre sur pierre«, et une œuvre littéralement d’Antéchrist, et de tout cela la nécessaire évocation du »Petrus es… aedificabo ecclesiam meam et portae inferi non praevalebunt adversus eam… Et tibi dabo claves regni cœlorum...« Oh le plus belle efforcement mais aussi à la conception damné!92

Die von Mallarmé in seiner metaphysischen Krise vollzogene Rezentrierung des Unendlichen auf das Selbst führte ihn zur Aufwertung der schöpferischen Geist- und Seelenfunktionen des Menschen. Die arme Menschheit irre, wenn sie die Unendlichkeit erst, und illusorisch, im Grabe suche; sie trage sie immer schon bei sich, aber unbewusst.93 In seiner Schleiermacher-Kritik schreibt Gundolf, Schleiermacher irre in der Annahme, dass sich die Vielheit der Religionen aus der Endlichkeit des Menschen und der Unendlichkeit der Religion erkläre. Der »Mensch ist auch unendlich«, wendet er dagegen ein, und wo wollte die Religion ihre Unendlichkeit herbekommen als vom Menschen, da es für Schleiermacher keinen Gott gibt? Jede unendliche Kraft offenbart nach ihm sich in verschiedenen Gestalten. Die unendliche Kraft aber ist eben nicht ›die Religion‹, sondern der Mensch und eine seiner Offenbarungsarten ist die Religion.94

Schleiermacher − wie den Romantikern überhaupt − wirft Gundolf »Religionssucht« vor, »der es an ursprünglicher [das heißt: schöpferischer, gestalthafter] Glaubens- oder Kultkraft fehlt, und die aus historischer Bildung und aufgeweichtem Mythus sich einen neuen sinnlichen Schauer braut«.95

_____________ 92 93 94 95

Edouard Dujardin an Stéphane Mallarmé, 17. 1. 1887; in: Mallarmé, Stéphane: Correspondance. Band III: 1886-1889. Recueillie, classée et annotée par Henri Mondor et Lloyd James Austin. Paris 1969, S. 84, Anm. 1. Stéphane Mallarmé an Henri Cazalis, 14. 5. 1867; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 713-716, hier S. 715. Gundolf, Friedrich: Romantiker. Berlin 1930, S. 219. Gundolf: Romantiker (Anm. 94), S. 265.

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George setzt zweifelsohne, ursprünglich auf Mallarmé aufbauend, die Arbeit an Hölderlins ›heiliger Theokratie des Schönen‹96 fort, die in scharfen, heidnischen Gegensatz zum orthodoxen Christentum gerät. Wenn, wie Gundolf in provokanter Verkehrung schreibt, die Religion (nur) eine der Offenbarungsarten des Menschen ist (wohl neben der Kunst), dann gerät der Mensch selbst in die Nähe des Neuen Gottes (auch wenn ›Gott‹ in Georges symbolistisch-platonischem Sprachgebrauch so viel wie substanzielle, Leben gebende ›Idee‹ bzw. »urbild«97 heißt), was vom dogmatischen Standpunkt als Häresie begriffen wird, obwohl das Programm der Vergöttlichung der Kreatur alles andere als unvereinbar mit dem (zumal esoterischen) Christentum ist. ›Wir werden wie die Götter sein‹, hat Dujardin gerufen. Die Dinge mit den Augen der Götter zu sehen, sollte Maximin George und den Seinen als Vermächtnis hinterlassen.98 Bei Mallarmé drückt die Typus-Vorstellung die Nähe des Göttlichen und des Menschlichen am deutlichsten aus. Ein Passus aus der ›divagation‹ Catholicisme imaginiert die »fêtes futures«, in denen das dichterische Prinzip den Platz zurückerobert hätte, den ihm Mallarmé idealerweise zudenkt. Eine Hierophanie findet auch dort statt: Die »multitude« schreckt zurück vor dem »brusque abîme fait par le dieu, l’homme – ou Type«.99 Diese Stelle, wenn hier auch die theistischen alttestamentlichen Schreckens- und Abgrund-Symbole aufgenommen werden, suggeriert, dass der Mensch als ›Typus‹ dem neuen Gott sehr nahe kommt oder sich gar mit ihm identifiziert. Der Abgrund besteht zwischen diesem vorgestellten göttlichen Typus oder Menschen und der Menge, aber kaum noch zwischen Gott und diesem höheren Menschentypus. Wie ist aber Mallarmé, den man für einen Dichter hält, dem es mittels der ›notion pure‹ darum gehe, jede Wirklichkeit in die gestaltlose Abwesenheit zu verweisen, ausgerechnet zu einer ›Typus‹-Konzeption gekommen, die für sein Werk zudem zentral ist? Die Verbindung ist wahrscheinlich in seinem Nachdenken über das Wesen der Sprache und die schöpferische Kraft (›fiction‹) seit seiner metaphysischen Krise der Jahre um 1870 zu suchen. In der _____________ 96 97

98 99

Vgl. Hölderlin, Friedrich: Hyperion; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe I. Herausgegeben von Michael Knaupp. München – Wien 1992, S. 609-760, hier S. 700. Vgl. George: Wer ist dein Gott (Anm. 68), S. 16 (»der nächste meinem urbild«); vgl. auch: »Unsere lebensfliessung (rhythmus) verlangt ausser uns das urbild das in den vielen menschlichen gestalten oft einzelne züge und zeit- und näherungsweise eine verkörperung findet. Eine andere erklärung gibt es weder für die Dantesche Geliebte noch für den Shakespearischen Freund« (George, Stefan: Kunst und menschliches Urbild; in: George: Tage und Taten (Anm. 38), S. 70). Vgl. George, Stefan: Vorrede zu Maximin; in: George: Tage und Taten (Anm. 38), S. 61-66, hier S. 63. Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 240.

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Arbeit am Vers hat er, wie George, zum ›plastischen Gott‹ (der Nietzsche laut George fehlt) gefunden, wenn auch sein ›Typus‹ stärker an einen platonisch-eidetischen Vorstellungsgehalt denn an einen Inkarnationsgedanken, wie ihn George entwickelt, gebunden ist. In ganz ähnlichen Größenabständen (Abgrund zwischen Menge und Höhenmensch/Typus, Nähe zwischen Höhenmensch und Gott)100 drückt sich George in einer als Klarstellung zu diesen Fragen aufgefassten Aphorismus-Reihe in der 9. Folge der Blätter für die Kunst aus dem Jahre 1910 aus (Über das Feststehende und die Denkformen): »der schritt von dem herdenwesen zu dem höhenwesen ist für uns der unendlich grosse ˜ ein winzig kleiner ist uns der von dem höhenmenschen zum Gott«. Und kurz zuvor heißt es, dass es die Schöpfer sind, die »das Göttliche immer wieder neu gebären« müssen. Diese Schöpfer sind »urtypen«, weil sie »das Göttliche in der ersten unmittelbaren art« haben.101 An diese Sätze aus dem Jahre 1910 sollte man sich erinnern, wenn vom Gott Maximin die Rede ist. Im Stern des Bundes stellt sich George ja selbst die (klassische) Frage, ob dieser Gott »Fern aus unermessnen höhn« komme oder ob er »selber ihn geboren« habe.102 In der Folge gibt das Gedicht zwar zu verstehen, dass solches gedanklich nicht zu erforschen sei (außer in »blossen denkformen«, wie es im oben zitierten Aphorismus heißt), endet jedoch mit der eher feststellenden Frage: »Riss ich nicht ins enge leben | Durch die stärke meiner liebe | Einen stern aus seiner bahn?«. ›Geboren‹ erinnert in diesem Gedicht an die ›Schöpfer‹ aus dem Aphorismus, die das Göttliche immer neu ›gebären‹ müssen; »die stärke meiner liebe«, womit das ›über Wunder Nachsinnen‹ des Dichters in diesem Gedicht endet, wird im George-Kreis oft griechisch ›Eros‹ genannt, von Gundolf in seinen Ausführungen zu den Maximin-Gedichten des Siebenten Ring mit ›geistiger Zeugung‹ übersetzt und ist darüber hinaus ein Leitmotiv im Stern des Bundes.103 Also tendiert der Schluss des Gedichtes eher dazu, der zweiten der beiden Hypothesen recht zu geben: Der Gott ist keine reine Transzendenz, sondern vom Dichter geboren, oder, wie andere Stellen besser sagen, ›mitgeboren‹. _____________ 100 Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass in solchen Stellen bei Mallarmé der Typus oft eher als die geistige Geburt einer idealisierten ›foule‹ erscheint. 101 George, Stefan: Über das Feststehende und die Denkformen; in: Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Herausgegeben von G[eorg] P[eter] Landmann. Neunte Folge (1910). Düsseldorf – München 1964, S. 53f. 102 George, Stefan: Über wunder sann ich nach; in: George: Der Stern des Bundes (Anm. 39), S. 70. 103 Vgl. Gundolf, Friedrich: George. Berlin 1920, S. 202.

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Die gleiche Frage, ob die Schöpfer das Göttliche »in sich tragen« oder ob es ihnen »ein gott eingegeben« habe, sei eine »blosse denkform«, führt der Aphorismus weiter aus und fügt hinzu: »– wie das setzen eines hervorrufers hinter den dingen immer nur ein hinausrücken der grenze ist«. Es gibt also für die Menschen kein Göttliches, das vom schöpferischen Prinzip, das die Höhenmenschen in der unmittelbaren Form in sich tragen, unabhängig wäre. Das Göttliche muss geboren und gestaltet werden und existiert nicht ›an sich‹, sondern höchstens als unerkennbare Macht oder leere Denkform. Schon das Sehen ist für die Georgeaner ein Gebären und Gestalten. Man ahnt, wie sehr die jüdisch-christliche, zumal römische Tradition den Zugang zu dieser Auffassung des Göttlichen verstellen kann (die meisten Karikaturen von Seiten der Kritik haben hier ihren Ursprung), wie ernst es hier mit dem Heidnischen, ›Griechischen‹ gemeint ist, wie sehr das Dichterische über bloße schöne Wortkunst hinausgeht und als anthropologisches Prinzip ergründet wurde, das selbst auf esoterische Traditionen Licht zu werfen fähig ist, wie es die schon erwähnte Studie Frommels gezeigt hat. Dies gilt es nachzuvollziehen: dass Dichter, die wie keine anderen zuvor höchste Sorgfalt und Konzentration auf die Sprache, das Geschriebene gelegt haben, nicht etwa das Geschriebene als solches zum ›kunstreligiösen‹ Gott erheben. Dujardins ›wir werden wie Götter sein‹ kann nur auf einer Neugeburt durch das dichterische, ›orphische‹ Bewusstsein beruhen; dass die Götter nur durch die ebenfalls schöpferische ›Kraft der Liebe‹, wie es bei George heißt, erscheinen, ist uralte Glaubensweisheit. Aber für »zeiten die das Göttliche im menschen nicht erleben ist Gott eine blosse denkform«.104 Denn »Glaube | Ist kraft von blut ist kraft des schönen lebens«.105 Wenn man dies alles zusammenhält, wird deutlich, dass es nicht einerseits die Dichtung gibt und andererseits den Gott Maximin, dieser aber genauso wenig eine bloße dichterische ›Erfindung‹ ist. Es ist nach der Auffassung Mallarmés und Georges die Dichtung selbst, die im Prinzip zur Vergöttlichung des Menschen führt, die »den leib vergottet und den gott verleibt«, wie es im Gedicht Templer heißt,106 und damit dem Menschen sein Maß gibt. »Schau des Geistes [des Gottes] in der Gestalt« – bevor dieser ›Idealismus‹ für Gundolf eine rein griechisch-deutsche Angelegenheit werden konnte, hat der französische Dichter für George sicherlich nicht zu unterschätzende Grundlagen dazu gelegt.107 _____________ 104 105 106 107

George: Über das Feststehende und die Denkformen (Anm. 101), S. 53. George, Stefan: Ihr seid bekenner; in: George: Der Stern des Bundes (Anm. 39), S. 89. George, Stefan: Templer; in: George: Der Siebente Ring (Anm. 35), S. 52f., hier S. 53. Gundolf: George (Anm. 103), S. 206.

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VII. Hegels Idee der Kunstreligion Am Leitfaden von Ernst Müllers und Kazimir Drilos Ausführungen über Hegels Begriff der Kunstreligion kann abschließend gezeigt werden, inwiefern Hegels Analyse für das Verständnis eines um Mallarmé und Heidegger erweiterten ›Geheimen Deutschland‹ zutrifft. Die Kunstreligion ist in Hegels System nur eine Etappe: Das Selbst ist durch die Kunstreligion ein absolutes Wesen geworden und gehört nun dem nicht-religiösen oder wirklichen Geist an. Von dem Augenblick an, wo die Substanz als Subjekt gefasst wird, gerät die Kunstreligion als Repräsentationsform des Absoluten in eine Krise. Im Gesamtsystem geht es Hegel jedoch, wie Ernst Müller zugespitzt formuliert, um die Überwindung nicht nur der Kunstreligion, sondern sämtlicher geschichtlicher Geistformen, also auch und vor allem »um die begriffliche Aufhebung der Religion«.108 Kunst und Religion seien beide nur noch in der Erinnerung und reflektiert (in der Negation) bewahrt. Unabhängig von diesen systematischen und teleologischen Voraussetzungen enthält Hegels Bestimmung der Kunstreligion einige interessante Vergleichspunkte mit Mallarmés utopischen Vorstellungen. Die Grundthese Hegels ist nach Kazimir Drilo, dass sich in der Kunstreligion »die Integration des Absoluten in das Leben des Volkes« durch den ›Geist‹, der auf dieser Stufe Künstler ist, vollzieht.109 »Durch die Religion der Kunst«, schreibt Hegel, »ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten« und bewirkt so die »Menschwerdung des göttlichen Wesens«.110 Im Kultus des Festes, das auf der Stufe der Kunstreligion »der Mensch zu seiner eigenen Ehre sich gibt«,111 stellt der Mensch »sich selbst [dar,] als zur vollkommen freien Bewegung erzogene und ausgearbeitete Gestalt«; er tritt an die Stelle der Bildsäule als »ein beseeltes, lebendiges Kunstwerk«, in dem er sich »der Allgemeinheit seines menschlichen _____________ 108 Müller, Ernst: Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs; in: Hegels Phänomenologie des Geistes heute. Herausgegeben von Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin 2004, S. 175193, hier S. 191. 109 Drilo, Kazimir: Integration des Absoluten in das Leben des Volkes. Hegels Bestimmung der Kunstreligion in der Phänomenologie des Geistes; in: Synthesis philosophica 22 (2007/1), S. 127-140, hier S. 139. 110 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes; in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 3. Frankfurt/M. 1970, S. 545. − Das Ideal der Auflösung der Kategorie ›Kunst‹ in Lebens- und Bewusstseinsformen lässt Camille Mauclair Mallarmé (›Armel‹) in seinem auf Gesprächen beruhenden Roman Le Soleil des morts (1898) aussprechen. 111 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 528.

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Daseins bewusst wird«. Im ›geistigen Kunstwerk‹ der Kunstreligion ist darüber hinaus die Sprache, »worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich als die Äußerlichkeit innerlich ist«,112 das ›eigentliche Element‹ der »Anwesenheit des Absoluten im Selbstbewußtsein«.113 Sprache braucht aber, so Drilo im Sinne Hegels, lebensweltliche Verankerung in Kunst und Religion. Die Sprache ist für Hegel »Element und Behausung« der besonderen schönen Volksgeister »in ein Pantheon«.114 Man erkennt vor allem eine Übereinstimmung mit Mallarmés diskretem, aber durchgängigem Grundanliegen, nämlich der Frage, wie sich durch einen neuen, dem Wesen nach dichterischen Kultus, unsere Welt an das Absolute knüpfen könne.115 Dabei erhalten auch bei Mallarmé die Vorstellungen des Selbst und des emanzipatorischen Sich-Bewusstwerdens des Selbst und des Geistes eine fundamentale Bedeutung. Das unterscheidet nach Mallarmé den künftigen, sprachgebundenen Kultus sowohl vom rein musikalischen Element, das im Unbewussten verharre, als auch von dem Kultus der instituierten Religionen, die ihre Grundabsichten vergessen hätten. Das Erlangen des schöpferischen Selbstbewusstseins nicht nur des Künstlers, sondern des Volkes im Kultus und seine kosmische Beheimatung werden bei Mallarmé vor allem in Metaphern des Spiegelns ausgedrückt.116 Darüber hinaus verbindet Mallarmé in seinen Divagations ein Ideal der Gerechtigkeit, das sich einzig im Kultus und nicht im juridischen Rechtsstaat verwirklichen könne, mit einer Kritik des republikanischen Begriffs der ›Gesellschaft‹.117 Auch dieser letzte Punkt bietet eine interessante Parallele zu Hegels Ausführungen über den Gesellschaftszustand, der der Epoche der Kunst_____________ 112 113 114 115

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 528f. Drilo: Integration des Absoluten (Anm. 109), S. 131. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 529. Mallarmé, Stéphane: Notes sur le langage; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 501-512, hier S. 508. 116 Vgl. Mallarmé: La Musique et les Lettres (Anm. 56), S. 68 (»dans l’espoir de s’y mirer«) sowie Mallarmé, Stéphane: Richard Wagner. Rêverie d’un poëte français; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 153-159, hier S. 158 (»une réciprocité des preuves«). 117 Vgl. Mallarmé: Richard Wagner (Anm. 116), S. 158 sowie Mallarmé: La Cour (Anm. 60), S. 266: »L’élection, vous la prônez, le vote aux doigts, assimilée au travail de l’usine; attendu que vous craignez particulièrement, je le sais, une ingérence de mystère, ou le ciel, dans tel choix«); vgl. ebenfalls Mallarmé: Sauvegarde (Anm. 60), S. 271: »La Société, terme le plus creux, héritage des philosophes«. − Auch bei August Wilhelm Schlegel heißt es einschlägig: »Allein der Republikanismus wird nie etwas übermenschliches ersinnen. Wenn der Künstler auf dieses also nicht ganz Verzicht thun will, so ist er auf die Alternative reduzirt, die Ideale einer ausgestorbenen Götterwelt zu wiederholen, oder den göttlichen und heiligen Personen eines noch bestehenden und wirkenden Glaubens fortbildend zu huldigen« (Schlegel, August Wilhelm: Die Gemählde. Gespräch; in: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Zweiten Bandes Erstes Stück. Berlin 1799, S. 39-151, hier S. 136).

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religion in seinem System entspricht. »Das Volk, das in dem Kultus der Kunstreligion sich seinem Gotte naht«, heißt es in der Phänomenologie des Geistes, »ist das sittliche Volk, das seinen Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst weiß«. Dagegen gebe der »Kultus der Religion« seinen Angehörigen »nur dies im allgemeinen zurück, daß sie das Volk ihres Gottes sind; er erwirbt ihnen nur ihr Bestehen und einfache Substanz überhaupt, nicht aber ihr wirkliches Selbst, das vielmehr verworfen ist«. Durch die Kunstreligion werde das ›Selbst‹ des Volkes »in seiner Substanz anerkannt«.118 Auf dieser Stufe ist auch das ›Mystische‹ »nicht die Verborgenheit eines Geheimnisses oder Unwissenheit, sondern besteht darin, daß das Selbst sich mit dem Wesen eins weiß und dieses also geoffenbart ist«.119 Das Ende der Kunstreligion macht Hegel im Übergang von (der antik-griechischen) konkreten Sittlichkeit zur abstrakten Allgemeinheit bürgerlicher (römischer) Rechtsverhältnisse und auf der Stufe der Offenbarungsreligion fest: Die Religion der Kunst gehört dem sittlichen Geiste an, den wir […] in dem Rechtszustande untergehen sahen, d. h. in dem Satze: das Selbst als solches, die abstrakte Person ist absolutes Wesen. Im sittlichen Leben ist das Selbst in dem Geiste seines Volks versenkt, es ist die erfüllte Allgemeinheit. Die einfache Einzelheit aber erhebt sich aus diesem Inhalte, und ihr Leichtsinn reinigt sie zur Person, zur abstrakten Allgemeinheit des Rechts.120

Hier ereignet sich bei Hegel der Umschlag von der Selbstbewusstwerdung zur ›abstrakten Person‹, der der Rechtszustand, die Offenbarungsreligion und in der Kunst die Stufe des komischen Bewusstseins entsprechen. Dieser »Leichtsinn«, das Selbst mit dem absoluten Wesen gleichzusetzen, führt in Wirklichkeit zum Verlust »der Substanz wie des Selbsts«: Es ist das Bewusstsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewissheit […] und des Verlustes eben dieses Wissens von sich – der Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist.121

Auf dem Grunde des Christentums scheint also Hegel, ähnlich wie in Mallarmés Interpretation des schmerzvollen Lächelns der Mona Lisa, ein nihilistisches Bewusstsein zu vermuten. Die Absolutsetzung des Selbst vollzieht sich gleichermaßen im Juridismus des Rechtsstaats, in der Komödie durch die Gleichsetzung des Selbsts des Schauspielers, seiner Person und des Zuschauers im »Sichwohlseinlassen«,122 und in der Religion im Abendmahl, in dem symbolisch der Gott verspeist wird. _____________ 118 119 120 121 122

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 525. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 526. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 546. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 547. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 544.

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Wie Kazimir Drilo erläutert, hat sich »mit der Darstellung der Integration des Absoluten in die wirkliche Subjektivität […] die ›Religion der Kunst‹ in der Komödie ›vollendet und ist vollkommen in sich zurückgegangen‹«.123 Drilo kommentiert zu Recht, dass diese ›Integration des Absoluten‹ wohl eher seiner Vernichtung gleichkomme und sich im »Gelächter der Komödie« auflöse.124 Zwar scheitere die Kunstreligion, doch baue die geoffenbarte Religion auf der Erfahrung der Kunstreligion auf (dass die Einheit mit dem Absoluten nicht fingiert sein darf, sondern tatsächlich vollzogen sein muss, wie es in der geoffenbarten Religion durch den Mittler attestiert werde). Insofern ist – Drilo zufolge – die geoffenbarte Religion ebenfalls die Grundlage der spekulativen Philosophie. Ohne diesen letzten Punkt diskutieren zu wollen, bietet das Problem der Selbstaufhebung der Kunstreligion und der Vernichtung des Absoluten durch die Absolutsetzung des Selbst einen interessanten Anhaltspunkt für unsere beiden Autoren, besonders für Mallarmé. In der Kunstreligion vollzieht der Künstler die Integration des Absoluten: Der Geist ist Künstler. Allerdings scheitert der Künstler daran, und erst die spekulative Philosophie wird die Einheit mit dem Absoluten herbeiführen. Diesen Schritt aus der Kunstreligion heraus scheinen weder Mallarmé noch George zu vollziehen. An Mallarmés Igitur und Un coup de dés hat Kurt Wais recht überzeugend dargestellt, dass der Protagonist eben darauf verzichtet, diese Einheit mit dem Absoluten, wie es ihm seine MathematikerVorfahren auferlegt haben, zu verwirklichen und statt dessen die Distanz und den Schein im Prinzip des bewussten, fiktiven Elements aufrechterhält, anstatt sie wie in der Komödie aufzuheben. Das Absolute bleibt damit auf die Fiktionalität des Dichterischen als hierophanischer, aber zeitlich begrenzter Bewusstseinszustand beschränkt. Bei George und den Georgeanern ist der Abstand zur Spekulation über das ›Absolute‹ von Anfang an größer, aber man könnte ihre Frontstellung gegen die Romantik und die romantische Ironie und gegen Schleiermachers Verwechslung von Religion und Bildung (so Gundolf) als eine Abwehr des ›komischen Bewusstseins‹ (aber auch der Konsequenzen der Fichteschen Philosophie) deuten. »[M]it der Ablösung vom verpflichtenden, kulthaften Charakter der Kunst wird dem Einzelnen eine freie Kunstrezeption als Bildung zugestanden«, schreibt − Hegels Schema kommentierend – Ernst Müller.125 Wir haben allerdings Zweifel, ob Hegel einerseits den ›verpflichtenden‹ Charakter der Kunstreligion wirklich als Unfreiheit interpretierte und ob _____________ 123 Drilo: Integration des Absoluten (Anm. 109), S. 138; Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 110), S. 544. 124 Drilo: Integration des Absoluten (Anm. 109), S. 139. 125 Müller: Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs (Anm. 108), S. 192f.

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er andererseits so optimistisch von der ›freien Kunstrezeption als Bildung‹ in der nachkunstreligiösen Zeit dachte (ob er also nicht vielmehr ahnte, dass diese Gefahr laufe, im »Grau in Grau« der einzig übrigbleibenden ›Philosophie‹ zu erstarren).126

VIII. Vertiefung oder Überwindung der Romantik? Die Briefe aus Mallarmés Krise, in der sich die erste Grundlegung seiner Poetik vollzieht, weisen eindeutig ein identitätsphilosophisches Vokabular hegelscher oder schellingscher Prägung auf. So schreibt er z. B. einem Freund, er sei jetzt »non plus Stéphane que tu as connu – mais une aptitude qu’a l’Univers Spirituel à se voir et à se développer, à travers ce qui fut moi«, und das Universum solle in diesem ›Ich‹ seine Identität wiedererlangen.127 Bald darauf wird er jedoch feststellen, dass er nun ›vom Absoluten wieder herabsteige‹ und sich wohl mit Gedichten werde zufrieden geben müssen, die von dieser Erfahrung zumindest noch eine Spur bewahren. Diese Erfahrung auf teils identitätsphilosophischer Grundlage schreibt seine künftigen Gedanken über Kunst und Religion in den frühromantischen Rahmen ein. Doch ist schon hier hervorzuheben, dass es sich bei Mallarmé, wie dieser seinem theoretischeren Freund Villiers gegenüber immer wieder betonte, weniger um Spekulation als um eine an der eigenen dichterischen Arbeit, dem ›Verse-Graben‹ (»creuser le vers«), und am eigenen Körper erfahrene, hauptsächlich auf der ›sensation‹ beruhende und die eigene geistig-körperliche Existenz bis zur Aphasie und Lähmung gefährdende, mystisch-poetische Erfahrung und Krise handelte. Den Ausweg fand er, wie gesagt, in der in Igitur und Un coup de dés vollzogenen Abkehr von der Spekulation auf das Absolute und damit auch vorab schon von überspannten ›kunstreligiösen‹ Ansprüchen. Im Gegensatz zur Frühromantik (zum frühen Schlegel und frühen Schelling) ist es hier eben die dichterische Erfahrung und Praxis, die zu dieser Zurücknahme führt, und seine Erfahrung ist in dieser Hinsicht mit der Hölderlins und dessen Trennung von Hegel zu vergleichen. _____________ 126 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts; in: Hegel: Werke in 20 Bänden (Anm. 110). Band 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M. 1970, S. 28. 127 Stéphane Mallarmé an Henri Cazalis, 14. 5. 1867 (Anm. 93), S. 714.

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Neben dem identitätsphilosophischen Grundgedanken liegt eine weitere Analogie zu frühromantisch-kunstreligiösen Gedanken in der Konzeption des einen ›Buches‹ als ›Bibel‹ und ›orphischer Erklärung der Erde‹. Diese Vorstellung trifft sich mit der neuen Mythologie der Frühromantik vor allem im prätendierten universalen Gehalt und in der magischen Wortund Buchstaben-Konzeption, die ihr zugrunde liegen soll. Die Universalität beruht bei Mallarmé aber nicht auf dem enzyklopädischen Gedanken, sondern im Auffinden einiger Grundgesten der Menschheit. Auch ist die Mischung der Gattungen ein zwar ebenfalls bei Mallarmé präsenter, aber weniger ausgebildeter, hauptsächlich auf die teils an Richard Wagner anknüpfende und sehr variable Kombination von Dichtung, Musik, Mimik und Tanz beschränkter Vergleichspunkt. Ganz fremd wäre ihm die in der Romantik vorherrschende Valorisierung des Epos oder des Romans, den er als ›Irrtum‹ bezeichnete: Alles, auch die anderen Nebengattungen, müsse sich stets der Dichtung und ihrem mythopoetischen Prinzip unterordnen. Das Einmünden der neuen Mythologie in Literaturgeschichte und Bildung, wie sie Gundolf bei den Frühromantikern zu Recht erkannt hat, ist somit bei Mallarmé weniger wahrscheinlich. Auch die Stellung von Witz und Ironie, die man aus einigen Stellen herauslesen könnte, ist in Wirklichkeit sehr begrenzt, aber immerhin – im Gegensatz zu George – nicht völlig abwesend. Wie alle Aussagen Mallarmés bleiben auch die über das ›Buch‹ sehr unbestimmt. Man findet einerseits den Gedanken des Einen Buchs, an dem er selbst zu arbeiten schien, als »l’explication orphique de la Terre«, von dem er aber wusste, dass sein einzelnes ›Genie‹ nicht dazu ausreiche, sondern er dessen Idee höchstens andeuten könne.128 Daneben taucht auch der von den Romantikern her bekannte Gedanke des ›absoluten Buchs‹ auf als »ein System von Büchern« oder eines »ewig werdenden Buche[s]«,129 das − wie gesagt − Gefahr läuft, sich mit Literaturgeschichte zu verwechseln. Crise de vers bezeugt, dass in Vers- und Literaturfragen die Epoche von einem ›éclair absolu‹ erleuchtet werde, nämlich der Erkenntnis, dass alle Bücher mehr oder weniger eine Mischung von Wiederholungen enthielten; darin seien sie den Bibeln vergleichbar, indem sie der Welt ihr Gesetz geben: »au monde, sa loi«. So sei jedes Buch eine vorgeschla-

_____________ 128 Stéphane Mallarmé an Paul Verlaine, 16. 11. 1885; in: Mallarmé: Œuvres complètes I (Anm. 56), S. 786-790, hier S. 788. 129 Schlegel, Friedrich: Ideen (Nr. 95); in: Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, herausgegeben von Ernst Behler und Hans Eichner. Band 2: Kritische Schriften und Fragmente [1798-1801]. Paderborn – München – Wien – Zürich 1988, S. 229.

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gene Lektion in einem ungeheuren Wettbewerb um den »texte véridique«.130 Insgesamt wird an diesen frühromantischen Vorstellungen festgehalten, und dennoch muss man die viel größere Diskretion und Unbestimmtheit bei Mallarmé hervorheben. Auch sind die Verbindungen von der Buchvorstellung zu Religion und Kult nur indirekt herstellbar, und die genaue Stellung des Dichterischen in der ›neuen‹, kaum angedeuteten Religion bleibt unklar. Mallarmé vertieft vor allem die magischmythopoetische Vers-Konzeption, die dem idealen Buch zugrunde liegen und wie in der Frühromantik zu einer Überwindung der auf das Christentum zurückgehenden Spaltung (›scission‹) zwischen Geist und Natur in der Kunst führen soll. In der Geschichte des Konzepts ›Kunstreligion‹ fände also im Schritt von der Frühromantik zu Mallarmé eine relative Rücknahme des spekulativen und universalen Moments zugunsten des konkreten Werkgebildes statt. Gerade an diese Reduktion auf das dichterische Prinzip und auf das konkrete Werk, an Mallarmés Programm einer ›action restreinte‹, knüpft George an, bei dem sich sprachphilosophische Theoreme und universale Buch-Spekulationen genau so wenig mehr finden wie Ausblicke auf die ›Religion der Zukunft‹. Bei George wird das »Phantasma der Kunstreligion«,131 das man bei Mallarmé noch am Rande antreffen kann, im mythopoetischen Prinzip vertieft und zugleich in den universalistischen Ansprüchen zurückgenommen. Nicht umsonst betont George in solchen Fragen immer wieder den Grundsatz der ›Beschränkung‹ auf das rein Künstlerische. »Das fluchwürdigste verbrechen ist das nicht-sehen der grenzen«.132 Der universale Anspruch der romantischen Kunstreligion macht dem exemplarischen (und nicht, wie man gerne behauptet, verbindlichen) Charakter sowohl des ›Bundes‹ als auch des Maximin-Mythos Platz.133 George treibt zwar einerseits das bei Mallarmé wiederbelebte, um Lebenswirklichkeit erweiterte Dichtungsverständnis bis zur mythopoetischen Gottgeburt auf den Höhepunkt; andererseits hat dieser Vorgang Modell-Charakter wie auch Georges ›staat‹: Der sinn aber unsres staates ist dieser, dass für eine vielleicht nur kurze zeit ein gebilde da sei, das, aus einer bestimmten gesinnung hervorgegangen, eine gewisse

_____________ 130 »[…] que plus ou moins, tous les livres, contiennent la fusion de quelques redites comptées: même il n’en serait qu’un – au monde, sa loi – bible comme la simulent des nations […] autant de leçons proposées dans un immense concours pour le texte véridique« (Mallarmé, Stéphane: Crise de vers; in: Mallarmé: Œuvres complètes II (Anm. 47), S. 204-213, hier S. 211f.). 131 Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 4), S. 366. 132 Boehringer: Ewiger Augenblick (Anm. 42), S. 45. 133 Vgl. George, Stefan: Goethe-Tag; in: George: Der Siebente Ring (Anm. 35), S. 10f.

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höhe des menschentums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger augenblick wie der griechische.134

George streift realistisch die auch von den Romantikern selbst bald wieder aufgegebene Hyperbolik der vermeintlichen ›Kunstreligion‹ ab, um ihren – je nach Auffassung häretischen, polytheistisch-heidnischen, antidualistischen, schöpferischen und anthropologisch-überhistorischen – Wahrheitskern zu retten, der noch jeder reduktionistischen Erklärung widerstanden hat.135 Im Symbolismus ist jenseits des ästhetizistischen Oberflächenphänomens, an dem sich ein Thomas Mann aufgehalten hat,136 die ›Kunstreligion‹ nicht mehr wie bei Novalis messianisches Programm einer Alldurchgeistung, sondern selbst zum ›Symbol‹ geworden: zum Symbol einer »gewissen höhe des menschentums«, das um seinen geschichtlich prekären Kairos und um seinen Symbolcharakter weiß.

IX. Vom ›Hellenischen‹ zum ›Deutschen Wunder‹ Hölderlin schreibt in seiner Abhandlung Das Werden im Vergehen [auch: Das untergehende Vaterland …], im »Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn« werde »aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum«.137 Dem Wesen dieses dichterischen Traums, der das der Dichtung eigene Seherische und Prophetische begründet, gelten auch Mallarmés und Georges Besinnungen auf ihre Praxis. »Das wesen der dichtung wie des traumes«, heißt es in Georges Tage und Taten, sei »dass Ich und Du ˜ Hier und Dort ˜ Einst und Jetzt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden«.138 Die Ansiedelung des Dichterischen zwischen Sein und Nichtsein ist sogar ein Leitmotiv in der Ontologie Mallarmés, der es in den oft missverstandenen Begriff der ›Fiktion‹ fasst, und diese Besinnung auf das die engen Grenzen _____________ 134 Boehringer: Ewiger Augenblick (Anm. 42), S. 33. 135 Nicht umsonst loben früh die Blätter für die Kunst »Hardenberg’s hellsichtige aussprüche« als »die urquellen der ›Nouvelle Poésie‹« (Klein, Carl August: Über Stefan George. Eine neue Kunst; in: Blätter für die Kunst. Erste Folge. I. Band (1892). Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein, S. 45-50, hier S. 47). 136 Als Erbe und Praktiker der romantischen Ironie in philosophischer und ethischer Hinsicht ist Thomas Mann wohl stärker dem eigentlichen ›Ästhetizismus‹ verhaftet als George. 137 Hölderlin, Friedrich: Das untergehende Vaterland…; in: Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe II (Anm. 49), S. 73. 138 Vgl. George, Stefan: Über Dichtung; in: George: Tage und Taten (Anm. 38), S. 68-70, hier S. 69.

Symbolistische Kunstreligion bei Mallarmé und George

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des üblichen Dichtungsverständnisses überschreitende ›fiktive‹ Element reicht von Georges ›Reich des Geistes‹ bis zu Kantorowicz’ Ausführungen über das ›Geheime Deutschland‹. In dieser Pflege der ›Traumfähigkeit‹ des Menschen liegt für George die höchste Aufgabe des Dichters, und von ihr hängt in seinen Augen der Bestand der Menschheit ab. Darauf beruht sein (und auch) Mallarmés Glaube, und darin berührt er sich, wie es Mallarmé in Catholicisme ausführt, mit dem einst von Religionen bewahrten Schatz. Dieser Anspruch ist kein Transfer von Kompetenzen der Religion auf die Dichtung, die damit eine Kunst- oder Pseudoreligion würde; vielmehr hat die Kunst nach Auffassung dieser Autoren in ihrem eigenen Gesetz ein Element, dem ›religiöser‹ Charakter zukommt, sofern man Heideggers berechtigten Einwand gegen die Verwendung dieses Begriffs zu beachten bereit ist. Wenn Heidegger schreibt, dass der Dichter »den dichtenden Grund des Wirklichen« nennt und das Wirkliche »durch seine gezeigte Wirklichkeit erst zum ›Wesen‹ bringt«,139 dann umschreibt er damit recht genau Mallarmés orphischen Fiktionsbegriff. Von Hölderlin ausgehend ließe sich Heideggers Mahnung auf Mallarmé und George ausdehnen: Man verunstalte Hölderlins Dichtung nicht durch ›das Religiöse‹ der ›Religion‹, die eine Sache der römischen Deutung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern bleibt. Man überbürde nicht das Wesen dieses Dichtertums, indem man den Dichter zu einem ›Seher‹ im Sinne des Wahrsagers macht. Das dichterisch zum voraus gesagte Heilige öffnet nur den Zeit-Raum eines Erscheinens der Götter und weist in die Ortschaft des Wohnens des geschichtlichen Menschen auf dieser Erde. Das Wesen dieses Dichters darf nicht in der Entsprechung zu jenen ›Propheten‹ gedacht, sondern das ›Prophetische‹ dieser Dichtung muß aus dem Wesen des dichtenden Voraussagens begriffen werden. Ihr Traum ist göttlich, aber sie träumen nicht einen Gott.140

Dennoch haben wir gesehen, dass Heidegger Hegels Vorstellung von Kunstreligion aufgreift und die Entscheidung über sie, gerade in Bezug auf Hölderlin und für Deutschland, für noch nicht gefallen hält. Es geht _____________ 139 Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Anm. 37), S. 91. 140 Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Anm. 37), S. 114. − Ähnlich weist Walter F. Otto die moderne Verwendung des Begriffs ›Kunstreligion‹ für die Antike sowie für Hölderlin zurück: »Alle wahre Poesie hat ihren Ursprung in einer Begegnung mit Göttlichem, aber bei Hölderlin ist die dichterische Welt von der religiösen gar nicht zu trennen. […] So kann ja auch bei den alten Griechen zwischen dichterischen und religiösen Ideen nicht unterschieden werden, was moderne Kritiker zu den gröbsten Missverständnissen verleitet hat. Sie sprechen von einer Kunstreligion, die im eigentlichen Sinne gar keine Religion ist. Sie legen nämlich dem antiken Werturteil naiverweise den ästhetischen Schönheitsbegriff zugrunde, der sich auf das Bild- und Scheinhafte bezieht und ein spätes Produkt emanzipierter Kunstkultur ist«; der »an orientalischen Religionen gewonnene [Religions-]Begriff« muss »geradezu umgekehrt« werden: »hier ist die Gottheit nicht ›das ganz andere‹, sondern ›eben dies‹. Sie offenbart sich nicht dem nach innen, in die Tiefe der Seele gewandten Blick […], sondern dem offenen Auge, das sich nach außen und auf die Welt richtet« (Otto: Die Gestalt und das Sein (Anm. 74), S. 288 und S. 221).

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aber nicht mehr um die endgültige Integration des Absoluten, sondern um die Möglichkeit des Erscheinens der ›Götter‹. Wie in Mallarmés Kultus, der ebenfalls aus der Abwendung von der philosophischen (hegelschen) Hybris hervorgeht, und wie in Georges Überzeugung, dass die Götter immer wieder neu wie alles »abgestorbne wort der welt« mit »frischem saft« geschwellt werden müssen,141 öffnet sich durch die Dichtung für Heidegger nur der ›Zeit-Raum‹ ihres Erscheinens. In der Dichtung und im dichterischen Bewusstsein wird so auf den »authentique séjour terrestre«142 verwiesen: im »zeitlose[n] nu | Wo landschaft geistig wird und traum zu wesen«.143 Es geht bei diesen Autoren um eine Auffassung eines ›Religiösen‹, das Gott nicht in die absolute Transzendenz abstellt, sondern das Göttliche, wie Gundolf betonte, in »immer neuer Leibwerdung«, in Gestalt und Werk, Kunst und Dichtung erkennt. Das Hellenische Wunder, das die Blätter für die Kunst zu ihrer Devise gemacht haben, ist immer mit dem Imperativ zur Gestaltwerdung verbunden, Göttliches gehe den Dichter nur an (und glaubt er nur), sofern es Gestalt annehmen kann.144 George entlehnt den Ausdruck des ›hellenischen Wunders‹ dem französischen Religionshistoriker Ernest Renan, der in seiner umfangreichen Histoire des origines du Christianisme zu der Überzeugung kam, dass der eigentliche Genius des Abendlandes, im Vergleich zum Orient, nicht religiöser Natur sei, sich nicht in der Religion (worunter er vor allem den aufs Übersinnliche, Überweltliche gerichteten Sinn verstand) ausdrücke, sondern in der Kunst als der eigentlichen ›Religion‹ des Abendlandes.145 Claus von Stauffenberg sprach seinerseits, an diese von George vorgegebenen Zusammenhänge sicherlich anknüpfend, von seinem Glauben an das »Deutsche Wunder«146 und die ›Kräfte im Deutschen‹, die diesen _____________ 141 142 143 144

George: Wer ist dein Gott (Anm. 68), S. 16. Mallarmé: Richard Wagner (Anm. 116), S. 158. George, Stefan: Vor abend war es; in: George: Der Stern des Bundes (Anm. 39), S. 74. Vgl. George, Stefan: Das Hellenische Wunder; in: Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst (Anm. 101), S. 48f. (»der Griechische Gedanke: […] der Leib sei der Gott«) sowie Boehringer: Ewiger Augenblick (Anm. 42), S. 33. 145 »Or voici qu’à côté du miracle juif venait se placer pour moi le miracle grec, une chose qui n’a existé qu’une fois, qui ne s’était jamais vue, qui ne se reverra plus, mais dont l’effet durera éternellement, je veux dire un type de beauté éternelle, sans nulle tache locale ou nationale« (Renan, Ernest: Prière sur l’Acropole (1884); in: Renan, Ernest: Souvenirs. D’enfance et de jeunesse. Paris 1949, S. 46-53, hier S. 47); vgl. außerdem Renan, Ernest: Vie de Jésus (1863); in: Œuvres complètes de Ernest Renan. Band IV. Édition définitive établie par Henriette Psichari. Paris 1949, S. 9-427, hier S. 14 (allerdings unterscheidet sich Renans rationalistisch geprägte Aufassung des ›griechischen Wunders‹ stark von den Vorstellungen im George-Kreis). 146 Claus Graf Stauffenberg an Frank Mehnert, 26. 12. 1939; zitiert nach: Zeller, Eberhard: Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Nachdruck der 2. Auflage 1994, mit einer Einführung von Peter Steinbach. Paderborn – München – Wien – Zürich 2008, S. 75-77, hier S. 76.

Symbolistische Kunstreligion bei Mallarmé und George

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»berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen«.147 Vor solchen Zusammenhängen und Wirklichkeiten läuft der Begriff der ›Kunstreligion‹ wie der des ›Ästhetischen‹ Gefahr, sich, mit George zu sprechen, als eine bloße ›denkform‹ zu erweisen, je nach Verwendung zugleich viel- und nichtssagend.

_____________ 147 Maschinenschrift des Schwurs mit handschriftlichen Änderungen von Claus Graf Stauffenberg; in: Hoffmann, Peter: Claus Schenck Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992, S. 396f., hier S. 396. − Der ebenfalls im Schwur verwendete Ausdruck ›göttliche Mächte‹ belegt gleichermaßen die mehr Georgesche als christliche Herkunft dieses Glaubens; vgl. Ernst Kantorowicz’ Rede auf dem Deutschen Historikertag von 1930: »Und damit, meine Herren, kann ich endlich auch Antwort geben auf die mir vorgehaltene Frage nach dem wissenschaftlichen Wert der historischen Werke aus der George-Schule. Lediglich darin daß sie mit diesem Glauben an den Tag der Deutschen, an den Genius der Nation dienen, liegt ihr Wert begründet. Dieser Glauben ist das freilich nicht von der Wissenschaft, sondern von der Dichtung überkommene Dogma, das alle Werke dieser Schule beherrscht und bestimmt und das von der sonst doch so fein analysierenden Wissenschaft kaum jemals erkannt worden ist. Denn nicht, wie man so gerne glauben möchte, ein ästhetisches oder phänomenologisches oder sonstiges Dogma waltet hier, sondern es ist lediglich das Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre, von dem diese Werke getragen sind, für das sie sich völlig selbstlos, ruhmgleichgültig und unehrgeizig einsetzen […] und vor allem: nur durch diesen Glauben an das echtere Deutschland wurden jene Werke vielleicht auch zur Kunst. Allerdings: dem ›Fiat veritas, pereat vita‹ einer späten Stoa stellte die George-Schule ein ›Fiat veritas in vita‹ entgegen, und wenn man meint, diese Gesinnung der Wissenschaft fernhalten zu müssen, wenn man sie sogar der Wissenschaft für abträglich und gefährlich hält, gefährlicher noch als bewußt oder unbewußt für die Gesinung [sic] und in der Gesinnung von Tageszeitungsverlangen Weltgeschichte zu schreiben, so bleibt es nunmehr unbenommen, hier den endgültigen Trennungsstrich zu ziehen und damit die Lage zu klären« (Kantorowicz, Ernst: Über Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte; in: Der Ring 3 (1930/18), S. 333-335, hier S. 335).

GIANCARLO LACCHIN

»… du bist ein gott der nähe« Religion der Gestalt und Gestalt der Religion in der Platon-Forschung des George-Kreises Das Erscheinen von Stefan Georges Der Stern des Bundes im Jahre 1914, kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges und sieben Jahre nach dem Siebenten Ring, markierte für die dichterische und geistige Gemeinschaft, die sich seit 1892 um seine Gestalt versammelte, den Beginn einer Entwicklungsphase, die den zuvor bloß literarischen Kreis in einen ›leiblichen‹ Bund umwandelte. In dieser Hinsicht stellt sich die neue Sammlung, deren Titel ursprünglich Lieder an die heilige Schar lauten sollte, als eine bedeutende und wesentliche Stufe bei der Formulierung von Georges Erziehungsprogramm dar, das schon um die Jahrhundertwende mit der Gründung der Blätter für die Kunst seinen Anfang genommen hatte und jetzt zur echten Bestimmung und Aufgabe der Dichtung Georges aufstieg. So heißt es z. B. bei Thomas Karlauf aus freilich kritisierbarer Perspektive: Mit dem Stern des Bundes gab George dieser Gemeinschaft ihre Verfassung. […] Es war das Programm einer Elite, die sich im Kern über zwei Begriffe definierte: über die unbedingte Verehrung für einen Meister, der ihr den großen Menschen repräsentierte, und über die Freundschaft zwischen einem Älteren und einem Jüngeren, durch die der Fortbestand der Gemeinschaft sichergestellt war. 1

Verehrung und männliche Freundschaft werden die zwei dialektischen Pole des neuen Bundes, der durch das künstlerische Phänomen und einen wirklich religiösen Kult der künstlerischen Gestalten in der leiblichen und konkreten Haltung seiner Mitglieder sowie in der Beziehung zwischen Meister und Schüler im platonischen Sinn wurzelt. Die poetische Voraussetzung dieses neuen Gefüges der ›politischen‹ Gemeinschaft findet sich gerade im zweiten Buch des Werkes, dem so genannten Buch der Initiation, das »die Einführung der Novizen in die Mysterien«2 beschreibt, in die Mitte von Georges Welt führt und – wie bekannt – der Gestalt Maximins gewidmet ist. Die Figur des 14-jährigen Dichters Maximilian Kronberger, den George 1902 in München kennen_____________ 1 2

Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2/2007, S. 389. David, Claude: Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967, S. 286.

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gelernt hat, steht am Anfang einer neuen Interpretation der Antike im George-Kreis, die »auf dem Wege einer unvermittelten Vergegenwärtigung durch die lebendige Erfahrung der Alten Welt [...] hervorgeht«.3 ›Lebendige‹ Erfahrung der Antike meint bei George zuallererst den Bezug auf den lebendigen und gestalteten Leib eines neuen Gottes, der in der Gestalt des Jünglings Fleisch geworden ist. Wie schon 1905 – zur Zeit der Überwindung der von den so genannten ›Kosmikern‹ und Ludwig Klages, Alfred Schuler und Ludwig Derleth vertretenen Perspektive4 – in der Vorrede zu Maximin geschrieben steht, wird die neue Mythologie des Leibes Maximins zum wirklichen Kult und zur Religion aufgrund der Lyrik Georges und ihrer künstlerischen Formen, die den menschlich gestalteten Gott als Urbild und lebendige Personifizierung der Beziehung zwischen Gott und Mensch (metexis im platonischen Sinn) feiern. Als Heldenvorbild (kalokagathos) und Sinnbild des ›dorischen‹ Zusammenhangs zwischen Jugend und Herrschaft erscheint Maximin so als echte Verwandlungskraft des Lebens durch die Kunst in einer in primis plastischen Hinsicht: Wir erkannten in ihm den darsteller einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten […] ‒ einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte. […] Je näher wir ihn kennen lernten desto mehr erinnerte er uns an unser denkbild und ebenso verehrten wir den umfang seines ursprünglichen geistes und die regungen seiner heldenhaften seele wie deren versinnlichung in gestalt und gebärde und sprache.5

_____________ 3

4

5

Mattenklott, Gert: »Die Griechen sind zu gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen«. Die Antike bei George und in seinem Kreis; in: Seidensticker, Bernd / Vöhler, Martin (Hrsgg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Mit 50 Abbildungen. Stuttgart – Weimar 2001, S. 234-248, hier S. 238. – Zur Antike bei George vgl. auch Arbogast, Hubert: Stefan George und die Antike; in: Versuche über George. Verein der Freunde der Akademie für gesprochenes Wort in Verbindung mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach am Neckar. Stuttgart 1998, S. 7-28; Lacchin, Giancarlo: Stefan George e l’antichità. Lineamenti di una filosofia dell’arte. Lugano 2006; Seubert, Harald: ›Hellenische Wunder‹ ‒ Antike, Christliche Welt und Moderne bei Stefan George und seinem Kreis. Einige Überlegungen; in: Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland. Herausgegeben von Bruno Pieger und Bertram Schefold. Berlin 2010, S. 307-352. Vgl. u. a. Keilson-Lauritz, Marita: Stefan George, Alfred Schuler und die ›Kosmische Runde‹. Zum Widmungsgedicht A. S. im Jahr der Seele; in: Castrum Peregrini 34 (1985) H. 168-169, S. 24-41; Blasberg, Cornelia: Weißer Mythos und schwarze Feste. Karl Wolfskehls Antikerezeption; in: »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Herausgegeben von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof. Frankfurt/M. 2002, S. 445-470; Moretti, Giampiero/Tripodo, Pietro (Hrsgg.): L’anima e la forma. Stefan George di Ludwig Klages. I canti del sogno e della morte di Stefan George. Roma 1995. George, Stefan: Vorrede zu Maximin; in: George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Robert Boehringer. Band I. München – Düsseldorf 1958, S. 522-528, hier S. 523 (aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle ›SGW‹ und der Seitenzahl).

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In Maximin versucht George deshalb die Gesetzmäßigkeit der Freundschaft und das wirkliche Wesen des Bundes sichtbar zu machen: Gebärde und Sprache werden als Mittel der ritualisierten Form des gemeinsamen Lebens gefasst. Das hohe Amt unserer Liebe, Über das Feststehende und die Denkformen, Das Göttliche sowie Priestertum der Liebe sind die Titel einiger Schriften des George-Kreises, die zwischen 1908 und 1910 in den Blättern für die Kunst erscheinen und die Haltungen bzw. die liturgischen Formen dieses Kultes bestimmen. Offertorium, consecratio und communio – wie George selbst diese liturgischen Formen nennt – finden ihren Ursprung und ihr Ende im Leib selbst und in der ›erotischen‹ (stets platonisch gemeint) Teilnahme, immer im Leib, an den Sinnen und an der Seele. Die Vermittlung der Dogmen wird genau durch die Dichtung – eine Weisheitsdichtung, nämlich ›das Göttliche‹ – vollzogen, die von den Musen herkommt und wie die platonische mania vom Gott durch die geweihten Geister zu den Zuhörern fließt. Der platonische Zirkel poiesis – hermeneia – mimesis wird beim Georgeanischen Kult insofern in einer reflexiven und streng strukturierten Perspektive durch die symbolische Linie Gott – Schöpfer – Hirt – Herde (somit auch in einer christlichen Perspektive) neu belebt: Die gewährleistung für den bestand des menschtumes […] ist das Göttliche im menschen: alles fruchtbare des menschen kommt aus der pflege dieses Göttlichen […] Die Schöpfer haben das Göttliche in der ersten unmittelbaren art: sie sind urtypen […]. Die Schöpfer müssen das Göttliche immer wieder neu gebären · sie geben es in der aufnehmbaren form den Hirten und diese geben es in der aufnehmbaren form der herde. […] Für zeiten die das Göttliche im menschen nicht erleben ist Gott eine blosse denkform.6

Das ist das neue ›hellenische Wunder‹, zugleich eine höhere Lebensform, ein Erziehungsprogramm und ein ästhetisches Modell, das in der Neunten Folge der Blätter für die Kunst (1910) die Beziehung zur Antike gerade als eine »durchdringung · befruchtung · eine Heilige Heirat«7 verwirklicht und die echteste griechische Weisheit – die Weisheit der alten Geister des frühen Griechenlands und der Mysterien – verkörpert: Hinter der erklärungen geschichtlicher · schönheitkundiger und persönlicher art liegt der glaube dass von allen äusserungen der uns bekannten jahrtausende der Griechische Gedanken: »der Leib · dies sinnbild der vergänglichkeit · DER LEIB SEI DER GOTT« weitaus der schöpferischste und unausdenkbarste · weitaus der grösste · kühnste und menschenwürdigste war · dem an erhabenheit jeder andre · sogar der christliche · nachstehn muss. 8

_____________ 6 7 8

Blätter für die Kunst, Neunte Folge (1910), S. 154f. (aus den dieser Reihe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›BfdK‹, des Jahrgangs und der Jahres- und Seitenzahl zitiert). Vgl. den Abschnitt Das hellenische Wunder in BfdK IX (1910), S. 2. BfdK IX (1910), S. 2.

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Giancarlo Lacchin

Es ist eine umfassende und höhere dorische Perspektive, die bei George den Leib als zentrale Einheit zwischen Stoff und Seele offenbart: als ein Gebilde wie die griechischen Statuen, das einen organischen Körper darstellt und in dessen geformten Grenzen zugleich die ihm einverleibte Seele zeigt. Wenn »der Leib selber«, wie Friedrich Gundolf in seiner Monographie über Goethe sagt, »Seele«9 ist und die Vergottung des Leibes bei George immer eine Verleibung des Gottes, so darf man unter dem dorisch-georgeanischen ›Leib‹ »nicht modernerweise einen Physiologischen Apparat verstehen, den ›Körper‹, sondern eine metaphysische Wesenheit, unter Vergottung nicht ein psychologisches Erlebnis, ›Vergötterung‹, sondern einen kultischen Akt und eine mythische Schau«.10 In dieser dorischen Auslegung der Antike erscheint Platon als der größte Vertreter und Meister der ursprünglichen Weisheit (»der göttliche Plato«, wie George selbst dichtet), deren Einheit zwischen Denken und Tun seine philosophische Lehre als eine von starkem Formwillen bestimmte lebendige und wirkende Lehre darstellt. Alles – der Kosmos und die Ewigkeit – erscheint in ihm von Schönheit und Eros durchdrungen. Wie Kurt Hildebrandt mit Platon sagt, ist »das unendliche« aber »plötzlich wieder in eins geballt, steht die vollkommene Schönheit auf unserm erdboden, gebannt in eine menschliche gestalt«.11 Was in George (und vor allem im Stern des Bundes) den Antrieb zum Ewigen durch die Individuation der Seele im Leib ausmacht, das ist genau die Macht der künstlerischen und mythischen Tat, die durch Sprache, Rhythmus und Klang zur Dichtung bzw. zum Kunstwerk wird. Von der griechischen Darstellung der kalokagathia als leiblichem, geistigem und auch sozialem Grundelement aus wird der schöne Leib für den Georgeaner nicht nur zum Vorbild für die Erziehung der Jünglinge überhaupt, »sondern zugleich eine Inspiration des Dichters, der durch die Schau des schönen Leibes einen geistigen Kosmos, eine ›neue Gestalt‹ hervorbringen sollte«.12 Der schöne Leib wird so zum Vorbild einer Erziehung zur dichterischen Mitte, d. h. zum wirklichen Kern des künstlerischen Kultes, und nur auf diese Weise verbinden sich künstlerischer Schöpfungsprozess, Erziehung und Eros untrennbar im dichterischen Kunstwerk. In dieser künstlerischen Hinsicht ist Der Stern des Bundes nicht mehr bloße Sehnsucht oder _____________ 9 10 11 12

Gundolf, Friedrich: Goethe. Neunte, unveränderte Auflage. Berlin 1920, S. 6. Gundolf, Friedrich: George. Berlin 1920, S. 39f. Hildebrandt, Kurt: Romantisch und Dionysisch; in: Jahrbuch für die geistige Bewegung. Herausgegeben von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. Jahrgang II (1911), S. 89115, hier S. 91. Groppe, Carola: »Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe / Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.« Erziehungskonzepte und Erziehungsformen im George-Kreis; in: GeorgeJahrbuch 2 (1998/1999), S. 107-140, hier S. 121.

Religion der Gestalt und Gestalt der Religion

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formloses Verlangen, sondern bereits echte Verwirklichung, plastische Erfüllung: […] die innere Existenz des Dichters in antike Luft gerückt. […] Wo früher Sehnsucht war […] ist nun Erfüllung […]. Hier ist nichts mehr vom Hindrängen auf ungemessene, ungekannte Weiten, sondern ein Haben und Wissen […], sichere Weisheit und Lehre […].13

Im Stern des Bundes redet George Maximin und dessen erotische und plastische Macht an: »… du bist ein Gott der nähe«. Das meint, wie Ernst Morwitz in seinem Kommentar zu Georges Werk fast nietzscheanisch schreibt, »eine Gottheit, die zur Erde der Menschen und nicht zu einem erdachten Jenseits gehört«.14 Das ist die alte und ursprüngliche Lehre der Nähe zu derjenigen Gottheit, die bei George durch die Kunst ein neues Zeitalter beginnen soll: das Zeitalter nämlich des ›ästhetischen Staates‹, in dem die »platonische[n] Ideen auf die Gegenwart übertragen [werden], und so wird sein ganzes Gefüge von selbst eine Neuschöpfung aus griechischem Geist ‒ zu einem ›dritten Humanismus‹, wie man Georges Weltbild genannt hat«.15 Dieser neue Humanismus geht vom archaischen Begriff des Eros aus und damit von einer antiken, weil dorischen und pythagoreischen Metaphysik, die hier »als Autorität in Anspruch genommen [wird], um das Vakuum im Innern der Kultsetzung mit einem philosophisch-esoterischen Kontext zu füllen«.16 In Maximin, einem Gott des Krieges aus heraklitischem Blickwinkel (einem Gott der stetigen Verwandlung und der Erlösung), werden deshalb dorischer und platonischer Eros mit einem kultischen Prinzip identifiziert, das auf der herrschenden und führenden Kraft seines Gottes ruht. Die dorische Gesetzmäßigkeit Maximins wird folglich zum echten Führertum und Sieg über das formlose Leben: Dem Lenker dank der mich am künftigen tag Mit dir zur tat bestimmte die uns opfert Zum preis der sterne · bruder du im kampf ! […] (SGW 379)

Des Weiteren: […] Denn du bist ein gott der nähe. Auge hell noch ohne schatten

_____________ 13 14 15 16

Landmann, Edith: Georges Wiedererweckung der Griechen; in: Castrum Peregrini 5 (1955), H. 25, S. 7-33, hier S. 18f. Morwitz, Ernst: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München – Düsseldorf 1960, S. 375. Schmitz, Victor A.: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges. München – Düsseldorf 1971, S. 140. Stottmeister, Jan: Pythagoreische Elemente in Stefan Georges Maximin-Kult; in: GeorgeJahrbuch 6 (2006/2007), S. 122-149, hier S. 138.

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Stark die ballen deiner hände ‒ Hast des hirten brust und kniee .. Ja du bist ein gott der frühe.. (SGW 377)

Die erotische Kraft Maximins ist zuerst Vereinigung der Gegensätze im Leib und in der geistigen Gemeinschaft seiner Verehrer, die in den Formen des gemeinsamen Kultes eine neubelebte Verwandtheit mit dem Göttlichen selbst stiften. Wie eine neue Fassung von Platons Lehre im Symposion lauten die Verse: Die einen lehren : irdisch da – dort ewig .. Und der : ich bin die notdurft du die fülle. Hier künde sich : wie ist ein irdisches ewig Und eines notdurft bei dem andern fülle. Sich selbst nicht wissend blüht und welkt das Schöne Der geist der bleibt reisst an sich was vergänglich Er denkt er mehrt und er erhält das Schöne Mit allgewalt macht er es unvergänglich. […] (SGW 380)

Schönheit, Ewigkeit, Fülle und Allgewalt erscheinen gemeinsam als Sinnbilder dieser Fügung, die im Bund, im Leib und in der lebendigen Haltung der Geweihten wurzeln und ewig weiterleben. Die Antike wird so wie eine ewige Gestalt dargestellt und Platon selbst in diese fortdauernde und beständige Wirklichkeit eingesetzt, ja zum Meister dieser neuen und ewigen Weisheit geweiht. In Platon leben – George zufolge – Leib und Geist gleichzeitig, nebeneinander und ineinander, und nur diese ebenso untrennbare wie unvermeidbare Einheit steht am Anfang der neuen kultischen und ekstatischen Tat: […] Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut Geist der ich bin umfängt ihn mit entzücken : So wird er neu im werk von geist und blut So wird er mein und dauernd ein entzücken. (SGW 380)

Die Auffassung von Maximin als dem königlichen Herrscher im geistigen Reich Georges bildet das konkret-apriorische Schema für die historische Deutung Platons und seines Kreises. Die Antike Platons, die ewig und doch lebendig und pulsierend bleibt, stellt sich genau gegen jede zwiespältige und beschränkte Interpretation seiner ›heiligen‹ Figur, die sich auf die Auslegung Platons im Kontext des Neukantianismus Paul Natorps oder der Schule von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Werner Jaeger beruft.17 Das Vorbild der Kritik des George-Kreises an diesen Deutungen des platonischen Denkens und Wirkens (bzw. an der gesamten _____________ 17

Vgl. den Abschnitt ›Die scienza nuova des George-Kreises‹ in: Brecht, Franz Josef: Platon und der George-Kreis. Leipzig 1929, S. 6-21.

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Antike in einer allgemeinen Sinn), die in den Büchern einiger Anhänger und Schüler in einer wissenschaftlichen Art wenige Jahre später geschildert wird, steht am Anfang der sogenannten ›scienza nuova‹ des Kreises, die in der Dichtung Georges und seiner Sinnbilder ihre unmittelbare Quelle findet.18 Die Platon-Forschung im Kontext des Kreises ist nämlich der echte und eigentliche Kern der sogenannten Tradition der ›Gestaltgeschichte und -biographie‹,19 in der die morphologische Betrachtungsweise eine neue Legitimation findet. Hans-Georg Gadamer berichtet dementsprechend: Mit dem Wort ›Gestalt‹ ist das Stichwort gefallen, unter dem sich ein neuer Stil der Forschung durchsetzte und in der Wissenschaftsgeschichte unter den Namen der ›Gestaltbiographie‹ Eingang fand.20

Die ›neue Wissenschaft‹, die sich als eine Mythologie der Gestalt in der Gottheit Maximins darstellt, ist so zugleich die Erbin all jener Tendenzen, die aus Bachofens, Burckhardts und Nietzsches Schaffen weiterwirken und durch ihre sichtbare Verleiblichung in einem heroischen Menschen antiker Prägung neue Tiefe, neuen Glanz und neue Kraft erhalten. Ihre Hauptfiguren, zu denen vor allem Friedrich Gundolf, Wilhelm Stein, Ernst Bertram, Berthold Vallentin, Ernst Kantorowicz, Edith Landmann und Erich Kahler zählen, bestimmen eine ›neue‹ Geschichtslehre, die in der Deutung Platons ihren Ausgangspunkt findet. Die erste Phase der Platon-Forschung des Kreises (1908-1914), die in den folgenden Ausführungen den Mittelpunkt bilden soll, konkretisiert sich insbesondere in den Werken der beiden George-Jünger Friedrich Wolters und Heinrich Friedemann. Hier handelt es sich um eine betont religiöse Phase der Platon-Forschung im Kontext des Kreises: um eine genuine Kunstreligion, die durch nicht begrifflich, sondern konkretlebendig bestimmte Auslegungskategorien die Gestalt Maximins in eine Gestalt künstlerischer Religion verwandelt, der Platon immer als Seher und Führer gilt und die sich im Leib der Jünger verkörpert. Die Religion wird so zur lebendigen Gestalt, zur mitreißenden und kultischen Gestalt des ›geistigen Reiches‹, in dem – so Wolters in seinem Aufsatz Herrschaft und Dienst (1908) – die Natur bzw. das Sinnliche und die _____________ 18

19 20

Vgl. im Kontext von Max Webers Polemik Wissenschaft als Beruf (1917) Kahler, Erich: Der Beruf der Wissenschaft. Berlin 1920; Curtius, Ernst Robert: Max Weber über Wissenschaft als Beruf; in: Die Arbeitsgemeinschaft 1 (1919/20), S. 197-203; Troeltsch, Ernst: Die Revolution in der Wissenschaft (1921); in: Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften. Band 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Herausgegeben von Hans Baron. Tübingen 1925, S. 653-677. Vgl. die ›Einleitung‹ zu Gundolf: Goethe (Anm. 9), S. 1-28, bes. S. 1f.. Gadamer, Hans-Georg: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983); in: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Band 9: Ästhetik und Poetik II: Hermeneutik im Vollzug. Tübingen 1993, S. 258-270, hier S. 263.

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Seele bzw. »die einheit tragender und handelnder kraft · die den einzelorganismen innewohnt«21 als notwendig wesentliche Bestandteile des einzigen geistigen Ganzen mitwirken. In diesem Ganzen verleihen die so genannten ›formenden Gewalten‹ seiner geistigen Räumlichkeit Ordnung und Maß; der Sinn solcher Anordnungen aber wird von der allmächtigen Kraft des Willens bestimmt, die hier als ›Herrschaft‹ benannt ist, d. h. als »jene macht · welche ihr licht aus der lebendigen mitte schleudert«.22 Die Kategorie ›Herrschaft‹ stellt den lebendigsten formenden und schöpferischen Trieb dar, und wie beim dorisch-platonischen Eros »neigt so wieder ding und seele einander zu«.23 Als notwendige Ausstrahlungs- und Emanationskraft in plotinischer Perspektive ist die ›Herrschaft‹ auch ekstatische Erfahrung, denn sind die empfänglichsten gefässe gefüllt · so überströmen sie bald von dem immerwährenden strome gespeist die weiteren kreise · bis endlich die ganzen entgeisterten Ebenen […] den lebendigen segen empfinden · trinken und ihre dürren sich mit ihm zu neuen saaten schwellen.24

Drittens ist diese ›Herrschaft‹ – Wolters zufolge – formende und maßgebende Kraft, geistiges Schöpfungsprinzip, denn die »schöpfung einer welt ist die bildwerdung des blutes durch den geist«.25 Die Herrschaft setzt sich so im Leib des Herrschers durch, und dieser ist die Kraft, welche die geistige Tat vollbringt, denn die höchste Möglichkeit ist genau diejenige, dass der Herrscher sich in Einem Menschen gebiert. In dieser Hinsicht erscheint Platon als eine herrschende Gestalt, als die er »mit innerem zwange die Ebenen des Reiches seiner formung unterwirft«26 und – eben als Dichter und Sänger der heiligen mania – seinen Willen zur Form zum Ausdruck bringt: Doch wir wollen hier diese frage weder für die künste noch für die anderen gebiete des geistes zu entscheiden suchen · sondern den Herrscher · dessen stoff die sprache · dessen werk die dichtung ist · in seiner höchsten form der einigen und einzigen person betrachten und duch betrachtung tiefer zu verehren lernen. 27

Die Herrschaft wird bei Wolters zugleich zum höchsten Dienst, der sich in einer heiligen lobenden Dichtung und in einem Kult verwirklicht. Die mythopoietische Kraft der dienenden Dichtung steht so am Anfang einer neuen ästhetischen ›Herrschaftsepoche‹, die im plastischen und poieti_____________ 21 22 23 24 25 26 27

Wolters, Friedrich: Herrschaft und Dienst; in: BfdK VIII (1908/09), S. 133-138, hier S. 133f. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 134. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 135. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 135. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 136. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 136. Wolters: Herrschaft und Dienst (Anm. 21), S. 137.

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schen Willen Platons und aus seiner echten künstlerischen Macht heraus, ins Reich der Mütter zu schauen (so Wolters), ihr immer lebendiges Vorbild hat. Das geistige und mächtige Reich Wolters’ und Georges erscheint als der echte Erbe der politeia Platons, die hier in einer Platon selbst vielleicht fremden, ausschließlich ästhetischen Perspektive gedeutet wird; sein Ursprung liegt deshalb in der Macht der Dichtung, in der dichterischen Weisheit, in der Gestalt einer ewigen Religion. Mit dem 1914 erschienenen Platon-Buch von Heinrich Friedemann, dessen bedeutungsvoller Titel Plato. Seine Gestalt lautet, wird die Konvergenz zwischen Wissenschaft und Dichtung für George schlüssig bewiesen und findet die Platon-Forschung des Kreises ihren entscheidenden Ausgangspunkt. Wegen seines bombastischen Stils gilt das Werk zwar für viele Leser als ziemlich ungenießbar, hat aber für George – wie schon Berthold Vallentin berichtet28 –auf einer Stufe mit der Geburt der Tragödie und am Anfang aller Wissenschaftswerke aus dem Kreis der Blätter für die Kunst gestanden. Trotz Winckelmann, Schleiermacher, Hegel und Schopenhauer wurde Platon bekanntlich erst durch Nietzsche in Deutschland grundlegend wiederentdeckt, und George bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Im Gegensatz zur negativen Haltung Nietzsches war jedoch ein positiver Zugriff auf Platon zu gewinnen, und diese Aufgabe wird – von Kurt Hildebrandt und seinen Platon-Übersetzungen29 einmal abgesehen – insbesondere von Hermann Friedemann übernommen. Stefan George ist sich dieser Notwendigkeit bereits bewusst, als er 1910 in einem Brief an Gundolf eingesteht: In Nietzsche steht doch ziemlich alles. Er hat die wesentlichen grossen dinge verstanden: nur hatte er den PLASTISCHEN GOTT nicht (daher sein missverstehen der Griechen besonders Platons[…]).30

Das Platon-Bild des Kreises, das sich als plastische Anschauung der Wirklichkeit durch den Leib zeigt, wird in Friedemanns Buch nach sieben ›konkretlebendigen‹ Kategorien im Sinne von Friedrich Wolters gegliedert: Sokrates, Idee, Eros, Leib und Seele, Reich, Kult und schließlich Kunst. Entschieden programmatisch lautet das Ende des Buches:

_____________ 28 29 30

Vgl. Vallentin, Berthold: Gespräche mit Stefan George. 1902-1931. Amsterdam 1967, S. 94. Bemerkenswert sind vor allem Kurt Hildebrandts Übersetzungen aus dem Symposion und der Politeia: Platons Gastmahl. Leipzig 1912; Platons vaterländische Reden. Leipzig 1936; Platons Phaidros. Kiel 1953; Platon: Der Staat. Leipzig 1955. Stefan George an Friedrich Gundolf, 11. Juni 1910; in: George, Stefan / Gundolf, Friedrich: Briefwechsel. Herausgegeben von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann. München – Düsseldorf 1962, S. 201f., hier S. 202.

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So will auch diese rede ein bild, nicht nur ein wissen sein, nicht kenntnis mehren sondern das leben verwandeln, wo es noch fähig ist wahrhaft platonisch zu werden: gedachtes geschautes verdichten zu werk und tat […].31

Wenn nicht der Philosoph und Denker, sondern der Dichter und Priester Platon im Mittelpunkt steht, dann ist sein Denken nicht durch Vernunft, sondern durch mania bestimmt, und selbst die Ideen, wenngleich neukantianisch als Hypothese verstanden, werden als konkretlebendige Kategorie betrachtet und »verdichtet zur kultischen gestalt«:32 »Die Ideenlehre ist in Friedemanns Deutung nicht Grundlage einer Erkenntnistheorie; sie wird vielmehr zur Glaubenslehre und Prophetie«.33 Diese Glaubenslehre hat ihr Zentrum im ›Leib‹, dessen Begriff aus der Idee der Schönheit in ihrer Beziehung auf das menschliche Maß hergeleitet wird, so wie sie im Phaedrus und im Philebos erscheint: Die pflanzung des edelsten menschlichen maasses in den göttlichen leib ist griechischer art: der gott ist nicht als ein jenseitiges ziel getrennt, mit dem der mensch mysthisch sehnend die einswerdung erstrebte, sondern stellt aus der reinsten menschlichen flamme ausgestrahlt die menschliche höchstform als erreicht und seiend dar.34

Im Leib kommen die Daseinsformen und Wirkungskräfte zum Ausdruck, welche vordem als ›Gesamtleben‹, ›Mitte‹, ›Gestalt‹ bezeichnet waren. In dieser Hinsicht ist die platonische Welt nur als ein Ganzes zu betrachten bzw. als eine menschlich-göttliche Fügung zwischen Leib und Seele, die durch die ›kultische Gemeinschaft‹ der Erkorenen zum geistigen und erotischen Reich wird. Die dialektische Beziehung zwischen Herrschaft und Dienst stellt die ordnende Kraft des Reiches dar, und Platon selbst erscheint als Stifter eines neuen Kultus: wirklicher Führer und Menschenbildner des geistigen Reiches, der aber, wie die ›Herrscher‹ bei Wolters, nur in der Sprache und in der Dichtung wirken kann. Des Weiteren verwandelt sich die Religion der Gestalt in eine künstlerische Gestalt der Religion, indem die mythische Gründung des Reiches zur ersten und letzten Aufgabe des platonischen Denkens und Wirkens wird: Das reich zu bilden und in der gemeinsamen schwingung des geistes, im rhythmus, zu tragen, ist der begehung frucht – feier und schau sind nur der gewinnung wege, das ziel des weges aber ist die tat.35

_____________ 31 32 33 34 35

Friedemann, Heinrich: Platon. Seine Gestalt. Genauer Abdruck der Erstausgabe der Blätter für die Kunst 1914. Mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt. Berlin 1931, S. 139. Friedemann: Platon (Anm. 31), S. 32. Rebenich, Stefan: »Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel«. Platon im Georgekreis; in: George-Jahrbuch 7 (2008/2009), S. 115-141, hier S. 123. Friedemann: Platon (Anm. 31), S. 48. Friedemann: Platon (Anm. 31), S. 122.

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Bei Friedemann heißt es darüber hinaus: »Denn die plastische bildung des volkes ist die letzte aufgabe der philosophen«.36 Der Staat erwächst deshalb als die Verkörperung der Idee als Kult, als das lezte und wunderbarste Kunstwerk des platonischen Geistes. So wie Platon selbst in den Nomoi (817b) sagt (hier in Hildebrandts Übersetzung): Unsere ganze stadt ist somit eine verleiblichung des schönsten und edelsten lebens und dieses nennen wir die wahrste tragödie. Dichter also sind wir, dichter auch ihr desselben werkes, antagonisten in der kunst um das schönste drama, wie es das wahre gesetz allein zu vollenden den wuchs hat.

Das liegt der letzten hermeneutischen Kategorie der Kunst zugrunde, die in Platon – laut Friedemann – im Medium des philosophisch-mythischen Zwiegesprächs wirklichen Bestand gewinnt. Die in der Politeia aus dem platonischen Staat verbannte Kunst wird deshalb erlöst und gewinnt ihre zentrale Rolle in dem besonderen Sinne, dass der Dialog zur neuen und lebendigen Form einer Kunstreligion wird, die mit der Prophetie und der echten geistigen Weisheit in einer inneren und wesentlichen Beziehung steht. Mit dem Dialog, der Gundolf zufolge »zur Erörterung von menschlichen Gegensätzen die gemäße, das Drama zur Verkörperung«37 ist und den Friedemann als die höchste künstlerisch-religiöse Form ansieht, hat Platon ein ewiges dichterisches und politisches Werk vollendet, das sich zugleich als Begängnis und als Kult bestimmt. Die dialogische Form wird so zur echten Dichtung (als mania und poiesis) bzw. zum echt religiösen Hymnus, der durch die Gesetzlichkeit eines einheitlichen und symbolischen Stils im gesellschaftlichen und politischen Gefüge der platonischen politeia und des geistigen Reiches Georges zum Leib wird. Es ist deshalb das so genannte ›Gebet‹ des Phaidros an Pan, das den Menschen mit der Totalität der Welt verbindet und die platonisch-georgesche Gestalt der Religion ins Menschliche herabzieht. Wie Franz Josef Brecht schreibt, liegt »der Urquell, aus dem der Feuerstrom der religiösen Glut Platons hervorbricht«, aber »nicht in irgendeinem noch so vergotteten Menschlichen, sondern im Göttlichen selbst, kultisch gefeiert durch die kosmische Rhythmik des chorischen Tanzes der Gestirngötter, wie der Timaios kündet«.38 Die georgesche Gestalt der Religion (mag sie auch eine Georgisierung Platons bzw. eine Platonisierung Georges sein) wirkt nie als ein Rückbinden der Gegenwart an das Vergangene, sondern als eine ständige Sinnbildung, ein ewiger Gestaltungsprozess. Sie erscheint als der lebendige Kern der ewigen Bewegung des Denkens und stellt, als kultische, gemeinschaftliche und politische Fügung gedeutet, eine Reflexions- und Steige_____________ 36 37 38

Friedemann: Platon (Anm. 31), S. 122. Gundolf: Goethe (Anm. 9), S. 488. Brecht: Platon und der George-Kreis (Anm. 17), S. 54.

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rungsform in Sinne der Frühromantik dar − die Form einer zukünftigen und ›romantischen Klassik‹, einer Kunst-Religion, die Zeiten und Epochen miteinander verbindet und von George als religiöser ›ewiger Augenblick‹ genannt wird: Der Sinn aber unseres Staates ist dieser: dass für eine vielleicht nur kurze Zeit ein Gebilde da sei, das, aus einer bestimmten Gesinnung hervorgegangen, eine gewisse Höhe des Menschentums gewährleistet. Auch dies ist dann ein ewiger Augenblick wie das griechische Jahrhundert.39

_____________ 39

Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf – München 1963, S. 40.

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Georg Heyms Religion der Kunst I 1909, 24./25. Dezember nachts. An solch einem sinnträchtigen Datum verfasst der 22-jährige Georg Heym eine Vortragsskizze mit dem vielversprechenden Titel Versuch einer neuen Religion. Eingeleitet wird die Schrift von lateinischen Versen: ›Die Tage folgen einander immer gleich, die Überwindung von Islam und Christentum, zugleich aber die Durchsetzung einer mit dem Heidentum versöhnten Religion werden in Aussicht gestellt‹.1 In der Nachfolge romantischer Bestrebungen und mit dem avantgardistischen Pathos des Aufbruchs in ein neues Menschenalter verkündet Heym lapidar: »Es wird Zeit, uns mit einer neuen Religion zu umgeben«. (VR 164). Hieran fällt sofort dreierlei auf: erstens die Wahrnehmung der Gegenwart als bedeutendes Moment einer imminenten Wende; zweitens das Aufgehen des Subjekts in einer die Menschheit umfassende Gemeinschaft; drittens die räumliche Qualität der zu erwartenden neuen Religion, wie das an dieser Stelle alles andere als selbstverständliche Verb ›umgeben‹ suggeriert. Verraten die ersten beiden Erscheinungen nichts Neues über den Horizont des angehenden 20. Jahrhunderts und spezifisch über Heyms Verortung in der Avantgarde, so mutet die Vorstellung einer ›uns umgeben‹ sollenden Religion fremd an. Die Forschung ist sich schon längst über die Aneignung religiöser Konstellationen von Seiten der Lyrik dieser Jahre im Klaren, die in der Bibel ein unerschöpfliches Repertoire von Bildern und Metaphern vorfindet, welche in visionären Figurationen _____________ 1

»I Ruunt dies. Aequales alter et alter! | Quando ausi aetas, quando nobis vertitur. | II Discipulus: | Qualem religionem homines subsequentur? | Qualem doctrinam, prophetae Mohammed an dei Christi? | Gemistos Plethon: | Neutram. Sed a gentilitate non differentem. | Misithrae. a. d. 1450« (Heym, Georg: Versuch einer neuen Religion; in: Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider. Band 2: Prosa und Dramen. Mit 6 Handschriftenproben. Zweite, durchgesehene Auflage. München 1986, S. 164-172, hier S. 164 (keine der zu Rate gezogenen Heym-Ausgaben gibt über die Quelle dieser Verse Auskunft); im Folgenden wird der Versuch einer neuen Religion unter Angabe der Sigle ›VR‹ und der Seitenzahl zitiert.

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verwertet werden2. Dagegen eröffnet die Auffassung der Religion als eine nicht vorwiegend innerlich-seelische Angelegenheit, sondern als eher räumliche Dimension des Lebens den Weg für unerwartete Assoziationen und Deutungsmöglichkeiten, denen nachzugehen Ziel dieses Beitrags ist. Den Einstieg bildet eine Beschreibung des ca. sechs Seiten langen Textes; daran anschließend wird die Frage erörtert, ob dieses Fragment trotz seiner episodischen Beschaffenheit irgendwelche Spuren in Heyms Dichtung hinterlassen hat, und zuletzt gilt es am Beispiel von Erwin Loewenson dem kunstreligiösen Potential nachzugehen, das der frühe Tod Heyms in sich birgt. II Heyms Skizze geht von einer pragmatischen Prämisse aus, die der Religion eine kulturell zweitrangige Position, soziologisch aber eine umso wichtigere im Vergleich zu Wissen und Kunst zuspricht: Dem Volke die Religion ganz zu nehmen, ist verfehlt. In seinen breiten Schichten kann es sie nicht entbehren, denn es würde für sie keinen Ersatz finden, nicht den, den der Gelehrte in seinem Wissen, der Künstler in seiner Kunst entdeckt. (VR 164)

Religion ist demzufolge nicht so sehr die Antwort auf ein Bedürfnis des Geistesmenschen, der entweder ästhetisch oder erkenntnistheoretisch seine Existenz rechtfertigen kann. Sie ist vielmehr die einzig denkbare Form einer Sinngebung für die Massen bzw. eine anthropologische Konstante, von der man nicht absehen kann. Der junge Dichter, der die Menschen bildungshierarchisch einstuft, zeigt hier ein Pathos der Distanz, das vom lyrischen Ich seiner Verse später aufgeben wird. _____________ 2

Vgl. Mahlendorf, Ursula R.: The Myth of Evil: The Reevaluation of the Judaic-Christian Tradition in the Work of Georg Heym; in: The Germanic Review 36/3 (1961), S. 180-194. − Schon 1927, als Ferdinand Josef Schneiders grundlegende Studie Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart erscheint, geht der Theologe Wilhelm Knevels so weit, die expressionistische Literatur aufgrund ihrer ›parareligiösen‹ Elemente für die protestantische Theologie zu vereinnahmen und gegen den Naturalismus auszuspielen: »Die Wendung zum Geist, welche die Kunst im Expressionismus genommen hat, ist die Vorbedingung zu einer neuen inneren Verbindung von Kunst und Religion, zu einer Vereinigung jener zwei befreundeten, doch einander entfremdeten Schwestern. Zwar muß der im Expressionismus erschienene ›Geist‹ noch eine große Wandlung durchmachen, bis er religiös wird; aber zuweilen bricht auch in ihm schon ein Transzendentes, Uebersinnliches durch. […] Das wäre im Sinn des protestantischen Prinzips: das Religiöse nicht in abgegrenzten Bezirken, sondern das ganze Leben religiös« (Knevels, Wilhelm: Expressionismus und Religion. Gezeigt an der neuesten deutschen expressionistischen Lyrik. Tübingen 1927, S. 10-11).

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Von der Abschaffung jeglicher Dogmatik ausgehend, plant Heym nun eine synkretistische Religion, in der die christliche Liebe sich mit den Vorstellungen der Antike und der Renaissance paart. Ein neu zu erfindender Christus, dessen Verehrung sich zu einer der Immanenz verpflichteten ›Heroen‹- und ›Naturverehrung‹ gesellen soll, entspricht seinem Anliegen, der neuen Religion Zulauf zu sichern: Gewiß werden wir auch seine Person nicht entbehren können, – einmal um seine Anhänger nicht zu verstoßen − dann auch um in ihm den großen Menschen nicht zu verlieren – wir werden ihn aber nicht turmhoch über die andern seines Stammes erhöhen. (VR 165)

Weil die christliche Liebe »mit der Kraft, mit dem Willen zum Diesseits« (VR 165) Hand in Hand gehen soll, gilt es den zunächst aus quasi werbestrategischen Gründen3 in den Entwurf integrierten Christus umzuwerten: Wir werden ihn entgöttern und ihm dafür die Krone der Menschheit verleihen. Wir werden ihn gleichsetzen den anderen Großen unseres Geschlechts. (VR 165)

Es folgt der Umriss eines ›speziellen Plans‹: Die Priester. Die Tempel. Die Gottesdienste. (VR 165)

Die Priester sollen »aus reinem Blute« sein und »ehelicher Geburt« (VR 166) entstammen. Mit einem Jahr werden sie der Mutter genommen und in Tempelschulen untergebracht, wo man sie in »Morallehre, Geschichte, Literatur und den alten Sprachen« (VR 166) unterrichtet. »Besonderes Gewicht wird auf die Rhetorik gelegt« (VR 166), und daher gilt es anlässlich der Sonnwendefeier Wettkämpfe in der Redekunst abzuhalten. Weil Heiterkeit herrschen soll, werden Schüler mit einem Hang zur Traurigkeit entfernt. Die Beseitigung des im Sinne Nietzsches die Lebenskraft vermindernden Mitleids ist der Angelpunkt der im Versuch vorgelegten Pädagogik: Ebenso halte man alles von den Knaben fern, was auf Leiden und Schmerz schließen läßt. Sie sollen keinen Krüppel oder Blinden sehen. Ihr Herz soll einem Spiegel aus Stahl gleichen, heiter und hart. Nichts vergiftet die Seele der Kinder so, wie das Leiden. (VR 166)

Erst mit 18 Jahren werden sie mit dem Leiden konfrontiert, indem sie »in den Krankenhäusern und bei den Städten der Verbrecher Dienste tun«, _____________ 3

Am 16. April 1908 heißt es im Tagebuch noch: »Ich würde Christus lieben, wenn er nicht der Gott der Masse wäre. Sein Leben, Dichtung, und Tod sind sehr schön. Da ist keine Lücke, durch die man das Häßliche sieht. Aber er wird befleckt, da er in vieler Herz wohnt« (Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider. Band 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Mit 3 Handschriftproben. – Dritte, durchgesehene Auflage. München 1986, S. 106).

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wo sie dann »in den Häusern der Armut leben und in die Tiefen des Lebens schauen [müssen]: So wird ihr Herz auch das Mitleid erlernen« (VR 166). Zwischen 25 und 30 Jahren reisen sie in die weite Welt, um allen Religionen zu dienen. Mit 35 empfangen sie die Weihen im Haupttempel der Republik und werden schließlich gewählt und angestellt. Hiermit ist der lange Bildungsgang abgeschlossen; die Geweihten sind reif für die Mitgestaltung ihrer republikanischen Gemeinschaft, in der Religion, Wissen, Kunst und Politik verschmelzen und die Ordnung ästhetisch sichtbar gemacht wird: »Die Gelehrten und Künstler des Bezirks haben je zwei Stimmen« (VR 167); der Geweihte trägt »einen roten Talar, der Toga ähnlich, einen Reif aus Gold und einen blauen Mantel. Das Ornat vererbt sich von Lustrum zu Lustrum« (VR 167/169). Solche Jugendstil-Ästhetik prägt auch deutlich den Tempel, der sich »in einem großen Waldgürtel« erhebt (VR 169). Wer den Tempelbezirk betritt, soll sich seiner Kleider entledigen, eine weiße Toga anziehen und sein Haar mit einem Efeukranz schmücken. Die Gottesdienste gelten der Heroen- und Naturverehrung, die vorgeschlagenen Rituale dürfen variiert werden. Dass es sich hier nicht nur um eine synkretistische Religion handelt, sondern um eine, die in sich den Keim einer möglichen Kunstreligion birgt, wird erstens durch die ästhetische Betonung des Rituellen an sich deutlich, ohne dass die Inhalte der Andacht näher oder überhaupt verbindlich festgelegt wären; zweitens erhellt es aus dem Privatkult, den ein jeder für sich je nach Geschmack, im wahrsten Sinn des Wortes, gestalten kann: Abgesehen von den öffentlichen Tempeln müßte sich auch jeder, der dazu in der Lage ist, einen Haustempel oder Hausaltar anlegen mit seinen liebsten Heiligen. Ich würde mir in dem meinigen die Bilder aufhängen der Dichter: Grabbe, Byron, Büchner, Renner, und Hölderlin Philosophen: Heraklit, Platon, Schopenhauer, Nietzsche. Der Maler: Lionardo, Michelangelo, der Tonkünstler: Offenbach. In jeder Nische ein Bild mit einer kleinen Flamme. Ein Werk aufgeschlagen auf einem kleinen Betpult. (VR 171f.)

III Auffallend ist in dieser kleinen, fragmentarischen Schrift die Verballhornung von Einflüssen, die von der zukünftigen, wenngleich kurzlebigen Koryphäe der expressionistischen Avantgarde mit einer nahezu historisierenden Geste aneinandergereiht werden: Von Platon über das

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Christentum bis hin zu Nietzsche ordnet Heym die Bausteine seiner Vision innerhalb eines vom Jugendstil suggerierten Rahmens, der nicht sehr weit von den Wunschbildern entfernt ist, die z. B. in nachhaltigen Experimenten wie Monte Verità in Ascona ihren Niederschlag gefunden haben.4 Es ist nicht einfach festzustellen, wieviel davon sein voller Ernst gewesen ist,5 zumal − wie Heinz Röllecke zu Recht warnt − die HeymForschung sich mit manch offener Frage bezüglich seines Werdegangs konfrontiert sieht.6 Die Tagebücher sprechen allerdings gegen die Annahme einer parodistischen Absicht dieser Schrift und legen Zeugnis ab von Heyms intensiver Beschäftigung mit Personifikationen christlicher und nicht-christlicher Religionen, die im Horizont einer nietzscheanischen Treue zur Erde frei kombiniert werden. So heißt es z. B. im Eintrag vom 24. September 1906: »Und ich bete mit der Christen Gebet zu Helios: Führe mich nicht in Versuchung«;7 am 16. November 1906 beteuert er seine Sehnsucht nach der großen Liebe mit der dichterischen Aufwertung des Evangeliums: »Das größte Gedicht, das je entstand, ist das herrliche: Und hätte der Liebe nicht, | So wäre ich tönend Erz und eine klingende Schelle«.8 Und später, am 31. Dezember 1910, artikuliert Heym seine Vorliebe für die Antike aufgrund einer in ihren religiösen Vorstellungen verankerten Konvergenz von Ethik und Ästhetik, indem er die Liebe entschieden ins Zentrum seiner Anliegen rückt: Es ist viel ethischer, mehrere Götter zu haben, als einen. Es ist viel ethischer, die Götter zu personifizieren, als eine große Blase Nichts über sich herumschwanken zu sehen. Warum ist der griechische Götterdienst nicht nur ästhetischer (das ist selbstverständlich), sondern auch ethischer? Weil sich die gleichen Leidenden, z. B. die Liebeskranken, bei dem gleichen Gotte einfanden. Sie opferten gemeinsam, ihre Leiden waren ihnen gegenseitig kund, sie kamen sich menschlich

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Monte Verità ― Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie [Katalog]. Mailand 1978. Es könnte sich um eine Parodie des Jugendstils handeln. Dagegen spricht aber die Chronologie, wenn man mit Kurt Mautz feststellt, dass Heyms Jugendstilparodien erst mit seinem zweiten Gedichtband Umbra Vitae (1912) ansetzen (vgl. Mautz, Kurt: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms. Frankfurt/M. – Bonn 1961, S. 26). »Zu unbestimmt sind letztlich Art und Wirkung der persönlichen und künstlerischen Einflüsse, denen Heym zuweilen, jedoch beileibe nicht immer durchschaubar, folgte, und allzeit fragwürdig bleiben die jüngst so oft nachgezeichneten Entsprechungen zwischen geistes- und gesellschaftsgeschichtlicher Situation und Werk« (Georg Heym Lesebuch. Gedichte, Prosa, Träume, Tagebücher. Herausgegeben von Heinz Röllecke. München 1984, S. 306). Heym: Tagebücher (Anm. 3), S. 65. Heym: Tagebücher (Anm. 3), S. 76.

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näher. Und es ist der erhabenste Beruf der Götter, die Menschen an einander zu schmieden.9

In seinem Versuch, so die These, formuliert Heym einen Wunsch nach Erlösung der modernen Welt, die mit ihren Bahnhöfen am Rand des Tempelbezirks Erwähnung findet. Aus diesem Wunsch geht fast gleichzeitig ein Œuvre hervor, das er mit einer dem Wahnsinn und dem Elend verfallenen und dieser Erlösung bedürftigen Menschheit bevölkert. Die ›Städte der Verbrecher‹, wohin die Tempelschüler erst dann geschickt werden, wenn sie gegen den Anblick des Leidens gefeit sind, geben das Szenario für Heyms Visionen sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa ab. Der vom Waldgürtel abgetrennten Umgebung des Tempels ist eine gefallene, lieblose Großstadtlandschaft entgegengesetzt, die besonders in der Lyrik eine strukturelle, der heilen Welt unbekannte Eigenheit aufweist, auf die nun einzugehen ist. Das knüpft an die eingangs erwähnte räumliche Qualität des Entwurfs für eine neue Religion an, der Heym nicht nur sprachlich, sondern auch durch die Zeichnung eines Grundrisses Ausdruck gegeben hat: Alle architektonischen Bestandteile sind nebeneinander in horizontaler, überschaubarer Disposition geordnet. Wenn man an Heyms Lyrik denkt, fällt dieses Szenario der Horizontalität als einzigartig auf, denn die in seinen Versen wiederkehrende Ansicht ist vorwiegend eine bedrückende Vertikalität sowohl der Stadt (Der Gott der Stadt) als auch der Natur (Der Wald). Die Weltuntergangsvisionen dieser Lyrik halten die halb herbeigewünschte, halb gefürchtete Bedrohung des Fallens, des Zusammenbrechens der modernen Welt mit den Metaphern einer Lyrik fest, die die Dynamik von oben und unten, Turm und Abgrund, Höhe und Tiefe immer von neuem aktiviert. Die Vertikalität versinnbildlicht dort die Spannung eines bevorstehenden Falls, einer drohenden Apokalypse, während die Räumlichkeiten der neuen Religion die utopische Sphäre einer zurückzugewinnenden Horizontalität erschließen, die im Ästhetischen die Integrität des Menschen verankert. Eine solche Räumlichkeit stellt die im (vertikalen) Sturz begriffene Zeit des Weltuntergangs still, oder aber sie hat diesen Sturz schon hinter sich, was aber dem Text allein nicht zu entnehmen ist. Diese Kunstreligion entsteht allerdings aus einer Aneinanderreihung heterogener Elemente, die Heym dem Christentum und der Antike abgewinnt, auf eigene Weise zusammensetzt und in ihrer nach Art des Jugendstils imaginierten Wiedergabe als Alternative zum modernen Großstadtleben darstellt. Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Tagebuch-Eintrag vom 21. Juli 1910, in _____________ 9

Heym: Tagebücher (Anm. 3), S. 154f.

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dem Heym seine ganz besondere Leistung verkündet, eine zentrale Bedeutung: Ich glaube, daß meine Größe darin liegt, daß ich erkannt habe, es gibt wenig Nacheinander. Das meiste liegt in einer Ebene. Es ist alles ein Nebeneinander.10

Heym verzichtet darauf, an anderer Stelle dieses Prinzip weiter zu erörtern, das isoliert genug in seinen Tagebüchern dasteht.11 Die Aufhebung der Zeit in einen ›ewigen Tag‹ scheint hier im Keim vorhanden zu sein,12 es ist aber nicht auszuschließen, dass dieser Gedanke schon beim Versuch Pate gestanden hat, wo die heterogensten Religionen zusammenfließen, damit ein neues, zeitentrücktes Gebilde entsteht, an dem sich die Bewohner der Gegenwart festhalten können. In den eingangs angeführten lateinischen Versen erscheinen die Tage in ihrer Gleichheit auch in einer semantischen Reihenfolge: »Aequales alter et alter« (VR 164). Der Topographie des Nebeneinanders im Sinne einer alle Bereiche des Lebens umfassenden Neugestaltung schenkt Heym nicht wenig Aufmerksamkeit: Der Tempel liegt in einem großen Waldgürtel. Auf eine Meile im Umkreise wohne kein anderes Leben. Auf je 500 000 Menschen komme ein Tempel. An dem Rande des Tempelbezirks liegen die Bahnhöfe, die Gasthäuser. (VR 169)

Synchron und aufeinander verweisend liegen die archaisch anmutende religiöse Welt und die moderne Verkehrstechnologie der Metropole beieinander, und synchron begegnen sich auch Christus und Zarathustra, _____________ 10 11

12

Heym: Tagebücher (Anm. 3), S. 140. Der Spruch ist als Bekenntnis zu einer Lyrik der Simultaneität interpretiert worden: »Diese Lyrik der Simultaneität antwortet auf die zerstreute Wahrnehmung in der Großstadt, auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinneseindrücke nicht mit dem Versuch, sie durch unabschließbare Reihungen in freien Langversen nachzuahmen, sondern durch ein möglichst vielfältiges Nebeneinander der Eindrücke zu konstruieren. Georg Heym reflektiert darüber 1910 im Tagebuch, daß es ›wenig Nacheinander‹ gibt: ›Es ist alles ein Nebeneinander‹« (Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Lehrbuch Germanistik. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart − Weimar 2010, S. 168). In diesem Sinne versucht Erwin Loewenson Heyms Worte zu interpretieren: »Was er damit sagen will, ist nicht sicher. Um die neuen physikalischen Zeitaspekte hat er sich nicht gekümmert. Die Erkenntnis, daß es keine geschichtliche Evolution gebe, weil alles, was sich ereignet, sich im Grunde schon in früheren Epochen abgespielt habe ‒ dieser Gedanke war zu alt, um ihm seine ›Größe‹ zu zeigen. Das Wesentliche war ihm: die eine gleichbleibende Ebene des Da-seins selbst. Diesen Sinn hatte der Titel seines Gedichtbuches: Der Ewige Tag. Was möglich ist, muß zutage treten. Alles Erscheinende hat gleichen Ewigkeitswert. Vielleicht dachte er dabei an das Koordiniertsein aller Unterschiede und Gegensätze sub specie aeterni – wegen ihres gemeinsamen metaphysischen Ursprungs. Also an Leben und Tod; oder an das Subjekt und die Schicksalswelt. Vielleicht bezog er es gar auf das Innere des Subjektes selber: auf Ichpassivität und Ichaktivität. Das passive Reflexverhalten seiner Lebensfiguren und die Urgewalt der Dämonen, beides ist eins, Heym kennt es als Nebeneinander seiner eigenen Sensitivität und seiner Überlegenheit ihr gegenüber« (Loewenson, Erwin: Georg Heym oder Vom Geist des Schicksals. Hamburg − München 1962, S. 74).

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die Leitsterne in Heyms Tagebüchern neben den Romantikern Novalis, Hölderlin, Arnim und Brentano.13 Weil aber die Skizze Fragment bleibt, kann man nicht entscheiden, wie sich Heym den Verkehr zwischen der modernen Welt und den kunstreligiösen Oasen vorgestellt hat: ob letztere effektiv Ziel oder Ausgangspunkt einer Regeneration der modernen Welt der Metropolen ausmachen oder aber ironisch, wie Gasthäuser und Bahnhöfe an ihren Rändern vermuten lassen, Erholungsstätten für Touristen auf der temporären Flucht vor der Großstadt sind. Im Zeichen des ›Nebeneinander‹ unterbricht aber Heym in Der ewige Tag die Folge von grauenhaften Visionen mit Sonnwendtag, wo seine geplagte Menschheit entweder verschwunden oder endlich zur Ruhe gekommen ist, indem er in den Titel den Feiertag seiner ›Neuen Religion‹ von 1909 hinüberrettet: Es war am Sommersonnwendtag, Dein braunes Haar im Nacken lag Wie Gold um schwere Seiden. Da nahmst du mir die feine Hand. Und hinter dir stob auf der Sand Des Feldwegs an den Weiden. Von allen Bäumen floß der Glanz. Dein Ritt war lauter Elfentanz Hin über rote Heiden. Und um mich duftete der Hag, Wie nur am Sommersonnwendtag, Ein Dank und Sichbescheiden.14

Der Höhepunkt der religiösen Zeit, wie er im Versuch zum Vorschein kommt, ist der Vorstellungswelt des Dichters erhalten geblieben, hat sich aber in seinen Versen als Liebeserfüllung in einer sakral-zyklischen Unterbrechung fürchterlicher Visionen bewahrheitet. Dass sich hier im Lesefluss der Gedichte eine unerwartete Erholungspause vom Leiden ergibt, hat zumindest mancher Rezensent nicht ohne Staunen vor diesem Fremdkörper in der desolaten Landschaft der Heymschen Lyrik verlautbart: »Auf der Suche nach häßlichen Motiven gelangt Georg Heym bis zu den ›Schwarzen Visionen‹, der abstoßenden Umwerbung einer Begrabenen! Doch neben dieser Verwesungslyrik taucht plötzlich ein _____________ 13

14

Hier gilt es eher auf die topographische, quasi urbanistische Qualität der Vorstellungswelt bei Heym aufmerksam zu machen, der im Fall des Versuchs einer neuen Religion ein utopisches Potenzial anhaftet. Das ›Nebeneinander‹ erwiese sich dann nicht nur als Ordnung der Eindrücke, sondern auch als Struktur einer – wenngleich nur bruchstückhaft entworfenen − Lebensalternative. Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider. Band 1: Lyrik. Hamburg − München 1964, S. 570f.

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frisches Liebeslied ›Sonnwendtag‹ auf, und hier ist der Dichter plötzlich lebensfroh und mild und verliebt«.15 Und noch: Es herrscht sozusagen hie und da ein saddistisch [sic] aufgepeitschter Trieb, der in schroffsten blutrünstigen Kontrasten schwelgt. Indes ― einmal kommt uns Georg Heym auch wirklich lyrisch im ›Sonnwendtag‹ […].16

IV Obwohl der Einfluss der Dichtung Stefan Georges auf Heym unumstritten ist, hat ihn diese Feststellung immer irritiert. So reagiert er nach seinem Auftritt im Neopathetischen Cabaret vom 8. Juli 1910, nach dem ein Rezensent ihn sogar als George-Schüler eingestuft hat, wie folgt: »[…] wer mich kennt, weiß was ich von diesem tölpelhaften Hierophanten, verstiegenen Erfinder der kleinen Schrift und Lorbeerträger ipso iure halte«.17 Der Versuch kann daher auch im Sinne eines republikanisch-polytheistisch gemeinten Gegenentwurfs zum Kult um Stefan George und dessen früh verstorbenen Protegé Maximin betrachtet werden. Dass Heym daran lag, seine Distanz zu dieser Konstellation zu markieren, geht zudem aus Erwin Loewensons Zeugnis hervor, der kurz nach Heyms Tod eine nicht erhalten gebliebene Gedenkrede im Neupathetischen Cabaret hält, die teilweise in einer Überarbeitung von 1922 und schließlich im Aufsatz von 1962 Georg Heym oder Vom Geist des Schicksals überliefert ist. Die fünf Jahrzehnte umfassende Entstehung dieser Schrift wirft das schwer zu lösende Problem auf, wann bei Loewenson bestimmte Vorstellungen in seiner Heym-Deutung dominant geworden sind. Denn über einen ersten, als Gedenkrede konzipierten Kern hinaus veranschaulicht er am Beispiel des frühverstorbenen Dichters eine Metaphysik des Schicksals, die mit seiner Sicht auf das Judentum und die Moderne verwoben ist und letztendlich in eine Kritik an Heyms ›obstinatem Ich‹ mündet.18 Die persönliche Erinnerung an den Freund _____________ 15 16 17 18

Aus: Großstadtlyrik [Berliner Tageblatt, Morgen-Ausgabe, 14. Juni 1911]; in: Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914. Herausgegeben von Richard Sheppard. Hildesheim 1980‒1983. Band 2, S. 140. Aus: Literarisches – Neue Lyrik [Vorwärts (Berlin), 1. August 1911]; in: Die Schriften des Neuen Clubs, Band 2 (Anm. 15), S. 141f. Heym: Tagebücher (Anm. 3), S. 139. »Sein obstinates Ich hat die Idee des Schicksals, die sich aus der Geheimregion der Instanz emporwölbt und die gleichwohl ihrer Regie untersteht – sein Ich hat diese Idee von umfangsweiteren Konnexen eingeklemmt in die Horizontgrenzen seiner empirieverhafteten, in Vernichtung und Untergang schwelgenden Weltvision. Mag daraus auch echte Kunst werden, sogar extrem ergreifende Kunst, sofern sie ein selbsttransformierendes Wagnis einer Einheitsverfassung ist – es zeigt sich doch zugleich, wie

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und die philosophischen Erörterungen liegen im Buch nicht ganz nahtlos beieinander, sodass es zu vermuten steht, die 1912 im Trauergefühl gehaltene Rede habe vorwiegend der Würdigung des Verstorbenen gegolten, während die weit anspruchsvollere philosophische Entwicklung des Textes mit Loewensons steigendem Interesse für den Zionismus einhergegangen sei und zwar frühestens ab 1922. Im Folgenden wird vorwiegend auf jene Stellen eingegangen, die nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich im Horizont des Neuen Clubs stehen. Zwischen Aneignung und Konkurrenz agierte in Bezug auf Stefan George auch der Neue Club, dem Heym gerade beitrat, als sich seine Mitglieder programmatisch von George distanzierten.19 So schreibt Loewenson rückblickend: »Georges religiös-erregte Liebe zu einem schönen Jüngling (Maximin), der bald starb und vergöttlicht wurde, hätte nicht der Ausgangs- und Mittelpunkt dieser Bewegung sein dürfen – etwas viel zu Privates, um schließlich politische Wirkung haben zu können.20 Dazu kam eine zwischen weihevoller Demut und Triumph pendelnde ›Ichpoetik‹ (Jakob van Hoddis), mit der George sein eigenes Amt für die kommende Weltgeschichte − seinen ›Rang‹ − feierte. Heyms Dichtung wird als Alternative dazu gedacht: »Heym fühle sich davon abgestoßen; wir anderen empfanden es nur als eine ungeschickte Mischform von priesterlicher Geheimnistuerei, Machtwillen, ästhetischem Prachtaufwand, fast als überlebte ›Pathetik‹«.21 Als Erbe Goethes tritt nun Heym auf den Plan: Was uns hier ursprünglich zu fehlen schien, war das Erlebnisorgan für die unendlich creatorische Majestät des Daseins – mit seinem grotesk-unheimlichen Vexierspiel in der brutalen und verzaubernden Dissonanz jeder Schicksalswelt. ›Das Weltall ruht, von Ungeheurem trächtig‹ – dieser Vers des Größten hatte uns in Stefan George zuwenig Echo gefunden – unser ›neopathetischer‹ Feldruf war aber ganz und gar die von dergleichen geforderte Unumwundenheit. Und eben das war es, was – unsagbar personifiziert – uns in Georg Heyms verwogener Natur entgegenzutreten schien. In seiner Natur, vorerst noch nicht in seinen Dichtungen.22

_____________ 19

20 21 22

unheilvoll die Ausschließlichkeit der ›ästhetischen‹ Haltung sein kann: die ›Hingabe‹ im Selbstgenuß der vitalen Erschüttertheit (Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 147). Heym tritt dem Neuen Club am 19. März 1910 bei, d. h. in einem Zeitraum (8. 11. 1909 ― 31. 5. 1910), als man anfing, »sich von den Spätromantikern George und Hofmannsthal zu distanzieren. Jetzt kam es weniger auf einen ästhetisierenden Lebensstil, sondern mehr auf die Überwindung der Décadence durch die Entfesselung der irrationalen Kräfte der Psyche oder einen engagierten moralischen Willen an« (Einleitung. Der zweite Aufruf an die Berliner Studentenschaft und die Monate danach; in: Sheppard: Die Schriften des Neuen Clubs, Band 1 (Anm. 15), S. 179-181, hier S. 180). Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 69. Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 69. Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 70f.

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Loewensons Erinnerungen an Heym konzentrieren sich aber über dessen programmatische Relevanz für die frühe expressionistische Poetik hinaus auf die mythologische Tragweite seiner kurzen Existenz, die in einen Gegenentwurf zum Maximin-Kult zu münden scheint: Der Zufallstod dieses daseinstrunkenen Vierundzwanzigjährigen im Januar 1912 im Eisbruch des Havel-Sees steht manchem, der ihn erlebt hat, noch heute als ein grauenvolleres Rätsel-Monstrum vor Augen als der Kriegshereinbruch 1914, die Sphinx der Jahrhunderte. Wer war dieser Unsterblich-Junge, dessen Verschwinden in einer Falltiefe der Natur die Denkenden seiner Generation wie ein Mythos-Geschehen durchzittert hat?23

Die Erinnerung nimmt die Formen einer religiösen Andacht an, die Heym zu einem Heiligen aufwertet: Die abenteuerliche Dichterlaune des Lebens, die uns und der Welt den phantastischen Georg Heym geschenkt hat – kein still-ergebenes Wort wäre imstande, kein Psalm wäre hoch genug, sie zu preisen. […] Lebensgeil wie ein homerischer Gott war er und wußte nicht wohin vor Existenz… 24

Loewenson geht frühestens ab 1922 so weit, seine Würdigung des Dichters Heym in eine Verkündigung des Propheten Heym umzufunktionieren, in dessen Versen die verhängnisvolle Geschichte des ersten Weltkrieges und dessen Folgen auf die Anfänge der Weimarer Republik vorweggenommen sein sollen: Er sah die Schiffe unter dem Bauch der Meere nicht wiederkehren, er sah die Meerstädte aussterben, er sah die Hungerblockade: die Märkte leer und schmutzig werden, immerfort ihre riesigen Lippen aufsperren und ›nach einem Heiland der tollen Zeit‹ schreien. […] Er sah im Traum den Kaiser in Halle (wo anfangs wirklich sein geheimgehaltenes Hauptquartier war), sah ihn erniedrigt, den gemeinen Soldaten gleichgestellt, bei einer Operation wird ihm ein Stück Holz zwischen die Därme getrieben (wie ein Symbol für den angeblichen ›Dolchstoß‹).25

An Heym veranschaulicht Loewenson seine Mystik des Hellsehens: So gewiß hier Dokumente von Hellsichtigkeit vorliegen, so gewiß blieb dies seinem eigenen Bewußtsein verborgen. Es gibt ein Hellsehen der Zentralität, an der gerade die Rationalschicht nicht teilnimmt. Dem babylonischen Talmud war das unwillkürliche Aussprechen einer solchen, bloß dem Unbewußten eröffneten Zukunftsschau eine wohlbekannte Erscheinung: das ›Prophezeien ohne zu wissen, daß man prophezeit‹ ist dort ein sich wiederholender Terminus. Georg Heym sind immerhin Bilder des Kommenden von erregendster Ähnlichkeit vor Augen getreten.26

_____________ 23 24 25 26

Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 5. Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 5. Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 79f. Loewenson: Georg Heym (Anm. 12), S. 80.

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Abschließend kann man sagen, dass Heym in Hinsicht auf Kunstreligion eine doppelte Rolle gespielt hat, die Stefan George als polemischen Bezug zum Hauptmotiv hat: als Subjekt eines nur Skizze gebliebenen Entwurfs, dessen Spuren aber im Gedicht Sonnwendtag als plötzlicher Einbruch eines liebevollen Augenblicks inmitten einer Folge von schrecklichen Weltuntergangsvisionen lesbar sind; als Objekt eines im Umkreis des Expressionisten post mortem eingerichteten Kults, in dem die Avantgarde ihrer ›zerbrochenen Harfe‹27 nachtrauert.

_____________ 27

Vgl. Hinck, Walter: ›Zerbrochene Harfe‹. Die Dichtung der Frühverstummten. Georg Heym und Georg Trakl. Bielefeld 2004.

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Wenn der Künstler zum Demiurgen wird Der Kubismus und Bebuquin von Carl Einstein ›Wiederholen oder Erfinden‹: Dies war die künstlerische und literarische Herausforderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Wagnis und Herausforderung zugleich, worauf die Kubisten meisterhaft und irreversibel antworten sollten. In der Malerei war es bis zu diesem Zeitpunkt darum gegangen, die von Gott geschaffene Welt zu reproduzieren, sie nachzuahmen und zu rühmen. Die Zentralperspektive hatte einen unbeweglichen Betrachter vorausgesetzt, der aus seiner Rolle eines Bewunderers der göttlichen Harmonie nicht heraustrat, und die im Laufe von Jahrhunderten herausgebildeten Gesetze trugen entscheidend dazu bei, einen Geisteszustand und Sachverhalt zu bestätigen, der zur steten Wiederholung, ja Tautologie führen musste. Im Dienst Gottes und seiner Werke, seines Klerus und einer auf Macht und Herrschaft begründeten Gesellschaft stehend, diente die Malerei lange als Vorwand, um die bestehende Ordnung zu festigen. Doch bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts verkündeten Philosophen, darunter insbesondere Friedrich Nietzsche, dass Gott tot sei. Gleichzeitig entdeckten Naturwissenschaftler einen Raum, der sich vom unbeweglichen Raum des Euklid unterscheidet; Ethnologen untersuchten andere Gesellschaftsmodelle, und technische Verfahrensweisen wurden entwickelt, die in die Struktur der Materie einzudringen erlaubten; zur gleichen Zeit trugen die Entwicklung der Photographie und noch andere Faktoren dazu bei, akademische Erstarrung und Tradition in den bildenden Künsten zu erschüttern. Der von Malern wie Paul Cézanne eingeleitete Umbruch setzt sich um die Jahrhundertwende durch: Eine seit Jahrhunderten währende Kontinuität wird durch ein neues Bewusstsein aufgesprengt − durch den von Konventionen befreiten Blick, den der Künstler endlich auf die Welt und die Objekte wirft. Es kommt in den ersten kubistischen Arbeiten zu einer Ablehnung all dessen, was ererbt, vorgegeben, kodifiziert war. Indem die Kubisten auf das Reproduzieren verzichten, keine Bilder einer erstarrten, versteinerten Realität mehr vermitteln und jegliche Anwandlung von Mimesis von sich weisen, erfinden sie kühn die Zukunft. Sie werden zu Architekten einer neuen Realität, zu Demiurgen einer neuen Welt.

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Carl Einstein,1 der mit der Geburt dieser revolutionären künstlerischen Ära grundlegend verbunden ist, wird zum hellsichtigsten und originellsten Theoretiker dieser Wende und bezeugt den Wandel auch als Handelnder durch seine eigenen Arbeiten, in denen er neue Formen des Schreibens entwickelt. Der Dichter, Schriftsteller, Kunsthistoriker und engagierte Intellektuelle jüdischer Herkunft trägt ausschlaggebend zum Bekanntwerden des Kubismus in Frankreich und Deutschland bei; im Ringen um Anerkennung und Verbreitung dieser demiurgischen Malerei ist er seinem engen Freund Daniel-Henry Kahnweiler verbunden, dem deutschen Galeristen der Kubisten in Paris. Vereint in der Verteidigung dessen, was beide als Quintessenz der modernen Kunst betrachten, entwickeln sie mutige und entscheidende Analysen. Bei Daniel-Henry Kahnweiler sind dies Der Weg zum Kubismus (1914-15 geschrieben, 1920 im Delphin Verlag erschienen) und einige spätere Schriften; bei Carl Einstein sind es die ersten Artikel über die zeitgenössische französische Kunst, die im Zusammenhang mit deutschen Ausstellungen von Gemälden Pablo Picassos in Zeitschriften des deutschen Sprachraums erscheinen (insbesondere in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Neue Blätter), sowie das viel beachtete Werk Negerplastik2 (wahrscheinlich 1912/13 geschrieben), das während der Wirren des Ersten Weltkriegs 1915 erschien. Diese bahnbrechende Analyse afrikanischer Kunst ist zugleich ein Manifest für den Pariser Kubismus (wir werden zeigen inwiefern). Bedeutsam ist weiter das im Berliner Propyläen Verlag erschienene Werk Die Kunst des 20. Jahrhunderts,3 eine kühne und definitive Darstellung zeitgenössischer Kunst knapp zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung! In der Zwischenzeit hat Einstein seine Analyse des Kubismus in Briefen und manchen Vorträgen verfeinert, z. B. in dem am 7. Januar 1926 an der Sorbonne vor der von Dr. René Allendy gegründeten Groupe d’études philosophiques et scientifiques pour l’examen des tendances nouvelles auf Französisch gehaltenen Vortrag Abrégé d’une esthétique,4 in dem Carl Einstein das dieser Kunst innewohnende, gewaltige Potential von Kräften der Verwandlung und deren Wirkung auf die gesamte Gesellschaft zeigt. _____________ 1 2

3 4

Zu weiteren Details bezüglich Carl Einstein vgl. Meffre, Liliane: Carl Einstein (1885-1940). Itinéraires d’une pensée moderne. Paris 2002. Einstein, Carl: Negerplastik. Leipzig 1915 (Neuauflage: München 1920); französische Übersetzung: La sculpture nègre. Traduction de Liliane Meffre, avec la reproduction des œuvres présentées dans l’édition originale selon l’inventaire établi par Ezio Bassani et JeanLouis Paudrat. Paris 1998. Drei Ausgaben: 1926, 1928 und 1931 (wir zitieren nach der vollständigen Ausgabe von 1931). Publiziert von Liliane Meffre in: La Part de l’Œil. Esthétique et phénoménologie en mutation 21-22 (2006-2007), S. 265-279.

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Kehren wir jedoch zu den Prämissen zurück. In einem Brief vom Juni 1923 an Daniel-Henry Kahnweiler schreibt Carl Einstein folgende Zeilen, die das Arkanum künstlerischen und literarischen Schaffens zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschließen: Ich weiß schon sehr lang, dass die Sache, die man »Kubismus« nennt, weit über das Malen hinausgeht. Der Kubism ist nur haltbar, wenn man seelische Aequivalente schafft. Die Litteraten hinken ja so jammerhaft mit ihrer Lyrik und den kleinen Kinosuggestionen hinter Malerei und Wissenschaft her. Ich weiß schon sehr lange, dass nicht nur eine Umbildung des Sehens möglich ist, sondern auch eine Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen. […] Ich glaube nicht, dass der Kubismus eine nur optische Specialität ist; wenn dies, dann wäre er falsch, da nicht fundiert. Er umfasst als gültige Erfahrung sehr viel mehr und ich glaube, es ist nur Frage unserer Energie ihn zu fassen. 5

In seiner mehrere Jahre später erschienenen Monographie über Juan Gris (1946, d. h. nach Carl Einsteins Tod publiziert) erinnert Kahnweiler an folgendes Urteil Carl Einsteins: »Nous savons bien que le cubisme ne nous aurait pas passionnés comme il l’a fait s’il n’avait été qu’une affaire purement optique«; Kahnweiler bestätigt dies mit der unumstößlichen Feststellung: »Rien de plus vrai«.6 In der Tat hatte Carl Einstein im Kubismus von Anfang an Kräfte erkannt, die fähig waren, nicht nur die Kunst zu verwandeln, sondern auch die gegebene Realität − die Perzeption und die Beziehungen des Menschen zur Welt − und somit auch den Menschen selbst. Dieser ›neue Mensch‹ hatte mit dem der deutschen Expressionisten jedoch nichts zu tun; er war weit davon entfernt! Die von Carl Einstein oft aufgegriffene Formel »Wiederholung oder Erfindung – man mußte sich entscheiden«7 drückt den Zeitgeist der Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus, denen es nicht mehr möglich war, am Scheideweg zwischen alter und neuer Welt des Denkens und der Kunst zu zaudern. Sie kamen nicht umhin, sich für die Neuerschaffung der Welt zu entscheiden. Bei dieser ›fatalen‹ Begegnung mit der Zukunft (Carl Einstein versteht ›fatal‹ im lateinischen Sinn eines unentrinnbaren Schicksals) finden sich Picasso, Braque, Gris zusammen und vereinen oft ihre Intuitionen, Entdeckungen, Ergebnisse. Der Ausgangspunkt ist derselbe: Es geht darum, den Raum neu zu erfassen, d. h. ihn in die zweidimensionale Leinwand des traditionellen Gemäldes einzubringen und dabei auf alle ›Atelier-Tricks‹ zu verzichten: Perspektive, Linienführung, Lichteffekte usw. Genau an diesem Punkt wenden sich die jungen Kubisten der _____________ 5 6 7

Carl Einstein an Daniel-Henry Kahnweiler (Juni 1923); in: Carl Einstein – Daniel-Henry Kahnweiler. Correspondance 1921-1939. Traduite, présentée et annotée par Liliane Meffre. Marseille 1993, S. 138-148, hier S. 139/147. Kahnweiler, Daniel-Henry: Juan Gris. Sa vie, son œuvre, ses écrits. Paris 1946 (zitiert nach der Ausgabe Paris 1990, S. 295). Einstein, Carl: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin 1931, S. 57.

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›Negerkunst‹ zu, um Lösungen für ihre Probleme bei der Raumgestaltung zu finden. Eben diese Lösungen arbeitet Carl Einstein in seiner Formanalyse der Negerplastik und ihrer konkreten Realisierungen heraus, die den Kubisten vollkommene Beispiele reiner Plastik liefern als Ausdruck eines ›formalen Schaffens‹, das ihnen Äquivalenzen des Räumlichen vermittelt: »Das Kunstwerk ist real durch seine geschlossene Form«,8 durch seine eigene Existenz. Eben diese autonome Existenz des Kunstwerks, seine Totalität und lebendige Präsenz wollen die Kubisten durchsetzen: eine neue Realität, die nicht die der Gegenstände ist, jener ›Sammelbecken der Konventionen‹, die als Störfaktoren des Sehens empfunden werden. Haben diese Objekte, die laut Einstein wie Konservenbüchsen zu öffnen sind, lange ein Bollwerk gegen den Tod errichtet bzw. eine Illusion von Ewigkeit vorgetäuscht, so müssen sie nun zerstört werden wie ›bibelots‹,9 die zu lange als Dekoration gedient haben. Die Kubisten dekonstruieren diese Gegenstände, zergliedern sie und bewahren nur die wesentlichen und bedeutsamen Bestandteile auf, die sie wieder zusammenfügen und im Sinn ihrer eigenen Sichtweise neu zusammensetzen. Gris erklärt dies folgendermaßen: [Le peintre cubiste; L.M.] choisit cette catégorie d’éléments qui restent dans l’esprit par la connaissance et qui ne se modifient pas toutes les heures. A l’éclairage momentané des objets, on substitua, […] ce qu’on pensait être leur couleur locale. A l’apparence visuelle d’une forme, on substitua ce qu’on croyait être la qualité même de cette forme.10

Befreiung, Loslösung, Rekonstruktion, Neuerfinden einer Welt der Autonomie des Kunstwerks! Zugleich eine Aufforderung an den Betrachter, der dazu angeregt wird, eine für ihn neue Rolle des Demiurgen zu spielen. Was ihm präsentiert wird, ist keine ›déformation‹, was die Permanenz eines Modells voraussetzen würde, das die Maler eben radikal verworfen haben. Der Betrachter ist dazu aufgerufen, seine Verantwortung zu erproben und aktiv zu werden, um die Auswahl der in der subjektiven Sichtweise des Malers erfassten und angeordneten Elemente zu begreifen; er muss eine neue Realität schaffen, die ihm eigen ist. Er muss sich in einem Raum orientieren, der sich nach vorne oder nach hinten bewegt sowie sich in den Überschneidungen der Ebenen und der Konzentration von Zeichen verändert − in dem ganzen offenen System, zu dem das Kunstwerk geworden ist. Die Erfindung der Collage verändert ebenfalls radikal den Blick und begründet die Struktur des Gemäldes neu. Picasso und Braque führen zum ersten Mal heteroklite Elemente ein (Nagel, Blatt, Schnur, Zeitungs- oder Plakatausschnitte), wodurch sie völlig unerwartete _____________ 8 9 10

Einstein, Carl: Negerplastik (Anm. 2). Leipzig 1915, S. 15 (Paris 1998, S. 64). Von Einstein stets abwertend gebraucht. Gris, Juan: Réponse à une enquête; in: Documents 5 (1930), S. 267-275, hier S. 275.

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Beziehungen schaffen und Interaktionen auslösen, die das Erfassen der bekannten Realität verwandeln. Der Kubismus behauptet sich als ›réalisme subjectif‹ (eine für Einstein bedeutsame Formel), d. h. als eine Gestaltungsweise, die jeglichen Naturalismus ausschließt, um der persönlichen, subjektiven Vision des schaffenden Künstlers freien Lauf zu lassen. Die Kunst gewinnt so eine Sprengkraft, der es gelingt, die Realität und die Strukturen der Welt zu erweitern. Carl Einstein versucht das Gleiche im Bereich des Schreibens und damit in einem Bereich, der sich grundlegend von dem der Malerei unterscheidet. Nie beschreibt er ein Kunstwerk, und nie imitiert er Bilder mit Worten. Im bereits zitierten Brief an Kahnweiler erklärt er, was bei seinem eigenen literarischen Schaffen auf dem Spiel steht: Solche Dinge hatte ich im Bebuquin 1906 unsicher und zaghaft begonnen. Die Arbeiten der »Kubisten« waren mir eine Bestätigung, dass eine Umnüancierung der Empfindung möglich ist.11

Und weiter: [I]m Bebuquin werden die üblichen Dinge an tatsächlich elementaren Erlebnissen lächerlich und grotesk. Genau wie das übliche Bild am kubistischen Erlebnis in einem bestimmten Sinn unzulänglich, vielleicht sogar unrichtig wurde.12

Worum geht es in diesem Bebuquin, den Daniel-Henry Kahnweiler, inzwischen bewährter Experte des Kubismus, als »œuvre cubiste«13 bezeichnet? Es ist ein Anti-Roman, in dem der Antiheld Bebuquin behauptet, das Wunder ohne Gott zu suchen – 1912 veröffentlicht, aber (Carl Einstein betont dies nachdrücklich) bereits 1906-09 geschrieben, d. h. in perfektem Einklang mit dem Aufkommen des Kubismus in Paris, als der Autor, wahrscheinlich bereits ab 1905, jungen kubistischen Malern freundschaftlich verbunden war. Bebuquin ist André Gide gewidmet, dessen Paludes (1895) Einstein als in seinen Augen vollkommenes Beispiel ›absoluter‹ Prosa uneingeschränkt bewunderte. Paludes ist tatsächlich das Modell per se eines autonomen Schreibens, das auf sinnliche Erfassung und Einfangen des Unmittelbaren bedacht ist und sich von jeglichem Objekt − vor allem von jeglicher Mystik − des Schreibens loslöst. Bezüglich der von William Beckford stammenden Prosa Vathek, aber auch in Hinsicht auf Texte von Mallarmé und Baudelaire, notierte Carl Einstein, man befinde sich vor ›reiner Kunst‹, vor einem ›in sich vollendeten Organismus‹.14 Schon der _____________ 11 12 13 14

Carl Einstein an Daniel-Henry Kahnweiler, Juni 1923; in: Einstein/Kahnweiler: Correspondance (Anm. 5), S. 140. Carl Einstein an Daniel-Henry Kahnweiler, Juni 1923; in: Einstein/Kahnweiler: Correspondance (Anm. 5), S. 144. Kahnweiler: Juan Gris (Anm. 6), S. 321. Vgl. Einstein, Carl: Vathek; in: Einstein, Carl: Werke. Band 1: 1908-1918. Herausgegeben von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980, S. 28-31, hier S. 30.

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Held von Paludes hat sein Buch als »clos, plein, lisse comme un œuf«15 definiert, und Einstein fügt hinzu: »dicht wie ein Kreis«, »in sich geschlossen«.16 Bebuquin wird seinerseits von Gottfried Benn, einem Freund Carl Einsteins aus den Zwanziger Jahren, als Modell absoluter Prosa für seine Rönne-Novellen und seinen Roman des Phänotyps zitiert: »An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze«.17 1912 jedoch, dem Erscheinungsjahr von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, wünschte der begeisterte, aber hellsichtige Franz Blei, der ein Vorwort schreiben sollte, diesem Buch »der höchstkonsolidierten Intellektualität«, unverkauft zu bleiben, damit 30 Jahre später die Leser, die nun endlich fähig wären, diese außerhalb der Normen stehende und erstaunliche Prosa zu verstehen, noch unbeschädigte Exemplare finden könnten. Warum diese Zeitspanne? Wahrscheinlich die für notwendig befundene Zeit, um die menschliche Perzeption an eine neue visuelle Sprache sowie an neue Schreibformen zu gewöhnen. Yvan Goll sagt nichts Anderes in seiner Rezension von Texten Carl Einsteins für die Zeitschrift Action: Carl Einstein écrit une prose toute nouvelle et encore incomprise de ses contemporains. Son style est dur comme du béton, svelte comme un pont, indéfinissable comme un gratte-ciel aux cent mille petites fenêtres.18

Kahnweiler seinerseits betont bei Einstein die herbe Dichte, die rigorose Klarheit seines Satzes und seiner Konstruktion, die eine ›architektonische‹ Konstruktion ist und nicht ein mehr oder weniger gelungenes Arrangement der Anekdote19.

Bemerkenswerterweise beziehen sich die Begriffe, die diese Sprache charakterisieren, auf den Rahmen des modernen Lebens: Beton, Brücke, Wolkenkratzer, Architektur. Wie die kubistischen Maler (und vor ihnen bereits Paul Cézanne) beruft sich der Schriftsteller auf ›Tektonik‹, Vereinfachungen, geometrische Linienführung: auf die von Architekten praktizierten Techniken, um einen neuen Lebensraum zu gestalten, um entweder einen visuellen Schock auszulösen oder ein Erlebnis, eine anders erlebte Empfindung, die dem gewöhnlichen Register noch unbekannt ist. Erinnert nicht der tschechische Sammler und Kunsthistoriker Vincenc Kramář, einer der ersten Picasso-Käufer, in seinem 1921 erschienenen _____________ 15 16 17 18 19

Gide, André: Paludes; in: Gide, André: Romans. Récits et soties. Œuvres lyriques. Introduction par Maurice Nadeau. Notices et bibliographie par Yvonne Davet et JeanJacques Thierry. Paris 1958 (Bibliothèque de la Pléiade 135), S. 87-149, hier S. 112. Einstein, Carl: Vathek (Anm. 14), S. 30. Gottfried Benn an Ewald Wasmuth, 27. März 1951; in: Benn, Gottfried: Ausgewählte Briefe. Wiesbaden 1957, S. 208-210, hier S. 209. Action (Nr. 7, Mai 1921) Kahnweiler: Juan Gris (Anm. 6), S. 321.

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Buch Kubismus, dass Picasso Bilder malen wollte, »d’après lesquels un ingénieur pourrait construire exactement les choses représentées«.20 Dem Unverständnis der Pariser Betrachter vor den kubistischen Bildern entspricht also das Unverständnis der deutschen Leser angesichts von Bebuquin: keinerlei Anhaltspunkte für das Publikum; Normen, Grammatik, Zeichen, Formen − alles Bekannte hatte sich verändert. Das beruhigende Bild der Realität verschwand bei den Kubisten in der Fragmentierung und der Transparenz der Ebenen, im Aufbrechen des Volumens ebenso wie in den gebrochenen Zerrspiegeln, den Lichtspiegelungen, dem Spiel der Vorhänge in Bebuquin. Das Hinübergleiten des Realen in einen anderen Zustand bezeichnet Carl Einstein als »lächerlich und grotesk«,21 worunter man nicht den Vorläufer einer dadaistischen Realisierung verstehen darf. Es geht vielmehr um nichts Anderes als um einen Prozess der Beweisführung, dass die Verwandlung des Realen durch jedes Mittel – Distanzierung, Übertreibung, verschiedene Abänderungen – notwendig ist. Es geht darum, die Normen zu überschreiten, eine neue künstlerische Haltung einzuleiten. Von ›Umbildung‹, ›Umwandlung‹ und Schaffen vielfältiger Äquivalenzen, die für das kubistische Unternehmen unerlässlich waren, schreibt Einstein in seinem Brief an Kahnweiler. In einem anderen Kontext wird Bert Brecht später vom ›Verfremdungseffekt‹ sprechen, um die Distanzierung einzuführen und die Perspektive, den Blick auf die gesellschaftspolitische Welt und die menschlichen Beziehungen zu verändern. Bebuquin, der als Hypothese bzw. als Begriff vorgestellt wird und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut, definiert die Quelle künstlerischen, plastischen, sinnlichen Schaffens dieser neuen Realität mit dem Wort ›anders‹. Dies ist, wie er erklärt, der Ausgangspunkt: Das Künstlerische beginnt mit dem Wort anders. Künstlerische Formen können sich dermaßen verfestigt haben, über die Dinge hinausgewachsen sein, dass sie einen neuen Gegenstand erschaffen. […] Das Wesentliche dieses Worts [Form; L.M.] ist, dass es mit Nichts alles enthält aber zugleich mehr ist als Begriff oder Symbol.

Und weiter: Die Anschauung gewinnt in ihr eine Kraft, die vorher dem Begriff allein zugesprochen wurde.22

Die von der kubistischen Vision geschaffene Form lässt ihrerseits eine neue Welt entstehen und führt zur Spatialisierung des Schreibens. Der Text selbst wird zu einem verbalen Objekt, indem er eine die Formen des _____________ 20 21 22

Kramář, Vincenc: Le cubisme. Édition établie par Hélène Klein et Erika Abrams avec la collaboration de Jean Claverie. Traduit du tchèque par Erika Abrams. Présenté par YveAlain Bois et Vojtech Lahoda. Paris, 2002, S. 11. Einstein/Kahnweiler: Correspondance (Anm. 5), S. 144. Einstein, Carl: Bebuquin. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 1985, S. 15f.

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Erlebens und des Empfindens bestimmende Grammatik abschüttelt. Wie bereits bei dem von Carl Einstein bewunderten Rimbaud steht auch Bebuquins Welt unter dem Zeichen der Synästhesie und der Synopsis. Die Passagen, in denen Klänge, Farben, Bilder, Bewegung, Konkretes und Abstraktes, Rationales und Irrationales sich vermischen, sind zahlreich. Hier einige prägnante Beispiele: der Vogel schrie in graurot; die Uhr tönte die Sekunden, jede Sekunde war plastisch deutlich, das Auge sah den Klang; eine blaue Hutfeder Euphemias besoff sich blitzend in der grünen Chartreuse; Bebuquin schaute mit seinem linken Bein in die Ecke der Bar. 23

Der Anfang von Bebuquin ist wohlbekannt: Die Scherben eines gläsernen, gelben Lampions klirrten auf die Stimme eines Frauenzimmers: Wollen Sie den Geist Ihrer Mutter sehen? Das haltlose Licht tropfte auf die zartmarkierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich abbog um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen. Er wandte sich ab von der Bude der verzerrenden Spiegel, die mehr zu Betrachtungen anregen als die Worte von fünfzehn Professoren.24

Alles ist bereits vorhanden in diesem Anfang: eine neu geschaffene Welt, die Wiederholungen, bereits Gesehenes und bereits Gehörtes ausradiert. Personen und Dinge durchdringen einander, tauschen sich selbst aus, verzahnen sich ineinander. Dieses Verfahren konkretisiert in der Literatur die Theorien des Physikers und Philosophen Ernst Mach, eines der Lehrmeister von Carl Einstein. Mach zufolge bestehen Physisches und Psychisches aus zwei Elementen (oder Empfindungen), die sich verbinden und auflösen, untereinander Beziehungssysteme bilden, unabhängig von der Barriere des Körpers, unter Verzicht auf jeglichen Rückgriff auf Metaphysik. Daraus ergibt sich die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt: Das Ich wird zu einem Teil der Welt. Kein transzendentales Ich mehr – »das Ich ist unrettbar«, wie Mach proklamiert.25 Aus dieser Kreuzung von Funktionen entstehen unerwartete und wechselhafte Situationen; eine ungewöhnliche Betrachtungsweise der Welt, ähnlich dem kubistischen Raum mit seinen zahlreichen Variationen. Die Kontinuität charakterisiert nicht mehr die Welt; übrigens sagt Bebuquin, man müsse die Welt nicht zu ihrer Perfektion tragen, sondern zu ihrem Gegenteil. Um die Monotonie zu brechen, müsse ein Wunder geschehen, das die Möglichkeit einer ›unabhängigen Tat‹ bedeuten würde wie das Kunstwerk, das unabhängig geworden ist von jeglicher Illusion, von jeglicher Regel. Bebuquin, der sich als »weltverlassen«26 bezeichnet, sehnt _____________ 23 24 25 26

Einstein: Bebuquin (Anm. 22), S. 27. Einstein: Bebuquin (Anm. 22), S. 3. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen. Jena 1906, S. 20. Einstein: Bebuquin (Anm. 22), S. 44.

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sich nur noch nach Auflösung, nach dem Anfang der ›Umwandlung‹, der Metamorphose, dem anderen Schlüsselbegriff moderner Kunst. Denn wenn Bebuquin an die Möglichkeit eines neuen Wesens geglaubt hat (an einen Augenblick der Wahrheit, an das Wunder, an die Kraft der Handlung: »dies Correktiv von Tatsachen und Dingen«,27 um die materielle Welt und die Vorstellungen, die sich der Mensch davon macht, zusammenfallen zu lassen), so erweist sich die Bilanz als negativ und Bebuquin zerstört sich selbst. Die Hypothese, die er darstellt, hat sich nicht verifiziert. Dieser Text Einsteins siedelt sich gewissermaßen im Kontext der von Ludwig Wittgenstein und Hugo von Hofmannsthal (man denke an den sog. ›Chandos-Brief‹) eingeleiteten ›Sprachkrise‹ an. Carl Einstein hat versucht, den abgedroschenen Wörtern und der verkrusteten Syntax einen neuen Atem einzuhauchen, d. h. ihnen einen mit der Moderne in Einklang stehenden Rhythmus zu verleihen. Haben die kubistischen Maler die Zeichensprache und die visuelle Grammatik verändert, so richtet sich Carl Einsteins Projekt auf die Veränderung der sprachlichen Zeichen. Durch die Schaffung von Neologismen, die überraschende Zusammenführung von heterogenen Elementen, das ebenso unerwartete wie kreative Zusammenprallen von Begriffen und konkreten Gegebenheiten (Licht, Farben, Klänge, Blumen, Alkohol usw.), verleiht er der Sprache eine unerhörte sinnliche und intellektuelle Evokationskraft − unendliche, kaum ausgeschöpfte Möglichkeiten, die der Autor nicht völlig ausgestalten konnte und die später von anderen Autoren aufgegriffen wurden. In Bebuquin versucht Carl Einstein durch seine Arbeit an und mit der Sprache das in seiner Gegenwart erfahrene Erlebnis in der Vielfältigkeit der Kräfte in einem konkreten, sinnlichen und intellektuellen Kontext darzustellen. In zahlreichen Szenen des Romans wird die Zeit wie ein visueller Prozess erlebt, und eben dieses spezifische Erlebnis der Zeit in der Kunst – in der kubistischen Malerei wie in der des Schreibens – bildet den Schwerpunkt von Bebuquin. Die in all ihren Dimensionen analysierte Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) zieht sich durch den Text: vom Anfang bis zum Schlusswort ›aus‹, das ein ausgemergelter, im Sterben liegender Bebuquin sagt, der »unfähig zu reden«28 ist. Eine besondere Erfahrung der Zeit, deren Eingang man in anderen Werken der Avantgarde unter anderen Bezeichnungen sehen wird, so z. B. bei Raoul Hausmann mit dem ›présentisme‹ oder bei Kurt Schwitters mit seinen ›expansiven‹, ›grenzenlosen‹ Werken. ›Gute Prosa‹ zu schreiben erschien Carl Einstein mitten im Spanienkrieg als die einzige Rechtfertigung seiner Existenz. Er kämpfe, schrieb er _____________ 27 28

Einstein: Bebuquin (Anm. 22), S. 40. Einstein: Bebuquin (Anm. 22), S. 50.

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an Kahnweiler,29 damit seine Freunde, die kubistischen Maler, weiter malen dürften und er weiter seine Prosa schreiben könne, wobei sie auf ihren Schultern, einem neuen Atlas gleich, diejenige Welt trugen, die ihre Malerei und ihr Schreiben aus dem Nichts geschaffen hatten. Carl Einsteins Versuch, den Kubismus in seinem Geburtszustand zu erfassen und mit seinen eigenen Schaffenskräften zu nähren, bleibt einzigartig und unerreicht − dies umso mehr, als er ein innovatives und kühnes Leseraster anwendet, das der Psychoanalyse und der Ethnologie entstammt. Einstein misst zum Beispiel der Halluzination eine ungeheuer große Rolle bei, d. h. dem Hereinbrechen des Unbewussten und des Traumes in die Realität. Es geht nicht um eine Halluzination, die pathologischer Art ist oder wie in der Antike von einem Gott ausgelöst wird. Es geht vielmehr um das Aufheben der intellektuellen Bremse, um ein autonomes psychisches Phänomen, das den Zugang zu den archaischen Schichten des kollektiven Unbewussten erschließt. Wenn der Tod der Realität notwendig ist für die Autonomie des Kunstwerks, dann gilt es – will man diese neu beleben, neu schaffen − »de pleins blocs d’imagination […] de mythes et d’inventions«30 des psychisch Wahren in diese erschöpfte Realität hineinzuwerfen. Die Halluzination öffnet dann Zwischenräume, die das Auftauchen von Kräften des Unbewussten und des Traums ermöglichen und so dem Künstler neues Material und neue Formen anbieten, die er durch die Tektonik beherrscht und in ›Psychogramme‹ umsetzt. Durch eine bis auf die Spitze der Möglichkeiten getriebene Stufe des Sehens (das, was Carl Einstein das ›Transvisuelle‹ nennt) erreicht der Maler diese Kreativität. Andere Maler, die Surrealisten wie André Masson und Joan Miró, aber auch Paul Klee, werden diese Quelle des Schaffens besonders ausschöpfen. Wenn sich die Kubisten für die ›Negerplastik‹ und ihre technischen Lösungen interessieren, so beschäftigen sich die Ethnologen mit den so genannten primitiven Gesellschaften, ihren Strukturen, Bräuchen und Gewohnheiten. Die westliche Denkweise öffnet sich neuen Formen von unbekannten religiösen und magischen Praktiken. Die Künstler übernehmen einige davon und säkularisieren sie sozusagen. Mantik, Schamanismus, Trance, Ekstase, Totemismus werden zu häufig verwendeten Begriffen, um Experimente und neue Vorgehensweisen zu bezeichnen, die sich in den kubistischen und dann in den surrealistischen Gemälden konkretisieren. Die archaischen Mythen dienen ebenfalls als Bezüge, um moderne Mythen zu schaffen. Carl Einstein betont, dass Picasso sich einer großen Anzahl von Formen bedient, dabei alles Fetischhafte verachtet, _____________ 29 30

Einstein an Kahnweiler, 6. Januar 1939; in: Einstein/Kahnweiler: Correspondance (Anm. 5), S. 107. Einstein, Carl: Picasso; in: Documents 3 (1930), S. 155-157, hier S. 156f.

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jedoch Zyklen von Mythen für seine Zeit erfindet. Seine Monographie über Georges Braque31 schließt Carl Einstein mit der Erklärung, dass der moderne Mensch sich durch den Akt des Sehens gegen seine aggressive Umwelt verteidige (›sehen‹ und ›betrachten‹ sind zumeist Synonyme von Kampf, Ringen, Entwicklung konstruktiver Energie – vgl. seinen Traité de la Vision)32 und ebenso durch die Produktion von Mythen. Das Kunstwerk wird zwar durch die gesellschaftspolitischen Bedingungen einer Epoche erschaffen, aber es wirkt seinerseits wiederum entscheidend auf seine Epoche zurück. Im Namen der Kubisten wie in seinem eigenen schreibt Einstein in Georges Braque dieses Glaubensbekenntnis, das bereits eine endgültige Bilanz zieht: »Uns beschäftigen Kunstwerke lediglich soweit, als sie Mittel enthalten, das Wirkliche, die Struktur des Menschen und die Weltbilder abzuändern«.33 Und die Schlussfolgerung, die sich ins Kosmische erweitert, lautet folgendermaßen: »Der Mythus ist wieder in das Wirkliche einbezogen worden und Dichtung wird zum ursprünglichen Element des Realen«.34 Unter den zahlreichen Texten von Zeitgenossen – Apollinaire, André Salmon, Maurice Raynal, Max Jacob und andere mehr – liefern die Werke von Jean Paulhan (Braque le Patron, 1952 und La peinture cubiste, 1953) eine andere Perspektive, indem sie eine – in seinen Augen – dem Kubismus innewohnende Dimension betonen: das Sakrale. Es geht aber um das Sakrale der Moderne, dem die etablierte Religion völlig fremd ist. Diese Thematik des Sakralen, die in den Zeitschriften der Zwanziger und Dreißiger Jahre allgegenwärtig ist, muss in eben diese Entdeckung der Ethnologie und die damit verbundenen Arbeiten einbezogen werden. Denken wir an die Zeitschrift Documents, die zu diesem Thema mehrere Artikel von Georges Bataille, Michel Leiris und zahlreichen Ethnologen veröffentlicht, reich illustriert mit Photos von unbekannten Riten und Praktiken, primitiven Festen in diesen gerade erst entdeckten Gesellschaften. Darin werden auch Werke vorgestellt wie Rudolf Ottos Das Heilige (Erstausgabe 1917, französische Fassung 1929), um nur ein Beispiel zu nennen. Die moderne Malerei, erklärt Paulhan, bricht mit der Anführung von Theorien antiker und christlicher Götter, von Christusfiguren und heiligen Jungfrauen; sie evoziert und illustriert nicht mehr: »elle cesse _____________ 31 32 33 34

Einstein, Carl: Georges Braque. Paris 1934. Neuausgabe unter der Leitung von Liliane Meffre. Bruxelles 2003 (nach dem in den Archiven wiedergefundenen deutschen Manuskript von Carl Einstein, Akademie der Künste Berlin). Publiziert in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne 58 (Paris 1996), S. 28-49. Einstein, Carl: Georges Braque; in: Einstein, Carl: Werke Band 3: 1929-1940. Herausgegeben von Marion Schmid und Liliane Meffre. Wien − Berlin 1985, S. 181-355, hier S. 188 (Erstausgabe des deutschen Manuskripts mit kritischem Apparat). Einstein: Georges Braque (Anm. 33), S. 341.

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de représenter le sacré pour l’être«.35 Auf die Gefahr hin, Schrecken hervorzurufen und als ›religion nouvelle‹36 bezeichnet zu werden: Der ›Schutzpatron‹ Braque ist im Sinne Paulhans selbstverständlich kein Heiliger des Kirchenkalenders. Braque ist der Maler, der dazu fähig ist, ein bildnerisches Faktum zu schaffen, die Welt in den Augen des Betrachters zu verändern. Aber er ist auch, wie Paulhan sagt, »le maître des rapports […] invisibles«,37 der auf »ce qui commande« lauscht: le sacré ne lui est plus fourni du dehors, il ne lui arrive plus tout fait, c’est lui qui à grands frais – à grands risques peut-être – doit le reformer de toutes pièces, ou qui sait le laisse passer38

In seinem 1947 erschienenen Essay Das Unbekannte in der Kunst behandelt der Maler Willi Baumeister eben diesen Anteil des Unbekannten. Der Künstler erscheint wieder und wieder als Demiurg, großer Meister und Schöpfer des Sakralen, über dessen Kommen er entscheidet. Die Malerei − seine Malerei − stellt nicht mehr dar; sie ist das Sakrale, das Ideal für andere Autoren. Nach Jean Paulhan liegt das Geheimnis von Braque in der Schöpfung einer ›beauté moderne‹ metaphysischer Natur und im Aufruf, der neue Gefühle entstehen lässt, in die manchmal Liebe, manchmal Abscheu, Erstaunen und Geheimnis sowie Unbekanntes Eingang finden. Was bei der kubistischen Malerei auffällt, wie auch später in Bildern einiger Surrealisten, und in gleichem Maße in der Sprache von Einsteins Bebuquin sowie in den Essays absoluter Prosa, ist die gewaltige Entfaltung von Energie und die menschliche Kühnheit, die sich von der Passivität der Jahrhunderte der Nachahmung und Anbetung abheben. Durch das Ablehnen jeglicher Transzendenz und durch die Bezugnahme auf neue Erkenntnistheorien (Physik, Psychoanalyse, Ethnologie etc.) wird die Kunst auf völlig andere Art geschrieben. Mutig und unumstößlich ist der Wille des Künstlers, sich gegen die ererbten Gegebenheiten der Vergangenheit aufzulehnen, um sie in Frage zu stellen und mit all seinem Gewicht als vergängliches und begrenztes Wesen auf das Reale einzuwirken, das es zu bereichern, zu regenerieren gilt. Bei Kahnweiler heißt das, den »véritables peintres et sculpteurs de l’avenir des possibilités inouïes«39 zu eröffnen. Dank ihrer Fähigkeit, diese Ströme der Imagination, des Unbewussten und des Traums einzudämmen, zu meistern und den anderen zugänglich zu machen, waren diese Künstler tatsächlich neue Demiurgen und die echten Baumeister des Jahrhunderts der Moderne. _____________ 35 36 37 38 39

Paulhan, Jean: La peinture cubiste. Paris 1970, S. 42. Vgl. Basler, Adolphe: La peinture, religion nouvelle (1926). Paulhan, Jean: Braque le Patron. Paris 1952, S. 126. Paulhan, Jean: La peinture cubiste (Anm. 35), S. 139. Kahnweiler, Daniel-Henry: Confessions esthétiques. Paris 1963, S. 11.

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Lassen wir Carl Einstein das Schlusswort mit einem Zitat aus Die Kunst des 20. Jahrhunderts: Picasso zeigt, daß das Wirkliche durch den Menschen erfunden wird und immer vom neuen wieder erfunden werden muss, da es dauernd abstirbt. Picasso hat durch mantische Besessenheit mythische Bildungen und Zustände erreicht. Der Mensch ist nicht mehr Spiegel, sondern Möglichkeit des Künftigen. […] Er beweist, daß der Mensch und die Welt täglich vom Menschen erfunden werden.40

Übersetzung aus dem Französischen: Maryse Staiber

_____________ 40

Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts (Anm. 7), S. 97.

GERALD STIEG

Sakralisierung durch Dichtung bei Rainer Maria Rilke und Georg Trakl Ich möchte mich meinem Thema auf einem Weg nähern, der in der Forschung relativ wenig begangen ist. Ich habe vor Jahren in der ›Maison de la poésie‹ in Paris eine Ausstellung von Manuskripten und Dokumenten unter dem Titel Rilke und der unbekannte Freund veranstaltet. Dieser unbekannte Freund ar Ludwig Wittgenstein, der im Jahre 1914 kurz vor dem Ausbruch des Krieges einen Teil seiner väterlichen Erbschaft bedürf-tigen Künstlern zukommen lassen hatte. Die Verteilung der Summe von 100 000 Kronen war Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Der Brenner, anvertraut, der Georg Trakl und Rainer Maria Rilke je 20 000 Kronen zusprach. Dieser Akt des Mäzenatentums, der auf den ersten Blick eine Familientradition fortsetzt, hat eine bemerkenswerte Konstellation geschaffen – eine ›Fügung‹, um mit Rilke selbst zu sprechen. Wittgenstein, Trakl und Rilke sind damit in eine Beziehung gesetzt, die weit über die materielle Seite der Sache hinausging. Wir verdanken ihr zwei Briefe Rilkes über Trakls Gedichte1 sowie den Umstand, dass im Brenner-Jahrbuch von 1915 die beiden Dichter gemeinsam erschienen. Wir verdanken ihr auch einen Brief Wittgensteins über Trakls Lyrik (FB II 53) sowie seinen Versuch, Ludwig von Ficker die Bedeutung des Tractatus logico-philosophicus zu erläutern, den er gerne im Brenner-Verlag veröffentlicht gesehen hätte (FB II 189-191 und 196f.). Rilke, der im Gegensatz zu Trakl nie die Identität des ›unbekannten Freundes‹ erfuhr, hat sich bei ihm mit einem Manuskript unter dem Titel »Elegieen« (FB II 26f.) bedankt, das Wittgenstein den ganzen Krieg über bei sich getragen hat. Es handelt sich dabei – in Rilkes Reihung – um die Duineser Elegien Nr. 1 und 2 sowie um ›Fragmente aus folgenden Elegieen‹, d. h. der Sechsten Elegie, der fast vollendeten Dritten Elegie (es fehlt nur die letzte Strophe) und des ersten Entwurfs der Zehnten Elegie; hinzu kommt ein weiteres Fragment. Ludwig von Ficker, der den Vermittler spielte, und Ludwig Wittgenstein _____________ 1

Rainer Maria Rilke an Ludwig von Ficker (8. 2. 1915); in: Ludwig von Ficker. Briefwechsel 1914-1925. Herausgegeben von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr und Anton Unterkircher. Wien 1988, S. 86f. (aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›FB‹, der Bandnummer und der Seitenzahl zitiert).

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gehören also neben der Fürstin Marie von Thurn und Taxis und Lou Andreas-Salomé zu den ersten Lesern der Duineser Elegien. Trakl dagegen hat sie nicht zu Gesicht bekommen. In einem Brief vom 8. Februar 1915 reagiert Rilke auf Trakls Tod und die Lektüre des Helian. Darin heißt es: »Trakl’s Gestalt gehört zu den linoshaft Mÿthischen; instinktiv faß ich sie in den fünf Erscheinungen des Helian« (FB II 87). Nach dem Erhalt des Sebastian im Traum schreibt Rilke an Ficker, er habe »viel darin gelesen: ergriffen, staunend, ahnend und rathlos; denn man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiderbringlich einzige waren [...]« (FB II 91). Wittgenstein antwortete auf die Zusendung des Helian und des Kaspar HauserLieds am 28. November 1914: »Ich danke Ihnen für die Zusendung der Gedichte Trakls. Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen« (FB II 53). Im Tagebuch vom 24. November 1914 hatte er notiert: »Ficker sandte mir heute Gedichte des armen Trakl, die ich für genial halte, ohne sie zu verstehen. Sie taten mir wohl. Gott mit mir!«.2 Dagegen war Wittgenstein außerstande, am 9. Februar 1915 auf Sebastian im Traum zu antworten, da er sich »ganz ausgebrannt« (FB II 89) fühlte. Im Tagebuch notierte er: »Von Ficker ein nachgelassenes Werk Trakls erhalten. Wahrscheinlich sehr gut«.3 Wenige Tage darauf erhält Wittgenstein mit fast zweimonatiger Verspätung Rilkes ›lieben, edlen‹ Brief: »Die Zuneigung jedes edlen Menschen ist ein Halt in dem labilen Gleichgewicht meines Lebens. Ganz unwürdig bin ich des herrlichen Geschenkes, das ich als Zeichen und Andenken dieser Zuneigung am Herzen trage« (FB II 89f.). Das ist ein unglaublicher Augenblick: Wittgenstein erhält nahezu gleichzeitig Trakls letztes Buch und die Handschrift von allem, was Rilke 1914 als ›Elegieen‹ fertiggestellt bzw. in Angriff genommen hatte. Er ist sich der Bedeutung dieser beiden Werke bewusst, gibt aber keinen Kommentar dazu ab. Niemand, der sich mit dieser Konstellation befasst, wird leugnen können, dass sie etwas höchst Auratisches an sich hat, das durch Trakls tragischen Tod und die Atmosphäre des Krieges noch verstärkt wird. Verstärkt wird die außergewöhnliche Konstellation überdies durch Wittgensteins abwertende Bemerkungen gegenüber den Dankesbezeugungen anderer ›Beschenkter‹: »als Dank waren sie mir – offen gestanden – großtenteils höchst unsympatisch. Ein gewisser unedler fast schwindelhafter Ton – etc.« (FB II 89). Trakls Bekanntschaft hat Wittgenstein gesucht, Rilkes Elegien trägt er ›am Herzen‹. Die beiden Dichter sind ihm offenbar Garanten einer Authentizität des ›Tones‹. Durch eine Äußerung Rilkes _____________ 2 3

Wittgenstein, Ludwig: Geheime Tagebücher 1914–1916. Herausgegeben und dokumentiert von Wilhelm Baum. Wien 1991, S. 45f. Wittgenstein: Geheime Tagebücher (Anm. 2), S. 57.

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wird überdies ein deutlicher Bezug zwischen Trakl und der orphischen Figur des Linos am Ende der Ersten Elegie hergestellt, wo es um nichts Geringeres geht als um die Entstehung von Musik und Dichtung aus der Totenklage. Und selbst wenn man sich solcher Mythographie entziehen möchte, ist man doch gezwungen, in dem ›edlen Jüngling‹ Wittgenstein eine Existenz zu sehen, die unweigerlich Assoziationen zum Evangelium oder zu Figuren wie Dostojewskis ›Idiot‹ hervorruft. Und es ist Ludwig von Ficker nicht zu verargen, dass er aus Trakl eine religiöse und ästhetische Ikone seiner Zeitschrift gemacht hat, als diese längst alles hinter sich gelassen hatte, was an die Kunstreligion der Jahrhundertwende erinnerte, und in den Schoß der alleinseligmachenden katholischen Kirche heimgekehrt war. Es bleibt noch zu erwähnen, dass die Konstellation Wittgenstein – Rilke – Trakl ihre Entstehung indirekt Karl Kraus verdankt: dem »Götzen […], der ein Gott war«4 und dessen religiöse Aura von seinen bedeutenden Zeitgenossen aufs intensivste empfunden wurde (Trakl nennt ihn im Gedicht Karl Kraus einen »Hohepriester der Wahrheit«).5 Allen diesen Figuren eignet eine mythisch-religiöse Aura, und alle sind sie im Grunde Mönche – egal ob Wüstenmönche oder Prediger wie Savonarola.

* Rilke und Trakl gehören gleichermaßen zu den unzähligen poetischen Erben Nietzsches und teilen − wie das Gros ihrer Zeitgenossen − das Bewusstsein vom Tod Gottes. Sie partizipieren am unaufhaltsamen Prozess der Säkularisierung, der paradoxerweise mit der Sakralisierung der Kunst einhergeht. Allerdings divergieren sie in den Konsequenzen, die sie aus diesem Prozess und ihren eigenen Erfahrungen damit ziehen. Trakls Vermächtnis in dieser Sache ist der Aphorismus 2, den er Ludwig von Ficker bei Kriegsausbruch zum Abschied überreichte: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste _____________ 4 5

Canetti, Elias: Karl Kraus, Schule des Widerstands (1965); in: Canetti, Elias: Das Gewissen der Worte. Essays. München – Wien 1975, S. 39-49, hier S. 39. Trakl, Georg: Werke – Entwürfe – Briefe. Herausgegeben von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Nachwort und Bibliographie von Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1986, S. 80 (aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›TW‹ sowie der Seite zitiert).

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Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne«.6 Man vergleiche dieses Bekenntnis, in dem die ästhetische Dimension völlig hinter die ethischreligiöse zurücktritt, mit dem Auftrag der Duineser Elegie Nr. 9: »aber zu sagen, verstehs, | oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals | innig meinten zu sein«. Und: »Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat. | Sprich und bekenn«7. Trakls Gedicht Unterwegs scheint Rilkes Programm zu ›widerrufen‹: »Unsäglich ist das alles, o Gott, daß man erschüttert ins Knie bricht«.8 Der Topos der ›Säglichkeit‹ bzw. ›Unsäglichkeit‹ durchzieht sowohl Rilkes als auch Trakls Werk, und doch verstummt Trakl nicht wirklich, wenngleich Rilke den Helian so empfunden hat: Das Gedicht sei »gleichsam auf seine Pausen aufgebaut, ein paar Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose: so stehen die Zeilen da« (FB II 87). Am eindrucksvollsten ist der Gegensatz zu Trakls testamentarischem Aphorismus in Rilkes Selbstaussagen zu den Duineser Elegien: Nicht nur vergleicht er Duino mit Patmos; die Vollendung erfolgt in einer tempête divine, und die ›Geburtsanzeige‹ an die Fürstin von Thurn und Taxis endet mit einem »Amen!«.9 Hier darf von einer Sakralisierung des Werks und seines Dichters selbst die Rede sein.

Die tote Kirche Ein Thema, das der frühe Rilke und der frühe Trakl gemeinsam haben, ist die ›tote Kirche‹. Unter Rilkes zwischen 1896 und 1898 verfassten ChristusVisionen, einem Musterbeispiel an Säkularisierung der Christusgestalt unter dem Einfluss der Nietzsche-Schülerin Lou Andreas-Salomé, findet sich als _____________ 6 7

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Trakl, Georg: Aphorismus 2; in: Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Band 1. Salzburg 1969, S. 463. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien; in: Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Band 1: Gedichte. Erster Teil. Frankfurt/M. – Wiesbaden 1955, S. 683-726, hier S. 718 (im Folgenden wird diese Ausgabe unter Angabe der Sigle ›SW‹, der Bandnummer sowie der Seite zitiert). Trakl, Georg: Unterwegs; in: Trakl, Georg: Werke – Entwürfe – Briefe. Herausgegeben von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Nachwort und Bibliographie von HansGeorg Kemper. Stuttgart 1986, S. 54f., hier S. 55, v. 22. Rilke, Rainer Maria: An Marie Taxis, Muzot 11. 2. 1922 (abends); in: [Materialien zu] Rilkes ›Duineser Elegien‹. Herausgegeben von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel. Bd. 1: Selbstzeugnisse. Frankfurt/M. 1983, S. 236f., hier S. 236: »[…] es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist (wie damals auf Duino), […] an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat. | Aber nun ists. Ist. Ist. | Amen«.

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erstes Gedicht der zweiten Folge Die Kirche von Nago (SW 3, 161-164). Der wiederkehrende, von Wanderschaft ermattete Christus betritt seine Kirche, die von den Gläubigen längst verlassen ist (»Sie denken: ohne die teuern Messen | geht das Sterben auch so«; SW 3, 161) und inzwischen in ironischer Verkehrung der Weihnachtsgeschichte eine sehr irdische Funktion gefunden hat: Die Kirche ist zu einem Kuhstall geworden, und Christus verwandelt sich in einen »König aus Morgenland – | nur ganz arm« (SW 3, 164). In Trakls Gedicht Die tote Kirche aus der Sammlung 1909 ist zwar die Gemeinde noch versammelt und das Ritual der Messe wird noch vollzogen, aber es ist völlig entleert: »Der Priester schreitet | Vor den Altar; doch übt mit müdem Geist er | Die frommen Bräuche – ein jämmerlicher Spieler [...]«. Die Eucharistie ist »seelenlose[s] Spiel mit Brot und Wein«, der Glaube in den »toten Herzen« nur mehr Erinnerung an das »Schmerzensantlitz« und »Todesgrauen« erfüllt die Kirche.10 Ohne Heines Ironie werden hier ›Sakramente einem sterbenden Gott‹ gereicht. Eine vergleichbare Atmosphäre des religiösen Verfalls herrscht im Gedicht Die Kirche. Wie in Rilkes sechster Christus-Vision der ersten Folge Die Nacht (SW 3, 149-152), wo die erotische Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena im Mittelpunkt steht, spielt in Trakls frühen Gedichten über die Religion die Beziehung zwischen Sexualität und Mystik eine große Rolle, beispielhaft eben in Die Kirche: »Im schwarzen Betstuhl gleichet der Madonne | Ein kleines Hürlein mit verblichnen Wangen«.11 Rilke, in dessen frühen Gedichten Marienkult, Jungfrauen, Nonnen und Engel wiederkehrende Motive sind, hat dasselbe Thema in den Neuen Gedichten auf einen blasphemischen Nenner gebracht. Pietà (SW 1, 494) stellt eine bewusst antichristliche Provokation dar, vergleichbar dem Roman Griechische Passion von Nikos Kazantzakis und seiner Verfilmung durch Martin Scorsese (The Last Temptation of Christ, 1988).12 Aber Rilke begnügt sich nicht mit dem Thema der ›heiligen Hure‹, einer im Evangelium selbst angelegten Provokation. Er geht schon in den Christus-Visionen bis zum Paradox, dass Christus seinen Vater verleugnet − z. B. in der achten Vision der ersten Folge Judenfriedhof (SW 3, 156-159). In den Neuen Gedichten verkörpert Der Ölbaumgarten (SW 1, 492-494), in dem Rilke sogar wörtlich einige Wendungen aus Judenfriedhof übernommen hat, _____________ 10

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Trakl, Georg: Die tote Kirche; in: Trakl, Georg.: Dichtungen und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Band 1. Salzburg 1969, S. 256. − Der Aphorismus fehlt seltsamerweise in der Ausgabe von Kemper, deren Nachwort besonders intensiv auf dem Nietzsche-Erbe insistiert. Trakl, Georg: Die Kirche; in: Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Band 1. Salzburg 1969, S. 283. Rilke (wie die Lyriker mit Ausnahme Heines allgemein) ist der päpstlichen Zensur entgangen, während Kazantzakis noch auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wurde.

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die radikale Entwertung des Christentums. Zum Beispiel heißt es: »Wenn gläubiges Gefleh | nur Irrsinn ist, du nie dich offenbarst, | weil du nicht bist« (SW 3, 158). Gott, das älteste, reparaturbedürftige, aber immer wieder neu zu schaffende Kunstwerk, ist an sein Ende gelangt.13 In Judenfriedhof findet Christus den Himmel ›leer‹ und klagt: »So warst du niemals – oder warst nicht mehr, | als ich Unsel’ger auf die Erde kam« (SW 3, 158). In Der Ölbaumgarten findet die Negation der Existenz Gottes im Munde Christi ihre definitive Formulierung: »Ich bin allein mit aller Menschen Gram, | den ich durch Dich zu lindern unternahm, | der Du nicht bist. O namenlose Scham...« (SW 1, 493). Dieser Verneinung des biblischen Namens Gottes folgt logisch die Verneinung des Engels: des Angelos-Boten des Eu-Angelion. Der Engel wird zum gleichgültigen Nachtwind, die ›nox christiana‹ der Passion ist »keine ungemeine« (SW 1, 493) mehr. Man hat den Eindruck, dass an dieser Stelle auch die ganze mythisch-poetische Tradition der geheiligten Nacht in Nichts zerfällt. In zwei wichtigen Dokumenten greift Rilke zu einer sehr modernen, entsakralisierten Metaphorik, um die Abwesenheit der Botschaft zu signalisieren: In einem Brief aus Spanien an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis vergleicht er Christus mit einem Telefon, das ständig angerufen wird, ohne zu antworten (das Medium, der ›Mittler‹, funktioniert nicht mehr).14 In der Duineser Elegie Nr. 10 ist vom »Trostmarkt« die Rede, »den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte: | reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag« (SW 1, 721f.). Mit fast Heine’scher Ironie wird hier der Tag des Herrn jeder religiösen Dimension entkleidet. Der Kirche von Nago aus den Christus-Visionen vergleichbar ist die Kapelle Santa Maria a Cetrella (SW 2, 19-24) auf Capri: Der kleine Zyklus beginnt mit »Die Kirche ist zu« (SW 2, 19) und endet mit der Evokation von »Ewige[n], die älter sind als du« (SW 2, 24), d. h. einer vorchristlichen, antiken _____________ 13 14

Schon im Stunden-Buch, dieser ästhetischen Pervertierung des Gebets, ist Gott das Produkt irdischer »Werkleute«: »und bauen dich, du hohes Mittelschiff« (SW 1, 268). Rilke an Marie Taxis, 17. 12. 1912; in: Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis: Briefwechsel. Band 1. Besorgt von Ernst Zinn mit einem Geleitwort von Rudolf Kassner. Zürich 1951, S. 244-251. − Bemerkenswert an diesem Brief ist nicht nur seine »beinahe rabiate Antichristlichkeit« (S. 245), sondern eine vergleichsweise positive Einschätzung des Islam. Musil sprach dagegen vom »katholischen Rilke«, korrigierte sich aber selbst in seiner Totenrede folgendermaßen: »Er war in gewissem Sinn der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte. Er sah anders. In einer neuen, inneren Weise. Und wird einst, auf dem Weg, der von dem religiösen Weltgefühl des Mittelalters über das humanistische Kulturideal weg zu einem kommenden Weltbild führt, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Führer gewesen sein« (Musil, Robert: Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927; in: Musil, Robert: Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1229-1240, hier S. 1240).

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Götterwelt, die den Kult der Jungfrau Maria verdrängt. Die Präsenz von Nonnen, (Wüsten)-Mönchen, Heiligen und – allen voran – der Gottesmutter in Rilkes Werk kann und muss auch poetologisch im Sinn der Neunten Elegie gelesen werden. Es handelt sich um Figuren der Intensität bzw. der spirituellen Energie, die wie die geschlossene Kirche ihre Funktion eingebüßt haben – ihre Rolle wird von den Künstlern übernommen. Obwohl Rilke vordergründig (und das ist ihm immer wieder zum Vorwurf gemacht worden) ein weltgewandter Dandy zu sein schien, ist nicht zu übersehen, dass er immer wieder nach einem mönchischen Patmos (Duino, Schloss Berg am Irchel, schließlich Muzot) gesucht hat, um die ›Inspiration‹ zu finden. Das Diktat – das ›Geschriebenwerden‹ – gehört zu den poetologischen Topoi von Rilkes Werk, die am klarsten signalisieren, dass das Privileg der Heiligen Schrift auf den Dichter übergegangen ist. Der Mönch ist aber auch bei Trakl (von Kafka ganz zu schweigen) eine wichtige Projektionsfigur: Die Verneinung, Verletzung oder Beschmutzung der Engel ist hier ein auffälliges Motiv. Die Verwandlung der frohen Botschaft in eine Un-Botschaft (wie bei Rilke) oder in eine Verkündigung des Un-Heils findet sich exemplarisch in der Negation des Weihnachtsevangeliums im Gedicht De profundis (TW 29f.), einer Psalm-Palinodie, wo anstelle der Verkündigung der Geburt des Kindes die Auffindung des verwesten vergewaltigten Waisenmädchens tritt. Bei Trakl (wie bei Rilke) herrscht ›Gottes Schweigen‹, und bei Trakl wird sogar ausdrücklich der Beginn des Johannes-Evangeliums zurückgenommen: »Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht« (TW 30). Der Unterschied zwischen Rilke und Trakl ist in dieser Frage trotz der Übereinstimmung an der Oberfläche groß, und das liegt nicht zuletzt an der Form. Im Falle Rilkes lässt sich behaupten, dass der Dichter – nach der direkten Kritik am Christentum und dessen Mythen, Riten und Figuren, die sein frühes und mittleres Werk kennzeichnet – im Spätwerk die biblischen Referenzen de facto aus seinem Werk verbannt. Altes und Neues Testament werden bis auf winzige Reste verabschiedet; die beiden dominierenden Formen des späten Rilke (Elegie und Sonett) sind in der Tradition der europäischen Poesie verankert, die sich auf Antike und Renaissance und nicht auf die Bibel beziehen. Die freirhythmischen Gebilde rühren von der Begegnung mit Hölderlin her und nicht aus der Tradition der Psalmen. Als Referenzfiguren dienen Orpheus und Narziss, denn die Engel der Duineser Elegien haben nicht das Geringste mit christlichen Engeln zu tun, sondern sind die sublimste Erscheinungsform des Narzissmus (himmelstrebende Gebilde aus Menschenhand von Ägypten bis hin zur Kathedrale von Chartres beweisen, dass der schöpferische Mensch mit dem Engel konkurrieren kann). Die orphische Heiligung gilt

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aber nicht nur dem Großen, sondern auch den einfachsten Dingen. Man nehme als Beispiel die Sonette an Orpheus I 13 (SW 1, 739) und I 15 (SW 1, 740) über den Apfel und die Orange oder das Frühlingssonett I 21 (SW 1, 744), das Gottfried Benns Spott hervorgerufen hat. Überhaupt gehört hierher alles ›Larische‹ auf Deutsch und Französisch aus der Spätzeit im Wallis, das sich oft in der Rückkehr zu einfachen Formen äußert und in einer Frömmigkeit, die mit dem Christentum nichts mehr zu tun hat, ja im Gegensatz zu ihm steht. Demgegenüber schafft sich Trakl, der anfangs wie Rilke gereimte Gedichte, darunter das Sonett, gepflegt hatte, seit dem Karl Kraus gewidmeten Psalm eine Form, deren Prototyp der alttestamentarische Psalm ist. Seine späten Gedichte sind formal häufig geglückte Synkresien aus Psalmen, Rimbaud und dem späten Hölderlin. Bei Rilke ist von diesen dreien nur Hölderlin von Bedeutung und auch er nur vorübergehend. Radikal formuliert heißt das, dass Trakl formal wie thematisch bewusst von der Bibel abhängig bleibt, weshalb antike Tradition (Orpheus, Hyakinthos, Dädalus, Narziss) und biblische Tradition bei ihm ineinander verflochten sind. Wie weit das gehen kann, zeigt eindrücklich die Substitution des Ikarus im Gesang einer gefangenen Amsel (TW 87), aber auch die Ineinssetzung von Christus und Orpheus in Passion (TW 81f.). Anders gesagt: Trakls Dichtung hat an vielen Stellen einen sakralen Zug, der sich nicht zuletzt der Erinnerung an heilige Texte verdankt, während Rilke einen sehr konsequenten Rückzug auf das ›Hiesige‹ unternimmt, womit seine Dichtung einen affirmativen, ›zustimmenden‹ Charakter gewinnt, für den die leere oder tote Kirche bedeutungslos geworden ist. Am besten lässt sich das an der Beziehung zur Sexualität zeigen.

Die heilige Hure Die heftigste Anklage gegen das Christentum, die Rilke unternommen hat, findet sich kurz nach Vollendung der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus in Der Brief des jungen Arbeiters von 1922 (SW 6, 1111-1127). Rilke polemisiert gegen die »Entwertung des Hiesigen« (SW 6, 1114), insbesondere gegen die »Herabsetzung« der Sexualität durch eine Lehre, »die uns dort ins Unrecht setzt, wo die ganze Kreatur ihr seligstes Recht genießt« (SW 6, 1123): »Warum hat man uns das Geschlecht heimatlos gemacht, statt das Fest unserer Zuständigkeit dort hin zu verlegen?« (SW 6, 1124). In den Sieben (phallischen) Gedichten (SW 2, 435-438) aus dem Jahr 1915 hat Rilke konsequent die Sakralisierung der Sexualität vorgenommen und

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dabei die gewagtesten Metaphern dem antiken wie dem christlichen Mythos entnommen (Gottes Bild, Kreuzweg, Herme, Auferstehung, Himmelfahrt). Eines ist dabei von entscheidender Bedeutung: Die Sexualität wird von jeder Kontamination durch Schuld und Sünde befreit. Schon in Pietà war Maria Magdalenas Trauer eine über die verfehlte Lust. Die Sieben Gedichte sind in einer Zeit erotischen Glücks entstanden und darum ohne jeden Schatten. Die eigentliche poetische Sakralisierung der Sexualität findet sich jedoch in der Dritten Duineser Elegie, wo das ›sacrum‹ sein Doppelgesicht als Liebe zum Mädchen und als Urmacht (»seines Inneren Wildnis, | diesen Urwald in ihm«, SW 1, 695) des Triebes zeigt. Auf diesem Feld spielen natürlich die persönlichen Erfahrungen von Autoren eine nicht zu unterschätzende Rolle. In einem entscheidenden Moment seiner Existenz ist Rilke einer Mutter-Geliebten begegnet, die ihn neu getauft hat. Er verherrlicht sie wie sich selbst (Mir zur Feier, SW 3, 201-263) in einem lyrischen Zyklus mit dem Titel Dir zur Feier (SW 3, 171198). Obgleich leider nur fragmentarisch erhalten, legt dieser Zyklus eindeutig Zeugnis ab für die Sakralisierung der Geliebten: Lou wird zur Mutter-Königin erhoben. Am anschaulichsten ist dafür das Gedicht Im Traume malte ich ein Triptychon (SW 3, 188f.), in dem Lou anstelle der Mutter Gottes auf dem »Mutterthron« sitzt. Rilkes Werk ist ihre Tochter – ihr Sohn, auf den sie mit den Worten des umgedeuteten Evangeliums (»›Siehe deinen Sohn‹«, SW 3, 188) verweist, ist Rilke selbst. Es gibt ein noch bedeutenderes Zeichen der Sakralisierung Lous. In Von der Pilgerschaft im StundenBuch findet sich das Gedicht Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn (SW 1, 313), das im Kontext des Stunden-Buchs natürlich als ›Gebet‹ an Gott gelesen werden muss; nach Lous eigenem Zeugnis handelt es sich jedoch um ein Liebesgedicht, das Rilke auf ihr ausdrückliches Verlangen ins Stunden-Buch eingefügt hat und in der Korrespondenz beider noch Die Gebete heißt. Trotz ihrer Trennung hat Lou für Rilke bis zuletzt die Rolle einer ›hohen Instanz‹ behalten und auf ihre Art sogar an der Achten Elegie entscheidend mitgewirkt durch die Thematik der Rivalität zwischen Mutterschoß und Welt (SW 1, 714-716). Eine solche Instanz gibt es in Trakls Leben nicht. Im Gegensatz zu Rilke hat er keinen Ersatz für die abwesende Mutter (das »versteinerte« oder »weiße[…] Antlitz der Mutter« in Sebastian im Traum, TW 95f.) gefunden, und die Sexualität ist bei ihm von Anfang an unter das Gesetz von Schuld, Versuchung, Gewalt und Verbrechen gestellt. Wie immer man zur Realität des Inzests mit der Schwester stehen mag, steht doch eines außer Zweifel: In Trakls Dichtung ist das Motiv übermächtig gegenwärtig. Die Sexualität erscheint gleichfalls doppelgesichtig, heilig und verflucht zugleich (es genügt, hier auf die heiligen Huren Sonja und Afra zu verweisen, TW 69f. und 71f.). Aber im Hinblick auf Rilkes Erhöhung

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Lous zur Muttergottheit sind zwei Gedichte Trakls besonders interessant: die Rosenkranzlieder (TW 38f.) und Abendländisches Lied (TW 77f.). Die Schwester wird als »Karfreitagskind« (TW 38) apostrophiert, und der Liebesakt vollzieht sich auf lauen Kissen »[v]ergilbt von Weihrauch« (TW 38). Schwermut und Trauer beherrschen die drei Rosenkranzlieder, die von Gebetsfetzen durchwirkt sind und die Schwester aufgrund des Hypotexts (Ave Maria und Rosenkranz) zu einer Substitution der Jungfrau Maria werden lassen. Im Abendländischen Lied wird am Schluss wieder mit Weihrauch und rosigen Kissen die Vereinigung der Liebenden, die ›ein Geschlecht‹ werden und ›auferstehen‹ (vgl. TW 78), ins Sakrale erhöht. Ein radikalerer Gegensatz zu Rilkes Hymnen auf den Geschlechtsakt ist schwerlich denkbar: Die Auferstehung ist bei Trakl an die Aufhebung des Geschlechts gebunden, also präzis an jene von Rilkes ›jungem Arbeiter‹ stigmatisierte »Entwertung des Hiesigen«, deren Wurzel unter anderem in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter zu suchen ist, wo es um nichts Geringeres als um die Überwindung des Geschlechtergegensatzes geht. Und doch handelt es sich gleichzeitig auch bei Trakl um eine poetische Sakralisierung der Sexualität.

Der Kriegsgott Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist oft als Epoche bürgerlicher Langeweile empfunden worden. Rilkes »Du mußt dein Leben ändern« (SW 1, 557) im Angesicht des ›archaischen Torsos Apollos‹ ist nur ein berühmtes Zeichen für die Sehnsucht nach einem ›erfüllteren‹ Dasein. Verwandlung und Wandlung gehören bei Rilke zu den gewichtigsten Handlungen des Menschen. An Schlüsselstellen der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus erscheint die Verwandlung als Auftrag gegen jede Form von ›Erstarrung‹. Auch bei Trakl ist ›Wandlung‹ (bzw. ›Verwandlung‹) ein durchgehender Topos. Der Ausbruch des Krieges hat in ganz Europa einen heute unvorstellbaren Enthusiasmus auch unter Intellektuellen und Dichtern ausgelöst, dem sich nur ganz wenige zu entziehen wussten. Musil – selbst davon befallen – hat nach dem Ende des Krieges seine ganze Energie der Enträtselung dieses Phänomens gewidmet. Für seinen großen Roman gilt: »Alle Linien münden in den Krieg« (ein seltsamer Gleichklang mit Trakls

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Grodek: »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«; TW 112).15 In der Retrospektive des Essays Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit schreibt Musil 1921: »Darin war auch das berauschende Gefühl enthalten, zum erstenmal mit jedem Deutschen etwas gemeinsam zu haben. Man war plötzlich Teilchen geworden, demütig aufgelöst in überpersönliches Geschehen, und spürte, von ihr eingeschlossen, die Nation geradezu leibhaft; es war, als ob mystische Ureigenschaften […] plötzlich so real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen. […] Will man nun glauben, daß es nichts gewesen sei, wenn Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen?«.16 Musils Einschätzung des Phänomens schwankt zwischen »ein seltsames, dem religiösen verwandtes Erlebnis«17 und ein »atavistisch mystische[s] Moberlebnis«.18 Ohne jeden Zweifel ist hier Sakralisierung am Werk, nicht zuletzt in der Annahme des (Selbst-)Opfers. Die Entzauberung der Welt (Fabriken und Kontore) weicht einem urtümlichen Massenzauber. Hier ging es nicht um Kunstreligion, sondern um die Religion des Nationalismus: jedenfalls um Verhaltensweisen, die sonst vor allem bei religiösen Massenkundgebungen üblich sind. Die Reaktionen Rilkes und Trakls auf den Krieg bzw. auf die Kriegserwartung sind in der Optik der Sakralisierung natürlich besonders aufschlussreich, geht es doch um die ästhetische Antwort auf den Einbruch des Sakralen in den ›Zeitgeist‹, von dem es in der Siebenten Elegie heißt: »Tempel kennt er nicht mehr« (SW 1, 711). Rilke, durch seine Entdeckung Hölderlins auf dem Weg zum hymnischen Stil, ›feiert‹ im August 1914 das Ereignis des Krieges in Fünf Gesängen (SW 2, 86-92), die im Kriegsalmanach des InselVerlags erscheinen. Im Gegensatz zu den meisten Hervorbringungen der Zeit fehlt bei ihm die nationalistische Note, aber der Krieg wird als Gottheit begrüßt (»Endlich ein Gott«, SW 2, 87), als würde es sich um den ›kommenden Gott‹ Hölderlins handeln. Dass ein politisches Phänomen ›Gestalt‹ annimmt, hat Rilke vorübergehend auch an Mussolini fasziniert. Ein altes Thema Rilkes aus dem Stunden-Buch und dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge – die Gegenüberstellung von massenhaftem Sterben (›kleiner Tod‹) und ›großem Tod‹ (»O Herr, gieb _____________ 15 16

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Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften; in: Musil, Robert: Gesammelte Werke. Band I. Herausgegeben. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1851. Musil, Robert: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit [Dezember 1921]; in: Musil, Robert: Gesammelte Werke. Band II: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1059-1075, hier S. 1060f. Musil: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (Anm. 16), S. 1060. Musil, Robert: Tagebücher. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 947.

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jedem seinen eignen Tod«; SW 1, 347) – erhält in diesen Fünf Gesängen die von heute aus gesehen absurde Vorstellung, dass der Tod im Krieg trotz seiner Massenhaftigkeit ein »gefürsteter Tod« (SW 2, 90) sei, also die Frucht individueller Reife und Erhöhung. Noch absurder ist, dass »Bräute [...] erwählter« (SW 2, 86) gehen, weil sie gleichsam nicht mehr mit einem Individuum, sondern mit dem ganzen Volk verlobt sind. Am absurdesten aber die Selbstaufgabe des Dichters: »So auch bin ich nicht mehr; aus dem gemeinsamen Herzen | schlägt das meine den Schlag, und der gemeinsame Mund bricht den meinigen auf« (SW 2, 89). Das ist Musils nationalistisches Bekenntnis vom September 1914 in poetischer Gestalt: »Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich«. Dieser für Musil erstaunliche biblische Ton mündet in eine hochbedeutsame Reflexion über die Wirkung dieser »Urmacht«, die vor dem urtümlichen Massenerlebnis als »kleines Splitterchen« nur in der Liebe erfahrbar war.19 Es muss freilich zur Ehre Rilkes gesagt werden, dass er sich sehr rasch von diesen Kriegshymnen, die in der Tat dem ›gemeinsamen Mund‹ entsprungen waren, distanziert und zu den KriegsAlmanachen seines nationalistisch erregten Verlegers nur mehr sein ›Schweigen‹ beigetragen hat.20 Doch schon in den Fünf Gesängen selbst distanziert er sich vom grassierenden nationalen Hass, denn Schmerz und Klage, die Freund und Feind betreffen, werden dem »Zorne« des Gottes gegenübergestellt (SW 2, 91). Eine gewichtige Ausnahme von diesem Schweigen sind Verse im Brenner-Jahrbuch von 1915. Rilke war von Ficker im Vorhinein genau darüber informiert worden, in welcher Umgebung sein Beitrag erscheinen würde. Vorgesehen war die Reihenfolge: Trakls letzte Gedichte, Kierkegaards Rede vom Tode, Trakls Prosagedicht Offenbarung und Untergang, ›Verse‹ von Rilke, Carl Dallagos Übertragung des Taoteking (Der Anschluß an das Gesetz), Theodor Haeckers Essay Der Krieg und die führenden Geister und zuletzt ein Bildnis Georg Trakls (FB II 83-84). Ein größerer Unterschied zur Geistigkeit des Insel-Almanachs ist kaum denkbar: Die Distanzierung vom Krieg liegt auf der Hand; es handelt sich im Grunde um das Requiem für ein Opfer des Krieges, Georg Trakl, dessen letztes Gedicht Grodek ein Gedicht über den Krieg gewesen ist. Rilkes Beitrag – das Gedicht So _____________ 19

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Musil, Robert: Europäertum, Krieg, Deutschtum [September 1914]; in: Musil, Robert: Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1020-1022, hier 1022. Vor allem in Deutschland ist Rilke nach 1968 dem Faschismus- und Antisemitismusverdacht ausgesetzt gewesen. Repräsentativ für diese Wende vom existentialistischen Religionsersatz Rilke zum Faschisten war Schwarz, Egon: Das verschluckte Schluchzen. Poesie und Politik bei Rainer Maria Rilke. Frankfurt/M. 1972.

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angestrengt wider die starke Nacht (SW 2, 52-53), das später dem Zyklus Gedichte an die Nacht einverleibt wurde – ist nicht eigens für den Brenner geschrieben worden, sondern war schon Ende Februar 1913 in Paris entstanden. Selbstverständlich herrscht im Jahrbuch ein Ungleichgewicht zugunsten von Trakl; Rilke hat dieses unveröffentlichte Gedicht aber in voller Kenntnis des Ambiente, jedoch ohne Kenntnis der letzten Gedichte Trakls ausgewählt und es selbst nicht nur den Gedichten an die Nacht, sondern auch dem Konvolut zugeordnet, das er als zweiten Teil der Duineser Elegien konzipiert hatte; es hatte also in seinen Augen Teil am langwierigen Entstehungsprozess der Elegien. Man kann sich vorstellen, welches Gewicht in der Geschichte der deutschen Lyrik dem BrennerJahrbuch zugekommen wäre, wenn Rilke die Elegien nicht Wittgenstein geschenkt, sondern in Gemeinschaft mit dem toten Trakl veröffentlicht hätte. Obwohl die Gesamtanlage des Brenner-Jahrbuchs, in dem auch der Atem von Karl Kraus (in dem laut Trakl »Gottes eisiger Odem wohnt«, Karl Kraus, TW 80) zu spüren ist, wie eine Widerlegung der Fünf Gesänge wirkt, darf man nicht übersehen, dass neben Rilke auch Trakl den Krieg sakralisiert hat. Bei beiden wirkt ein Gott, und zwar in keinem Fall der christlich-jüdische Gott, sondern eine mythische Inkarnation des Krieges. Bei Rilke ist das rhetorisch explizit dargestellt: Im Zentrum steht die ›Ergriffenheit‹ (vgl. SW 2, 87) als höhere Existenzform, hervorgerufen durch die ›Auferstehung des Kriegsgottes‹ (vgl. SW 2, 86). In den Versen für das Jahrbuch wird gewissermaßen der entfremdete Zustand gestaltet, in dem wir die stummen Götter stehen lassen, um uns mit ›gohrem Abfall‹ (Unwissend vor dem Himmel meines Lebens, SW 2, 53) zufriedenzugeben – also der Zustand vor dem Erscheinen des ›Schlacht-Gottes‹ (SW 2, 87), dieses ›reißenden Gottes‹ (SW 2, 89) im Krieg. Da Rilke die Wahl dieses Textes nicht kommentiert hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob damit eine Art ›Zurücknahme‹ seiner Fünf Gesänge beabsichtigt war. Trakl hat weder die Fünf Gesänge noch die Verse gekannt; sein ›Kriegsgott‹ entstammt also, um mit Rilke zu sprechen, dem ›gemeinsamen Mund‹, der schon lange vor dem Ausbruch des Krieges durch Georg Heym (»Aufgestanden ist er, welcher lange schlief«)21 zu sprechen begonnen hatte. Grodek ist neben Klage das einzige Gedicht, das Trakl im Krieg geschrieben hat, denn das prophetisch klingende Im Osten (TW 111) ist vor seiner Einberufung in Innsbruck entstanden, und der ›zürnende Gott‹ von Grodek findet sich schon in der Hymne Das Gewitter (»Glühende Schwer_____________ 21

Heym, Georg: Der Krieg I [Entwurf]; in: Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider. Band 1: Lyrik. Bearbeitet von Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens unter Mithilfe von Klaus Hurlebusch und Dieter Knoth. Hamburg – München 1964, S. 346f., hier S. 346.

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mut | Eines zürnenden Gottes«, TW 105-106, hier 106). Überhaupt finden sich alle zentralen Motive von Grodek (die sterbenden Krieger, die zerbrochenen Münder, die blutenden Häupter, die Trauer, der Schmerz, Ungebornes, die dunkle Zukunft der weißen Enkel usw.) in den späten, an Hölderlin gemahnenden Hymnen variiert. Der hymnische Stil trägt an sich schon zur Sakralisierung bei, aber auch der ›gemeinsame Mund‹, aus dem das patriotische Pathos – z. B. ›Altar des Vaterlands‹ – zu sprechen scheint (die Dekonstruktion des ›Altars des Vaterlands‹ und aller Heiligung des Kriegs beginnt mit Karl Kraus' Rede In dieser großen Zeit und findet ihre Vollendung in den Letzten Tagen der Menschheit). Selbstverständlich ist Grodek unendlich weit von den Fünf Gesängen entfernt, und dieser ›Ton‹ Rilkes hätte Wittgenstein bestimmt nicht beglückt; Trakl teilt mit Rilke aber den ›zürnenden Gott‹. Im Gedicht Menschheit hat Trakl eine tiefgehende Dichotomie gestaltet: hier prophetisch gesehen die schreckliche Welt des Kriegsgottes (»Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt«), da das christliche Gegenbild (»das Abendmahl. | Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen«, TW 27). Es scheint, dass im Gegensatz zu Rilke in Trakls dichterischem Werk der christlich-jüdische Gott weiterwirkt und mit den antiken Göttergestalten kohabitiert. Das hat zur Folge, dass sich gleichsam zwei religiöse Sphären (die christliche und die der Kunstreligion nietzscheanischer oder hölderlinscher Provenienz) überschneiden können, was zur Intensivierung des sakralen Charakters beiträgt. Bei Rilke sind die Sphären polemisch getrennt, und es geht ihm am Ende tatsächlich um die Heiligung des Hiesigen im Namen des Orpheus: »Einzig das Lied überm Land | heiligt und feiert« (Sonette an Orpheus I, 19, SW 1, 743). Auch der junge Trakl hat noch die Möglichkeit einer solchen poetischen Feier erwogen: »Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts« (TW 214), schrieb der 21-Jährige im Oktober 1908 an seine Schwester. Beide Dichter schreiben gegen die Entzauberung der Welt. Der Zusammenstoß mit der politischen Verzauberung von 1914 ist darum besonders lehrreich.

MARKUS OPHÄLDERS

Zertrümmerung der Aura − Aura der Zertrümmerung Walter Benjamins Ambivalenz gegenüber der kunstreligiösen Thematik Was mich betrifft, so bemühe ich mich, mein Teleskop durch den Blutnebel hindurch auf eine Luftspiegelung des neunzehnten Jahrhunderts zu richten, welches ich nach den Zügen mich abzumalen bemühe, die es in einem zukünftigen, von Magie befreiten Weltzustand zeigen wird.1

»Die Kunst erhebt ihr Haupt«, schreibt Friedrich Nietzsche, »wo die Religionen nachlassen. […] Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst«.2 Was freilich geschieht, wenn der Kunst ein ähnliches Schicksal widerfährt? Welche neuen Reiche könnte sie dann noch erobern, und wohin flösse der Strom des religiösen Gefühls ohne die Kunst? Denn dies hat Benjamins Generation sehr deutlich erfahren: »Uns, so will ich damit sagen, hat die Schicksalsstunde der Kunst geschlagen«.3 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist wahrscheinlich Benjamins meistgelesene, sicherlich aber auch eine besonders problematische und umstrittene Schrift, die ihr _____________ 1

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Walter Benjamin an Werner Kraft, 28. 10. 1935; in Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Band V: 1935-1937. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1999, S. 191-194, hier S. 193 (dieser Band wird im Folgenden unter der Sigle ›Briefe‹ mit Angabe der Seite zitiert); vgl. auch: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt/M. 1972-1999, Bd. I.3. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1974, S. 984 (Benjamins Gesammelte Schriften werden im Folgenden unter der Sigle ›GS‹ mit Angabe von Bandnummer und Seite zitiert). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 2. München − Berlin / New York 1980, S. 144. Walter Benjamin an Max Horkheimer, 16. 10. 1935 (Briefe 179). − Der Kunstwerk-Aufsatz wird zum ersten Mal am 9. Oktober 1935 gegenüber Gretel Karplus erwähnt (vgl. Briefe 171, wo Benjamin vom ›Jetzt der Erkennbarkeit der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts‹ spricht, also einen Begriff verwendet, der später in den Thesen Über den Begriff der Geschichte eine zentrale Stelle einnehmen wird und das ganze Passagen-Projekt durchzieht.

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Autor selbst bis zuletzt als ein work in progress angesehen hat. Von diesem Aufsatz existieren drei deutsche Fassungen sowie die zu Benjamins Lebzeiten in der Zeitschrift für Sozialforschung noch veröffentlichte französische Version; zu einer Publikation in deutscher Sprache sollte es erst 1955 kommen. Zur Problematik dieser Schrift hat nicht zuletzt die Tatsache beigetragen, dass sie in ihrer Rezeptionsgeschichte fast durchweg als alleinstehend galt, weil ihre Beziehung zu Benjamins gleichzeitigen Schriften wie etwa denen über Charles Baudelaire, Bertolt Brecht, Nikolai Lesskow oder Eduard Fuchs und nicht zuletzt zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte oder zum Passagen-Werk, aber auch zu Carl Gustav Jochmann immer wieder, zumindest teilweise, ausgeblendet wurde. In Bezug auf das Passagen-Werk spricht Benjamin vom Kunstwerk-Aufsatz sogar als von einer »Apparatur«,4 einem ›zweiten Exposé‹5 oder einer »Programmschrift«.6 Auch die Reduzierung der Thematik auf die Filmproduktion hat zwar zum Ruhm der Schrift, aber nicht zu ihrer Rezeption in aller Tiefe beigetragen. Wie der Titel schon andeutet, geht es ja nicht um eine bestimmte Kunst allein, sondern um eine Bewegung, welche alle Kunst betrifft und zwar die zeitgenössische und zukünftige ebenso wie die vergangene, denn auch letztere bleibt unter den neuen technischen, gesellschaftlichen und politischen Umständen bzw. Umwälzungen sich selbst nicht gleich. Ein ähnlicher Ansatz klingt sogar noch in Theodor W. Adornos viel diskutiertem Urteil über das Barbarische von Dichtung nach Auschwitz nach. Es geht, kurz gesagt, um eine Bewegung, welche die Formen, Techniken und Materialien aller Kunst betrifft, und diese Bewegung ist die der Zertrümmerung der Aura,7 d. h. die Tatsache, dass sich das Kunstwerk in Ware verwandelt, wodurch es zwar an Ausstellungs- und Konsumwert gewinnt, seinen Kultwert – die magischen und kunstreligiösen Elemente – aber einbüßt. Gleichzeitig jedoch und in dialektischer Gegenbewegung dazu geht es auch um den Fetischcharakter der Ware, welcher die kultischen Momente großenteils aufgesogen hat. Wenn nämlich Kunst zu Ware geworden ist (allein aus diesem Grund und der neuen Produktions- und Reproduktionstechniken wegen beschäftigt sich Benjamin mit Photographie und Kino), dann gilt − dialektisch gesehen − auch umgekehrt, dass sich die Ware künstlerischer Mittel bedient (vgl. GS VII.2, 679). Ware _____________ 4 5 6 7

Walter Benjamin an Alfred Cohn, 21. 10. 1935 (Briefe 184). Vgl. Walter Benjamin an Max Horkheimer, 9. 11. 1935 (Briefe 195). Walter Benjamin an Alfred Cohn, 26. 1. 1936 (Briefe 230). Benjamin definiert ›Aura‹ konzise als ein »sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (GS I.2, 440), wobei die Begriffe ›Raum‹ und ›Zeit‹ meinen, dass jedes auratische Kunstwerk seinen Ort und seine Zeit besitzt, von denen es Zeugnis ablegt und soTradition begründet.

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und technische Reproduzierbarkeit von Kunst stellen insofern die beiden Seiten der modernen Erfahrungsarmut dar. Es handelt sich hier um denjenigen Prozess, den Adorno in seiner Ästhetischen Theorie als Entkunstung der Kunst8 definiert. Eben das visiert Benjamin an, wenn er von der Schicksalsstunde der Kunst spricht. Gilt für das Kultbild, dass der Beschauer immer wieder neue Erfahrungen vor demselben Bild macht, so gilt für die warenhafte und für die Massen reproduzierbare Kunst, dass ihr gegenüber immer wieder gleiche Erfahrungen vor immer wieder neuen Bildern gemacht werden. Aus beidem – so Benjamins Ansatz – muss man heraus. Die beiden möglichen Auswege bedingen Benjamins Ambivalenz gegenüber der Zertrümmerung der Aura, unter deren Namen er sich mit der kunstreligiösen Thematik beschäftigt: Auf der einen Seite gilt es der technischen und materiellen Innervierung auch auf Seiten des autonomen Kunstwerks Rechnung zu tragen, ohne ihr jedoch zum Opfer zu fallen; auf der anderen Seite gilt es das Glücksversprechen einzulösen, das alle vergangene Kunst mit ihrem Kultwert verband. Doch gerade der Kultwert ist an die Ware übergegangen und hier nichts als Schein, sodass dem Kunstwerk nur der Ausstellungs- oder der Lehrwert bleibt, der im Spiel ohne sein Scheinelement – kinotechnisch gesehen: in der Montage – zu reiner Technik zu regredieren droht. Ähnlich wie schon Karl Marx sich von den eigentlich die Menschen interessierenden Themen seiner Frühschriften weg und hin zu den Studien zur politischen Ökonomie wenden musste, die er in einem Brief an Friedrich Engels vom 2. April 1851 nicht umsonst als ›ökonomische Scheiße‹9 bezeichnet, zwingt die kapitalistische Warenproduktion auch Benjamin zum »Prozeß einer vollkommenen Umwälzung, den eine aus der weit zurückliegenden Zeit meines unmittelbar metaphysischen, ja theologischen Denkens stammende Gedanken- und Bildermasse durchmachen mußte, um mit ihrer ganzen Kraft meine gegenwärtige Verfassung zu nähren«.10 Wollte man Benjamins Ambivalenz gegenüber den kunstreligiösen Thematiken beim Namen nennen, so ginge man wohl kaum fehl, wenn man die eine Seite mit demjenigen Brechts _____________ 8 9

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Vgl. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 7: Ästhetische Theorie. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1970, S. 32f. Vgl. Karl Marx an Friedrich Engels, 2. 4. 1851; in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für MarxismusLeninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Zweite Abteilung: Das Kapital und Vorarbeiten. Dritte Abteilung: Briefwechsel. Band 4: Januar bis Dezember 1851. Text. Berlin (Ost) 1984, S. 85f., hier S. 85. Walter Benjamin an Werner Kraft, 25. 5. 1935 (Briefe 88f.). − Es fällt auf, dass Benjamin diese Selbsteinschätzung am 31. Mai 1935 gegenüber Theodor W. Adorno und vielleicht am selben Tag (›ca. Ende Mai‹) gegenüber Alfred Cohn wiederholt.

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und die andere mit demjenigen Adornos belegte. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so ambivalent wie Benjamin, verhält sich jedoch selbst noch Brechts folgende Reflexion, die Benjamin in der letzten Fassung seiner Schrift zum ersten Mal zitiert: Ist der Begriff Kunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Kunstwerk zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen, wenn wir nicht die Funktion dieses Dinges selber mitliquidieren wollen, denn durch diese Phase muß es hindurch, und zwar ohne Hintersinn, es ist kein unverbindlicher Abstecher vom rechten Weg, sondern was hier mit ihm geschieht, das wird es von Grund auf ändern, seine Vergangenheit auslöschen, so sehr, daß, wenn der alte Begriff wieder aufgenommen werden würde – und er wird es werden, warum nicht? – keine Erinnerung mehr an das Ding durch ihn ausgelöst werden wird, das er einst bezeichnete.11

Hier spielt in die Bestandsaufnahme der Zertrümmerung der Aura eine Art von Aura der Zertrümmerung hinein, doch fällt auf, dass gerade die Funktion des Kunstwerks sich erhalten soll. Auch den Überlegungen Benjamins fehlt diese Ambivalenz, wie schon gesagt, in keiner Weise. Die erste Fassung ist ganz davon erfüllt, und die zweite, mit Horkheimer und Adorno diskutierte, dann in wiederum stark korrigierter Form in die französische Übersetzung eingegangene setzt das Ruder auf einen neuen Kurs, der durch Überlegungen zur Mimesis und zur Technik in der Geschichte der Kunst und der Menschheit die Aura und deren Erfahrungsgehalte wieder stark ins Zentrum rückt. In einem nach der Übersetzung an Adorno gerichteten Brief schreibt Benjamin am 27. Februar 1936, dass er in seinem Aufsatz vor allem ein Element hervorheben möchte, das er auch schon in seinem Essay über Karl Kraus zur Charakterisierung des Satirikers verwendet hat: »die menschenfresserische Urbanität, eine Umsicht und Behutsamkeit in der Destruktion, die wie ich hoffe etwas von der Liebe zu den, Ihnen vertrautesten, Dingen verrät, die sie freilegt« (Briefe 248). Diese und ähnliche Überlegungen fallen allerdings in der letzten Fassung großenteils wieder weg, und das führt dazu, dass die Technik – die nun nicht mehr, wie in der zweiten Fassung, geschichtlich in eine erste und eine zweite untergliedert ist – ein wenig unreflektiert zu einer Art deus ex machina erhoben wird. Nur das Potential der zweiten Technik (und nicht das der Technik als solcher) besteht ja darin, den Menschen von seiner Naturabhängigkeit befreien zu können:

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Brecht, Bertolt: Der Dreigroschenprozeß; in: Brecht, Bertolt: Versuche 1-12. Reprint. Frankfurt/M. 1977, Heft 3: Versuche 8-10, S. 243-300, hier S. 295 (von Walter Benjamin in einer Fußnote zitiert in GS I.2, 484).

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Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel. Ernst und Spiel, Strenge und Unverbindlichkeit treten in jedem Kunstwerk verschränkt auf […]. Die erste hat es wirklich auf Beherrschung der Natur abgesehen; die zweite viel mehr auf ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit. Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel. […] Der Umgang mit dieser Apparatur belehrt ihn zugleich, daß die Knechtung in ihrem Dienst erst dann der Befreiung durch sie Platz machen wird, wenn die Verfassung der Menschheit sich den neuen Produktivkräften angepaßt haben wird, welche die zweite Technik erschlossen hat. (GS VII.1, 359f.)

Diese kontinuierlichen Änderungen machen Benjamins Ambivalenz aus, die auf der einen Seite Brecht folgt, auf der anderen aber den Erfahrungsgehalt alles dessen, was an magische, kultische und schönheitsbezogene Elemente gebunden ist, nicht ohne Widerstand preiszugeben gewillt ist. In diese Kerbe schlägt denn auch Adornos Kritik: »Sie haben die Kunst aus den Winkeln ihrer Tabus aufgescheucht – aber es ist, als fürchteten Sie die damit hereinbrechende Barbarei« (GS I.3, 1003). Und er weiß sich hierin gewiss, denn auch noch in den 30er Jahren ist für Benjamin ein Begriff von Erfahrung ohne »Weissagung aus dem Kaffeesatz«12 – wie er sich 1918 Gershom Scholem gegenüber in Bezug auf seine Arbeit zum Programm der kommenden Philosophie äußerte – nicht ohne Weiteres zu akzeptieren. In Adornos Ästhetischer Theorie ist denn folglich auch bei aller Entkunstung der Kunst für die Aura unter dem Namen der apparition noch Platz.13 Es bleibt der Verdacht bestehen, dass auch für Benjamin die neue, politische Funktion von Kunst (und mehr noch die ›Politisierung der Kunst‹) um einen zu hohen Preis erkauft ward. Offen bleibt überdies die Frage, ob diese Funktion angesichts der Theorien eines Aristoteles oder Schiller wirklich so neu ist. Zur Aufgabe von Kunst hat ja seit jeher gehört, Bewusstsein und gesellschaftliche Werte zu schaffen und zu verbreiten, und hiermit dürfte nicht nur Benjamins, sondern auch Brechts tiefere Absicht erfasst sein. Fraglich ist einzig, mit welchen Techniken und Formen das geschieht. Eines jedoch bleibt als Problem bestehen: Es muss von vorn angefangen werden, wie Benjamin in Erfahrung und Armut schreibt (vgl. GS II.1, 218f.), und mit Wenigem, damit etwas Dezentes – nämlich das absolut Neue – dabei herauskommt. Auch was eine mögliche neue Form von Schönheit in kunstreligiöser Hinsicht betrifft, kommt es darauf an, Erfahrung im emphatischen Sinn erst noch zu veranstalten und zu kon_____________ 12 13

Wiedergegeben in Scholem, Gershom: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Vierte Auflage. Frankfurt/M. 1997, S. 77 (vgl. auch GS II.3, 938). Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 8), S. 122-134.

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struieren. Benjamins Überlegungen sind also zumindest ihrem geschichtlichen und gesellschaftlichen Moment gegenüber zu relativieren; sie sollen als Mittel zu einem erst noch zu erreichenden Zweck verstanden werden. Benjamin hat gelegentlich von seinem ›Janusgesicht‹ gesprochen,14 und das macht sich auch hier bemerkbar. Als Außenstehender, Exilierter beobachtet er seine Epoche sowie ihre Gesellschaft und hat eine klare Wahrnehmung davon, dass er auf einer Schwelle steht: auf der Schwelle des geschichtlichen Übergangs, auf der es keine Sicherheiten mehr gibt und wo der Ausgang der Entwicklung keineswegs ausgemacht ist. Nicht nur die Zertrümmerung der Aura, sondern ihr ganzes Phänomen stellt ein gesellschaftliches (um nicht zu sagen: gesellschaftsbildendes) Moment dar: Es handelt sich um die »Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert« (GS I.2, 670). Was aber gesellschaftlich und geschichtlich entstanden ist, kann in gleicher Weise nicht nur wieder zerstört, sondern ebenfalls in neuer Form neu konstruiert werden. Wenn hierbei der Technik oder dem Klassenbewusstsein des Proletariats gegenüber der Gedankengang nicht immer ganz durchdialektisiert ist (vgl. GS II.1, 218-219), dann liegt der Grund dafür wohl in einer solchen geschichtlichen Bedingtheit. Wenn die Aura in Trümmer fällt, so sind diese doch immerhin noch Teile von ihr, und auch hier mag Nietzsches bekanntes Wort von der »göttlichen Verwesung«15 weiterhelfen. Da die Menschen den Tod Gottes ebenso wie die Zertrümmerung der Aura herbeigeführt haben, müssen sie jetzt selbst zu Göttern werden und ihre Geschichte gehört einer höheren Geschichte an, als es je eine gegeben hat. Aus Gottes Trümmern den Menschen als Gott zu erschaffen fände demnach ein Pendant in der Erschaffung einer neuen Aura aus den Trümmern der vergangenen. Die Methode hierzu ist die Allegorese, denn eben der Allegoriker – sei es ein früher Christ, ein barocker Dichter oder, im 19. Jahrhundert, Baudelaire – zerstört und erniedrigt den Kultwert nicht nur, sondern rettet zugleich immer den Schein bzw. eben jenes Moment im Kunstreligiösen, das sich als noch überlebensfähig erweisen könnte. Dies macht den messianisch-utopischen Charakter allegorischer Kunst aus und zwar auf paradoxe Weise, da alles Allegorische ja, wie Benjamin es im Trauerspiel-Buch darlegt, einzig das Immanente,

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Vgl. Scholem, Gershom: Peter Haselberg über den Deutschen Walter Benjamin (1978); in: Scholem, Gershom: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1992, S. 180-185, hier S. 180. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 3. München – Berlin – New York 1980, S. 343-651, hier S. 481.

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Irdische und Hinfällige betont und sich blind macht gegenüber der Transzendenz.16 Ein Paralipomenon zur zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes wirft ein eigentümliches Licht auf das Verhältnis von Zauber und Entzauberung. Benjamin behauptet dort, »daß die Auffassung der Kunst umso mystischer wird, je mehr die Kunst von echter magischer Brauchbarkeit sich entfernt; je größer dagegen diese magische Brauchbarkeit ist (und in der Urzeit ist sie am größten), desto unmystischer ist die Auffassung von der Kunst« (GS I.3, 1050). Es ließe sich demnach durchaus eine Kunst denken, deren kultisch-magische Elemente durch ihre kollektive Brauchbarkeit den Schein des falschen Zaubers abwerfen, ohne deshalb in toto den kunstreligiösen Charakter einzubüßen. Auf ähnliche Weise kann man Hegels Begriff von Volksreligion interpretieren, der dann in den der Kunstreligion übergegangen ist,17 und selbst Stéphane Mallarmés Dichtung lässt sich, wie noch zu zeigen sein wird, auf diese Weise interpretieren. Auf Baudelaires Dichtung bezogen heißt dies: Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zu eigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. (GS I.2, 638)

Baudelaires Sonett unter dem bezeichnenden Titel Correspondances spricht denn auch von der Natur als von einem Tempel und von einem Wald der Symbole, welche den modernen Menschen mit vertrauten Blicken beobachten. Diese Allegorien aus absoluter, moderner Zeitverfallenheit und magischem Vorleben sind dialektische Bilder: Was Baudelaire mit den correspondances im Sinne hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als ›das Schöne‹ dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst […]. Das Schöne ist seinem geschichtlichen Dasein nach ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Der Schein des Schönen

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Die mit Nietzsches berühmtem Aphorismus Der tolle Mensch sich anbahnende Thematik des Nihilismus ist natürlich auch Benjamin nicht fremd. Giovanni Gurisatti spricht, vor allem in Bezug auf Benjamins Verhältnis zur jüdischen Religion, von einem messianischen Nihilismus und verwendet diesen Begriff auch in Hinsicht auf das Trauerspiel-Buch (vgl. Gurisatti, Giovanni: Costellazioni. Storia, arte e tecnica in Walter Benjamin. Macerata 2010, speziell S. 67-75). Vgl. Ophälders, Markus: »eine schöne Religion zu stiften«. Hegels Kunstreligion als ›moralische Anstalt‹, in Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitarbeit von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Berlin ‒ New York 2011, S. 143-160.

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besteht für diese Bestimmung darin, daß der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. (GS 1.2, 638-639)

Hierdurch wird jedoch nicht einfach die Entzauberung revoziert und ein überkommener Begriff des Schönen von neuem etabliert. Im Gegenteil ist das gleiche Mittel, d. h. die Allegorie, selbst in mythischen oder magischen Kunstwerken antimythisch: »Baudelaire dankt es dem Genius der Allegorie, wenn er dem Abgrund des Mythos, der seinen Weg ständig begleitete, nicht anheimfiel« (GS V.1, 344). Doch stehen die Allegorien ebenfalls für das, was die Ware aus den Erfahrungen der Menschen dieses Jahrhunderts gemacht hat, wie Benjamin im Passagen-Werk schreibt (vgl. GS V.1, 413), und so sind denn, ebenso wie Baudelaires Allegorien, auch die Waren dialektische Bilder (und zwar gerade durch ihren Fetischcharakter). Denn ihrem Versprechen, das weder sie noch das sie hervorbringende wirtschaftliche und gesellschaftliche System zu erfüllen in der Lage bzw. gewillt sind, korrespondiert ein metaphysisches Bedürfnis, dessen Anspruch Rechnung zu tragen ist, ohne dass man der gängigen Form seiner Erfüllung entspricht. Das Bedürfnis besteht – die Antwort aber ist falsch, weil sie ideologisch verdinglichtes und am Ende falsches Bewusstsein erzeugt. Allerdings erweist sich eben dieses Bewusstsein nicht als absolut falsch; ihm ist, im Gegenteil, vielmehr das abzugewinnen, was am Erlösungsanspruch selbst des verdinglichten Bewusstseins tragfähig ist. In diesem Sinne gilt es das dialektische Bild zu definieren als objektiven, gegenständlich-bildhaften Charakter einer subjektiven Form der Wahrnehmung, deren Bewusstseinsstruktur eben deswegen kollektiv ist (als Konstellation von subjektiven Bedeutungen, die auf objektive Gegebenheiten projiziert werden). Adorno schreibt am 5. August 1935 in Anlehnung an einen bekannten Passus aus dem Trauerspiel-Buch über die innere Struktur der Allegorie an Benjamin: Indem an Dingen ihr Gebrauchswert abstirbt, werden die entfremdeten ausgehöhlt und ziehen als Chiffern Bedeutungen herbei. Ihrer bemächtigt sich die Subjektivität, indem sie Intentionen von Wunsch und Angst in sie einlegt. Dadurch daß die abgeschiednen Dinge als Bilder der subjektiven Intention einstehen, präsentieren diese sich als urvergangne und ewige. Dialektische Bilder sind Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung, innehaltend im Augenblick der Indifferenz von Tod und Bedeutung. Während die Dinge im Schein zum Neuesten erweckt werden, verwandelt die Bedeutungen der Tod in älteste. (GS V.2, 1136)

Deshalb ist der Fetischcharakter nicht nur zu kritisieren, sondern gleichfalls Gegenstand einer Rettung – der Rettung dessen nämlich, was an Versprechen und Glück selbst im Fetischcharakter der Ware angelegt, wenn auch nicht erfüllt ist. In einem weiteren Sinn bedeutet das ›Rettung des Scheins‹. Was von diesem gilt, das gilt vor allen Dingen aber auch von der

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kulthaften, magischen Scheinschicht traditioneller und zeitgenössischer Kunstwerke: eben gerade das Beste dessen, was Marx als die ›theologischen Mucken‹ der Ware bezeichnet hat.18 In dieser Beziehung scheint es nicht ohne Bedeutung zu sein, dass Benjamin bis zuletzt für das Motto seiner Schrift nicht an Paul Valérys Sätze über die Ubiquität gedacht hat, sondern an einen Satz aus dem Kommunistischen Manifest: »Alles Heilige wird entweiht« (GS VII.2, 679).19 Wenn Theologie und mit ihr alles Kunstreligiöse ins Warenhafte abgerutscht ist, dann hat der dialektische Allegoriker den in der Ware und ihrem Fetischcharakter verschlossenen und verfälschten kunstreligiösen, d. h. erlösungsträchtigen Gehalt freizulegen (dies ist eine der Charakteristiken auch im Werk von Baudelaire). Die Katastrophe ist nicht etwas, das bevorstünde, sondern liegt schon in der einfachen Tatsache beschlossen, dass die Dinge so weitergehen wie bisher. Geschichte ist die Katastrophe selbst, und deshalb muss sie angehalten werden (vgl. GS V.1, 592).20 Anders als Marx es will, ist die Revolution keine Lokomotive der Weltgeschichte, sondern der verzweifelte Versuch der in diesem Zug sitzenden Menschheit, die Notbremse zu ziehen. Insofern ist Geschichte sozusagen ›schlechte Unendlichkeit‹ bzw. schlechte Ewigkeit; einzig im Augenblick – jenem fruchtbaren Augenblick, den Benjamin als Jetztzeit oder Jetzt der Erkennbarkeit bezeichnet – kann sich gute Ewigkeit erschließen. Die scheinhafte geschichtliche Kontinuität muss auf dieselbe Weise zersetzt und zerstückelt werden, in der dies der Erfahrung und ihren Gewohnheiten durch ihre Verarmung widerfahren ist, bis die Sicht auf jenen Augenblick frei wird, in dem eine Gegenwart im Eingedenken ihrer Vergangenheit habhaft wird, um sich in die Zukunft zu projizieren.21 Derartige Vorgehensweisen zeichnen in eminentem Sinne _____________ 18

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Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Hamburg 1867; in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Zweite Abteilung: Das Kapital und Vorarbeiten. Band 5. Text. Berlin (Ost) 1983, S. 44. Marx, Karl: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin 2011, S. 33. Mit diesem Gedankengang und der anschließenden Abfolge von Metaphern trifft Benjamin die innerste und substantiellste Problematik aller Geschichtsphilosophie von Augustinus bis Marx mitten ins Herz: nämlich die, durch geschichtsimmanente Momente, die mehr oder minder deterministisch gefasst sein können, etwas zu verwirklichen, was Geschichte transzendiert. Abgesehen davon, dass Benjamins Auffassung von Geschichte jüdisches Gedankengut enthält, demzufolge Geschichte ja gerade nicht, wie Augustinus es eingeführt hat, auf die Erlösung zutreibt, liegt hier der geschichtsphilosophische Grundwiderspruch, welcher auch erklärt, warum gerade sie immer wieder mit religiösen Elementen verschmolzen auftritt. »[…] jede Zeit besitzt die ihr eigene neue aber unvererbbare Möglichkeit, die Prophetien zu deuten, die die Kunst von vergangnen Epochen gerade auf sie enthielt« (GS I.3, 1046). Bemerkenswerterweise klingt eine ähnliche Konstellation auch in der von Luciano Berio

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die Allegorie und die Montage aus. Der Zug ist die Geschichte und die Notbremse befindet sich in der geschichtlichen Epoche, der man angehört, d. h. auch in den Waren oder der zertrümmerten Aura, denn der Erfahrung ist die Welt abhanden gekommen, da alles zur Ware geworden ist22 – in ihren Fetischcharakter hat sich alles Magische zurückgezogen. Nun ist aber dieser geschichtsphilosophische Imperativ ›Zeit anhalten!‹ in ganz eminenter Weise seit jeher auch der Imperativ aller Kunst gewesen: von Scheherazades Erzählungen bis zu Mephistopheles’ Wette mit Faust, von der Statuengruppe des Laokoon bis zu Picassos Guernica (von der als solcher zeitlichen Kunst ›Musik‹ ganz zu schweigen). Aus dieser Perspektive heraus lässt sich behaupten, dass die Aura ihre Lebenskraft nicht zuletzt aus diesem Augenblick bezieht, in dem Zeit stillsteht; auch hierin verschränkt Kunst sich mit der Ware, und beide befinden sich als dialektische Bilder in einer Dialektik im Stillstand, die auf einen einzigen Moment hinstrebt: den des Erwachens. Dies ist die Schwelle, auf welcher Zeit im positiven wie im negativen, im magischen wie in dem dies Magische zertrümmernden Sinn einsteht. In diesem Punkt ist das magisch-religiöse Moment anzutreffen, ohne das es keine Erlösung gibt. Aus diesem Grund heraus verweilen wir vor dem Schönen, denn dies ist das Moment des Utopischen an ihm. Hier wird Kontinuität aufgesprengt und die Wiederkehr des ewig Gleichen überwunden: »Das Interieur ist die Zufluchtsstätte der Kunst. Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphusarbeit zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen«. Seine Arbeit besteht darin, dass er »die Dinge von der Fron befreit […], nützlich zu sein« (GS V.2, 1244). Dinge, die keine Waren mehr wären, hätten das scheinhafte Bildmoment ihres Fetischcharakters dialektisch gegen sich selbst gewandt; dadurch wären sie der Naturnotwendigkeit des conatus sese conservandi entrungen, welche die gesamte Warenproduktion, ehe sie noch ihre perverse Form annimmt, überhaupt erst in Gang setzt. Auf diese Weise näherten sich die Dinge der Möglichkeit, im Spiel und durch das, was Benjamin als zweite Technik bezeichnet, eine noch zu abstrakt konzipierte Freiheit in den gegenseitigen Verhältnissen (den ding_____________

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nach Texten von Italo Calvino komponierten ›azione musicale‹ Un re in ascolto (1984) nach, und der Komponist verwendet denselben Vers später als Titel für sein künstlerisches Vermächtnis: Am Ende des Bühnenwerks singt der ›Hauptdarsteller‹ Prospero einen Text über die Stimme, das Schweigen und die Erinnerung, der mit den Worten »un ricordo al futuro« (›eine Erinnerung an die Zukunft‹) endet (vgl. Berio, Luciano: Un ricordo al futuro. Lezioni americane. A cura di Talia Pecker Berio. Torino 2006). »Die gegenständliche Umwelt des Menschen nimmt immer rücksichtsloser den Ausdruck der Ware an. Gleichzeitig geht die Reklame daran, den Warencharakter der Dinge zu überblenden. Der trügerischen Verklärung der Warenwelt widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische. Die Ware sucht sich selbst ins Gesicht zu sehen« (GS I.2, 671).

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lichen wie den menschlichen) konkret werden zu lassen. Für das Konkreteste bedarf es jedoch des Geistigsten: der Verklärung. Adorno bezeichnet dies als »den genialen Wendepunkt zur dialektischen Rettung der Ware« (GS V.2, 1135).23 Was die Kunst betrifft, konzipiert Adorno das Problem folgendermaßen: »die Autonomie, also Dingform des Kunstwerks ist nicht identisch mit dem Magischen an ihm« und »[g]ewiß ist Schönbergs Musik nicht auratisch« (GS I.3, 1003f.). Wenn demgegenüber dem Film im höchsten, aber auch bedenklichsten Maß die Aura zukommt, dann heißt das nicht, dass er – als das Unterste – nicht in Beziehung stünde zur autonomen Kunst als dem Obersten: »Beide tragen die Wundmale des Kapitalismus, beide enthalten Elemente der Veränderung […]; beide sind die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Freiheit, die doch aus ihnen nicht sich zusammenaddieren läßt« (GS I.3, 1003).24 Andererseits repräsentieren dialektische Bilder auch das Imaginative logischer Konstellationen. Sie sind ein bildhaftes Mittelding zwischen dialektischen Gegensätzlichkeiten, die einander jedoch nicht auslöschen in einer harmonischen Aufhebung. Im Gegenteil verleiht ihre zweideutige Spannung einem möglichen Prozess der Vereinigung auf einer höheren Ebene überhaupt erst die Grundlage: »Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware […]: als Fetisch« (GS V.2, 1246). Diese Ebene muss jedoch erst noch erreicht werden, und damit charakterisiert sich die gegenwärtige geschichtliche Phase nicht nur der Kunst zunächst einmal als Übergangsphase, deren Charakteristiken, wie eben der Verfall der Aura, nicht einfach linear zu konzipieren sind. Vielmehr ist der Paradoxie einer solchen Phase gerecht zu werden, in der sich Kunstwerke und Waren auf vertrackte Weise verschränken. In seinem langen und bedeutenden ›Hornbergbrief‹ vom 2. August 1935 beschreibt Adorno die Ware als dialektisches Bild: Die Ware als dialektisches Bild verstehen, heißt eben auch sie als Motiv ihres Unterganges und ihrer »Aufhebung« anstatt der bloßen Regression aufs Ältere zu verstehen. Ware ist einerseits das Entfremdete, an dem der Gebrauchswert abstirbt, andererseits aber das Überlebende, das fremd geworden die Unmittelbarkeit übersteht. (GS V.2, 1130)

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»Es war das Unternehmen von Baudelaire, an der Ware die ihr eigentümliche Aura zur Erscheinung zu bringen. Er suchte die Ware auf heroische Weise zu humanisieren« (GS I.2, 671). Sowohl Benjamin als auch Adorno erblicken in Alban Bergs Wozzeck, dessen Uraufführung in Berlin sie zusammen besucht haben, ein Beispiel für eine derartige Dialektik, zumal in der zentralen Wirtshausszene.

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In diesem Prozess der ›Aufhebung‹ hat auch die Theologie ihren Ort: Eine Restitution der Theologie oder lieber eine Radikalisierung der Dialektik bis in den theologischen Glutkern hinein müßte zugleich eine äußerste Schärfung des gesellschaftlich-dialektischen, ja des ökonomischen Motives bedeuten. (GS V.2, 1130f.)

Eine derartige Verschränkung von Theologie und Kritik der politischen Ökonomie, welche später von Benjamin in der ersten These Über den Begriff der Geschichte mit einem vieldeutigen Bild beschrieben wird, scheint auch der tiefere Grund für seine anfängliche Wahl des Mottos zum Kunstwerk-Aufsatz gewesen zu sein. Im Fetischcharakter der Ware wie im Kunstwerk ist eine ganz eigentümliche Dialektik am Werk: Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in […] sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. (GS V.2, 1149)

Einer solchen List bedarf es, wenn man dem Tod Leben abgewinnen bzw. erwachend den Traum nicht einfach vergessen will, denn die »letzte Reise des Flaneurs« ist »der Tod. Ihr Ziel: das Neue. […] Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung des Scheins, der den Traumbildern des Kollektivs unveräußerlich ist« (GS V.2, 1146). Das Scheinhafte der Bilder (auch dialektischer) ist ihr unveräußerliches kultisches Element, das in der Kunst den kunstreligiösen Charakter ausmacht. In diesem Sinne stehen sowohl der Fetischcharakter der Ware als auch die Allegorie in engster Fühlung zum Tod, nicht aber zum Tod als einem absoluten Ende, sondern als derjenigen Kraft, welche an bestimmten Schnittstellen der Geschichte das Überkommene zu einem Abschluss bringt, damit Platz wird fürs Neue. Deshalb bezeichnet Benjamin ihn als die »Zentralstation der Dialektik« (GS V.2, 997), und Gleiches gilt der Schicksalsstunde der Kunst gegenüber. Es ließe sich hier die Frage stellen, ob der Tod selbst eine Aura besitzt, denn Erlösung ist ja immer auch mit dem Moment des Todes verbunden, in dem Zeit schlechthin einsteht. Marcel Proust muss wohl davon überzeugt gewesen sein, wenn er bis zuletzt die Absicht hegte, den eigenen Tod zu protokollieren, um dies dann seiner Recherche einzuverleiben. Mehr jedoch scheint jene Form des Todes eine Aura zu besitzen, welche seit der Antike mit Eros (und das bedeutet: mit der Schönheit und der Wahrheit) verbunden wird. Hegel, der die Schönheit auf dem Altar der Wahrheit opfern will, verbindet Kunst jedoch auch mit dem Bewusstsein von Nöten und insofern mit dem Wunsch, sich von ihnen zu befreien. Adorno kommentiert dies folgendermaßen: »Der als erster ein Ende von Kunst absah, nannte das triftigste Motiv ihres Fortbestandes: den Fortbestand der Nöte selber, die

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auf jenen Ausdruck warten, den für die wortlosen stellvertretend die Kunstwerke vollbringen«.25 Fraglich bleibt dabei, in welcher Form das geschehen kann, denn wenn für die geschichtliche Stunde gilt, dass der Film »die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform« (GS VII.1, 380, Fußnote) sei, dann meint das nicht, dass er die einzig mögliche Form von Kunst darstellte noch dass seine Form auch für andere Genres verbindlich wäre, wie Benjamin an anderer Stelle scheinbar zu verstehen gibt (vgl. GS VII.2, 678). In eben diesem Sinne heißt es denn auch an anderer Stelle: Unter allen Künsten ist das Theater der mechanischen Reproduktion, das heißt der Standardisierung am wenigsten zugänglich: daher wenden die Massen sich von ihm ab. Vielleicht ist es aus der historischen Perspektive das wichtigste in Brechts Werk, [dass] seine dramatische Produktion […] es dem Theater erlaubt, seine nüchternste und bescheidenste, ja seine reduzierteste Form anzunehmen, um dergestalt gleichsam zu überwintern. (GS I.3, 1042)

Wichtig am Kultwert ist ja nicht gesehen zu werden, sondern da zu sein, und dies erlaubt es ihm, in versteckter Form etwa so zu überleben wie in der Geschichte die Theologie, welche das Spiel und die Strategie des historischen Materialismus leitet. Für die moderne Kunsttheorie ist denn auch – Benjamin zufolge – die Konfrontation mit der Urzeit der Kunst, d. h. mit ihren magischen und kultischen, aber auch, in säkularisierter Form, mit ihren kunstreligiösen Momenten, methodisch und materiell zentral (vgl. GS I.2, 444f.): Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), […] entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben, wie zu verklären. […] In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte. (GS V.2, 1239)

In einem Brief an Max Horkheimer vom 31. Juli 1937 legt Benjamin die Problematik noch einmal auf andere Weise, nämlich metaphorisch, dar: Es ist in der Tat nicht an der Zeit, das was wir, wohl nicht ganz mit Unrecht, in Händen zu halten glauben, in Kiosken zur Schau zu stellen; vielmehr scheint es an der Zeit, an seine bombensichere Unterbringung zu denken. Vielleicht liegt die Dialektik der Sache darin: Der nichts weniger als glatt gefügten Wahrheit ein Gewahrsam zu geben, das glatt gefügt ist wie eine Stahlkassette. (Briefe 457f.)

_____________ 25

Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 8), S. 512.

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Insofern ließe sich vielleicht der Aura der Zertrümmerung und der mehr an Spengler und Jünger gemahnenden Überbewertung der Technik26 gegensteuern. Die Aura mit ihren kunstreligiösen Momenten könnte etwa ihre Zertrümmerung überleben und ex negativo fortbestehen, ähnlich wie das Erhabene in Schellings Philosophie der Kunst oder die Allegorie in Herders Plastik, d. h. als Übergang und als Vorbereitung einer neuen Form des Schönen. Damit wäre die Diagnose einer Zertrümmerung der Aura nicht definitiv, auch wenn ihre innere Struktur, was etwa das Verhältnis von Kult- und Ausstellungswert betrifft, sich modifiziert. Kunst schickt sich an zu überwintern, und da kann es durchaus sein, dass sie ihr innerstes Anliegen (aller Barbarei zum Trotz zumindest die Möglichkeit eines humanen Lebens offen zu halten) einlöst und – kurz gesagt – Humanität mit inhumanen Mitteln erzeugt. Wenn nämlich von Kunst – und damit in Brechts Sinn auch von Menschlichkeit, Erlösung und Utopie – noch die Rede sein kann, dann nur, weil man fortfährt, Kunst mit ihren wesentlichen Charakteristiken des Spiels und des Scheins (letzterer schließt die Aura und das kunstreligiöse Moment mit ein) als Verbesserungsvorschlag an die – auch menschliche und gesellschaftliche (vgl. GS VII.2, 667f.)27 ›Natur‹ aufzufassen. Ein solcher Verbesserungsvorschlag, der im mimetischen Nachmachen etwas vormacht, richtet sich nämlich in ganz eminenter Weise an die menschliche Natur: »der Leib ist die zentrale Instanz des Magischen« (GS VII.2, 676). Diese Zusammenhänge machen deutlich, warum das utopische Moment an Kunst, ihr innerster Kern, ohne die Aura nicht zu retten ist: »Der Verfall der Aura und die […] Verkümmerung der Phantasievorstellung von einer bessern Natur sind eines« (GS V.1, 457). Im selben Sinn notiert Benjamin Ende 1937: vielleicht ist es notwendig, es mit dem Begriff einer von kultischen Fermenten gereinigten Aura zu versuchen? Vielleicht ist der Verfall der Aura nur ein Durchgangsstadium, in dem sie ihre kultischen Fermente ausscheidet um sich mit noch nicht erkennbaren anzunähern. (GS VII.2, 753)

Interessant, weil wiederum ambivalent, ist hier auch eine Briefstelle aus einem Schreiben an Adorno vom 4. Juni 1936, wo Benjamin behauptet, am Werk Stéphane Mallarmés als des Hauptvertreters eines l'art pour l'art wäre »in der Tat ein ritualfreier und rein dialektischer Aspekt der Kunst, wenn überhaupt, am ehesten zu vergegenwärtigen« (Briefe 307). Benjamin scheint hier Adorno Recht zu geben, der in seinem Brief vom 18. März 1936 den Kunstwerk-Aufsatz einer eingehenden Kritik unterzieht, vor allem _____________ 26 27

»Solange die Kunsttheorie nicht jedes ihrer Elemente am Film zu exemplifizieren vermag, ist sie verbesserungsbedürftig« (GS VII.2, 678). Benjamin bezieht sich bei der Ausarbeitung beider Begriffe auf Schiller resp. auf Goethe und damit auf zwei Autoren, die mit ihrem künstlerischen Schaffen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, erzieherische, ethische und politische Absichten verbanden.

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was den Zusammenhang von autonomer Kunst und Technik betrifft, und in der Bewertung Mallarmés sogar noch weiter geht, indem er behauptet, daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die mythische Seite gehört […] sondern in sich dialektisch ist: daß sie in sich das Magische verschränkt mit dem Zeichen der Freiheit. […] daß gerade die äußerste Konsequenz in der Befolgung des technologischen Gesetzes von autonomer Kunst diese verändert und sie anstelle der Tabuierung und Fetischisierung dem Stand der Freiheit, des bewußt Herstellbaren, zu Machenden annähert. Ich wüßte kein besseres materialistisches Programm als jenen Satz Mallarmés in dem er die Dichtungen als nicht inspiriert sondern aus Worten gemacht definiert […]. (GS I.3, 1002)

Alles Mimetische hat Kultisches in sich und ist als Kunst kultisch, d. h. in gewissem Sinne kunstreligiös. Kunst kann sich ihrer mimetischen Grundlage auch in abstraktester Gestalt nicht entfremden, und das heißt, dass sie ihren Wurzeln notgedrungen treu bleiben muss, wenn sie sich nicht selbst verlieren will. Im Schlaf oder im Traum hat jeder seine eigene Welt, wie Heraklits Fragment 89 behauptet, und nur im Wachsein haben wir alle eine gemeinsame. Ziel allen kultischen Handelns, selbst eines solchen, das traumhaft abläuft, ist nun nachgerade die Herstellung von Gemeinsamkeit, und demnach kann Kultisches durchaus zum Aufwachen beitragen – Benjamin zufolge werden beim Erwachen ja gerade die Traumelemente verarbeitet und ins bewusste Leben übergeführt.28 Um Kunst zu politisieren ist es demnach auch nicht unbedingt notwendig, ihre kultischen Elemente auszumerzen. Gerade hierin besteht ja die Dialektik des Kultischen, dass es, wie auch das Mythische oder selbst der Fetischcharakter der Ware, immer auch die befreienden Momente in sich trägt. Es kommt darauf an, diese zu erschließen und wirksam werden zu lassen und da mag eine Anmerkung zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte weiterhelfen. Denn gerade der Begriff der Aura hat ja nicht nur eine naturhaft-gesellschaftliche Struktur, sondern auch eine eminent geschichtliche und zeitliche. Der Bildcharakter der Aura ist denn auch nicht in reiner Weise identisch mit ihrem Moment der Ferne: Ersteren müsste man, Brecht und Benjamin zufolge, literarisieren, um seine illusionäre statische Distanz prozesshaft wieder in Bewegung zu setzen. Das Moment der Ferne jedoch betrifft nicht einzig den eminent optischen Charakter der Aura, sondern impliziert ebenfalls eine zeitliche Distanz. Wenn Geschichte die Katastrophe ist und es darauf ankommt, sie anzuhalten, dann deshalb, weil der Sturm des Fortschritts die Menschheit wegweht vom Paradies; doch in diesem Sturm sind auch rettende Momente vorhanden. Die Begriffe sind die Segel, und es kommt darauf an, wie man sie setzt (vgl. GS V.1, 592): _____________ 28

»Die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik« (GS V.1, 580).

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Setzt man sie, hegelianisch gesagt, mit List, dann kann man selbst gegen den Sturm zum Ziel kommen. Doch das Ziel ist, wie bekannt, der Ursprung und dieser besteht in einer Konstellation von Phänomenen, welche durch die Begriffe mit dem Idealen vermittelt wird. Fasst man die zeitlichen Momente der Aura ins Auge, so zeigt sich zudem, dass sie sozusagen ein ›Zeitkristall‹29 darstellt, in dem Gewesenes im Augenblick der Jetztzeit mit Zukünftigem in eine fruchtbare Konstellation eintritt. Dies ist der Blick, mit dem ein auratisches Werk dem Zuschauer entgegensieht; es ist jener kollektive Blick, das ad plures ire, von dem Goethe sagt, er setze sich aus den Blicken all jener zusammen, welche dieses Werk je angeschaut haben. Auf ähnliche Weise versucht − wie gesehen − Baudelaire, durch die correspondances mit der Urzeit allegorisch die kollektive Dimension des Kultisch-Auratischen für die moderne Erfahrung neu zu konstruieren. Derartige Operationen schließen Momente wie Geheimnis, Schleier, Schein und Ferne mit ein, welche zusammen mit anderen im Bereich der Kunst das kunstreligiöse Element ausmachen. Doch ist diese Konstellation bei Benjamin keineswegs einzig im Bereich der Kunst anzutreffen. In diesem tieferen Sinn ist denn auch das auratisch-kunstreligiöse Moment selbst aus seiner Geschichtsphilosophie nicht wegzudenken, und von hier fällt neues Licht auch auf den Kunstwerk-Aufsatz, der ja wenige Jahre zuvor geschrieben wurde. Der Unterschied in der Behandlung, aber auch Handhabung des Auratisch-Kultischen liegt in der Form: Die Macht beutet es zur Selbsterhaltung durch verschleiernde und verschönernde Ästhetisierung der Eigentumsverhältnisse aus, und in diesem Sinn trifft Brechts lapidare Äußerung über die Filmproduktion als einen »internationalen Rauschgifthandel«30 durchaus zu. Eine Absage an das kultische Element in der Form einer Politisierung der Kunst als Antwort hierauf, wie sie Benjamin im Sinne Brechts am Ende seines Aufsatzes vorschlägt, läuft jedoch Gefahr, sowohl Kunst als auch Politik aus dem Auge zu verlieren, da sie das kultische Element von sich weist, anstatt es dialektisch in den Prozess einzubeziehen, aus dem es nicht auszuscheiden ist, ohne dem Gebrauchsoder dem Tauschwert gegenüber an Kunstwert einzubüßen. Eine derartige Einbuße allerdings trifft das Innerste von Kunst mitten ins Herz: Indem Kunst gesellschaftlich funktionsfähig gemacht werden soll, läuft man Gefahr, ihren wesentlichen Charakter – die Fähigkeit, das Leben in der Gesellschaft zu verbessern – aus den Augen zu verlieren. Man traut der Politik dann Fähigkeiten zu, die sie schon vor dem Ersten Weltkrieg _____________ 29 30

Der Begriff findet sich in Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps. Paris 1985, bes. S. 92128. Bertolt Brecht an Walter Benjamin, April/Mai 1936; in: Brecht, Bertolt: Briefe 1913-1956, Band 1: Texte. Berlin ‒ Weimar 1983, S. 272.

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nicht mehr hatte: Fähigkeiten, zu deren Statthalter im Verlauf der Neuzeit immer mehr die Kunst wird und zwar sogar dort, wo – in den deutschen Konzentrationslagern – Politik gänzlich zuschanden wurde. Selbst in Auschwitz gab es ein von Gustav Mahlers Nichte Alma Rosé dirigiertes Orchester; in Auschwitz rezitierte Primo Levi Dantes Divina Commedia vor seinen Mitgefangenen; es wurde gedichtet und Theater gespielt. Hieran zeigt sich der im griechischen Sinne verstandene, eminent politische Charakter von Kunst und läge er auch nur in der schwachen Möglichkeit, den heutigen Tag noch in Würde überleben zu dürfen. Gerade jenes Moment des In-sich-Einkehrens oder der Selbstreflexion stellt ja gerade jene ›Stahlkassette‹ dar, in der die Wahrheit überwintern könnte und worin sich das Ideale vor der blutigen Wirklichkeit zeitweise in Schutz zu bringen vermag. Irrationale, bildhafte Traumelemente dialektisch in rational-begriffliche Strukturen zu fassen, ohne ihr Versprechen zu verraten, das ja gerade in ihrem Geheimnis (wohlgemerkt: nicht in ihrem Rätselcharakter) liegt: Diesem Ziel entspricht es, die Spiegelung einer Fata Morgana aus dem 19. Jahrhundert so abzumalen, wie sie sich einst in einer magiefreien Zukunft womöglich wird geben können. Erst in einer derartigen Dialektik im Stillstand, worin Bildhaftigkeit und Begrifflichkeit, Ferne und Nähe, Vergangenheit und Zukunft, Urgeschichte und Gegenwart sich einander augenblickshaft in die Augen sehen, kommt ein emphatischer Begriff von Aura zu dem Seinen. Erst ein solcher Begriff von Aura würde auch Benjamins Ambivalenz gegenüber dem kunstreligiösen Moment gerecht, indem er dialektische Akzente setzte. Auf diese Weise werden die kultischen Elemente an Kunst auf neue Weise denkbar, sowohl was ihre Zerstörung als auch was ihre – natürlich dialektische – Rettung betrifft. ›Blutnebel‹31 besteht aus unsichtbaren Ausdünstungen des Zeitgeistes; er versperrt die Sicht auf Möglichkeiten von Erlösung, indem er Gewalt, Untergang und Verfall mit ästhetischen Mitteln sowohl verschleiert als auch exaltiert. Deshalb gibt es in diesem Zustand keinen direkten Blick, sondern nur den, der auf Umwegen und in mehrfachen Spiegelungen seines Inhalts habhaft wird. In der Kunst ist ein solcher Blick derjenige der Allegorie und des Erhabenen, d. h. von Formen des Ausnahmezustands wie bei Baudelaire. Sie werden ihres Inhalts allerdings nicht habhaft, indem sie am Blutnebel vorbeisehen, sondern dadurch dass sie ihn durchstoßen, so wie es der junge Benjamin mit dem Begriff der ›Erfahrung‹ tun wollte (vgl. GS II.3, 902). Wo Nebel und Blut bzw. Schleier und Tod sich verschränken, muss Kunst diese Verschränkungen _____________ 31

Benjamin hat diese Metapher Georg Trakls Gedicht Menschheit (v. 3) entnommen (vgl. Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Band I. Salzburg 1969), S. 43.

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allegorisch auf ihre Weise durchwirken und dialektisch an die Schwelle ihres Umschlags bringen. Dies ist jedoch nicht nur eine Aufgabe der Allegorese; hierzu kann auch die bewusst vollzogene Stilisierung dienen, und deshalb soll die Dichtung Mallarmés stellvertretend für eine Aura einstehen, die ihre kultischen Elemente säkularisiert hätte – Stilisierung geht ja auf Distanz, wie Benjamin metaphorisch mit seinem Teleskop andeutet. Sie betrachtet das Nächste und Einzelne aus synoptischer Entfernung, setzt gewissermaßen das taktile Moment auf optische Distanz und schafft auf diese Weise ein neues Verhältnis zwischen der Ferne der kultischen Aura und ihrer Zerstörung durch die Massen, die Technik und die Macht. Das Schaffen von Distanz auch und vor allem im unübersichtlichen, blutnebeligen Reich der Ruinen der Moderne käme denn nicht zuletzt einer im hohen Sinn verstandenen Politik zugute: einer Politik, die nicht erst Bismarck als die ›Kunst des Möglichen‹ bezeichnete, sondern mit der schon Napoleon die eigentlich erst Humanität schaffende Idee verband, das Schicksal abzuschaffen.32 In diesem Sinne hat Adorno an Benjamin geschrieben: »Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst. Darum brauchen wir keine Angst vor ihr zu haben und darum auch nicht unsere Angst zu ontologisieren« (GS I.3, 1005). Für die Kunst (für die der Bilder zumal) gilt in diesem Sinne, dass der Maler nicht schaut, um zu malen, sondern er malt, um zu sehen, um die Dinge anders zu sehen, um ihre Beziehungen, wenn auch nur um ein Weiniges zu verschieben. Denn die erlöste Welt, so ein jüdisches Theologumenon,33 wäre ja nichts anderes als diese unsere Welt um ein Geringes anders, als sie ist – aber nicht das _____________ 32

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»So kam er [Napoleon] auch auf die Schicksalsstücke die er mißbilligte. Sie hätten einer dunklern Zeit angehört: Was, sagte er, will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal« (Goethe, Johann Wolfgang: Unterredung mit Napoleon; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 576-580, hier S. 579). Mit diesem Theologumenon hat es interessanterweise eine recht eigenartige Bewandtnis. Auf der einen Seite findet man in der jüdischen Tradition durchaus ähnliche Konzeptionen, die Scholem natürlich bekannt gewesen sind, auf der anderen erinnert der Wortlaut an eine Stelle bei Novalis: »In der künftigen Welt ist alles, wie in der ehmaligen Welt – und doch alles ganz anders« (Novalis: Allgemeines Brouillon; in: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2. München – Wien 1978, S. 514). – Aus einem Tagebucheintrag vom 24. Juni 1918 gewinnt man den Eindruck, dass Scholem mit Benjamin über diese Stelle bei Novalis gesprochen hat. Nun versteht allerdings seinerseits Novalis unter der »ehmaligen Welt« die Vorwelt im Zusammenhang mit dem Märchen und nicht, wie es dann im Theologumenon heißt, die gegenwärtige Welt. Es scheint sich bei der Entstehung dieses Theologumenons also um eine nicht ganz klare Verflechtung von romantischen und jüdischen Quellen und Gesprächen zwischen Benjamin und Scholem zu handeln (für die angeführten Informationen bin ich Bernd Auerochs zu großem Dank verpflichtet).

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Geringste lässt hier und jetzt so sich vorstellen, wie es im Zustand der Erlösung wirklich wäre. Aus diesem Grund gilt auch heute noch als nicht nur ästhetisch zu verstehender Imperativ, was Paul Klee 1926 in einer seiner Zeichnungen zum Ausdruck gebracht hat: ›Sichtbar machen‹.

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Eine Kunstreligion für Europa? Heidegger und Hölderlin ›Kunstreligion‹ ist kein neutraler Begriff, der bloß philosophie- oder kulturgeschichtlich behandelt werden könnte. Er muss vielmehr als der Katalysator einer breiteren begrifflichen Konstellation betrachtet werden, der implizit oder explizit sehr verschiedene, sogar entgegensetzte Weltanschauungen sichtbar macht. Die philosophische Diskussion dieses Begriffes setzt generell eine bestimmte Auffassung der Moderne voraus, wobei die Kunstreligion entweder als etwas Vergangenes oder aber als ein aktuelles Bedürfnis verstanden wird. Wie zu zeigen ist, kann auch Martin Heideggers ›Zwiesprache‹ mit Hölderlin in dieser Perspektive untersucht und beurteilt werden. Die folgende Studie besteht aus vier Teilen. Zunächst wird der begriffliche Hintergrund der Kunstreligion mit besonderem Bezug zu Hegel skizzenhaft rekonstruiert. Die politischen Implikationen von Hegels These zum Vergangenheitscharakter der Kunst sollen betont werden, um deutlich zu machen, welche Auffassungen der Moderne sich rund um den Begriff der ›Kunstreligion‹ gegenüberstehen (I). Auf dieser Basis wird in einem zweiten Schritt versucht, Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin im Sinne einer Notwendigkeit des Denkens zu deuten, der gemäß die Dürftigkeit der Zeit und die Einseitigkeit des Denkens nur durch Rekurs auf eine besondere Form von Kunstreligion zu retten sind. Diese neue Kunstreligion sollte − Heidegger zufolge − einen Neuanfang der europäischen Geschichte und des europäischen Denkens vorbereiten, indem sie die Identität Deutschlands und auch ganz Europas (und dadurch der ganzen Welt) auf der Grundlage einer anderen Beziehung von Subjekt und Substanz bzw. von Mensch und Sein umdeutet (II). Ergebnisse und Perspektiven von Heideggers Versuch werden in einem dritten Teil kritisch interpretiert und kommentiert, wobei auch die mögliche Rolle einer Kunstreligion für die Zukunft Europas zur Sprache kommt (III). Der

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kurze vierte Teil ist als Nachwort zu lesen, das eine säkularisierte und rhetorikfreie Lektüre der Zwiesprache vorschlägt (IV).1

I. Hegel und die Radikalisierung der Kunstreligion Schon bei Hegel ist der Begriff ›Kunstreligion‹ ein dynamischer Begriff, der auf die Polarität von Antike und Moderne verweist. Der Moderne scheint eine Kunstreligion als moralisch-politisches Paradigma unangemessen zu sein, da eine sinnliche, ästhetische Vorstellung des Göttlichen die Bedürfnisse einer rationalen, prosaischen und individualistischen Zeit nicht mehr befriedigen kann. Im Gegenzug war die Kunstreligion dem klassischen Altertum (und insbesondere dem antiken Griechenland) adäquat, da die Kunst (z. B. die Tragödie) und die Mythologie eine zentrale politische Rolle spielten und sogar die Grundlage von Sittlichkeit und politischem Leben ausmachten. Durch die Art und Weise der Beurteilung dieser Polarität – hier notwendigerweise sehr schematisch dargestellt – ergeben sich verschiedene Auffassungen der Moderne. Einerseits kann ein Mangel darin gesehen werden, dass die Moderne unfähig ist, der ästhetischen Sphäre eine ›wirkliche‹, verbindliche Rolle zuzusprechen. In dieser Auffassung, die dem jungen Hegel eigen war, spiegelt sich der entsprechende Mangel in der Entfremdung oder sogar Unterdrückung des Individuums, indem die Verdrängung der sinnlichen Faktoren dazu führt, dass die Einheit und Vollständigkeit seiner anthropologischen Konstitution zerrissen wird und das Individuum der abstrakten, ›unmenschlichen‹ Allgemeinheit einer einseitigen Vernunft bzw. des Rechts oder ökonomischer Mechanismen ausgesetzt ist. Der modernen Entfremdung wird das Urbild des klassischen Griechenland gegenüberstellt, dem eine vollkommene und harmonische Erfahrung des Menschen eigen gewesen sein soll. Eine neue, der Moderne angemessene Kunstreligion dürfte sich zwar den Errungenschaften der neuzeitlichen Vernunft bzw. Wissenschaft und Aufklärung nicht verweigern, müsste sie aber in schönen Gestalten verkörpern und dadurch allgemein zugänglich machen. Man denke z. B. an Hegels frühe Idee einer ›Phantasie- bzw. Volksreligion‹ sowie an die Projekte einer ›ästhetischen Erziehung‹ (Schiller), einer ›Mythologie der Vernunft‹ (im sog. Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus), einer Vollendung der Philosophie und einer Begründung des staatlichen und _____________ 1

Mein Dank gebührt Leonardo Amoroso, Giovanna Cordibella, Markus Ophälders und Sonja Thiel für freundliche Unterstützung und viele wertvolle Hinweise.

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religiösen Lebens durch die Kunst und die Mythologie (etwa Schellings System des transzendentalen Idealismus und dessen Dante-Aufsatz). Für all diese Projekte und Denkrichtungen ist, auf verschiedene Weise, die Erfahrung einer geschichtlich (und zwar im alten Griechenland bzw. auch im katholischen Mittelalter und in der Renaissance) schon gegebenen Kunstreligion maßgeblich. Sie ermöglicht eine radikale Kritik der Moderne, indem dieser das Ideal einer menschlicheren und harmonischeren Welt gegenübergestellt wird. Hegels Konzeptualisierung der Kunstreligion in der Phänomenologie des Geistes, in welcher der Begriff explizit genannt wird, sowie in seinem späteren Denken, wo er implizit in der Rede von der klassischen bzw. schönen Kunst und der ihr eigentümlichen Religion auftaucht, geht andererseits mit dem Ziel einer definitiven und totalen Widerlegung von solchen Stellungnahmen zur Kunstreligion einher, die Hegel selbst zumindest teilweise in seinen frühen Schriften vertreten hatte. Die Frage nach der Kunstreligion wird in seiner Philosophie der Geschichte sowie in seinem System der philosophischen Wissenschaften eingeordnet, wobei sich die Unmöglichkeit ergibt, die Kunstreligion – die als die Grundlage der Sittlichkeit und der Gottesvorstellung im klassischen Altertum galt – als eine der Moderne angemessene Geistform zu betrachten. Die Einführung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ als des für die Moderne kennzeichnenden Moments ›verlorener Sittlichkeit‹ und der vom Staat getrennten und zugleich wieder zum Staat führenden Sphäre des Individualismus führt zur Feststellung, dass eine wesentlich unmittelbare, äußerliche, unreflektierte geistige Form wie die Kunstreligion einer höchst partikularisierten, vermittelten und komplexen Welt nicht mehr entspricht. Die Moderne ist die Zeit, in der der Geist von der Substanz zum Subjekt wird und die Freiheit eine ›subjektive Freiheit‹ ist, d. h. eine Freiheit, die jedem Subjekt als solchem eigen ist. Die subjektive Freiheit ist also auch die Grundlage des Staatslebens, und die Sittlichkeit muss durch die rationale Anerkennung der Subjekte gestiftet und gerechtfertigt werden können. Eine Grundlegung der menschlichen Gemeinschaft durch Kunst und Mythologie scheint sodann unmöglich geworden zu sein, denn sie würde auf die subjektive Freiheit zugunsten einer substantiellen Sittlichkeit verzichten.2 Das 20. Jahrhundert hat diese Polarität radikalisiert. Auf der einen Seite scheint, dass wir nun in einer ›säkularisierten‹ Zeit leben,3 in der nicht _____________ 2 3

Für eine genauere Darlegung und Rechtfertigung dieser These verweise ich auf meine Argumentation in Ophälders, Markus: Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel. Pisa 2011. Vgl. die tiefgreifende Untersuchung von Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge (Massachusetts) – London 2007.

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nur die Kunst, sondern auch die Religion ihre öffentliche sittliche Wirkung verloren hat, so dass die Kunstreligion als eine unbrauchbare Reliquie zu betrachten ist. Auf der anderen Seite scheint, um bei Hegel zu bleiben, die Realität dem Denken erstaunlicherweise unangemessen zu sein, da die Menschen, auch in der westlichen Welt, immer noch bzw. immer mehr nach neuen, fremden oder vergangenen Geistformen suchen, die oft sinnlicher, bildlicher oder sogar ästhetischer als Hegels ›geoffenbarte Religion‹ (deren Ende nur zugunsten einer nicht mehr ästhetischvorstellenden Geistform zu erwarten war) sind. Die politischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts entsprechen dieser Zweideutigkeit, indem sie zwischen der prosaischen grauen Alltäglichkeit eines immer mehr bürokratisierten politischen Lebens und den Versuchungen neuer, totalisierender bzw. totalitärer Massenmythen geschwankt haben. Die Philosophie hat ihrerseits in den verschiedensten Weisen versucht, die schwere Aufgabe zu erfüllen, diese scheinbar unbegreifliche Realität zu begreifen, oder hat sogar diese Aufgabe preisgegeben. Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin kann als ein Versuch gelesen werden, sich mit solch extremisierten Gestalten der Wirklichkeit (die Heidegger persönlich tief getroffen haben) auseinanderzusetzen.

II. Heidegger, Hölderlin und Europa Man kann die Kunstreligion also als etwas Vergangenes betrachten – oder aber als sinnvolle Gestalt für die Zukunft. Diese beiden konträren Auffassungen haben ihren konzeptuellen Ausgangspunkt übereinstimmend darin, die Moderne als ›unpoetische‹ Zeit (eine Zeit, in der die Kunst keine Gründungsfunktion mehr hat) zu begreifen, ziehen jedoch unterschiedliche Folgerungen daraus. Heidegger macht seine Stellungnahme dazu mit Bezug auf Hölderlins Dichtung deutlich: »Es soll […] im Gegenteil [zur geläufigen Auffassung der Rolle der Dichtung] die Dichtung über uns walten, so daß unser Dasein zum Lebensträger der Macht der Dichtung wird«.4 Dann wird die Frage gestellt: »Aber wie soll das geschehen? Wie kann heute noch ein Gedicht – ich rede nur von den Gedichten _____________ 4

Heidegger, Martin: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Band 39: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1934/35. Herausgegeben von Susanne Ziegler. Frankfurt/M. 1980, S. 1-294, hier S. 19.

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Hölderlins – eine Macht werden, wo ganz andere ›Realitäten‹ das Dasein bestimmen«.5 Warum aber sollte die Dichtung – und gerade diejenige Hölderlins – eine ›Macht‹ werden? Warum sollten wir uns bemühen, im »Machtbereich der Dichtung«6 zu stehen? Heideggers Begründung liegt darin, dass Hölderlin das Wesen der Dichtung [dichtet] – aber nicht im Sinne eines zeitlos gültigen Begriffes. […] indem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit. Es ist die Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes. Das ist die dürftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.7

Es mag zunächst befremdlich scheinen, wenn Heidegger die Notwendigkeit einer Dichtung beansprucht, die ihrerseits nichts Positives, sondern wiederum nur eine ›Dürftigkeit‹ feststellt. Hölderlins Dichtung kann uns – in Heideggers Augen – keine neuen Götter ankündigen, die zur Rettung der Menschen berufen wären; sie soll uns vielmehr zeigen, dass die alten Götter entflohen und die neuen noch nicht angekommen sind. In einer Zeit der Dürftigkeit soll sie eine tiefere Dürftigkeit erfahrbar machen. Darin liegt der eigentliche Kern von Heideggers Hölderlin-Deutung, und darin unterscheidet sich Heideggers philosophischer Versuch von vielen naiven Projekten, die eine grundlegende Rolle der Dichtung bzw. der Kunst in Anspruch nehmen. Hölderlins Dichtung soll nach Heidegger nicht die Götter, die uns fehlen, wiedergeben, sondern diesen doppelten Mangel näher bringen. Es handelt sich bei Heidegger sozusagen um einen ›Meta-Mangel‹, d. h. uns fehlt die Fähigkeit zu erfahren, dass uns die Götter (die alten und die neuen) fehlen.8 Den Raum und das Bedürfnis zu schaffen, um zu beginnen, auf Hölderlins Dichtung zu hören, ist der Zweck von Heideggers HölderlinErläuterungen und -Vorlesungen, die deswegen nicht behaupten, »Beiträge zur literaturhistorischen Forschung und zur Ästhetik zu sein. Sie entspringen einer Notwendigkeit des Denkens«.9 Demgemäß hebt Heidegger _____________ 5 6 7

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9

Heidegger: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein (Anm. 4), S. 20. Heidegger: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein (Anm. 4), S. 19. Heidegger, Martin: Hölderlin und das Wesen der Dichtung; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1981, S. 33-48, hier S. 47. Vgl. auch Heidegger, Martin: Wozu Dichter? (1949); in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 6: Holzwege. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1977, S. 269-320, hier S. 269 und S. 272. Heidegger, Martin: Vorwort zur vierten, erweiterten Auflage; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 4: Erläuterungen

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hervor, dass Hölderlins Werk nicht als Poesie und noch weniger als »Poeterey« bezeichnet werden kann,10 sondern Dichtung im reinsten und ursprünglichsten Sinne des Wortes ist. Sie kann also nicht als kulturelle oder sentimentalische Schöpfung in einer Endzeit der Kunst verstanden werden, sondern als Stiftung einer Welt (sei sie dann die deutsche oder, auf vermittelte Weise, die europäische bzw. die abendländische).11 Deutlich wird übrigens auch, dass die Zwiesprache mit Hölderlin zwar einer Notwendigkeit des Denkens entspringt,12 ihre Ergebnisse aber nicht bloß den Denker interessieren müssen. Diese Notwendigkeit ist im Wesen politisch,13 so wie auch ihr Ursprung stark politisch geprägt ist.14 Heideggers Blick auf die Vergangenheit, d. h. auf Hölderlin und dadurch auf das antike Griechenland, hat den Zweck, eine andere Zukunft zu entwerfen.15 Die Dürftigkeit der gegenwärtigen Welt kann nur dadurch überwunden werden, dass wir beginnen, auf einen anderen Anfang unserer geschichtlichen Welt zu hören. Dazu müssen wir aber zuerst die Dürftigkeit dieser Welt, die wir nicht einmal ahnen, erfahren. Diese Dürftigkeit ist kein Zufall, sondern eine Notwendigkeit unserer geschichtlichen Lage, die der Geschichte der abendländischen Metaphysik von Plato bis Nietzsche entspricht und die Keime ihrer eigenen Überwindung in sich birgt. Bekanntlich gipfelt die Geschichte der abendländischen Metaphysik Heidegger zufolge in der gegenwärtigen Lage extremer Seinsvergessenheit: _____________ 10

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zu Hölderlins Dichtung. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1981, S. 7. Vgl. Heidegger, Martin: Andenken; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1981, S. 79-151, hier S. 102. Vgl. Trawny, Peter: Heidegger und Hölderlin oder Der Europäische Morgen. Würzburg 2004, u. a. S. 106. Zum Wesen der ›Zwiesprache‹ sowie zum Verhältnis von Dichten und Denken bei Heidegger vgl. schon Allemann, Beda: Hölderlin und Heidegger. Zürich – Freiburg/Br. 1954, insbesondere den dritten Abschnitt (S. 95-184). Heidegger verfolgt »letztlich weniger ein philosophisches, schon gar kein philologisches, als vielmehr ein pädagogisch-politisches Ziel« (Jamme, Christoph: Dem Dichten Vor-Denken. Aspekte von Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin im Kontext seiner Kunstphilosophie; in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984), S. 191-218, hier S. 200). Vgl. Wright, Kathleen: Die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung und die drei HölderlinVorlesungen (1934/35, 1941/42, 1942). Die Heroisierung Hölderlins; in: Thomä, Dieter (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Katrin Meyer und Hans Bernhard Schmid. Stuttgart – Weimar 2003, S. 213-230. – Otto Pöggeler zufolge ist klar, »dass man nicht über Hölderlin und Heidegger sprechen kann, ohne Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus zu berühren« (Pöggeler, Otto: Heideggers Begegnung mit Hölderlin; in: Man and World 10 (1977/1) S. 13-61, hier S. 24f.). Vgl. Jamme: Dem Dichten Vor-Denken (Anm. 13), S. 208 und Ziegler, Susanne: Heidegger, Hölderlin und die Άλήθεια. Martin Heideggers Geschichtsdenken in seinen Vorlesungen 1934/35 bis 1944. Berlin 1991, z. B. S. 62, Anm. 85.

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im Zeitalter der Technik.16 Zu dieser begrifflichen Konstellation gehört auch das Werden der Kunst zur Kultur und zu einem Gegenstand des ästhetischen Erlebnisses. Hölderlins Dichtkunst sei demgegenüber »nicht metaphysisch«: »Insofern es Kunst im strengen abendländischen Begriff nur als metaphysische Kunst gibt, ist Hölderlins Dichtung, wenn sie nicht mehr metaphysisch ist, auch nicht mehr ›Kunst‹«, aber »auch keine ›Philosophie‹; denn alles Denken, das seit Platon ›Philosophie‹ heißt, ist Metaphysik«.17 Wiederum kann es befremdlich scheinen, dass Heidegger Hölderlins Dichtung ex via negationis erfasst; es ist aber mit den inhaltlichen Bedeutungen, die er dieser Dichtung zuspricht, kohärent. Nach Heidegger ist es die einzige Not, nüchtern denkend im Gesagten seiner Dichtung das Unangesprochene zu erfahren. Das ist die Bahn der Geschichte des Seins. Gelangen wir auf diese Bahn, dann bringt sie das Denken in eine seinsgeschichtliche Zwiesprache mit dem Dichten. […] das Geschick zieht […] seine Bahn.18

Die Zwiesprache Heideggers mit Hölderlin ist also ein ›Geschick‹, eine epochale und seinsgeschichtliche, aber nicht individuelle Notwendigkeit.19 Mit ›epochal‹ ist eine Notwendigkeit unserer Zeit gemeint, auf deren Grundlage die Zwiesprache erst ihren Sinn gewinnt. Hölderlins Dichtung ist der Ausweg aus der metaphysischen Seinsvergessenheit und aus den Gefährdungen durch das Wesen der Technik unserer Zeit. Da aber auch dieser Ausweg kaum etwas Zufälliges ist, müssen wir das Thema der Technik und das der Dichtung Hölderlins zusammen behandeln. Wir müssen zunächst das Wesen der Technik in Frage stellen, d. h. ›nach der Technik‹ fragen. _____________ 16

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»Die schrankenlose Herrschaft der modernen Technik in jeder Ecke dieses Planeten ist nur die späte Folge einer sehr alten technischen Auslegung der Welt; welche Auslegung sonst Metaphysik heißt. Der Wesensursprung der neuzeitlichen Technik liegt im Beginn der Metaphysik bei Platon. Diese neuzeitliche Technik erfährt ihre letzte metaphysische Rechtfertigung durch jene Metaphysik, die sich wissentlich als Umkehrung des Platonismus begreift, […] die Nietzsche gedacht hat. Die Unterscheidung von Naturgesetzlichkeit und Freiheit ist in Wahrheit eine technische und d. h. eine solche, in der schon das Sein selbst nicht mehr aus seiner Wahrheit zum Wort kommt« (Heidegger, Martin: Hölderlins Hymne Andenken; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Band 52: Hölderlins Hymne Andenken. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1941/42. Herausgegeben von Curd Ochwadt. Frankfurt/M. 1982, S. 1-197, hier S. 91). − Vgl. im Kontext der Ereignis-Frage Amoroso, Leonardo: Lichtung. Leggere Heidegger. Torino 1993, S. 188. Heidegger, Martin: Hölderlins Hymne Der Ister; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Band 53: Hölderlins Hymne Der Ister. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1942. Herausgegeben von Walter Biemel. Frankfurt/M. 1984, S. 1-206, hier S. 30. Heidegger: Wozu Dichter? (Anm. 8), S. 273f. Vgl. Amoroso: Lichtung (Anm. 16), S. 136-142.

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In dem Aufsatz, dessen Titel eben Die Frage nach der Technik lautet, erklärt Heidegger: Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.20

Natürlich ist hier eine Kunst im Sinne von Hölderlins Dichtung gemeint und nicht eine ›metaphysische Kunst‹. Dadurch bezieht sich Heidegger auf die ursprüngliche Einheit von Kunst und Technik als zwei Arten des Hervorbringens des Wahren (ποίησις), die unter demselben Namen standen, nämlich τέχνη. Die Spaltung, die in unserer Zeit zwischen Kunst und Technik besteht, liegt darin begründet, dass unsere Beziehung zur Wahrheit und zur Natur in den Machtbereich des ›Gestells‹ eingetreten ist. Unter ›Gestell‹ versteht Heidegger »jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen«.21 Auch die Kunst gilt nunmehr als ›Bestand‹, indem sie für uns ein Gegenstand der ästhetischen Erfahrung, des Genusses, des Erlebnisses, des Kulturschaffens ist – alles Begriffe und Verhaltensweisen, die im antiken Griechenland unbekannt waren. Auch hier gibt es nichts Zufälliges: »Das Wesen der modernen Technik beruht im Ge-stell. Dieses gehört in das Geschick der Entbergung«.22 Das Wesen der modernen Technik, das unsere Zeit charakterisiert, ist also kein historischer Fehler, der einfach verdrängt werden könnte. Wir müssen dagegen den ganzen Weg dieses Geschicks gehen, bevor wir bei der Notwendigkeit eines anderen Anfangs ankommen. Über diese Notwendigkeit besteht allerdings nach Heidegger kein Zweifel: Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr. Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr. Sie bezeugt sich uns nach zwei Hinsichten. Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist, – geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll. […] Allein, das Ge-stell gefährdet nicht nur den Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu allem, was ist. Als Geschick verweist es in das Entbergen von

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Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik (1953); in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7: Vorträge und Aufsätze. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 2000, S. 5-36, hier S. 36. Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 20. Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 26.

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der Art des Bestellens. Wo dieses herrscht, vertreibt es jede andere Möglichkeit der Entbergung.23

Die politische Relevanz dieser Aussagen ist offensichtlich. Die erste Gefahr deutet auf etwas schon Geschehenes hin, nämlich auf die Behandlung – und sogar: die Vernichtung – der Menschen durch andere Menschen – nicht einmal als Feinde, nicht einmal als Gegenstände, sondern eben als ›Bestände‹. Die zweite Gefahr hat mit einer scheinbar hoffnungslosen ›planetarischen‹24 Zukunft zu tun. Das Walten des Gestells führt zur Unmöglichkeit der Entbergung der Wahrheit, indem es seinen eigenen Ursprung verbirgt: »Wo das Ge-stell waltet, prägen Steuerung und Sicherung des Bestandes alles Entbergen. Sie lassen sogar ihren eigenen Grundzug, nämlich dieses Entbergen als ein solches nicht mehr zum Vorschein kommen«.25 Jetzt ist deutlich, warum wir in Zeiten höchster Dürftigkeit nicht einmal in der Lage sind, diese zu erfahren: Das Walten des Gestells verstellt sogar seinen eigenen Ursprung und somit die Möglichkeit jeder anderen Art der Entbergung. Und trotzdem muss – nach Hölderlins Wort »Wo aber Gefahr ist, wächst | das Rettende auch« – gerade das Wesen der Technik »das Wachstum des Rettenden in sich bergen«.26 Wir müssen uns der Gefahr nähern, um die Wege der Rettung zu erblicken, und dazu müssen wir uns an den der Technik verwandten Bereich der Kunst wenden und sie im Sinne einer ursprünglicheren und menschlicheren Weise der Entbergung der Wahrheit denken. Wir müssen nicht nur »voll Verdienst« (auch im Sinne der Steigerung des Bestandes), sondern auch »dichterisch« auf dieser Erde wohnen.27 Der Bereich der Dichtung ermöglicht ein »Aufschauen«, das »das Zwischen von Himmel und Erde« durchmisst).28 Nur mit etwas Himmlischem vermag der Mensch sich zu messen, und zwar mit Hölderlins Versen und Heideggers Erläuterung: »Der Mensch misset sich … mit der Gottheit.« Sie ist »das Maaß«, mit dem der Mensch sein Wohnen, den Aufenthalt auf der Erde unter dem Himmel, ausmißt.

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Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 27f. Vgl. Heidegger, Martin: Hölderlins Erde und Himmel; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1981, S. 152-181, hier S. 176. Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 28. Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 29. Heidegger, Martin: …Dichterisch wohnet der Mensch… (1951); in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7: Vorträge und Aufsätze. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 2000, S. 189-208, hier S. 194-197. Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch (Anm. 27), S. 198.

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Nur insofern der Mensch sein Wohnen auf solche Weise ver-mißt, vermag er seinem Wesen gemäß zu sein.29

Dieses Messen hat nichts mit unseren geläufigen, durch die wissenschaftliche Weltanschauung geprägten Zahl- und Quantumvorstellungen zu tun, sondern »im Dichten ereignet sich, was alles Messen im Grunde seines Wesens ist«.30 Im gegenwärtigen Zeitalter »wohnen wir durchaus undichterisch […]. Ob uns und wann uns eine Wende des undichterischen Wohnens trifft, dürfen wir nur erwarten, wenn wir das Dichterische in der Acht behalten«.31 Die Explikation dieser Aussagen können wir dem schon erwähnten Vortrag Hölderlins Erde und Himmel entnehmen. Hier erklärt Heidegger, dass die Überwindung des Waltens des Gestells und der metaphysischen Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, die dazu geführt hat, nur dadurch möglich ist, dass wir uns des »großen Anfangs«32 bewusst werden, den das antike Griechenland darstellt. Dieser Zusammenhang muss zunächst rekonstruiert werden, bevor wir zur Frage der Kunstreligion zurückkehren können.33 Das antike Griechenland macht den Anfang unseres Geschicks aus, denn hier hat sich die Wahrheit des Seins als die scheinende Entbergung des Anwesenden anfänglich gelichtet. Hier ist die Wahrheit die Schönheit selbst gewesen. […] Darum braucht es die Kunst, das dichtende Wesen des Menschen. Der dichterisch wohnende Mensch bringt alles Scheinende, Erde und Himmel und das Heilige, in den für sich stehenden, alles verwahrenden Vorschein, bringt es in der Gestalt des Werkes zum sicheren Stehen.34

Das aber heißt ursprünglich ›stiften‹, und das sagt Hölderlin »nicht nur über Griechenland«.35 Die Zwischen-Dimension, in der der Mensch erst sein Maß haben kann, wird hier genauer erörtert, indem Heidegger versucht, unser gewohntes Vorstellen in eine ungewohnte, weil einfache, denkende Erfahrung umzustimmen. (Die Umstimmung in die denkende Erfahrung der Mitte des unendlichen Verhältnisses –: aus dem Ge-Stell als dem sich selbst verstellenden Ereignis des Gevierts).36

Das ›Geviert‹ sind die vier Stimmen des Geschicks: _____________ 29 30 31 32 33 34 35 36

Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch (Anm. 27), S. 199. Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch (Anm. 27), S. 200. Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch (Anm. 27), S. 206f. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 171. Vgl. zu diesem Problemfeld, das von Hölderlins Dichtung bis zur Bedeutung des Gestells reicht, ausführlicher Amoroso: Lichtung (Anm. 16), S. 136-142. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 161f. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 162. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 153.

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Der Himmel, die Erde, der Mensch, der Gott. In diesen vier Stimmen versammelt das Geschick das ganze unendliche Verhältnis. Doch keines der Vier steht und geht einseitig für sich. […] Un-endlich halten sie sich aneinander, sind, was sie sind, aus dem un-endlichen Verhältnis, sind dieses Ganze selbst. […] Als die Mitte des ganzen Verhältnisses ist das Geschick der alles versammelnde Anfang. 37

Hölderlin dichtet: »Zu Geringem auch kann kommen | Großer Anfang«. Heidegger präzisiert, dass dieses ›Geringe‹ nicht »im Sinne des Geringschätzigen« zu verstehen sei. Wir müssen vielmehr fragen, was das aus dem großen Anfang Kommende ist, und die Antwort lautet Heidegger zufolge: »Das Kommende ist das ganze un-endliche Verhältnis, in das mit dem Gott und mit den Menschen Erde und Himmel gehören«, also die »Vollendungsruhe des unendlichen Verhältnisses«. Das Geringe, wozu ›großer Anfang‹ (Griechenland, d. i. das Morgenländische) kommen kann, ist das Abendländische, das inzwischen »Europa geworden« ist.38 Hier scheint das Geviert im Machtbereich des Gestells ›zerstört‹ zu sein oder aber »nur verstellt und in seinem Erscheinen verweigert. Dann stünde es mit bei uns, dieser Verweigerung des un-endlichen Verhältnisses nachzudenken«. Wenn dem so ist, bleibt uns nur im Nachdenken über diese Verweigerung die Möglichkeit der Rettung: »Demgemäß kann der gegenwärtige Weltzustand einen wesenhaften Wandel oder auch schon dessen Vorbereitung nur aus seinem Anfang empfangen, der unser Weltalter geschicklich bestimmt«. Dann kann der große Anfang »Gegenwart als uns Entgegenwartendes« werden, doch eben »nur in seinem Kommen _____________ 37 38

Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 170f. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 171, 174, 175, 173 und 176. − Die Macht und die Herrschaft des Zusammenhangs von Europa, Abendland und Griechenland sind nicht regional, sondern global bzw. sogar interstellar: »Der gegenwärtige planetarischinterstellare Weltzustand ist in seinem unverlierbaren Wesensanfang durch und durch europäisch-abendländisch-griechisch« (Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 177). Daran ändert natürlich nichts, dass heute diese Herrschaft immer mehr von anderen Ländern ausgeübt wird, die prima facie zu diesem Zusammenhang nicht rückführbar erscheinen, denn der Wesensanfang unserer globalisierten Welt, die immer noch im Machtbereich der Technik steht, ist jedenfalls darin zu verorten. Heidegger merkt interessanterweise dazu an: »Dieses Geringe kann aber auch nicht mehr in seiner abendländischen Vereinzelung verbleiben. Es öffnet sich den wenigen anderen großen Anfängen, die mit ihrem Eigenen in das Selbe des Anfangs des un-endlichen Verhältnisses gehören, worin die Erde einbehalten ist« (ebd.). Doch scheint diese hoffnungsvolle Anmerkung retrospektiv etwa naiv zu sein, denn diese Integration geschieht ja innerhalb eines vom abendländischen Wesen der Technik dominierten Raums, und ist also keine wirkliche gegenseitige Integration, sondern vielmehr eine einseitige Absorption. Die einzig mögliche Integration wäre hier nur durch einen Gewinn von beiden Seiten denkbar, was freilich erst dann geschehen kann, wenn die Stärke des griechisch-europäisch-abendländischen Wesensanfangs eben in der dialektischen Integrationsfähigkeit und im Verzicht auf eine unbegrenzte Herrschaftsmacht angesehen wird. Eine ausführliche Diskussion dieser Themen, die in diesem Kontext zwar einleuchtend sein könnte, doch weit über Heidegger hinausreicht, ist hier nicht möglich.

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zum Geringen«.39 Diese Hoffnung scheint jedoch noch unzeitgemäß zu sein, denn wir Menschen dieses Weltalters sind vermutlich nicht einmal im Geringen und Dürftigen jenes Bedürfens, aus dem die Vier des unendlichen Verhältnisses einander rufen. Wir sind kaum im Notdürftigen. Seine Not besteht darin, dass die Sterblichen sie nicht erblicken und dessen nicht achten, wie das möglicherweise Kommende für uns kommender wird, je weiter wir vor ihm zurücktreten.40

Dies ist die einzige mögliche Form unserer Beziehung zum Kommenden, d. h. zum Rettenden, doch »wohin könnten wir zurücktreten? In die erwartende Zurückhaltung. Sie ist in sich zugleich das vordenkende Vermuten. Solche Zurückhaltung kommt dem Kommendem dadurch zuvor, daß sie zu erfahren versucht, was gegenwärtig ist«.41 Der Mensch muss also lernen, dem Verweigern und dem Schweigen des Geschicks zu entsprechen, aber »er weicht ihm vielmehr aus durch die immer hoffnungsloseren Versuche, mit seinem sterblichen Willen die Technik meistern zu wollen«. Ebenso hoffnungslos scheint andererseits auch Heideggers Beobachtung, nach der, wenn die Gewalt des Wesens der modernen Technik in sich die »lautlose Stimme« einer höheren, weil ›geringeren‹ Fügung verbirgt, wir sie »am schwersten« hören: »Denn dafür müßten wir zur Vorbereitung erst wieder lernen, eine ältere Sage zu hören, in der einst das große Geschick des Griechenlandes tönte«.42 Mit der – etwas rhetorischen – Zitation eines Gedichts des bereits dem Wahnsinn ausgelieferten Hölderlins aus dem Jahr seines Todes schließt Heidegger seinen Gedankengang ab, und damit sind auch wir am Ende der Darstellung und kehren zur Frage der Kunstreligion zurück.

III. Die bedrohliche Zweideutigkeit der Kunstreligion Darf man – und wenn ja, in welchem Sinn? – mit Bezug auf Heideggers Hölderlin-Interpretation von Kunstreligion sprechen? Vielleicht schon, doch erst in einem ganz eigentümlichen Sinn. Denn sowohl ›Kunst‹ als auch ›Religion‹ bekommen in Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin eine ungewöhnliche Bedeutung. Die Kunst wird nach dem Muster der griechischen Kunst gedacht, d. h. als eine, die kaum durch die Kategorien des _____________ 39 40 41 42

Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 176f. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 177. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 177f. Heidegger: Hölderlins Erde und Himmel (Anm. 24), S. 178f.

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Artistischen, des Ästhetischen und des Kulturellen denkbar ist, sondern, wie wir sehen werden, eine Entbergung der Wahrheit in der Art des Hervorbringens ausmacht. Die Religion, wenn das Wort in diesem Kontext sinnvoll ist, gilt es auch nicht in den üblichen Subjekt/Objekt- bzw. Ursache/Wirkung-Kategorien zu denken.43 Heidegger plädiert nicht für eine ›neue Mythologie‹, die den Vernunftideen eine ästhetische Gestalt geben soll. Er glaubt auch nicht, dass die gegenwärtige geschichtliche Lage durch die Berufung auf einen romantisch gedachten Primat der Kunst bzw. des Künstlers als Genie zu überwinden wäre. Trotzdem gibt es Gründe, den Begriff ›Kunstreligion‹ zu verwenden.44 Nach Heidegger ›stiftet‹ nämlich Hölderlins Dichtung eine Zeit, indem sie die Ferne und das Fehlen der Götter ankündigt. Man könnte also von einer Kunstreligion ohne Götter sprechen. Das Fehlen der Götter bezeichnet zugleich die Notwendigkeit, über das Geschick Europas dementsprechend nachzudenken. Das unendliche Verhältnis der vier Stimmen sieht in der Moderne verstümmelt aus, da die Götter fehlen und der Mensch nur auf der Erde und nur in der Weise der Bestandssteuerung und -sicherung sein _____________ 43

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»So kann, wo alles Anwesende sich im Lichte des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs darstellt, sogar Gott für das Vorstellen alles Heilige und Hohe, das Geheimnisvolle seiner Ferne verlieren. Gott kann im Lichte der Kausalität zu einer Ursache, zur causa efficiens, herabsinken. Es wird dann sogar innerhalb der Theologie zum Gott der Philosophen, jener nämlich, die das Unverborgene und Verborgene nach der Kausalität des Machens bestimmen, ohne dabei jemals die Wesensherkunft dieser Kausalität zu bedenken« (Heidegger: Frage nach der Technik (Anm. 20), S. 30). − Heideggers Verhältnis zur Religion und zu den Religionen ist bekanntlich sowohl in philosophischer als auch in biographischer Hinsicht eine komplexe Frage. Hier reicht es aus zu verstehen, dass die durch Hölderlin gedachte Kunstreligion kaum unserer jüdisch-christlichen und römischen Auffassung des ›Religiösen‹ entspricht und dass die Rolle der Dichter zwar eine prophetische ist, doch nicht im herkömmlichen Sinne, demzufolge die Beziehung zwischen Heiligem und Gott umgekehrt ist: »Die Dichter sind, wenn sie in ihrem Wesen sind, prophetisch. Sie sind aber keine ›Propheten‹ nach der jüdisch-christlichen Bedeutung dieses Namens. Die ›Propheten‹ dieser Religionen sagen nicht erst nur voraus das voraufgründende Wort des Heiligen. Sie sagen sogleich vorher den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit rechnet. Man verunstalte Hölderlins Dichtung nicht durch ›das Religiöse‹ der ›Religion‹, die eine Sache der römischen Deutung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern bleibt« (Heidegger: Andenken (Anm. 10), S. 114.). Auch hier ist Heidegger bemüht, die Eigentümlichkeit des hölderlinschen Wortes zu bewahren, das keinen bestehenden Gott bezeichnet, sondern vielmehr versucht, den Raum des Heiligen, dem auch die Götter angehören, (wieder) zu nennen (zum Begriff des ›Heiligen‹ vgl. Anm. 43). »Faßt Hegel die griechische Kunst als Kunst-Religion, so rückt für Heidegger Kunst überhaupt in die Nähe von Religion […]. Religion ist hier nach den Unterscheidungen des jungen Hegel wesentlich ›Phantasiereligion‹, die das Ewige im Endlichen der Mythen, Riten, Werke und Institutionen aufscheinen läßt« (Pöggeler: Heideggers Begegnung mit Hölderlin (Anm. 14), S. 50).

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Maß sucht, wobei es auf der Erde keines gibt, solange der Mensch sie nicht dichterisch bewohnt.45 An Hölderlins Dichtung sollen wir nach Heidegger zunächst lernen, aus dem Machtbereich des Gestells auszutreten und dadurch den Wandel46 vorzubereiten, der uns »Entgegenwartendes« als »zum Geringen« Kom-mendes sein lässt. Wenn wir lernen auf die Dichtung zu hören, dann eröffnet die Kunst uns also ein weiteres Mal, wie einst im ›großen Anfang‹ (des antiken Griechenland), den Bereich des Göttlichen − dieses Mal jedoch durch ihr Fehlen, das die Unmöglichkeit des Heiligen zur Folge hat. Nur dieses Fehlen der Götter als Bestand kann uns helfen, ein neues Europa zu gestalten. Europa muss nichts Großartiges, nichts Mächtiges im Sinne des Gestells sein, sondern das Geringe, zu dem der große Anfang kommt.47 Indem uns − Heidegger zufolge − nur die Kunst (insbesondere die Dichtung) als der der Technik ursprünglich verwandte Bereich das Heilige erschließt und dadurch auch eine moralisch-politische Gemeinschaft neu gestalten bzw. stiften kann, dürfen wir in Bezug auf Heideggers Hölderlin-Interpretation von dem Versuch einer neuen Kunstreligion für Europa sprechen. Dazu berechtigt uns auch die Metaphysiküberwindungsfunktion, die Heidegger dieser Kunstreligion zuspricht, da sie eine völlig neue, mit der Metaphysik inkompatible und ursprünglichere Beziehung des Menschen zur Wahrheit ermöglicht:48 »Das Wesen der Kunst ist die Dichtung. Das Wesen der Dichtung ist aber die Stiftung der Wahrheit«,49 und alle Kunst ist »Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden«.50 Kunst ist also ein »Geschehenlassen der Wahrheit«, und dem steht die metaphysische Spaltung von Subjekt und Objekt – der »moderne Subjektivismus«51 also, woraus das Wesen der Technik als Gestell entspringt – als völlig unangemessen gegenüber. Der ursprüngliche Sinn von Kunst hat nichts mit dem ›Machen‹ eines Subjekts zu tun: Die τέχνη ist als griechisch erfahrenes Wissen insofern ein Hervorbringen des Seienden, als es das Anwesende als ein solches aus der Verborgenheit her eigens in

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Vgl. Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch (Anm. 27), S. 204f. und Amoroso: Lichtung (Anm. 16), S. 46. Für eine präzisere Erörterung dieses Wandels in der Geschichte des Abendlandes siehe Ziegler: Heidegger, Hölderlin und die die Άλήθεια (Anm. 15), S. 338-345. Vgl. zum in diesem Zusammenhang relevanten Thema des ›geheimen Deutschland‹ (Stefan George) Trawny: Heidegger und Hölderlin (Anm. 11), S. 180-182. Vgl. auch Jamme: Dem Dichten Vor-Denken (Anm. ), S. 200. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36); in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 6: Holzwege. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1977, S. 1-74, hier S. 63. Heidegger: Ursprung des Kunstwerks (Anm. 49), S. 59. Heidegger: Ursprung des Kunstwerks (Anm. 49), S. 63.

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die Unverborgenheit seines Aussehens vor bringt; τέχνη bedeutet nie die Tätigkeit eines Machens.52

Wir müssen wieder lernen, die Wahrheit geschehen zu lassen und ihre Entbergung nicht beherrschen zu wollen. Dass der zügellos moderne Subjektivismus in die erwartende Zurückhaltung zurücktreten muss, ist das dichterisch gestiftete Geschick, die Notwendigkeit unserer dürftigen Zeit. Hierin liegt die letzte Bedeutung von Heideggers eigenartigem Versuch einer neuen Kunstreligion, d. h. einer durch die Dichtung gestifteten Beziehung des Menschen zu der Ferne und dem zukünftigen Kommen der Götter. Das erforderte Zurücktreten des metaphysischen und zugleich ethischen und politischen Subjekts in eine erwartende Zurückhaltung ist damit völlig kohärent. Wie Hegel deutlich gemacht hat, ist eine Kunstreligion nur dort möglich, wo das Subjekt Teil einer ›substantiellen Sittlichkeit‹ ist, die nach Hegel ebenso wie nach Heidegger im antiken Griechenland zu finden ist. Nach Hegel ist dieses Muster der modernen europäischen Welt, die ihre Basis in der subjektiven Freiheit hat, ganz unangemessen. Nach Heidegger aber müssen wir uns durch die Dichtung den großen Anfang Griechenlands wieder aneignen.53 Aus dieser Perspektive kann Heideggers Versuch nur als gescheitert gelten, und das aus vielerlei Ursachen.54 Dafür sprechen zunächst logische Gründe, die Heidegger gewiss abgelehnt hätte und die doch mit zu berücksichtigen sind. Ein argumentativer Zirkel scheint sich abzuzeichnen,55 da Heidegger die Notwendigkeit des Hörens auf Hölderlins Dichtung zwar behauptet, sie aber letzten Endes nicht begründen kann. Heidegger zufolge besteht die Aufgabe der Philosophie nun »in der Erkenntnis der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu schaffen«.56 Aber eine Kunst, deren Notwendigkeit durch _____________ 52 53

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Heidegger: Ursprung des Kunstwerks (Anm. 49), S. 47. »Letztlich aktualisiert Heidegger in Reinkultur jene Konzeption griechischer Sittlichkeit, die Hegel in seiner Tragödientheorie auf die ästhetische Religion der Griechen eingeschränkt hat« (Gethmann-Siefert, Annemarie: Heidegger und Hölderlin. Die Überforderung des Dichters in dürftiger Zeit; in: Heidegger und die praktische Philosophie. Herausgegeben von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Frankfurt/M. 1988, S. 191-227, hier S. 218). Zu diesem Schluss kommt auf anderen Wegen auch Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), u. a. S. 203 und S. 209. Vgl. aus einem anderen Gesichtspunkt Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), S. 207. Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). 258. Die Philosophie; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes. Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1989, S. 421-424, hier S. 422; vgl. Pöggeler: Heideggers Begegnung mit Hölderlin (Anm. 14), S. 14.

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die Philosophie erkannt werden muss, kann offensichtlich nicht ›ursprünglich‹ sein, sondern ist vielmehr etwas ›Sentimentalisches‹, was der Absicht Heideggers grundsätzlich widerspricht. Heidegger scheint sich dieser Problematik durchaus bewusst zu sein und neigt insbesondere in den späteren Schriften zu Hölderlin tatsächlich dazu, ein intuitiv-assoziatives Hindeuten statt einer logisch-diskursiven Argumentation zu verwenden.57 Dadurch gewinnt sein Verfahren jedoch nicht an Deutlichkeit und Stringenz, sondern bleibt der Versuchung verhaftet, eine durch die Philosophie entworfene Idee mittels der Kunst unmittelbar praktisch werden zu lassen.58 Es gibt aber noch einen gewichtigeren logischen Grund für das Scheitern von Heideggers Versuch. Der eingangs erwähnte ›Meta-Mangel‹ besteht darin, dass in unserer Zeit nicht nur die Götter abwesend sind, sondern wir nicht einmal die Fähigkeit besitzen, auf die Stimme, die diese Abwesenheit ausspricht (Hölderlins Dichtung nämlich), zu hören. Um den ersten Mangel zu überwinden, sollte der zweite schon überwunden worden sein. Was kann aber die Menschen dazu bringen, die Notwendigkeit des Hörens auf Hölderlins Dichtung zu erkennen? Weder das Denken noch die Dichtung. Denn beide Mängel haben dieselbe Ursache, und zwar die Herrschaft der Technik in ihrem Gestellswesen. Die Rettung vor diesem Wesen kann Heidegger zufolge nur aus der Dichtung kommen, doch müssten wir schon gerettet worden sein, um auf die Dichtung zu hören. Das moderne Wesen der Technik, worüber Heidegger sehr treffende und einleuchtende Analysen vorgelegt hat, ist die strukturelle und notwendige Wurzel sowohl des Mangels als auch des Meta-Mangels. Der Fluchtweg hingegen, den Heidegger über Hölderlin vorschlägt, scheint letztlich – und trotz Heideggers vielen Versicherungen des Gegenteils – auf zufälligen Elementen zu beruhen, die von Heidegger als ›geschicksvoll‹ interpretiert werden. Dazu gehören die Wahl Hölderlins, die Wahl bestimmter Dichtungen, Verse oder sogar philologischer Varianten, die Zelebrierung des Erscheinens der Hellingrath-Ausgabe gerade in jener verhängnisvollen Zeit, der Tod Hellingraths im Krieg, der Wahnsinn Hölderlins usw. All diese historischen, literarischen oder biographischen Gegebenheiten werden von Heidegger als Teile oder Beweise eines Schicksals umgedeutet, das nicht begrifflich rekonstruiert oder gerechtfertigt werden kann und also notwendigerweise auf eine grundsätzliche Zweideutigkeit59 hinausläuft. _____________ 57 58 59

Dazu siehe Amoroso: Lichtung (Anm. 16), S. 139, Anm. 103. Vgl. Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), S. 209. Zu Heideggers unvermeidbarer Zweideutigkeit bezüglich der Zukunft der Beziehung zwischen Europa und der Philosophie vgl. De Giovanni, Biagio: La filosofia e l’Europa moderna. Bologna 2004, S. 270-274.

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Damit kommen wir zur Beurteilung aus einem ethisch-politischen Gesichtspunkt, der entscheidend ist, weil Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin eine grundsätzliche ethisch-politische Valenz aufweist. Hier werden die Zweideutigkeit und die Schwierigkeiten extrem und sogar bedrohlich, wie schon an der Biographie Heideggers abzulesen ist: Die erste Hölderlin-Vorlesung Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹, im Freiburger Wintersemester 1934/35 gehalten, lässt nationalistische Akzente erkennen, und manche grundlegende Äußerung zeigt, dass Heidegger die epochale und ›rettende‹ Rolle des Nationalsozialismus als Geschick Deutschlands und Europas mit Rekurs auf Hölderlin unterstützen will.60 In den Nachkriegsschriften und -vorträgen sowie teilweise im SpiegelGespräch von 1967 (das 1976 postum erschien) interpretiert Heidegger dagegen die vernichtende Natur und die Ergebnisse des Dritten Reichs als zwar extreme, aber durchaus kohärente Folge gerade jenes Waltens des Gestells, aus dem die Zwiesprache mit Hölderlin die Menschen hätte retten sollen, freilich ohne daraus positive und hoffnungsvolle Folgerungen für die westlichen Demokratien zu ziehen.61 Es geht hier nicht darum, Heidegger zu beschuldigen oder einfach biographisch zu verstehen. Es gilt vielmehr zu zeigen, dass seine Zweideutigkeit unvermeidbar ist, weil sie tief in der Bedeutung und Rolle der Kunstreligion für die Moderne wurzelt. Die Kunst kann in der modernen Welt keine allgemeine, objektive Verbindlichkeit der Inhalte für sich in Anspruch nehmen: Ethische Inhalte und politische Formen müssen in und durch die subjektive Freiheit anerkannt werden, während die Kunstreligion eine substantielle bzw. kompakte Sittlichkeit voraussetzt. Die Kunst kann zwar eine mittelbare und vermittelnde (d. i. kulturelle) Rolle in der Bildung der Individuen ausüben, nicht aber als Vorbild des Denkens der Sittlichkeit und der politischen Form dienen.62 _____________ 60 61

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Vgl. Wright: Die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Anm. 14), S. 216. »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben« (Heidegger, Martin: Das Ge-Stell; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes. Band 79: Bremer und Freiburger Vorträge. Vorträge 1949 und 1957. Herausgegeben von Petra Jaeger. Frankfurt/M. 1994, S. 24-45, hier S. 27); vgl. auch FT 18-24. − Für die hier vorgeschlagene biografische Rekonstruktion stütze ich mich teilweise auf Wright: Die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Anm. 14); einen etwas anderen Gesichtspunkt findet man in Pöggeler, Otto: Heideggers politisches Selbstverständnis; in: Heidegger und die praktische Philosophie. Herausgegeben von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Frankfurt/M. 1988, S. 17-63, insbesondere im dritten Abschnitt, S. 48-57. »Nicht nur Heideggers Hölderlin-Deutung, auch die Konzeption der Kunst schlechthin ist ›un-modern‹. Heidegger ›überwindet‹ in der Polemik gegen die Kunst als Kulturgut auch die Errungenschaft der Nachaufklärer, die Konzeption eines zu mündigem Vernunft-

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Geschieht das, dann wird durch ein jeweils unmittelbar gegebenes äußerliches Bild die vermittlungsbedürftige und subjektiv anzuerkennende Form der Gemeinschaft ersetzt. Das führt dazu, dass die aktive Rolle eines jeden Subjekts als Träger der politischen Mitbestimmung und der ethischen Verantwortung begrenzt oder sogar verdrängt wird. Es bleibt ein Geschick, dem gegenüber das Subjekt ›in die erwartende Zurückhaltung zurücktreten‹ muss.63 Die neuen Götter haben dann eine totale Macht und ein (nicht nur) potentiell totalitäres Gesicht. Die ontologischen Voraussetzungen Heideggers stimmen mit seiner Deutung der Rolle der Kunst völlig überein. Dem Subjekt wird das als das Heilige gedachte Sein entgegensetzt und übergeordnet.64 Das Sein kann damit nicht mehr, wie Hegel meinte, ›auch als Subjekt‹ gedacht werden und rückt wieder in die Nähe einer substantiellen bzw. schicksalhaften Konzeption, gerade wie es ›im großen Anfang‹ Griechenlands, d. i. in der ursprünglichen Epoche der Kunstreligion, der Fall war. Das Sein als solches wird von Heidegger, wie Adorno nicht zufällig mit Bezug auf Hegel unterstreicht, allem Denken, allen Begriffen und allem Tun vorgeordnet und somit hypostasiert und theologisiert.65 Es wird also zu etwas _____________

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gebrauch fähigen Subjekts. Nur so kann er die Kunst in der zureichenden und – zwar nicht notwendigen, aber – benötigten Weise zum Organon des wesentlichen Denkens zurüsten« (Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), S. 217). Auch nach Gerhardt ist dieses ›Warten‹ sowohl in politischer als auch in philosophischer Perspektive keineswegs zukunftsorientiert: Es »fehlt bei Heidegger alles, was man zur Sicherung der Zivilisation und zur politischen Gestaltung der Zukunft benötigt« (Gerhardt, Volker: Der Rest ist Warten. Von Heidegger führt kein Weg in die Zukunft; in: Gerhardt, Volker: Exemplarisches Denken. Aufsätze aus dem Merkur. München 2009, S. 71-87, hier S. 82f.). Die bloße Gleichstellung von ›Heiligem‹ und ›Sein‹ ist offenkundig eine Vereinfachung. Der Gedankengang Heideggers ist viel komplexer, und man sollte, um ihn genau zu rekonstruieren, vor allem auch das Verhältnis von jenen beiden Begriffen mit dem der ›Natur‹ (insbesondere bei Heideggers Heraklit-Interpretation) analysieren, sowie die Passagen, in denen Heidegger sich direkt mit dem ›Heiligen‹ bei Hölderlin auseinandersetzt. Es genügt hier das folgende Zitat: »Die Natur nennt Hölderlin das Heilige, weil sie ›älter denn die Zeiten und über die Götter‹ ist. Also ist ›Heiligkeit‹ keineswegs die einem fest-stehenden Gott entliehene Eigenschaft. Das Heilige ist nicht heilig, weil es göttlich, sondern das Göttliche ist göttlich, weil es in seiner Weise ›heilig‹ ist […]. Das Heilige ist das Wesen der Natur« (Heidegger, Martin: Wie wenn am Feiertage …; in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1981, S. 49-78, hier S. 59). − Hölderlins Begriff der Natur deutet Heidegger zufolge auf das Sein hin (vgl. ebd. S. 55-61 und Amoroso: Lichtung (Anm. 16), S. 42). Es ist also korrekt zu behaupten, dass sich uns das Sein jenseits des Seienden nur eröffnen kann, indem wir auf Hölderlins Wort, das das Heilige zu sagen anstrebt, zu hören lernen. Das bedeutet andererseits, dass das Subjekt in einer passiven Lage gegenüber dem substantiellen Ereignen des Seins zurücktreten muss. Adorno, Theodor W.: Aspekte; in: Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M. 1963, S. 11-65, hier S. 44-48. − Dass Heidegger zugleich Sein und Kunst

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Starrem und Leerem, das sich dem begrifflichen Vermittlungsverfahren entzieht. Vor diesem inhaltsleeren Sein kann und muss das Subjekt nur ›in die erwartende Zurückhaltung zurücktreten‹. Da der kommende Gott, der die Beziehung des europäischen Menschen zu Erde und Himmel erneuern muss, nur im dichterischen Wort und nicht durch eine rationale Vermittlung anerkannt werden kann, wird seine Annährung nicht von den Subjekten aktiv gewollt und erkannt, sondern sie geschieht in der Form des ›Ereignisses‹. Das Subjekt hat keine Macht mehr über sein eigenes Geschick, sondern muss umgekehrt im Machtbereich dieses zunächst leeren Geschicks dichterisch wohnen. Am Ende wird jene Leerheit von der vermeintlichen geschickreichen Objektivität einer kompakten, substantiellen und totalitären Sittlichkeit erfüllt, der gegenüber das Subjekt keine materielle Macht und keine politische und moralische Verantwortung mehr zeigen kann.66 Die Kunstreligion wird dann, unter dem Druck einer totalitären, weil unmittelbar-schicksalhaft und nicht mittelbarreflexiv gegebenen politischen Macht zur pervertierten Selbstmythologisierung des Volkes und seines Führers.67 Der Schluss, der sich aus Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin ziehen lässt, ist zumindest in Hinsicht auf die Kunstreligion eindeutig. Die moderne europäische Welt kann nur durch und innerhalb ihrer Spaltungen Fortschritte machen. Die Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem bzw. von Individuum und Staat, woran in vielerlei Hinsicht in den philosophischen Grundlagen Europas immer gearbeitet wurde,68 kann nie die Gestalt einer unmittelbar gegebenen und angeblich ursprünglichen Harmonie annehmen. Wir sollen nicht Europa von der Kunst aus, sondern die Kunst von Europa aus denken. Die von Heidegger angestrebte Stiftung unserer Zeit durch Hölderlins Dichtung zeigt eine strukturelle und unvermeidbare Ambivalenz, die uns vor Augen führen sollte, dass jeder Vorschlag der Einführung einer Kunstreligion und einer _____________ 66

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hypostasiert, wird von Gethmann-Siefert behauptet (Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), S. 196). »Geschichte wird hier nicht zur Geschichte ohne Subjekt, sondern zur Geschichte ohne verantwortliches Subjekt. […] Die quasi-passivistische Konzeption des geschichtsschöpferischen Individuums findet ihre (freilich nun philosophisch-konstruierte) notwendige Entsprechung im ›Tun‹ des Seins. […] Ein in der Tat vitiöser Zirkel von ›nur‹ deutendem Tun als Entsprechen (als passiver Aktivität) und nur entsprechend-gewährtem Bewähren läßt Geschichte als prästabilierte Harmonie eines ent-subjektivierten, substantiellen Prozesses erscheinen« (Gethmann-Siefert: Heidegger und Hölderlin (Anm. 53), S. 215f.). Von der Versuchung der (Selbst)Mythisierung war Heidegger bekanntlich nicht frei (vgl. das scharfe Urteil über ›den Hirt des Seins‹ in Pöggeler: Heideggers politisches Selbstverständnis (Anm. 61), S. 41). Vgl. De Giovanni: La filosofia e l’Europa moderna (Anm. 59).

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Mythologisierung69 des ethisch-politischen Lebens für Europa nicht nur zur Unwirklichkeit, sondern sogar zu katastrophalen Folgen führen kann. Die Überwindung der Übel und der Zerrissenheit kann nur innerhalb unserer aktuellen Realität anfangen: Die Wiederkehr eines vermeintlich ›großen Anfangs‹ ist nicht zu wünschen, weil die Zerrissenheit unserer Welt wesentlich ist: Wenn man sich dagegen eine kompakte, dichterisch gestiftete Sittlichkeit zurückwünscht, dann wird diese Zerrissenheit einfach verdrängt bzw. verschoben und kehrt in anderen Formen (wie z. B. der des rassistischen Hasses), die wir nicht mehr beherrschen können, zurück.

IV. Nachwort: Heideggers Hölderlin gegen Heidegger gerettet oder Die säkularisierte Zwiesprache Dieses strenge Urteil scheint Heidegger in die Nähe anderer, mehr oder weniger romantischer Projekte der Wiederherstellung neuer Kunstreligionen oder Mythologien zu rücken. Es gilt jedenfalls zu beweisen, dass philosophische Überforderungen der Kunst zu vormodernen oder reaktionären Ergebnissen führen können. Trotzdem hat Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin, wie schon bemerkt, einen spezifischen Gehalt, der eines Rettungsversuches wert ist, wie er hier freilich nur andeutungsweise auf der Basis der bisherigen Entfaltung des Themas ›Kunstreligion‹ skizziert werden kann. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, dass sich durch Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung in der Tat faszinierende Einblicke in den Zustand des modernen Menschen gewinnen lassen. Verschiedene Momente der Zwiesprache können uns tief betreffen: das Fehlen der Götter, die Erfahrung der Einsamkeit des fragenden Menschen, die radikale Dimension des ›Zwischen‹, wo der Mensch seine existentielle Spannungslage zwischen den beiden Polen der Entwurzelung und der Möglichkeit des Heimischwerdens im Unheimlichen erfährt, die frustrierende Feststellung der Entfernung des ›Sinnes‹ in den wiederholten hoffnungslosen Versuchen des ›Ich‹, sich diesen Sinn anzueignen und so weiter. Der in Heideggers Zwiesprache gewonnene Sinn der Dichtung Hölderlins erschüttert teilweise unsere Gewissheiten und Überzeugungen und lässt uns jene Lage der Verlassenheit und der Not ahnen, woraus _____________ 69

Zu Heideggers letztlich mythischer Auffassung von Politik, deutscher wie europäischer Geschichte und deren griechischen Ursprung vgl. auch Pöggeler: Heideggers politisches Selbstverständnis (Anm. 61), S. 35.

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unser Fragen für die individuelle und kollektive Existenz erst wesentlich wird.70 Damit erweist sich das in seiner ganzen Bedeutung und Relevanz, was hier eingangs als der Kern von Heideggers Hölderlin-Interpretation bezeichnet worden ist: die Tatsache nämlich, dass wir durch diese Interpretation gar nicht von der Not befreit werden, sondern sie erst erfahren und schätzen können. Die philosophische Relevanz dieses Gewinnes ist unbestreitbar. Wollen wir aber diesen Gewinn bewahren, dann müssen wir die Zwiesprache – auch gegen Heidegger − als das betrachten, was sie ist. Es handelt sich um die philosophische Interpretation eines Kunstwerks, d. h. um die philosophische Erschließung seiner Inhalte innerhalb seiner Zeit, die in gewisser Weise auch noch unsere ist. Das bedeutet jedoch, sie eben gegen Heidegger als ein Werk der Ästhetik zu verstehen. Seine HölderlinInterpretation ist natürlich kein Beitrag zur Definition der Aufgaben der Ästhetik als Disziplin. Sie ist auch nicht Ästhetik in dem Sinne, dass sie sich auf die formalen Aspekte von Hölderlins Dichtung konzentrieren würde oder mit dem Lustgefühl und Schönheitserlebnis zu tun hätte, das diese Dichtung erzeugt. Es ist hingegen sinnvoll, sie als ein Werk der Ästhetik im Hegelschen Sinne einer ›Philosophie der Kunst‹ zu behandeln. _____________ 70

Vgl. u. a. Wergin, Ulrich: Der Wirbel der Polis. Heidegger, Hölderlin und die griechische Kunstreligion; in: Aktualisierung von Antike und Epochenbewusstsein. Erstes Bruno SnellSymposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg. Herausgegeben von Gerhard Lohse. München – Leipzig 2003, S. 373-387. − Mit diesem in gewisser Hinsicht einleuchtenden Aufsatz setzt sich dieses ›Nachwort‹ teilweise auseinander. Der Verfasser stellt mit Evidenz dar, welches hohe kritische und existentielle Potential Heideggers Interpretation in der Dichtung Hölderlins erschließt. Er kritisiert aus seinem Gesichtspunkt konsequent den verbreiteten Standpunkt, demzufolge »Heideggers Hölderlin-Deutungen […] als Zeugnis für seinen Abschied von der Moderne« (ebd., S. 374) gelten. Die Perspektive meines Nachworts distanziert sich offensichtlich davon, ohne das Dasein oder die Relevanz dieses Potenzials abzustreiten. Hingegen wird die These vertreten, dass dieses Potenzial eben darin verloren geht, dass Heidegger es mit einer Überforderung der Kunst als solcher zusammenbringt. Die Stellungnahme Heideggers, der zufolge Hölderlins Dichtung eine schicksalhafte und unvermeidbare Rolle für die Rettung Europas zukommt und somit die höchste epochale Aufgabe der Philosophie darin besteht, ihr Gehör zu verschaffen, führt demzufolge zu einer regressiven, vor- bzw. gegenaufklärerischen Konzeption der geistigen, sittlichen und politischen Verhältnisse unserer Welt. Heideggers vermeintlich ursprüngliche Auffassung der Natur des Kunstwerks mündet am Ende in der Entziehung der primären Rolle der individuellen gebildeten und (selbst)bewussten Verantwortung zugunsten einer substantiellen, mythischen und geschicksvollen Konzeption der moralisch-politischen Realität. Hieraus resultieren alle Schwächen und Ambivalenzen der Zwiesprache. Setzen wir diese auf einer anderen Basis an, d. i. auf der prosaischen Erfassung der Kunst als zwar unverzichtbaren, doch menschlichen und vermittlungsbedürftigen Phänomens der Kultur, dann ist es möglich, die tiefe Bedeutung der Zwiesprache zu beanspruchen. Fällt dagegen – wie im ansonsten verdienstvollen Aufsatz Wergins – diese Prämisse aus, dann wird das Muster ›Heidegger und seine Verstrickungen in die Machenschaften des Nationalsozialismus‹ (ebd., S. 373) immer seinen Schatten auf die Zwiesprache werfen.

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Dementsprechend ist die Kunst nicht mehr ›absolut‹ und also auch nicht mehr autonom, und sie bedarf einer Reflexion, d. h. ihrer eigenen dialektischen Kontrastierung als Individuelles zum Allgemeinen des Denkens. Das setzt natürlich die Anerkennung des beschränkten und partiellen Charakters von Kunst voraus. Nur indem die Kunst als solche vermittlungsbedürftig ist, wird sie zum Gegenstand der philosophischen Reflexion. In der Tat erschließen Heideggers Überlegungen einen tieferen, philosophisch relevanten Sinn der Dichtung Hölderlins. Warum also sollten wir nicht, um diesen Sinn zu bewahren, Heideggers Zwiesprache mit Hölderlin entkräften oder besser ausgedrückt ›säkularisieren‹? Was verbietet uns, Hölderlins Dichtung als Kunst in der üblichen Bedeutung des Wortes und Heideggers Interpretation als Philosophie der Kunst bzw. Ästhetik im Hegelschen Sinne zu behandeln? Eigentlich sind es allein die Ansprüche Heideggers, die das ganze Unternehmen verurteilen, aber nur dank des zwielichtig fesselnden Zaubers seiner Redekunst als bedeutungsvoll erscheinen.71 Das verzauberte Gerüst, das freilich einen Großteil von Heideggers Verführungskraft ausmacht, fallen zu lassen, ist der einzige Weg, um die vernünftigen Teile des Gebäudes zu retten. Denn andernfalls gehen in eins mit dem Scheitern von Heideggers letzten anspruchsvollen Ziel – der Dichtung Hölderlins als einzigem Weg zur Rettung von Europas Schicksal Gehör zu verschaffen – auch die wichtigen Anstöße dieser Interpretation zugrunde. Entscheidet man sich für diesen Weg, gehen natürlich das eigentümliche Pathos dieser Zwiesprache und ihr messianischer Ton völlig verloren. Man müsste also, um die Zwiesprache zu retten, nicht nur Heideggers Ansprüche herabsetzen, sondern auch seine Sprache entmythologisieren. Die Dichtung Hölderlins ist nämlich nicht das Schicksal Europas, sondern einfach ein Kunstwerk, und die Philosophie gipfelt nicht »in der Erkenntnis der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu schaffen«. Die Dichtung Hölderlins vermittelt zwar bedeutungsvolle Inhalte, stiftet aber nicht unsere Zeit bzw. unsere sittliche Welt. Sie ist ein Kulturgut, das bewahrt und interpretiert zu werden verdient, aber nicht als das einzige bzw. das höchste, sondern als eines unter vielen, die ganz verschiedene oder sogar widersprechende Inhalte vermitteln. Noch weniger ist es das Organon des Denkens oder ein epochales politisches Geschick. Wenn sie nicht in die der Kunst inkompatiblen Gestalt des verbindlichen Universellen gezwungen und von absoluten Aufgaben ebenso befreit wird, dann vermag sie keine gefährliche Zweideutigkeit, sondern einfach eine harmlose, aber umso bedeutungsvollere Mehrdeutigkeit zu erzeugen. Die _____________ 71

Diese fesselnde und zugleich oft leere bzw. zumindest zweideutige Redekunst kann selbstverständlich als ein Zug jenes ›diktatorischen‹ Wesens angesehen werden, das Karl Jaspers' bekanntem Urteil von 1945 zufolge Heideggers Denkungsart eigen ist.

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philosophische Ausbeutung der Kunst in der Richtung ›Kunstreligion‹ ist das wirkliche Ende der Kunst. Die Idee der Kunstreligion kann die Künstler inspirieren und sogar als hermeneutisches Werkzeug benutzt werden, aber nicht (mehr) als die schicksalhafte Gestalt unserer Welt gelten.

MARIELLE SILHOUETTE

Max Reinhardts Theaterreligion Eigentlich war der junge, am 9. September 1873 in Baden bei Wien geborene Maximilian Goldmann für eine Kaufmannskarriere bestimmt, hätte nicht der doppelte Bankrott des Vaters nach dem Börsenkrach im Geburtsjahr des künftigen Schauspielers und Regisseurs den Glauben an eine Beteiligung am wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit tief erschüttert und die in dieser frommen jüdischen Familie eher problematische Wahl des Schauspielerberufs mittelbar unterstützt. Die starke Attraktivität des Burgtheaters und sein Integrationsvermögen, sowohl im sozialen als auch im wirtschaftlichen Bereich, gaben schließlich den letzten Anstoß. Der hoch angesehene Schauspieler Adolf von Sonnenthal, Goldmanns Vorbild in diesen ersten Jahren, hatte sich beispielsweise auf Anregung Bogumil Dawisons aus einer armen jüdischen Pester Familie in der Theaterlandschaft des Habsburger Reichs hochgearbeitet und 1856 eine Anstellung auf Lebenszeit am Burgtheater erhalten; damit gehörte er zur Elite der dortigen Schauspieler, die, wie sich Reinhardt 1943 erinnerte, nicht nur »den Ton« angaben, sondern auch durch ihre »Art sich zu kleiden […] die Tracht der eleganten Aristokratie« beeinflussten und »sozial hochgestellt« waren.1 Bedeutete die Wahl der Theaterkarriere für Reinhardt eine Abwendung von der jüdischen Religion und den Verstoß gegen das Bildverbot der Ahnen, so versprach sie zugleich einen rapiden Aufstieg und fungierte als Entreebillett in die besseren Kreise der Wiener Gesellschaft. Aus dem durch den wirtschaftlichen Ruin des Vaters zur Passivität gezwungenen Zuschauer2 wurde ein Akteur seiner Zeit. Gleich _____________ 1 2

Reinhardt, Max: Erinnerung (1943); in: Max Reinhardt. Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin 1989, S.22f., hier S. 23. »Mein Vater, meine Großväter waren Kaufleute. Meine Mutter und meine Großmutter hatten viele Kinder. Die Sorge um sie füllte ihr Leben aus. Es waren stille Leute, die wenig sprachen und wenig vom Theater wußten. Sie waren auch im Leben keine Akteure. Wenn sie ihr Tagewerk verrichtet hatten, saßen sie schweigend im Zuschauerraum des Großen Welttheaters. Sie lebten in Wien, wo ich geboren bin und meine Jugend verbrachte« (Reinhardt, Max: Letztes Erinnern (1943); in: Hadamowsky, Franz (Hrsg.): Max Reinhardt.

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bei den ersten Auftritten als Eleve des Fürstl. Sulkowsky-Privattheaters (1890-1892) erschien der junge Max Goldmann unter dem Decknamen Reinhardt, den ein Erlass vom 8. Oktober 1904 des ungarischen kgl. Ministers des Inneren für die ganze Familie bewilligte. Von 1894 an, als Reinhardt dem Ruf von Otto Brahm ans Deutsche Theater nach Berlin folgte, wo er bis 1903 dem Ensemble angehörte, ließ ihn die Theaterlaufbahn den wirtschaftlichen Aufstieg erhoffen: Die 1871 im Deutschen Reich in Kraft tretende neue Gewerbeordnung förderte nämlich die Gründung von Privattheatern3 und ermöglichte die bis dahin undenkbare Kombination von hohem Kunstanspruch und finanziellem Profit. Vom Kabarett Schall und Rauch (1901-1902) zum Kleinen, dann Neuen und schließlich Deutschen Theater (1902-1905) erarbeitete sich Reinhardt in wenigen Jahren eine angesehene Position als Direktor und Regisseur an Privattheatern, die den sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Aufschwung mit sich brachte. Zusammen mit seinem Bruder Edmund, den er schon 1901 nach Berlin holte, errichtete er in den folgenden Jahrzehnten einen Theaterkonzern, der mit über zehn Theatern in Berlin und Wien, der Leitung der Salzburger Festspiele ab 1920, zahlreichen Gastspielen in Deutschland, Europa und Amerika, Aufführungen im Zirkus, in Ausstellungshallen usw. an die Führungs-, Organisations- und Werbemethoden der modernen Industriewelt erinnerte,4 zugleich aber als Revanche für die zwei Bankrotte des Vaters Wilhelm und des Onkels Leopold Goldmann angesehen werden kann. Zeigte sich Reinhardt zeit seines Lebens darum bemüht, das Theater den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart anzupassen, so weigerte er sich doch, seinen künstlerischen Anspruch dem Zeitgeschmack zu opfern. Nach erster Begeisterung für den Naturalismus am Deutschen Theater, die zum großen Teil auf die Zusammenarbeit mit namhaften Schauspielern wie Josef Kainz und Agnes Sorma in einem der besten Ensembles Deutschlands zurückzuführen war, wurde er schnell der exakten Darstellung der Wirklichkeit und der sozialen Durchlässigkeit dieser Kunst überdrüssig: Aber ich begann langsam darunter zu leiden, daß ich jeden Abend spielen mußte. Es war nicht das Spielen selbst – sondern das ewige Bärte-Kleben, das Masken machen – das immerwährende Hantieren mit Mastix (da ich fast immer alte Leute

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Ausgewählte Briefe, Reden, Schriften und Szenen aus Regiebüchern. Vorbemerkung von Helene Thimig-Reinhardt. Vorwort von Josef Stummvoll. Wien 1963, S. 119-121, hier S. 120f; Hervorhebung M. S.). Adolph L'Arronge spricht von einer Verdreifachung der Privattheater (von 200 auf 600) zwischen 1871 und 1896 im Deutschen Reich (vgl. L'Arronge, Adolph: Deutsches Theater und Deutsche Schauspielkunst. Berlin 1896, S. 24). Vgl. Marx, Peter W.: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen 2006.

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spielte, durfte ich nie ›natürlich‹ aussehen, sondern mußte täglich mein Gesicht, meine Haare, meine Zähne verschminken). Auch wurde in diesen naturalistischen Aufführungen fast immer auf der Bühne gegessen, meist Knödel und Kraut, was zwar gut war, aber einem mit der Zeit auch über werden kann – jedenfalls fing mich die ganze Atmosphäre zum Schluß zu quälen an, und ich wurde direkt unglücklich.5

Im Grunde bedeutete die naturalistische Milieuschilderung genau das Gegenteil von dem, was Reinhardt seit frühen Burgtheaterbesuchen vorschwebte: Statt das Theater wie ein Heiligtum zu betreten,6 wurde der Zuschauer mit einer elenden Wirklichkeit konfrontiert; die mimetische Darstellung der sozialen Verhältnisse schränkte die Phantasie systematisch ein und vereitelte die Mitwirkung an der Aufführung.7 Die naturalistische Kunst der Verstellung verwandelte den Schauspieler in einen armen Diener der Wirklichkeit, indem sie ihm die Aura nahm, die Reinhardt an den »vergötterten Menschen«8 des Burgtheaters so sehr bewundert hatte. Der Dialog zwischen Bühne und Publikum blieb der Materie verhaftet; anstatt Zuschauer und Schauspieler über sich selbst zu erheben, vertiefte sie die Kunst noch mehr im Konkreten. Der Naturalismus bedeutete auf die Dauer den Tod des Theaters, denn »die Menschen [haben es] satt«, so Reinhardt, »im Theater immer wieder das eigene Elend wiederzufinden«, und sehnen sich »nach helleren Farben und einem erhöhten Leben«.9 Bereits 1902, nach zahlreichen Experimenten im Umfeld antinaturalistischer Bewegungen, der Sezessionsbühne von Martin Zickel und Paul Martin ab 1899, der Künstlergesellschaft der Brille, die ab 1898 gegen die _____________ 5 6 7

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Reinhardt, Max: Autobiographische Aufzeichnungen; zitiert nach Adler, Gusti: ...aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt. Mit 62 Abbildungen. München 1983, S. 46. »Das Publikum des zukünftigen großen Volkstheaters betritt das Theater wie ein Heiligtum« (Reinhardt, Max: Bei Max Reinhardt [1911]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 447-449, hier S. 448). »Die damals [im Burgtheater] erworbene Fähigkeit, produktiv mitzuarbeiten, hat mir später entscheidend geholfen. Seitdem weiß ich, daß der Dichter dem Regisseur, der Regisseur dem Publikum für seine Mitarbeit einen freien Platz lassen sollte« (Reinhardt, Max: Die Anfänge (1929); in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 23-25, hier S. 24). »Ehe die vergötterten Menschen da unten zu sprechen anfingen, entstand fast immer eine kleine mystische Pause« (Reinhardt: Die Anfänge (Anm. 7), S. 24). Max Reinhardt äußert dies 1902 im Gespräch mit seinem Dramaturgen Arthur Kahane (Kahane, Arthur: Tagebuch des Dramaturgen. Berlin 1928, S. 115). – Dieser Text findet sich unter dem Titel Über ein Theater, wie es mir vorschwebt [1901] auch in Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 73-76, hier S. 73. − Im Unterschied zu Fetting, der als Entstehungsjahr 1901 angibt, ist eher von 1902 auszugehen, da Reinhardt damals ernsthaft die Möglichkeit erwägen konnte, aus dem Deutschen Theater auszuscheiden und seine Theaterästhetik frei zu entfalten; Arthur Kahane bestätigt dieses Datum: »Das alles sagte mir der junge Max Reinhardt bei unserer ersten Unterredung im Spätsommer des Jahres 1902« (Kahane: Tagebuch des Dramaturgen, S. 121).

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künstlerische Kurzsichtigkeit und den naturalistischen »Armeleutgeruch«10 im Café Metropol literarische Abende veranstaltete, und nach der Gründung des Kabaretts Schall und Rauch 1901 schwärmte Reinhardt in einem Gespräch mit seinem künftigen Dramaturgen Arthur Kahane von einem Theater, »das den Menschen wieder Freude gibt. Das sie aus der grauen Alltagsmisère über sich selbst hinausführt, in eine heitere und reine Luft der Schönheit«.11 Die Regenerierung des Theaters sollte, so Reinhardt, dank der Klassiker erfolgen, die »ein neues Leben über die Bühne« mit »Farbe und Musik und Größe und Pracht und Heiterkeit«12 bringen werden. Denn im Gegensatz zum Naturalismus, den Reinhardt als eine Kunst der ›Enge‹,13 »Sparsamkeit« und des »Sichverkneifenmüssens«14 bezeichnete, bedeutete seine neue Theaterkonzeption eine systematische Erweiterung des Spielraums, der Perspektive, des Publikums und dessen Aufnahmefähigkeit. Neben den zwei Bühnen, die ihm vorschwebten, einer ersten (dem künftigen Deutschen Theater) zur Aufführung der Klassiker und einer zweiten (den Kammerspielen) den modernen Dramatikern gewidmet, dachte er schon 1902 an eine dritte, eine ganz große Bühne für eine große Kunst monumentaler Wirkungen, ein Festspielhaus, vom Alltag losgelöst, ein Haus des Lichts und der Weihe, im Geiste der Griechen, aber nicht bloß für die griechischen Werke, sondern für die große Kunst aller Zeiten bestimmt, […] ohne Vorhang, ohne Kulissen, vielleicht sogar ohne Dekorationen, und in der Mitte […], ganz aufs Wort gestellt, den Schauspieler, mitten im Publikum, und das Publikum selbst, Volk geworden, mit hineingezogen, selbst ein Teil der Handlung, des Stückes.15

In diesem Theaterbekenntnis aus dem Jahre 1902 ist der Einfluss von Peter Behrens – Mitbegründer der Vereinigten Werkstätten für Kunst und Handwerk und führende Persönlichkeit der 1901 gegründeten Künstlerkolonie Darmstadt – kaum zu übersehen. Behrens hatte bereits 1900 seine Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kunstsymbols im Leipziger Verlag Diederichs veröffentlicht16 und von einem Festspielhaus am »Saum eines Haines, auf dem Rücken eines Berges«17 geträumt, in dem Zuschauer und Schauspieler »geweiht und vorbereitet für die grosse Kunst der Weltanschauung« selber »das Spiel _____________ 10 11 12 13 14 15 16 17

Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 115. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 115. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 119. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 119. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 119. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 120. Behrens, Peter: Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kunstsymbols. Leipzig 1900. Behrens: Feste des Lebens und der Kunst (Anm. 16), S. 11.

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des Lebens« spielen sollten.18 Für die Inneneinrichtung von Reinhardts Kabarett Schall und Rauch, das mit der Eröffnung am 9. Oktober 1901 Unter den Linden einen festen Sitz fand, hatte Behrens Reinhardts Wunsch der großen Einfachheit in der Ausgestaltung und der Form der griechischen Tempel erfüllt. Über ihn soll er um 1900 auch von Georg Fuchs' Frühschriften, insbesondere von seinem Essay Vom Stil der Schaubühne (1900),19 Kenntnis genommen haben, worin die bildende Kunst zum Paradigma der Theaterkunst erhoben wurde. Fuchs berief sich auf die alten Mysterienspiele, die er als Tragödien mit »prunkvolle[r] Entfaltung der Aufzüge und Gruppen, der Geberden, Masken und Gewänder« betrachtete und in denen die bildende Kunst »Trägerin der tragischen Wirkungen«20 war. Diese Mysterien waren nach Fuchs »so unlitterarisch, wie wir es nur wünschen können«,21 und in dem Sinne für Reinhardt wie für viele seiner Zeitgenossen eine Inspirationsquelle für die Retheatralisierung der Bühne, die durch die Vorherrschaft des Wortes und der Literatur sonst »leicht zu weit in die Abstraktion«22 führen könnte, wie Reinhardt in einem 1924 verfassten Text Auf der Suche nach dem lebendigen Theater erklärte. In den ersten Versuchen nach der Zeit im Kleinen Theater, vornehmlich in den Klassiker-Aufführungen am Deutschen Theater, ging es Reinhardt um die Schaffung einer Stimmung, die sowohl Schauspieler als auch Zuschauer dank der Suggestion über den Boden der Verhältnisse zu erheben und in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit zu versetzen vermochte, sodass zwischen Bühne und Zuschauerraum ein gemeinsamer Erlebnisraum entstehen konnte. 1924 erklärte Reinhardt: Alle, die im Theater sind, – ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum – bemühen sich, bewußt oder unbewußt, sich selbst zu überwinden, sich zu vergessen, über sich hinauszuwachsen. Sie suchen die Ekstase, den Rausch, den ihnen sonst nur die Droge geben kann.23

Sechs Jahre später sprach er von der Theateraufführung als einem Mysterium: Am Abend, im Augenblick der Empfängnis, erheben sich Schauspieler und Zuschauer unversehens vom Boden der Wirklichkeit und umfangen sich geistig, seelisch, auch körperlich. [...] In diesem Augenblick, in dem der Schaffende

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Behrens: Feste des Lebens und der Kunst (Anm. 16), S. 13. Fuchs, Georg: Vom Stil der Schaubühne; in: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für Deutsche Kultur, 1. Jg., H. 12 (22. 12. 1900), S. 395-398. Fuchs: Vom Stil der Schaubühne (Anm. 19), S. 396. Fuchs: Vom Stil der Schaubühne (Anm. 19), S. 396. Reinhardt, Max: Auf der Suche nach dem lebendigen Theater [1924]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 227-231, hier S. 228. Reinhardt, Max: Über die Kunst des Theaters [1924]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 455-457, hier S. 455.

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zugleich empfängt und der Empfangende mitschafft, wird das kostbare und unvergleichliche Geheimnis des Theaters geboren.24

In seinen Erinnerungen an frühe Burgtheaterbesuche nannte Reinhardt diesen Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum ein Responsorium in Analogie zum Wechselgesang zwischen Chor, Solist und Gemeinde in der katholischen Liturgie.25 Reinhardts Theaterreligion bedeutete also das wiederholte Bekenntnis zu dieser Kunst und ging mit einer starken Aufwertung der Bühne als höherer Lebensform einher. Wie der Regisseur 1924 erklärte, sollte sich der heutige Staat die Antike zum Vorbild nehmen, als Athen und Rom das Theater unterstützten, da die »Aufführungen […] Festspiele für die ganze Nation, zugleich Vergnügen und zugleich Gottesdienst«26 waren. In den ersten Jahren war Reinhardt hauptsächlich darum bemüht, Luft, Licht und Schönheit in den engen Raum des Guckkastentheaters einfließen zu lassen, d. h. Bühne und Publikum einander möglichst nahe zu bringen. Der Umbau der verschiedenen Theater in seinem Besitz (Überwindung der Rampe, Kohäsion von Bühne und Zuschauerraum, Verstärkung der Bühnenbeleuchtung und -technik, Rekurs auf Malerei und Musik) zielten aber nicht nur auf die Wiederbelebung einer seiner Ansicht nach verkrusteten Kunst. Reinhardts Bemühungen gingen auch dahin, das Theatergebäude selbst als Teil des lebendigen sozialen Gefüges den neuen Verhältnissen der stets wachsenden Metropole Berlin anzupassen. Die Forderung nach einer historischen Adäquatheit des Theaters in der Stadtlandschaft seiner Zeit rechtfertigte er in späteren Jahren durch den Vergleich mit der Kirche als lebendigem Ausdruck der verschiedenen Stile in der menschlichen Geschichte: Das erhabenste Wunder der Umbaukunst dagegen sind jene Gotteshäuser, die (wie z. B. St. Peter in Salzburg) aus den unterirdischen Katakomben der ersten Christen entstanden sind, die Stile aller Epochen rein aufgenommen haben, wie alles Lebendige immer im Umbau waren und doch organisch einheitliche Bauwerke geworden sind. Es ist wahrhaft dramatisch, wie aus der Demut der Urform plötzlich die Gotik steil zum Himmel drängt, nach strengem Widerstreben mit dem übermütigen Barock Hochzeit macht und das zarte elegante Rokoko zeugt.

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Reinhardt, Max: Rede zum 25jährigen Jubiläum der Gründung der Schauspielschule des Deutschen Theaters Berlin [1930]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 432f., hier S. 433. »Ehe die vergötterten Menschen da unten zu sprechen anfingen, entstand fast immer eine kleine mystische Pause. In dieser unsäglich spannenden Stille schwebte eine überirdische oder unterirdische Stimme flüsternd durch den Raum. Diese Stimme trug gleichsam wesenlos den Anfang der nun folgenden Rede deutlich zu uns herauf, und wir lauschten erregt, bis das wohlvertraute, geliebte Organ das körperlose Wort mit dunkler Pracht materialisierte und mit hinreißendem Leben erfüllte. Es war wie eine heilige Handlung, ein Responsorium« (Reinhardt: Die Anfänge (Anm. 7), S. 24f.). Reinhardt: Über die Kunst des Theaters (Anm. 23), S. 456.

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Damit ist der Hochmut des einmalig reinen Stils überwunden. Es ist kein Denkmal mehr des Glaubens aus einer bestimmten Epoche. Es ist ein monumentales Zeugnis von der Ewigkeit des Glaubens. Man sieht in den tiefen Brunnen der Zeit bis auf den Grund.27

Hofmannsthal hatte Reinhardt »den besten Wohner in seiner Bekanntschaft genannt«;28 er selbst bezeichnete sich lieber als »Umbauer«, da er, wie er selbst erklärte, »eigentlich nie von Grund auf ein Haus vollkommen neu gebaut, auch keines [s]einer vielen Theater, trotzdem [er] auch dafür viele Pläne gezeichnet«29 habe. Der mehr oder weniger radikale Umbau der verschiedenen Theater30 folgte der Entwicklung der Gesellschaft selbst, d. h. Expansion und systematische Raumerweiterung entsprachen dem Vermassungsprozess. In dieser Hinsicht gilt es für die Zeit zwischen 1905 (Reinhardts Amtsantritt als Direktor des Deutschen Theaters) und 1920, als er zeitweilig auf die Stelle verzichtete und sich auf Salzburg und Wien konzentrierte, zwei Perioden zu unterscheiden: In der ersten (19051908) war er um eine Retheatralisierung der Bühne mit Hilfe der bildenden Kunst, der Musik und der Drehbühne bemüht, die zusammen mit der Beleuchtung und anderen technischen Neuerungen (z. B. der patentierten gekrümmten Rückwand)31 das Theater aus seiner Starre herausholten. Um 1910 verzichtete er zunehmend auf alle dekorativen Elemente und betonte in Pantomimen und Massenspektakeln den Schauspieler sowie den Dialog mit dem Publikum. In einem Interview vom 1. Mai 1916 erklärte Reinhardt, er habe in seinen ersten Jahren einen Fehler begangen: Er sei nämlich in die Richtung der Meininger weitergegangen und habe nach einer Vollendung des Dekors gestrebt, da er die Illusion für das Publikum nahezu vollkommen machen wollte. Damit erzielte er aber genau den umgekehrten Effekt, weil die Leute nur kamen, »um auf meiner Bühne die echten Bäume zu _____________ 27 28 29 30

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Max Reinhardt an Helene Thimig, New York: 27. August 1943 (Max-Reinhardt-Archive, SUNY-Binghamton, R6177 Pr Mb1-b37). Max Reinhardt an Helene Thimig, New York: 27. August 1943 (Anm. 27). Max Reinhardt an Helene Thimig, New York: 27. August 1943 (Anm. 27). »Zuweilen ist es ein radikaler, gründlicher Umbau gewesen, wie das Große Schauspielhaus aus dem alten Circus oder die Kammerspiele aus dem berüchtigten Ballhaus. Das kostbare Gebäude der Josefstadt, das uns in jener öden Vorstellung (Schule der Kokotten) sofort faszinierte, wurde sorgsam erhalten und doch ist ein ganz neues, ganz traumhaftes Theater daraus entstanden, das nie und nirgends so gewesen ist und nie wieder so sein wird« (Max Reinhardt an Helene Thimig, New York: 27. August 1943 (Anm. 27)). ›Theaterbühne mit stetig gekrümmter Rückwand‹, Patentschrift Nr. 206 340 des Kaiserlichen Patentamtes Berlin, 26. Oktober 1906: »Das Wesen der Erfindung besteht darin, daß der Bühnenraum nach hinten nicht durch ebene Wände, sondern durch eine gegen den Zuschauerraum und nach oben offene, stetig gekrümmte Rückwand, die die Kulissen und alle Versatzstücke überragt, abgeschlossen wird« (zitiert nach Huesmann, Heinrich: Welttheater Reinhardt. Bauten, Spielstätten, Inszenierungen. München 1983, S. 17).

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betrachten; das war eine Neuerung, die sie mehr beeindruckte als die Kunst, die wir zu bieten hatten«.32 Mit den »echten Bäumen« war natürlich der Wald in seiner legendären Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum gemeint, die seit ihrer Premiere im Neuen Theater am 31. Januar 1905 bis 1906 305 mal, von 1906 bis 1913 wiederum über 500 mal auf dieser Bühne sowie im Deutschen Theater zu bewundern war. Reinhardts Inszenierung bezeugte dabei ein besonderes Gespür für alle technischen Errungenschaften der Zeit, die er systematisch zur Verstärkung der Illusion einsetzte. Er verzichtete z. B. auf den Schnürboden und die langen Szenen- und Dekorationswechsel, ließ den Vorhang vor einer schon geschlossenen Welt aufgehen, die sich dank der Drehbühne (von Karl Lautenschläger bereits 1896 in München erprobt) in ihren verschiedenen Facetten beobachten ließ. Der Schauspieler Eduard von Winterstein schreibt in seinen Memoiren dazu: Es war ein wirklicher, richtiger Wald, in den man beim Aufgehen des Vorhangs blickte. Ja, um die Täuschung vollkommen zu machen, wurde auf der Bühne mit großen Spritzen Tannenduft erzeugt, der sich bald im ganzen Zuschauerraum verbreitete. [...] An Zwirnsfäden hängende und hüpfende kleine Lichtbirnen täuschten Glühwürmchen vor, und das Mondscheinwerfer-Licht warf berückende Lichtreflexe durch das Laub der Bäume auf die Bühne. Im Hintergrunde war ein Teil des Bühnenbodens, vielleicht 4 qm umfassend, durch dicke Glasscheiben ersetzt, die von unten her erleuchtet waren; das Licht traf in den ebenfalls künstlich erzeugten Wassernebeln die auf dem Spiegel dieses kleinen Sees tanzenden Elfen.33

Reinhardts Theaterrevolution bestand über die technischen Neuerungen hinaus aber vor allem darin, die Bühne mit den Farben, dem Licht und der Freude, kurz mit der Schönheit, wieder zu versöhnen, die sie im Naturalismus so stark entbehren musste. Für das Berliner Publikum, das an den kargen Aufführungsstil des Deutschen Theaters unter Otto Brahm oder an die verstaubten Klassiker-Aufführungen des Königlichen Schauspielhauses gewöhnt war, mag diese Sommernachtstraum-Vorstellung wie der »Ammenwechsel« gewirkt haben, womit der Zuschauer Adolf Winds den Übergang vom Wiener Burgtheater zum Berliner Königlichen Schauspielhaus am Ende des 19. Jahrhunderts verglich: Der erste Besuch galt natürlich dem Königl. Schauspielhaus, um den Vergleich mit der Burg zu ziehen. Es war wie ein Ammenwechsel; wer wie ich die rahmige Milch der Burgtheaterkunst in sich gesogen, dem wollte zunächst die fettlosere nicht munden. [...] Dort in Wien im Burgtheater eine Festesfreude, eine Behaglichkeit wie im Beisammensein einer großen Familie, hier eine Sammlung, eine

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Reinhardt, Max: Reinhardt über seine Kunst. Ein Interview [1916]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 368-372, hier S. 370. Winterstein, Eduard von: Mein Leben und meine Zeit. Ein halbes Jahrhundert deutscher Theatergeschichte. In zwei Bänden. Bd. 2: Max Reinhardt. Berlin 1947, S. 172f.

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Feierlichkeit, die an Gottesdienst gemahnte, kein Geschwätz auch in den Pausen. — Das Haus am Gendarmenmarkt hatte vor seiner Umwandlung des Innenraumes etwas vom schlichten Ernst einer protestantischen Kirche, auch fehlte die Zwischenaktsmusik.34

Nun brachte Reinhardt den Reichtum der österreichischen Theaterkultur und der katholischen Liturgie in die protestantische Metropole und stellte ihre üppigen und großzügigen Darstellungsmittel in den Dienst des Theaters und der Kunst. 1916, zur Zeit des erwähnten Interviews, knüpfte er an den seit 1902 gehegten Plan eines Theaters für die Masse an, das er auf der großen Bühne mit dem Schauspieler in der Mitte des ›selbst Volk gewordenen Publikums‹35 entfalten wollte. Bereits 1910 hatte diese Bewegung angefangen, als Reinhardt im September 1910 Sophokles’ König Ödipus in der Münchner Musikfesthalle vor 3500 Zuschauern, zwei Monate später im Berliner Zirkus Schumann vor 5000 Zuschauern auf die Bühne brachte. Ein Jahr später wurde Aischylos’ Orestie unter ähnlichen Bedingungen und mit der Musik von Einar Nilson als Arena- und Massentheater in München, Wien und Berlin aufgeführt. Einen Höhepunkt erreichte der Expansionsprozess am 23. Dezember 1911 in der Londoner Olympia Hall (Kensington), als vor 5000 Zuschauern Das Mirakel, eine Pantomime von Karl Vollmoeller, von 1800 Schauspielern aufgeführt wurde. Zwar spielten soziologische und ästhetische Kriterien eine wesentliche Rolle in dieser Erweiterung, wie zum Beispiel die Konkurrenz der Kleinkünste (Kabarett, Zirkus und später Varietés), die mehr als das Theater zum beliebten Vergnügungsort für die schnell wachsende Stadtbevölkerung wurden, der Paradigmenwechsel vom Wort- zum Bildertheater und die Notwendigkeit für Reinhardt, seinen Schauspielern immer neue Spielmöglichkeiten zu bieten. Gleichzeitig aber hatte die Bewegung einen einfachen ökonomischen Grund, den Reinhardt 1912 in einem Brief an seinen Freund Berthold Held lapidar formulierte: »Beim Theater wird das Geschäft nicht durch kleine Ausgaben, sondern durch große Einnahmen gemacht«.36 Wie er 1940, drei Jahre vor seinem Tod in New York, erklärte, war Reinhardt nach der bitteren Erfahrung des Elitetheaters und des Premierenpublikums an seinen Kammerspielen der Meinung, dass »bekanntlich die Qualität des Publikums mit seiner Quantität« wächst.37 _____________ 34 35 36 37

Winds, Adolf: Quer über die Bühnen. Berlin 1919, S. 38f. Vgl. Kahane: Tagebuch des Dramaturgen (Anm. 9), S. 120. Max Reinhardt an Berthold Held, 21. 8. 1912; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 177188, hier S. 180. Max Reinhardt an Graf Ledebour, Juli 1940; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 316327, hier S. 323.

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Der ›Zirkus Reinhardt‹, wie Franz Ferdinand Baumgarten 1920 in einem gleichnamigen Werk Reinhardts Expansion geißelte,38 war zugleich auch der erste Versuch, den schon 1903 mit Hermann Bahr gefassten Plan eines deutsch-österreichischen Theaterkonzerns zwischen Berlin, Wien, München und Hamburg mit Gastspielen und gemeinsamem Repertoire zu realisieren.39 Reinhardts Zusammenarbeit mit Georg Fuchs, der in München an der Musikfesthalle und am Residenztheater ähnliche Experimente in Richtung Massentheater durchführte, war ein weiterer Beweis für diesen Expansionswillen. Die Pantomimen Sumurûn und Das Mirakel, die ab 1910 nach Berlin auf Tournee durch Deutschland und Europa gingen, waren zunächst für die Schauspieler gedacht, die ganz auf die Bewegung und das Spiel gestellt wieder in den Mittelpunkt der Aufführung rückten: »vom Ballast der Dekorationen«40 befreit. Im Arenatheater wurde die Rampe überwunden und die Distanz zwischen den Zuschauern und den Schauspielern endgültig aufgehoben. Wie bei den Klassikern (König Ödipus, Orestie, später Hamlet usw.) machte die Pantomime es möglich, den Rahmen des alten, engen Theaters zu sprengen und die theatralische Gemeinschaft zu bilden. Mit dem Mirakel wurde erstmalig in Reinhardts Schaffen ein Mysterienspiel inszeniert: die Verführung einer jungen Nonne, deren heimliche Liebe zu einem Ritter, die Geburt und der Tod ihres Kindes sowie ihre Erlösung im Schlussbild. Wie Gerhard Przytulski in seiner Arbeit über Religiöse Elemente im Theater Max Reinhardts ausführt, »wählte [Reinhardt] für die Uraufführung die Weihnachtszeit«41 und als Ort London und nicht etwa Wien oder Salzburg, allgemein Österreich, »wo geistliche Spiele ihre Wurzel hatten«42. Nicht nur die Kontakte, die er dort zum bedeutenden englischen Impresario Charles Cochran hatte, waren dabei entscheidend. Theaterleute wie William Poel und Gordon Craig _____________ 38 39

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Baumgarten, Franz Ferdinand: Zirkus Reinhardt. Potsdam 1920. »Idee: Berlin – Wien – München – Hamburg –, wobei auch schon für jenes an Franz Blei für dieses an Felix Holländer gedacht wird. Nicht bloß Gastspiele, sondern auch gemeinsames Repertoire machen, allerdings ein Centraldirektor, nicht über den vier Direktoren, sondern neben ihnen, um zwischen ihnen zu vermitteln, ein ›Reisedirektor‹, dem es obliegen würde, eine Gemeinsamkeit des Geistes und des Tones auszubilden« (Bahr, Hermann: Notiz, 1. 6. 1903; in: Meister und Meisterbriefe um Hermann Bahr. Aus seinen Entwürfen, Tagebüchern und seinem Briefwechsel mit Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt, Josef Kainz, Eleonore Duse und Anna von Mildenburg. Ausgewählt und eingeleitet von Joseph Gregor. Mit einer Einleitung: Die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in den Jahren 1932-1946 von Karl Ecker. Wien 1947, S. 190). Reinhardt, Max: Aus einem Gespräch mit Max Reinhardt. Von Johannes Kordes [1912]; in Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 449-453, hier S. 450. Przytulski, Gerhard: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters«. Religiöse Elemente im Theater Max Reinhardts. Trier 2004, S. 72. Przytulski: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters« (Anm. 41), S. 72.

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hatten auch dort, so Przytulski, den »Boden für geistliche Spiele […] aufbereitet«.43 Die 1901 erfolgte Erstaufführung des neu entdeckten Moralitätenspiels Everyman im ungedeckten Hof des Londoner Charterhauses, der Reinhardt eventuell beiwohnte, hatte etwa Poel »Ruhm und geschäftlichen Erfolg«44 beschert. Als Österreicher war die katholische Liturgie Max Reinhardt aber alles andere als fremd; wie seinen künftigen Bühnenbildner Ernst Stern hatten ihn die Prozessionen und Feste der katholischen Kirche tief geprägt.45 In der Ausstellungshalle des ehemaligen Automobilsalons in Kensington ließ Reinhardt das Innere eines hohen gotischen Münsters nachbauen, das mit der Ankunft und dem Abgang der Wallfahrerprozession (1067 Schauspieler und Statisten) in seiner prachtvollen, von Licht-, Ton- und Farbeffekten unterstützten Monumentalität erschien. Für die Szene der ›Heilung des Lahmen‹ notierte Reinhardt in seinem Regiebuch: Die Responsorien der Menge werden lauter und inbrünstiger, das ekstatische Summen der Betenden in der ganzen Kirche wächst und schwillt zu einem einzigen, unbestimmten Laut. Ab und zu bricht ein hysterisches Schluchzen oder ein einzelner Schrei durch das unbestimmte Rauschen von menschlichen Stimmen [...] Eine große graue bewegte, dichte Masse, alle ziemlich nahe dem Boden. Stöhnen, Seufzen, Beten, Gesang schwächer, Beten lauter, Schluchzen, Stöhnen, Wimmern.46

Dennoch erklärte der Regisseur 1914, er sei »sehr fern von dem Aberglauben, daß die wirklich starke Suggestion nur von Massen ausgeübt werden könne. [...]. Hier [im Mirakel] wird, wie die Wahrnehmung an jedem Abend lehrt, einer der tiefsten Eindrücke durch die Szene erwirkt, wo die lebendig gewordene Madonna allein von ihrem Throne sich bewegt«.47 Kurz vor dem Krieg nahm Reinhardt Abstand von Massenphänomenen, auch wenn er der Sicherheit halber mit vielen anderen Intellektuellen Berlins und des Deutschen Reiches den Aufruf zum Krieg _____________ 43 44 45

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Przytulski: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters« (Anm. 41), S. 73. Przytulski: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters« (Anm. 41), S. 73. »Am Fronleichnamstag zog die Prozession von der Hofburg zum St.-Stephans-Dom. Dann waren die alten Straßen mit roten Teppichen belegt, und zu beiden Seiten bildeten kniende Soldaten Spalier. Hinter dem Baldachin mit dem Allerheiligsten ging der alte Kaiser Franz Joseph im weißen Rock, den federgeschmückten Hut in der Hand. Ein glänzendes Gefolge geistlicher Würdenträger und Militärs höchstens [sic!] Ranges schloß den Zug traditioneller Prachtentfaltung« (Stern, Ernst: Bühnenbildner bei Max Reinhardt. Mit 80 Zeichnungen des Verfassers. Berlin 1955, S. 11). Reinhardt, Max: Regiebuch zum Mirakel (Londoner Aufführung, 1911) im Archiv der Salzburger Festspiele/Max-Reinhardt-Archiv; zitiert nach Hoffmann, Peter: Die Entwicklung der theatralischen Massenregie in Deutschland von den Meiningern bis zum Ende der Weimarer Republik. Diss. Wien 1966, S. 132. Reinhardt, Max: Über sein ›Mirakel‹ und seine Zukunftspläne. Ein Interview [1914]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 364-368, hier S. 366.

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gegen die Erzfeinde Frankreich und England unterzeichnete.48 In dieser Zeit aber erwog er ernstlich, sich ganz nach Österreich abzusetzen, und war für seinen Plan eines Festspiels in Hellbrunn oder Salzburg stark auf die Unterstützung der katholischen Kirche angewiesen. 1917 verfasste er eine Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn49 und versuchte gleichzeitig die Salzburger Behörden für seinen Festspielgedanken zu gewinnen. Er war sich aber bewusst, dass das dortige Publikum im Vergleich zum Berliner weit schwieriger und wählerischer sein würde, da die Österreicher, »was kirchlichen Pomp anbelangt, so fabelhaft verwöhnt sind«;50 als jüdischer Regisseur musste er erst recht mit Vorsicht vorgehen. Berthold Held empfahl er daher, mit »der Presse gute Beziehungen [zu] suchen«, damit die Premiere »gesteckt voll« sei, gleichzeitig aber mit »meinem Namen sparsam [zu] sein«.51 Zwischen 1917 und 1924 häuften sich in Reinhardts Schriften, Erklärungen und öffentlichen Stellungnahmen die Hinweise auf die katholische Kirche als ›Wiege‹ des modernen Theaters. So war in seiner Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn 1917 folgender Satz zu lesen: »Später hat die Kirche des Mittelalters mit ihren Mysterien und Passionsspielen die Wiege des heutigen Theaters gebaut«.52 1924 erklärte er in einem von Hugo Fetting als Über das lebendige Theater betitelten Text, die »Kirche, insbesondere die katholische Kirche, ist die wahre Wiege unseres modernen Theaters«.53 Am 22. August 1920 inszenierte Reinhardt zur Eröffnung der Salzburger Festspiele Jedermann, Hofmannsthals Bearbeitung der alten Moralität, auf dem Domplatz in Salzburg. Unter dem Titel Das alte Spiel von Jedermann hatte Reinhardt das mittelalterliche Spiel seit _____________ 48

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Manifest der 93, Berlin, 4. Oktober 1914: »Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten. Der eherne Mund der Ereignisse hat die Ausstreuung erdichteter deutscher Niederlagen widerlegt. Um so eifriger arbeitet man jetzt mit Entstellungen und Verdächtigungen. Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein« (Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. III. Entwurf; in: UngernSternberg, Jürgen von / Ungern-Sternberg, Wolfgang von: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropagangda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation. Stuttgart 1996, S. 156-160, hier S. 156). – Neben Reinhardt unterzeichneten u. a. Max Planck, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Gerhart Hauptmann, Ludwig Fulda und Peter Behrens diesen ›Aufruf an die Kulturwelt‹. Vgl. Reinhardt, Max: Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn [1917]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 215-220. Max Reinhardt an Berthold Held, 21. 8. 1912 (Anm. 36), S. 178. Max Reinhardt an Berthold Held, 21. 8. 1912 (Anm. 36), S. 188. Reinhardt: Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn (Anm. 49), S. 216. Reinhardt, Max: Über das lebendige Theater [1924]; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 457-459, hier S. 459.

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1910 in Berlin mit wenig Erfolg aufgeführt: Weder am Zirkus Schumann noch am Deutschen Theater, an den Kammerspielen, am MetropolTheater oder an der Volksbühne konnte er das in der Mehrheit wohl protestantische Publikum trotz der hervorragenden Leistung der Schauspieler und der Musik von Einar Nilson überzeugen. In Salzburg verzichtete Reinhardt nun weitgehend auf die großen Massenszenen, konzentrierte die Handlung auf die Schauspieler und ließ Einar Nilsons Musik, wie Gerhard Przytulski berichtet, um »eine Einleitung, einen Trauermarsch und ein sinfonisches Schlussstück von Bernhard Paumgartner« ergänzen, »bei denen, kontrastierend zur Musik Nilsons, Salzburger Weisen und Motive mittelalterlicher Kirchenmusik verwendet wurden«.54 1924 beschrieb Reinhardt die Eröffnungsveranstaltung mit folgenden Worten: Das erste aktive Wagnis [...] war die Aufführung von Jedermann mit Zustimmung des Erzbischofs auf dem Domplatz mit den besten Schauspielern Deutschlands und Österreichs. Eine Bretterbühne vor den Türen des Doms. Herolde, die das Spiel ankündigen. Auftritt der Schauspieler von den benachbarten Plätzen aus. Die Glocken aller Kirchen läuten. Geheimnisvolle Rufe von den Kirchtürmen, herab von der Festung und aus größerer Entfernung, die den Jedermann zum Tode rufen. Der Teufel, der aus den Zuschauerreihen auf das Podium springt. Der Glaube und der Engel, die am Ende aus dem Dom heraustreten. Die breiten Plätze der Stadt angefüllt mit einer dichten Zuschauermenge. An den Fenstern des benachbarten Klosters Mönche und Priester, in der ersten Reihe der Erzbischof und das Domkapitel. Der Verkehr ruht völlig, die gesamte Stadt lauscht und schaut atemlos zu. Ein wunderbares Lichterspiel: zunächst Tageslicht, dann Sonnenuntergang, schließlich Fackeln.55

Reinhardt nutzte die Stadtkulisse und ließ die Aufführung um 17 Uhr beginnen, da die Fassade des Doms zu diesem Zeitpunkt von der untergehenden Sonne beleuchtet wurde. 1957 erinnerte sich der Bühnenbildner Caspar Neher an die seiner Ansicht nach einzigartige Leistung Reinhardts: Licht und Schatten sind am günstigsten verteilt, so daß bei sinkender Sonne und zum Ende des Spieles die Front des Domes langsam sich nach unten verdunkelt und nur die Fassade der oberen Teile zu sehen ist, die unsere Gedanken und Blicke aufwärtsführen zum Himmel, der sich über uns wölbt. 56

Mit dem Salzburger Großen Welttheater, das 1922 in der Kollegienkirche in Salzburg uraufgeführt wurde, knüpften Reinhardt und Hofmannsthal wieder an die Theatertradition durch die Bearbeitung von Calderóns geist_____________ 54 55 56

Przytulski: »Die wahre Wiege unseres modernen Theaters« (Anm. 41), S. 92. Reinhardt, Max: Auf der Suche nach dem lebendigen Theater (Anm. 22), S. 229. Neher, Caspar: Salzburger Schauplätze; in: Wissenschaft und Praxis. Eine Festschrift zum 70. Geburtstag von Bernhard Paumgartner. Die Herausgabe besorgte Dr. Eberhard Preussner. Zürich – Freiburg i. Br. 1957, S. 38-40, hier S. 39.

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lichem Schauspiel Das große Welttheater (1675) an. Nach der MirakelInszenierung in einer Ausstellungshalle und der Jedermann-Aufführung auf dem Domplatz stellte Das Salzburger Große Welttheater in der Kollegienkirche eine radikalisierte Form der katholischen Spiele dar. Es bedeutete aber zugleich den Sieg der Theatermetapher als erster Darstellungsform der Welt und der Schöpfung. Reinhardt fand auch hier die Möglichkeit, mit den acht allegorischen Figuren (›Welt, Meister (Gott), König, Schönheit, Weisheit, der Reiche, der Bauer und der Bettler‹) die Schauspieler in den Mittelpunkt zu stellen. Es spricht für seine Überzeugungskraft, dass er das vorbehaltlose Einverständnis des Erzbischofs für die Aufführung erhielt. Der Klerus und der Kirchenvorstand waren vor allem darauf bedacht, dass aus dem heiligen Ort kein profaner Spielsaal gemacht werde. Wie Cynthia Walk, die sich gründlich mit dieser Aufführung befasst hat, ausführt, entfaltet sich das Stück mit einer Figurenkonstellation, die alle Elemente in einer von Gott gewollten sozialen Ordnung enthält. Indem der Bettler diese Ordnung als ungerecht denunziert, beansprucht er das Recht, sich dagegen aufzulehnen. Seine Axt fällt jedoch nicht, da er auf wundersame Weise zum Gläubigen wird. Durch die Tatsache, daß der Prototyp des modernen Revolutionärs die Vorstellung eines von Gott gelenkten Kosmos akzeptiert, liefert die Entscheidung des Bettlers den Beweis dafür, daß religiöse beziehungsweise metaphysische Werte auch für das moderne Publikum von Bedeutung sind. Das Stück steht und fällt mit der Überzeugungskraft der Bettlerfigur.57

Entgegen dieser Deutung setzte Reinhardt dann doch den Tod als Hauptfigur durch, der am Ende in einem höchst theatralischen Tanz die Bühne umorganisiert, und zeugte durch diese Akzentverschiebung von seiner geschickten Instrumentalisierung der Religion als Metapher. In den folgenden Jahren blieb er weiter auf der Suche nach neuen Theaterräumen, erwarb 1924 das Wiener Theater in der Josefstadt und die Komödie in Berlin, leitete 1928 das Berliner Theater und 1931/32das Theater am Kurfürstendamm, konsolidierte das Bestehende (Deutsches Theater, Kammerspiele, Großes Schauspielhaus), entdeckte Talente und förderte sie (Bertolt Brecht z. B. als Dramaturg am Deutschen Theater 1924), unterrichtete an verschiedenen Schauspielseminaren bzw. -schulen in Berlin und Wien und expandierte weiter nach Amerika durch lange Gastspiele (1924, 1926‒1929). Immer mehr Zeit und Mühe Reinhardts nahm aber der Kampf um die Aufrechterhaltung seines Theaterkonzerns in Anspruch: Nach der Inflation der Nachkriegszeit traf die so genannte ›Lustbarkeitssteuer‹ seine Privattheater mit 15% der Brutto-Einnahmen (1925 auf 10% ermäßigt) besonders hart. 1926 wurde zwar – durch einen _____________ 57

Walk, Cynthia: Hofmannsthals Großes Welttheater. Drama und Theater. Heidelberg 1980, S. 75.

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Erlass des Oberpräsidiums der Provinz Brandenburg – dem Deutschen Theater die Gemeinnützigkeit zuerkannt,58 aber die anderen Theater blieben weiterhin belastet. Das schon erwähnte wirtschaftliche Leitprinzip der Brüder Reinhardt59 führte zur ständigen Expansion des Imperiums in einem gefährlichen Wettlauf mit der Zeit. Über die wirtschaftlich äußerst labile Situation hinaus hatte nun Reinhardt vor allem mit der Konkurrenz anderer Theater und Regisseure zu kämpfen: gegen Leopold Jessners erfolgreiche Inszenierungen und Klassiker-Aufführungen am Staatlichen Schauspielhaus, gegen Erwin Piscators politisches Theater, gegen das andere Massentheater der Neuen Sachlichkeit in Revuen und Varietés. Alle Wege, die Reinhardt dem Theater vor dem Krieg geebnet hatte, wurden nun auch von anderen beschritten. Er hatte zudem stärker unter dem Antisemitismus zu leiden, der jetzt, wie Shulamit Volkov dokumentiert, über den kulturellen Code der wilhelminischen Zeit hinaus zum politischen Alltag gehörte.60 Als 1929 innerhalb weniger Monate sein Bruder Edmund sowie sein Lieblingsautor und enger Mitarbeiter Hugo von Hofmannsthal verstarben, stand Reinhardt allein an der Spitze eines hoch verschuldeten, durch den Börsenkrach stark erschütterten Theaterimperiums. 1932 übergab er die Leitung des Deutschen Theaters an Karl Heinz Martin und Rudolf Beer, dann an Carl Ludwig Achaz und Wilhelm Neft, und erschien am 7. März 1933 zum letzten Mal als Regisseur auf einem Plakat des Deutschen Theaters zur Aufführung des Salzburger Großen Welttheaters. Am folgenden Tag verließ er Deutschland und zog sich nach Salzburg auf sein Schloss Leopoldskron zurück. In einem am 16. Juni 1933 aus Oxford abgeschickten Brief an die »Nationalsozialistische Regierung Deutschlands«61 bekannte er sich zum ersten Mal »uneingeschränkt« zu der »jüdischen Rasse«, deren »Angehörige« das »neue Deutschland« in keiner »einflußreichen Stellung« wünschte.62 Vor einer langen Auflistung der verschiedenen Verdienste des Deutschen Theaters und seines Schaffens für das deutsche Volk erklärte er, ihm bleibe, »als bisherigem Eigentümer des Deutschen Theaters, der Kammerspiele und als Anteilhaber des Großen Schauspielhauses, nur die eine Möglichkeit, die Übernahme [s]eines Lebenswerkes Deutschland anzutragen«.63 Statt _____________ 58 59 60 61 62 63

Vgl. Huesmann: Welttheater Reinhardt (Anm. 31), S. 62. Vgl. Anm. 36. Vgl. Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code; in: Volkov, Shulamit: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990, S. 13-36. Reinhardt, Max: An die Nationalsozialistische Regierung Deutschlands, Oxford, England den 16. Juni 1933; in: Fetting: Max Reinhardt (Anm. 1), S. 274-277, hier S. 275. Reinhardt, Max: An die Nationalsozialistische Regierung Deutschlands (Anm. 61), S. 275. Reinhardt, Max: An die Nationalsozialistische Regierung Deutschlands (Anm. 61), S. 275.

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von einer Unkenntnis der nationalsozialistischen Realität oder von einer tiefen Naivität zeigt dieser Brief in seinen verschiedenen Fassungen, wie Marcel Atze in seiner Analyse meisterhaft ausführt, »ein besonders feines Gespür für die Hahnenkämpfe, die sich innerhalb der nationalsozialistischen Reihen um die Theater-Claims, die jeder für sich weiterstecken wollte, abspielten«.64 Reinhardt appellierte nämlich an verschiedene Zuständigkeitsstellen (an das Preußische Innenministerium Görings, an das Erziehungsministerium unter der Leitung von Bernhard Rust, an das preußische Kultusministerium und den Staatskommissär Hans Hinkel, und schließlich an das am 13. März 1933 entstandene Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda mit Goebbels an seiner Spitze), und er spielte sie geschickt gegeneinander aus. 1934 willigte er in den Plan des reichen amerikanischen Produzenten und Zionisten Meyer W. Weisgal ein, zusammen mit Kurt Weill und Franz Werfel als Antwort auf Hitler und den Nationalsozialismus ein Stück über das jüdische Volk zu schreiben und in New York aufzuführen. In wenigen Monaten entstand 1934 in Österreich das Schauspiel Der Weg der Verheißung, das am 7. Januar 1937 im Manhattan Opera House unter dem Titel The Eternal Road mit einem Bühnenbild von Norman Bel Geddes uraufgeführt wurde. In seinen Memoiren beschrieb der spätere Leiter des Weizmann-Institutes die Arbeitsmonate der drei Künstler 1934 in Österreich: It was a strange document drawn up in a strange and ominous setting: three of the best-known un-Jewish Jewish artists, gathered in the former residence of the Archbishop of Salzburg, in actual physical view of Berchtesgarden, Hitler’s mountain chalet across the border in Bavaria, pledged themselves to give high dramatic expression to the significance of the people they had forgotten about till Hitler came to power.65

Reinhardts Versuch, in Amerika nach der Aufführung des Sommernachtstraums im Hollywood Bowl vor 20.000 Zuschauern mit allen Mitteln Fuß zu fassen, hatte die Offenbarung seiner jüdischen Wurzeln zur Folge, die er zuvor immer zu vertuschen bestrebt war. 1907 hatte er zwar eine Übersetzung von Schalom Aschs jiddischem Theaterstück Got fun Nekome (Gott der Rache) für das Deutsche Theater bestellt, doch zeichnete Ephraim Frisch für die Inszenierung am Deutschen Theater am 19. März 1907 ver_____________ 64

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Atze, Marcel: ›Sehr geehrter Herr Minister!‹ oder Nachrichten von Reinhardt-Editoren und ihren Sünden. Zugleich ein Stück Theatergeschichte des Dritten Reichs; in: Max Reinhardt. Manuskripte, Briefe, Dokumente. Katalog der Sammlung Dr. Jürgen Stein. Bearbeitet und herausgegeben von Hugo Wetscherek. Mit Auszügen aus unveröffentlichten Schriften, einer Anmerkung zur bisherigen Editionspraxis und einer M. Reinhardt Personalbibliographie von Marcel Atze. Wien 1998, S. 180-194, hier S. 188. Weisgal, Meyer W.: ...So Far: An Autobiography. New York – London – Jerusalem 1971, S. 121.

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antwortlich. 1929 zeugte ein Brief der Habimah an Reinhardt von seiner finanziellen Unterstützung des auf Hebräisch spielenden Ensembles, das ihn kurz vor einer auf sechs Monate berechneten Tournee um Rat bat,66 doch weigerte er sich noch, mit solchen Bekenntnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Erst nach 1940, als er seine Memoiren zu verfassen begann, bekannte er sich gleich in den ersten Zeilen zu seinem Judentum: I.b.e.J. [Ich bin ein Jude]. Damit ist vieles gesagt, ich schicke das voraus, ist das Stolzeste gesagt, was ich über mich sagen kann. Oder sollte ich nicht stolz sein, einem Volk anzugehören, dem M. [Moses] angehörte, der der Welt die Gebote gab, die noch heute die Welt regieren, dem König David angehörte, der der Welt die Psalmen gab, die dramatischen Gedichte, die noch heute gebetet und gesungen werden, dem der Heiland angehörte, der die Welt der Liebe verkündigte. Freilich liegen tausende von Jahren dazwischen und die Verwandtschaft ist sehr entfernt weitläufig. Und man kann heute der leibliche Sohn Goethes oder der geliebte Neffe Beethovens sein, und keinen Hauch von ihrer Größe verspüren und ebensowenig einen Teil haben an den Eigenschaften jener der Schlechten, die um das goldene Kalb tanzten, die das Königreich Davids verkommen ließen und den Heiland kreuzigten. Jeder Mensch wird neu erschaffen und gleicht keinem anderen Wesen vollkommen eben − ebensowenig wie es zwei Blätter in der Welt gibt. Und doch fließen in jedem Wesen die Eigenschaften zusammen, die seine Eltern und Voreltern hatten. Und deshalb will ich meine Erinnerungen mit diesen beginnen.67

Sieben Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, da Reinhardt seit 1937 im amerikanischen Exil lebte und am 29. November 1940 die amerikanische Staatsangehörigkeit erwarb, wurde er mit aller Gewalt an seine Herkunft erinnert: Seit 1937 suchte er seine drei jüngeren Geschwister, die Brüder, Leo und Siegfried, und seine Schwester Jenny und ihren Mann, Hermann Rosenberg, aus der europäischen Todesfalle zu retten. Leo und seine Familie waren auf die Hilfe der Caritas in der _____________ 66

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»Sehr verehrter Herr Professor, Das freundliche Interesse, das Sie seinerzeit der Habimah entgegengebracht haben, veranlasst uns, Ihnen heute folgende Bitte vorzutragen: Die Habimah befindet sich zurzeit zum Studium eines neuen Repertoires in Palästina. Sie hat unter der Leitung des Regisseurs Diky eine Komödie Der Schatz und eine biblische Tragödie nach Calderón's Die Locken Absaloms einstudiert. Im Herbst dieses Jahres wird sie eine auf 6 Monate berechnete neue Tournee antreten. In dieser für die Entwicklung der Habimah entscheidenden Zeit wäre es für uns von ausserordentlichem Wert Ihren Rat einholen zu dürfen und wir bitten Sie daher, den unterzeichneten Leiter des Sekretariats zu einer kurzen Unterredung, deren Zeitpunkt Sie freundlichst bestimmen wollen, zu empfangen« (Brief vom Kreis der Freunde der Habimah an Max Reinhardt (M. Bachers), Berlin Charlottenburg 2, Hardenbergstr. 19, Berlin, 3. Mai 1929 (Typoskript, 1 Bl.); in: Teilnachlass Max Reinhardt der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 2, 2.1.4.37). Reinhardt, Max: Notiz [nach 1940] (Ms., 1.Bl.); in: Teilnachlass Max Reinhardt, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 1, 1.3.26.

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Schweiz angewiesen68, während die Familie Siegfried Reinhardt dank der Unterstützung eines Flüchtlingskomitees in Holland überlebte.69 Die letzte Nachricht von seiner Schwester erhielt er am 15. Januar 1941 mit einem Telegramm aus Lwow in der Ukraine, in dem sie ihm den Tod ihres Mannes Hermann Rosenberg mitteilte und dringend um ein Visum nach Amerika bat.70 Da er selbst hoch verschuldet war und in Amerika ein ärmliches Leben fristete, konnte er ihr nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen, verlor ihre Spur und blieb bis zu seinem Tod am 31. Oktober 1943 in New York ohne Nachricht von ihr (sie wurde höchstwahrscheinlich in den folgenden Wochen ermordet). Wie so viele andere Exilanten kämpfte Reinhardt tagtäglich um neue Aufträge, nachdem er sich 1935 jede weitere Zusammenarbeit mit Hollywood durch die misslungene Filmbearbeitung vom Sommernachtstraum bei Warner Brothers verbaut hatte. Seiner zweiten Frau, der Schauspielerin, Helene Thimig, überließ er 1942 die Leitung seines Workshops in Hollywood, während er sich in New York als Theaterregisseur durchzusetzen suchte. Nach der Inszenierung von Thornton Wilders Merchant of Yonkers am Guild Theatre (1938) war aber sein einziges und letztes Engagement dort Rosalinda (Die Fledermaus), die am 28. Oktober 1942 im Forty-Fourth Street Theatre Premiere hatte. Drei _____________ 68

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Caritasverband Zürich: Brief an Max Reinhardt, 15. Juni 1938 (Typoskript, 1 Bl.) in Teilnachlass Max Reinhardt, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 2, 2.1.4.7.1: »Sehr geehrter Herr Professor! Sie entschuldigen bitte, wenn wir uns erlauben, in der Angelegenheit der Familie Ihres Bruders Leo Reinhardt, z. Zt. wohnhaft Katholisches Gesellenhaus, Wolfbachstr. 15. Zürich 7, mit einem Bittschreiben an Sie zu gelangen. [...] Wir gelangen auch unsererseits an Sie, sehr geehrter Herr Professor, mit der herzlichen Bitte, uns zu helfen, dass wir Ihrem Bruder und seiner Frau die Einreise nach England ebenfalls [nach ihren zwei Kindern Vita und Edmund] ermöglichen können. Dies wird aber nur möglich sein, wenn ein grösserer Betrag ausgewiesen wird, wonach die Familie England in der nächsten Zeit nicht zur Last fällt. Wir haben für die Familie schon mehrere hundert Franken ausgelegt, ein bei uns bekannter Pfarrherr hat ihnen früher schon mit Fr. 500.– ausgeholfen mit einem Darlehen, das er unbedingt wieder zurück haben sollte. [...] Unsere Stelle ist zur Zeit ausserordentlich stark beansprucht und wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ev. uns an die bereits geleisteten Beiträge etwas rückerstatten könnten. Sie entschuldigen bitte unser Gesuch, aber wir sind leider genötigt, auch weitere Kreise um Hilfe anzugehen« (Wetscherek: Max Reinhardt. Manuskripte. Briefe. Dokumente (Anm. 64), S. 50, Katalognummer 358). Vluchtelingencomite, Radiogramm, 16. August 1939 (1 Bl.); in: Teilnachlass Max Reinhardt, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 3, 2.1.4.63: »Familie Siegfried Reinhardt in grösster Not stop sendet sofort zweihundert dollars um zusammenbruch zu vermeiden stop zur sanierung weitere tausend dollar nötig draht antwort vluchtelingencomite« (Wetscherek: Max Reinhardt. Manuskripte. Briefe. Dokumente (Anm. 64), S. 56, Katalognummer 460). Jenny Rosenberg: Telegramm an Max Reinhardt, Lwow, 15. Januar 1941 (1 Bl.); in: Teilnachlass Max Reinhardt, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 3, 2.1.4.51.6.1: »Hermann is dead have mercy with me make everything possible i shall come to my children« (Wetscherek: Max Reinhardt. Manuskripte. Briefe. Dokumente (Anm. 64), S. 55, Katalognummer 444).

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Monate vor seinem Tod beschrieb er seine verzweifelte Lage in einem Brief an Francesco Mendelssohn, der ihn um finanzielle Unterstützung ersucht hatte: Lieber Francesco, Ich? Ich könnte nur lachen. Aber mein Zwerchfell macht nicht mehr mit. Schon drüben habe ich alles, was mein geliebter Bruder aufsparte, in schöne Sachen verpulvert. Das war unpraktisch aber herrlich. Es tut mir nicht leid. Die schönen Sachen sind beim Teufel. Er hat sie gestohlen in den Jahren des Heils. Er berief sich dabei nur auf seine Großmutter (die schon ungeduldig auf ihn und auf seine Mitbringsel da unten wartet). Wenn ich mir meine Großmutter hätte aussuchen können, ich hätte gewiß nicht die unselige Schickelgruberin, sondern die gute gescheite Jüdin ausgesucht, die Gott mir beschieden hat und die mir Gott sei Dank beschieden war. Und so ist mir recht geschehen. Und die deutschen Professoren, seit jeher vom Teufel besessen, haben hurtig das Recht gefingert. Ich bin wie meine Vorfahren trockenen Fußes durchs Meer in die Wüste gewandert und habe sieben magere Jahre in Hollywood verbracht. Dort erkannten Warners und andere Ungläubige mich als zu schwerfällig für den Tanz um das goldene Kalb. Jetzt bin ich seit fünfviertel Jahren hier und suche Geld für schöne Sachen. Aber die Leute suchen es lieber in die Lustige Witwe. Dabei kann einem schon das Lachen vergehen. Du hast Dir in meiner hier niedergelegten Genesis den unglücklichsten Augenblick ausgesucht. Die Rosalinde verträgt die Hitze schlecht und wirft nicht genug ab. Die Steuern legen den greifbaren Knopf in Beschlag. Was übrig bleibt, genügt nicht, um meinen doppelten Haushalt in Santa Monica und hier [in New York, M.S.] zu bestreiten. /Der Rest ist Kreide. 71

Der geniale Regisseur, der große Theaterexperimentator und -pionier, der von einer Integration und einer neuen Gemeinschaft durch das Theater geträumt hatte, zerbrach an der nationalsozialistischen Politik, die ihm das Mitspracherecht, ja alle Daseinsberechtigung absprach.

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Max Reinhardt an Francesco [Mendelssohn], Briefentwurf, o. O., o. D. [August 1943] (Ms., 2 Bl.); in: Teilnachlass Max Reinhardt, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 989, Archivbox 4, 2.2.2.13 (Wetscherek: Max Reinhardt. Manuskripte. Briefe. Dokumente (Anm. 64), S. 95, Katalognummer 1002). – Vgl. Adler: Erinnerungen an Max Reinhardt (Anm. 5), S. 383-384.

ANNE CHALARD-FILLAUDEAU

Das Konzept ›Kunstreligion‹ im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels Ein wichtiges Moment der Ent-Rationalisierung von ›Kunst‹ im Rahmen der Autonomie-Ästhetik, die das Schöne dem Numinosen angleicht, verdichtet sich im philosophischen und kunstgeschichtlichen Deutschland des 19. Jahrhunderts im Namen Rembrandt, wobei dessen Figur auf eine Doppelsakralisierung verweist: die des Werkes als Sinnbild des Absoluten und die des Künstlers als Schöpfer einer neuen Welt. In diesem Zusammenhang wird sich unser Beitrag mit dem Genie Rembrandt als einem Meilenstein in der Geschichte desjenigen Denkens befassen, das Kunst mit Religion vereint. Dabei verfolgen wir die Absicht, den ideengeschichtlichen Kontext vor und nach 1850 zusammen mit der lebens- und sinnspendenden Dimension des rembrandtschen Werkes herauszustellen. Wir werden zu diesem Zweck poetische Ausflüge machen: von philosophischen Reflexionen zu literarischen und kunstgeschichtlichen Texten, die sich auf Rembrandt beziehen, bis hin zum demagogischen, reaktionären Diskurs eines Julius Langbehn, der im ausgehenden 19. Jahrhundert Rembrandt zum Luther der neuen Zeiten, ja zum Reformator deutscher Kunst und deutschen Geistes erkor. Dies wird uns schließlich auf die jenseitige Seite des Rheins führen, insofern die Überschneidung von Kunst und Höchstem − von rembrandtschem Schaffen und göttlicher Schöpfung − nicht einzig ein deutsches Merkmal ist, sondern auch das intellektuelle Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts kennzeichnet, wo sich die Sakralisierung der Kunst ebenfalls paradigmatisch in einer Sakralisierung der Kunst Rembrandts niedergeschlagen hat. So wird der folgende Beitrag die Beziehung zwischen Ästhetischem und Numinosem auch anhand der ›Rembrandt-Lektüren‹ bei Léon Wencelius und Paul Claudel ergründen.

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Anne Chalard-Fillaudeau

I. Zum Kontext der Sakralisierung Rembrandts in Deutschland Die so genannte Sakralisierung Rembrandts ist sowohl das Ergebnis als auch das Zeugnis eines besonderen ideengeschichtlichen Kontextes, dem eine Suche nach dem Absoluten zugrunde liegt. Die kunstreligiöse Erhebung des niederländischen Künstlers1 soll also zunächst vor diesem Hintergrund interpretiert werden, bevor wir uns ihren schillernden Ausdrucksformen zuwenden können. Als erstes steht fest: Die Suche nach einem Absoluten ist innig mit dem deutschen Idealismus verbunden, dessen Bestreben es war, die Fragmentierung der Welt zu überwinden. Angesichts einer Menschheit, die dem Zerfall (der menschlichen Bande, der Körper und der Natur) unabänderlich ausgeliefert ist, eines Menschen, der in Geist und Materie gespalten ist, sowie des dichotomischen Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und objektiver Gewalt der Welt galt es, zur primären Einheit zurückzukehren, die auf Leben, Vernunft und – letztlich – Gott zu hoffen erlaubt. Es galt also, sich auf die Kunst zu verlassen. In der Ideenkonstellation der Zeit vermag es überhaupt nur die Kunst, die eine wahrnehmbare Harmonie schafft, der Seele einen Hafen zu bieten. Hinzu kommt, dass Kunst die Versöhnung des Geistes mit der Materie voraussetzt und inszeniert, was als ein eminentes Zeichen des Absoluten verstanden wurde. Gerade diese Präsenz des Absoluten bzw. des Unendlichen im Endlichen bezeichnet nun das ästhetische ›Schöne‹ bei Denkern wie Kant, Schelling und Hegel (Schiller und Goethe wären ebenfalls zu nennen). Was namentlich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling betrifft, so hat er die Dyaden Geist/Materie und Freiheit/Sensibilität um einen dem Menschen immanenten Widerspruch zwischen bewusster und bewusstloser Aktivität ergänzt, den einzig das Genie in sich aufnehmen kann, ohne überfordert zu sein: Das Genie kann ihn aufheben, ohne überwältigt zu werden, und ist damit befähigt, diesen Widerspruch harmonisch darzustellen als Ausdruck eines ästhetischen, gar metaphysischen Absoluten, nämlich des Göttlichen. Indem aber Schelling das Genie mit der Aufhebung der Widersprüche in Verbindung bringt, macht er es möglich, dass Rem-

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Dass Rembrandt sehr häufig als ›deutscher‹ Künstler bezeichnet wird, beruht auf geographischen, historischen, politischen, kultur- und kunstgeschichtlichen Gründen; vgl. hierzu ausführlich Chalard-Fillaudeau, Anne: Rembrandt, l’artiste au fil des textes. Rembrandt dans la littérature et la philosophie européennes depuis 1669. Paris 2004.

Das Konzept ›Kunstreligion‹ im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels 343

brandt2 in der deutschen Rembrandt-Literatur mit dem Genie bzw. dem Absoluten in Verbindung gebracht wird: Das Genie ist dadurch von allem anderen, was bloß Talent oder Geschicklichkeit ist, abgesondert, daß durch dasselbe ein Widerspruch aufgelöst wird, der absolut und sonst durch nichts anderes auflösbar ist. In allem, auch dem gemeinsten und alltäglichsten Produzieren wirkt mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose zusammen; aber nur ein Produzieren, dessen Bedingung ein unendlicher Gegensatz beider Tätigkeiten war, ist ein ästhetisches, und nur durch Genie mögliches. 3

Das Genie vermag den Widerspruch aufzulösen, weil er zu einem Absoluten gehört, das aus dem Höchsten hervorgeht und ihm gleichzeitig innewohnt: Dieses Unbekannte aber, was hier die objektive und die bewußte Tätigkeit in unerwartete Harmonie setzt, ist nichts anderes als jenes Absolute, welches den allgemeinen Grund der prästabilisierten Harmonie zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen enthält […]. [Diese] dunkle unbekannte Gewalt […] wird […] mit dem dunklen Begriff des Genies bezeichnet.4.

Bei seiner Unentschlüsselbarkeit verweist das Genie (bzw. die gelungene Kunst) auf ›das Höchste‹ (ein gängiger Terminus im Kreis der Jenenser Frühromantiker): Da nun jenes absolute Zusammentreffen der beiden sich fliehenden Tätigkeiten schlechthin nicht weiter erklärbar, sondern bloß eine Erscheinung ist, die, obschon unbegreiflich, doch nicht geleugnet werden kann, so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte.5

Die Kunst wird hierbei explizit mit dem Numinosen korreliert. Es existiert in der Tat ein Höchstes, ein Absolutes innerhalb und jenseits der Kunst, das nach der Auffassung Schellings in der Versöhnung von Geist und Körper liegt und im Helldunkel zum glücklichen Ausdruck kommt. Damit sei nicht gesagt, dass sich Schelling dabei auf das rembrandtsche Helldunkel beruft (im Gegensatz zu Hegel kennt er keine besondere Vorliebe für die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts und erst recht nicht für die Kunst Rembrandts). Tatsache ist aber, dass seine Auffassung vom _____________ 2

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Ein Hauptmerkmal der Rembrandt-Literatur ist die Faszination angesichts der harmonischen Qualität von Rembrandts Werken, die durch ein Ineinanderfließen von Gegensätzen (Außenwelt/Innenwelt, Universalität/Individualität, Realismus/Magie, Hell/Dunkel) gekennzeichnet sind und die sich daraus ergebende Aufhebung der Widersprüche in einer glücklichen Synthese veranschaulichen. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: System des transzendentalen Idealismus. Mit einer Einleitung von Walter Schulz. Herausgegeben von Horst D. Brandt und Peter Müller. Hamburg 1992, S. 295. Schelling: System des transzendentalen Idealismus(Anm. 3), S. 286f. Schelling: System des transzendentalen Idealismus(Anm. 3), S. 288f.

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Anne Chalard-Fillaudeau

Genie, die mit einer Aufwertung des Helldunkels einhergeht, einen ideellen Kontext aufdeckt (und gewissermaßen dazu beiträgt, diesen Kontext zu gestalten), in dem Rembrandt mit dem Genie ›kunstreligiös‹ identifiziert wurde. Schelling schreibt nämlich: Der Gesamtausdruck jener sinnlichen Seele ist das Helldunkel, welches Corregio mehr als irgendein anderer ausgebildet. Denn das, was dem Maler die Stelle der Materie vertritt, ist das Dunkel; und dieses ist der Stoff, an den er die flüchtige Erscheinung des Lichtes und der Seele heften muß. Je mehr also das Dunkel mit dem Hellen verschmilzt, so daß aus beiden nur Ein Wesen und gleichsam Ein Leib und Eine Seele wird, desto mehr erscheint das Geistige körperlich, das Körperliche auf die Stufe des Geistes gehoben.6

Wenden wir uns jetzt der Kunsttheorie Friedrich Schlegels zu, der zufolge die Kunst einen Zugang zum Göttlichen eröffnet, insofern sie eine Harmonie entstehen lässt, die auf das Ganze hindeutet, das zum Absoluten gehört und daraus hervorgeht: […] recht wohl könnte der Mensch ohne sie [die heilige Kunst der Malerei] bestehen. Das System der an sein reines Wesen notwendig geknüpften Bedingungen und notwendig aus ihr hervorgehenden Kräfte würde dadurch nicht verändert oder unvollständig gemacht werden, wohl aber würde ihm eins der wirksamsten Mittel fehlen, sich mit dem Göttlichen zu verbinden, und sich der Gottheit zu nähern, wenn er dieser weit mehr als vernünftigen, sondern gottbegeisterten Kunst entbehrte. Überhaupt wäre es in diesem Fall und in jedem andern wohlgetan, wenn die Philosophie sich begnügte, das Göttliche was wirklich vorhanden ist, zu verstehen, und auszudrücken, nicht aber es deduzieren wollte, und eben damit seine Göttlichkeit vernichten, und selbst durch eben diese Verkennung in den einzigen eigentlich so zu nennenden Atheismus versinken. 7

In Schlegels Schriften werden zwei Kategorien herausgearbeitet, welche die Aufwertung der rembrandtschen Kunst in Deutschland vorbereiten: Als Kunst respektive Schöpfung können auch Rembrandts Werke Zugang zum Göttlichen verschaffen; als harmonisches Ganzes verschafft jedes Werk Rembrandts aber in der Tat Zugang zum Göttlichen: Nur aber ist in der guten Ausführung, Zeichnung sowohl als Kolorit und Ausdruck, oder was man sonst noch einzelnes der Art aufzählen mag, mit zu begreifen, und zwar so, daß das alles nur ein einziges harmonisches und untrennbares Ganzes ist […].8

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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. 1807; in: Schelling, F[riedrich] W[ilhelm] J[oseph]: Texte zur Philosophie der Kunst. Ausgewählt und eingeleitet von Werner Beierwaltes. Stuttgart 1982, S. 53-95, hier S. 84f. Schlegel, Friedrich: Nachtrag italienischer Gemälde; in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Herausgegeben von Ernst Behler. Unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung. Vierter Band: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Herausgegeben von Hans Eichner. München – Paderborn – Wien 1959, S. 61-78, hier S. 71. Schlegel, F.: Nachtrag italienischer Gemälde (Anm. 7), S. 75.

Das Konzept ›Kunstreligion‹ im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels 345

Wenn Schlegel eher Raffael, Correggio und Dürer ausgezeichnet hat, werden seine Leser wiederum Rembrandt zu der paradigmatischen Figur der Schöpfung stilisieren. Friedrich Schlegel und die Frühromantiker, die sich nach der Einheit und dem Absoluten sehnten, prägten also einen Diskurs, der Kunst als ein ekstatisches Wissen charakterisiert bzw. als das, was dem Menschen transzendente Wahrheiten vermittelt, die der kognitiven Aktivität ansonsten versperrt blieben. Dabei werden zwei Arten der Wirklichkeit postuliert: eine sichtbare Wirklichkeit, die man durch die Sinne und den Verstand wahrnehmen kann, und eine verborgene Wirklichkeit, die Kunst und Philosophie zugänglich machen. Indem er nun die Offenbarungsmission der Kunst theoretisiert (ja dafür bürgt), legt der philosophische Kunstdiskurs in Deutschland die Grundlage für eine Kunstreligion, wobei er nicht mehr bzw. nicht mehr einzig eine deskriptive Funktion, sondern auch und vor allem eine evaluative Funktion einnimmt, die in der Bewertung der Werke und deren Verhältnis zum Absoluten besteht. Was andernorts als spekulative Kunsttheorie bezeichnet wurde, geht im Grunde aus einer intellektuellen Doppelkrise hervor: aus der der Aufklärung entspringenden Krise der religiösen Fundamente sowie aus der Krise der philosophischen Fundamente im Lichte der kantischen Kritik. Gekoppelt ist sie ferner mit einer sozialen Krise, die sich aus der wachsenden Herrschaft der Marktlogik ergab (was war nun der Status des Künstlers?), und auch mit einer politischen Krise, die teilweise dem fortschreitenden Zusammenbruch des Feudalismus geschuldet war. Die Auflösung der bisherigen Strukturen, mit der Desorientierung der Humaniora gepaart, brachte infolgedessen eine Suche nach Einheit mit sich, wobei man auf die Regeneration des großen Organismus der Welt und des Geistes setzte, die in der Vielfalt des Fragmentarischen allmählich verkümmerte. So eine Suche hat allerdings nicht – oder nicht allein – über die Philosophie erfolgen können. Wo die Philosophie scheitert, weil sie über die subjektiven Formen und Kategorien nicht hinausdenken kann, trägt hingegen die Kunst den Sieg davon, weil sie zum Absoluten gehört: »l’Art doit remplacer le discours philosophique défaillant«.9 Die philosophische und theologische Suche nach der Einheit sowie die Aufwertung der ontologischen Offenbarungsmission der Kunst bilden gewissermaßen Konvergenzpunkte zwischen den philosophischen Ideen Schellings, der Frühromantiker und gar des frühen Hegel. Noch mehr: Sie liegen einem Diskurs des Universellen und Absoluten zugrunde, der sich insbesondere bei den deutschen Kunsthistorikern die mythisch überhöhte _____________ 9

Schaeffer, Jean-Marie: L’art de l’âge moderne. L’esthétique et la philosophie de l’art du XVIIIe siècle à nos jours. Paris 1992, S. 90.

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Figur Rembrandt aneignen sollte. Auf diese Weise überlebte die spekulative Kunsttheorie die Frühromantik, wenngleich sie dann neuartige Züge annahm (wie etwa bei Nietzsche oder Heidegger); die Kunst wurde lange als das gesehen, was diejenige organische Einheit schaffen und bewahren kann (zumindest im Rahmen eines Werkes), die von dem Absoluten, dem Höchsten, ja dem Göttlichen zeugt.10 Bezüglich dieser Triade gilt es natürlich umsichtig zu verfahren. Das Absolute ist nicht unbedingt und überall mit dem Göttlichen zu identifizieren, aber der ideengeschichtliche Kontext (Gott ist noch nicht ›tot‹) und die Homologie zwischen beiden Begriffen erlauben uns vorzubringen, dass die Kunst als zumindest partielles Äquivalent imstande ist, traditionelle Funktionen der Religion und der Philosophie zu substituieren. Daher wird von Kunstreligion gesprochen. Kunstreligion und Religion sind also keine identischen Phänomene, sondern verhalten sich homologisch zueinander. Davon ausgehend steht das Absolute in den jetzt zu untersuchenden Texten im Zeichen der Kunstreligion.

II. Zur Sakralisierung Rembrandts in deutschen Dokumenten Um zur Kunsttheorie und -auffassung zurückzukommen, hat man sich zu fragen, ob und wie Rembrandt diejenige organische Einheit schafft und wahrt, die vom Absoluten, Höchsten und Göttlichen zeugt, und was also seine kunstreligiöse Erhebung begründet. An diesem Punkt der Untersuchung ist eine selektive Lektüre kunstgeschichtlicher Texte vonnöten, die einerseits die Präsenz eines Absoluten im rembrandtschen Werke dokumentieren und andererseits Rembrandt zur Figur des Schöpfers erheben. Was die erste Facette – also die Form, den Inhalt und die Bedeutung der Kunst Rembrandts – betrifft, können wir zunächst an den deutschen Kunsthistoriker Eduard Kolloff (1811-1879) erinnern, der 1854 in Rembrandts Leben und Werke11 aufzeigte, wie Rembrandt die Bibel in die private Alltagssphäre einbettet und so an den Geist und die Wahrheit der _____________ 10

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Signifikanterweise strebte auch die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die Rembrandt nicht wenig schätzte (man denke etwa an Corinth, Slevogt oder Nolde), nach einer − wenngleich anders motivierten − Wiederherstellung der Einheit (was sich mitunter in politischen Zugehörigkeiten niederschlug). Kolloff, Eduard: Rembrandts Leben und Werke, nach neuen Aktenstücken und Gesichtspunkten geschildert; in: Historisches Taschenbuch. Herausgegeben von Friedrich von Raumer. Dritte Folge. Fünfter Jahrgang. Leipzig 1854, S. 401-582.

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ersten Schriften wieder anknüpft. Auf diese Weise hat er der Kunstreligion neue Bedeutung verliehen: Kunst und Religion bleiben nicht homolog, sondern die Kunst nimmt die Religion in sich auf und lässt sie aus sich hervorstrahlen. In der Folge schrieb Wilhelm Bode (1845-1929), seit 1872 Direktor des Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin: Den großen Griff aber tat er dadurch, daß er die biblischen Geschichten in diese Alltagswelt hineinversetzte. Indem er die Darstellungen durch seine künstlerischen Mittel weit über die banale Wirklichkeit erhob, entsprach er zugleich der schlichten Form und dem tiefen Inhalt der Erzählungen. Rembrandt ist der erste, ja, er ist in gewissem Sinne der einzige gewesen, der die Bibel im Geiste der Bibel malerisch zum Ausdruck gebracht hat. […] Die schlichte Wahrheit seiner Darstellung, die Ehrlichkeit und Tiefe seiner Empfindung reden eine ebenso deutliche und zugleich gewinnende Sprache wie die Worte des Evangeliums; der Geist der Liebe und Barmherzigkeit spricht aus allen seinen Schilderungen mit so überzeugender Lebendigkeit und so ergreifender Innigkeit, daß alle anderen malerischen Darstellungen biblischer Motive daneben verblassen und kalt erscheinen.12

Die Präsenz eines Geistes der Liebe und Barmherzigkeit (und gar: die religiöse Größe, die dem Werk Rembrandts innewohnt) gehört zu den Leitmotiven der Rembrandt-Literatur. So widmete der Philosoph Georg Simmel einen bedeutenden Teil seines Rembrandt-Buches (1916) der religiösen Präsenz in den Figuren Rembrandts, die er als Religiosität bezeichnete. Darunter verstand er keinen objektiven Inhalt des Lebens der Figuren, sondern den Zustand bzw. die Form ihrer Individualität, die das rembrandtsche Licht aufleuchten lässt. Mit anderen Worten: Für Simmel wie für viele Autoren ist es das Licht, das dem Werk eine religiöse Qualität verleiht: Dies Licht ist die religiöse Weihe, das Zeichen des Von-Gott-Seins in der Atmosphäre, in der räumlichen Welt um uns herum, deren nur innerlich eigene Qualität damit ausgedrückt wird.13

Für jene Autoren wirkt das rembrandtsche Licht zweifach. Auf der einen Seite bewirkt es die Beseelung und Vergeistigung des Bild-Inhaltes; auf der anderen Seite verwischt es die Linien und deutet damit auf das Unendliche hin, das prinzipiell kein Irdisches sein kann, sondern zum Überirdischen gehört. Bode formulierte es wie folgt: [Rembrandt] hat seinen biblischen Darstellungen keineswegs den Reiz des Mystischen genommen, er verleiht ihnen durch eine seltsame Lichtführung einen überirdischen Schein, der recht eigentlich die Kraft und der Zauber seiner Kunst ist; aber er schildert in schlichtester und wahrster Weise, mit aller Kraft des

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Bode, Wilhelm: Rembrandt und seine Zeitgenossen. Charakterbilder der grossen Meister der holländischen und vlämischen Malerschule im siebzehnten Jahrhundert. Zweite vermehrte Auflage. Leipzig 1907, S. 8f. Simmel, Georg: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch. München 1925, S. 175.

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Gemüts, mit der Tiefe des Herzens, und darum ergreift er uns so unmittelbar, lässt uns so tief mitempfunden.14

Hier gilt es Adolf Rosenberg zu erwähnen, der Wilhelm Bode höchst aufmerksam gelesen hatte und in seinem Vorwort zu Rembrandt. Des Meisters Gemälde in 643 Abbildungen von Wilhelm R. Valentiner darauf hinwies, dass Rembrandt das Irdische transzendiert: Zwei Naturen waren in diesem seltenen Manne vereinigt. Während ihn die eine ›mit klammernden Organen‹ an die Erde, an alles Irdische fesselte, so daß er selbst vor der Darstellung der häßlichsten und gemeinsten Wirklichkeit nicht zurückschreckte, hob ihn die andere zu den himmlischen Höhen, aus denen ein überirdisches Licht auf die gemeinen Dinge dieser Welt zurückstrahlt. So wurde Rembrandt der größte Realist und der größte Idealist zugleich, und so gewaltig wirkt der Zauber seines Lichts, dass sich das Gemeine darunter verklärt, dass wir das Widerwärtige, dessen der schonungslose Schilderer der Wirklichkeit nicht entraten konnte, gar nicht mehr empfinden und uns selbst zu den lichten Höhen emporgehoben fühlen, von denen der Glanz des Rembrandtschen Helldunkels herabstrahlt.15

Wollte man beweisen, dass Rosenberg von der Bode-Lektüre in der Tat inspiriert war, oder gar, dass Licht und Verklärung integrale Bestandteile des religiös geprägten Repertoires sind, aus dem zur Interpretation des rembrandtschen Werkes die deutschen Kunsthistoriker schöpften, so hätte man allen Grund, auf Zeilen von Bode zu verweisen, die er drei Jahre zuvor verfasst hatte und an die Rosenberg offenbar anknüpfte: Ist Rembrandt in seinen Modellen, in seinen Vorwürfen ein Realist wie kein anderer, so ist er in seinen Mitteln, vor allem in seiner Beleuchtung, der größte Idealist. Man pflegt sein Licht ein überirdisches zu nennen; nicht ganz mit Unrecht, denn auch häßliche Gestalten, gewöhnliche Motive weiß der Künstler durch sein Helldunkel in eine höhere Sphäre zu heben, zu ergreifenden Kunstwerken zu gestalten. Durch dieses Mittel ist er der modernste aller neueren Künstler geworden, indem er die Schönheit des Geistes an die Stelle der antiken Formenschönheit gesetzt hat. Sein Licht ist alles andere als naturalistisch; es ist weder Sonnenlicht noch Kerzenlicht, es ist Rembrandts eigenes Licht.16

Rosenberg und Bode erinnern uns eigentlich daran, dass das verklärende Licht Rembrandts mit dem Dunkel innig verbunden ist. Zwar betonte die große Mehrheit der deutschen Kunsthistoriker, dass Licht und Schatten in den Werken Rembrandts konstitutiv aufeinander bezogen sind und dank ihres dialektischen Zusammenspieles das innere Leben und die dem Werk innewohnende Seele zu einer unübertrefflichen Fülle, Lebendigkeit und _____________ 14 15

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Bode: Rembrandt und seine Zeitgenossen (Anm. 12), S. 10f. Rosenberg, Adolf: Rembrandt. Sein Leben und seine Kunst; in: Rembrandt. Des Meisters Gemälde in 643 Abbildungen. Mit einer biographischen Einleitung von Adolf Rosenberg. Herausgegeben von W. R. Valentiner. 3. Auflage. Stuttgart − Leipzig 1909, S. IV-XXXIX, hier S. XII. Bode: Rembrandt und seine Zeitgenossen (Anm. 12), S. 16.

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Wahrheit herausarbeiten; jedoch zeigten sie darüber hinaus, dass das Gegeneinander-Ausspielen von Licht und Schatten die Auflösung der widerstreitenden Elemente in einer glücklichen Synthese herbeiführt und damit ein Gefühl für die Einheit vermittelt. Zum rembrandtschen Helldunkel schrieb der deutsche Kunsthistoriker Kurt Bauch (1897-1975): Für ihn erwächst – um nur dies zu nennen – aus dem Alltäglichen das Einmalige, aus dem Irdischen das Heilige, aus dem Menschlichen das Göttliche, ja, es erscheint selbst in dieser Gestalt. Das Diesseits, die dunkle Welt unserer Tatsachen, erscheint nicht als leere Hülle oder gegensätzliche Folie, aus ihr vielmehr erhebt sich das Hohe ins Licht, um später zurückzusinken in ihr Dunkel. 17

Bode seinerseits sprach von Magie, was ein Unerklärbares bzw. ein Unfassbares (ja ein Höchstes?) signalisiert: Nur durch sein Helldunkel war er imstande, alle die verborgenen Schätze zu enthüllen, die sein Seherauge in der Natur entdeckte. Man hat Rembrandt einen Zauberer genannt; er ist ein Zauberer in dem Sinne, daß er den phantastischen Gebilden seiner Gedankenwelt künstlerischen Ausdruck zu geben weiß, an den wir glauben müssen, der uns hinreißt und begeistert; ein Zauberer auch insofern, als er durch magische Mittel unsere Sinne berauscht, uns seine Bilder wie mit einer Laterna magica vorzaubert. […] Sein Licht ist ein ganz besonderes, das plötzlich und voll in das Dunkel hineinfällt und ebenso warm wieder hervorstrahlt, das mit seinen Strahlen und Reflexen das reiche Spiel von Licht und Schatten, das bunte Flirren der Farben hervorruft, sie hier verhüllt und dort prächtig hervorleuchten und in den reichsten Tönen erglänzen lässt, ein Licht, das durch und durch zu leuchten scheint, das uns die heimlichsten Gedanken, die verborgensten Empfindungen verrät, den Beschauer zu dem Dargestellten in die intimste Verbindung setzt.18

Bemerkenswert ist auch der Rückgriff auf solche Termini wie ›Seherauge‹, ›hinreißt‹ und ›begeistert‹, die auf ein ekstatisches Erlebnis verweisen, wie man es in außergewöhnlichen Momenten des Glaubenslebens erfahren kann. Wenn man zudem der Tatsache Rechnung trägt, dass das Licht und das subtile Spiel der Farben in Rembrandts Werken nicht nur der Veräußerlichung der Innerlichkeit, sondern auch der Vergeistigung der Dinge und Wesen dienen, dann hat man die Formel gefunden, nach der Rembrandt das Höchste ahnen, gar hervorleuchten lässt. Der österreichische Kunsthistoriker Otto Benesch (1896-1964) artikulierte es so: »All dieses Farbengewebe dient aber nur der Setzung der Lichtakzente, die das ›geistig‹ Wesentliche betont«.19 Das Geistige, das Wesentliche, das Ekstatische erweisen sich dann als Chiffre für das göttliche Prinzip in Rembrandts Werken. _____________ 17 18 19

Bauch, Kurt: Der frühe Rembrandt und seine Zeit. Studien zur geschichtlichen Bedeutung seines Frühstils. Berlin 1960, S. 203. Bode: Rembrandt und seine Zeitgenossen (Anm. 12), S. 15. Benesch, Otto: Rembrandt. Genève 1957, S. 39.

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Es ist in dieser Hinsicht kein Wunder, dass der deutsche Kunsthistoriker Carl Neumann (1860-1934) das rembrandtsche Streben nach dem Nichtsinnlichen, also die rembrandtsche Auseinandersetzung mit dem Geistigen und Wesentlichen, mit der göttlichen Schöpfungswelt, auch seinerseits thematisierte: Nicht die Individuation, die Körper und Figuren, die äußere Scheinwelt, die das Thema der italienischen Kunst ist, sucht er wiederzugeben, sondern, was er von dem Nichtsinnlichen, dem wirklich Wirklichen ahnt, welches nicht in tausend und aber tausend Egoismen parzelliert, sondern ein Allverpflichtetes und Allabhängiges ist. Indem Rembrandts Kunst die Seele sucht und die verhüllende körperliche Form durchbricht und zerbricht, bezeichnet sie kein Grenzgebiet der bildenden Kunst, bereit etwa, Gebietsteile zu besetzen, die der Musik gehörten und nach der seltsamen Lehre von der Hegemonie der Musik ausschließlich mit den Mitteln dieser Kunst beherrscht werden könnten. Vielmehr ist Rembrandt an sich selbst Beweis und hat dargethan, daß in der allgemeinen Bewegung der Künste ein gemeinsames Ziel zum Innerlichen und Nichtsinnlichen hinweist, wofür das Sichtbare und Hörbare nur ein Zeichen ist.20

Neumann wies ja in seinen Schriften dem niederländischen Künstler eine mythisch überhöhte Schöpferrolle zu, die wir jetzt − als zweite Facette der Sakralisierung Rembrandts − durch die hermeneutische Brille betrachten wollen. Carl Neumann publizierte 1902 eine Rembrandt-Monographie, die mit ihren 655 Seiten als veritable Rembrandt-Bibel galt. Die Gründe dafür sind nicht nur der rastlose Versuch, alle Einzelheiten und Besonderheiten der Kunst Rembrandts zu verzeichnen und seine künstlerische Lehre hervorzukehren, sondern der Liebeston und die Verherrlichung des niederländischen Künstlers, die auf eine Verabsolutierung des Genies Rembrandt hinausliefen, das als ein überzeitliches/überpersönliches und unübertreffliches Wesen erschien. Damit soll nicht gesagt sein, dass Neumanns Analyse nicht gründlich gewesen wäre – im Gegenteil! Gemeint ist vielmehr, dass Neumanns Vorhaben mit einer Art von Evangelisierung zu tun hatte. Mit anderen Worten: Der Kunsthistoriker war bestrebt, das Evangelium Rembrandts über seine ganze Leserschaft zu verbreiten. Ein Evangelium, das auch eine Botschaft der Liebe vermittelt (obgleich von der eigentlichen Liebe Rembrandts zu seinen Zeitgenossen und seiner Nachwelt gar nicht die Rede ist): »Ist erst einmal dieses große Licht in unserem Empfinden aufgegangen, so hört die Liebe zu Rembrandt und zu Holland nimmer auf«.21 Dieses Evangelium ist auch eine Botschaft über das Geistige und die Seele, und sein Machtwort lautet _____________ 20 21

Neumann, Carl: Rembrandt. Berlin − Stuttgart 1902, S. 170. Neumann: Rembrandt (Anm. 20), S. XII.

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Fiat Lux, insofern das Licht den Logos der rembrandtschen Schöpfung darstellt: Das Fiat Lux ist der Schlüssel und das zentrale Machtwort der Schöpfung; es ist für ihn der Logos, von dem es im Johannisevangelium heißt, er sei am Anfang gewesen, und alle Dinge seien durch ihn gemacht, und ohne ihn sei nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht. 22

Neumann widmete dem Licht als physischem und metaphysischem Prinzip zahlreiche Seiten, ebenso auch dem Helldunkel, das der Verkörperung der Dinge und Wesen im Bilde zugrunde liegt. Das Helldunkel verkörpert und verlebendigt tatsächlich den rembrandtschen Bild-Mikrokosmos. Für Neumann war dieser Mikrokosmos gleichsam die malerische Folie, vor der sich der universelle Makrokosmos abheben konnte. Daher wird Rembrandt zur paradigmatischen Figur des Schaffens. Festzuhalten bleibt diesfalls, dass er zwar eine paradigmatische Figur als Schöpfer darstellt, ›den‹ Schöpfer aber nicht substituieren kann. Neumann war sich bewusst genug, dass eine Identifikation Rembrandts mit ›dem‹ Schöpfer einer Lästerung gleichkommen würde. Deswegen bezeichnete er Rembrandt nicht als Gott, sondern als Genie, das man mit gutem Recht heiligsprechen darf. In Neumanns Rembrandt tritt der niederländische Künstler nämlich als Genie auf, unter dessen Begriff sich Offenbarung (anhand des Lichtes), Elementarkraft, Wahrheit, Freiheit, Poiesis, Begeisterung und Schöpfung subsumieren lassen. Neben Carl Neumann wäre − wenngleich aus anderen Gründen − auch der deutsche Schriftsteller und Kulturkritiker Julius Langbehn (18511907) zu nennen. Langbehn hat zwar keine Rembrandt-Bibel geschrieben, aber den konservativen, stark antisemitischen Essay Rembrandt als Erzieher (1890), in dem er Rembrandt zum Inbild der echt deutschen Kunst machte;23 er beschäftigte sich nicht mit Rembrandts Logos, sondern mit seiner prophylaktischen Lehre; er betrachtete ihn nicht im Besonderen als künstlerisches Schöpfermodell, sondern ganz generell als kulturelles Schöpfermodell. Allerdings wies auch er Rembrandt eine entscheidende _____________ 22 23

Neumann: Rembrandt (Anm. 20), S. 170. »Der Charakter der Malerei Rembrandts, helldunkel, ist mithin der des Niederdeutschen überhaupt. Hell ist seine Politik, in Bismarck; dunkel ist seine Kunst, in Beethoven; aber auch: dunkel ist seine Politik, in Richard III.; hell ist seine Kunst, in Shakespeare. So zerlegt sich sein Wesen nach zwei Grundrichtungen: Politik und Poesie, Licht und Schatten« (Langbehn, Julius: Niederdeutsches – Ein Beitrag zur Völkerpsychologie. Mit einem Nachwort von Benedikt Momme Nissen. Leipzig 1926, S. 48). − Noch aufschlussreicher: »Musik und Ehrlichkeit, Barbarei und Frömmigkeit, Kindersinn und Selbständigkeit sind hervorragendste Züge des deutschen Charakters; indem Rembrandt ihnen auf künstlerischem Gebiet gerecht wird, zeigt er sich vorzugsweise als einen echten Deutschen« (Langbehn, Julius: Rembrandt als Erzieher – Von einem Deutschen. Nach der ersten Auflage, mit Ergänzungen nach der 17. Auflage bearbeitet von Gerhard Krüger. Berlin 1944, S. 88).

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Schöpferrolle zu, ähnlich wie Neumann es ein Jahrzehnt später tun sollte. Rembrandt wurde aber bei ihm eher zu einem Werteschöpfer im Angesicht einer dekadenten Kultur stilisiert, die durch Wissenschaft zerkleinert,24 durch Intellektualismus entnervt und durch Demokratie standardisiert oder gar atomisiert wird. In diesem Zusammenhang erscheint Rembrandt als Reformator der deutschen Kultur, deren Heil und Wohl in Kunst liegt – genauer gesagt: in rembrandtscher Kunst, die u. a. als Inbegriff für Spontaneität, ›Persönlichkeit‹25, Unabhängigkeitssinn26 und ›Geist der Scholle‹27 steht. Rembrandt repräsentierte in der Tat sowohl den Bürger als auch den Bauern, tat aber noch mehr: Sie [der Bauerngeist und der Burengeist] sind in Rembrandt, als einem lebenden und redenden Symbol, verkörpert. […] Rembrandt ist ein niederdeutscher und erdbefreundeter Künstler; und eben diese Eigenschaft befähigt ihn, auf geistigem Gebiet als Kolonisator zu wirken; weil er Bauer ist, kann er Erbauer sein. Hierin ist sein Beruf zum Erzieher des deutschen Volkes am tiefsten, weil am volkstümlichsten begründet.28

Luther steht also die religiöse Reformation zu, Bismarck die politische, und Rembrandt die künstlerische. Um es anders zu formulieren: Langbehns Rembrandt erweist sich erstens als ein Schöpfer, weil er den deutschen idiosynkratischen Werten eine künstlerische Fassung verleiht, zweitens als ein Modell, weil er diese Werte innig verkörpert, und letzten Endes als ein Erzieher, weil er dem deutschen Volke jene Werte meisterhaft vermittelt: [E]r und nur er entspricht deshalb vollkommen, als Vorbild, den Wünschen und Bedürfnissen, welche dem deutschen Volke von heute auf geistigem Gebiet vorschweben − sei es auch teilweise unbewußt. Er ist das betreffende historische Ideal für die nächste Zeit; er ist der Erzieher seines Volkes für die nächste Zeit; er

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»In der großen Mühle des Spezialismus werden die geistigen Individualitäten, […], geradezu zerpulvert« (Langbehn: Rembrandt als Erzieher (Anm. 23), S. 127). »Stil kann sich nur aus der Persönlichkeit, und zwar aus dem tiefsten, innersten Keime der Persönlichkeit eines Volkes entwickeln, − wie er etwa in Rembrandt zutage liegt« (Langbehn: Rembrandt als Erzieher (Anm. 23), S. 91). »Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste: Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopfe folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt; in diesem Sinne muß er geradezu der deutscheste aller deutschen Maler und sogar der deutscheste aller deutschen Künstler genannt werden« (Langbehn: Rembrandt als Erzieher (Anm. 23), S. 64). Zur Typisierung des Niederländers und Deutschen: »Seine Vornehmheit ist Bauernvornehmheit; seine Politik ist Bauernpolitik; sein Humor ist Bauernhumor; seine Melancholie ist Bauernmelancholie; ja, seine Kunst ist Bauernkunst, das heißt eine solche, die den volkstümlichen Boden nie verläßt. Trotzdem entbehrt er in allen diesen Dingen nicht der Feinheit. Scherz und Ernst verbinden sich in ihm« (Langbehn: Niederdeutsches (Anm. 23), S. 55). Langbehn: Rembrandt als Erzieher (Anm. 23), S. 207.

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ist der feste Punkt, an dem neue zukunftsreiche Bildungsformen sich anschließen können und müssen.29

Generell gesagt: Insoweit, als Rembrandts Kunst sich mit dem künstlerischen, individuellen, gar deutschen Geistesprinzip korrelieren lässt, ist der niederländische Künstler dazu berechtigt, das langbehnische Szepter zu führen. Es steht fest, dass diese kulturkritische Instrumentalisierung des niederländischen Künstlers den Akzent verlegt und die Schöpferfigur Rembrandt in eine ideologische Sphäre hineinversetzt, die weniger mit Kunstreligion als mit Künstlerreligion zu tun hat. Daran zeigt sich nicht minder, dass die Figur Rembrandt nicht durch das rein künstlerische Prisma betrachtet werden darf, sondern ein Interpretationsraster erfordert, das die Triade Kunst, Künstler und Religion problematisiert. Zu diesem Punkt möchten wir aus einem Buch des deutschen Kunsthistorikers Heinrich Gustav Hotho (1802-1873) eine lange Passage zitieren, die von den charakteristischen Merkmalen ihren Ausgang nimmt, die es erlauben, Rembrandt zu einer privilegierten Figur der Kunstreligion zu erheben: Logos, Farbenglut der Phantasie, Größtes und Kleinstes, Fülle und Lebendigkeit, Übertreffen des Lebens, volle Naturtreue, Auflösung der Gegensätze, Klarheit, Kraft und Meisterschaft: Doch welch ein Maler ist Rembrandt! Ein Maler im eigentlichsten Sinne, wie geschaffen durch Farbe und Beleuchtung allein, Körper und Geist allverständlich sprechen zu lassen. Beinahe mehr als in Rubens noch bewunderte ich die Farbenglut der Phantasie, wie sie im beflügelten Schwunge durch jeden Pinselstrich hinlodernd das Größte und Kleinste mit frecher Sicherheit fast nur andeutet, um es durch den unbegreiflichsten Farbenzauber dennoch zu einer Fülle und Lebendigkeit herauszuarbeiten, deren Leben das Leben selber übertrifft. Und wunderbarer als sein kolossaler Nebenbuhler wußt’ er die volle Naturtreue in Farben, Gestalt, Mienen und Bewegung mitten in der kunsterfundenen, nur ihm gehörigen Beleuchtungsweise kräftig wirken und walten zu lassen, und wendete sich zu seiner stets wiederkehrenden Art der Färbung nur immer mehr herüber, um in ihr gerade alle Gegensätze und rätselhaft verschmelzenden Übergänge mit einer Kraft, Kühnheit, Wärme und das tiefste Dunkel durchleuchtenden Klarheit auszubilden, welche bisher noch über jede Nachahmung und kecksten Wetteifer in siegreicher Meisterschaft triumphirt hat.30

Diese Huldigung ist eminent aufschlussreich, zeigt sie doch, dass Rembrandt ein Schöpfer ist, der geschaffen wurde, um zu schaffen. In diesem Sinne ist Rembrandt nicht ›der‹ Schöpfer, sondern vielmehr ein Erfinder und als solcher ein Vermittler Gottes. Genauso wie − oder besser: weil − Religion und Kunstreligion sich homologisch zueinander verhalten, verhalten sich auch Gott und der Künstler homologisch zueinander. Dies _____________ 29 30

Langbehn: Rembrandt als Erzieher (Anm. 23), S. 65. Hotho, Heinich Gustav (Hrsg.): Vorstudien für Leben und Kunst. Stuttgart − Tübingen 1835, S. 252.

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begründet einerseits die oftmalige Bezeichnung Rembrandts als Genie, an dem sich das Schöpferische herauskristallisiert, und erklärt andererseits, warum Rembrandts Kunst häufig vorschnell unter die Kategorien der Rätselhaftigkeit und Unübertrefflichkeit subsumiert wird. Im Anschluss an die umfangreiche Textwanderung dieses zweiten Teiles, der von der Präsenz eines Absoluten im rembrandtschen Werke und von der Erhebung Rembrandts zur Figur des Schöpfers handelt, möchten wir uns auf den Philosophen und Kunsttheoretiker Max Raphael (1889-1952) beziehen, der eine Theorie des ›aktiven Sehens‹ entwickelt hat. Es ging ihm nämlich um den Nachweis, dass Rembrandt bei der Schöpfung die Ganzheit/Allheit sichtbar macht und der Zuschauer sie bei der Betrachtung belebt. Er behauptete dabei: Wenn man sieht, […] wie das Endliche und Bedingte über das Unendliche hinaus sich dem Unbedingten annähern – dann hat man erlebt, wie Rembrandt von einer anschaulichen Idee (Konzeption, Motiv) ausgehend, mit Hilfe der kontinuierlich konkretisierenden Deduktion als Methode die Einheit aller Gegensätze im Gebilde des Kunstwerks für einen Augenblick festgehalten hat, um in diesem die eine und ewige Quelle und Substanz alles Wirklichen aufleuchten zu lassen.31

Was Rembrandt geschaffen hat, ist also eine einmalige künstlerische Lösung, um die eine und ewige Quelle und Substanz alles Wirklichen aufleuchten und erleben zu lassen. In diesem Punkt stimmen mit Max Raphael nicht wenige Autoren jenseits des Rheins überein, die Rembrandt geradezu anhimmelten.

III. Die Sakralisierung Rembrandts in französischen Dokumenten In diesem letzten Teil wird die Sakralisierung Rembrandts in Frankreich an zwei repräsentativen Beispielen erläutert:32 Léon Wencelius und Paul Claudel. Interessant ist, dass die Sakralisierung Rembrandts hier und dort höchst unterschiedliche Züge annahm. Mit ersterem wurde die Reformation in Bezug auf Calvin (und nicht Luther wie bei Langbehn) herauf_____________ 31 32

Raphael, Max: Wie will ein Kunstwerk gesehen sein? »The Demands of Art«. Mit einem Nachwort von Bernd Growe. Herausgegeben von Klaus Binder. Frankfurt/M. – Paris 1984, S. 228f. Es existiert gewiss ein Mosaik von Zitaten, die wie in Deutschland das Göttliche an Rembrandts Kunst und die schöpferische Figur Rembrandt zum Gegenstand nehmen, aber unsere Darlegung würde dann allzu kaleidoskopisch wirken.

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beschworen, mit letzterem die Auslegung der rembrandtschen Kunst in Form einer Exegese betrieben. Im Jahre 1913 nahm sich der Professor der Philosophie Léon Wencelius vor, eine thèse complémentaire zu schreiben, die den Vergleich zwischen der Kunstphilosophie Rembrandts und der Ästhetik Calvins ziehen sollte. Davon ausgehend, dass Rembrandts Kunst eine überirdische Dimension aufweist und den Zugang zum Absoluten eröffnet, indem er die Dichte der Wesen und der Wirklichkeit repräsentiert, und dass − Calvin zufolge − die Materie und der Lebensprozess eben die Signatur der Manifestation Gottes sind, postulierte Wencélius, dass Rembrandts Kunst als eine göttliche Offenbarung sowie als eine künstlerische Modalität der theologischen Schriften Calvins anzusehen sei. Dabei liegt es auf der Hand, dass der Autor den niederländischen Künstler andächtig bewunderte: Nous sommes en présence de l’art le plus grand qui, avec les moyens les plus limités, arrive à nous transporter au-delà du réel. […] et les deux derniers groupes [La Ronde de nuit et Les Syndics] nous ont permis d’approcher un peu du mystérieux laboratoire où ce merveilleux alchimiste arrivait, par la vibration de ses couleurs, à capter la lumière et à peindre des réalités spirituelles comme à l’aide de rayons émanés d’étoiles ou de pierres précieuses.33

Kurz danach schrieb er: »Ne pourrions-nous dire que, pour nos commentateurs [Neumann et Simmel en particulier], la métaphysique que révèlent les tableaux de Rembrandt est celle de la Création?«.34 Die Antwort ist wohl positiv, sofern man sich auf Wencélius’ Ansicht von der Schöpfung einlässt: »La création, ils [Calvin et Rembrandt] l’ont vue comme le rayonnement infini d’une idée créatrice animant la matière«.35 In diesem Zusammenhang ist Rembrandts Kunst der Vektor einer Doppeloffenbarung der Schöpfung: auf der einen Seite in seiner Praxis als Schöpfer und auf der anderen in seiner Sicht und Repräsentation der Wirklichkeit, die das verborgene, tiefgründige Wesen der Dinge enthüllt und somit von der göttlichen Schöpfung zeugt.36 Daraus zog Léon Wencelius den folgenden Schluss: Il y aura des théologiens comme Calvin, qui embrasseront l’univers matériel et spirituel d’un coup d’œil pour montrer dans leurs traités comment, à l’aide de la Révélation, nous devons essayer de comprendre et sa masse et sa puissance; et il y aura des peintres comme Rembrandt qui, ignorants de toute dogmatique, verront cependant, non avec une intelligence déductive et discursive, mais avec l’intuition

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Wencelius, Léon: Calvin et Rembrandt. Paris 1937, S. 63. Wencelius, Léon: Calvin et Rembrandt. Paris 1937, S. 63. Wencelius, Léon: Calvin et Rembrandt. Paris 1937, S. 79. »Rembrandt est ainsi le révélateur, le continuateur de la création. La critique l’a paré du nom de magicien, il est davantage puisqu’il a reçu le don si rare de la vraie création artistique« (Wencelius, Léon: Calvin et Rembrandt. Paris 1937, S. 61).

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de leur âme et la lucidité de leur regard, la réalité universelle, pour traduire leur vision dans des peintures et des eaux-fortes qui seront immortelles, parce qu’elles auront saisi une lueur de l’éternité.37

Wencelius’ theologisch-religiöse Lektüre ist wohl kein Epiphänomen in der französischen Rembrandt-Rezeption und sollte mit den zahlreichen Essays, die die religiöse Tiefe der Kunst Rembrandts ausloten, zusammengeführt werden. Darunter sei nur der Essay La foi nouvelle recherchée dans l’art. De Rembrandt à Beethoven erwähnt, worin der Professor Alfred Dumesnil (1821-1894) verkündet, dass »le peintre [Rembrandt] a vu surtout l’homme au moment secret, où cet homme n’était visible que pour Dieu seul; c’est qu’il a su le deviner et le rendre. – Ainsi, dans la peinture, il y a divination, évocation des mystères de l’individualité«.38 Künstler wie Rembrandt und Beethoven vermöchten es, einem jeden Glauben einzuflößen: »nous ramener par leurs mystérieux enchantements à l’espérance, à la foi d’un monde meilleur qu’ils nous dévoilent«.39 Auch Paul Claudel war von dem anagogischen Wert der rembrandtschen Kunst fasziniert, die er 1933 zu erforschen begann. Er besichtigte die Museen in Holland und hielt sich 1933/34 mehrmals in Holland auf. Anschließend verfasste er einen Text, der unter dem Titel Introduction à la peinture hollandaise veröffentlicht wurde und, in Anlehnung an Eugène Fromentin,40 Rembrandt als einen Luminaristen, Seher und Metaphysiker bezeichnet. Es ist aber kein konventioneller Text: Claudel griff darin auf Methoden der Exegese zurück, durch die seine Ästhetik eine besondere Prägung erhält. Dabei ging er von der Prämisse aus, dass die Malerei uns hinunter in unsere eigenen Tiefen führt, d. h. in Richtung auf unser »ontologisches Geheimnis«, was eine Reaktivierung zeitloser Symbole mit sich bringt: S’il y a en art un Ancien et un Nouveau Testament, d’une part un personnel et un matériel de formes, d’êtres et d’idées toutes crues et toutes neuves, j’allais dire toutes vertes, encore saignantes et hurlantes de l’actualité à laquelle nous venons de les arracher, et, au contraire, sous l’esprit, et comme dans les soubassements du temple de Jérusalem, des réserves, des magasins sans fond, où les standards et les symboles, produits et élaborés par le passé, continuent à macérer dans le temps, et, revêtus d’un sens nouveau, à entretenir avec tous les moments du roman de la durée tel qu’il continue son cours sous le soleil des vivants, des

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Wencelius, Léon: Calvin et Rembrandt. Paris 1937, S. 80. Dumesnil, Alfred: La foi nouvelle recherchée dans l’art, de Rembrandt à Beethoven. Paris 1850, S. 56. Dumesnil: La foi nouvelle recherchée dans l’art (Anm. 38), S. 73. Fromentin, Eugène: Rubens et Rembrandt. Les Maîtres d’autrefois. Paris 1876.

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rapports occultes, c’est dans le second domaine que le fils de l’Or et de l’Ombre va chercher ses inspirations.41

Tatsache ist, dass Claudel in all den Werken Rembrandts eine höchst symbolische Bedeutung ausmachte: In Minerva erkannte er den Sieg der Wahrheit und der Religion; im Philosophen eine symbolische Repräsentation des Gewissens; im Bürgermeister Jan Six eine Auseinandersetzung zwischen Welt und Denken oder auch zwischen Leib und Geist; und in Samson oder Danae die Auseinandersetzung des Menschen mit der Gnade Gottes. So erblickte er in Rembrandts Kunst einen mystischen Prozess, der dank des Lichtes das Wirkliche in das Symbolische hineinversetzt. Und zwar ermöglicht das Licht den Übergang von der Welt der Sinne zur Welt des Geistes, vom Leib zur Seele und vom Irdischen zum Überirdischen: Il s’agit de la lumière qui pour lui est comme la sève, et le support à la fois et l’émanation de la pensée. Comme il a aimé la lumière! Comme il en a compris le jeu et les intentions, ces écrans qui s’ouvrent et qui se ferment de tous côtés dans le ciel, cette inclination solennelle du rayon qui vient visiter, parcourir, étudier notre domicile intérieur et notre propriété de réflexion!42

Im plastischen Licht des rembrandtschen Helldunkels sticht die Allusion von der Illusion, das Göttliche von dem Menschlichen umso klarer hervor. In seinem ästhetischen Diskurs wiederum hob sich der Dichter und Gläubiger Claudel von dem Kunsthistoriker und -philosophen ab. Der Claudel-Spezialist Michel Lioure formuliert es prägnant: Claudel applique donc en critique d’art ses méthodes exégétiques. Épris de symbolisme et de spiritualité, il ›écoute‹ les tableaux comme il ›interroge‹ l’Apocalypse ou le Cantique des Cantiques. […] Partout il subordonne ou sacrifie le signifiant au signifié, le sens littéral au sens figuré, la lettre à l’esprit, l’image au symbole.43

Im Mittelpunkt unserer Untersuchung stand also die Sakralisierung Rembrandts, die mit der Entwicklung der Kunstreligion verknüpft ist, sich aber auch außerhalb dieses Rahmens beobachten lässt. Es ist gewiss nicht üblich, dass man den Begriff ›Kunstreligion‹ in die Kulturgeschichte Frankreichs einordnet; man sieht jedoch, dass auch französische Denker Rembrandts sakrale Machtwirkung zu ergründen suchten. Dies besagt im Grunde zweierlei: Die kultische Verehrung Rembrandts ist nicht unbedingt ein kulturgeschichtliches Korrelat des kunstreligiösen Anspruches der Romantik oder des Jugendstiles (sie mag es bei manchen Autoren sein, setzt aber ein künstlerisches Wunder voraus, ja eine Wirkungsmacht, die _____________ 41 42 43

Claudel, Paul: Introduction à la peinture hollandaise; in: Claudel, Paul: Morceaux choisis. Textes réunis par Robert Mallet. Paris 1956, S. 271-276, hier S. 274. Claudel: Introduction à la peinture hollandaise (Anm. 41), S. 275. Lioure, Michel: Claudel et la critique d’art; in: Paul Claudel 12: Claudel et l’art. Textes réunis par Jacques Petit. Paris 1978, S. 7-34, hier S. 32.

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Anne Chalard-Fillaudeau

über jedes Land und jede ideelle Konstellation hinausgeht); darüber hinaus ist die Kunstreligion weder eine Institution noch ein nationales Gebilde, sondern eine generelle Einstellung zur Größe und Unübertrefflichkeit der Kunst. Als solche findet sie, insbesondere in Deutschland, eine willkommene Illustration in Rembrandts Kunst und bietet dieser einen ideellen Hafen. Sie macht Rembrandt zur Projektionsfläche des Genies und begründet zugleich den Genie-Kult um Rembrandt. In dieser Hinsicht gilt es zu bemerken, dass noch im 20. Jahrhundert nicht wenige literarische, philosophische und kunstgeschichtliche Rembrandt-Arbeiten den kanonisierenden Vorstellungen des Künstlers als gottgleich Schaffender verhaftet waren, und dies gerade zu einer Zeit, als sich die auratischen Konzeptionen des Künstlertums und eine Tendenz zur Entsublimierung des Künstlers und des Kunstwerks gegenüberstanden. Das lässt folgenden Schluss zu: Als charismatische Figur der Schöpfer-Ideologien ist Rembrandt eine privilegierte Figur der Kunstreligion in Deutschland. Mehr noch steht er aber für das geheimnisvolle Wirkungspotential mancher Werke, die in Deutschland und Frankreich wie in anderen Ländern der Welt jene magische Kraft ausüben, die das Wort immer wieder anregt, ohne dass/eben weil sich ein/kein Schlüsselwort erfinden lässt.

Personenregister Adorno, Theodor W. (1903-1969) 156, 171, 174, 191, 280-283, 286, 289f., 292, 296, 316 Aischylos (525-456 v. Chr.) 329 Alexander VI. (d. i. Borgia, Rodrigo; 14311503) 126 Alighieri, Dante (1265-1321) 205, 295 Allendy, René Félix Eugène (1889-1942) 252 Andreas-Salomé, Lou (1861-1937) 266, 268 Andrian-Werburg, Leopold Freiherr von (1875-1951) 91 Anquetil-Dupperon, Abraham Hyacinthe (1731-1805) 47 Apollinaire, Guillaume (d. i. Wilhelm Albert Vladimir Apollinaris Kostrowitzki; 1880-1918) 261 Aquin, Thomas von (1225-1274) 139 Aristoteles (384-322 v. Chr.) 283 Asch, Schalom (1880-1957) 336 Auernheimer, Raoul (1876-1947) 106, 113 Augustinus (354-430 n. Chr.) 287 Bach, Johann Sebastian (1685-1750) 173 Bachofen, Johann Jakob (1815-1887) 233 Bahr, Hermann (1863-1934) 330 Balzac, Honoré de (1799-1850) 172 Barlach, Ernst (1870-1938) 7, 85, 137-146, 153f. Bataille, Georges (1897-1962) 261 Bauch, Kurt (1897-1975) 349 Baudelaire, Charles (1821-1867) 71f., 77, 201, 255, 280, 284-287, 289, 294f. Baumeister, Willi (1889-1955) 262 Baumgarten, Franz Ferdinand (1880-1927) 330 Becher, Johannes Robert (1891-1958) 84 Beckford, William (1760-1844) 255 Beethoven, Ludwig van (1770-1827) 168, 170f., 337, 351, 356 Behrens, Peter (1868-1940) 324f., 332 Benesch, Otto (1896-1964) 349

Benjamin, Walter (1892-1940) 7, 42, 52, 104, 279-288, 290-296 Benn, Gottfried (1886-1956) 20, 89, 256, 272 Berg, Alban (1885-1935) 161, 289 Berio, Luciano (1925-2003) 287 Bernays, Michael (1834-1897) 22f., 25-28 Bertram, Ernst (1884-1957) 205, 233 Biese, Alfred (1856-1939) 99 Bismarck, Otto von (1815-1898) 296, 351, 352 Blavatsky, Helena Petrowna (1831-1891) 150 Blei, Franz (1871-1942) 256, 330 Bloch, Ernst (1885-1977) 92 Bode, Wilhelm von (1845-1929) 347-349 Böhme, Jacob (1575-1624) 207, 209 Bohrer, Karl Heinz (*1932) 96f. Bonaparte, Napoleon (1769-1821) 126, 129, 296 Bourdieu, Pierre (1930-2002) 195 Bourget, Paul (1852-1935) 90 Brahm, Otto (1856-1912) 322, 324 Braque, Georges (1882-1963) 253f., 261f. Brecht, Bertolt (1889-1956) 51, 257, 280, 281-283, 291-294, 334 Brentano, Clemens (1778-1842) 15, 246 Brod, Max (1884-1968) 42, 55-57 Buber, Martin (1878-1965) 139 Burckhardt, Jacob Christoph (1818-1897) 233 Calderón de la Barca, Pedro (1600-1681) 333 Calvin, Johannes (1509-1564) 354f. Calvino, Italo (1923-1985) 288 Canetti, Elias (1905-1994) 51, 267 Cézanne, Paul (1839-1906) 152, 251, 256 Chagall, Marc (1887-1985) 85 Claudel, Paul (1868-1955) 341, 354, 356f. Cochran, Charles Blake (1872-1951) 330 Cohn, Alfred (d. i. Falk, Alfred; 18961951) 292f.

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Personenregister

Corinth, Lovis (1858-1925) 346 Correggio, Antonio da (1489-1534) 345 Craig, Gordon (1872-1966) 330 Culler, Jonathan (*1944) 22 Däubler, Theodor (1876-1934) 6, 79-81, 84-88 Davringhausen, Heinrich Maria (18941970) 85 Dawison, Bogumil (1818-1872) 321 Derleth, Ludwig (1870-1948) 124-127, 129f., 135, 228 Derrida, Jacques (1930-2004) 99 Dierx, Léon (1838-1912) 203 Dionysius Aeropagita (um 500 n. Chr.) 144 Dix, Otto (1891-1969) 80, 85 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (1821-1881) 267 Drilo, Kazimir (*1957) 215f., 218 Dürer, Albrecht (1471-1528) 345 Dujardin, Édouard (1861-1949) 73-77, 213f., 216 Dumesnil, Alfred (1821-1894) 356 Durkheim, Emile (1558-1917) 28 Eckhart (d. i. ›Meister Eck(h)art‹; um 1260-1328) 7, 139 Edschmid, Kasimir (1890-1966) 80, 85 Eichendorff, Joseph von (1788-1857) 15 Eidlitz, Walter (1892-1976) 159, 162, 166 Einstein, Carl (1885-1940) 6, 251-263 Engels, Friedrich (1820-1895) 281 Euklid (ca. 325-265 v. Chr.) 251 Faivre, Antoine (*1934) 207 Feuerbach, Ludwig (1804-1872) 5, 16, 19, 28, 33f., 38f., 62f., 69, 197 Ficker, Ludwig von (1880-1967) 265-267, 276 Fiore, Joachim von (um 1130-1202) 152 Fontane, Theodor (1819-1898) 37, 128 Freud, Sigmund (1856-1939) 175, 195 Freytag, Gustav (1816-1895) 25f., 32 Friedemann, Heinrich (d. i. Schweichel, Georg Julius Robert; 1821-1907) 233, 235f. Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen (1795-1861) 16

Frisch, Ephraim (1873-1942) 108, 336 Fromentin, Eugène (1820-1876) 356 Frommel, Wolfgang (1902-1986) 207, 214 Fuchs, Eduard (1870-1940) 280 Fuchs, Georg (1868-1949) 325, 330 Fulda, Ludwig (1862-1939) 322 Gadamer, Hans-Georg (1900-2002) 101, 195, 233 Gauchet, Marcel (*1946) 5 Geddes, Norman Bel (1893-1958) 336 George, Stefan Anton (1868-1933) 6, 46, 84, 124-126, 128, 135, 185-187, 193, 196-210, 212-214, 218, 220-225, 227233, 235, 237f., 247f., 249 Goebbels, Joseph (1897-1945) 336 Göring, Hermann (1893-1946) 336 Goethe, Johann Wolfgang (1749-1832) 13, 39, 150, 207, 209, 230, 248, 292, 294, 296, 337, 342 Goll, Yvan (d. i Isaac Lang; 1891-1950) 256 Gottschall, Rudolf (1823-1909) 25 Gris, Juan (d. i. José Victoriano GonzálezPérez; 1887-1917) 253f. Grosz, George (1893-1959) 85 Gulbransson, Olaf (1873-1958) 80 Gundolf, Friedrich Leopold (1880-1931) 187, 189, 191, 208-214, 218, 220, 224, 230, 233, 235, 237 Haas, Willy (1891-1973) 42 Händel, Georg Friedrich (1685-1759) 170 Hauff, Wilhelm (1802-1827) 13 Hauptmann, Gerhart (1862-1946) 332 Hausmann, Raoul (1886-1971) 259 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (17701831) 5, 8, 185f., 188, 195-198, 200, 209f., 215-217, 218f., 223, 235, 285, 290, 299-302, 313, 316, 319f., 342f., 345 Heidegger, Martin (1889-1976) 7, 103, 187f., 195-198, 200, 202, 207, 209, 215, 223f., 299, 302-320, 346 Heine, Heinrich (1797-1856) 269f. Held, Berthold (1868-1931) 329, 332 Hellingrath, Norbert von (1888-1916) 314 Herder, Johann Gottfried (1744-1803) 292 Herzfelde, Wieland (1896-1988) 84 Heym, Georg (1887-1912) 6, 239-251, 277

Personenregister Hinkel, Hans (1901-1960) 336 Hitler, Adolf (1889-1945) 336 Hölderlin, Friedrich (1770-1843) 7, 192, 195-197, 200, 207, 209, 212, 219, 222f., 242, 246, 271f., 275, 278, 299, 302-315, 317-320 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776-1822) 169f., 182 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 6f., 86f., 89-92, 94f., 97-109, 111-119, 130, 2259, 327, 332f., 335 Horkheimer, Max (1895-1973) 279, 282, 291 Hotho, Heinrich Gustav (1802-1873) 353 Huillet, Danièle (1936-2004) 179 Jacob, Max (1876-1944) 261 Jaeger, Werner (1888-1961) 232 James, Henry (1843-1916) 11f., 29f. James, William (1842-1910) 30 Jessner, Leopold (1878-1945) 335 Jochmann, Carl Gustav (1789-1830) 280 Joyce, James (1882-1941) 74f. Kafka, Franz (1883-1924) 7, 41f., 51-57, 271 Kahane, Arthur (1872-1932) 323f. Kahler, Erich von (1885-1970) 233 Kahnweiler, Daniel-Henry (1884-1979) 252f., 255-257, 260, 262 Kainz, Josef (1858-1910) 322, 330 Kandinsky, Wassily (1866-1944) 6f., 85, 137f., 146-154, 174, 178 Kant, Immanuel (1724-1804) 342 Kantorowicz, Ernst Hartwig (1895-1963) 205, 223, 225, 233 Karlauf, Thomas (*1955) 193f., 227 Kazantzakis, Nikos (1883-1957) 269 Keller, Gottfried (1819-1890) 33, 39 Kessler, Harry Graf von (1868-1937) 17 Kierkegaard, Søren (1813-1855) 51 Klages, Ludwig (1872-1956) 92, 124, 228 Klee, Paul (1879-1940) 85, 87, 260, 297 Köselitz, Heinrich (1854-1918) 47 Kolloff, Eduard (1811-1879) 346 Kramář, Vincenc (1877-1960) 256f. Kraus, Karl (1874-1936) 92, 267, 272, 277, 278, 282 Kristeva, Julia (*1941) 181

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Kronberger, Maximilian (1888-1904) 199, 227 Lachmann, Karl (1793-1851) 23f. Landauer, Gustav (1870-1919) 92 Landmann, Edith (1877-1951) 233 Langbehn, Julius (1851-1907) 341, 351, 354 Lautenschläger, Karl (1843-1906) 328 Leiris, Michel (1901-1990) 261 Lenz, Friedrich Walter (1896-1969) 135 Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781) 23 Müller, Adam (1779-1829) 14 Lesskow, Nikolai (1831-1895) 280 Lévi, Éliphas (d. i. Constant, AlphonseLouis; 1810-1875) 207 Levi, Primo (1919-1987) 295 Lewin, David (1933-2003) 158 Loewenson, Erwin (1888-1963) 247-249 Ludwig II., König von Bayern (1845-1886) 67 Ludwig, Otto (1813-1865) 25 Luhmann, Niklas (1927-1998) 22, 28, 90, 194 Luther, Martin (1483-1546) 126, 341, 352, 354 Mach, Ernst (1838-1916) 95, 164, 258 Macke, August (1845-1904) 85 Mahler, Gustav (1860-1911) 295 Mallarmé, Stéphane (1842-1898) 73, 90, 164, 185-187, 191f., 199-205, 208212, 214-224, 255, 285, 292f., 296 Mann, Klaus (1906-1949) 193 Mann, Thomas (1875-1955) 6, 121-126, 128-133, 135, 222 Mann, Viktor (1890-1949) 125, 129 Marc, Franz (1880-1916) 85, 148 Martin, Karl Heinz (1886-1948) 335 Marx, Karl (1818-1883) 16, 281, 287, 291 Masson, André (1896-1987) 260 Mauclair, Camille (d. i Faust, Séverin; 1872-1945) 215 Mauthner, Fritz (1849-1923) 92, 99 Mendelssohn, Francesco von (1901-1972) 339 Miró, Joan (1893-1983) 260 Mommsen, Theodor (1817-1903) 34

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Personenregister

Morice, Charles (1860-1919) 204, 205 Motte Fouqué, Friedrich de la (1777-1843) 107 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) 107 Munch, Edvard (1863-1944) 85 Musil, Robert (1880-1942) 265, 270, 274276 Natorp, Paul (1854-1924) 232 Neumann, Carl (1860-1934) 350-352, 355 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 41f., 4749, 56f., 114, 124, 126, 139, 189, 241, 243, 269, 279, 284f., 305 Nilson, Einar (1881-1964) 329, 333 Nolde, Emil (1867-1956) 346 Nono, Luigi (1924-1990) 180 Nordau, Max (1849-1923) 189 Novalis (d. i. Hardenberg, Friedrich Leopold von; 1772-1801) 93, 109, 164, 169, 191, 222, 246, 270, 296 Otto, Rudolf (1869-1937) 31, 261 Otto, Walter Friedrich (1874-1958) 206 Oppenheim, Gabriele Freifrau von (19021988) 116 Palestrina, Giovanni Pietro Aloisio Sante da (ca. 1525-1594) 168f. Pannwitz, Rudolf (1881-1969) 105-109, 111-113, 116, 118 Paulhan, Jean (1884-1968) 261f. Paumgartner, Bernhard (1887-1971) 333 Picasso, Pablo (1881-1973) 252-254, 256f., 260, 263, 268 Pinthus, Kurt (1886-1975) 84 Piper, Reinhard (1879-1953) 137, 146, 154 Piscator, Erwin (1893-1966) 335 Planck, Max (1858-1947) 332 Platon (ca. 427-ca. 347 v. Chr.) 227, 230, 232-237, 242, 305 Plotin (ca. 205-270 n. Chr.) 207 Poel, William (1852-1934) 330f. Ponnelle, Jean-Pierre (1932-1988) 158 Proust, Marcel (1871-1922) 290 Raffael (d. i. Raffaello Santi/Sanzio da Urbino; 1483-1520) 345 Raphael, Max (1889-1952) 354

Raynal, Maurice (1884-1954) 261 Reinhardt, Max (d. i. Goldmann, Maximilian; 1873-1943) 8, 321-339 Rembrandt, Rijn van (1607-1669) 6f., 341358 Renan, Ernest (1823-1892) 224 Reventlow, Gräfin Franziska zu (18711918) 127 Reventlow, Theodor Graf zu (1801-1873) 39 Rilke, Rainer Maria (d. i. René Karl Wilhelm Johann Josef; 1875-1926) 6f., 43f., 47, 84, 265-278 Rimbaud, Arthur (1854-1891) 84, 90, 258, 272 Ritschl, Albrecht Benjamin (1822-1889) 15, 18 Robespierre, Maximilien Marie Isidore de (1758-1794) 126 Rosenberg, Adolf (1850-1906) 348 Rudolph, Niels Peter (1940-1998) 158 Ruge, Arnold (1802-1880) 16 Rust, Bernhard (1883-1945) 336 Said, Edward (1935-2003) 54 Saint-Simon, Henry de (1760-1825) 16 Salmon, André (1881-1969) 261 Savonarola, Girolamo (1452-1498) 126, 267 Schaukal, Richard (1874-1942) 124 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775-1854) 149, 219, 292, 301, 342345 Scherer, Wilhelm (1841-1886) 22, 24, 33, 36 Schiller, Friedrich (1759-1805) 17, 122, 284, 292, 300, 342 Schlegel, August Wilhelm (1776-1845) 11, 216 Schlegel, Carl Wilhelm Friedrich (17721829) 14, 168f., 186, 216, 220, 344, 345 Schlegel, Dorothea (1764-1839) 15 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768-1834) 5f., 168, 185-188, 191, 209, 211, 218, 235 Schmidt, Erich (1853-1913) 33, 35f., 39 Schönberg, Arnold (1874-1951) 6f., 151, 155-163, 165f., 168, 171-179, 181183, 289

Personenregister Schoeps, Hans Joachim (1909-1980) 42 Scholem, Gershom (1897-1982) 51-53, 283f., 296 Schopenhauer, Arthur (1788-1860) 170f., 173, 235, 242 Schuler, Alfred (1865-1923) 124, 228 Schwitters, Kurt (1887-1948) 259 Scorsese, Martin (*1942) 269 Shakespeare, William (1564-1616) 328, 351 Simmel, Georg (1858-1918) 347, 355 Slevogt, Max (1868-1932) 346 Sokrates (um 469-399 v. Chr.) 41, 48 Sonnenthal, Adolf Ritter von (ca. 18321909) 321 Sorma, Agnes (1862-1927) 322 Staiger, Emil (1908-1987) 26, 35 Stauffenberg, Claus Philipp Maria Graf Schenk von (1907-1944) 224f. Steiner, George (*1929) 89-91, 97, 99, 101, 103 Steiner, Rudolf (1861-1925) 139, 150 Stern, Ernst Julian (1876-1954) 331 Stockhausen, Karlheinz (1928-2007) 180 Storm, Theodor (1817-1888) 11f., 19, 28, 32-36, 38f. Straub, Jean-Marie (*1933) 179 Strauss, Richard (1864-1949) 105 Swedenborg, Emanuel (1688-1772) 172 Tacitus, Publius Cornelius (um 56-115 n. Chr.) 26 Taylor, Charles (*1931) 15, 18, 301 Teresa von Avila (d. i. Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada; 1515-1582) 26 Thimig, Helene (d. i. Reinhardt, Helene; 1889-1974) 327, 328 Thurn und Taxis, Marie von (d. i. Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, Marie Prinzessin zu; 18551934) 266, 268, 270 Tieck, Johann Ludwig (1773-1853) 160, 164, 168f., 173 Trakl, Georg (1887-1914) 9, 253-257, 259266, 283 Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch (1840-1893) 176 Valentiner, Wilhelm Reinhold (1880-1958) 336

363

Valéry, Paul (1871-1945) 275 Vallentin, Berthold (1877-1933) 201, 233, 235 Verwey, Albert (1865-1937) 135, 199 Villiers de l’Isle-Adam, Jean-MarieMathias-Philippe-Auguste comte de (1838-1889) 186 Vischer, Friedrich Theodor (1807-1887) 17f. Vollmoeller, Karl (1848-1922) 329 Wackenroder, Wilhelm Heinrich (17731798) 160, 164, 168f., 173, 181 Wagner, Richard (1813-1883) 6f., 46f., 5977, 122f., 126, 128, 131, 135, 156, 159, 161, 170f., 173, 176, 179, 186, 211, 220 Weber, Max (1862-1920) 188, 191-193, 195, 209, 233 Weill, Kurt (1900-1950) 336 Weininger, Otto (1880-1903) 274 Weisgal, Meyer Wolf (1894-1977) 336 Wencelius, Léon (1900-1971) 341, 354-356 Werfel, Franz (1890-1945) 336 Werner, Friedrich Ludwig Zacharias (1768-1823) 15 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (1848-1931) 232, 332 Wilder, Thornton (1897-1975) 338 Winckelmann, Johann Joachim (17171768) 235 Winds, Adolf (1855-1927) 328f. Wittgenstein, Ludwig (1889-1951) 92, 139, 165f., 172, 259, 265-267, 277f. Wolf, Friedrich August (1759-1824) 21 Wolfskehl, Karl (1869-1948) 124, 209f. Wolters, Friedrich (1876-1930) 187, 202, 206, 208-210, 233-236 Wyzéwa, Téodore de (1863-1917) 73f. Zickel, Martin (1877-1932) 323

Autorinnen und Autoren PD Dr. Bernd Auerochs, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Anne Chalard-Fillaudeau, Université de Paris VIII, Saint-Denis Prof. Dr. Alessandro Costazza, Università degli Studi di Milano PD Dr. Christoph Deupmann, Universität Karlsruhe (TH) Dr. Davide Di Maio, Università degli Studi di Palermo Dr. Cristina Fossaluzza, Universität Kassel Dr. Laure Gauthier, Université de Reims Champagne-Ardenne Dr. Lars Korten, Freie Universität Berlin Dr. Giancarlo Lacchin, Università degli Studi di Milano PD Dr. Fabian Lampart, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Gérard Laudin, Université de Paris − Sorbonne Dr. Ludwig Lehnen, EA 3556 REIGENN, Paris − Sorbonne Prof. Dr. Liliane Meffre, Université de Bourgogne, Dijon Prof. Dr. Albert Meier, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Markus Ophälders, Università degli Studi di Milano Dr. Moira Paleari, Università degli Studi di Milano Dr. Stefania Sbarra, Università Ca' Foscari Venezia Dr. Alberto L. Siani, Università di Pisa Dr. Marielle Silhouette, Université de Paris Ouest Nanterre La Défense Dr. Gerald Stieg, Université de Paris – Sorbonne Nouvelle Prof. Dr. Claudia Stockinger, Georg-August Universität Göttingen