Intermediales Spiel im Film: Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik [1. Aufl.] 9783839415207

Seit den Anfängen der Filmgeschichte wird der Film als hybrides Medium wahrgenommen, in dem interessante intermediale Ko

168 37 9MB

German Pages 230 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Intermediales Spiel im Film: Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik [1. Aufl.]
 9783839415207

Table of contents :
INHALT
Einleitung: Zur Entstehung einer neuen Filmästhetik – Intermedialität und mediales Spiel
1. Erscheinungsformen und Ästhetik der Intermedialität im Film
2. Die ‚Wiederkehr‘ des Buchs und der Schrift im Spielfilm. 1985-2010
2.1 Konjunktur und Verbreitung des intermedialen Phänomens – Formen und Funktionen in ausgewählten Filmbeispielen
2.2 Die Bibliothek als kriminalistischer Schauplatz – Jean-Jacques Annauds DER NAME DER ROSE als Prototyp einer detektivischen Zeichenlektüre
3. Konstellationen des ‚Dazwischen‘ im Kinofilm der Gegenwart: Medienwechsel und Grenzgänge zwischen Literatur – Theater – Film
3.1 Wechselspiel der Medien und kulturanthropologische Perspektiven
3.2 Der Ort der Bücher im ‚Zwischenraum‘ von Theater und Film: Peter Greenaways PROSPERO’S BOOKS (1991)
3.2.1 Prospero, der Herr der Medien
3.2.2 Die verborgene Anatomie der Bücher
3.2.3 Theatralische Strukturen und Raumentwürfe
3.3 SHAKESPEARE IN LOVE – theatrale Räume und filmische Mise-en-scène
3.4 Der Film als Kryptogramm – THE DA VINCI CODE oder Dechiffrierung des Geheimen zwischen Mythos und Profanierung
4. Die ‚gefilmte‘ Stimme – Gérard Corbiaus FARINELLI – IL CASTRATO (1994)
4.1 Das Farinelli-Projekt
4.2 Farinelli im Spannungsfeld zwischen barocker Thetralik und modernem Psychogramm des Sängers
4.3 Die Produktion der imaginären Stimme
4.4 Zwischen Romantik und Barock – Corbiaus Synthese zweier unterschiedlicher Musikkonzepte
4.5 Funktionen der Intermedialität in FARINELLI
5. Peter Jacksons Filmtrilogie THE LORD OF THE RINGS – ein Klassiker der fantastischen Literatur und ‚Kultbuch‘ gelangt ins Kino
5.1 Der Kinotrailer: Flammende Schriftzeichen und bewegte Bilder
5.2 Die Rätselschrift von Moria
5.3 Die Sprachen des Fantastischen – Mythische Sprachenvielfalt in ‚Mittelerde‘
5.4 Filmbilder und Buchillustrationen, Bildzitate und historische Kunststile
5.5 Digitalisierung des Mythos: Film und Computer
6. Ausblick: Ludische Filmästhetik – zur Ausdifferenzierung neuer Zuschauerrollen und filmischer Subgenres
Literaturverzeichnis

Citation preview

Annette Simonis Intermediales Spiel im Film

Annette Simonis (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Neuere deutsche Literatur an der JustusLiebig-Universität Gießen.

Annette Simonis Intermediales Spiel im Film. Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Book of magic fire«, © frenta/Fotolia.com Lektorat & Satz: Anette Simonis Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1520-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung: Zur Entstehung einer neuen Filmästhetik – Intermedialität und mediales Spiel 9

1. Erscheinungsformen und Ästhetik der Intermedialität im Film 21

2. Die ‚Wiederkehr‘ des Buchs und der Schrift im Spielfilm. 1985-2010 47 2.1 Konjunktur und Verbreitung des intermedialen Phänomens – Formen und Funktionen in ausgewählten Filmbeispielen

50 2.2 Die Bibliothek als kriminalistischer Schauplatz – Jean-Jacques Annauds DER NAME DER ROSE als Prototyp einer detektivischen Zeichenlektüre

64

3. Konstellationen des ‚Dazwischen‘ im Kinofilm der Gegenwart: Medienwechsel und Grenzgänge zwischen Literatur – Theater – Film 77 3.1 Wechselspiel der Medien und kulturanthropologische Perspektiven

77

3.2 Der Ort der Bücher im ‚Zwischenraum‘ von Theater und Film: Peter Greenaways PROSPERO’S BOOKS (1991)

84 3.2.1 Prospero, der Herr der Medien

89 3.2.2 Die verborgene Anatomie der Bücher

96 3.2.3 Theatralische Strukturen und Raumentwürfe

99 3.3 SHAKESPEARE IN LOVE – theatrale Räume und filmische Mise-en-scène

103 3.4 Der Film als Kryptogramm – THE DA VINCI CODE oder Dechiffrierung des Geheimen zwischen Mythos und Profanierung

115

4. Die ‚gefilmte‘ Stimme – Gérard Corbiaus FARINELLI – IL CASTRATO (1994) 129 4.1 Das Farinelli-Projekt

130 4.2 Farinelli im Spannungsfeld zwischen barocker Thetralik und modernem Psychogramm des Sängers

135 4.3 Die Produktion der imaginären Stimme

147 4.4 Zwischen Romantik und Barock – Corbiaus Synthese zweier unterschiedlicher Musikkonzepte

156 4.5 Funktionen der Intermedialität in FARINELLI

162

5. Peter Jacksons Filmtrilogie T HE LORD OF THE RINGS – ein Klassiker der fantastischen Literatur und ‚Kultbuch‘ gelangt ins Kino 165

5.1 Der Kinotrailer: Flammende Schriftzeichen und bewegte Bilder

172 5.2 Die Rätselschrift von Moria

176 5.3 Die Sprachen des Fantastischen – Mythische Sprachenvielfalt in ‚Mittelerde‘

182 5.4 Filmbilder und Buchillustrationen, Bildzitate und historische Kunststile

190 5.5 Digitalisierung des Mythos: Film und Computer

207

6. Ausblick: Ludische Filmästhetik – zur Ausdifferenzierung neuer Zuschauerrollen und filmischer Subgenres 217

Literaturverzeichnis 221

Einleitung: Zur Entstehung einer neuen Filmästhetik – Intermedialität und mediales Spiel In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich der Spielfilm ungeachtet der oberflächlichen Kontinuität vieler erfolgreicher Subgenres nachhaltig verändert. Unter den zu beobachtenden Verschiebungen erscheint vor allem eine neuartige Faszination durch intermediale Konstellationen signifikant und symptomatisch. Auch im Mainstream-Kino sind die Integration von anderen Medien in das filmische Medium und die ästhetische Gestaltung der sich daraus ergebenden intermedialen Beziehungen inzwischen keine Seltenheit. Das Phänomen einer ‚Wiederkehr der alten Medien in den neuen‛ äußert sich in einer weitreichenden filmischen Erkundung von Buch, Schrift, Theater, Oper, Musik, Gemälde und Fotografie in neueren Kinoproduktionen, die sich auch an ein breites Massenpublikum richten.1 Auch die Überlagerung von verschiedenen digitalen Medien wie z.B. dem Film und dem Hypertext oder dem Computerspiel erweist sich kinoästhetisch als äußerst produktiv.2 Die Wirksamkeit und der Reiz des Intermedialen beruhen sicher zu keinem geringen Teil auf den Spannungen und Überlagerungen zwischen den verschiedenen Medientypen, den Konstellationen des ‚Dazwischen‛,

1

Vgl. z.B. LE NOM DE LA ROSE (1986), LOVE LETTER (1995), SHAKESPEARE (1998), THE NINTH GATE (1999), DAS PHANTOM DER OPER (2004), MOULIN ROUGE (2001), PROSPERO'S BOOKS (1991), DIE SIEBENTE SAITE (1991), GIRL WITH A PEARL EARRING (2003), THE LETTER / JOD MAI RAK (2004), THE DA VINCI CODE (2006), THE MAGIC FLUTE / DIE ZAUBERFLÖTE (2006), NIGHTWATCHING (2007), LETTRE D’UNE INCONNUE (2007), BECOMING JANE (2007), TINTENHERZ / INKHEART (2008), REMBRANDT'S J’ACCUSE (2008) u.a. Vgl. auch Rainer Leschke und Jochen Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. Vgl. ferner Jan Distelmeyer: Spielräume. Videospiel, Kino und die intermediale Architektur der Film-DVD. In: Rainer Leschke und Jochen Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. S. 389-416. IN LOVE

2

9

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

die den Zuschauer anregen bzw. kognitiv und intellektuell herausfordern. Darüber hinaus liegt die ästhetische Attraktivität intermedialer Gefüge auch in den mit ihnen verbundenen Möglichkeiten, mediale Formen hervorzuheben und zu modellieren. Denn Intermedialität führt meist zu einer Betonung der Differenz zwischen den Medien und – damit verbunden – zu einer Profilierung der jeweiligen Spezifik und Besonderheit der beteiligten Medien.3 Roloff spricht zu Recht von der „Fragilität“ eines „Begriffs, der als solcher Heterogenes nicht zusammenführt, sondern Zwischenräume, Passagen, Vernetzungen, Diskontinuität, Kontingenz und Bruchstellen verdeutlicht.“4 Desweiteren wird die Überlagerung und Interferenz von Medien häufig von einer Tendenz zur Selbstreferentialität begleitet, die von der Regie in unterschiedlichem Maße genutzt und markiert werden kann. Interessanterweise handelt es sich bei den intermedialen Spielarten des Films nicht um ein Phänomen, das auf Filme neoavantgardistischer Regisseure wie Peter Greenaway beschränkt bliebe.5 Die Beobachtung und Erkundung von Medienüberlagerungen und -interferenzen haben längst Eingang ins Mainstream-Kino gefunden und entbehren auch dort nicht der besonderen Modellierung. Im Gegenteil: Sie erreichen auch im massenattraktiven Film wie in Hollywoodproduktionen eine beachtliche Komplexität und Differenziertheit, auch wenn diese auf Seiten der Regie möglicherweise unbewusst bleibt. In der neueren filmwissenschaftlichen Forschung werden die 1990er Jahre als eine Phase des Umbruchs und Neubeginns im Mainstream-Kino charakterisiert, was sich besonders an der erhöhten Komplexität des filmischen Erzählens, dem Zurücktreten der Handlungsstruktur und der Erprobung neuartiger narrativer Modelle zeige. Der Plot habe, wie eine neuere Studie treffend diagnostiziert, „seine imperative Kraft“ verloren zugunsten attraktiver spielerischer und experimenteller Formen, die ge-

3

4

5

Vgl. Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 15-16. Volker Roloff: Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkung zu aktuellen Problemen. In: Intermedialität – Analog /Digital: Theorien, Methoden, Analysen, hg. Joachim Paech und Jens Schröter. München 2007. S. 15-30, hier S. 17. Vgl. zu Greenaways Ästhetik auch: Jens Eder: Oberflächenrausch: Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre. Münster: 2. Auflage 2008. 10

EINLEITUNG

genüber der narrativen Kohärenzstiftung in den Vordergrund treten.6 Rainer Leschke und Jochen Venus beobachten im genannten Zeitraum einen „signifikanten Formenwandel filmischen Erzählens“ und sprechen von einem Paradigmenwechsel, der sich auf allen Ebenen des Kinos (Narration – Inszenierung – Rezeption – Distributionsformen – Marketing) manifestiere.7 Als Ursache solcher nachhaltigen Veränderungen sei die „aufsehenerregende Karriere von Computerspielen“8, die eine Einführung hypertextueller Arrangements und „ludischer Räumlichkeit“9 in den Kinofilm begünstigt habe, zu nennen. Auch Warren Buckland diagnostiziert eine erhöhte Komplexität im Kino der 1990er Jahre und der Gegenwart, die zu einer Hochkonjunktur von undurchsichtigen und rätselhaften Plotstrukturen und zur Ausbildung eines neuen Genres des ‚Puzzle Films‘ geführt habe.10 Buckland zufolge hängt der Formenwandel filmischen Erzählens aufs engste mit einer gesteigerten Opazität und Fragmentarisierung der Alltagserfahrung zusammen, die es erforderlich mache, dass im Film nach Repräsentationsmustern für radikal neue Erfahrungen und Identitäten gesucht werde. Die genannte These vermag allerdings nicht zu erklären, warum puzzle films und mind game movies11 erst in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem verbreiteten Kinophänomen avanciert sind, während Ambiguität und Ganzheitsverlust seit dem Beginn der Moderne geläufige lebensweltliche Erfahrungen bilden, die lange vor der Erfindung des Films wirksam waren und die Filmgeschichte von Anfang an geprägt haben dürften. Daher ist es sinnvoll, die Motivation für den jüngst zu beobachtenden Formenwandel und möglichen Paradigmenwechsel im Film auf andere Ursachen und Anregungshorizonte zurückzuführen, die auf der Ebene sich verändernder kultureller Praktiken zu erkennen sind. Dazu gehören vor allem der fast selbstverständlich gewordene Umgang mit verschiedenartigen Medien (darunter alte und neue, analoge und digitale) und die 6

Rainer Leschke und Jochen Venus: Spiele und Formen. Zur Einführung. In: Leschke und Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. S. 6. 7 Ebd., S. 6. 8 Ebd., S. 7. 9 Ebd., S. 17. 10 Vgl. Warren Buckland: Introduction: Puzzle Plots. In: Buckland: Puzzle films: complex storytelling in contemporary cinema. Blackwell 2009. S. 112. Vgl. ferner: Wolfgang Bock: Medienpassagen: der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bielefeld 2006. 11 Thomas Elsaesser: The Mind Game Film. In: Warren Buckland: Puzzle films: complex storytelling in contemporary cinema. Blackwell 2009. S. 13-41. 11

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Einbindung einer erstaunlichen Medienvielfalt in die empirische Alltagserfahrung. Insbesondere die Phänomene des Medienwechsels und der Medienkombination sind integraler Bestandteil gegenwärtiger kultureller Kommunikationen und Kulturtechniken. Beobachter sind heutzutage darin geschult, komplexe mediale Relationen wahrzunehmen und in ihnen zu agieren. Sie vollziehen den schnellen Wechsel von einem zum anderen Medium intuitiv und häufig unbewusst. Ferner sind sie darin geübt, intermediale Formen zu erkennen und zu durchschauen. Während oft beklagt wird, dass die Lektürefähigkeit bei Schülern drastisch abnehme, ist komplementär dazu nahezu generationenübergreifend eine hohe Akzeptanz neuer und digitaler Medien wie Internet, Handykommunikation etc. zu verzeichnen. Damit verbindet sich ein erstaunlich breiter Zugang zu differenten, ständig wechselnden Medien in der Alltagskommunikation und Alltagspraxis. Dies erfordert zugleich eine erhöhte Beweglichkeit und Flexibilität im Umgang mit medialer Dynamik, um die medialen Transformationen und die gesteigerte Medienkomplexität schnell zu durchschauen und handhaben zu können. Somit ist generationenübergreifend mit einem wachsenden know how der Mediennutzer und einer Fähigkeit zu rechnen, die man – in Anlehnung an die linguistische Rede von den Sprecherintuitionen – als vertiefte mediale Intuition bezeichnen könnte. Erst vor der Folie der skizzierten Veränderungen kann sich eine neuartige Kinoästhetik herausbilden und auf breitere Akzeptanz stoßen, eine Filmästhetik, die ich als „Ästhetik der Intermedialität und des medialen Spiels“ bezeichnen möchte. In einem kulturellen Ambiente um 2000, in dem Medienwechsel, intermediale Spielarten der Kommunikation und die Beherrschung verschiedenster Medientechniken im Alltagsleben keine Seltenheit mehr sind, kann sich ein neueres Subgenre des Spielfilms entwickeln, das dahin tendiert, eine besondere Ästhetik des Intermedialen hervorzubringen und selbstreflexiv zu durchleuchten. Den Charakteren im Film gilt nur mehr vordergründig das Interesse des Kinopublikums, 12 dem es weit weniger um die Entwicklung und Psychologie der handelnden Figuren geht als um die Beobachtung subtiler medialer Gefüge und Schichtungen, welche die konventionellen Plotstrukturen aufbrechen und auflösen. Der Zuschauer wird zum ‚Medienbeobachter‘ und zum aufmerksamen Zeugen medienästhetisch reizvoller filmischer Konstrukte. Dies setzt eine erhöhte Beobachtungssubtilität

12 So auch Leschke und Venus, vgl.: Spiele und Formen. Zur Einführung. In: Leschke und Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. S. 8 und 12. 12

EINLEITUNG

voraus, eine Beobachtung höherer Ordnung, die weniger an den Inhalten selbst, sondern an der Art und Weise der Darstellung interessiert ist und nach dem „wie“ fragt. Entscheidend ist dabei, dass die Aktivität des Zuschauers stimuliert wird; die Filmstruktur wird zum Rätsel, das es zu lösen gilt, und zum intermedialen Spiel, an dem es zu partizipieren gilt. Während die Bedeutung der Filmhandlung als solche zurücktritt, gewinnt die Ebene des medialen Spiels, die sich gegenüber dem Filmgeschehen weitgehend verselbständigt hat, an Signifikanz: Die Zwischenräume zwischen den Medien entwerfen eine ludische Räumlichkeit, die das Interesse der Rezipienten diesseits oder jenseits der Filmnarration auf sich zieht. Jene ludische Komponente, die im neueren Film deutlicher denn je zuvor zu Tage tritt, umfasst eine spezifische medienanthropologische und mentalitätsgeschichtliche Dimension. Sie kann zudem als gemeinsamer Nenner und Brücke zwischen verschiedenartigen Medientypen fungieren,13 die unter anderem Film und Literatur14 miteinander verbindet. In dem Maße, in dem sich der moderne Medienbeobachter seit der frühen Neuzeit als homo ludens begreift, werden Texte, Bilder, Filme 13 Manuela Kocher und Michael Böhler diagnostizieren in jüngster Zeit einen signifikanten Übergang vom figurativen zum performativen Spielbegriff. Ästhetisch betrachtet zeichne sich „Internetliteratur weniger durch radikal neue literarische Textformen aus, als dass sie neue Schreib- und Lektüreweisen und ein neues Autor-Text-Leser-Verhältnis einführt“. (Manuela Kocher und Michael Böhler: Über den ästhetischen Begriff des Spiels als Link zwischen traditioneller Texthermeneutik, Hyperfiction und Computerspielen. http://computerphilologie.uni-muenchen.de/jg01/kocher-boehler.html 14 Zu den literarischen Ausprägungen des Spiels vgl. Thomas Anz: Literatur als Spiel. In: Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. S. 33-76 und Stefan Matuschek: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998 sowie Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2000. Vgl. auch die lesenswerte Rezension von Thomas Anz: Literaturtheorie als Spieltheorie. Aus Anlass neuerer Bücher zum Thema von Stefan Matuschek, Johannes Merkel und Ruth Sonderegger. In: literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und für Kulturwissenschaft 3/5 (2001). http://www.literaturkritik.de/welcomeneu.html?maifra=idx/archiv.html (eingesehen am 30.3.2010) Vgl. ferner: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte, hg. Thomas Anz und Heinrich Kaulen. Berlin/New York 2009 (Spektrum Literaturwissenschaft – Komparatistische Studien; Bd. 22). S. 323-335. 13

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

und deren Medienkombinationen nicht allein in ihren kulturell- kommunikativen Qualitäten, sondern auch in ihren spielerischen Möglichkeiten sichtbar und verfügbar. Die Funktion des Spielens kann dabei als integraler Bestandteil der humanen Veranlagungen und Fähigkeiten gedeutet15 oder als eine den Medien selbst latent eingeschriebene Disposition aufgefasst werden, die es nur mehr zu aktivieren gilt. Der Filmrezipient wird insofern spielerisch tätig, als er in ein interaktives Spannungsfeld, das sich durch die medialen Überschneidungen konstituiert, einbezogen und implizit dazu aufgefordert wird, sich durch kognitive Prozesse der Kombination, des Rätselratens und Antizipierens zu beteiligen.16 Insbesondere die Unterbrechungen der Filmnarration durch intermediale Formen und die Implementierung anderer Medien in das Filmgeschehen generieren solche ludischen Freiräume und ästhetischen Spielfelder im Film. Die Ambitionen der gegenwärtigen Kinobesucher richten sich unter anderem darauf, in den Film implementierte Medientypen und ihre Wirkungsfelder (wieder) zu erkennen und die Genese spezifischer Effekte zu durchschauen. Das Inszenieren und Ausagieren von intermedialen Relationen im Film unterbricht oder überlagert den Handlungsverlauf und nimmt dabei spielerisch eine eigene Darbietungsform an, die den Zuschauer in ihren Bann zieht und eine ungewohnte Betrachtungsweise herausfordert. Mehr noch als bei den Puzzle Films und Mind Game Movies mit ihren komplizierten und undurchsichtigen Filmnarrationen sowie unvermuteten Plot Twists wird die Wahrnehmungssubtilität des Rezipienten nun beansprucht und letzterer in die Konstruktion eines intermedialen Spielfelds aktiv einbezogen. Welche spezifischen ästhetischen Möglichkeiten bieten die oben genannten Voraussetzungen – insbesondere im Blick auf die Genese einer neuartigen Filmästhetik? Der Film gilt bekanntlich seit jeher als hybrides Medium und steht daher selbstverständlich auch im Fokus neuerer Forschungsdiskussionen um Intermedialität. Vor dieser Folie wäre die Frage zu stellen, wie sich ästhetisch wirksame intermediale Strukturen von einer immer schon vorhandenen intermedialen bzw. hybriden Grundstruktur des Films überhaupt abheben und sichtbar werden können. Die Integration anderer Me15 Vgl. diesbezüglich die klassisch gewordene Studie von Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1939). Reinbek 1994. 16 Kocher und Böhler haben in ihrem Beitrag gezeigt, inwiefern schon die Rezeptionsästhetik eine im Prinzip interaktiv involvierte Leserrolle entworfen hat. Vgl. Manuela Kocher und Michael Böhler: Über den ästhetischen Begriff des Spiels als Link zwischen traditioneller Texthermeneutik, Hyperfiction und Computerspielen. http://computerphilologie.uni-muenchen. de/jg01/kocher-boehler.html. (eingesehen am 30.3.2010) 14

EINLEITUNG

dien in das Medium des Films scheint auf den ersten Blick nichts Besonderes. Daher wäre zu überlegen, welche Formen der künstlerischen Markierung oder Inszenierung filmischer Intermedialität sich finden und wie sich jene systematisch erfassen oder typologisch zuordnen lassen. Wann lässt sich, so wäre zu fragen, von medialer bzw. intermedialer Selbstreferenz sprechen? Wir haben es beim Phänomen der Intermedialität im Hybridmedium Film offenbar mit der Form eines Re-entry17 zu tun – eine künstlerisch gestaltete Form des Intermedialen tritt in eine bereits vorhandene intermediale Form – das so genannte Hybridmedium Film – ein. Einige Filme signalisieren schon durch die Wahl des Titels, welches Medium im Film besonders fokussiert wird, so z.B. Peter Greenaways PROSPERO’S BOOKS, in dem das Buch und die Schrift als eine Art Leitmedium ausgewiesen werden. In der Tat ist die (frühneuzeitliche) Buchkultur in Greenaways Film nicht allein ein zentraler thematischer Aspekt des Films, sondern sie wird darüber hinaus zum Ausgangspunkt einer komplexen Modellierung der Filmsequenzen mittels raffinierter Techniken der Cadrierung (Rahmung). Indem in jene vor der Kamera und vor den Augen des Betrachters aufgeblätterten Buchseiten Computersimulationen und andere Filmbilder integriert werden, kann sich eine komplexe und selbstreflexive Ästhetik des Intermedialen entfalten, die auf den Präsentationsmodus des Buchs und seine medialen Eigenschaften als wiederkehrenden Fluchtpunkt bezogen bleibt. In den hier diskutierten neueren Filmen kommt es nicht selten zu gleitenden Übergängen zwischen der diegetischen und der nicht-diegetischen Verwendung von Schrift im Film sowie zu einer spielerischen Überschreitung jener Grenze bzw. Differenz. In Corbiaus FARINELLI – IL CASTRATO wird im Titel der Name des legendären Kastratensängers genannt; entsprechend rücken hier die menschliche Stimme und der Gesang in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zugleich konnotiert der Filmtitel auch das Medium bzw. die kulturelle Institution der Barockoper, in dem der Mythos der übermenschlichen Stimmbegabung der Kastraten entstehen und sich eine zeitlang kulturell bewähren konnte. Corbiaus Film erkundet die Genese und Ausdrucksform der musikalischen Stimme im engen Zusammenspiel mit den kulturspezifischen theatralen Inszenierungen der Barockepoche. Hier werden also nahezu gleichwertig zwei unterschiedliche Medienty17 Zum Konzept des Re-entry, des Wiedereintritts der Form in die Form, und seinen mathematischen Grundlagen siehe auch George Spencer Brown: Laws of Form. New York 1979. S. 56-72. Vgl. ferner Dirk Baecker, Frank E. P. Dievernich, und Thorsten Schmidt (Hg.): Strategien der Organisation: Ressourcen – Strukturen – Kompetenzen. Wiesbaden 2004. S. 160. 15

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Es versteht sich, dass die ästhetischen Wirkungen intermedialer Spielformen sich auf verschiedensten Ebenen des Films äußern können, in der einzelnen Einstellung, den Bildsequenzen, der Montage, der Kameraführung, der Filmmusik etc. Häufig, wenn auch nicht immer, ist der Vorspann der bevorzugte Ort, an dem das Zusammenwirken und das Spannungsverhältnis der in den Blick genommenen Medien bereits voll entfaltet wird. Bezeichnenderweise umfasst der Vorspann zu SHAKESPEARE IN LOVE eine Kamerafahrt durch das elisabethanische Theatergebäude sowie Close-ups von der Feder und Handschrift des schreibenden Shakespeare. Eine entscheidende Rolle bei der Filmanalyse spielt stets die Frage nach der Markierung und filmischen Modellierung der beobachteten Medien, die mehr als nur Motive unter anderen sind. Von besonderem Interesse in unserem Diskussionszusammenhang sind Filme, die eine besondere analytische Durchdringung anderer Medienformen und / oder des eigenen Mediums leisten und die vornehmlich die Überlagerungen, Verbindungen und Transformationen von Medien in den Blick nehmen sowie die Dynamik der entstehenden Interferenzen verfolgen. Dort wo der Film im Rahmen eines intermedialen Gefüges auf sich selbst referiert, geschieht dies häufig nicht als bloße Selbstreferenz, sondern auch als Referenz auf den Film als ein anderes, unvertrautes Medium: So behandelt SHADOW OF THE VAMPIRE die Dreharbeiten zu dem berühmten Schwarz-Weiß-Film der Stummfilm-Ära NOSFERATU und bezieht keinen geringen Teil seiner Faszination aus dem Kontrast der eigenen Filmtechniken zu den damaligen, heute antiquiert wirkenden Apparaten und filmischen Utensilien. Intermediale Konstruktionen üben offensichtlich eine große Faszination auf zeitgenössische Regisseure aus. Dahinter mag auch der Traum des Regisseurs vom Film als Supermedium stehen, das alle anderen Medienformen in sich aufnimmt und in einer einmaligen Engführung überzeugend zusammenbringt. Die anderen, älteren Medien kommen, so die implizite Annahme, eigentlich erst im Film zu sich selbst, ohne dort überflüssig zu werden. Häufig wird in neueren Filmen die Konkurrenz der Medien in Szene gesetzt, etwa die Konfrontation zwischen alt und neu und der Wettkampf der Kunstformen (in der Tradition des Paragone18), die zu diversen

18 Der Ausdruck paragone leitet sich, seinem Hauptbestandteil nach, von dem griechischen Wort agon (=Wettstreit) her. Diese ursprüngliche Bedeutungskomponente fließt auch in die Semantik des neuzeitlichen paragone ein. 16

EINLEITUNG

Überbietungsstrategien führen. Hinzu kommt ein weiterer relevanter Gesichtspunkt, ein auffallender Aspekt der Fremdheit und Alterität: Die in den Film integrierten Medien erscheinen oft als das Andere, kulturell Fremde. Sie eröffnen mitunter einen deutlichen Gegensatz zu den filmeigenen Medienkomponenten. Die filmische Modellierung erzeugt nicht selten Distanz, sie zeigt das vertraute Medium wie durch einen ungewohnten Schleier – jene Implementierung im Film kann als Verfremdung und kühle Distanzierung wirksam werden, sie kann aber ebenso oft das Gewöhnliche und Alltägliche plötzlich mit der Aura des Außergewöhnlichen und Neuartigen umgeben. Die gefilmte Schrift erscheint im Modus intensivierter Sichtbarkeit und Leuchtkraft; sie begegnet uns außerhalb der automatisierten Alltagsverwendung und -beobachtung. Das im Film dargestellte Theater bietet uns zwar kaum jene dreidimensionale Räumlichkeit, in der die Bühnenpräsenz der Schauspieler uns unmittelbare Gegenwärtigkeit suggeriert, aber die flexible Kameraführung veranschaulicht mitunter eine unvermutete Dynamik des Schauspiels, die zugleich erhöhte Aufmerksamkeit einfordert. Schließlich führt die gezielte Aneignung intermedialer Formen zu einer bemerkenswerten Erweiterung des Films. Der Film überschreitet die Grenzen des eigenen Mediums und der kinematographischen Mittel, etwa indem er die theatrale Darbietung nicht nur mit flexibler Kamera kinematographisch nachvollzieht und erschließt, sondern darüber hinaus auch theatrale Präsentationsformen imitiert und in die eigene Darstellungsform integriert. Filme transzendieren auch dann den eigenen Medientyp, wenn sie sich Strukturen des Hypertextes aneignen oder dem Computerspiel annähern. Ein Beispiel dafür bietet Greenaways künstlerische Verwendung der Paint Box in der Postproduktion von PROSPERO’S BOOKS. Auf andere Weise macht sich SHAKESPEARE IN LOVE die Perspektive des Hypertexts zueigen. Der elisabethanische Theaterbau und die sich darin abspielende Aufführung von Romeo und Julia werden dem Zuschauer wie in einem Computerspiel präsentiert. Dieser Eindruck verdankt sich hauptsächlich einer besonderen Dynamik von Kameraführung, Schnitt und Montage. Entscheidend ist der rasche Perspektivenwechsel, der sprunghaft sämtliche Teilbereiche der historischen Theaterarchitektur einschließlich des Zuschauerraums und der Orte hinter der Bühne in den Blick nimmt. Der Zuschauer wird dabei Zeuge einer gewagten Beschleunigung des ‚Spiels im Spiel‘, indem Shakespeares zweistündiges Stück auf eine Dauer von ca. 20 Minuten komprimiert wird. Zur Geschichte und historischen Systematik des Paragone vgl. umfassend Ulrich Pfisterer: Artikel „Paragone“. In: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Tübingen 2003. Sp. 526-546. 17

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Nicht nur die Filmstrukturen selbst, auch der institutionelle Kontext und die zahlreichen Paramedien, die das Filmereignis begleiten oder ihm vorausgehen, sind mitunter entscheidend, wenn es darum geht, eine angemessene Einschätzung intermedialer Kinoästhetik zu erlangen. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür bietet Peter Jacksons spektakuläre Verfilmung von Tolkiens Roman Der Herr der Ringe. Wie bei keinem zweiten Film um die Jahrtausendwende wurden die Ankündigung und die Dreharbeiten zu Jacksons HERR DER RINGE (Teil 1) mehr als ein Jahr im Vorfeld durch Diskussionen und zahlreiche Informationen im Internet begleitet. Ein sich herauskristallisierender Schwerpunkt der Debatten war das Verhältnis der Verfilmung zur Buchvorlage, die seit Jahrzehnten den Status eines Kultbuchs innehat. Die Vorab-Präsentation von Filmmaterial im Internet führte zweifellos zu einem hohen Grad an Intermedialität zwischen Film(ausschnitten) und hypertextuellen Strukturen. Mehr noch interessiert in unserem Zusammenhang das intensiv diskutierte und stets von neuem in Szene gesetzte Verhältnis von Buch und Film. Bei Jacksons Tolkienverfilmung haben wir es mit einer kostspieligen massenattraktiven Filmproduktion zu tun, die von Anfang an implizit und explizit auf das Buch als Leitmedium bezogen ist. Die hohen Erwartungen der Tolkienfans und -leser und der immer wieder geäußerte Anspruch der ‚Werktreue‘ stellten offenbar die Weichen für eine ausgeprägte Selbstdarstellung von Peter Jackson und seiner Crew als eifrige Leser. Auch die auffallende Präsenz von Buch und Schrift im ersten Trailer und deren ästhetische Schlüsselrolle deuten in diese Richtung. Was im Film selbst nur noch in Spuren zu erkennen ist, wird in den Paratexten19 und zahllosen Parafilmen vom Genre des Making of ausgetragen, die nicht müde werden, den Vergleich zum Buch und die vollzogenen Transformationen aufzuzeigen. Im Film selbst spielen Schriftzeichen und Bücher zwar nur mehr eine untergeordnete, subkutane Rolle, aber deshalb keineswegs gänzlich zu vernachlässigende. Buch und Schrift werden in Jacksons Trilogie beispielsweise im Kontext einer für Tolkiens Mittelerde typischen Sprachenvielfalt verortet. Der ethnischen Pluralität korrespondiert im Film wie im Buch eine Vielzahl von Sprachen in schriftlicher und mündlicher Kommunikation. Dabei wird dem Kinobesucher sogar ein höherer Anteil an Dialogen in elbischer Sprache (mit englischen Untertiteln) zugemutet, als der Anteil an Elbisch in wörtlicher Rede im Text von Tolkiens Roman ausmacht.

19 Vgl. zu diesem Medientyp auch Alexander Böhnke: Paratexte des Films: über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld 2007. 18

EINLEITUNG

Das Layout der DVD-Menüs, vor allem der Special Edition, ist wiederum bezeichnend, denn es passt sich dem Buchmedium inklusive der Tolkienschen Schriftzeichen und Kartographie aufs Genaueste an. Die intermediale Dichte des Films setzt sich somit auf den Träger- und Verbreitungsmedien DVD und den austauschbaren MP3-Formaten weiter fort und wird durch letztere wirkungsvoll gefördert. Wenn im folgenden einige Filme als interessante und anregende Fallbeispiele für bestimmte intermediale Formentypen exemplarisch diskutiert werden (darunter DER NAME DER ROSE, PROSPERO’S BOOKS, SHAKESPEARE IN LOVE, FARINELLI, DA VINCI CODE, DER HERR DER RINGE), so war bei der Auswahl die Frage, ob der gewählte Film für einen spezifischen Typ filmischer Intermedialität, beispielsweise für die Integration des Buchs oder des Theaters in den Film, repräsentativ ist, ein entscheidendes Kriterium. Bei der angestrebten Typologie intermedialer Formen soll indes keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Unter den erwähnten Implementierungen und Modellierungen von anderen Medien im Film nimmt die Integration des Buchs und der Schrift eine Sonderstellung ein. Sie gewinnt eine besondere Brisanz im Kontext des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, der von Kulturwissenschaftlern als Schwellen- und Umbruchssituation gekennzeichnet wird. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts lasse sich eine Phase des Übergangs von der alteuropäischen und neuzeitlichen Schriftkultur zur Bildkultur beobachten, die mit den Stichworten pictorial turn oder visual turn benannt wird. Die Fokussierung des Buchs und der Schrift im visuell ausgerichteten Medium des Films nimmt eben jene Reibungen und Spannungen auf, die sich in der kulturellen Umbruchsituation abzeichnen und kontrovers verhandelt werden. Daher fokussiert die vorliegende Studie – nach einem ersten Kapitel über die grundsätzliche Bedeutung und mögliche Funktionen der Intermedialität im filmischen Medium – zunächst die Mise en scène der Buchund Schriftmedien im Film, ehe sie weiteren interessanten Formen einer intermedialen Filmästhetik, darunter Implementierungen von Theater, Gemälde, Stimme, Oper im Film, ihre Aufmerksamkeit schenkt.

19

1. Erscheinungsformen und Ästhetik der Intermedialität im Film Die Intermedialitätsforschung verzeichnet zur Zeit eine erstaunliche Konjunktur, die seit mehr als zehn Jahren intensiver Forschungsdiskussion kaum abgeflaut ist;1 zugleich sind die derzeitigen Forschungsfragen inzwischen bereits sehr differenziert, vielfältig und facettenreich: Neben Beiträgen zu den bedeutenden historischen Stationen intermedialer Kunstpraxis wie etwa zur Avantgarde, Neoavantgarde und Postmoderne entstehen ebenso relevante systematische Studien, die sich Aspekten der Semiotik und Medialität, der Differenz von Medium und Kunstform sowie den beteiligten Kunstformen und -genres in der ‚Medienlandschaft‛ und deren jeweiligen diachronen und synchronen Konfigurationen widmen.2 Überdies wird das Verhältnis von Medialität und Performanz verhandelt sowie die Frage nach der raum-zeitlichen Dimensionalität intermedialer Prozesse.3 In den letzten Jahren haben sich in den Kulturwissenschaften verschiedene miteinander konkurrierende Medienkonzepte herausgebildet, von denen einige strukturell oder semiotisch, andere kulturanthropologisch oder apparativ-technologisch ausgerichtet sind. Da 1

2

3

Davon zeugen aktuelle internationale und interdisziplinäre Symposien wie zum Beispiel die Konstanzer Tagung zum Thema „Untersuchungen zur Intermedialität – Explorations in Intermediality“, veranstaltet vom Fach Medienwissenschaft der Universität Konstanz vom 6. bis 8.April 2006. Vgl. besonders Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998; Claudia Liebrand, Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002; Günter Schnitzler, Edelgard Spaude (Hg.): Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten. Freiburg 2004; Joachim Paech: Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert. In: Knut Hickethier (Hg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Berlin 1989, S. 68-77; Reinhard Kargl: Wie Film erzählt. Wege zu einer Theorie des multimedialen Erzählens im Spielfilm. Frankfurt 2006; Michaela Mundt: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung. Tübingen 2000. Vgl. auch http://www.promotion-lit.uni-muenchen.de 21

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

die Pluralität der Medienbegriffe in der neueren Forschung irreduzibel erscheint, verwundert es nicht, wenn auch die Intermedialitätskonzeption entsprechend vielschichtig ist und kontrovers verhandelt wird. Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff der Intermedialität das Zusammenspiel verschiedener Medien (im Unterschied etwa zur Intertextualitätsforschung, die Überlagerungen und Vernetzungsvorgänge innerhalb eines Medientyps beobachtet), allerdings scheint es nicht so leicht, über den genannten Minimalkonsens hinaus, eine Definition zu finden, die bei den Vertretern der verschiedenartigen Forschungsrichtungen in der neueren Film-, Fernseh-, Medienwissenschaft, Informatik, Literatur- und Kulturwissenschaft gleichermaßen Akzeptanz fände. In der aktuellen Forschungsdiskussion wird der Ruf nach einem erweiterten Intermedialitätsbegriff laut, der es erlauben würde, die medialen Interferenzen, Transformationen und Vernetzungen nicht allein in formaler bzw. struktureller Hinsicht zu erfassen, sondern vielmehr ihre Einbettung in und Wechselwirkungen mit den gegebenen kulturellen Kontexten zu erforschen. Erst dann sei gewährleistet, die beteiligten genetischen, produktionsästhetischen und wirkungsgeschichtlichen Faktoren angemessen zu erkennen, um auf diese Weise auch UrsacheWirkungsbedingungen für intermediale Referenzen eruieren zu können. Josef Garncarz argumentiert in diesem Sinne: „Die Revision dieses Konzeptes zielt darauf ab, die Relationen, die auf Textebene zwischen verschiedenen Medien möglich sind, zu erweitern und darüber hinaus auch die Kontextebene einzubeziehen. Den Produktions-, Distributions- und Rezeptionskontext eines Mediums zu berücksichtigen, ist erforderlich, um beantworten zu können, warum sich Texte eines Mediums in einer bestimmten Art und Weise auf die eines anderen Mediums beziehen.“4 Ein erweitertes Konzept von Intermedialität hat den entscheidenden Vorteil, die kulturspezifischen Rahmenbedingungen intermedialer Prozesse bei der Analyse berücksichtigen und die jeweiligen kulturellen Implikationen solcher Vorgänge sichten zu können. In diesem Zusammenhang ist es nötig, die jeweiligen historischen Kontexte und intermedialen Entstehungsbedingungen bzw. Wechselwirkungen zu untersuchen, die zur Herausbildung neuer Medientypen geführt haben. Daher befürwortet Garncarz ein Intermedialitätskonzept, das nicht auf die formalästhetische Seite des medialen Zusammenspiels beschränkt bleibt: „Ich möchte in diesem Beitrag dafür plädieren, das Konzept der Intermedialität zu erweitern, um Fragen wie die eingangs gestellte beantworten zu

4

Joseph Garncarz: Vom Varieté zum Kino. Ein Plädoyer für ein erweitertes Konzept der Intermedialität. In: Jörg Helbig: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, S. 245. 22

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

können. Voraussetzung meiner Überlegung ist, daß das Konzept der Intermedialität als ein Mittel dienen soll, ein Wissen über das Zusammenspiel verschiedener Medien zu schaffen. Von Intermedialität kann man dann sprechen, wenn ein Medium (z.B. bei der Herausbildung einer eigenen kulturellen Identität oder einer spezifischen Präsentationsform) sich auf ein anderes Medium bezieht – auf welcher Ebene, in welcher Form und in welchem Maß dies auch immer der Fall ist.“5 Um die kulturelle Identität des Films, die sich im zwanzigsten Jahrhundert schrittweise herausbildete, sinnvoll zu beschreiben, sind die jeweils zeittypischen Vorführungsbedingungen, Produktion, Rezeption sowie der Präsentationsmodus, Drehorte und Aufführungsorte etc. in die Analyse produktiv mit einzubeziehen: „Im Zentrum des Forschungsinteresses steht somit z.B. nicht mehr nur der Film, sondern die gesamte Institution Kino, zu der der Aufführungsort ebenso gehört wie die Präsentationsform der Filme, der Bereich der Filmproduktion und -distribution und das Filmpublikum. Der Begriff Kino wird hier also in Anlehnung an den Begriff Theater verwendet, der seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr nur den Theaterbau oder das Drama, sondern das gesamte Theaterwesen bezeichnet.“6 Zweifellos erweisen sich die angedeuteten Erkenntnishorizonte, auf die Garncarz aufmerksam wird, als äußerst spannend und in der neueren kulturwissenschaftlichen Diskussion hochaktuell. Zugleich ist jedoch einzuräumen, dass es neben der kulturgeschichtlichen Verortung medialer Transformations- und Entstehungsprozesse zunächst auch um die Analyse der spezifisch formalästhetischen, stilistischen und medienpoetologischen Dimension intermedialer Phänomene geht, zumal letztere noch nicht hinreichend erfasst und beschrieben worden sind. Daher erscheint es nur berechtigt und erkenntnisfördernd, wenn viele neuere Medientheoretiker wie zum Beispiel Joachim Paech ihr Hauptaugenmerk auf die form- und medienästhetischen Gesichtspunkte intermedialer Vorgänge richten, um deren besondere Stileigenheiten und Gestaltungsformen zu beobachten. Auch wenn stets ein übergreifendes kulturspezifisches Koordinatensystem von Wechselwirkungen mit im Spiel ist, lohnt es sich, den Verlauf des Medienwechsels und des Intermedialen selbst zu fokussieren, da jener erst ansatzweise erforscht ist: „Es handelt sich bei den Analysen von Intermedialität jeweils um materiale Kulturanalysen der Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Theater, Fotografie und Film, d.h. es geht um viel mehr als eine Analyse des Medienwechsels

5 6

Joseph Garncarz: Vom Varieté zum Kino. Ein Plädoyer für ein erweitertes Konzept der Intermedialität. In: Jörg Helbig: Intermedialität, S. 245. Ebd., S. 245. 23

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

und der Intermedialität – die jedoch steht systematisch und theorieorientiert nach wie vor aus.“7 In Anlehnung an die Beiträge von Yvonne Spielmann und die formalistische Position Hansen-Löves kennzeichnet Paech Intermedialität vorwiegend „als ein formales Verfahren, das Medienprozesse als Transformationsprozesse zwischen künstlerisch oder technisch generierten Formen zur Geltung bringt, indem es sie in symbolischen Formen (in ‚Bildern zwischen den Bildern‛) sichtbar werden läßt.“8 Überdies unterstreicht Paech den dynamischen Charakter der Intermedialität, die „als Prozeß“ aktualisiert werde, „als Form einer Differenz in einem (spezifischen) Formwandel“. Ferner greift er, in Anlehnung an die lateinische Wortbedeutung, zu Recht die Idee des ‚Zwischenraums‛ und ‚Zwischenstadiums‛ auf: „Intermedialität als Differenz-Form des Dazwischen, daran lassen sich weitere Überlegungen anknüpfen.“9 Sowohl der Begriff des Mediums (z. B. Film) als auch die Konzeption des Intermedialen birgt, wie Paech überzeugend erläutert, gewisse Paradoxien in sich, da Form und Medium stets als Differenz zu denken sind, nicht als Einheiten im Sinne eigenständiger Entitäten. Insofern die Konstitution des Kinofilms eine differentielle ist, lässt seine Medialität sich immer nur mittelbar erfahren, über den Umweg der Formwahrnehmung beobachten: „Die Schwierigkeit einer Medien-Definition, wie sie hier zugrunde gelegt wird, ist, dass das Medium nicht als ‚etwas‛, sondern als ‚Medium‛, als Möglichkeit einer Form oder auch als ‚Dazwischen‛, letztlich als Mittel im weitesten Sinne genommen wird. Das Medium selbst ist nicht beobachtbar, weil es nur in der Form erscheint, zu deren Erscheinung es verhilft. Die Beobachtung der Form muß, wenn sie nach dem Medium fragt, sich selbst beobachten, um sich klar zu machen, daß sich die beobachtbare Form notwendig ihrer anderen, unsichtbaren Seite des Mediums verdankt.“10 Aus dieser grundlegenden erkenntnistheoretischen Schwierigkeit ergeben sich weitere anscheinend paradoxe Sachverhalte. Stets sieht sich der Beobachter auf die Formenseite zurückverwiesen, selbst dann, wenn ihm an einer medialen Analyse gelegen ist. Auch wenn er sich der Illusionierungstechniken bewusst ist und letztere durchschaut, bleibt die reine Medialität bei der Filmbetrachtung notwendigerweise im blinden Fleck der Beobachtung: „Im Kino zum Beispiel ist das Medium in dem Maße transparent zur Form, den figurativ beobacht7

Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, S. 15-16. 8 Ebd., S. 17. 9 Ebd. 10 Ebd. 24

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

baren narrativen Ereignissen, in dem sich der Beobachter nicht selbst in seiner Anordnung zur Projektion wahrnimmt (das wird oft genug mit hypnotischer oder tagtraumartiger Rezeptionsweise verwechselt); wenn der Zuschauer seine Aufmerksamkeit auf seine Beobachtung der Ebene der Hervorbringung dieser Formen lenkt und den Film als ‚Film‛, d.h. als projizierte materiale Oberfläche sieht, wird er doch wieder nur Formen der ‚Materialität‛ des filmischen Zeichens, nämlich Kratzer, einen schiefen Bildstrich, ein falsches Projektionsformat oder auch einen asynchron laufenden Ton etc. wahrnehmen. Das Medium dieser Differenz zwischen dargestellten Formen und Formen der Darstellung kann immer nur auf der Seite seiner Formen beobachtet werden, entweder in der dargestellten Bildtiefe oder auf der Oberfläche filmischer Darstellung (z.B. könnte die Leinwand selbst Beschädigungen aufweisen, die aber nur zu Beginn der Filmprojektion stören, später in der Regel nicht mehr wahrgenommen werden): In der Leinwandprojektion gibt es nur das eine Bewegungsbild, das immer beide Aspekte zugleich in der medialen Differenz-Form der Bewegung ist.“11 Die filmästhetischen Verfahren entlang der Leitdifferenz zwischen Form und Medium zu beobachten, bildet eine zentrale Herausforderung der neueren Forschung, insbesondere in Verbindung mit der Frage, wie sich intermediale Vorgänge in diesem Wechselspiel einordnen und manifestieren. Yvonne Spielmann hat im Blick auf die formalästhetische Analyse filmischer Intermedialität die brauchbare Unterscheidung von Intermedialität als Strukturbegriff, als Transformationskonzept und als ästhetisches Verfahren vorgeschlagen,12 eine Trias, die wohl weniger ontologisch verschiedene Sachverhalte als vielmehr unterschiedliche Perspektiven desselben Phänomens differenziert. Dass dem Film eine Medien überschreitende Tendenz eigen ist, ist in der neueren Forschung grundsätzlich seit längerem bekannt. Die genauen Modalitäten und Auswirkungen dieser Eigenschaft sind uns hingegen trotz der genannten verdienstvollen Beiträge zu einzelnen Aspekten der Problemstellung noch weitgehend unklar und bedürfen genauerer Untersuchungen. Welche Prozesse spielen sich im einzelnen ab, so wäre zu fragen, wenn ein altes Medium wie zum Beispiel die Schrift, in ein neues wie den Film, eintritt. Zu welchen Wechselwirkungen kommt es bei diesem Vorgang und wie verändern die zu beobachtenden Interferenzen unsere vertrauten Wahrnehmungen und unseren gewohnten Umgang mit den betreffenden Medien? Wie reagiert der Zuschauer bzw. Betrachter 11 Ebd. 12 Yvonne Spielmann: Aspekte einer ästhetischen Theorie der Intermedialität. In: Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Hg. Heinz B. Heller, Matthias Kraus, Thomas Meder, Karl Prümm und Hartmut Winkler. Marburg 2000. S. 57-68. 25

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

auf die neuartige, komplexer gewordene Beobachtungssituation? Wie lassen sich solche intermedialen Phänomene wahrnehmungsästhetisch beschreiben, lassen sie sich überhaupt systematisch erfassen und bestimmen? An die genannten Überlegungen lassen sich weitere Fragestellungen anschließen zum Beispiel Reflexionen darüber, „wie Medien, wenn sie andere Medien enthalten, aufeinander bezogen sind, welche Übersetzungs- und Transformationsprozesse in Gang gesetzt werden, um Medien in /für Medien möglich zu machen.“13 Es ist zudem davon auszugehen, dass das Objekt des Mediums zweiter Stufe in diesem Prozess seine medialen Qualitäten in entscheidender Hinsicht verändern kann.14 Es wäre also zu überlegen, wie derartige mediale Transformationsprozesse zu beobachten und angemessen zu beschreiben wären. Ehe die angeführten Fragen differenzierter beantwortet werden können, ist die grundlegende Problematik zu klären, was Intermedialität im spezifischeren Sinne einer ästhetischen Theorie des Intermedialen im Kino bedeuten kann, welche Bedeutungsaspekte sie einschließt. Auf eine grundsätzliche Vernetzung von älteren und neueren Medien ist bekanntlich bereits Marshall McLuhan aufmerksam geworden, indem er betonte, dass der „Inhalt jedes Mediums immer ein anderes Medium ist“15. So sei beispielsweise im ‚neueren Medium Film‛, das ‚ältere Medium Fotografie‛ enthalten.16 McLuhans Kernthese ist in der Forschung vielfach aufgegriffen und produktiv weitergedacht worden17. Ganz gleich, ob McLuhans These allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, in jedem Fall besteht in der Forschung ein weitgehender Konsens über den Hybridcharakter des Mediums Film. Seltener, aber nichtsdestoweniger prominent sind diejenigen Stimmen in der Filmtheorie, die wie Béla Balász den Film als Medium des Visuellen par excellence definieren und somit auf eine dominante Wahrnehmungsform mehr oder weniger festlegen.18 Zugespitzt behauptet Balász in seiner programmatischen Schrift Der Geist des Films von 1930: „Der Film ist die Kunst des Se-

13 Claudia Liebrand, Irmela Schneider: Einleitung. In: Claudia Liebrand, Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002, S. 9. 14 Vgl. ebd. 15 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964). Aus dem Englischen von Meinrad Amann. 2. Auflage. Dresden, Basel 1995. S. 3. 16 Ebd., S. 14 17 Vgl. diesbezüglich auch den vorzüglichen Sammelband: Claudia Liebrand, Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002. 18 Vgl. Béla Balász: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. 1924. 26

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

hens [...] Trotzdem er das gewaltigste Blendwerk liefert, ist er seinem Wesen nach die Kunst der offenen Augen.“19 Schon die einzelnen Komponenten, die an der Filmgenese teilhaben, wie beispielsweise das Drehbuch20 haben indes intermedialen Charakter, ist jenes doch auf seine Umsetzung im Film ausgerichtet (und vice versa), wie der Dramentext auf die Theateraufführung bezogen ist. Den medialen Überlagerungen und Schichtungen des Kinofilms korrespondiert eine noch näher zu definierende, erhöhte analytische Sensibilität, die von den frühen Filmtheoretikern wie Siegfried Kracauer bereits klar erkannt wurde. Kracauer wurde auf eine latente analytische Tendenz des Films aufmerksam, die gesellschaftskritisch gewendet werden könnte. Der Film folgt augenscheinlich einer Traumlogik, welche die Phantasmen und geheimen Sehnsüchte einer Gesellschaft aufdeckt, sie nach und nach im Durchgang durch die verschiedenen Strukturationstiefen und medialen Schichten offen legt: Die „irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten.“21 Selbst wenn oder gerade weil die Filme Fluchtmotive und Wunschträume einer Gesellschaft transportieren, sind sie geeignet, die Analyseobjekte bereitzustellen, um die Koordinaten des kulturellen Imaginären abzustecken. Was sich in Kracauers kultursoziologischen Analysen andeutet, wird von den neueren Regisseuren wie Peter Greenaway in beispielhafter Weise eingeholt: Der Film führt nichts anderes als die Figurationen des Imaginären vor Augen, die den Vorstellungsbildern, Phantasmen und Sehnsuchtsmomenten der jeweiligen Epoche bzw. des Publikums korrespondieren. Die Möglichkeit analytischer Arbeit und die kultursoziologische Deutbarkeit des filmischen Mediums sind gekoppelt an eine hohe strukturelle Komplexität, die durch die filmimmanente Medienvernetzung und -überlagerung begünstigt bzw. gesteigert wird. Denn zu den Beziehungen zwischen den Elementen innerhalb der beteiligten Einzelmedien treten die wechselseitigen Relationen zwischen den Komponen19 Béla Balázs: Schriften zum Film. Bd. 2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931. Hg. H. Diederichs und W. Gersch. München. 1984, S. 204. 20 Vgl. dazu die aufschlussreiche Untersuchung von Katharina Bildhauer: Das Drehbuch. Dramaturgische Modelle, narrative Konzepte und neue Formen – mit Analysen zeitgenössischer Beispiele. Dissertation Gießen 2006. Siehe auch: Katharina Bildhauer: Drehbuch reloaded. Konstanz 2007. 21 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt: Suhrkamp. S. 280. 27

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

ten verschiedener Medien sowie zwischen den Medien untereinander hinzu und erzeugen eine komplexere Netzstruktur sowie eine erstaunlich hohe Dichte an Informationen. Insofern war das damals noch junge Medium des Films um 1900 dem inzwischen weit fortgeschrittenen Stadium moderner gesellschaftlicher Ausdifferenzierung in besonderer Weise angemessen, da es aufgrund seiner medialen und formalen Beschaffenheit entsprechend komplexe Sachverhalte und Wirkungszusammenhänge, wie sie sich in den modernen gesellschaftlichen Systemen ausgebildet hatten, zur Darstellung bringen konnte. Die medialen Schichten und Überlagerungen im Film simulieren eine bemerkenswerte Tiefendimension. Dabei kommen häufig subtile Techniken der Montage, Collage, Inserierung und Cadrierung zum Einsatz. Das Durchdringen der medialen Ebenen ist von einer intensiven Lektürebzw. Analysearbeit begleitet, mit dieser aufs engste verschränkt. Die Kamera sowie der Kinematograph erkunden die medialen Oberflächen, hinter denen sich eine illusionäre Tiefendimension verbirgt. Die weiße Leinwand wird gleichermaßen zur Projektionsfläche von Zuschauerwünschen und -erwatungen und zur Konstruktionsebene der Analysen von Regie und Produzenten. Paradoxerweise erlauben gerade jene Scheinwelt und filmische Illusionskunst es dem konzentrierten Beobachter, aufschlussreiche Deutungen wie z. B. soziologische oder tiefenpsychologische Zusammenhänge zu erkennen. Dem zeitdiagnostischen Blick erschließt die Kinoleinwand nicht selten verborgene Motivationen, typische Mentalitäten und Dispositionen, da ein subtiles, nicht immer leicht zu durchschauendes dialektisches Verhältnis zwischen kinematographischer Figuration und Zuschauererwartungen besteht. In seinen Überlegungen differenziert Kracauer bezeichnenderweise verschiedene soziale Gruppen, indem er sowohl ein subbürgerliches als auch ein bürgerliches Kinopublikum in Erwägung zieht, wobei letzteres in ästhetischer und geschmacklicher Hinsicht auch dann noch der tonangebende Orientierungspunkt bleibt, als die Ladenkinos bereits die Arbeiterklasse als neuen wichtigen Filmkonsumenten entdeckt haben: „[…] die Filme für die niedere Bevölkerung sind noch bürgerlicher als die für das bessere Publikum; gerade weil es bei ihnen gelingt, gefährliche Perspektiven anzudeuten, ohne sie zu eröffnen, und die achtbare Gesinnung auf den Zehenspitzen anzudeuten.“22 Es macht die Subtilität von Kracauers Analysen aus, dass er die schmale Gratwanderung zwischen potentiell Subversivem und Affirmation nachvollzieht, die für das frühe Kino charakteristisch ist.

22 Ebd., S. 279. 28

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

Bereits in den frühen Darstellungen des Kinos und des neuartigen Mediums des Films wurden die intermedialen Dimensionen sowie der hybride Charakter der Filmvorführungen erkannt und ausführlich beschrieben. Kracauer hebt insbesondere das eindrucksvolle Zusammenspiel der verschiedenartigen sinnlichen und ästhetischen Reize in den frühen Berliner Lichtspielhäusern hervor, die sich zu einem vielschichtigen Gesamtkunstwerk verdichten: „Aus dem Kino ist ein glänzendes, revueartiges Gebilde hervorgekrochen: das Gesamtkunstwerk der Effekte. Es entlädt sich vor sämtlichen Sinnen mit sämtlichen Mitteln. Scheinwerfer schütten ihre Lichter in den Raum, die festliche Behänge übersäen oder durch bunte Glasgewächse rieseln. Das Orchester behauptet sich als selbständige Macht, seine Leistungen werden von den Responsorien der Beleuchtung unterstützt. Jede Empfindung erhält ihren klanglichen Ausdruck, ihren Farbwert im Spektrum. Ein optisches und akustisches Kaleidoskop, zu dem das körperhaft szenische Spiel sich gesellt: Pantomime, Ballett. Bis zuletzt die weiße Fläche herabsinkt und die Ereignisse der Raumbühne unmerkliche in die zweidimensionalen Illusionen übergehen.“23 In mancher Hinsicht erinnern die frühen Filmvorführungen in ihrem Überschuss an auditiven und visuellen Sinnesreizen an die Operninszenierungen des neunzehnten Jahrhunderts. Gleichwohl verfügt das Kino seit seinen Anfängen über eine Ästhetik eigener Art. Kracauer benennt als wichtigste wirkungsästhetische Dimension den Aspekt der Zerstreuung, der besonders im Blick auf das neue großstädtische Publikum und die Erfahrung der Masse an Bedeutung gewinnt. Ging man früher ins Theater, auch mit dem erwünschten Nebeneffekt oder Ziel, gesehen zu werden, so geht der moderne Kinobesucher in der Anonymität der Masse auf und verliert vorübergehend seine Individualität: „Vorführungen wie diese sind heute in Berlin neben den echtbürtigen Revuen die entscheidende Attraktion. Die Zerstreuung gelangt in ihnen zu ihrer Kultur. Sie gelten der Masse.“24 Der neue ‚Vorführungsstil‛ in den Kinos muss sich erst vorsichtig aus unterschiedlichen, dem eigenen Medium fremden Anregungshorizonten herauskristallisieren und frei machen, um seine primäre gesellschaftliche Funktion als Unterhaltungsmedium und Seismograph des Zeitgeschehens wahrnehmen zu können. „Aber die Lichtspieltheater haben dringlichere Aufgaben zu erledigen, als um Kunstgewerbliches sich zu bemühen. Ihren Beruf – er ist ein ästhetischer nur, insofern er sich in Einklang mit dem sozialen befindet – werden sie erst erfüllen, wenn sie nicht mehr mit

23 Ebd., S. 312. 24 Ebd., S. 312. 29

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

dem Theater liebäugeln und eine vergangene Kultur ängstlich zu restituieren trachten, sondern ihre Darbietungen von allen Zutaten befreien, die den Film entrechten, und radikal auf eine Zerstreuung abzielen, die den Zerfall entblößt, nicht ihn verhüllt.“25 Der nostalgische Blick, die gesuchte Nähe zum Theater und der rückwärtsgewandte Versuch, die Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben, erweisen sich indes langfristig als Sackgasse für die produktive Weiterentwicklung des neuen filmischen Mediums. Die quasi-magische Ausstrahlung des Films beruht auf einer subtilen Illusionskunst, deren gewünschte Wirkungen auf die Zuschauer sich als hochgradig störungsanfällig erweisen. Denn die Faszination, die von den beweglichen Bildern auf der Leinwand ausgeht, kann leicht unterbrochen und zerstört werden und hält einer Konfrontation mit der dreidimensionalen Präsenz von ‚realen‛ Schauspielern und Requisiten oft nicht stand. Kracauer diagnostiziert in diesem Sinne im Blick auf den Film: „Seine Zweidimensionalität erzeugt den Schein einer Körperwelt, ohne daß sie einer Ergänzung bedürfte. Werden indessen Szenen von realer Körperlichkeit dem Licht-Spiel beigesellt, so sinkt es in die Fläche zurück, und der Trug ist entlarvt.“26 Die magische Qualität des Kinematographen, die die ersten Kinobesucher im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert faszinierte, scheint aufs engste verbunden mit der ephemeren und prekären Natur der filmischen Illusion. Daher befürwortet Kracauer eine zielstrebige ‚Emanzipation‛ des Kinos von den benachbarten Aufführungsformen des Theaters und der Oper, den weitgehenden Verzicht auf musikalische Begleitung, revueartige Vorspiele und schauspielhafte Einführungen sowie Raumgestaltungen: „Die Nachbarschaft von Ereignissen, die eine Raumtiefe besitzen, zerstört die Räumlichkeit des auf der Leinwand Gezeigten. Der Film fordert von sich aus, daß die von ihm gespielte Welt die einzige sei; man sollte ihn jeder dreidimensionalen Umgebung entreißen, sonst versagt er als Illusion.“27 Auch wenn die frühen Filmtheoretiker wie Kracauer die puristische Lösung befürworten und ihnen ein kinoästhetisches Ideal vorschwebt, das von medialen Vermischungen bereinigt wäre, lässt sich diese Vorstellung kaum uneingeschränkt begrüßen. Denn es liegt auf der Hand, dass die von Kracauer angenommene Funktion der Illusionsbildung nur eine filmische Aufgabe bzw. Verfahrensweise unter anderen sein kann. Illusionsdurchbrechende und selbstreflexive Tendenzen konstituieren

25 Ebd., S. 317. 26 Ebd., S. 316. 27 Ebd., S. 316. 30

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

ebenfalls wichtige, integrale Bestandteile des filmischen Mediums. Nachdem sich das Kino im zwanzigsten Jahrhundert als eine eigene Medien- und Kunstform etablieren konnte, kehren die anderen Medien wie Drama, Oper, Theater, Buch und Schrift in der Figur des re-entry28 in den Filmen wieder und eröffnen nun ein weites Spektrum von Bedeutungsdimensionen. In der heutigen Gesellschaft sind die Erscheinungsformen des Medienwechsels zunehmend selbstverständlich und vertraut geworden, wie nicht zuletzt an der wachsenden Verbreitung des Internets als eines Hypermediums im Alltagsgebrauch sichtbar wird. Obgleich von namhaften Medienwissenschaftlern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den modernen Gesellschaft eine weitreichende Umstellung der Wahrnehmungen auf visuelle Medien angenommen wird, eine Art pictorial turn,29 wird jene Tendenz von allgemeinen, umfassenderen Medieninterferenzen überlagert. Die Interferenz verschiedener Medientypen, der dauernde Medienwechsel und -transfer sind inzwischen derart geläufige Verfahren, dass sie meist unbewusst und unmerklich vollzogen werden. Aus ihrer weiten Verbreitung und Omnipräsenz ergibt sich eine gewisse Unauffälligkeit von intermedialen Vorgängen in der empirischen Alltagswirklichkeit, die erst durch die wissenschaftliche Beobachtung hinreichend prägnant und genau ins Bewusstsein gerufen und erfasst werden. Es wäre zu überlegen, ob die Beobachtung und die Verwendung intermedialer Verfahren eine Kulturtechnik bilden, die innerhalb des letzten Jahrzehnts auch und gerade in der Alltagswelt rasant an Bedeutung gewonnen hat. Wenn sich nun generell eine neue kulturelle Relevanz und eine zunehmende Vertrautheit im Umgang mit intermedialen Situationen und Wahrnehmungsformen abzeichnen, so wäre zu fragen, welcher spezifischere Stellenwert intermedialen Phänomenen im zeitgenössischen Kino beizumessen ist und wie jene aus der Zuschauerperspektive wahrgenommen werden. Zunächst einmal dürfte es kaum verwundern, dass auch in den Unterhaltungsmedien eine Entsprechung zum gesamtgesellschaftlichen Trend zur medialen Überlagerung, Interferenz und Vernetzung zu verzeichnen ist. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen dem rasanten Anstieg intermedialer Wahrnehmungssituationen in der empirischen Alltagswelt und dem engeren ästhetischen und kinographi28 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992, S. 19. Zum Konzept des Re-entry, des Wiedereintritts der Form in die Form, und seinen mathematischen Grundlagen siehe auch: George Spencer Brown: Laws of Form. New York 1979, S. 56-72. 29 Vgl. W. J. Thomas Mitchell: Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago: University Press 1995. 31

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

schen Einsatz intermedialer Formen. In jedem Fall haben das Vorkommen und die Entfaltung intermedialer Verfahrensweisen im Film über ihre engere ästhetische und medienspezifische Bedeutung eine besondere mentalitätsgeschichtliche Signifikanz bzw. Tragweite, die Aufschlüsse über derzeitige, kulturell geläufige und für die Gegenwart symptomatische Wahrnehmungs- und Beobachtungsdispositionen gibt. Für eine solche, durchaus gewagte Behauptung spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass Elemente einer intermedialen Ästhetik zunehmend auch in Mainstream-Filmen und großen Hollywoodproduktionen anzutreffen sind und dass jene intermedialen Transformationen und Formzitate die Grenze zwischen massenattraktivem Kino und experimenteller NeoAvantgarde kreuzen. In den folgenden Studien, die verschiedenen Filmen der Gegenwart seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gewidmet sind, geht es darum, einen interessanten Teilbereich der neueren Medienwissenschaft näher zu beleuchten, der in interdisziplinären Forschungskontexten eine wachsende Aufmerksamkeit gewinnt: die Ästhetik der Intermedialität, die mit der ludischen Komponente des Kinofilms in einem engen Zusammenhang steht. Bezeichnet man mit Intermedialität, wie oben ausführlich erörtert, das Zusammenspiel verschiedenartiger Medien im allgemeinen, so berührt die Frage nach einer intermedialen Ästhetik darüber hinaus das spezifischere Problem, wie solche Phänomene zu genuin künstlerischen Zwecken genutzt werden bzw. Teil eines eigenen ästhetischen Programms sein können. Im folgenden geht es vor allem darum, die filmästhetische Dimension intermedialer Prozesse und Transformationen in ihrer je eigenen Dynamik zu erfassen, also zunächst die engere ästhetische Intermedialitätskonzeption in den Blick zu nehmen, zumal diese noch kaum hinreichend systematisch erkundet worden und überdies in ständiger Weiterentwicklung begriffen ist, was jedoch nicht heißt, dass es sich dabei um reine Formenspiele handeln würde. Im Gegenteil: Gerade die Ausbildung intermedialer Verflechtungen und Vernetzungen im zeitgenössischen Kinofilm vermag, sofern man sie hinreichend erfasst, aufschlussreiche Einblicke in die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Umbruchssituation um 2000 (in einem Untersuchungszeitraum von ca. 1985-2010) zu gewähren. Ist sie doch Reflex und künstlerischer Ausdruck eines kulturhistorisch und gesellschaftlich symptomatischen Wahrnehmungs- und Verhaltenswandels im Zeichen einer sich anbahnenden Medienrevolution. Wenn wir Kracauer insoweit folgen, dass das Kino als Unterhaltungsmedium und künstlerische Ausdrucksform geeignet ist, Indikatoren kultursoziologischer Phänomene und Veränderungen zu transportieren und sie dem aufmerksamen Beobachter zu enthüllen, 32

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

dann ist die seismographische Funktion aktueller filmästhetischer Sachverhalte nicht zu übersehen und die zentrale kulturanalytische Rolle einer ästhetischen Theorie des Gegenwartsfilms nicht zu unterschätzen. Die vorliegenden Studien sind indes lediglich Erkundungen des oben angedeuteten Terrains, das bislang noch wenig systematisch erfasst ist, und stellen nicht den Anspruch, die zahlreichen Spielarten und Funktionen filmästhetischer Intermedialität erschöpfend zu diskutieren. Die Vorgehensweise ist bewusst exemplarisch und notwendig selektiv, wobei die ausgewählten Filme als durchaus repräsentativ für jeweils unterschiedliche Umgangsformen mit dem Intermedialen gelten können. Die Verschachtelung unterschiedlicher Medien können jeweils andere neuartige Qualitäten generieren,30 die es zu beschreiben und zu analysieren gilt. In jüngster Zeit erlebt die intermediale Dimension des Films insgesamt eine neue Hochkonjunktur. So kommt es seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Verstärkung der medialen Selbstreflexion im Film, die sich in ganz verschiedenen Filmgattungen beobachten lässt. Die intermediale Dimension nimmt dabei höchst unterschiedliche Ausprägungen an und erfüllt offenbar jeweils anders gelagerte Funktionen. Bei Regisseuren wie Peter Greenaway liegt es nahe, das Vorhandensein einer exakt durchdachten ästhetischen Programmatik zu vermuten, denn in seinen Filmen nimmt das intermediale Zusammenspiel von Schrift, Bild und Film ein systematisches Profil an. Zweifellos gibt es einige neuere Regisseure, die sich solche intermedialen ‚Überlagerungen‛ durchgängig strategisch zu nutze zu machen, weshalb sie manchen Beobachtern auch als prototypische Vertreter einer postmodernen Ästhetik erscheinen. Doch auch dann, wenn eine solche künstlerische Gestaltungsabsicht nicht im Vordergrund steht oder nicht explizit artikuliert wird, können verstreute intermediale Effekte – sei es bewusst oder unbewusst – durchaus zum Bestandteil eines übergreifenden Regiekonzepts avancieren. Auch scheint es ein unberechtigtes Vorurteil zu glauben, die ästhetische Experimentierfreudigkeit auf Seiten des Regisseurs sei mit traditionellen Erwartungen an das Medium Film kaum vereinbar und richte sich eher an eine intellektuelle Elite denn an ein breiteres Publikum. Interessanterweise verzichtet keines der hier zu diskutierten Filmbeispiele auf eine herkömmliche ‚Plotstruktur‛, die mehr oder weniger konventionell gestaltet sein mag. Eine spannungsvolle Handlung, die geeignet ist, den Zuschauer in Bann zu ziehen bzw. in Atem zu halten, scheint vielmehr weiterhin als integraler Bestandteil des Filmgeschehens

30 Vgl. Claudia Liebrand, Irmela Schneider: Einleitung. In: Claudia Liebrand, Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002, S. 9. 33

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

zu fungieren, auch wenn sie nicht mehr den alleinigen oder hauptsächlichen rezeptionsästhetischen Reiz ausmacht. Selbst Greenaways PROSPERO’S BOOKS, von vielen Filmkritikern nicht zu Unrecht als ‚avantgardistisch‛ eingestuft, hält sich im Kern an den Handlungsverlauf von Shakespeares Stück (The Tempest), dessen Text im wesentlichen wörtlich ins Drehbuch übernommen und lediglich um eine detaillierte Beschreibung und Evokation der Zauberbücher erweitert wurde. Das ästhetische Spiel mit der intermedialen Dimension des Films bleibt um 2000 nicht auf wenige avantgardistische Beispiele beschränkt, die sich in erster Linie an ein elitäres Publikum einiger Intellektueller richten, wie zum Beispiel die Filme Peter Greenaways. Nicht zufällig haben Greenaways Filme, allen voran PROSPERO’S BOOKS, bereits eine Fülle von filmwissenschaftlichen Analysen angeregt und so mittelbar die medienästhetische Theoriedebatte der letzten Jahre bereichert.31 Sicherlich stellt Greenaway, was den Grad an autoreflexiven und illusionsdurchbrechenden Momenten in seinen Werken betrifft, unter den Filmregisseuren der Gegenwart eher eine Ausnahme dar als ein repräsentatives Beispiel. Und doch lässt sich beobachten, dass sich die Faszination durch die intermedialen Bezüge kaum auf die spezifische Eigenart und Vorliebe eines einzigen Regisseurs, etwa auf das „System Peter Greenaway“ (Spielmann), reduzieren ließe. Eine Ästhetik des Intermedialen erfasst vielmehr in zunehmendem Maße auch die Mainstream-Produktionen, in denen eine spannende Handlungsstruktur und die Interaktion der Charaktere naturgemäß im Vordergrund stehen, während die Anteile artistischer Selbstreflexion von Haus aus eher gering sind. Doch die Tatsache, dass auch solche Filme, die sich weder als selbstreflexive Erkundungen des kinematographischen Mediums betrachten, noch als spezifische Beiträge zu einer neuen Filmästhetik verstehen, in großem Umfang auf intermediale Aspekte zurückgreifen, bestätigt deren wachsende Bedeutung für die Filmproduktion der Gegenwart. Obwohl sie von den Regisseuren noch kaum programmatisch formuliert bzw. durchdacht wird, scheint die Ästhetik der Intermedialität in den letzten Jahrzehnten der Filmgeschichte omnipräsent. Die in der vorliegenden Untersuchung diskutierten Filme präsentieren teilweise sehr komplexe intermediale Strukturen. Dabei erscheint das Medium des Films als bevorzugter Ort der Interferenz unterschiedlicher Medien und der Überlagerung verschiedener medialer Räume. Kommen die gewählten Filmbeispiele darin überein, dass sie die intermediale Dimension der Kinematographie nutzen bzw. offenlegen, so variieren sie

31 Vgl. diesbezüglich auch das zweite und dritte Kapitel des vorliegenden Bandes. 34

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

doch erheblich hinsichtlich der jeweiligen intermedialen Ausprägung. Die zu analysierenden Filme sind so gewählt, dass sie einander in typologischer Hinsicht ergänzen, insofern in ihnen jeweils verschiedene Wahrnehmungs- und Ausdrucksmedien fokussiert werden. Bei einer vergleichenden Betrachtung der gewählten Produktionen lässt sich erkennen, dass jeweils ein anderes Medium im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und zum Leitmedium der filmischen Aufzeichnungen avanciert. So enthüllt Jean Jacques Annauds Verfilmung von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose die Bibliothek als Ort des Wissens, und, damit verbunden, als geheimes Zentrum der Macht, in dem das Buch als Leitmedium der mittelalterlichen Gelehrtenkultur figuriert. Greenaways PROSPERO’S BOOKS inszeniert die Schrift als geheimnisvolles Ursprungsmedium und als eigentlichen Generator, aus dem sich die Bildsequenzen und Bücherwelten des Films allererst entfalten Demgegenüber konzentriert sich SHAKESPEARE IN LOVE bei einem verwandten Sujet darauf, das Theater bzw. die Welt der Bühne im elisabethanischen England zu beleuchten und die zugehörigen medialen und kultursoziologischen Bedingungen offen zu legen. Ohne die aufführungsbezogene Shakespeareforschung, die sich in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts als eine führende Richtung etabliert hat und vornehmlich der theaterpraktischen und dramaturgischen Seite der Shakespeareschen Stücke zuwandte,32 wäre die Konzeption des Films und deren Umsetzung in der durchgeführten Form kaum denkbar gewesen. Gérard Corbiaus FARINELLI – IL CASTRATO (1994) widmet sich der menschlichen Stimme als einmaligem Ausdruckmedium, und zwar insbesondere der Gesangskunst, sowie dem theatralischen Raum der Barock-Oper, der seinerzeit ein erfolgreiches, über nicht weniger komplexe Illusionstechniken als der moderne Film verfügendes Medienspektakel bildete. Das Medium der Musik und der Raum der Opernbühne kristallisieren sich mithin als die medialen Leittypen von Corbiaus Farinelli-Film heraus. In der Verfilmung von Dan Browns Bestseller THE DA VINCI CODE (2007) übernehmen hermetische Schriftzeichen die handlungsmotivierende und strukturierende Funktion. Während der menschliche Körper zum Medium der Übermittlung von Kryptogrammen instrumentalisiert wird, wird die hermeneutische Aufgabe der Entzifferung des Rätseltextes für die beiden Hauptfiguren Robert Langdon und Sophie Neveu zu einer gefährlichen Mission, die unerwartete Risken und Schwierigkeiten in

32 Vgl. International Shakespeare Association Congress Proceedings (1981): Shakespeare, Man of the Theatre 2nd, ed. Kenneth Muir. University of Delaware Press.1984. 35

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

sich birgt. Zum einen liegt dies an dem zugrunde liegenden Genre des Actionfilms und Thrillers; zum andern scheint der tiefere Grund in der ununterbrochenen Kette inner- und intermedialer Verweise zu bestehen, die bis zuletzt zu keinem Stillstand gelangen will, geschweige denn zu einer Lösung führen würde. Denn es ist charakteristisch für den schwer zu entziffernden Geheimcode, dass er statt eines plausiblen Lösungsangebots paradoxerweise immer neue rätselhafte ‚Texte‛ enthüllt. Den kryptischen Schriftzeichen werden wirkungsmächtige neuzeitliche Bildsymbole in Gestalt von Leonardo Da Vincis Darstellung des ‚Abendmahls‛ gegenübergestellt. Zugleich kommen diverse Lektüre- und Entzifferungsprozesse zum Einsatz. Somit richtet sich der Prozess der Semiose medienübergreifend auf Grapheme, Gemälde, wie diejenigen Leonardo da Vincis, und nicht zuletzt auf Monumente wie Newtons Grabmal in der Westminster Abbey, um eine augenscheinlich universelle, gleichzeitig aber auch verwirrende Lesbarkeit der abendländischen Kunst- und Kulturgegenstände zu suggerieren. Den Werken der bildenden Kunst und der traditionsreichen Technik der verschlüsselten Schriftzeichen und Codes wird zudem die moderne wissenschaftliche Mentalität gegenübergestellt, die in einem entsprechenden Medieneinsatz – etwa dem PowerpointVortrag von Professor Langdon und der Verwendung anderer Computermedien – ihr modernes apparativ-technisches Äquivalent und geeignetes Kommunikationsmittel findet. Der Film wird so zum Austragungsort und Medium einer doppelten Lektüre. Denn er dokumentiert und vollzieht jene mühsame Entschlüsselungsarbeit mit Hilfe sachkundiger Expertise, die immer wieder zu scheitern droht, in Kontroversen mündet und durch den Zuschauer in ihren minutiösen Details nachvollzogen werden kann. Peter Jacksons Adaption von Tolkiens Bestseller-Roman DER HERR DER RINGE lässt sich wiederum als eine Art filmischer Hypertext begreifen, der mit großem technischen (und finanziellen) Aufwand eine interessante Engführung aus Buch, Bildern, Actionfilm und Computersimulation anstrebt, um die imaginären Figuren der Tolkienschen FantasyWelten angemessen zur Darstellung zu bringen. Die Frage, ob es sich bei jenem aufwendigen Entwurf um eine gelungene Synthese und eine dem phantastischen Genre adäquate Filmadaption handelt, berührt einen Kernpunkt der kritischen Bewertung, die hier vorläufig noch offen bleiben muss. Wie ersichtlich stehen die ausgewählten Filmbeispiele für verschiedene Paradigmen des Intermedialen im Film, indem sie je unterschiedliche Funktionen des intermedialen Aspekts verwenden und modellieren. Meist tritt dabei die Differenz der beteiligten Medien in den Vordergrund. Überdies scheint die bevorzugte Beobachtungsperspektive die 36

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

Fremdperspektive, im Medium des Films tritt ein anderes Medium als beobachtetes Objekt zu Tage, wobei die medialen Eigenschaften des letzteren häufig als Momente von Alterität sichtbar werden und es implizit (manchmal auch explizit) zu einer Konfrontation oder Konkurrenz der beteiligten Medien kommen kann. Die Gattung Fantasy-Literatur scheint mehr als jede andere Textsorte beim ‚Transfer‛ auf die Kinoleinwand auf die computergenerierten virtuellen Räume angewiesen. Es scheint so, als fördere das Interesse an intermedialen Strukturen eine gewisse analytische Tendenz zutage – selbst da, wo es gar nicht in erster Linie um Fragen der Filmästhetik geht, sondern kommerzielle Gesichtspunkte im Spiel sind, wenn nicht gar im Vordergrund stehen. Ferner wird die vermehrte Ausbildung intermedialer Strukturen in den Filmen der Gegenwart durch den Einsatz moderner Computertechniken begünstigt, die gleichsam schon zur Grundausstattung der neueren Filmproduktionen gehören. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Postproduktion, der Nachbearbeitung des gedrehten Materials, die weitere mediale Überlagerungen und Modifikationen mit sich bringt. Der Computer kristallisiert sich mehr und mehr als der Hypertext oder das zentrale Supermedium heraus, insofern er alle anderen Medien in sich vereint, zu einander in vielfältige Wechselwirkungen bringt und in neue Konfigurationen stellt. Damit übernimmt die moderne Computertechnik eben jene Rolle als erfolgreiches Hybridmedium, die in den Anfängen seiner Geschichte dem Film zugeschrieben wurde. Als aufschlussreiches Indiz für eine solche Verschiebung der Prioritäten ist die neuerdings zu beobachtende Entstehung von Filmen aus Computerspielen wie Dungeons and Dragons zu nennen.33 Als Verlängerung des Films erweitert der Computer nicht allein die Reichweite der (klassischen) Kinematographie; die Möglichkeiten digitaler Nachbearbeitung und Reinszenierung beleuchten vielmehr auch die dem Film immer schon innewohnende intermediale Struktur und rücken diese in ein neues Licht. Zugespitzt formuliert ließe sich formulieren, dass die besondere, auf der medienvernetzenden Funktion beruhende Ästhetik des Films in ihrer ganzen Tragweite eigentlich erst im Computer zu sich selbst kommt. Ein solcher Trend wird zudem auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht begünstigt. Mit der steigenden Zahl der Internetbenutzer findet auch das computertechnische Spezialwissen (etwa die Fertigkeit, Hypertextseiten

33 Kai Thomsen und Christian W. Thomsen: Digitale Bilder, virtuelle Welten Computeranimationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. S. 275-290. 37

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

zu erstellen und zu modifizieren) immer weitere Verbreitung. Der Computer wird zum beliebtesten und im Blick auf die raumzeitliche Dimension effektivsten Kommunikationsmedium. Die digitalen Simulationen und virtuellen Bildwelten ziehen daher in die Alltagsrealität ein und werden kaum noch als ungewöhnliche Phänomene, geschweige denn als gezielte künstlerische Verfremdungen wahrgenommen. Insgesamt erfreuen sich intermediale Phänomene und Prozesse in einem globalen Kontext einer weiten Verbreitung und großen Beliebtheit. Dies scheint mit den besonderen Eigenschaften der intermedialen Erscheinungsformen zusammenzuhängen. Indem Intermedialität eine Engführung verschiedener Wahrnehmungs- und Ausdrucksmedien erlaubt, erweist sie sich als besonders geeignet im Umgang mit gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung im Fahrwasser von Modernisierungsprozessen.34 Es wäre zu überlegen, ob es durch die Überlagerung und Vernetzung von Medien zu einer bemerkenswerten Verdichtung von relevanter Information kommt. Manches spricht für diese These, welche die intermedialen Erscheinungsformen als charakteristische Bewältigungsstrategien im Blick auf komplexe modernetypische Situationen und Kommunikationen qualifiziert. Die Erhöhung der Informationsdichte bei intermedialen Strukturen ergibt sich unmittelbar aus der Vervielfältigung der vorhandenen Beziehungen und der spezifischen Wirkung der ‚Zwischenräume‛. Neben den Einzelmedien können nun auch die Relationen zwischen ihnen wichtige Bedeutungsfunktionen übernehmen. Intermedialität scheint ein Transformationsverfahren und eine Kulturtechnik, die einer Situation erhöhter gesellschaftlicher Komplexität besonders angemessen sind. Nähere Aufschlüsse über die kulturelle und ästhetische Reichweite von intermedialen Phänomenen zu gewinnen erlaubt nicht zuletzt die historische bzw. entwicklungsgeschichtliche Betrachtung. Nicht von ungefähr wurde in der Geschichte des Films der Hybridcharakter des Mediums Film immer wieder betont. Blickt man zurück auf die kulturgeschichtliche Entwicklung des Films und auf die filmästhetischen und theoretischen Begleitsemantiken, so lässt sich erkennen, dass die intermediale Gestalt des Films früh entdeckt wurde. Mehr noch: Seit seinen Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert bildet der Film das Medium der Intermedialität par excellence. Denn im neuen Medium des Films kehren die älteren Medien, die Schrift, das Bild, die Sprache, die Stimme allesamt wieder, um in einer neuen Konstellation zusammenzuwirken. Während Schrift-Inserts seit der Stummfilm-Ära verbreitet sind, manifes34 Vgl. zu diesem Phänomen besonders Niklas Luhmann: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/M. 1980, S. 235-300. 38

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

tierte sich auch im Variété die Gleichzeitigkeit von Film und volkstümlichem Theater neben einer ebenfalls zu beobachtenden, zunehmenden Präsenz der Schrift. McLuhan, der inzwischen als Klassiker der modernen Medientheorie gelten kann, hat den Zusammenprall der alten und neuen Medien dramatisch beschrieben. Mitunter erschien der Rekurs auf bereits anerkannte bzw. populäre Medien der frühen Kinematographie als Stütze, die zudem soziale Akzeptanz versprach, und produktiver Anregungshorizont. Die ästhetische Nutzung intermedialer Phänomene im Film findet in der Programmatik Eisensteins ihre nachdrückliche Kontur. Entstehungsgeschichtlich spricht einiges dafür, Intermedialität als ein generelles Merkmal des Mediums Film zu definieren, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten allerdings um ein Vielfaches erhöht hat, wobei neue Medien (etwa Computer) und neue Formen intermedialen Zusammenspiels hinzugekommen sind. Daraus ergibt sich für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem, die Frage nämlich, was die hier diskutierten Filmbeispiele von einem generellen Trend des filmischen Mediums zur hybriden Form und zur intermedialen Gestaltung unterscheidet bzw. ob wir es dabei mit spezifischen, noch näher zu charakterisierenden Sonderfällen eines an und für sich sehr viel allgemeineren Phänomens zu tun haben. Zunächst ist es entscheidend zu sehen, dass die neue Tendenz zum intermedialen filmästhetischen Gesamtgebilde sich nicht, wie in den Anfängen der Filmgeschichte, aus einem noch unsicheren, tentativen Umgang mit dem ungewohnten Medium Film ergibt, dessen Merkmale und inhärenten Möglichkeiten allererst erprobt werden mussten. Anders als um 1900 stehen die heutigen intermedialen Phänomene im Film nicht im Zeichen einer unsicheren Anlehnung an andere, bereits vertraute und anerkannte Medien, deren künstlerische Autorität und Akzeptanz man für sich zu gewinnen sucht. Vielmehr handelt es sich um souveräne Selbstverortungen in einer ausdifferenzierten Medienlandschaft, innerhalb deren der Film inzwischen auf eine beträchtliche Erfolgsgeschichte von mehr als einem Jahrhundert zurückblicken kann. Aus jener Grundkonstellation ergeben sich die verschiedenartigsten analytische Tendenzen, Selbsterkundungen und Reflexionsformen eines bereits etablierten und inzwischen überaus populären Mediums, das nach einer Erweiterung seiner Reichweite sucht und die Grenzen des bisher im Film Möglichen und Darstellbaren zu überschreiten sucht. So sind die derzeit zu beobachtenden intermedialen Formen eher Ausdruck eines selbstbewussten Auftretens, das in zunehmendem Maße Experimentierfreudigkeit riskiert und in ein spielerisches Verhältnis zu den Stationen der eigenen Gattungsund Mediengeschichte treten kann. 39

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Die sich in Filmen der letzten Jahrzehnte mit zunehmender Deutlichkeit abzeichnende Medien überschreitende Tendenz steht nicht allein im Dienste einer subtilen Selbstbeobachtung. Ihre Bedeutung zeigt sich nicht zuletzt gerade darin, dass versucht wird, über die mediale Selbstreferenz hinausgehend, andere Medien und ihre Eigenheiten zu erkunden. Wie Yvonne Spielmann zu Recht hervorhebt, akzentuieren intermediale Strukturen bzw. Prozesse meist die Differenz der an dem Zusammenspiel beteiligten Medien, nicht etwa deren Ähnlichkeit oder Einheit. Die beteiligten Medien treten durch die Überlagerungssituation in ihrer jeweiligen Eigenheit und Besonderheit prägnanter hervor. Jene Einsicht legt nun in unserem Untersuchungskontext die Ausgangshypothese nahe, dass durch intermediale Konstellationen die Andersartigkeit der im jeweiligen Filmbeispiel dargestellten Medien zum Ausdruck kommt, so zum Beispiel die (implizite) Differenz zwischen Film und Schrift, Film und Oper, Film und Theater etc. betont wird. Es kommt zu einer Kontrastierung der beteiligten Medien, die dadurch in ihrer jeweiligen Eigenart und ihren charakteristischen Spezifika schärfer hervortreten. Zudem erscheint dasjenige Medium, das Gegenstand der filmischen Beobachtung bzw. Durchleuchtung ist, tendenziell als das Andere, als ein Moment von Alterität im Film, selbst dann, wenn es dem Zuschauer aus anderen Kontexten, etwa der empirischen Alltagsrealität hinlänglich vertraut ist. Das dargestellte Medium wird gleichsam aus der kinematographischen Fremdperspektive wahrgenommen. Die intermediale Beziehung im Film unterstreicht also die Differenzqualität der beteiligten Medien, verleiht dem Medium, das Objekt der Darstellung im Film ist, besondere Prägnanz und erlaubt eine Profilierung und genaue Sondierung aus der Außenperspektive. Der externe Blick kann sich dabei in unterschiedlicher Weise auf den Untersuchungsgegenstand auswirken, da er zur nüchternen Betrachtung ebenso wie zur Distanzierung, Emphatisierung oder Bewunderung tendieren kann. Er mag zur Auratisierung, zur analytischen Durchleuchtung oder Zersetzung, zur Parodie oder Destruktion des betrachteten Objekts bzw. Mediums führen. Indem die intermediale Perspektive im Film die mediale Differenz betont, erlaubt sie in jedem Fall, das Spezifische des anderen Mediums mit filmischen Mitteln zu durchleuchten und zu analysieren, wobei es zu den unterschiedlichsten Gewichtungen kommen kann. Es liegt nahe, im Blick auf das Phänomen der Intermedialität eine weitere Differenzierung vorzunehmen: die Unterscheidung zwischen einer immer schon gegebenen Intermedialität, die nach McLuhan im Prinzip jedes Medium kennzeichnet, und einer reflektierten Form des intermedialen Verweisens, die unter anderem zu genuin artistischen Zwecken ge40

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

nutzt werden kann. Es bietet sich an, als Ausgangspunkt und Basishypothese die Überlegung zu verfolgen, inwieweit der Film als das Medium par excellence figuriert, das sich auf die Erkundung intermedialer Momente verwiesen sieht und von Haus aus dazu neigt, Momente einer kinematographischen Selbstreflexion hervorzubringen. Mehr noch: Man könnte zunächst annehmen, der Film sei von Haus aus besonders geeignet, eine intermediale Ästhetik eigener Art auszubilden. Bei genauerer Betrachtung wird indes evident, dass dies nicht automatisch der Fall ist. Es ergibt sich vielmehr das grundsätzliche Problem, intermediale Verfahren in einem Medium sichtbar zu machen, das seit jeher durch Medienmischung und -vernetzung gekennzeichnet ist. Wie lässt sich, so wäre zu überlegen, Intermedialität als ein besonderes künstlerisches Verfahren sui generis kenntlich machen, wenn diese immer schon zu den Grundeigenschaften der betreffenden Mediensorte gehört. Das ästhetische Spiel mit den verschiedenen Medienkomponenten erweist sich mithin in einem von Haus aus hybriden Medium als besonders problematisch. Wie ist der gezielte Einsatz von den unterschiedlichen Medien als gezielte ästhetische Strategie oder als ästhetische Differenzqualität überhaupt erkennbar bzw. als solche mit Sicherheit identifizierbar, wenn vergleichbare Prozesse der Interferenz von Medien gleichsam zufällig und spontan ohne irgendeine künstlerische Wirkungsabsicht oder ästhetische Intention auftreten können? Um die spezifisch ästhetische Dimension intermedialer Vorgänge zu sondieren und in den Blick des Analyse-Interesses zu rücken, gilt es, Strategien und Formen der Markierung von Intermedialität zu entdecken und ein angemessenes Beschreibungsinstrumentarium für sie zu entwickeln. Eine sicherlich zentrale Rolle kommt in dem genannten Zusammenhang der selbstreflexiven Dimension zu, den Signalen einer filmischen Autoreflexivität, die ein artistisches Interesse zu erkennen geben. Allerdings ist dabei zu beachten, dass Formen der medialen Selbstreferentialität im Film nicht notwendig den Verzicht auf eine Plot-Struktur im traditionellen Sinne bedeuten, geschweige denn als untrügliches Indiz einer postmodernen Ästhetik fungieren. Vielmehr ist bei der Identifizierung von Formen und Funktionen medialer Interaktion die Bedeutung der Kontexte, die das jeweilige Medienereignis begleiten, nicht zu vernachlässigen. Insbesondere verdient das Pendant dessen, was Gerard Genette im Zusammenhang mit der Buchtradition als ‚Paratexte‛ bezeichnet hat, nähere Beachtung. Auch die Filmereignisse sind von anderen medialen Zeichen wie Film-Trailern, Plakaten, Interviews mit Regisseuren und Schauspielern umgeben, von zahlreichen ‚Paramedien‛, die auf sie verweisen, sie ankündigen oder für sie werben sollen. Informative Videos bzw. DVDs mit Beiträgen über die 41

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Filmgenese (making of) avancieren zu einem wesentlichen Bestandteil der Werbebranche. Was leisten, so wäre zu fragen, die Special Editions der Film-DVDs mit umfangreichem Bonusmaterial, wie etwa Interviews mit dem Regisseur und den Schauspielern, trailer, making of etc., sieht man einmal ab von wortreichem Eigenlob und der marktgerechten, werbewirksamen Selbstdarstellung, der zufolge alles „amazing“, „great“ oder „wonderful“ ist und die Regisseure sowie Schauspieler eine noch nie da gewesene Herausforderung gemeistert haben. Trotz einer nicht zu übersehenden Oberflächlichkeit verrät die im bunten, facettenreichen ‚Bonusmaterial‛ zu Tage tretende Vermarktungsstrategie von Filmen und DVDs implizit eine hochinteressante, sich mit zunehmender Deutlichkeit abzeichnende neuere Rezeptionshaltung, die immer mehr Beachtung verdient, eine produktionsästhetische Neugier, die sich mit dem filmischen Endprodukt allein nicht mehr zufrieden geben mag. Das Zuschauerinteresse scheint mehr und mehr darauf ausgerichtet, den Blick hinter die Kulissen zu werfen. Statt nur am Filmgeschehen selbst ist man vermehrt an den ‚WieFragen‛ der Produktionen interessiert, und zwar nicht nur im Blick auf die zum Einsatz gebrachten spektakulären ‚special effects‛. Man kann durchaus von einer erhöhten Sensibilität gegenüber medientechnischen und medienästhetischen Problemen bei den derzeitigen Rezipienten sprechen, die Filme offenbar nicht mehr allein im Blick auf ihren Unterhaltungswert sehen. Im Rückblick interessieren zudem vielfach die technischen Details der Aufzeichnungen, wie, wo und mit welchen Tricks gedreht wurde – Fragen, deren Antworten dem Kinopublikum in den eigens publizierten Filmbüchern und auf Bonus-DVDs angeboten werden. Durch die wachsende Bereitschaft und Neugier der Zuschauer, sich mit den früher eher die Experten und Insider interessierenden Problemstellungen auseinanderzusetzen, wird die mediale Selbstreflexion und Selbstanalyse bei den Produzenten von Film-DVDs im beigefügten Zusatzmaterial sehr begünstigt, ganz zu schweigen von den finanziellen Gesichtspunkten der Vermarktung. Andere geeignete Orte, um solche Fragen wie die oben angesprochenen zu behandeln, sind die offiziellen Internetseiten sowie die zahlreichen Fan-Websites. Der explosionsartig expandierende Video- und DVD-Markt hat die Rezeptionsweise von Spielfilmen bereits in entscheidender Hinsicht verändert. Statt des einmaligen Kinobesuchs lädt die DVD dazu ein, den Film ein zweites oder drittes Mal zu sehen. Das Heimkino fördert dabei nicht allein die wiederholte Rezeption, sondern erlaubt das ‚Vor- und Zurückspulen‛ bzw. die selektive Wiedergabe und Betrachtung ausgewählter Filmsequenzen. Einige Filme scheinen aufgrund ihrer hohen Subtilität mit der Möglichkeit einer derartigen ‚doppelten Lektüre‛ und intensivierten Beobachtung von 42

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

vornherein zu rechnen. Nicht nur die Filme sind komplexer und elaborierter geworden als in den Anfängen des Kinos, auch die Rezeptionsmöglichkeiten sind variationsreicher und unüberschaubarer geworden. Der Wechsel vom öffentlichen Lichtspielhaus zum privaten Heimkino verändert nicht allein die Atmosphäre des Zuschauerraums – er modifiziert auch die Wirkungen einzelner Bilder und Sequenzen, wie zum Beispiel die Wahrnehmung von Close ups, Actionszenen und Filmmusik. Neben der visuellen Dimension erscheint, was des öfteren übersehen wird, die auditive Wahrnehmungsebene des Films nicht weniger wichtig. Die Tatsache, dass der Soundtrack von Spielfilmen immer häufig auf CD separat publiziert und verkauft wird, lässt eine gewisse Selbständigkeit des musikalischen bzw. akustischen Mediums im Kinofilm klar erkennen. Bei der Star Wars-Trilogie wurde der Soundtrack nachträglich sogar in ein Hörspiel verwandelt, indem man ihn durch die Erzählstimme von Joachim Kerzel ergänzte, der als übergeordnete heterodiegetische Erzählinstanz die wichtigsten Stationen der Handlung zusammenfasst.35 Wie wirkungsvoll die akustische Wahrnehmungsebene und das Musikalische im Kino sind, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen neueren Filme über Komponisten und Musiker sowie Untersuchungen, die sich mit erhöhter Aufmerksamkeit den künstlerischen und wahrnehmungsästhetischen Aspekten der auditiven Dimension widmen.36 Generell lässt sich erschließen, dass die filmeigene Intermedialität nicht allein die Differenz zwischen den beteiligten Medien betont, sondern darüber hinaus den visuellen und auditiven Wahrnehmungs- und Ausdrucksmedien ein besonderes prägnantes Profil verleiht, an das selbstreflexive Thematisierungen der jeweils gewählten medialen Struktur anknüpfen können. Dabei ist allerdings eine (unwillkürliche) Selbstreferentialität des Zeichens oder verwendeten Mediums von einer

35 Ein solcher rasanter Medienwechsel ist an sich nichts Ungewöhnliches: Per Anhalter durch die Galaxis (A Hitchhiker’s Guide to the Galaxy) wurde 1978 zunächst als Hörspiel der BBC ausgestrahlt, dann erst als Buch (1979-1992) und als TV-Serie (1981) realisiert, um Jahrzehnte später im Jahr 2005, als man sich einer breiten Beliebtheit des Stoffs und eine erwartungsvollen Fan-Gemeinde sicher sein durfte, in Gestalt einer aufwendigen Mainstream-Produktion in die Kinos zu kommen. 36 William Darby, Jack Dubois: American Film Music: Major Composers, Techniques, Trends, 1915-1990. Jefferson, N.C. 1990. Richard Fehr, Frederick G. Vogel: Lullabies of Hollywood: Movie Music and the Movie Musical, 1915-1992. Jefferson, N.C. 1993. Claudia Gorbman: Unheard Melodies. Narrative Film Music. London / Bloomington / Indianapolis: BFI Publishing & Indiana University Press, 1987. 43

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

bewussten kritischen bzw. künstlerischen Selbstreflexion zu unterscheiden. Es dürfte kaum zu gewagt sein, die These zu äußern, dass sich in den letzten Jahren als das wichtigste ‚Paramedium‛ des Gegenwartsfilms das Internet herauskristallisiert hat. Dies gilt vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, für die großen Hollywoodfilme und andere MainstreamProduktionen. Bei genauerer Betrachtung der Filmbeispiele wird zudem deutlich, dass die intermediale Dimension häufig durch eine kontrastive Gegenüberstellung zwischen alten und neuen Medien ein besonders prägnantes Profil gewinnt. Formen der markierten Intermedialität im Film sind daher oft mit einer auf den ersten Blick erstaunlichen Wiederkehr bzw. Re-Inszenierung alter Medien verbunden, die als Konkurrenz zwischen den Medien, als experimentelle analytische Durchleuchtung des fremden Mediums oder als nostalgischer Rückblick gestaltet sein können. Es handelt sich dabei um Erkundungen des Fremden, um eine teilweise sehr differenzierte Auseinandersetzung mit dem medial Anderen, dessen historisch gewordene Entstehungs- und Kommunikationsbedingungen offen gelegt werden. Dabei verspricht jener Prozess, wie alle Fremderfahrungen, zugleich eine subtile Reflexion der eigenen medialen Techniken und Bedingtheiten. Es kommt mitunter auch zu einem regelrechten ‚Wettstreit der Medien‛, der dem bekannten Topos vom ‚Wettstreit der Künste‛37 (etwa der Rivalität zwischen bildender Kunst und Malerei) analog ist. Dabei kann sich die Überlegenheit des einen oder anderen Mediums zeigen oder auch eine schwankende Akzentuierung, in der sich zuweilen auch Bewunderung für das alte Medium artikuliert, eine Mischung aus Nostalgie, Verehrung oder Verlustempfinden. Im folgenden soll jene ebenso auffällige wie ungewöhnliche Tendenz zur Evokation der ‚alten Medien‛ in einem neuen Grundmedium, dem Film, am Beispiel der filmischen Auseinandersetzung mit der abendländischen Buch- und Schriftkultur näher erörtert werden. Unter den erwähnten Implementierungen und Modellierungen von anderen Medien im Film nimmt die Integration des Buchs und der Schrift eine Sonderstellung ein. Sie gewinnt eine besondere Brisanz im Kontext des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, der von Kulturwissenschaftlern als Schwellen- und Umbruchssituation gekennzeichnet wird. Im letz37 Vgl. diesbezüglich den anregenden und materialreichen Ausstellungskatalog von Ekkehard Mai / Kurt Wettengl (Hg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Katalog erschienen aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst München (1. Februar bis 5. Mai 2002) und im Wallraf-Richartz-Museum - Fondation Corboud, Köln (25. Mai bis 25. August 2002). Wolfratshausen: Edition Minerva 2002. 44

ERSCHEINUNGSFORMEN UND ÄSTHETIK DER INTERMEDIALITÄT IM FILM

ten Drittel des 20. Jahrhunderts lasse sich, so die kulturwissenschaftliche Diagnose, eine Phase des Übergangs von der alteuropäischen und neuzeitlichen Schriftkultur zur Bildkultur beobachten, die mit den Stichworten pictorial turn oder visual turn benannt wird. Während die Wiederkehr des Buchs und der Schrift im Film nach der jüngsten Renaissance der Bildsymbolik auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, ist sie bei genauerer Betrachtung durchaus symptomatisch und zeittypisch. Denn die Fokussierung des Buchs und der Schrift im visuell ausgerichteten Medium des Films nimmt eben jene Reibungen und Spannungen auf, die sich in der kulturellen Umbruchsituation abzeichnen und kontrovers verhandelt werden.

45

2. Die ‚Wiederkehr‘ des Buchs und der Schrift im Spielfilm. 1985-2010 In den folgenden Betrachtungen geht es darum, ein aufschlussreiches intermediales Phänomen im Spielfilm der Gegenwart zu beleuchten. Warum gerade das frühneuzeitliche Medium des Buchs bzw. des Buchdrucks und das noch sehr viel ältere der Schrift seit etwa zweieinhalb Jahrzehnten im Film eine neue Hochkonjunktur erleben, ist nicht unmittelbar evident und wirkt zunächst überraschend. Die genannte Beobachtung scheint zunächst einer charakteristischen Tendenz, die die neuere Medientheorie entdeckt und beschrieben hat, in eklatanter Weise zu widersprechen. Gehen doch namhafte Vertreter der neueren Medienwissenschaften davon aus, dass sich in der modernen Kultur des 20. Jahrhunderts eine weitreichende Umstellung der Wahrnehmung bzw. Kommunikation von der Schrift auf die ganzheitliche Bildstruktur abzeichnet, ein Prozess, der durch die technologische Entwicklung und Verbreitung der modernen Kommunikationsmedien bedingt ist. Zu jenem generellen bzw. vorherrschenden Trend liegt die hier in den Blick zu nehmende ‘Rückkehr zur Buchkultur’ im Medium des Films, auf den ersten Blick jedenfalls, eigentümlich quer. Schon McLuhan hat jene Abkehr von der linearen Ordnung der Schrift zugunsten neuer holistischer Bildqualitäten in seinem inzwischen klassisch gewordenen Beitrag zur Medientheorie, Understanding media von 1964, thematisiert: „So kam es zum größten Umschwung durch die Elektrizität, die der Aufeinanderfolge ein Ende bereitete, indem sie alles instantan machte.“1 Was bei oberflächlicher Betrachtung als medientechnischer Fortschritt anmutet, gibt sich bei genauerem Hinsehen als Rückkehr zu archaischen Bildern und als Suche nach einer totalen Gesamtwahrnehmung zu erkennen: „Die Botschaft des Mediums Film ist die des Übergangs von linearer Verbindung zu Gestalt. [...] Wenn die elektrische Geschwindigkeit noch mehr von den mechanischen Filmsequenzen übernimmt, werden die

1

Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964). Aus dem Englischen von Meinrad Amann. 2. Auflage. Dresden, Basel 1995. S. 28. 47

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Kraftlinien in Strukturen und Medien laut und deutlich. Wir kehren zur allumfassenden Form des Bildsymbols zurück.“2 Jene These von einer tiefgreifenden Umstellung der Wahrnehmung und Rezeption infolge der Erfindung und Erprobung der neuen Kommunikationsmedien wurde durch eine Reihe jüngerer Forschungsarbeiten bestätigt, die sich der von McLuhan eingeschlagenen Richtung angeschlossen und diese produktiv weitergedacht haben. Im Rahmen seiner Kommunikologie entfaltet Vilém Flusser die Idee einer Wiederkehr der Bilder, die eine der frühneuzeitlichen Erfindung des Buchdrucks in ihren Auswirkungen nicht nachstehende, neue Revolution der kulturellen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen mit sich bringe.3 Wenn auch der Prozess der Alphabetisierung durch das Aufkommen der neuen ‚Technobilder‘4 nicht vollständig rückgängig gemacht wird, so wird unsere bisherige Schriftkultur doch von einer wirkungsmächtigen Bilderflut überlagert,5 die durch die modernen Massenmedien unaufhörlich auf den Rezipienten einströmt.6 In der neueren Medien-Forschung, die sich McLuhans und Flussers richtungweisende Thesen weitgehend zu eigen gemacht hat, ist die Rede von einem pictorial turn,7 der sich in der hochtechnisierten Gesellschaft 2 3 4

5

6

7

Ebd., S. 29. Vgl. Vilém Flusser: Schriften. Band IV: Kommunikologie. Hg. Stefan Bollmann u.a. 1. Aufl. Mannheim 1996. Vgl. Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1985 und ders.: Eine neue Einbildungskraft. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt 1990. S. 115-126. Vgl. V. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983 und Harro Segeberg: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996. Vgl. auch Michael Wetzel und Herta Wolf: „Vorwort der Herausgeber“. In: Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, hg. Michael Wetzel und Herta Wolf. München: Fink 1994. S. 7: „Nicht nur der Bilder gibt es seit Erfindung ihrer technischen Reproduktion zu viele, die visuellen Realitäten sind dabei, alle anderen zu überlagern. Dementsprechend sind die Diskurse über Bilder und insbesondere über deren Sprache sowie über das Verhältnis von Text und Bild mittlerweile zu einem betäubenden Rauschen angewachsen. Auf der Ebene der Kunst scheint der Ausstellungsbetrieb in einer Endlosschleife medialer Selbstreflexion gefangen zu sein, und die zu dieser gelieferte Theorie ist so mannigfaltig, daß sich aus den einschlägigen Publikationen eine ganze Bibliothek von Babel zusammenstellen ließe.“ Vgl. W. J. T. Mitchell: Was ist ein Bild? In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt 1990. S. 17-68, hier bes. S. 17: „Es ist eine Binsenweisheit der modernen Kulturkritik, dass Bilder in unserer modernen Welt eine Macht besitzen, von der sich die alten Bildverehrer nichts hätten träumen lassen. Und angesichts der Entwicklung der 48

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

immer deutlicher abzeichne.8 Jene Entwicklung in Richtung auf eine neue Bildlichkeit scheint indes die moderne Medienkultur nicht ausnahmslos zu prägen und zu bestimmen. Vielmehr macht sich, so die These, im Kinofilm seit etwa Mitte der achtziger Jahre eine Tendenz bemerkbar, die jenem oben skizzierten generellen Trend in auffallender Weise gegenläufig scheint, aber auch wieder symptomatisch ist für eine Situation vermehrter Medienkonkurrenz. Gemeint ist ein Prozess, der sich als die Rückkehr des Buchs und der Schrift im Medium des Films definieren lässt9 und im folgenden anhand einiger prototypischer Beispiele exemplarisch verdeutlicht und illustriert werden soll. Die Präsenz des Buchs und der Schrift im dominant visuellen Medium des Films ist insofern durchaus typisch für die oben erwähnte medienkulturelle Umbruchsituation, als sie genau jene Reibungen und Spannungen zwischen Schrift und Bild aufgreift und vertieft, die sich in der Gegenwartskultur auch außerhalb des Kinos abzeichnen. Neuere am Buchmedium orientierte Filme wie DER NAME DER ROSE, PROSPERO’S BOOKS oder DIE NEUN PFORTEN können auf einige bereits klassisch gewordene Vorläufer und Modelle zurückblicken, die eindrucksvoll vorgeführt haben, wie Schrift und Buch mit filmischen Gestaltungsmitteln in Szene gesetzt werden können. Die Schrift ist in vielfacher Hinsicht als ein intermedialer Grundbaustein des Films seit den Anfängen jenes Mediums zu betrachten,10 der in Form von Untertiteln und diversen graphematischen Inserts schon in der Stummfilm-Ära varia-

modernen Kritik scheint es nicht weniger evident zu sein, dass die Frage nach der Natur bildlicher Darstellungen nun dem Problem der Sprache nachgeordnet ist.“ Vgl. auch: W. J. T. Mitchell (Hg.): The Language of Images. Chicago 1980. Aus psychologischer Sicht diskutierte schon Ernesto Grassi die Auseinandersetzung zwischen den modernen Bildverehrern und den Ikonoklasten. Vgl. Ernesto Grassi: Die Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen. Köln 1970. 8 Vgl. auch Gottfried Boehm: Bilder jenseits der Bilder. Transformationen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Transform. BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, hg. Theodora Vischer. Kunstmuseum und Kunsthalle Basel 1992, besonders S. 15. 9 In den weiteren Umkreis dieses Interesses gehört zweifellos auch die (zweiteilige) Verfilmung von Michael Endes Kinder- und Jugendbuch Die unendliche Geschichte (Produzent: Bernd Eichinger), in welcher der jugendliche Held des Films zum Leser und der Leser wiederum zum ‘Romanhelden’ wird. 10 Vgl. diesbezüglich den erhellenden Sammelband von Bernd Scheffer und Christine Stenzer (Hg.): Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung. Bielefeld 2009. 49

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

tionsreich eingesetzt wurde. Daraus ergeben sich spezifische wirkungsund wahrnehmungsästhetische Konsequenzen. Ähnlich wie die symbolistischen Schreibexperimente Stéphane Mallarmés und Paul Valérys hebt die filmische Repräsentation der Schriftzeichen deren materielle und visuelle Gestalt prägnant hervor, indem sie den Akt der Lektüre gleichsam auf eine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung umstellt. In diesem Sinne sorgt die kinematographische Verwendung der Buchstaben für deren nicht habitualisierte Wahrnehmung und Beobachtung durch das Kinopublikum. Die Schrift begegnet überdies meist als integraler Bestandteil von Filmen im Vorspann, wo sie bereits durch eine kalligraphische oder formbewusste Gestaltung besonders markiert sein kann, denn der „Film als Kinoereignis braucht noch, im Gegensatz zum anfang- und endlosen Fernsehprogramm, die rhetorische Funktion der initiatio.“11 In älteren Literaturverfilmungen, wie z. B. JANE EYRE (1944, Regie Robert Stevenson) mit Joan Fontaine und Orson Welles in den Hauptrollen, wird sogar das aufgeschlagene Buch als extradiegetisches Element im Vorspann eingeblendet, um den engen Bezug des Films zur Buchvorlage, beispielsweise zur berühmten Romanfiktion Charlotte Brontës, unmittelbar sichtbar zu machen. Je mehr die Literaturverfilmung sich als Adaption eines ‚Klassikers‘ versteht, desto deutlicher die Prominenz des Buchmediums. Der erste Märchenfilm von Disney, SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE (1937), wählt nicht zufällig ebenfalls das Märchenbuch als wirkungsvolles Eröffnungsbild und Initialmoment des Vorspanns.

2.1 Konjunktur und Verbreitung des intermedialen Phänomens – Formen und Funktionen in ausgewählten Filmbeispielen Der „klassische“ Fundort und die prototypische Ausprägung der Darstellung von Buch und Bibliothek im Film der Nachkriegszeit finden sich in François Truffauts FAHRENHEIT 451 (1966), der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ray Bradbury. Bezeichnenderweise gehen dabei die aufwendige Darstellung und Repräsentation des Buchmediums im Film mit einer immensen Bücherzerstörung einher. Denn der Film wie die Buchvorlage entwerfen das dystopische Bild einer Gesellschaft, in der Bücher als staatsfeindlich und als Keimzelle schädlicher, asozialer 11 Joachim Paech: Der Schatten der Schrift auf dem Bild. Vom filmischen zum elektronischen ‘Schreiben mit Licht’ oder ‘L’image menacé par l’écriture et sauvé par l’image même’. In: Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, hg. Michael Wetzel und Herta Wolf. München: Fink 1994. S. 224. 50

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Neigungen gelten. Das Bücherverbot im totalitären Überwachungsstaat hat zur Folge, dass Feuerwehrleute beauftragt sind, die verbleibenden Bücher zu verbrennen und deren Verstecke ausfindig zu machen. Nur wenigen Bewohnern gelingt es, trotz des allgemeinen Verbots im Privatbereich Bücher aufzubewahren und geheimer Lektüre nachzugehen. Schon die gewählten Bücherverstecke, etwa im Kasten bzw. Gehäuse eines offenbar unbenutzten Fernsehapparats und in einem Toaster, sind höchst aufschlussreich, denn sie zeigen nicht nur den Erfindungsreichtum der verfolgten Leser, sondern entfalten auch die latente Dichotomie zwischen moderner Technik und dem alten Medium des Buchs, das sich im Ambiente der durchmodernisierten Gesellschaft zu behaupten versteht. Die Bibliothek erscheint als Zufluchtsort und letzter Rückzugsraum vor der omnipräsenten Staatsgewalt, deren eindrucksvolle mediale Repräsentation die großen Fernsehbildschirme im intimen Raum der Wohnhäuser sind. Die spontane zweckfreie Lektüre erweist sich als letztes Refugium der Individualität in einer ansonsten nivellierenden Überwachungsgesellschaft. So wird der gesellschaftliche Konflikt zwischen den Abweichlern bzw. heimlichen Lesern und dem totalitären Regime im Film mehr noch als im Roman eindrucksvoll als Medienkonkurrenz bzw. als konfliktreiche Gegenüberstellung alter und neuer Medien umgesetzt. Der Film, der hauptsächlich die Erlebnisse eines sich nach und nach vom Regime distanzierenden Feuerwehrmanns nachvollzieht, enthält nicht nur ausgedehnte Darstellungen der Bücherzerstörung durch Kerosin und Feuer, die zugleich Höhepunkte der Filmnarration bilden, sondern auch bemerkenswerte Nahaufnahmen der sich im Feuer langsam schwärzenden und zerfallenden Buchseiten. Die Kamera fokussiert die einzelnen Titel, die Illustrationen und die Schrifttypen der Bücher und zeichnet den Prozess der Auflösung in den Flammen in minutiösen Details nach. Die intermediale Dimension gewinnt als filmimmanente ‚performance‘ und symbolträchtige politische Aktion zugleich eine analytische Ausrichtung, die interessante Rückschlüsse auf die Psychologie der Agierenden erlaubt. Mit der massenhaften Verbrennung der Bücher beobachtet die Kamera einen Vorgang, der für den Chef der Feuerwehrtruppe zu einem spektakulären Ereignis wird, zumal er in seinem Fanatismus pyromane Züge an den Tag legt. Die Entdeckung und Zerstörung einer ganzen Geheimbibliothek ist wohl der Kulminationspunkt und Wendepunkt des Handlungsgeschehens, der die eigentliche Mittelpunktsfigur und primäre Fokalisierungsinstanz, den Feuerwehrmann Monday, zu einer Entscheidung drängt. War dieser bereits zuvor zum heimlichen Leser geworden, so ringt er sich nun folgerichtig dazu durch, den Beruf des ‚Feuerwehrmanns‘ aufzugeben und auf die Seite der Verfolgten überzulaufen. In dem Maße, in dem die 51

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Aufmerksamkeit der Zuschauer auf das Innenleben der Bücher, auf ihre prekäre Materialität aus Papier und Schriftzeichen, ihren verborgenen Sinngehalt und ihre individualisierenden Merkmale gelenkt wird, wächst die Empathie der Betrachter mit den Büchern und deren Lesern.

Abb. 1: Monday als heimlicher Leser12

Abb. 2: Bücherverbrennung13

Schließlich enthüllt der Film sogar eine anthropomorphe Tendenz der dargestellten Bücher, da eine Leserin es vorzieht, mit ihrer Bibliothek in den Flammen umzukommen, als den Bücherverlust zu überleben. Mehr noch: die Bücher werden unter den im Exil in den Wäldern lebenden Flüchtlingen dadurch ‚lebendig‘ gehalten, dass letztere sich mit jeweils einem Werk identifizieren, indem sie sich als Personifikationen ihrer Bücher verstehen. Nur das Auswendiglernen der betreffenden Texte kann diese vor der Zerstörung und dem Vergessen bewahren und die Schrifttradition wird für die Nachwelt auf dem paradoxen Umweg einer gleichsam sekundären mündlichen Überlieferung erhalten.

Abb. 3: Bücherfund14

Abb. 4: In der versteckten Bibliothek15

12 Aus: http://www.trondheim-filmklubb.no/film/tfk/v99/omtaler/Fahrenheit 451.html (eingesehen am 31.3.2010) 13 Aus: http://vebret.typepad.fr/verbatim/images/fahrenheit451.jpg 52

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Die detailgenaue und analytische Umsetzung der Bücher und ihrer Zerstörung in Truffauts Film lässt ihre Funktion im Film über die bloße thematische Relevanz, die ebenfalls unbestritten ist, hinausweisen. Sie nehmen eine medienanalytische und selbstreflexive Bedeutung an, insofern die Filmregie implizit eine eingehende Medienanalyse betreibt. Sie widmet sich der Darstellung der medialen Oberflächen und der konkreten Materialität verbrennender Buchseiten, eröffnet aber zugleich auch Perspektiven in Hinblick auf die unterschiedliche Tradierung und Rezeption von Buch und Schrift, die gesellschaftlichen Funktionen und das kritische Potential der Lektüre. In einer Reihe von Hollywood-Filmen der 1950er und 1960er werden Bücher als interessante Kulisse oder vereinzeltes Motiv herangezogen wie beispielsweise in FUNNY FACE (1956) mit Audrey Hepburn in der weiblichen Hauptrolle. Hier muss eine kleine Buchhandlung als zweifelhafter Schauplatz für Modefotografien herhalten. Die Bücher dienen nur mehr als der geeignete Hintergrund für ein Foto-Shooting, das den Models eine interessante intellektuelle Ausstrahlung verleihen und dem mondänen Modemagazin „Quality“ aus einem hereindrohenden Verkaufstief heraushelfen soll. Die unscheinbare Buchhändlerin (Audrey Hepburn), wird dabei von dem Photographen wie durch Zufall als zukünftiges Supermodel entdeckt. Es ist bezeichnend, wie die Kamera und der photographische Blick zu den aufgetürmten Büchern in ein reizvolles Spannungsverhältnis treten, das das Zusammenspiel zwischen den Akteuren begleitet und modelliert. Auch der erste Kuss zwischen dem Fotografen und dem künftigen Model findet nicht ohne Grund im abgeschiedenen Raum der Buchhandlung zwischen den herumliegenden Bücherbergen statt.

Abb. 5: Ungewöhnliches Foto-shooting (Abb. 5 - Abb. 9 aus: FUNNY FACE) 14 Bildquelle:http://german.imdb.com/title/tt0060390/photogallery hen am 31.3.2010) 15 Aus: http://hedonia.net/art/fahrenheit451.htm (31.3.2010) 53

(eingese-

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 6: Vor der Kamera

Abb. 7: Blick durchs Schaufenster

Abb. 8: Beim Aufräumen

Abb. 9: Der Kuss zwischen Büchern 54

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Insgesamt legt die Kamera eine verborgene Erotik und eine latente voyeuristische Disposition des Bücherraumes offen, der vom Blick durch das Schaufenster antizipiert wird – in eben dem Moment, als die ausgesperrte Buchhändlerin die Störung durch die oberflächliche Welt der Mode und des Glamours empört von draußen beobachtet. Allerdings wird das sujet der abendländischen Buchkultur nur gestreift. Denn ungeachtet der interessanten und prinzipiell ausbaufähigen medialen Konstellationen bzw. Kontrastverhältnisse bleiben die Buchhandlung und die Bücher in Funny Face lediglich ein geeigneter Rahmen, Ausgangspunkt und vorübergehender Hintergrund für die Einführung der weiblichen Hauptfigur und die Initialzündung der Handlung. Anders als wenig später bei Truffaut werden die genannten Themen und medialen Reflexionsspiele durch den Regisseur nicht weiter entfaltet bzw. entwickelt. So wird das vorhandene Potential zu intermedialer Reflexion kaum ausgeschöpft und die damit verbundenen Analysemöglichkeiten bleiben mehr oder weniger ungenutzt. In neueren Filmproduktionen seit den 1980er Jahren wird die von Truffaut eindrucksvoll in Szene gesetzte, prototypische intermediale Konstellation jenes Spannungsfelds zwischen Buch und Film, sei es bewusst oder unbewusst, immer wieder aufgegriffen und erweitert. JeanJacques Annauds Verfilmung von Umberto Ecos16 Erfolgsroman Der Name der Rose bildet den Auftakt und ersten Höhepunkt in einer Reihe von neueren Filmen, die die mittelalterliche und neuzeitliche Buchkultur mehr und mehr ins Zentrum des dargestellten Geschehens rücken. Einen wichtigen Schauplatz der Handlung in Annauds Film bildet nicht von ungefähr eine geheime Bibliothek, in der sich die Intrigen der mittelalterlichen Klosteratmosphäre kreuzen und verdichten. Zwar verdankt sich die außerordentliche Resonanz, die der Roman und seine Verfilmung bei einem internationalen Publikum fanden, wohl in erster Linie den spannungsvollen kriminalistischen Elementen und den Anleihen bei der Gattung der Schauergeschichte17 sowie einer gewissen Mittelalternostalgie, die in den achtziger Jahren zu verzeichnen war. Nichtsdestoweniger ge-

16 Zu Umberto Ecos Ästhetik und Literaturtheorie allgemein vgl. Peter Bondella: Umberto Eco and the open text. Semiotics, fiction, popular culture. Cambridge 1997. Vgl. auch die Beiträge des Bandes von Rocco Capozzi (Hg.): Reading Eco. An Anthology. Bloomington und Indianapolis 1997 [Advances in Semiotics, hg. Thomas A. Sebeok]. 17 Vgl. die aufschlussreichen Umfrage-Ergebnisse in Sabine Puzberg und Anke Weihmann: Zur Verfilmung von Ecos Der Name der Rose. In: Armin Burkhardt und Eberhard Rohse (Hg.): Umberto Eco. Zwischen Literatur und Semiotik. Braunschweig: Ars & Scientia 1991. S. 319-364, hier S. 342343. 55

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

winnen die Bücher, genauer: die mittelalterlichen Handschriften und Pergamentbände im Verlauf des Handlungsgeschehens eine wachsende Bedeutung, um schließlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Dass Annaud die zentrale Stellung, die Ecos Text der Buchkultur beimisst, in seinem Film beibehalten hat, muss den unbefangenen Betrachter um so mehr verwundern, als der Regisseur in anderer Hinsicht, zum Beispiel durch die weitläufige Ausgestaltung der bei Eco nur angedeuteten Liebesgeschichte und die Erweiterung des Motivs der Inquisition, durchaus tiefgreifende Veränderungen gegenüber der Romanvorlage vorgenommen hat.18 Der Schlüsselstellung, die Buch und Bibliothek in Annauds Film einnehmen, entsprechen die Sorgfalt und der architektonische Aufwand, die bei der Errichtung der Filmkulisse auf die labyrinthische Konstruktion der Bibliothek verwendet wurden, zumal letztere sogar wesentlich komplexer ist als die entsprechende Beschreibung im Roman.19 Noch deutlicher macht sich eine solche Akzentverschiebung in Richtung des Mediums Buch in einer neueren Verfilmung von Shakespeares The Tempest bemerkbar – in Peter Greenaways PROSPERO’S BOOKS (1991). Das Buch bzw. die Bücher avancieren – wie der Titel bereits andeutet – zum eigentlichen ‚Helden‘ des Filmgeschehens und das, obwohl sie in Shakespeares Dramentext offenkundig eine eher marginale Rolle spielen. Dort werden die ‚Zauberbücher‘, die Prospero auf seine Insel retten konnte und mit deren Hilfe es ihm gelang zu überleben, nämlich lediglich beiläufig erwähnt20 und sind bisherigen Regisseuren und Dramaturgen mehr oder weniger entgangen. 18 Aufgrund solcher Eingriffe wurde der Film in der Forschung sehr kontrovers aufgenommen. Eine kritische Perspektive bietet Hans-Jürgen Bachorski: Viele bunte Bilder, aber schlichte Gedanken: Annauds Verfilmung von Ecos Roman ‚Der Name der Rose’. LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 18 (1988). S. 107-115. 19 Puzberg und Weihmann beschreiben diesen Ausschnitt des Sets in ihrer vergleichenden Bestandsaufnahme wie folgt: „Das Labyrinth, im Roman nur auf einer Ebene liegend, ist im Film mehrstöckig. Vorbilder für das Gewirr aus Treppen und Gängen sind die Graphiken Piranesis und Eschers. Eine derartige Konstruktion freischwebender Treppen wäre im Mittelalter noch nicht möglich gewesen.“ (Zur Verfilmung von Ecos Der Name der Rose. S. 327) 20 Vgl. William Shakespeare: The Tempest. In: ders. The Complete Works, hg. Stanley Wells und Gary Taylor, Oxford 1988, Act 1, Scene 2, 162-167: „Some food we had, and some fresh water that / A noble Neapolitan, Gonzalo / Out of his charity – who being then appointed / Master of this design – did give us; with/ Rich garments... So of his gentleness, / Knowing I loved my books, he furnished me / From mine own library with volumes that / I prize above my dukedom.“ 56

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Anders verhält es sich in Greenaways origineller filmischer Adaptation des Stücks. Der Schriftzug des ersten Worts von Shakespeares Dramentext („boatswain“) setzt das Filmgeschehen allererst in Gang, so dass die Schrift als quasi-magischer Auslöser und verborgener Motor der sich anschließenden Bildsequenzen in Erscheinung tritt. Die eingangs getroffene Akzentsetzung bestätigt und verstärkt sich im weiteren Verlauf des Films. Immer wieder werden reich bebilderte, große Folianten mit renaissancetypischen Darstellungen und Beschreibungen eingeblendet.21 Während letztere vor den Augen des Zuschauers aufgeblättert werden, liest die Stimme John Gielguds (des berühmten britischen ShakespeareInterpreten und Hauptdarstellers in der Rolle Prosperos) den entsprechenden Text langsam vor bzw. rezitiert diesen aus der Erinnerung. Auf diese Weise wird der Rezipient von Anfang an in ein subtiles Text-BildLaut-Verhältnis einbezogen. Die Rolle des Vorlesenden bzw. Sprechers (John Gielgud) gewinnt nicht zuletzt dadurch besondere Prominenz, dass seine Stimme auch die aller anderen Figuren (mit Ausnahme derjenigen Calibans) untermalt und gleichsam ‚steuert‘. Nur die Bücher haben eine eigene Stimme, die sie vorstellt und beschreibt. Durch diese Suggestion eines quasi-omnipotenten Leser-Erzählers werden Oralität und Schriftkultur in einer seltsamen Verbindung miteinander verschränkt und aufeinander bezogen. Mehr noch: Die 24 Bücher Prosperos, die Greenaways Adaptation vorstellt, werden in Verbindung mit dem Dramengeschehen selbst von einer quasi-magischen Aura umgeben und entfalten ihre faszinierenden Qualitäten nicht zuletzt deshalb, weil der Zuschauer sie durch ein anderes Medium gefiltert und dadurch auch optisch verfremdet wahrnimmt. Greenaway, der selbst Kunst und Kunstgeschichte studierte, ehe er sich für das Kino zu interessieren begann, hatte in seinen ersten Filmen die Malerei, insbesondere die des 17. Jahrhunderts, als modernes Filmsujet entdeckt, ein intermediales Beziehungsgefüge, das auch in PROSPE22 RO’S BOOKS beibehalten wird. Auch hier kommt es zu einer komplexen

21 Dass die frühneuzeitliche Buchkultur plötzlich im Mittelpunkt des Interesses steht, überrascht umso mehr, wenn man Greenaways eigene Aussagen über die Schriftlastigkeit unserer Kultur, die es mithilfe der kinematographischen Bildsequenzen zu überwinden gelte, in einem FocusInterview berücksichtigt. Vgl. Revolution des Sehens, Interview mit Peter Greenaway. In: Focus 25 (1994), S. 91. Vgl. auch Detlef Kremer: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher. Stuttgart 1995, S. 7. 22 Als eine gelungene „marriage of art and literature“ bezeichnet Laura Denham in diesem Sinne zu Recht Greenaways Filme. Vgl. Denham: The Films of Peter Greenaway. London 1993, S. 9. 57

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Ineinanderschachtelung und Überlagerung von Bildern.23 In Greenaways Filmen ist insgesamt mit einem hohen Grad an Intermedialität zu rechnen, PROSPERO’S BOOKS etwa lässt sich unter diesem Gesichtspunkt ebenso als filmischer Kommentar über das Drama bzw. Theater entziffern. Im Ganzen gesehen ist Greenaway als Regisseur gleichzeitig Avantgardist und Traditionalist in einer Person, der experimentelle Verfahrensweisen und innovative Techniken mit älteren ikonographischen sowie literarischen Traditionen (wie zum Beispiel dem MelancholieThema24) zu einer ebenso widersprüchlichen wie faszinierenden Einheit verbindet. Die Rückbesinnung auf die Buchkultur im Film gibt also weit mehr zu erkennen als lediglich die nostalgische Sehnsucht, in eine bereits mit der Aura der Vergangenheit umgebene und archaische Kommunikationsform abzutauchen. Vielmehr scheint die Thematisierung von Buch und Schrift in den neuen Medien dem Zuschauer den vollzogenen Medienwechsel25 ins Bewusstsein zu rufen und ihn weiterhin präsent zu halten. Es liegt zunächst nahe anzunehmen, dass die zu diskutierende Rückwendung zu Buch und Schrift vor allem in Literaturverfilmungen26 zu beobachten ist oder bei der Umsetzung von Schriftstellerbiographien (wie z.B. in SHAKESPEARE IN LOVE, 1998) begegnet, denn hier scheint es gleichsam natürlich und selbstverständlich, wenn in diesen Filmen unter anderem oder sogar vornehmlich ‚Schreibprobleme‘ thematisiert werden. Werner Schroeters Verfilmung von Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Roman Malina (1990) lässt gleich in der ersten Szene die Protagonistin als Schriftstellerin auftreten, ausgestattet mit den typischen Requisiten dieses Berufstyps, in die beiläufig auch Details aus Bachmanns Autobiographie wie beispielsweise das exzessive Rauchen einfließen: „Man sieht die Frau inmitten von Bücherregalen arbeiten. Aschenbecher voll Zigarettenstummeln, sie raucht ununterbrochen. Um sie herum beschriebene Blätter. Arbeitsatmosphäre. Eine ganze Weile. Dann reißt sie das letzte Blatt aus der Maschine, überliest es flüchtig und wirft es auf den Boden. 23 Stefan Graupner: Vernetzungsmöglichkeiten ästhetischer Ausdrucksformen im künstlerischen Arbeitsprozess als ein Modell ästhetischer Bildung. Peter Greenaway – Rebecca Horn – Robert Wilson. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät III der JuliusMaximilians-Universität zu Würzburg, 1995, S. 140. 24 Vgl. dazu ausführlich: Detlef Kremer: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher. Stuttgart 1995. S. 7-21, 147-203. 25 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch Ernest W. B. Hess-Lüttich/ Roland Posner (Hg.): Codewechsel. Texte im Medienvergleich. Opladen 1990. 26 Vgl. dazu allgemein: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993 und Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. Tübingen 1981. 58

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Pause. Dann rafft sie beschriebene Manuskriptblätter und faltet sie in höchster Angst und fliegender Eile. Sie holt Briefumschläge aus einem Fach ihres Schreibtischs und beginnt die Manuskriptseiten in die Kuverts zu stecken, die sie zuklebt. Es entsteht ein kleiner Stoß zugeklebter Umschläge, den sie dann hektisch in ein Fach des Schreibtisches stopft. Sie sperrt das Fach ab.“27 Der moderne Film hat sich, wie ersichtlich, der Schriftstellerrolle nicht nur bereitwillig angenommen, sondern zeigt sie zudem in karikaturhafter bis grotesker Überzeichnung. Das Ambiente des Buchs wird offenbar nicht allein mit charismatischen Zügen ausgestattet; vielmehr wirkt seine Erscheinung in den neuen Medien mitunter skurril und bewegt sich oft genug sogar am Rande der Lächerlichkeit. Die Renaissance des Buchs im Film der achtziger und neunziger Jahre gestaltet sich insgesamt als eine schmale Gratwanderung zwischen (Re-) Auratisierung und untergründiger Dekomposition, als eigentümliches Schwanken zwischen faszinierter Aufmerksamkeit und endgültigem Abgesang auf die alteuropäische Schriftkultur.28 Diese, sich in den vorgestellten Beispielen andeutende, grundlegende Ambivalenz gilt es im folgenden bzw. in den Einzelanalysen genauer in den Blick zu rücken und präziser herauszuarbeiten.

27 Malina. Ein Filmbuch von Elfriede Jellinek. Nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Frankfurt 1991, S. 8. 28 Eine ähnliche Zwiespältigkeit in der filmischen Präsentation der Buch- und Schriftmedien beobachtet auch Detlef Kremer: Arche und Apokalypse. Bild und Schrift in Peter Greenaways Filmen. In: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000. S. 503-520. 59

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 10-14: Die Schriftstellerin bei der Arbeit Aus: MALINA, Regie: Werner Schroeter, Drehbuch: Elfriede Jelinek

Obwohl das Genre der Literaturverfilmung in unserem Kontext sicher besonders vielversprechend ist,29 bleibt das in den neuen Medien wiederentdeckte Interesse am Buch weder auf Literaturverfilmungen beschränkt, noch ist es in jedem Fall durch das behandelte sujet selbst unmittelbar motiviert. Peter Greenaways Film THE PILLOW BOOK (DIE BETTLEKTÜRE) greift zwar ebenfalls auf das Medium des Buchs und der Schrift, also die oben genannte Konstellation, zurück, weist aber keine unmittelbare literarische Vorlage auf.30 Es gelingt Greenaway vielmehr, das zuvor bereits erfolgreich verwendete, wenn nicht gar schon ausgeschöpfte Motiv geschickt zu variieren, um ihm eine neue, unerwartete Wendung zu verleihen. In THE PILLOW BOOK steht nämlich nichts weniger als das Verhältnis von Buch und menschlichem Körper, Beschriftung des Pergaments und der Haut, kurz gesagt: die (verborgene) anthropologische Dimension und Körperhaftigkeit der Medien zur Debatte.31 An jene vorläufigen Beobachtungen schließen sich eine Reihe von Fragen an, die einer genaueren Untersuchung bedürfen. Wie kommt es, so wäre zu überlegen, dass das ältere, schon obsolet anmutende Medium

29 Auch Sally Potters neuere filmische Umsetzung von Virginia Woolfs Orlando wäre in diesem Zusammenhang zu diskutieren und mit Malina zu vergleichen. 30 Es gibt zwar ein japanisches Buch Makura no sōshi, das Aufzeichnungen einer Hofdame enthält und im Jahr 1002 vollendet worden sein soll. Es hatte wohl für Greenaway eine Anregungsfunktion, ohne jedoch das Handlungsgeschehen für den Film vorzugeben. 31 Einige Interpreten sind der Meinung, eine solche ‘starke’ anthropologische Dimension im Gesamtwerk Greenaways entdecken zu können. Vgl. etwa Kerstin Frommer: Inszenierte Anthropologie. Ästhetische Wirkungsstrukturen im Filmwerk Peter Greenaways. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, 1994. 60

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

des Buchs mit der Erfindung und Weiterentwicklung modernerer Kommunikationstypen im Film überhaupt noch eine ‚Existenzchance‘ erhält und nicht einfach buchstäblich von der ‚Bildfläche‘ verschwindet. Aber damit nicht genug: Weit davon entfernt, ein dürftiges Schattendasein zu fristen, scheint es so, als ob gerade in der Begegnung mit dem Medium des Films die typischen Merkmale und Vorzüge des Buchs allererst entdeckt und ins rechte Licht gerückt würden. Es handelt sich dabei offenbar um einen höchst interessanten und aufschlussreichen Vorgang des Zusammentreffens und der Überlagerung verschiedenartiger Medien, aus der sich eine eigentümliche Verdopplung und Pluralisierung der Perspektive ergibt. Dass eine solche Interferenz unterschiedlicher Medientypen einen besonderen Reiz ausübt und ungeahnte Wirkungen auslösen kann, hat schon McLuhan beobachtet: „Die Wirkung des Mediums wird gerade deswegen so stark und eindringlich, weil es wieder ein Medium zum ‚Inhalt‘ hat. Der Inhalt eines Films ist ein Roman, ein Schauspiel oder eine Oper.“32 Nicht zuletzt aufgrund solcher, mitunter komplizierter ‚Wechselwirkungen‘ bewähre sich die kulturverändernde, formative Wirkung der Medien und ihre „gestaltende Kraft in der Geschichte.“33 Mehr noch: beim Zusammenstoß verschiedenartiger ‚Medientypen‘ und der mit ihnen jeweils verbundenen Mentalitäten erfolgt, so McLuhan, eine Freisetzung ungeheurer Energien, die mitunter bedrohliche Ausmaße annehmen kann. Dramatischer formuliert: „Durch Kreuzung oder Hybridisierung von Medien werden gewaltige neue Kräfte und Energien frei, ähnlich wie bei der Kernspaltung oder der Kernfusion.“34 Ein prägnantes Beispiel für die krisenhafte Zuspitzung einer solchen Begegnung bietet das Zusammentreffen von Kulturen, die auf unterschiedlichen Medientechniken und Kommunikationstypen basieren, wie es im Fahrwasser des Kolonialismus erfolgte.35 Aber auch innerhalb der modernen hochdifferenzierten Gesellschaften könne es zu vergleichbar heftigen Zusammenstößen von Kommunikationsformen wie z.B. des Buchdrucks und der elektronischen Medien in den USA der sechziger Jahre kommen: „Alles was Amerika mit dem Alphabetentum geschaffen hat, das auf Technik oder Uniformierung auf allen Stufen der Bildung, 32 33 34 35

M. McLuhan: Understanding Media, S. 38. Ebd., S. 38. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 35: „Die elektrische Geschwindigkeit verschmilzt vorgeschichtliche Kulturen mit dem Ramsch der industriellen Markthändler, vereinigt Nichtalphabeten mit Halbalphabeten. Geistige Zusammenbrüche sind sehr oft das Ergebnis der Entwurzelung und Überflutung mit neuen Informationen und immer neuen Formen der Information.“ 61

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Erziehung, der Regierung, der Industrie und des gesellschaftlichen Lebens Anwendung findet, ist überall von der Technik der Elektrizität bedroht. [...] Die Technik der Elektrizität ist mitten unter uns, und wir sind benommen, taub, blind und stumm bei ihrem Zusammenprall mit der Technik Gutenbergs.“36 Die ‚Inszenierung‘ des Buchs im Kinofilm stellt also nur einen Sonderfall dar in einem weiteren, spannungsvollen Beziehungs- und Überlagerungsfeld, das sich zwischen den älteren und den so genannten neuen Medien seit ihrer Entstehung auftut.37 Im Gegensatz zu den von McLuhan registrierten großräumigen Veränderungen und ‚Verschiebungen‘, die ganze Kulturen betreffen und meist mehr oder weniger unvorhergesehen und planlos verlaufen, handelt es sich bei der kinematographischen Evokation bzw. Vergegenwärtigung des Buchs und des Textes indes sicherlich um ein Phänomen geringerer Reichweite, das aber darum nicht weniger interessante Einblicke in das Zusammenwirken von unterschiedlichen Medien verspricht. Zumal es ein bewusstes artistisches Verfahren darstellt, das zu jeweils genuin ästhetischen Zwecken genutzt werden kann. Die Zielsetzung der Studie besteht, so betrachtet, nicht zuletzt darin, die mit der Aufnahme der Schrift und der gedruckten Buchseite in den Film verbundene neue Medienästhetik und ihre spezifischen Strukturen näher zu definieren.38 Was geschieht, so wäre zu fragen, in produktionsund wirkungsästhetischer Hinsicht, wenn das Buch zum Gegenstand der „kinematographischen Imagination“39 (Kremer) avanciert? Insbesondere Greenaways Filme vermitteln ein neues Verständnis vom Film bzw. von der kinographischen Erfahrung als ‚Gesamtkunstwerk‘, das sich von den symbolistischen Vorläufern und dem Wagnerschen Typ40 allerdings durch seine offen technomorphe Art grundlegend unterscheidet. Daher wäre der Gegenstandsbereich der hier angepeilten Untersuchung nicht einfach isoliert zu betrachten, sondern in einem weiteren Kontext zu verorten, dessen eigentlichen Bezugspunkt ein moderner intermedialer Typ von ästhetischer Kommunikation bildet, wie er vielleicht nur im Medium des Films mit seinen subtilen Techniken der

36 Ebd., S. 37. 37 Vgl. auch: J. Griem (Hg.): Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Tübingen 1998. 38 Zur besonderen ästhetischen Qualität der neuen Medien allgemein vgl. Florian Rötzer: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt 1991. 39 Detlef Kremer: Greenaways Filme. S. 187. 40 Zur ganzheitlichen Ästhetik Wagnerscher Provenienz vgl. auch Hans Günther: Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos. Bielefeld 1994. 62

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Illusionierung erfolgreich umzusetzen und ästhetisch voll auszuschöpfen ist. Neben den oben bereits erwähnten allgemeinen Beiträgen zur neueren Medienästhetik (McLuhan, Flusser u.a.) spielen die Besonderheiten der Literaturverfilmung, die gewissermaßen als ein eigenes Subgenre zu betrachten ist, eine zentrale Rolle. Sind doch mehrere, wenn auch keineswegs alle der zu diskutierenden Beispiele nichts anderes als filmische Adaptationen literarischer bzw. fiktionaler Texte. Außerdem wären komplementär dazu die neueren Forschungsansätze zu berücksichtigen, die sich mit der Ästhetik der Schrift41 bzw. den spezifischen medialen Bedingungen des Buchs beschäftigen. Ohne die charakteristischen Merkmale der Buchkultur unter medientechnischen und kommunikationslogischen Gesichtspunkten genauer in den Blick zu rücken, lässt sich deren bleibende Bedeutung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und der elektronischen sowie digitalen Medien kaum adäquat erfassen. Es versteht sich beinah von selbst, dass im Kontext der vorliegenden Studie, die selbstverständlich nur einen (signifikanten) Ausschnitt aus dem übergreifenden systematischen Problem des Medienwechsels und Medienvergleichs beleuchtet, stets beide Seiten, die Eigenschaften der ‚alten‘ und der ‚neuen‘ Medien, zu berücksichtigen sind, zumal gerade die subtile Verschränkung in den gewählten Filmbeispielen explizit oder implizit den Vergleich herausfordert. Durch die geschickte Gegenüberstellung bzw. komplexe Verbindung unterschiedlicher Medientypen, wie sie in den erwähnten Spielfilmen erfolgt, lassen sich zum einen unerwartete wirkungsästhetische Korrespondenzen beobachten, zum anderen treten auch, so ist zu vermuten, die Unterschiede der medialen Strukturen durch das kontrastive Arrangement schärfer und prägnanter hervor. In diesem Kontext wäre ein detailliertes ästhetisches Modell für die kinematographische ‚Neuauflage‘ des Buchs und die Schriftphantasien des Spielfilms im gewählten Untersuchungszeitraum zu erstellen, um von da aus den Reiz und die Problematik bzw. die eigentümliche Ambivalenz 41 In diesem Zusammenhang sind etwa die eigentümliche Struktur der linearen Ordnung und der latente Ornamentcharakter der Schrift von Interesse, der nicht erst von Regisseuren wie Greenaway entdeckt wurde, sondern die europäischen Künstler seit der Romantik inspirierte. Vgl. diesbezüglich die Arbeiten von Günter Oesterle: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels „Brief über den Roman“. In: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, hg. Dirk Grathoff, Frankfurt 1985 und ders.: Arabeske. Schrift und Poesie in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“. Athenäum 1 (1991). S. 69107. Vgl. ferner: Gerhart v. Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes 'West-östlichen Divan'. Stuttgart, Weimar 1994. 63

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

des beobachteten intermedialen Verfahrens diskutieren zu können. Insgesamt verspricht die Untersuchung des skizzierten Phänomens und Gegenstandsbereichs offenbar einen doppelten Gewinn, da sie sowohl die (ästhetischen) Besonderheiten der zu diskutierenden Medien und ihres intermedialen Zusammenspiels näher zu bestimmen vermag als auch, damit verbunden, einen relevanten Beitrag zur Mentalitätsgeschichte um die Jahrtausendwende bietet.

2.2 Die Bibliothek als kriminalistischer Schauplatz – Jean-Jacques Annauds DER NAME DER ROSE als Prototyp einer detektivischen Zeichenlektüre und semiotischen Beobachtung Zweifellos erfüllt Jean-Jacques Annauds Verfilmung von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose von 1986 eine wichtige, kaum zu überschätzende Anregungsfunktion für die Filme der 1990er Jahre und darüber hinaus, was die Thematisierung und filmische Umsetzung der Buchkultur und des Mediums der Schrift betrifft. Deshalb bietet es sich an, als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion zunächst einen Blick auf Annauds spezifische Akzentsetzung bei der kinematographischen Darstellung der mittelalterlich-monastischen Bücherwelt und Schriftkultur zu werfen. Auf eine ausführliche inhaltliche Diskussion des Films kann indessen verzichtet werden, da er bei Kritikern und Filmwissenschaftlern auf ein breites Echo gestoßen ist und inzwischen eine Reihe detaillierter Analysen erfahren hat, deren vielfältige Ergebnisse hier nicht im einzelnen referiert werden können. Statt dessen geht es bei den im folgenden zu skizzierenden Überlegungen darum, lediglich die für die gewählte Fragestellung und das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie relevanten Aspekte herauszugreifen und zu diskutieren. Dabei können andere wichtige Komponenten, die den Film wesentlich geprägt haben, wie zum Beispiel die von Umberto Eco angeschnittenen mediävistischen Spezialfragen und die Besonderheiten der Gattungen Kriminalgeschichte und Thriller, die aus der Plotstruktur des Romans wie auch des Drehbuchs hervorgehen, nur gestreift werden. Das Drehbuch des Films beruht bekanntlich auf dem Roman Il nome della rosa („Der Name der Rose“ 1980) aus der Feder des Literaturwissenschaftlers, Semiotikers und Mediävisten Umberto Eco und wurde von Andrew Birkin, Gérard Brach, Howard Franklin und Alain Godard verfasst. Die Situierung des Geschehens im Mittelalter erweist sich indes auch für die intermediale Dimension des Films als durchaus folgenreich. Denn die mediale Differenz zwischen dem alten Medium des Buchs und

64

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

dem neuen des Films wird dadurch in Annauds Film von einer zweiten Unterscheidung, einer Epochendifferenz, in signifikanter Weise überlagert und durch letztere verstärkt. Der Kontrastierung der beiden Medien entspricht mithin die Unterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne, eine Dichotomie, die sich in den unterschiedlichen Mentalitäten der Abteibewohner (des Abtes, Jorges etc.) und der ‚aufgeklärten‘ Einstellung Bruder Williams wiederholt. Zudem bilden der abgeschiedene Raum des mittelalterlichen Klosters und die sakrale Atmosphäre monastischer Gelehrsamkeit einen aufschlussreichen Kontrast zu der weltlichen Gesinnung der modernen, in erster Linie auf Unterhaltung bedachten Kinobesucher. Das Filmgeschehen konstruiert somit eine dem Zuschauer denkbar fremde und entlegene innerfiktive Wirklichkeit, deren Bewohner durch das Buchwissen sowie eine Jahrhunderte zurückreichende Tradition der (klösterlichen) Schriftgelehrsamkeit kulturell geprägt sind. Jene Ausgangskonstellation, in der die Erfahrung der Fremdheit und der Andersartigkeit dominiert, wird für die Wahrnehmung der Bücher und der Bibliothek als eines Ortes vergangener Gelehrsamkeit und Bildung bestimmend. Das Regiekonzept spielt dabei durchaus mit einer nostalgischen Erwartungshaltung der Zuschauer, die aber durch die kriminellen Aktionen und die verhängnisvolle Eigendynamik des Verbrechens im Verlauf der kinematographischen Narration wiederum unterlaufen wird. Die spannungsvolle Handlung nimmt ihren Anfang in der Unterbrechung einer Reise. Die Franziskanermönche Adson von Melk (Christian Slater) und sein Mentor William von Baskerville (Sean Connery) befinden sich auf der Durchreise nach Rom und machen Station in einer wohlhabenden mittelalterlichen Abtei, die für ihre umfangreiche Bibliothek berühmt ist. Während Ihres Aufenthaltes ereignen sich sonderbare Verbrechen, eine Serie von Morden, deren Zusammenhang und Urheberschaft William, in die Rolle des Detektivs schlüpfend, auf den Grund zu gehen versucht. In den Figuren William und Adson lässt sich leicht eine literarische Anspielung auf Arthur Conan Doyles Ermittler Sherlock Holmes und seinen Helfer Dr. Watson erkennen. Der jüngere und naivere Adson übernimmt zudem die Funktion, den Zuschauern als Identifikationsfigur zu dienen, zumal ihnen die dargestellte Klosterwelt ebenfalls weitgehend fremd sein dürfte. Unter den übrigen Mönchen der Abtei nimmt neben dem Abt vor allem die autoritäre Figur Jorges eine herausragende Stellung ein, die sowohl in Ecos Roman als auch in der filmischen Adaption der Figur Williams diametral entgegengesetzt ist und als fanatischer Vertreter der traditionellen Orthodoxie zum Gegenspieler des aufgeklärten Franziskanermönchs wird. Es ist bezeichnend, dass der sich abzeichnende Konflikt zwischen den konträren Geisteshaltungen im Film

65

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

in konzentrierter Form als Auseinandersetzung um die Bücher, um das in ihnen verborgene Wissen und ihre adäquate Lektüre gestaltet wird. Das mittelalterliche Sujet gibt gleichsam eine spezifische Blickrichtung auf das Buchmedium in Gestalt von kostbaren, reich illustrierten Pracht-Handschriften vor, die das ehrwürdige Alter des Mediums ebenso wie seinen hohen materiellen Wert betont und es zugleich als Gegenstand einer untergegangenen Gesellschaft bzw. Schriftkultur enthüllt. Jene doppelbödige und finalistische Perspektive wird durch das apokalyptische Szenario am Schluss des Films wirkungsvoll unterstrichen, in der das Prekäre und unvermeidlich Vergängliche der klösterlichen Buchtradition zum Ausdruck kommt. Mehr noch: Indem der Film sich auf die monastische Buchkultur vor der Erfindung des Buchdrucks konzentriert, entlarvt er sie rückblickend als bereits obsoletes Traditionsgut und inszeniert die Schrift als ein notwendig dem Untergang verfallenes Speichermedium. So verschärft sich das implizite Spannungsverhältnis zwischen der modernen Kinematographie und ihrem selbstgewählten Objekt, dem Medium des mittelalterlichen Buchs und der Handschrift, das dem Rezipienten nunmehr soweit entrückt ist, dass die Überbrückung einer Kulturschwelle zwischen ihm und dem Dargestellten erforderlich scheint. Wenn im Film die Inhalte der Bücher, das gelehrte Buchwissen der Mönche, weit weniger ausführlich und differenziert entfaltet werden als im Ecoschen Roman, wie von Kritikern zu Recht oft beklagt wurde, hat dies sicher erhebliche Nachteile im Blick auf das Niveau der komplexen innerfiktiven theologischen und soziologischen Diskussionen und der Kontroversen zwischen den rivalisierenden Klerikern und Mönchsgruppen. Auf der anderen Seite trägt die Tatsache, dass ein Teil der gelehrten Auseinandersetzungen bei der filmischen Adaption entfällt, dazu bei, das Augenmerk von den kontrovers diskutierten Inhalten der Bücher auf die mediale Dimension selbst zu lenken. Es geht im Film, im Unterschied zu Ecos Roman, weit weniger um die in Annauds Adaption eher oberflächlich bleibenden Semantiken des mittelalterlichen Wissens als vielmehr um dessen konkrete materielle und mediale Träger, um eine Erkundung der besonderen medialen Struktur des Buchs im Ambiente der klösterlichen Bibliothek und der Umgangsformen mit diesem Medium. Dazu gehören auch die außerordentliche Wertschätzung und Bewunderung, die den kostbaren Bänden seitens des Abtes und Williams entgegengebracht werden. So kommt es in Annauds Adaption zu einer merklichen Interessenverschiebung gegenüber der Ecoschen Vorlage, denn die mediale Dimension der Bücher und die in der mittelalterlichen Klosterkultur perfektionierte Kulturtechnik und Kunstform des Schreibens erhalten durch das Regiekonzept J.J. Annauds einen deutlichen Vorrang gegenüber ihren gelehrten Inhalten. Demgegenüber wird im Roman den komplizierten innerkirchlichen Debatten und Kontroversen um die Inhalte der christli66

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

chen Lehre, ihre Deutungen, um die Formen klösterlichen Zusammenlebens, die anerkannten Orden und die vermeinte Häresie der Abweichler eine breite Darstellung eingeräumt. Eco konzentriert sich in ausgedehnten Kapiteln darauf, die unscharfe Grenzlinie zwischen Orthodoxie und Heterodoxie und die dynamischen Wechselwirkungen zwischen dem Zentrum der Glaubensgemeinschaft und ihren Rändern offen zu legen. Bei Annaud hingegen unternimmt die Kamera in erster Linie eine Erkundung der unmittelbaren Raumwahrnehmungen der Klostergebäude in ihrer teilweise labyrinthischen Struktur, der Entstehungs- und Aufbewahrungsorte der Bücher sowie der Zugänge zur geheimen Bibliothek. Der Blick der Kamera wie derjenige der beiden Besucher William und Adson dringt in einen verborgenen Zusammenhang ein, der sowohl auf der Ebene der Raumerfahrung als auch der parallel dazu vollzogenen Schriftlektüren schrittweise enthüllt wird. So verwundert es kaum, wenn die Bücher und die Entdeckung des geheim gehaltenen Orts der Klosterbibliothek zum zentralen Spannungsmoment des Films avancieren, hinter dem zuweilen selbst die kriminellen Handlungen und die einzelnen detektivischen Ermittlungen zurücktreten. Der besonderen Bedeutung, die dem Raum der Bücher zukommt, wird durch die sorgfältige Arbeit der Filmdesigner bestätigt, da die architektonische Gestaltung der im Turm der Abtei befindlichen Bibliotheksräume präzise durchdacht wurde. Nicht zufällig handelt es sich bei der Bibliothek um eine aufwendig konstruierte Filmkulisse, deren labyrinthische Räume nach dem Vorbild Piranesischer Darstellungen entworfen wurden. Man riskierte mit der Realisation solcher komplexer dreidimensionaler Labyrinthentwürfe sogar bewusst einen Anachronismus, denn, wie Puzberg und Weihmann zu Recht betonen, ist das „Labyrinth, im Roman nur auf einer Ebene liegend, im Film mehrstöckig.“42 Vorbilder für das Gewirr aus Treppen und Gängen, wie sie in der Filmkulisse der Bibliothek eindrucksvoll realisiert wurden, sind die Bühnenentwürfe und Graphiken Giovanni Battista Piranesis, insbesondere die Carceri, sowie die Bilder Maurits Cornelis Eschers. „Eine derartige Konstruktion freischwebender Treppen wäre im Mittelalter noch nicht möglich gewesen.“43

42 Zur Verfilmung von Ecos ‚Der Name der Rose’. S. 327. 43 Ebd. 67

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 15 (links): Labyrinthische Konstruktion von Piranesi44 Abb. 16 (rechts): Die geheime Bibliothek der Abtei (aus: DER NAME DER ROSE)

Der Zuschauer teilt die Perspektive der Hauptfiguren William von Baskerville und Adson, indem er deren schrittweise Annäherung an die Bücherwelt nachvollzieht, mit ihnen zunächst das Scriptorium, später dann die bezeichnenderweise im Verborgenen liegende Bibliothek selbst erkundet. Es ist entscheidend zu sehen, dass die Sicht des Rezipienten weitgehend mit der Perspektive des Jungen Adson, der gewissermaßen den naiven Beobachter repräsentiert, konvergiert – ein Eindruck, der vor allem durch die geschickte Kameraführung evoziert wird. Aus der Sicht des jugendlichen Protagonisten sind die Bücher mit einer Aura des Exotischen sowie des Geheimen und Verbotenen umgeben, Aspekte, die durch die kindliche Neugier noch intensiviert werden. Besonders deutlich wird dies, als Adson mit William die Bibliothek betritt und seinen Lehrer zeitweilig aus den Augen verloren hat. Im dunklen Raum der Bibliothek fällt das Kerzenlicht wie zufällig auf die herumliegenden aufgeschlagenen Buchseiten und beleuchtet die Schriftzüge und die Buchillustrationen, die Adson in ihren Bann ziehen. Bei den Nahaufnahmen der Buchseiten folgt die Kamera dem Lichtstrahl ebenso wie dem neugierigen Blick des Jungen, vor dem sich die Schätze des abendländischen und orientalischen Wissens mit einem Mal in einer anscheinend kontingenten Auswahl auftun, die ihn zugleich reizt und überfordert. Die Bücher enthalten neben religiösen, theologischen Semantiken auch ein tabuisiertes Wissen über Liebe und Sexualität, das aus der Sicht des Jugendlichen 44 Vgl. Giovanni Battista Piranesi: I Carceri, 1750. http://www.let.leiden univ .nl/Dutch/ Renaissance/Facsimiles/PiranesiCarceri1750/ 68

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

eine quasi erotische Faszination am Medium des Buchs weckt. Adson berührt, sich beim Lesen selbst vergessend, eine Buchseite mit dem Gesicht. Die Begegnung mit dem Buch und der Körperkontakt unterstreichen eine Dimension, die auch schon in der Filmsequenz im Scriptorium in Andeutungen präsent war, nämlich eine anthropomorphe Qualität der Bücher, die in ihrer Ausstrahlung und ihren leuchtenden Farben als lebendiges Gegenüber erscheinen.

Abb. 17-20: Im Scriptorium (aus: DER NAME DER ROSE)

Das lange Verweilen in der Bibliothek hat zwar eine handlungsbedingte Ursache, da sich William und Adson zeitweilig in den labyrinthischen Gängen verirrt haben, aber es zeigt auch den hohen Stellenwert jenes Orts im filmischen Geschehen und erlaubt dem Regisseur, die zugleich

69

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

geheimnisvoll anziehende und fremde Natur des mittelalterlichen Bücherkults geschickt in Szene zu setzten.

Abb. 21: In der Bibliothek der Abtei Abb. 22: Der Blick des Beobachters am Fenster (aus: DER NAME DER ROSE)

Nicht weniger aufschlussreich als der verzögerte Eintritt der beiden Klosterbesucher in die Bibliothek ist das vorausgegangene Filmgeschehen im Scriptorium. Auch hier betreten William und Adson den Raum als ungebetene Gäste, denen man den Zugang zu den Büchern und den in ihnen enthaltenen diversen Informationen am liebsten verwehren will. Das Buch avanciert dabei zu einem Informationsträger im doppelten Sinne. Zum einen sind in ihm Aufzeichnungen von abendländischen Gelehrten enthalten, die andernorts nicht zugänglich sind. Die mittelalterliche Handschrift wird in ihrer speichernden und bewahrenden Funktion beleuchtet, als Kulturträger und Medium der Tradierung sowie Archivierung. Hinzu kommt nun eine zweite, spezifischere Funktion, denn William sucht in den Handschriften nach möglichen Spuren, die eine Auflösung des inzwischen vorgefallenen Mordes erlauben könnten. Somit erweisen sich die Handschriften als potentielle Objekte einer detektivischen Lektüre und als geeignetes Medium der Aufklärung eines Kriminalfalls. Betrachtet man die semiotische Ebene der Tätigkeit des Detektivs, in dessen Rolle William von Baskerville geschlüpft ist, genauer, so wird deutlich, dass wir es dabei mit subtilen Lektüreprozessen zu tun haben, mit einem Prozess des Spurenlesens, der an so unterschiedlichen Medien ansetzen kann wie unsichtbaren Schriftzügen auf Pergament, die nur bei Kerzenbeleuchtung sichtbar werden, und Fußabdrücken im Schnee, die dem sorgfältigen Betrachter etwas über die Körperhaltung und mutmaßliche Tätigkeit ihres Urhebers verraten. Annaud situiert, darin Umberto Eco folgend, die Entzifferung der Schrift und die Buchlektüre in einem weiteren Umfeld allgemeiner semi-

70

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

otischer Prozesse der Entzifferung und Decodierung von Zeichen, die ebenso für die Ermittlungen des Detektivs wie für die angemessene Wahrnehmung des Kinobesuchers relevant sind. Es gelingt Annaud immer wieder, die für sein Regie-Konzept entscheidenden Lektüre- und Wahrnehmungsprozesse in den Mittelpunkt zu rücken, indem er optische Geräte einblendet wie die Augengläser Williams, die jener im Scriptorium benutzt. Ihre Bedeutung wird durch das Verfahren des Close up ebenso wie durch die eingeblendeten Reaktionen der umstehenden Mönche, ihre neugierigen Blicke und ihr erstauntes Murmeln, nachhaltig unterstrichen. Die Perspektive der Kamera wandert zwischen der Nahaufnahme von Williams konzentriertem Gesicht, den Augengläsern, den aufgeschlagenen Pergamentseiten und den durch die Gläser vergrößerten Schriftzeichen hin und her. Zudem erfasst sie diverse Beobachter im Scriptorium, die das ganze neugierig mitverfolgen. Somit wird der Kinobesucher Zeuge eines komplexen Beobachtungsprozesses, in den mehrere Beobachtungen und Perspektiven involviert sind, gleichwohl die Buchseiten, ihre Schriftzüge und Illustrationen, zweifellos im Mittelpunkt des Interesses stehen. Er wird zu einem Beobachter höherer Ordnung, der nachvollzieht, wie – auf welche Weise – die umstehenden Mönche im Film beobachten, wie William die Schriftzeichen und Schmuckinitialen auf den Pergamentseiten aufmerksam in markanter Vergrößerung studiert. Der Film inszeniert das Wechselspiel und die Überschneidung der Blicke, die wiederum durch einen Wechsel zwischen Licht und Schatten untermalt wird. Die Schriftlektüre wird so in einem Szenario aus vielschichtigen Wahrnehmungsprozessen und in dem übergreifenden Zusammenhang der monastischen Kulturpraktiken des sorgfältigen Lesens und Entzifferns verortet. In die detektivische Lektüre von Zeichen in weiterem Sinne reihen sich auch das Finden und Öffnen der Geheimtür in der Abteikirche ein, die einen verborgenen unterirdischen Zugang zur Bibliothek bietet. Bei allen Unterschieden, die sich zwischen den verschiedenartigen semiotischen Prozessen auftun, da wir es mit kommunikativen sowie unwillkürlichen Spuren zu tun haben, betont der Film letztlich den gemeinsamen Nenner im Umgang mit den Zeichensystemen, die Fertigkeit der Entzifferung, die in der klösterlichen Andacht im Umgang mit der biblischen Schrift vorgeprägt ist und im Falle Bruder Williams zu aufklärendem Wissen führen kann. Die ‚semiotischen Lektüren‘, die William im Laufe des Filmgeschehens ausführt, reichen von der anfänglichen Spurensuche und Spurendeutung im Schnee über die analytische Betrachtung der Leichen und der merkwürdigen Flecken an ihren Fingern sowie die Deutung der komplexen Klosterarchitektur mit dem pragmatischen Ziel, sich in ihr zurechtzufinden, bis hin zur konkreten Lektüre der im doppelten Sinne wertvollen 71

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Manuskriptseiten. Dabei wird der Vorgang des Lesens und Dechiffrierens durch die Verwendung des bereits erwähnten Augenglases unterstrichen, das der fortschrittliche Mönch selbst entworfen haben soll und das im Film durch mehrere Close ups besondere Aufmerksamkeit erhält. Überdies gewinnen die Augengläser im Film wie im Roman eine übergreifende symbolische Bedeutung, da in ihnen das Instrumentarium des Detektivs, das Gerät des modernen Naturwissenschaftlers und das Werkzeug des Schriftgelehrten koinzidieren, so dass jene Bereiche in einer einmaligen Synthese gebündelt werden, die für den neugierigen und aufgeschlossenen Charakter Bruder Williams typisch sind. Ferner gilt das Augenmerk der Kamera den Prozessen des Sehens, Beobachtens und Erkennens, die im Film, insbesondere bei den Nahaufnahmen von entscheidender Bedeutung sind. Wichtiger noch als die Frage, was jeweils passiert, ist der Umstand, wer beobachtet, was geschieht – oder anders formuliert: wer zum Beobachter dessen wird, was für die verwickelten Zusammenhänge, die die ungeklärte Mordserie auslösen oder begleiten, relevant ist.

Abb. 23: Begegnung im Schnee und sich kreuzende Spuren Abb. 24: Williams Augenglas

Abb. 25: Spuren an der Leiche Abb. 26: Blick durch die Augengläser (Abb. 23-25 aus: DER NAME DER ROSE) 72

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

Neben der geschickten Kameraführung ist die symbolische und filmtechnische Bedeutung der Beleuchtung in Annauds Film zu erwähnen, betont sie doch vielfach jene aufklärerische Perspektive, wie sie in der Figur Williams präsent ist. Die Hochschätzung des Buchs, die insbesondere durch William vermittelt wird, findet schließlich eine Steigerung darin, dass die Bücher eine explizite anthropologische Dimension annehmen. Denn die Inquisition und die Verbrennung der Beschuldigten, die im Film spektakulär und durchaus im Rückgriff auf vertraute Klischees vorgeführt wird, bildet eine kaum zufällige Parallele zu jener Bücherverbrennung in der Bibliothek, die das apokalyptische Ende einleitet. Die positive Wertschätzung des Buchs wird eindringlich durch die Einstellung und die Mentalität Williams verkörpert, der für seine ‚bibliophile‘ Haltung sogar sein Leben aufs Spiel setzt. Der Film fokussiert im Vergleich zum Buch einen zusätzlichen Augenblick der Gefahr, indem die Kamera William von Feuer umgeben mit einem Stapel mit Büchern einblendet, die er aus den Flammen retten will, das damit verbundene Risiko offenbar unterschätzend. Ein weiteres Bild zeigt den draußen wartenden Adson, der verzweifelt ist, da er seinen Freund verloren glaubt. Schließlich wird in den Rauchschwaden unerwartet die Silhouette Williams sichtbar, dem die Flucht doch noch gelungen ist.

Abb. 27 und 28: Bücherverbrennung und Bücherrettung (aus: DER NAME DER ROSE) 73

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Annauds Film präsentiert das Medium des Buchs in einem doppelbödigen Ambiente risikoreicher Anziehung und Faszination. Die kinematographische Analyse erzeugt Distanz und veranlasst die Zuschauer, auch die bibliophile Einstellung Williams, des wichtigsten Sympathieträgers der Filmnarration, mit Skepsis zu beobachten. Trotz einer gewissen Sympathie für die bibliophile Haltung, die in der Faszination durch die geheime Bibliothek Ausdruck findet, besteht im Film also eine deutliche Tendenz, die Buchkultur in ihrer Ambivalenz zu zeigen, schwankend zwischen einem Instrument der Macht und einem Medium der Aufklärung sowie des Erkenntnisgewinns. Ungeachtet der sakralen Sphäre, in der sich der Bibliotheksraum befindet, rückt er in eine gleichzeitige Nähe zum Verbrechen.

Abb. 29-30: Konfrontation der Hauptfiguren mit Jorge und dem umstrittenen Buch des Aristoteles (aus: DER NAME DER ROSE)

Jorge versinnbildlicht beispielhaft die autoritär-dogmatische Einstellung zum Buchwissen, während das Alter der Bücher ihren prekären Status als Träger (umstrittener) Überlieferungsgehalte hervorhebt, die Kontroversen auslösen und letztlich die Destruktion der Bibliothek einleiten. Zu den von Annaud eingesetzten filmästhetischen Verfahren gehört die gelungene Kontrastierung von Licht und umgebender Dunkelheit, die eine Art Claire-obscure-Atmosphäre erzeugt. Sowohl die Kontrastierung der Positionen als auch die Lenkung der Zuschauer-Aufmerksamkeit werden 74

DIE ‚WIEDERKEHR‘ DES BUCHS UND DER SCHRIFT IM SPIELFILM

durch den gezielten, sehr geschickten Einsatz von Beleuchtungseffekten untermalt und gesteuert. Die Reflexion auf das Buch als Medium wird im Film vielfach optisch hervorgehoben, insbesondere durch die eindrucksvollen Nahaufnahmen der Bibliotheksbände im Scriptorium und in der Bibliothek selbst, die wiederum durch die Kameraführung und die filmische Erzählperspektive, etwa die häufig eingenommene personale bzw. homodiegetische Perspektive aus der Sicht des Jungen Adson, zusätzlich motiviert und auf diese Weise geschickt in die Filmsequenzen integriert sind. Der Lichtstrahl des Films dringt ins Dunkel der Klosterbibliothek vor und begleitet William von Baskervilles aufgeklärten Lektüreimpuls, der als leidenschaftlicher Leser und beispielhafter Schrift-Entzifferer auftritt, ohne die Bibliothek und ihre kostbaren Bände vor der endgültigen Zerstörung bewahren zu können. Vielmehr beschleunigt sein Wissens- und Tatendrang unbewusst paradoxerweise die Destruktion eben jener Gegenstände, die das Ziel seiner wissenschaftlichen Neugier und seines Forscherdrangs sind.

75

3. Konstellationen des ‚Dazwischen‘ im Kinofilm der Gegenwart: Medienwechsel und Grenzgänge zwischen Literatur – Theater – Film 3.1 Wechselspiel der Medien und kulturanthropologische Perspektiven Fragt man nach den gemeinsamen intermedialen Bezugspunkten neuerer Filmproduktionen wie PROSPERO’S BOOKS, THE DA VINCI CODE, BECOMING JANE oder THE NINTH GATE, so erweisen sich Schrift, Einschreibung und Lektüre sicher als bleibende intermediale Eckpfeiler im filmischen Koordinatensystem, welches es selbstreflexiv auszuloten und kinoästhetisch fruchtbar zu machen gilt. Neben den ‚alten Medien‛ Buch und Schrift treten im Film zudem häufig weitere intermediale Bezugspunkte wie Musik und Sprache, Drama und Theater als konstitutive Momente in das strukturelle Beziehungsgefüge ein, die bei der Filmanalyse gleichermaßen Aufmerksamkeit verdienen. Ihre Anwesenheit gibt Anlass, die verbreitete These von der Dominanz des Bildes und des Visuellen im Film zu modifizieren, wenn nicht zurückzunehmen. Bekanntlich wurde schon die erste öffentliche Filmvorführung 1895 mit Musik begleitet. Während anfänglich improvisierende Klavier- oder Harmonium-Begleitung die Musik beisteuerten, kamen am Ende der Stummfilmzeit 1927 große Sinfonieorchester oder die Kinoorgel zum Einsatz, die in aufwendig ausgestatteten Räumen, den prachtvollen ‚Kinopalästen‛, eine eigens verfertigte Komposition zum Film vorführten. Auch bei den heutigen Spielfilmen ist eine individuelle, für das jeweilige Filmwerk komponierte Filmmusik die Regel.1

1

Vgl. die einschlägige Studie von Claudia Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg: Wissner 1999. Vgl. ferner Matthias Keller: Stars and sounds: Filmmusik – die dritte Kinodimension. Kassel: Bärenreiter 1996; Roy M Prendergast: Film Music: A Neglected Art. A Critical Study of music in Films. New York / London 1992. Und in historischer 77

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Wenn man nach den Besonderheiten des Intermedialen im Film fragt, so kristallisieren sich zwei auffallende, sehr unterschiedlich gelagerte Schwerpunkte heraus, die den hier zugrunde liegenden Filmen gemeinsam sind. Zum einen erfolgt eine Bündelung der Aufmerksamkeit der Zuschauer, die sich auf die intermediale Konstellation selbst richtet und eine meta-mediale Beobachtung bewirkt bzw. begünstigt. Zum anderen scheint sich in den Filmen parallel zur intermedialen Entfaltung auf der Strukturebene eine jener formalästhetischen Konstellation entsprechende Semantik bzw. Bedeutungsebene auszubilden. Es zeigt sich nämlich, dass die ausgeprägte Medieninterferenz dazu neigt, eine besondere kulturanthropologische Perspektive zu eröffnen, die eine charakterologische und entwicklungsgeschichtliche Linie zu (re-) konstruieren erlaubt. Auf die genannte Doppelperspektive lohnt es, im folgenden näher einzugehen. Zunächst bietet es sich an, noch einige Vorbemerkungen zur intermedialen Perspektive anzustellen: Wurde im vorigen Kapitel gezeigt, wie Buch und Schrift mit einer ihnen eigentlich diametral entgegen gesetzten Kinoästhetik und medialen Spezifik konfrontiert werden und welche Auswirkungen dieser Prozess der Repräsentation nach sich zieht, so lassen sich einige der Beobachtungen und gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere etwa zeitgleich entstandene Filme übertragen. Auch in ihnen steht jeweils eine Form der mehr oder weniger markierten Intermedialität im Vordergrund, die zu einer Entgegensetzung und einem Zusammentreffen unterschiedlicher medialer Ereignisse, Formen sowie medialer Raum- und Zeitentwürfe führt. Die Einbände der Bücher und die Rahmungen der Bilder geraten in Greenaways PROSPERO’S BOOKS dadurch in Bewegung, dass das Filmgeschehen gewissermaßen durch sie hindurch zieht. Ein visuelles Pendant zu diesem Vorgang sind die in Prosperos Zelle umherfliegenden und nach draußen flatternden losen Buchseiten. Die alten Medien werden von einer erstaunlichen, für sie eigentlich untypischen Beschleunigung erfasst. SHAKESPEARE IN LOVE und PROSPERO’S BOOKS präsentieren beide auf je unterschiedliche Weise ein Shakespearestück (Romeo and Juliet, The Tempest) zwischen Bühnenraum und filmischer Dynamik. Der Theaterraum wird mit den filmeigenen Mitteln gleichsam analytisch erschlossen, während eine bewegliche Kameraführung die stärker standortgebundenen, dramatischen Aufführungsmodalitäten auflöst und dynamisiert.

Hinsicht die erhellende Darstellung von Martin M Marks: Music and the Silent Film. Context & Case Studies 1895-1924. New York /Oxford: Oxford University Press 1997. 78

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

In der intermedialen Konstellation im Film kann es nämlich zu einer interessanten Überlagerung des medienspezifischen Raumerlebens kommen. Der vertraute theatralische Raum wird meist von einer festen Beobachterposition aus wahrgenommen, die sich z.B. im Parkett oder auf der Galerie befindet. Im Film hingegen haben wir es in der Regel mit einer beweglichen Perspektive zu tun, die sich einer mobilen Kameraführung und geschickten Schnitt- und Montagetechniken verdankt. Auf diese Weise kann auf der Leinwand, paradoxerweise gegebenenfalls mehr noch als im Theater, der Eindruck einer dreidimensionalen lebensnahen Raum- und Realitätserfahrung geweckt werden. In SHAKESPEARE IN LOVE und in FARINELLI wird die bewegliche Kameraführung nun geschickt dazu genutzt, den theatralischen Aktionsraum zu durchschreiten, um dabei die unterschiedlichen Räume des elisabethanischen Theaters bzw. der Barockoper auszuloten und eine umfassende Analyse der jeweiligen Bühnenarchitektur sowie des Zuschauerraums zu bewirken. Der Blick wird zum Teil hinter die Kulissen verlagert, zeigt den Bühnenraum mal von hinten, mal seitlich, um dann wieder die vertraute Perspektive von unten aus dem Parkett einzunehmen. Durch jenes Zusammenspiel von theatralischer und flexibler filmischer Perspektive entsteht eine eigentümliche Konkurrenz der Medien und der mit ihnen verbundenen medialen Räume. Die konventionelle Raumerfahrung gerät ins Wanken, da sich in der intermedialen Konstellation ein Wechselspiel von Stabilisierung und Destabilisierung des Beobachterstandorts ergibt, aus der wiederum eine erstaunliche Dynamik hervorgeht. Trotz des hohen Anteils an markierten Formen von Intermedialität sowie an medienspezifischer Selbstreferentialität und Selbstreflexion sind die hier diskutierten Filme keineswegs anthropofugal. Im Gegenteil, sie scheinen neben dem Interesse an der semiotischen und medialen Dimension durchaus an der Entwicklung und Psychologie der Charaktere bzw. ihrer jeweiligen Verortung in einem bestimmten kulturellen und sozialen Umfeld interessiert, wenn nicht gar daran, ein eigenes dem intermedialen Film gleichsam zugehöriges Menschenbild zu entwerfen und dem Rezipienten zu vermitteln. In allen ausgewählten Filmbeispielen geht die mediale Interferenz auch thematisch mit einer spezifischen Grenzsituation einher, die durch die Überschneidung der unterschiedlichen Medien besonderes Profil gewinnt; häufig ist sie an eine noch näher zu erläuternde, existenzielle Krisensituation oder Grenzerfahrung gebunden. Den dargestellten Figuren ist gemeinsam, dass sie sich in einem ‚Dazwischen‛ bewegen, in einem Übergang oder Schwebezustand befindlich sind oder auf der Schwelle, im Begriff, eine gefährliche Grenzüberschreitung zu vollziehen. So befindet sich Greenaways Prospero zwischen der

79

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Isolation in der magischen Bücherwelt und der Rückkehr in die Gesellschaft bzw. das öffentliche Leben, das mit verantwortungsvollen politischen Aufgaben verbunden ist; zugleich kann bzw. muss er sich zwischen Machtfülle durch Zauberei und Machtverzicht entscheiden. Er wird im Film gewissermaßen unter einer Doppelperspektive wahrgenommen, ist er doch eine übergeordnete mächtige Autorität und ins Filmgeschehen involviert, indem er gleichzeitig als Erzähler /Regisseur und handelnde Figur auftritt. Analog dazu befindet sich der Schauspieler John Gielgud zwischen seinem erfolgreichen Schauspielerberuf und dem bevorstehenden Abschied von der Bühne und vom Publikum, überdies steht er genau zwischen den unterschiedlichen Betätigungsfeldern von Theater und Film. Im Spielfilm verstand er sich besonders darauf, in kleineren Rollen zu brillieren. Nicht zufällig erhielt der gefeierte Shakespeare-Darsteller 1965 eine Oscarnominierung für den besten Nebendarsteller in BECKET, 1982 sogar den Oscar für die beste Nebenrolle in ARTHUR – KEIN KIND VON TRAURIGKEIT. Ähnliche Figurationen des Übergangs finden sich in Jean-Jacques Annauds Verfilmung von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. William von Baskerville und Adson bewegen sich auffällig zwischen mittelalterlicher Mentalität und Moderne, wobei sie aufgrund ihrer empiristischen Anschauung die Schwelle zur modernen Sichtweise bereits überschritten haben und auf diese Weise die Empathie der Zuschauer für sich gewinnen. In FARINELLI begegnen wir einem begabten Sänger, dessen Situation sich ebenfalls modernetypisch als krisenhaft gespalten erweist. Seine exzeptionelle Stimme und Virtuosität können nicht verhindern, dass er eine gesellschaftliche Außenseiterrolle einnimmt und durch das nur oberflächlich verdrängte, traumatische Erlebnis der Kastration belastet wird. Das mühsam erlangte Selbstbewusstsein als Sänger ist prekär und durch psychische Labilität bedroht. Eine freudianische Dimension macht sich in der zwanghaften Wiederholung des krisenhaften Moments im Traum bemerkbar. Die Kastration wird durch den Sturz vom Pferd verdeckt und zugleich symbolisch repräsentiert. Jene durch die künstlerischen Ambitionen des Vaters und des Bruders von Carlo Broschi sowie eigene SelbstDisziplin lange Zeit zurückgedrängten menschlichen Bedürfnisse kommen in der Suche nach Anerkennung zum Ausdruck, nach Akzeptanz durch das Publikum und vor allem durch den berühmten Komponisten Händel. Die individuelle musikalische Verwirklichung und Perfektionierung stehen zugleich im Zeichen des teilweise scheiternden Versuchs einer Selbsttherapie. Zudem wird die Ortlosigkeit des Opernsängers, seine einsame Existenzweise auf Grenzlinien und in ‚Zwischenräumen‛,

80

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

anschaulich in den Reisen zwischen den Nationen und europäischen Metropolen dokumentiert. Eine ähnlich problematische Künstlerlaufbahn ist Thema in SHAKESPEARE IN LOVE (Regie John Madden; Drehbuch: Marc Norman und Tom Stoppard; 1998). Dort werden in tragikomischer Manier die nicht immer gelingen wollenden Versuche Shakespeares (Joseph Fiennes) beleuchtet, als elisabethanischer Dramatiker zu reüssieren und seinen Lebensunterhalt als Künstler zu verdienen. Insbesondere aus der Retrospektive wirken die Filmsequenzen witzig, in denen der später als Genie gefeierte Autor sich Ideen und Ratschläge von seinem Konkurrenten Christopher Marlowe (Rupert Everett) geben lässt – aus Mangel an eigenem Können und fehlender dramaturgischer Praxis. Zudem dreht sich das Handlungsgeschehen um Shakespeare und seine Liebe zu Lady Viola De Lesseps (Gwyneth Paltrow), wobei die beiden Protagonisten zwischen ihrer tatsächlichen, geheimen Liebeserfahrung und ihren Rollen in der Aufführung von Romeo und Julia oszillieren, mal als Liebende im Haus der Familie der Adligen, mal auf der Bühne in den Rollen des Veroneser Liebespaars zu sehen sind. Da aus Standesgründen eine Trennung von Shakespeare und seiner Geliebten unvermeidlich bevorsteht, ist der tragische Konflikt vorgegeben, der in Shakespeares Romeo und Julia durch die Feindschaft der Familien eingeleitet wird. Der Film konstruiert den Mythos von Viola als Shakespeares Muse, die seine eigentlichen dramatischen Energien weckt und freisetzt, so dass er nach der Trennung gereift ist, um die späten Komödien wie Twelfth Night schreiben zu können. Die kinematographische Erkundung des elisabethanischen Bühnenraums koinzidiert also mit der Durchleuchtung einer besonderen biographischen Entwicklung, da der Film jene Motivationen zu enthüllen verspricht, welche die Entfaltung Shakespeares zum genialen Dramatiker bewirkt haben. Oft koinzidiert die filmische Intermedialität mit thematischen Aspekten der Transgression und Überquerung, etwa mit einer Überschreitung von Kulturgrenzen und kulturellen Konventionen. Diese vollzieht sich in DER DREIZEHNTE KRIEGER (THE THIRTEENTH WARRIOR, USA 1999, Regie: John McTiernan) der filmischen Adaptation des Bestseller-Romans Eaters of the Dead von Michael Crichton als Prozess der interkulturellen Begegnung. Der als Botschafter tätige, aus seiner Heimatstadt Bagdad aufgrund eines unglücklich verlaufenden Liebesabenteuers exilierte Araber und Poet Ahmad Ibn Fadlan trifft auf seinen Reisen auf die „Nordmänner“, die ihn dazu verpflichten, als der dreizehnte neben zwölf Wikingern an einer gefährlichen Mission teilzunehmen. Neben dem Genre des Abenteuer- und Actionfilms, dem er mit Antonio Banderas als Starbesetzung in der Hauptrolle zweifellos zuzuordnen ist, enthält der Film

81

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

eine interessante selbstreferentielle Dimension, denn er beleuchtet Prozesse der Semiose und Ausschnitte einer kulturspezifischen Zeichenproduktion aus dem Blickwinkel eines externen Beobachters. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen zunächst die seltsamen, teilweise barbarisch anmutenden Gebräuche, Kommunikationsformen und soziale Interaktionen der Wikinger, die aus der kulturellen Fremdperspektive einer Außenseiterposition, der Sicht Ahmad Ibn Fadlans und seines Begleiters Melchisidek (Omar Sharif) beleuchtet werden. Die arabischen Reisenden, insbesondere die als Botschafter fungierende Hauptfigur, die beauftragt ist, die Sitten und Gebräuche fremder Völker zu erkunden, verkörpern den ‚ethnologischen Blick‛, die analytische Perspektive von fremdkulturellen Beobachtern, wie sie Michel Foucault beschrieben hat.2 Neben den verbalen Ausdrucksformen sind es vor allem die spezifischen Riten, etwa ein Bestattungsritual der Nordmänner, die von den reisenden Arabern detailliert beobachtet werden.

Abb. 31: Omar Sharif in der Rolle des Dolmetschers3

Der Film setzt zudem eine intensive Sprachreflexion in Gang, da anfänglich ein Dolmetscher benötigt wird, der mit den beiden Arabern lateinisch spricht, ehe Iben abends am Lagerfeuer überraschend ein beschleunigter Spracherwerb des Altnordischen gelingt. Weitere semiotische Momente und Indizien für eine ausgeprägte Zeichenreflexion im Film sind die arabischen Schriftzeichen, die Buliwyf und Iben als Ergänzung der rituellen Anrufung altnordischer Götter bei ihrer Ankunft in den feuchten Sand schreiben. Ihre wörtliche Bedeutung lautet: „Es gibt nur einen wahren Gott und Mohammed ist sein Prophet.“ Die gemeinsame Ausführung des Schreibvorgangs der arabischen Buchstaben unter Betei2 3

Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974. S. 451. Filmfotos von http://www.imdb.com/gallery/ss/0120657 82

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

ligung Buliwyfs, des Anführer der Nordmänner, lässt die Wechselseitigkeit des gelingenden interkulturellen Austauschs erahnen, die sich trotz des bleibenden Kulturgefälles abzeichnet. Erstaunlich und bemerkenswert erscheint ferner die anthropomorphe Gestalt der (alten) Medien, etwa der Bücher in PROSPERO’S BOOKS. Ihre Körperlichkeit wird nicht zuletzt dadurch hervorgehoben, dass sie eine analoge Analyse wie die Anatomie des menschlichen Körpers erfahren, etwa wenn aus ihren Seiten dreidimensionale Bilder aufgeblättert werden. Umgekehrt wird die mediale Struktur des Kinos nicht selten auf die menschliche Gestalt übertragen, eine Tendenz, die sich besonders markant bei der Figurendarstellung in STAR WARS abzeichnet. Hier fungieren die berühmten Lichtschwerter der Jedi-Ritter gleichsam als mediale Protentionen, als militärisch wirksame und ästhetische Verlängerungen des menschlichen Körpers. Das filmische Medium des Leuchtstrahls kehrt als auratische Protention4 des anthropomorphen Körpers, als legendäre Waffen wieder, so dass das mythische und messianische Motiv des Lichts nunmehr in einer apparativ-technischen Variante in Erscheinung tritt. Der Lichtstrahl nimmt die kinematographische Projektion auf, die Leuchtschrift auf der Leinwand, die den Film generiert. Diese schöpferische Kraft ist in STAR WARS den Mächten des Guten eigen. Nach ihrem Tod erscheinen die Jedi-Ritter dem jungen Luke Skywalker entsprechend als Lichtgestalten, als verklärte Variante der kinoeigenen Darbietungsform. In den genannten Filmbeispielen tritt eine spezifische kinoästhetisch und intermedial fundierte Anthropologie zu Tage, innerhalb deren Menschen als Figuren des Übergangs erscheinen und über die besonderen Eigenschaften der beschleunigten Entwicklungsfähigkeit und dynamischen Prozessualität verfügen. Beispielhaft wird jene Disposition durch die Wandlungen Anneken Skywalkers von der messianischen Kindgestalt zum dunklen Gegenspieler verdeutlicht, der von den Mächten des Bösen verführt wurde, ehe er sich buchstäblich in letzter Minute wieder auf die Seite des Guten schlägt und seinem Sohn Luke zu Hilfe kommt. So entwerfen die intermedialen Filme der Gegenwart eine Zeitutopie, die sich mit der alten aufgeklärten Idee der perfectibilité des Menschen verbindet, ja jene sogar mitunter in Analogie zum Bildungsroman als komplexes Initiationsgeschehen gestaltet. In der Verfilmung von Eaters of the Dead wird bezeichnenderweise am Ende von Iben selbst festgestellt, er sei durch die abenteuerliche Reise ‚zum Mann herangereift‛. Das Filmgeschehen wird vom Ende her als gelungene Initiation und Entwick4

Vgl. diesbezüglich McLuhans Medienkonzept: Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964). Aus dem Englischen von Meinrad Amann. 2. Auflage. Dresden, Basel 1995. 83

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

lung des Helden gedeutet, deren genaue Bedeutung und Zielrichtung allerdings merkwürdig in der Schwebe gelassen werden und diffus bleiben. Die filmästhetische Anthropologie des Dazwischen, wie sie für die Gegenwart typisch ist, zeigt ein Bild der menschlichen Situation als kontinuierliche oder sprunghafte Entwicklung bzw. Gradation, die sich meist vor einer dunklen Grundierung und im Angesicht einer krisenhaften Zuspitzung vollzieht. Zutage tritt dabei oft eine typische Gespaltenheit der Psyche, die ungeachtet der häufigen Verwendung von Stereotypen und Rollenklischees für eine gewisse Mehrdimensionalität und Offenheit der Charaktere sorgt. Die angenommene Entwicklungs- und Vervollkommnungsfähigkeit der Figuren beruht im modernen Film indes anders als im Bildungs- und Entwicklungsroman weniger auf einem humanistischen oder aufgeklärten Gedankengut; sie wird dem Beobachter vielmehr durch die multiperspektivischen Überlagerungen der filmimmanenten Medien und die Dynamik ihrer Entfaltung suggestiv nahe gelegt. Die Genese intermedialer Situationen führt mittelbar zur Konstruktion von aufschlussreichen Übergangsräumen und Übergangssituationen, denen ein bewegliches, meist zukunftgerichtetes Profil der handelnden Figuren, insbesondere der Protagonisten entspricht.

3.2 Der Ort der Bücher im ‚Zwischenraum‘ von Theater und Film: Peter Greenaways PROSPERO’ S BOOKS (1991) „Knowing I lov’d my books, he furnish’d me from mine own library with volumes that I prize above my dukedom“ Greenaways PROSPERO’S BOOKS (1991) bildet ein Paradebeispiel für die Wiederkehr des Buchs und der Schrift im Film der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, das sich unter den Film- und Medientheoretikern nicht zufällig einer besonderen Beliebtheit erfreut und inzwischen unter intermedialen Gesichtspunkten vielfach diskutiert wurde. Während Yvonne Spielmann an Greenaways Filmen die Applikation intermedialer Techniken im filmischen Medium, wie z.B. komplexe Bildüberlagerungen und die Ausbildung von ‚clusters‛ exemplarisch untersucht und als Ausgangspunkt einer systematischen Konzeption von Intermedialität verwendet hat,5 ist es Detlef Kremers Verdienst, die vielschichtigen Bezie5

Vgl. auch die ausführliche Analyse der ästhetischen Verfahren von PROSBOOKS in Yvonne Spielmann: Das System Peter Greenaway. München 1998. Vgl. ferner Christel Stalpaert: Peter Greenaway's Prospero's books: critical essays. 2000. Vgl. zudem Amy Lawrence: The films of Peter Greenaway.1997, bes. S. 150. PERO’S

84

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

hungen zwischen dem zentralen ‚Buch des Wassers‛ und dem frühneuzeitlichen Melancholie-Diskurs im einzelnen nachgewiesen zu haben.6 Deborah Cartmell und Imelda Whelehan sehen in Greenaways Produktion gar eine filmische Reflexion auf den Adaptionsprozess selbst, die Transformation eines literarischen Texts auf die Kinoleinwand, insbesondere die Aneignung eines Shakespeare-Stücks im neuen filmischen Medium.7 Die Bücher stehen in Greenaways Film, wie nicht anders zu erwarten, im Zeichen einer tiefgreifenden Ambivalenz; bei genauerer Betrachtung wird eine Mehrfachcodierung der Buchmedien und der Schriftkultur sichtbar, die für die spezifische Akzentsetzung des Regisseurs richtungweisend ist. Die Perspektive, die Greenaways Regiekonzept eröffnet, schwankt zwischen einer vormodernen Akzentuierung der Faszination durch die alchemistisch-okkulten Qualitäten bzw. die inhärente Magie der Schrift und einer Verlängerung der alten Medien des Buchs und des Theaters in die medialen Strukturen des modernen Films, die dem Zuschauer bei aller Verschiedenheit eine überraschende Affinität und Kontinuität suggeriert. In Greenaways Shakespeare-Adaptation figuriert die Schrift als das Ursprungsmedium par excellence. Der erste Schriftzug („boatswain“), zugleich das erste Wort aus Shakespeares Stück, avanciert zum Generator, aus dem sich alle folgenden Bilder und Film-Sequenzen entfalten.8

Abb. 32: Der Schriftzug als Bildgenerator und kalligraphische Komponente9

6 7

8 9

Vgl. Detlef Kremer: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher. Stuttgart 1995. Deborah Cartmell, Imelda Whelehan: Adaptations: from text to screen, screen to text. 1999, S. 31: „The subject of adaptation – especially the appropriation of Shakespeare by the cinema – is ingeniously addressed in Peter Greenaway’s film Prospero’s Books.“ Vgl. Yvonne Spielmann: Das System Peter Greenaway. München 1998. Filmbilder aus Prospero’s Cell (1.12. 2007): 85

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 33 und 34: Prospero mit dem Buch in der Hand in seiner Zelle, die in ihrer Rahmung durch den Vorhang zugleich an den theatralischen Raum erinnert

Ganz erstaunlich ist dabei die Tatsache, dass eine für Greenaways RegieStil typische, hochgradig originelle Film-Version sich auf der Grundlage einer wörtlichen Übernahme des Shakespeareschen Dramentextes ins Drehbuch entwickelt: „It is a perfectly authentic version of the play, but completely fantasised and elaborated by Greenaway in his own particular way. I imagine, from what little I have seen of it so far, that what might emerge is a kind of mimed ballet of the action, with Shakespeare’s words spoken over it. “10 Obwohl sich Greenaway den Wortlaut von Shakespeares später Komödie wörtlich zu eigen macht, entstehen durch die gewählte visuelle Präsentation und die freie Erfindung der 24 Bücher Prosperos eine völlig eigene Darstellung und kinematographische Modellierung, die mit einer einfachen Shakespeareverfilmung im Stil des traditionellen Kostümfilms wenig gemein hat. Es geht Greenaway vielmehr um die parallele Explohttp://members.optusnet.com.au/~zaphod/Pictures/ProsperoGalleryFrames. html und http://petergreenaway.co.uk/prospero.htm 10 John Gielgud und John Miller: Acting Shakespeare, New York 1991, hier zitiert nach der Website: Prospero’s Cell (1.12.2007): http://members.optusnet .com.au/~zaphod/ProsperoGielgudIdea.html 86

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

ration der Medien des Films, der Schrift bzw. des Buchs und des Theaters, deren mediale Dimensionen sich im Film zu einem heterogenen triadischen Gesamtgefüge überlagern. Im Schnittpunkt der Medien eröffnet sich den Zuschauern eine dreifache Blickrichtung, die zwischen Theater, (Film-)Bild und Schrift oszilliert. Dies gibt dem Regisseur einerseits Gelegenheit, die im Mittelpunkt des Geschehens situierten Bücher in einen noch näher zu beschreibenden filmischen Prozess zu übersetzen und sie mit einer Dynamik zu erfüllen, die dem (alten) Medium der Schrift und seiner Rezeptionsform der stillen Lektüre auf den ersten Blick fremd, wenn nicht diametral entgegengesetzt scheint. Andererseits gibt die gewählte Perspektive Anlass, den Produktionsprozess des Stücks bzw. des Films näher zu beleuchten, die Entstehung und Niederschrift von Shakespeares Stück kinoästhetisch zu erschließen: „On the screen you see Prospero beginning to become inspired to write the play.“11 Von Anfang an steht das Filmgeschehen daher im Zeichen einer aufschlussreichen Doppelperspektive. Figurieren die Bilder und Zeichensequenzen zunächst als imaginäre Bilder, die der Einbildungskraft des Dichters bzw. Regisseurs entstammen, so sind sie doch zugleich integrale Bestandteile des Films selbst, der als visuelles Medium par excellence der Entfaltung solcher Bilderketten bedarf. Jenes eigentümliche Oszillieren der gewählten Perspektive zwischen schriftstellerischer Imagination und filmischer Realität wird im Film gleich eingangs selbstreflexiv unterstrichen, wenn sich im Vorspann der Übergang der Schrift von den mit Tusche und Feder gezeichneten kalligraphischen Linien zu der kinematographischen Leuchtschrift vollzieht.12 Mit dem angesprochenen Kunstgriff lässt Greenaway eine weitreichende Analogie zwischen Schreibprozess und Filmgenese deutlich werden. Die Schriftzüge aus der Feder Prosperos lassen nicht nur das Theaterstück selbst entstehen, sie initiieren auch das Filmgeschehen selbst. Das Medium Film ist im Film selbst präsent, da die wechselnden Bilder, aus denen er sich konstituiert, gerahmt als Projektionen auf einer Leinwand erscheinen. Die Überlagerung verschiedener visueller Schichten von bewegten und unbewegten Bildern wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass Greenaway auf spezifische filmische Techniken wie 11 John Gielgud und John Miller: Acting Shakespeare, New York 1991, zitiert nach: Prospero’s Cell: http://members.optusnet.com.au/~zaphod/ ProsperoGielgudIdea.html 12 Zu den optischen Qualitäten von Greenaways Schriftbildern vgl. auch: Lia M. Hotchkiss: The Incorporation of Word as Image in Peter Greenaway’s Prospero’s Books. In: Lisa S. Starks, Courtney Lehmann: The reel Shakespeare: alternative cinema and theory. Massachusetts 2002. S. 95-117. 87

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Cadrierung und Projektion zurückgreift. Die Ineinanderschachtelung und subtile Überlagerung von Bildsequenzen, die mal die Buchseiten, mal die Figuren des Stücks, mal Schriftzüge einblenden, fungieren als wichtige ästhetische Prinzipien, wobei es vermittelnde Bindeglieder zwischen den starren, unbeweglichen Buchillustrationen und den bewegten Bildern des Films gibt, etwa die in die Filmbilder integrierten Animationen. So stiftet Greenaway unerwartete Verbindungslinien zwischen den verschiedenartigen Medien und bringt durch die übergreifende künstlerische Gestaltungsintention auf den ersten Blick scheinbar Unvereinbares zusammen. Eine ganz eigene Akzentuierung von Shakespeares bekanntem Spätwerk gelingt dem Regisseur insofern, als er die abendländische Buchkultur zum eigentlichen sujet des Films erhebt und ihr dabei implizit eine erstaunliche Hochschätzung beimisst. Jedenfalls sieht sich der Betrachter mit einer ebenso effektvollen wie aufwendigen Re-inszenierung der alten Medien, einem in der Tat spektakulären Comeback der Schriftkultur im neuen Medium des Films konfrontiert.13 Die im Zuschauer geweckte Schaulust wird vornehmlich auf die sich öffnenden und vor ihm ausbreitenden Buchseiten gelenkt, die sich ihm großformatig in Nahaufnahme präsentieren. Die 24 Bücher Prosperos sind, wie bereits erwähnt, Greenaways eigene Zutat; sie gehen zwar auf eine Anregung in Shakespeares Text zurück, werden dort aber nur beiläufig erwähnt, so dass der Zuschauer dazu tendiert, die Existenz von Prosperos Zauberbüchern gleich wieder zu vergessen. Hinzu kommt eine weitere Paradoxie: Denn der Film setzt eine in der Literatur schon fast zum Topos verblasste Idee, die auratische Gestalt des Dichters, aus dessen Feder sich das ganze Theaterstück nach und nach entfaltet, wirkungsvoll in Szene. Die Assoziationen der Magie und des geheimen Wissens unterstreichen das Charisma des Autors, mit dessen Rolle Prospero verschmilzt,14 und verleihen dem Geschehen neue Akzente. Dabei ist die Frage der Besetzung der Hauptrolle nicht unwichtig, ist

13 Vgl. auch Marlene Rodgers, „Prospero's Books – Word and Spectacle. An Interview with Peter Greenaway“. Film Quarterly 45, 2, 1991. S. 1-5. 14 Insofern The Tempest als letztes Stück und Abschied Shakespeares von der Londoner Bühne gilt, wurde der Dramatiker oft mit der Hauptrolle des Prospero identifiziert. Vgl. etwa: Alvin B. Kernan: The Playwright as Magician: Shakespeare’s Image of the Poet in the English Public Theatre. New Haven, London 1979. Vgl. auch Victor L. Cahn: Shakespeare the Playwright: A Companion to the Complete Tragedies, Histories, Comedies, and Romances. New York, London 1991. S. 820: „The thought that this voice [i.e. Prospero’s] is Shakespeare’s offering his own farewell is impossible to resist.“ 88

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

es doch kein Zufall, dass der berühmte Shakespeare-Darsteller Sir John Gielgud für den Part des Prospero vorgesehen wurde.

3.2.1 Prospero, der Herr der Medien Die Besetzung der Rolle Prosperos durch Gielgud darf sicher als einer der gelungensten Kunstgriffe des Regisseurs gelten, von dem das weitere Gelingen des Projekts maßgeblich abhing. Zum einen war es zweifellos geschickt, einen erfahrenen Schauspieler aus dem Bereich der darstellenden Künste zu wählen. Gielgud erfreute sich bekanntlich internationaler Berühmtheit als brillanter und überaus sprachbegabter Interpret Shakespearescher Hauptrollen15 wie Richard II., Hamlet, Romeo, Othello, Prospero u.a. Über 500mal war Gielgud allein in der Rolle des Hamlet, die er erstmals 1930 darstellte, auf der Bühne zu sehen. Die Besetzung Prosperos mit Gielgud versteht sich zum einen als Greenaways Hommage an die Tradition der Shakespeare-Inszenierungen und an das Medium des Theaters, mit dem der Schauspieler wie kein zweiter assoziiert war. Ein Zeitgenosse erinnert sich, wie Gielgud mit seiner Interpretation des Hamlet und des Richard II. den Durchbruch zum großen Charakterdarsteller erreichte: „John Gielgud worked with J. B. Fagan’s company in Oxford and in the West End before returning to the Old Vic in 1929 to which he was invited by Lilian Baylis. For the next two seasons he played all the major parts. At the age of 26 he played Hamlet which was the first time the part had been given to an actor under 40. The speed of his delivery was revolutionary. He developed the part over the years to make it his own. With this and his performance as Richard II he became the leading British Shakespearean actor.“16 Zum anderen gelingt Greenaway durch die Wahl Gielguds als Hauptakteur ein überraschender Brückenschlag zwischen den differenten Medien sowie semiotischen Systemen der Bühnenaufführung und des Kinos. Da Gielgud als Darsteller in Shakespeareverfilmungen gefragt war, fand

15 „His stage debut at age 17 in 1921 at the Old Vic with a single line as a herald in Shakespeare's Henry V.“ (http://www.sbu.ac.uk/~stafflag/john gielgud.html): „This first association with the Bard was to prove a mainstay of Gielgud’s career, and he has come to be regarded as one of the foremost interpreters of Shakespeare in English theater. He has played, among other roles, Romeo, Richard II, Macbeth, Prospero, and Antony. He first played Hamlet in 1930, and has performed the role more than 500 times.“ 16 http://www.sbu.ac.uk/~stafflag/johngielgud.html 89

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

er schon früh – noch in der Stummfilm-Ära – den Weg vom Theater zum Film,17 ohne dabei jemals seine enge Verbindung zur Bühne aufzugeben oder zu verleugnen. Im Gegenteil: In den unmittelbar nach seinem Tod im Mai 2000 erschienenen Nachrufen auf den Schauspieler in der englischen Presse wurde in erster Linie der führenden Rolle Gielguds auf der britischen Bühne und seiner lebenslangen Theaterarbeit gedacht. Mehr noch: Man würdigte Gielgud als prototypischen Repräsentanten eines im Schwinden begriffenen klassizistischen Aufführungsstils, wie er besonders in dessen Darstellung der großen Shakespeareschen Charakterrollen (Lear, Hamlet, Richard II., Prospero) zum Ausdruck kam: „The last of a classic generation of actors with Olivier, Redgrave, Richardson and Ashcroft, Gielgud first trod the stage in 1917. He tackled every major Shakespearean role, including King Lear, Hamlet and his own favourite, Prospero.“18 Als Repräsentant eines fast schon der Vergangenheit angehörenden Aufführungsstils erfreute sich Gielgud am Ende des 20. Jahrhunderts einer erstaunlichen Anerkennung und Bewunderung. Noch emphatischer als in den bereits zitierten Kommentaren heißt es im Nachruf von Nicholas de Jongh: „Sir John Gielgud: A colossus of English theatre, he bestrode the stage with originality, wit and a voice ‚like a silver trumpet muffled in silk‛“19 Sheridan Morley treibt jene Überhöhung noch weiter und vollzieht sogar eine unmittelbare Gleichsetzung zwischen dem Schauspieler und dem Britischen Theater des 20. Jahrhunderts: „John Gielgud has no place in the history of 20th-century British theatre: John Gielgud is the history of the 20th-century British theatre.“20 Es ist entscheidend zu sehen, inwiefern Gielgud in den 1990er Jahren zu einer Symbolfigur des britischen Dramas und Theaters von repräsentativem Stellenwert avanciert 17 Gielgud spielte die Rolle des Cassius in der berühmten Verfilmung von Julius Caesar mit Marlon Brando in der Titelrolle. 18 Jojo Moyes: „Sir John Gielgud, the last of the great actor knights, dies at 96,“ The Independent, 23rd. May, 2000, S. 1. 19 Vgl. dazu den aufschlussreichen Artikel „Sir John Gielgud: A colossus of English theatre, he bestrode the stage with originality, wit and a voice like a silver trumpet muffled in silk.“ Obituary by Nicholas de Jongh in The Guardian, 23rd. May, 2000, S. 24: „Gielgud served the stage unstintingly. No actor was more adored in his time. Indiscreet, self-deprecating, avid for gossip, he strode poker-packed, immaculately dressed, witty, generous and endearing, through thousands of private lives. To listen to him talk in uncensored private was to enjoy a one-man festival of sharp, quaint indiscretions. All his yesterdays seemed to have been such fun.“ 20 Sheridan Morley: „On top of the world“, The Sunday Times Culture, 11th. April, 1999. S. 2-3. 90

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

war, um seine Rolle in Greenaways Filmadaption angemessen einzuschätzen. Paul Scofield erinnert sich in einem Artikel vom 28. Mai 2000 in der Sunday Times an seinen Schauspielerkollegen – der zu Lebzeiten schon als ein Mythos und eine Ikone des britischen Theaters gegolten habe: „That John Gielgud wrote his autobiography in 1938 at the age of 34 is a measure of the extraordinary speed of his brilliant rise to eminence in the world of the theatre. Since his first performance of Hamlet at the Old Vic in 1930, he led the theatre in Great Britain; and his name and his gifts have become a legend to anyone connected with the arts anywhere in the world. For the vast majority of actors and actresses, since the late 1930s, he has been the consummate epitome of style in the theatre. “21 Wie aus Scofields Kommentar treffend hervorgeht, verkörpert Gielgud insbesondere einen Aufführungsstil, der den Zeitgenossen als zugleich mustergültig im überzeitlich klassischen Sinne und zukunftsweisend erschien: „John Gielgud was the last of that great trinity of senior actor-knights – Laurence Olivier and Ralph Richardson joined him – whose careers so intertwined and complemented each other for over half a century. His death also marks the close of a last varied chapter of the Terry dynasty which played a vital part in the British theatre for over 150 years.“22 Dem einzigartigen Verdienst Gielguds Rechnung tragend, wurde 1994 das Globe Theatre, in der Shaftesbury Avenue im Londoner West End gelegen, zu Ehren des Schauspielers in Gieldgud Theatre umbenannt.23 Gielgud gewährleistet somit die enge Verknüpfung der filmischen Shakespeare-Adaption zur Welt der Theaterbühne, denn er verkörpert in seiner Person – besonders für ein britisches Publikum – die Idee charismatischer Schauspielkunst und langjähriger Bühnenerfahrung. Die Wahl Gielguds als Hauptdarsteller von PROSPERO’S BOOKS lässt in der Gestalt Prosperos nachdrücklich die Rolle des Schauspielers und die Ebene der 21 Paul Scofield: „The actor I knew“, The Sunday Times, Culture, 28th. May, 2000. S. 11. 22 Alan Strachan: Sir John Gielgud. Obituary, The Independent: The Tuesday Review, 23rd. May, 2000. S. 6. 23 Als Gielguds Tod am 22. Mai 2000 bekannt wurde, ließen zahlreiche britische Theater zu Ehren des verstorbenen während der Abendvorstellung die Lichter ausgehen: „At the theatre named after him on Shaftesbury Avenue, the lights were turned out for three minutes on Monday evening as a mark of respect. Each of the other 12 theatres in Lord Lloyd-Webber's Really Useful Group also dimmed their lights in a ,blackout‛.“ (BBC News: Theatres go dark for Gielgud: http://news.bbc.co.uk/hi/english/uk/newsid_758000/758948.stm) 91

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

rhetorisch-ästhetischen Performanz hervorscheinen und bringt dadurch eine weitere intermediale Beobachtung ins Spiel. Schon in Shakespeares The Tempest oszilliert Prospero vieldeutig zwischen den verschiedenartigsten Rollen, ist er doch zugleich Gelehrter, Zauberer, Schauspieler, Dramenschriftsteller und Regisseur. Prospero tritt als Erfinder, als Dichter und Regisseur in Erscheinung, der seine eigene Lebensgeschichte inszeniert und dabei die verworrenen Fäden zusammenzuführen und abzurunden sucht. Die Analogie zwischen der Hauptrolle des Stücks und des Dramatikers Shakespeare, der sich mit diesem Stück von der Londoner Bühne verabschiedet haben soll, wurde von der Shakespeare-Forschung immer wieder betont. So verwundert es nicht, wenn das Thema des Abschieds, des Abschlusses und Übergangs auch bei Greenaway entscheidend ist. Da Prospero auf der semantischen Ebene des Stücks bzw. des Films als Magier figuriert, disponiert er über eine dem Medium des Theaters und des Films vergleichbare Illusionskunst, über ein Spiel mit dem schönen Schein, dem eine ästhetische Dimension sui generis eigen ist. Implizit kommt daher in Greenaways Film die Nähe des frühen Kinos zum Varieté, zu Zirkus- und Zaubertricks zum Vorschein. Prospero kann aufgrund seiner Polyvalenz als Zauberer-Regisseur zu einer Schlüsselfigur avancieren, die die verschiedenen medialen Dimensionen durch seine Person zusammenhält. Er kontrolliert die ansonsten zentrifugalen und diffus anmutenden Bilderfluten, deren quasi-magische Qualität der Film immer wieder zum Ausdruck bringt. Die Idee der Magie wird von der Wirkung der Spezial-Effekte (etwa des Einsatzes von Computeranimationen sowie der Nachbearbeitung der gefilmten Bilder in der so genannten Paint Box) unterstrichen, während der Zuschauer von der auf ihn ununterbrochen einströmenden Bilderflut tendenziell überfordert und überwältigt wird. Das Wagnis, die Kinobesucher einer nahezu unkontrollierbaren Reizüberflutung auszusetzen, steht dabei keineswegs im Zeichen mehr oder weniger konzeptionsloser Zerstreuungseffekte, sondern dient dem Ziel, durch die Bildüberlagerungen und Bildschichtungen ein subtiles Beziehungsgeflecht zu generieren. Das Spiel mit den Bildern und den unterschiedlichen Rahmungen führt eine Serie von Inversionsbewegungen vor, die die herkömmlichen Dichotomien zwischen Außen und Innen, Imagination und Wirklichkeit, offenem und geschlossenem Raum, Vergangenheit und Gegenwart unterlaufen und außer Kraft setzen. Miriam Jakobs hat in einer aufschlussreichen Studie zur Raumgestaltung in PROSPERO’S BOOKS gezeigt, wie der „Imaginationsraum, in dem verschiedene Fiktionsschichten einander überlagern“ einem ästhetischen 92

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Grundprinzip von Greenaways Film, nämlich dem „Verquicken theatraler und der bildenden Kunst entlehnter Mechanismen der Raumbegrenzung und Konzentration mit der filmischen Darstellung“ aufs genaueste korrespondiert.24 Indem die Kinobesucher dazu genötigt werden, ihre (alltäglichen) Wahrnehmungsgewohnheiten zu verlassen, werden sie auf die ästhetische und genetische Dimension des filmischen Prozesses aufmerksam. Zugleich streben die entropischen Bildsequenzen, indem sie die Wahrnehmung der Zuschauer verwirren, einem generellen Ordnungsverlust zu, der sich als potentielle Bedrohung am Horizont abzeichnet: „Je mehr Bilder der Film verwendet, um auch das Unsichtbare sichtbar zu machen, desto mehr Lücken, offene Fragen und dunkle Löcher produziert er, in deren Abgründe die Oberfläche der Sichtbarkeit abzustürzen droht.“25 Dem Risiko eines Überhandnehmens der chaotischen Tendenz26 steht allein die charismatische, ordnungsstiftende Gestalt des Regie führenden ‚Magier-Schriftstellers‛ entgegen. Prospero erscheint als ‚Herr der Medien‛, der bis zuletzt den Überblick zu behalten bestrebt ist und die verschiedensten medialen Impulse augenscheinlich souverän zu handhaben versteht. Dabei ist seine autoritäre Rolle gegenüber der Tochter Miranda und Caliban durchaus zwiespältig. 27 Seine geheimnisvollen Kräfte verdanken sich, so suggerieren es die thematische Ebene und der strukturelle Aufbau des Films, dem neuzeitlichen Buchwissen, das, dem spezifischen Epochenprofil entsprechend, in enzyklopädischen Werken bewahrt und transportiert wird. Nicht zufällig weist die Enzyklopädie eine zyklische, nicht lineare Ordnungsstruktur auf, eine Gestalt, die es gestattet, heterogene Elemente miteinander in Beziehung zu setzen und zu vernetzen. Die Lektüre solcher Lexika produziert kontingente assoziative Verbindungen, deren lockere Struktur 24 Miriam Jakobs (Köln): Gerahmter Raum, Wort und Spektakel – Spuren auf einer Oberfläche – Greenaways Film Prospero’s Books. Unveröffentlichtes Manuskript, S. 23. 25 Joachim Paech: Der Schatten der Schrift auf dem Bild, S. 213. 26 Vgl. auch: Christer Petersen: Jenseits der Ordnung: Das Spielfilmwerk Peter Greenaways. 2001. 27 Es ist in dieser Hinsicht interessant zu sehen, dass auch Gielgud bei seinen Kollegen als eine keineswegs widerspruchsfreie Persönlichkeit galt: „Peter Brook, one of the key directos in Gielgud’s career, once wrote: ,John is a mass of contradictions which happily have never been resolved,‛ and those contradictions fuelled both Gielgud’s life and career.“ (Alan Strachan: Sir John Gielgud. Obituary, The Independent: The Tuesday Review, 23rd. May, 2000, S. 6.) 93

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

geeignet ist, die Medien der Schrift, des Bilds und des Films miteinander zu verknüpfen. Die enzyklopädischen Beziehungen des Nebeneinanders erlauben es Greenaway, die Worte des Shakespeareschen Dramas bzw. des Drehbuchs als Gedankenstöße und Impulse einzusetzen, die Assoziationsketten auslösen. Letztere werden auf der Ebene der Filmbilder realisiert und überformen die eigentliche Plotstruktur. Sie erwecken den Eindruck einer gleichsam spontanen Bildgenese, die sich aus einem kollektiven kulturellen Imaginären speist, um die Anregungen des seit der Renaissance in den enzyklopädischen Schriften angehäuften kulturellen Wissens aufzunehmen. Dank solcher assoziativen Bildproduktion gelingt es, Prosperos Reflexionen, die sich während dessen einsamer Lektüre bilden, sichtbar zu machen und zugleich ästhetisch zu verarbeiten. Implizit erkundet der Film dabei die verborgene Genealogie der Shakespeareschen Dramen aus dem Geist des frühneuzeitlichen, enzyklopädischen Wissensfundus, dem sich der rhetorische Bilderreichtum und die eindrucksvolle sprachlich-stilistische Vielfalt der Werke des elisabethanischen Autors verdanken. Auch die inneren Spannungen und Brüche der späten Stücke resultieren offenbar aus dem heterogenen Format des tradierten Wissensrepertoires und des lexikalischen Sammelsuriums, während sich gerade die zahlreichen inneren Diskrepanzen als produktiv erweisen und als wirkungsvolle Generatoren des Imaginären, seiner Bildsequenzen und seiner Ausdrucksformen wirken. Die Stimme Gielguds spricht (ähnlich einer geheimnisvollen Stimme aus dem off) begleitend auch alle anderen Rollen – mit Ausnahme derjenigen seines Gegenspielers Caliban und der Beschreibung der 24 magischen Bücher – seine Stimme erscheint mithin nahezu omnipräsent. Sie figuriert als Ausdruck der geheimnisvollen, schwer zu fassenden Macht, die in der Sprache selbst, in ihrer sinnlich-konkreten Ausstrahlung, sei es in ihrer oralen oder graphematischen Gestalt, präsent ist.28 Greenaways Film spielt mit dem theatralischen und musikalischen Einsatz der Stimme, deren zentrale Rolle in der Schauspielkunst unbestritten ist. Mehr noch: im Falle von Shakespeare-Inszenierungen kommt dem sprachlichen Ausdruck, der Realisation des Worts auf der Bühne, eine Schlüsselrolle zu. Greenaways Prospero-Interpretation kommt in dieser Hinsicht 28 Die akustische Dimension wirkt durch die Idee, Prosperos bzw. Gielguds melodische Stimme alle anderen Figuren begleiten zu lassen, ästhetisch besonders hervorgehoben. Zunächst schien Gielgud dieser Einfall Greenaways eine verrückte Idee: „But then he [Greenaway] suddenly said, ,Why don’t know play all the parts?‛ I replied, ,You must be mad. What about Miranda and Ariel?‛ I didn’t really understand what he was driving at.“ (Prospero’s Cell: http://members.optusnet.com.au/~zaphod/ProsperoGiel gud Idea.html.) 94

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

die legendäre musikalisch-melodische Qualität von John Gielguds Stimme zugute, die von Theaterkritikern immer wieder als das besondere Markenzeichen des Schauspielers hervorgehoben wurde: „John Gielgud delivered his lines with perfect diction in a voice one critic called ‚all cello and woodwind‛.“29 John Gielgud, der schon seit längerem vergeblich einen Regisseur für eine Verfilmung von Shakespeares Sturm zu gewinnen suchte,30 soll Greenaway selbst, wie er in seinen autobiographischen Schriften erzählt, die Anregung gegeben haben, das Stück zu verfilmen.31 Doch kann die besondere Eignung des Schauspielers Gielgud sowie der gelungene Einsatz seiner Stimme nicht über ein zentrales Problem hinwegtäuschen, mit dem sich der Regisseur konfrontiert sieht. Handelt es sich doch bei der Aufgabe, Bücher zu ‚filmen‛, um ein auf den ersten Blick merkwürdiges und paradoxes Unternehmen. Denn der Film verfügt von Haus aus über eine andere Zeitdimension als das Buch oder die Lektüre, ist er doch durch ein – gemessen an der geläufigen Textrezeption – beschleunigtes Tempo gekennzeichnet, das sich schwerlich mit dem traditionellen Leseoder Schreibprozess synchronisieren lässt. Im Film müssen die Bücher daher der erhöhten Geschwindigkeit des Filmgeschehens angepasst werden. Diese Beschleunigung lässt Greenaway auch den Zuschauer erfahren: Von einer eigentümlichen Dynamik erfasst, geraten die Buchseiten in Bewegung, sie flattern mitunter durch den Raum, fallen auf Prosperos Schreibpult, werden vor den Augen der 29 BBC News, Monday, 22 May, 2000: Gielgud: A giant among actors: http://news6.thdo.bbc.co.uk/hi/english/obituaries/newsid_9000/9393.stm 30 „Gielgud had been attempting to interest other directors in The Tempest for a while – Akiro Kurosawa and Ingmar Bergman never answered; Peter Brook only worked with his own company; Gielgud didn’t like Derek Jarman’s ideas; Peter Sellars was willing, but the financing fell through.“ (Prospero’s Cell: http://members.optusnet.com.au/~zaphod/ProsperoGiel gud Idea.html) 31 „Then, out of the blue, Peter Greenaway rang me up to ask if I would appear for three or four days in a television film of Dante’s Inferno (titled A TV DANTE)... Then, while we were having lunch one day, I said „You know, the one thing I long to do is to make a film of The Tempest.“ Three months later I received from him a detailed script, devised for the screen, and containing the first part of the play, up to the meeting of Ferdinand and Miranda. A few months later he had completed the whole shooting script and sent it to me. It made an enormously thick volume, with every kind of detailed description of how the film was to be shot. The scenario is, I think, extraordinarily original and daring. It consists entirely of Shakespeare’s text: there is not a word in it that is not in the play.“ (http://members.optusnet.com.au/~zaphod/ProsperoGielgudIdea.html) 95

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

staunenden Zuschauer aufgeblättert. Aus ihnen entfalten sich immer wieder neue (gerahmte) Bildsequenzen, die zugleich den Übergang von der Schrift zum Medium des gemalten bzw. gefilmten Bildes markieren.

3.2.2 Die verborgene Anatomie der Bücher Die Bücher nehmen im Film eine quasi-körperliche Gestalt an, sie erwecken auf der zweidimensionalen kinematographischen Projektionsfläche Suggestionen eindrucksvoller dreidimensionaler Räumlichkeit. Auf dem Schreibtisch Prosperos sind sie als schwere Folianten präsent. In ihrer empirisch-konkreten Erscheinungsform verkörpern die Bücher sowohl die Ruhe und die Sicherheit als auch das Prekäre, Flüchtige und unvermeidlich Transitorische der im Vergleich zu Stein oder Tontafeln vergänglicheren Überlieferung auf Papier oder Pergament. Spiegelt sich einerseits in ihrer materiellen Schwere das Ehrwürdige der abendländischen Schriftkultur, so enthüllt der Film auch immer wieder ihre problematische, vielfältigen Bedrohungen ausgesetzte Natur. So richtet sich das Augenmerk der Betrachter auf die materielle Struktur der Bücher, die nicht nur unter funktionalem Gesichtspunkt als Träger der Schrift beobachtet werden; in der Darstellung der Bücher tritt vielmehr ein ästhetischer Überschuss zutage, wie er besonders prägnant in der kalligraphischen Qualität der im Film eingeblendeten Schriftzüge aus Prosperos Feder zur Geltung kommt. Die Bücher und die Schrift sind Objekt einer sinnlichen Gesamtwahrnehmung, in der sich visuelle, auditive und haptische Momente zu einem komplexen Gesamteindruck vermischen. Wenn die kinematographische Inszenierung die Materialität der Bücher sowie der Handschrift betont, geschieht dies in einem gleichsam synästhetischen Überlagerungsfeld der verschiedenartigen Sinneseindrücke. Das geschriebene Wort wird durch die Stimme des Sprechers aktualisiert, während der Vorgang des Aufblätterns die visuellen Zeichensequenzen auf den einzelnen Seiten sowie die anschaulichen Buchillustrationen der Bücher enthüllt und ihr geheimnisvolles Innenleben offenbart. Das Filmgeschehen spielt auf diese Weise mit einem subtilen Wechsel von Enthüllung und Verhüllung, der die Neugier der Film-Rezipienten weckt und sie graduell in den Bann der neuzeitlichen Buchkultur und des Shakespeareschen Oeuvre zieht. Indem die Kamera dem Betrachter durch die Fokussierung einzelner Buchseiten konkrete Detailwahrnehmungen erlaubt, verleiht die gewählte Perspektive den Büchern nicht allein eine materiell-körperliche Präsenz, sondern auch eine jeweils individuelle Kontur, die durch das äußere Er96

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

scheinungsbild unterstrichen wird. Das Unterwelt-Buch des Zerberus umgibt ein ledriger, durchlöcherter Umschlag, während beim Aufschlagen im Hintergrund ein ominöses Bellen und Knurren zu hören ist. Offenbar haben die Bücher eine mehrdimensionale sinnlich-körperhafte Präsenz, die durch unterschiedliche Sinneswahrnehmungen zu erschließen ist. Sie eröffnen eigene Räume – besonders deutlich wird dies am Beispiel der architektonischen Miniaturmodelle, die dem Betrachter beim Aufblättern der entsprechenden Seiten – wie Pop up-Seiten in Kinderbüchern – entgegen springen. Mehr noch: den Büchern ist, wie bereits erwähnt, eine eigene Stimme zugeordnet, die nicht von der Stimme Gielguds untermalt wird und ihre selbständige Existenzform indiziert. So gewinnen die Bücher ein Eigenleben, das von ihrem Besitzer oder Benutzer unabhängig scheint und sich jederzeit zu verselbständigen droht. Es lohnt sich, einen Blick auf die spezifischen Textsorten und Gattungen zu werfen, die in den Büchern enthalten sind. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei nämlich überwiegend nicht, wie man zunächst annehmen könnte, um magische Bücher im engeren Sinne, die Zauberformeln oder Rezepte für Zaubertränke etc. festhalten. Stattdessen ist ein anderer Buchtyp vorherrschend: Bei Prosperos Büchern handelt es sich um enzyklopädische Werke oder gelehrte Abhandlungen, die das Wissen der frühen Neuzeit in sich vereinen. Einige sind den Elementen (Wasser, Erde) zugeordnet, andere umkreisen anthropologische Grundbefindlichkeiten (Liebe, Geburt und Tod). Streng genommen haben wir es demnach zwar nicht mit Zauberbüchern zu tun, aber es klingen durchaus okkulte Themen bzw. esoterische Aspekte an, wie Alchemie, Mythologie, verschiedenartige Formen des Geheimwissens, die auf magische Verwendungsmöglichkeiten verweisen. Es ist entscheidend zu sehen, dass die filmästhetische Analyse des Buchs bei Greenaway darauf zielt, den Doppelcharakter und das Prekäre der neuzeitlichen Bücher zu durchleuchten. Die filmische Präsentation offenbart zum einen die eigentümliche Macht der Bücher und der Schrift,32 die mit ihrer Funktion als bevorzugter Wissensträger, als vorzügliches Speichermedium frühneuzeitlichen Universalwissens, zusammenhängt. Auf der anderen Seite sind die Bücher Beschädigungen ausgesetzt, von materiellem Verfall und Zerstörung bedroht. Bei Calibans Auftritt, der sich gegen Prosperos Autorität auflehnt, fallen nicht von 32 Vgl. auch Maurice Yacowar: Negotiating culture: Greenaway’s Tempest. Queen’s Quaterly 99/3 (1992). S. 693: „Prospero’s Books is not quite The Tempest, but centres on Prospero’s power, both ist sources and ist achievement, the books he read and the book he writes before our eyes. The film’s centre is not the storm that shows Prospero’s power, but the books that give him those powers.“ 97

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

ungefähr Schmutz und Exkremente auf die aufgeschlagenen Buchseiten. Somit verweist die genannte Filmsequenz auf den prekären Status des Buchs an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur, während sich in der potentiellen Zerstörung die Ohnmacht der Schrift und der Buchkultur andeutet. Die Bücher weisen neben ihren medialen und materiellen Aspekten zudem eine eigentümliche anthropologische Dimension auf, die sich näher zu betrachten lohnt. Die geheime Analogie zwischen dem menschlichem Körper und dem Buch ist in PROSPERO’S BOOKS von Anfang an unterschwellig präsent. Der menschliche Körper erweist sich dabei nicht nur als eines der zentralen Themen der im Film präsentierten Buchillustrationen (vgl. etwa das Buch des Wassers). Die nackten Körper der Wassernixen und des Luftgeists Ariel präludieren eine geheimnisvolle Entsprechung zwischen dem Buch und dem menschlichen Körper, wie sie besonders am Beispiel des anatomischen Modells der schwangeren Frau, deren Bauch sich wie eine Buchseite aufblättern lässt, schockartig bewusst wird. Unzählige lose Buchseiten fliegen durch die Luft, flattern in Prosperos Studierzimmer. Die vorherrschende Perspektive des Films im Blick auf das Medium des Buchs ist eine zersetzende, ein anscheinend destruktiver Prozess der Zerlegung, der ‚Ana-lyse‛ im buchstäblichen Sinne einer Auflösung. Dahinter verbirgt sich indes zugleich die Suche nach der verborgenen Anatomie der Bücher, in der die analytische Tendenz eine andere Wendung nimmt, indem sie in ein konstruktives Moment verwandelt wird, das den Film vor den Augen des Zuschauers entstehen lässt und zugleich seine Genese aus den Schriftzeichen, den Buchseiten und den durch letztere initiierten Bildern durchleuchtet.

98

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Abb. 35-36: Flatternde Buchseiten (Aus: PROSPERO’S BOOKS)

3.2.3 Theatralische Strukturen und Raumentwürfe Wurde bisher gezeigt, wie Greenaway die Schrift-Bilder und die kinematographische Bilderschrift auf subtile Weise verbindet, so geht es im folgenden darum, den in PROSPERO’S BOOKS ebenfalls wirksamen Rekurs auf theatralische Elemente und Bühnenkonventionen genauer nachzuvollziehen. Zunächst wird der Bezug zum Theater, wie bereits erwähnt, durch die Person John Gielguds in der Hauptrolle des Prospero gewährleistet, der wie kein zweiter eine Bühnentradition verkörpert, in der die rhetorische Qualität, die präzise Realisation der poetischen Diktion und die artifizielle Stilisierung der Sprache integrale Bestandteile bilden.33 Neben jener – gewissermaßen durch eine einzelne Person etablierten – Brücke zum Theater, gibt es weitere, vielfältige ästhetische Anspielungen auf die theatralische Inszenierungskunst, die an Greenaways übergreifender Gestaltungsabsicht keinen Zweifel lassen. Die kunstvolle Überlagerung und subtile Engführung theatralischer und filmischer Strukturen führt bei Greenaway zu einer komplexen Beobachtungssituation. Der Film stellt in Greenaways Deutung nicht allein die konsequente Verlängerung der Theateraufführungen von Shake-

33 „Sir John Gielgud was an actor who more than any other, enshrined the spirit of English classicism. His long career was entwined with those of two other great stage knights, Laurence Olivier and Ralph Richardson, and it would be futile to claim dominance for one at the expense of the others. But they did occupy different positions in the classical commonwealth. If Olivier was its soldier and Richardson its common man, Gielgud was its priest. To a unique degree his greatest performances coincided with the greatest plays. ,Style‘, he once said, ,is knowing what sort of play you're in‘.“ (S. 33) 99

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

speares Stück dar, er bildet zugleich deren Potenzierung und Überbietung. Die Kinematographie bewirkt somit keinesfalls eine Verabschiedung des Theaters, sondern eine Erweiterung der herkömmlichen Bühnenerfahrung, die eine Sensibilisierung der verschiedenen Sinneswahrnehmungen des Zuschauers anstrebt.

Abb.: 37-38: Theatralische Räume (Aus: PROSPERO’S BOOKS)

Prosperos Zelle zitiert den geschlossenen Bühnenraum, der dem offenen Raum des Kinos, wie ihn Béla Balász beschreibt,34 diametral entgegengesetzt ist. Auch die Filmschauplätze erinnern in ihrer aufwendigen Gestaltung an die illusionistischen Ambitionen der Kulissenbühne, die zwar nicht dem Inszenierungsstil der Shakespearezeit, sondern eher der Guckkastenbühne des 19. Jahrhunderts entspricht, aber gerade dadurch auf jene den Umgang mit dem Shakespeareschen Erbe nachhaltig prägende Bühnentradition des 19. Jahrhunderts verweist. In diesem Kontext zeichnet sich eine zusätzliche Bedeutungsdimension der im Film verschwenderisch eingesetzten Bild-Rahmungen ab, da jene offenbar auch die kastenförmige Bühne der viktorianischen Zeit und der Moderne evozieren. 34 Vgl. Béla Balász: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Texte zur Theorie des Films. Hrsg. Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 1979, S. 215. 100

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Nicht zufällig betont der Filmproduzent die wichtige Rolle der Designer und die Bedeutung der Filmkulissen, wenn diese etwa den imaginären Raum von Prosperos Palast skizzieren, der in einem unscharfen Grenzgebiet zwischen Phantasie und innerfiktiver Realität des Inselreichs angesiedelt ist: „There are magnificent sets and costumes, mostly in the Renaissance style, designed by two Dutchmen, Ben Van Os and Jan Raelfs, who have created the Renaissance palace which Prospero has built in his imagination.“35 Insofern die Autorität Prosperos zu einem wesentlichen Teil auf einer durch das Buchwissen stimulierten Imagination beruht, haftet ihr selbst eine illusionistische Qualität an, die sie letztlich unterminiert bzw. der Desillusionierung aussetzt. Neben den Büchern ist es vor allem die Stimme Prosperos, die seine Autorität begründet und in den Interpretationen zu PROSPERO’S BOOKS oft unterschätzt wird. Nicht nur bedürfen die Bücher der menschlichen Stimme, um das in ihnen enthaltene Wissen gleichsam zum Leben zu erwecken. Indem sie das geschriebene Wort (des Shakespeareschen Dramas und des Drehbuchs) aktualisiert, führt Prosperos Stimme selbst Regie. Sie ist es, die die Figuren des Stücks bewegt und wie Marionetten an geheimnisvollen Fäden zusammenführt. Ferner kommt Prosperos Stimme die Aufgabe zu, die Bücher, die Schriftzüge und die Bildwelten des visuell orientierten Filmmediums aufeinander zu beziehen und miteinander zu koordinieren. Erst aus dem subtilen Zusammenspiel von Schriftzügen und gesprochenen Worten, der quasi-magischen Allianz zwischen Stimme und Schrift kann, so suggeriert es Greenaway den Betrachtern, das Filmgeschehen generiert werden und der Versöhnungsprozess zwischen Prospero und seinen Gegnern eingeleitet werden. Wenn Greenaway in PROSPERO’S BOOKS auf genuin theatralische Komponenten wie den abgeschlossenen, begrenzten Raum, einen Fundus illusionistischer Kulissen und die zu dramaturgischen Zwecken eingesetzte menschliche Stimme zurückgreift, fällt er damit keineswegs hinter die Möglichkeiten des neuen Mediums Film zurück. Er legt vielmehr theatralisch-dramatische Strukturen offen, deren sich auch das Medium des Films häufig bedient, ohne diese dabei notwendig selbstreflexiv zu enthüllen. Beide, das Theater und der moderne Film stehen im Dienste der Produktion illusionistischer Fiktionen und benutzen ‚Verzauberungsstrategien‛, die den magischen Praktiken Prosperos in mancher Hinsicht affin sind. Wenn Greenaway nicht auf eine ungebrochene Illusionierung der Zuschauer zielt, sondern vielmehr eine selbstreflexive Hervorkehrung derartiger Illusionstechniken betreibt, konvergiert er in einem zen35 Vgl. Prospero’s Cell: http://members.optusnet.com.au/~zaphod/Prospero GielgudIdea.html 101

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

tralen Punkt mit Shakespeares The Tempest, insofern das dramatische Spätwerk des elisabethanischen bzw. jakobäischen Autors ebenfalls eine autoreflexive, metadramatische Ausrichtung verrät. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht sind die bekannten Zeilen, mit denen Prospero im letzten Akt des Stücks das Ende seiner Regentschaft und die Abdankung von seiner Herrschaft über das Inselreich verkündet. Der plötzliche Machtverzicht bzw. Autoritätsverlust des ‚Magiers‛ wird bezeichnenderweise von einer im frühneuzeitlichen Kontext an und für sich topischen, allgemeinen Vergänglichkeitsklage begleitet, die allerdings dadurch ein spezifischeres Profil erhält, dass sie wiederum im Rekurs auf eine komplexe Theatermetaphorik evoziert wird. Dadurch gelingt schließlich die Engführung von drei verschiedenen Bedeutungs-Strängen des Stücks (sowie des Films), indem das zentrale soziopolitische Thema der Macht mit den meta-dramatischen Erkundungen der medienspezifischen Illusionierungsstrategien in einem hervorgehobenen Moment medialer Selbstreflexion (diesseits oder jenseits der eigentlichen Handlungsebene) verschmilzt: PROSPERO. You do look, my son, in a mov’d sort, as if you were dismay’d; be cheerful, sir. Our revels now are ended. These our actors, (as I foretold you,) were all spirits, and are melted into air, into thin air; And, like the baseless fabric of this vision, the cloud-capp’d towers, the gorgeous palaces, the solemn temples, the great globe itself, yea, all which it inherit, shall dissolve, and, like this insubstantial pageant faded, leave not a rack behind. We are such stuff as dreams are made on; and our little life is rounded with a sleep. (Sir, I am vex’d; Bear with my weakness; my old brain is troubled; Be not disturb’d with my infirmity. If you be pleas’d, retire into my cell. And there repose; a turn or two I'll walk To still my beating mind.)36

Die Möglichkeiten der intermedialen Vernetzung und der Raumgenese stehen zu den Gegebenheiten der theatralischen Inszenierung im Zeichen der Überbietung und Potenzierung. Greenaway nutzt dies, um den Zuschauer einer ununterbrochenen Reizüberflutung auszusetzen. Der überwältigende Eindruck der auf die Kinobesucher einströmenden Bilderflut löst in PROSPERO’S BOOKS die Wirkungen eines erstaunlichen, quasi magischen Spiels mit Effekten aus, die für den Zuschauer in der rasanten

36 Shakespeare: The Tempest. Act IV., Scene 1. Vgl. auch das Drehbuch zu Prospero’s Books: http://www.omencity.com/xitez/prospero/tempesttext .html 102

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Geschwindigkeit der Darbietung unüberschaubar sind. Eine vergleichbare Dynamisierung erfährt die Bühnenwelt des Theaters in einem anderen Film der 1990er Jahre, in SHAKESPEARE IN LOVE, der in gewisser Hinsicht ein Gegenstück zu Greenaways Film bildet.

3.3 SHAKESPEARE IN LOVE – theatrale Räume und filmische Mise-en-scène Während PROSPERO’S BOOKS eine Konstellation des Abschiednehmens und den Abschluss einer glanzvollen Theaterkarriere in den Blick rückt, sei es nun diejenige des Dramatikers Shakespeares, des prominenten Schauspielers Gielguds oder des magischen Akteurs Prosperos, behandelt SHAKESPEARE IN LOVE37 (1998) den wechselvollen Beginn, die tastenden Versuche Shakespeares, im elisabethanischen Theaterbetrieb Fuß zu fassen und sich dort zu bewähren. Lady Viola De Lesseps (Gwyneth Paltrow) verkörpert dabei mehr als die traditionelle Rolle der Muse, da sie mit ihrer Begeisterung für die Bühne und dem Versuch, als Thomas Kent verkleidet an der Theaterwelt zu partizipieren, auch in Shakespeare die nötigen Energien für die kreative und dramaturgische Arbeit auslöst. Die Kamera fokussiert bereits eingangs im Vorspann Shakespeare (Joseph Fiennes) bei der Arbeit, während er mit konzentriertem, nachdenklichem Blick eine lange Feder in der rechten Hand hält, deren schwarze Tinte sich in Gestalt von Flecken und Spritzern auf seine Finger übertragen hat. Die Persona des schreibenden Autors und die Werkgenese rücken einmal mehr ins Zentrum der filmischen Analyse.

Abb. 39: William Shakespeare mit der Schreibfeder38

37 Regie: John Madden, Drehbuch: Tom Stoppard und Marc Norman. _ Website: http://www.imdb.com/gallery/granitz/0484-sha/ _ 38 Filmfoto von der 103

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Es lohnt sich, den Vorspann genauer zu betrachten, denn er beginnt mit einer eindrucksvollen Kamerafahrt durch den (leeren) Innenraum des Rose Theatre, von der Strohüberdachung über die Galerien hin zum Bühnenraum mit spärlichen Requisiten und dem Theaterboden, dem Platz für die billigen Stehplätze der groundlings. Am Anfang des Films erfolgt somit eine umfassende Durchleuchtung der elisabethanischen Theaterarchitektur und die filmische Konstruktion eines theatralen Raums.

Abb. 40: Henslowe unterschreibt mit der Feder und verpflichtet sich ein Theaterstück zu besorgen (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

Die anschließenden Filmbilder zeigen den Theater-Entrepreneur Henslowe, der gerade gezwungen wird, seine Unterschrift zu leisten, um für die fristgerechte Übergabe des Stücks „Romeo and the Pirate’s Daughter“ an die Schauspieltruppe der ‚Lord Admiral’s Men‛ zu bürgen. Unmittelbar im Anschluss an die Erschließung des Theaterraums rückt die Bedeutung der Handschrift in den Blick, noch ehe die Funktion des Schreibens als genuin künstlerischer Produktionsprozess in Erscheinung tritt. Dies geschieht in der nächsten Einstellung nach der erwähnten Henslowe-Sequenz, in welcher der junge Shakespeare bei der Arbeit gezeigt und das Motiv der Schaffenskrise humorvoll gestaltet wird. Shakespeare zerknüllt ein Blatt Papier nach dem anderen und wirft sie in die Ecke des Zimmers, in die Nähe eines Totenschädels, auffallendes Symbol der Melancholie und hier auch der trübsinnigen Lethargie und Unproduktivität. Shakespeares Feder kritzelt Namen der imaginierten Dramenpersonen auf ein Blatt, nur um diese sogleich missbilligend wieder durchzustreichen. Das Stück kommt offenkundig nicht über die Liste der dramatis personae hinaus, denn sämtliche Namensschriftzüge der Liste sind durchgestrichen.

affleck1en html?path=gallery&path key=0138097&seq=22 am 31.3.2010) 104

(eingesehen

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Abb. 41-43: Shakespeare in der Schreibkrise (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

In der sich anschließenden Einstellung erscheint der Filmtitel, erwartungsgemäßes Element des Vorspanns, und zwar zunächst in einer weißen Handschrift über dem Bild von Shakespeares schreibender Hand. In der Nahaufnahme wird deutlich, dass die Finger des Dramenautors mit schwarzer Tinte beschmiert sind. Nach Vollendung des Schriftzugs über der Einstellung changiert die Farbe der Schrift von weiß zu einem leuchtenden Rot. Jene Überlagerung der innerfilmischen Handschrift Shakespeares durch den gleichzeitig wie von unsichtbarer Hand gezeichneten Schriftzug des Vorspanns lässt zudem einen gleitenden Übergang und ein aufschlussreiches Wechselspiel zwischen der diegetischen und der extradiegetischen Verwendung des Mediums ‚Schrift‛ im Film erkennen. Noch in anderer Hinsicht hat das genannte Filmbild Signalwirkung und initiiert einen Wiedererkennungseffekt. Denn es handelt sich von der Bildkomposition her um ein deutliches Filmzitat aus Greenaways PROSPERO’S BOOKS.

105

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 44-46: Der Schriftzug / die Handschrift im Vorspann Überlagerungen der Schreibprozesse (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

Der Schriftstelleralltag des von der Nachwelt gefeierten Autors wirkt augenscheinlich ernüchternd, zumal der junge Shakespeare an Einfallsmangel und fehlenden dramaturgischen Kompetenzen leidet. Das Bild des unbeschwerten Genies wird spielerisch-ironisch unterlaufen. Besonders aus der Retrospektive von Shakespeares globalem Nachruhm gestaltet sich die Begegnung mit dem Dramatiker-Kollegen Christopher Marlowe (Rupert Everett) erheiternd. Letzterer kann mit Doctor Faustus bereits auf einen Bühnenerfolg zurückblicken, der auf der elisabethanischen Bühne bislang seinesgleichen sucht. Shakespeares Hilflosigkeit und Unterlegenheit rücken in jener Filmepisode in ein ironisches Licht, zumal da Marlowe seinem im Dunkeln tappenden Konkurrenten bei ihrem zufälligen Treffen im Wirtshaus augenscheinlich mühelos Hilfestellung gibt

106

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

und ihm en passant die wichtigsten Ideen für die Figurenkonstellation von der Liebestragödie Romeo und Julia liefert:39 28B INT. TAVERN.DAY. Will has remained behind, aghast now at his predicament. He goes to the bar. WILL Give me to drink mandragora. BARMAN Straight up, Will ? VOICE Give my friend a beaker of your best brandy. Will turns toward a figure further down the bar. It’s CHRISTOPHER MARLOWE. WILL Kit ... MARLOWE How goes it, Will ? WILL Wonderful, wonderful. MARLOWE Burbage says you have a play. WILL I have. And chinks to show for it. His drink arrives. WILL places a sovereign on the bar. WILL (Cont’d) I insist – and a beaker for Mr. Marlowe. The BARMAN does the business. WILL (Cont’d) I hear you have a new play for the Curtain. MARLOWE Not new – my „Doctor Faustus“. WILL I love your early work. „Was this the face that launched a thousand ships and burnt the topless towers of Ilium ?” MARLOWE I have a new one nearly done, and better. „The Massacre at Paris“. WILL Good title. MARLOWE And yours? WILL „Romeo and Ethel the Pirate’s Daughter“. (beat; sighs despondently) Yes, I know. MARLOWE What is the story? WILL Well, there’s a pirate... (confesses) In truth, I have not written a word. MARLOWE Romeo is ... Italian. Always in and out of love. WILL Yes, that’s good. Until he meets... MARLOWE Ethel WILL Do you think? MARLOWE The daughter of his enemy. WILL (thoughtfully) The daughter of his enemy. MARLOWE His best friend is killed in a duel by Ethel’s brother or something. His name is Mercutio. WILL Mercutio ... good name. NOL hurries back to WILL’S side. NOL Will – they’re waiting for you ! 39 Drehbuchzitat aus: http://www.cinetropic.com/shakespeare/ 107

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

WILL I’m coming. He drains his glass. WILL (Cont’d) Good luck with yours, Kit. MARLOWE I thought your play was for Burbage. WILL There is a different one. MARLOWE (trying to work it out) A different one you haven’t written? WILL makes a helpless gesture and hurries after NOL.

Shakespeares Schreibprobleme verleihen der Ausgangssituation im Film ein wirkungsvolles, leicht komisches Format. Die obligatorische Liebesgeschichte ist in SHAKESPEARE IN LOVE – ungeachtet der Titelwahl – nur ein Strang des Handlungsgeschehens neben anderen.40 Dabei verlagert sich das Zentrum der Aufmerksamkeit im Verlauf des Films von der schriftstellerischen Produktion selbst zu den spezifischen Aufführungsmodalitäten elisabethanischer Stücke, um nacheinander die Vorbereitungen, Probenarbeit und die tatsächliche Umsetzung der berühmten Liebestragödie in der fiktiven Uraufführung zu zeigen. Der Film präsentiert dabei im wesentlichen zwei kontrastierende filmische Modellierungen des Theaters bzw. Optionen der theatralischen Inszenierung. Bei der ersten Theateraufführung, die recht nah am Beginn des Films gezeigt wird, handelt es sich um eine Inszenierung von Shakespeares Two Gentleman of Verona, die von Richard Burbages Schauspieltruppe vor einem kleinen Kreis aus adligen Zuschauern in Whitehall Palace geboten wird. Die Kamera beobachtet hier das Bühnengeschehen von einem mehr oder weniger festen Standort im Parkett. Die unbewegliche Kamera und die frontale Präsentation wirken im Film eindimensional und ein wenig plump. Sie erzeugen beim Zuschauer tendenziell Langeweile. Letztere wird durch die filmimmanenten Publikumsreaktionen bestätigt; insbesondere Queen Elisabeth (verkörpert durch Judi Dench) droht einzuschlafen. 40 Vgl. Michael Anderegg: „James Dean Meets the Pirate’s Daughter: Passion and Parody in William Shakespeare’s Romeo Juliet and Shakespeare in Love.“ In: Richard Burt, Boose Lynda E. (Hg.): Shakespeare, the Movie II. Popularizing the Plays on Film, TV, Video and DVD. London: Routledge 2003. S. 56 ff. Vgl. auch: Julianne Pidduck: „Elizabeth and Shakespeare in Love. Screening the Elizabethans.“ In: Vincendeau, Ginette (Hg.): Film/ Literature/ Heritage. A Sight and Sound Reader. London: British Film Institute 2001. S. 130-135 und Womack, Kenneth: „Reading (and Writing) the Ethics of Authorship. Shakespeare in Love as Postmodern Metanarrative.“ Literature Film Quarterly, 2004. Bd. 32 (2). S. 153-162. 108

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Alternierend mit dem statisch wirkenden Aufführungsgeschehen wird (in Parallelmontage) das Publikum eingeblendet, aus einer frontal von der Bühne aus eingenommenen bis leicht seitlichen Perspektive, die nicht weniger starr erscheint. Was auf den ersten Blick als Unbeholfenheit der Kameraregie erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als gezielter und genialer Kunstgriff. Denn die filmische Umsetzung der ersten Theatersequenz unterstreicht die auch inhaltlich aus der Sicht des jungen Shakespeare wahrzunehmende Kritik an der zeitgenössischen Aufführungspraxis, in der die Aufmerksamkeit des Publikums nicht mit dramaturgischer Intensität, sondern mit Slapstick-Szenen geködert wird. Zudem eröffnet die anfänglich eher flache filmische Präsentationsform des Theaters im weiteren Verlauf faszinierende Steigerungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.

109

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 47-50: Gefilmtes Theater als ‚Guckkasten‛ (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

Die filminterne Funktion der erwähnten Filmsequenz besteht lediglich darin, eine geeignete Folie zu bilden, vor der sich die gelungene Aufführung von Romeo und Julia gegen Ende des Films eindrucksvoll abzusetzen vermag. Der Film kulminiert nicht von ungefähr in einer Aufführung von Romeo und Julia, die trotz einer drohenden Pannenserie für den jungen Dramatiker und seine Truppe ein immenser Erfolg wird. Erst in der letztgenannten, etwa 20 Minuten dauernden Filmsequenz, in der Shakespeares Liebestragödie nach einer intensiven Probenzeit zur Aufführung gelangt, werden die kinematographischen Möglichkeiten zur Präsentation theatraler Aufführungen in der elisabethanischen Bühnenarchitektur voll entfaltet und ausgeschöpft. Insbesondere eine flexible Kameraführung und ein dynamischer Einsatz von Schnitt und Montage tragen zu einer effektvollen und überzeugenden Realisation von Romeo und Julia als ‚Spiel im Spiel‛ bzw. ‚Schauspiel im Film‛ bei. Dies geschieht durch eine überaus bewegliche Kameraführung, die den Bühnenraum der elisabethanischen Plattformbühne aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, von den Seiten, von hinten, von schräg oben etc. erfasst und die starre theater-typische Sicht des frontalen Blicks aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gezielt vermeidet. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Kamera meist die Akteure auf der Bühne und Teile des Zuschauerraums gleichzeitig zeigt, so dass der Kinobesucher den Ablauf der innerfilmischen Inszenierung und die innerfiktiven Zuschauerreaktionen simultan beobachten kann. Er wird zum Beobachter des Theaterbesuchers, der wiederum die Aufführung beobachtet, zu einem Beobachter zweiter Ordnung. Auch die Selbstbeobachtung der innerfiktiven Schauspieler wird dem Kinozuschauer vermittelt, etwa durch die mimischen sowie gestischen Reaktionen oder durch die Dialogfetzen, die sich die Akteure unmittelbar vor ihrem Auftritt oder nach dem Abgang hinter der Bühne zurufen. So wird der Kinobesucher beispielsweise Zeuge von Shakespeares Lampenfieber, seiner wachsende Sorge und Verzweiflung, dass das Stück ein Flop wird, zumal der Darsteller des Pro-

110

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

logs sein Stottern kaum in den Griff bekommt und der Schauspieler in der Rolle der Julia große Erinnerungslücken hat. Dem Rezipienten des Films wird durch Kamerafahrten und gezielte Schnitte das innerfiktive elisabethanische Theaterpublikum detailliert vorgestellt, wobei sich verschiedene soziale Gruppen und Individuen differenzieren lassen. Man registriert, wie die sentimentale Amme nach dem Bühnentod Julias laut aufschluchzt und wie die Menge einschließlich der eher unbedarften ‚groundlings‛ im Parkett zum Schluss in langem ehrfurchtsvollem Schweigen verharrt, um dann in einen begeisterten, überschwenglichen Applaus auszubrechen, allen voran die zunächst theaterfeindliche Gestalt des Puritaners. Erwähnenswert ist ferner die starke Raffung der Zeitdimension des Theaterstücks und seiner Aufführung durch den Film, innerhalb deren eine eigentlich zweistündige Bühnenhandlung auf eine Dauer von ca. 20 Minuten kondensiert wird. Daraus wiederum entsteht der Eindruck einer erstaunlichen Dynamik; die filmische Repräsentation der Dramenhandlung wird von einem erhöhten Tempo erfasst, was die Erfahrung des theatralischen Raums entscheidend verändert, der nun in doppelter Hinsicht bewegt erscheint, zum einen durch die mobile Kameraführung, zum anderen durch die Verdichtung der Zeitdimension.

111

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 51- 56: Elisabethanische Theateraufführung und filmische Multiperspektivität (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

112

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Abb. 57 und 58: Hinter den Kulissen (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

113

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 59-62 Vielfalt der Kameraperspektiven (aus: SHAKESPEARE IN LOVE)

Der elisabethanische Theaterbau und die sich darin abspielende Aufführung von Romeo und Julia werden dem Zuschauer zudem wie in einem Computerspiel präsentiert. Dieser Eindruck verdankt sich hauptsächlich der besonderen Dynamik von Kameraführung, Kamerafahrten, Schnitt und Montage. Entscheidend ist vor allem der rasche Perspektivenwechsel, der sprunghaft sämtliche Teilbereiche der Theaterarchitektur einschließlich des Zuschauerraums und der Orte hinter der Bühne in den Blick nimmt. Dem spielerischen Ortswechsel korrespondiert eine gewagte Beschleunigung, indem das zweistündige Stück – „the two hours traffic of our play“ – auf eine Dauer von wenigen Minuten komprimiert wird. Die Aufführung von Shakespeares Romeo und Julia, wie sie im Medium des Films in Szene gesetzt und wahrgenommen wird, scheint die raumzeitlichen Modalitäten der elisabethanischen Bühne zweifellos zu sprengen und sich paradoxerweise im filmischen Medium besonders eindrucksvoll zu entfalten. Die euphorische Pointe, auf die SHAKESPEARE IN LOVE hinausläuft, besteht nicht zuletzt darin, dass Shakespeare sich insgeheim als genialer Drehbuchautor erweist, dessen Stücke ihre fulminante Wirkung gleichsam zeitverzögert im Medium des Films und in der

114

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

passenden Kinoästhetik entfalten.41 Dem wiederum entspricht die Entscheidung der Drehbuchautoren Marc Norman und Tom Stoppard sowie des Regisseurs (John Madden), die Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia nicht nur als Drama im Film zu präsentieren, sondern darüber hinaus in Form der Beziehung zwischen William Shakespeare und Viola als Handlungsgerüst in die Gesamtstruktur des Films hinein zu kopieren. Diese besondere Schichtung und Strukturierung enthüllen den Film selbstreflexiv als Medieninterferenz, als intermediales Gesamtgefüge und komplexe Überlagerung unterschiedlicher Medientypen (Schrift, Drama / Theater, Film). Sie zeugen von einer subtilen Selbstreflexion, durch die der Film über das Genre des Historienfilms hinausweist. Die intermediale Konstruktion ermöglicht es Regisseur und Drehbuchautoren, auch thematisch komplexere Probleme zu behandeln und polyperspektivisch zu beleuchten. Auch in SHAKESPEARE IN LOVE erweist sich die Verwendung von markierten Formen intermedialen Zusammenspiels als Ausdruck semantischer Mehrdimensionalität und Komplexität, insbesondere wenn sie durch die Perspektive des Rückblicks auf die Shakespeare-Zeit aus der Gegenwartsperspektive des Kinozuschauers eine ironische Färbung annimmt.

3.4 Der Film als Kryptogramm – THE DA VINCI CODE oder Dechiffrierung des Geheimen zwischen Mythos und Profanierung Jean Jacques Annauds Filmadaptation DER NAME DER ROSE enthält, wie gesehen wurde, eine vielfältige Reflexion auf Formen der Zeichengenese und Prozesse der Semiose. Auch in Peter Greenaways PROSPERO’S BOOKS wird der Blick des Zuschauers immer wieder auf die Buchseiten und Schriftzeichen in ihren medialen Eigenheiten gerichtet, so dass eine subtile sowie extensive Medienreflexion und semiotische Autoreflexion in Gang gesetzt werden. Auf diese Weise tritt in den diskutierten Filmen eine bemerkenswerte meta-semiotische Dimension zu Tage, die nicht weniger prominent ist als das dargestellte Handlungsgeschehen selbst 41 Vgl. zu diesem Aspekt auch den aufschlussreichen Band von James R. Keller, Leslie Stratyner: Almost Shakespeare: reinventing his works for cinema and television. 2004. Vgl. ferner: Peter Donaldson: Shakespeare, Globes and Global Media. Shakespeare Survey. S. 197 f. Siehe auch: Stephen M. Buhler: Shakespeare in the cinema: ocular proof. 2002 und Douglas Brode: Shakespeare in the movies: from the silent era to Shakespeare in love. 2000. 115

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

oder die jeweilige Figurencharakterisierung. Jene meta-semiotische und meta-mediale Ebene, die durch die hervorgehobene intermediale Konstellation akzentuiert und gefördert wird, ist auch in einer neueren Hollywood-Produktion, in Ron Howards Verfilmung von Dan Browns Bestsellerroman The Da Vinci Code (2003), zu beobachten, und zwar in potenzierter Form. Es lässt sich nämlich feststellen, dass hier die semiotische Reflexion und Selbstreflexion im Vergleich zu den zuvor genannten Filmen noch gesteigert und überboten wird, was auch die Titelwahl in der englischen Originalfassung, die in der deutschen Version wie schon bei der Romanübertragung wohl aus marktstrategischen Erwägungen durch SAKRILEG ersetzt wurde, deutlich zu erkennen gibt. In THE DA VINCI CODE (2006) kommt es bezeichnenderweise zu einer Engführung und Potenzierung jener Reflexionen auf verschiedenartige Zeichensysteme, wie sie bereits in den zuvor behandelten Filmbeispielen zu beobachten waren. Dabei muss offen bleiben, ob es sich bei den vorhandenen Anknüpfungspunkten um unbewusste Übereinstimmungen oder gezielte Referenzen bzw. Filmzitate handelt. Zwar lenkt bereits die Romanfiktion selbst die Aufmerksamkeit der Leser auf jene semiotische Ebene, aber es lässt sich deutlich erkennen, dass die Fokussierung der Zeichendimension und die semiotische Reflexion in der filmischen Realisation erheblich verstärkt werden. In THE DA VINCI CODE wird gleich eingangs bei der Darstellung des Mordes von Jacques Saunière die Verwendung des menschlichen Körpers als materiellen Träger von Schriftzeichen, wie sie aus Peter Greenaways THE PILLOW BOOK (1995) vertraut ist,42 aufgegriffen und in spezifischer Hinsicht modifiziert. Diente sie bei Greenaway neben der Selbstreflexion der konkret-materiellen Signifikantenstruktur einer Intensivierung der erotischen Dimension und einer Konturierung des Körpers der Frau als Objekt einer auch sexuell konnotierten Einschreibung, so erhält sie in THE DA VINCI CODE eher einen makaberen Akzent, der dem Genre des Thrillers entspricht. Insofern Jacques Saunière die geheime Botschaft mit dem eigenen Blut auf dem Boden des Louvre fixiert und kurz vor seinem Tod noch die Haltung von Leonardo Da Vincis ‚Vitruvian man‛ einnimmt, instrumentalisiert er seinen Körper als Träger eines zeichenhaften Signals und versucht ihn in eine komplexe Schrift-Bild-Gestalt zu verwandeln. Während die Leiche sich auf den ersten Blick als Bildzitat der berühmten Zeichnung Leonardos zu erkennen gibt, sind die Textzeichen anagrammatisch verschlüsselt und bedürfen einer subtilen und sorg-

42 Zum Prozess der kalligraphischen Beschriftung und der Einschreibung in Greenaways Pillow Book vgl. auch: Christopher Balme, Markus Moninger: Crossing Media: Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. 2004. 116

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

fältigen Entzifferung. Zudem errät Saunière die beiden prospektiven Leser bzw. Rezipienten seiner geheimen Zeichencodes, insofern er nicht zu Unrecht vermutet, dass im Laufe der polizeilichen Ermittlungen der in Paris weilende Symbolforscher Professor Robert Langdon und seine Nichte Sophie Neveu mit der Entschlüsselung des Codes beauftragt würden.

Abb. 63: Robert Langdon und Sophie Neveu im Louvre Abb. 64: Leonardos ‚Vitruvian man‛43

Es gelingt Saunière also, noch in der Situation des Todes eine Botschaft an seine Enkelin Sophie Neveu zu hinterlassen, die als Kryptologin bei der Pariser Polizei tätig ist. Des weiteren erfährt der Zuschauer, dass der Kurator Mitglied eines Geheimbunds, der Priory of Sion, war, der auch berühmte Künstler und Gelehrte wie zum Beispiel Leonardo da Vinci, Victor Hugo, Claude Debussy oder Sir Isaac Newton angehört haben sollen. Der Kurator war Großmeister jener Bruderschaft; außer ihm wurden auch die drei Seneschalle durch den fanatischen Mönch Silas ermordet. Langdon wird – zunächst ohne es zu ahnen – von der Polizei fälschlicherweise verdächtigt, den Mord an Saunière begangen zu haben; es gelingt ihm indes, mit Neveus Hilfe aus dem Louvre zu fliehen und gemeinsam mit ihr die Verfolger während einer rasanten Verfolgungsjagd in Neveus Auto abzuschütteln. Bei ihren weiteren Erkundungen stoßen Robert Langdon und Sophie Neveu wiederholt auf verborgene Zeichen und Symbole, und zwar vorwiegend in den im Louvre befindlichen Ge-

43 Sämtliche Fotos aus DA VINCI CODE stammen, wenn nicht anders vermerkt, von folgender Website: http://www.kino.de/kinofilm/the-da-vincicode-sakrileg/fotoshow/87246.html (31.3.2010) 117

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

mälden Leonardo da Vincis, sowie auf eine geheime verschlüsselte Botschaft, die in einem Kryptex versteckt ist.44

Abb. 65: Langdon und Neveu stehen rätselnd vor der Mona Lisa im Louvre

Ungeachtet des hohen Anteils an Medienreflexion ist das Handlungsgeschehen in THE DA VINCI CODE keineswegs peripher, noch wird es wie bei Greenaway von der semiotischen und symbolischen Schicht derart überlagert, dass es fast unkenntlich würde. Vielmehr ist es dem Film wie dem Buch in erster Linie darum zu tun, eine spannende Geschichte zu erzählen, die ihre Wirkung auf den Zuschauer nicht verfehlt.45 Eine Kinobesucherin resümiert ihre Eindrücke von dem unwiderstehlichen Sog, den die sich überstürzenden Ereignisse auf sie ausüben:46 „Immediately I was sucked into the film, as it unfolds. Langdon gets involved in a mur44 Eine ausführliche und sachkundige Inhaltsangabe bietet: http://de.wikipedia.org/wiki/Da_Vinci_Code (31.3.2010) 45 Focus online berichtete am 22.05.06 über den „zweitbesten Filmstart aller Zeiten“: „Trotz aller Proteste und schlechter Kritiken“ sei „der HollywoodThriller „Sakrileg – The Da Vinci Code“ an den Kinokassen sensationell gestartet.“ Laut Mitteilung des Filmverleihs Columbia Pictures soll der Film in den ersten drei Tagen weltweit 224 Millionen Dollar eingespielt haben: Damit stieg er auf Rang zwei der erfolgreichsten Filme auf. Allein der „Star Wars“ – „Episode III – Die Rache der Sith“ habe, so focus online, im Jahr 2005 in den ersten Tagen nach seinem Start mit 253 Millionen Dollar eine noch größere Summe eingespielt. Vgl. http://focus.msn.de/panorama/welt/sakrileg_nid_29321.html (eingesehen am 30.3.2007) Vgl. auch die positive Bewertung durch William Arnold, der den Film als „much more entertaining and satisfying than the novel“ einschätzt: William Arnold: Da Vinci Code deserves kudos for being a smart thriller in an era of dumb movies. Seattle Post-Intelligencer. (http://seattlepi.nwsource.com /movies/270573_davinci19q.html) 46 Michelle Alexandria: Unlock the Intriguing The Da Vinci Code. 20. Mai 2006. http://www.eclipsemagazine.com/node/1667 (30.3.2007) 118

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

der mystery and becomes the immediate suspect as a crooked French police officer Captain Fache (Jean Reno) uses any means necessary to track him down. Langdon eventually hooks up with the murder victim’s granddaughter Sophie Neveu (Audrey Tautou) who helps him try and put the pieces together of the true mystery of the whereabouts of The Holy Grail.“ Allerdings räumt die Besprechung kritisch ein, dass das Regiekonzept zu der einfachen Darstellung von Actionszenen bis zu einem gewissen Grad quer liegt: „Ron Howard’s directorial style is slow, meandering, and he can’t direct action sequences.“47 Die Beschäftigung mit symbolischen und zeichenhaften Repräsentationen gewinnt im Film streckenweise ein derartiges Übergewicht, dass sie dem Fortgang der Handlung48 mitunter im Wege zu stehen scheint. Mehr noch: Der filmischen Umsetzung eignet zuweilen ein Moment von nahezu aufdringlich expliziter Darstellung, das manche Kinobesucher als störend empfunden haben: „Ostensibly aimed at six year-olds and mental vegetables, the script explains everything twice, spelling out the big words three times, so that even if you’ve never heard of Jesus or Mary Magdalene you can still figure out this story.”49 Die sich in den zitierten Zeilen artikulierende Kritik mag, positiv gewendet, als ein aufschlussreiches Indiz für das hohe Maß an Medien- und Zeichenreflexion bzw. Dechiffrierung gelten, die im Film stattfinden und gemessen am Fortgang der Handlung notwendigerweise exkursartig anmuten. Gegenüber dem beschleunigten Tempo der Actionszenen wirken sie als retardierende Momente, die indes eine für den Film charakteristische, strukturbildende Funktion haben. Nicht zufällig startet die Sequenz, die der Präsentation des Mordes als Initialzündung unmittelbar folgt, mit

47 Ebd. 48 Kritische Stimmen beklagen die Überlänge des Films, die durch den plot selbst kaum motiviert sei, und kritisieren zudem jene für das Medium des Film untypischen Darstellungsverfahren: „Dem Regisseur Ron Howard aber ist überhaupt nichts eingefallen. Er spielt die Geschichte vom Blatt, er läßt die Figuren ununterbrochen reden, erklären, dozieren, laut denken, wie sie es im Buch tun. Zwischendurch jagt er sie durch touristisch wohlerschlossenes Gelände und sorgt dafür, daß kein Staubkorn an ihren Schuhen hängenbleibt, kein Windhauch ihr Haar zerzaust und niemals ihre Nase glänzt. Vierundzwanzig Stunden dauert diese Jagd nach dem Heiligen Gral im Buch, im Kino fühlt es sich ebenso lang an, obwohl nach zweieinhalb Schluß ist.“ Alexandra Stäheli: Ausgedörrt. Ron Howard verfilmt Dan Browns Bestseller The Da Vinci Code, Neue Zürcher Zeitung. 18. Mai 2006. http://www.nzz.ch/2006/05/18/fe/articleE45YL.html 49 Jeffrey M. Anderson: Groana Lisa. http://www.combustiblecelluloid.com /2006/davincicode.shtml (30.3.2007) 119

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

einer Pariser Vorlesung des Harvard Professors Robert Langdon über die Rolle und kulturelle Bedeutung der Symbole, die bezeichnenderweise als Powerpoint-Vortrag gestaltet ist. Uralte symbolische Figuren wie etwa die ägyptische Göttin Isis mit dem Horusknaben, die man als eine wirkungsmächtige mythische Präfiguration der Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind betrachten kann, erscheinen im Medium moderner computerunterstützter Visualisierung. Der Film inszeniert eindrucksvoll die Konfrontation von Repräsentationsfiguren und symbolischen Zeichen aus den vormodernen Mythologien mit dem Einsatz von neuesten HightechGeräten. Damit eröffnet die betreffende Filmsequenz zugleich verschiedene Ebenen und Gradationen des Intermedialen: Nicht nur werden die antiken Symbolsysteme durch den Vortrag Langdons einer sorgfältigen wissenschaftlichen Analyse unterzogen, überdies fokussiert die Filmkamera jenes Wechselspiel zwischen mythischer Zeichengenese und perfektionierter digitaler Präsentation. Denn im Medium des Films wird beobachtet, in welcher Weise die computergestützte Darstellung vormoderner Mythologeme abläuft und welche Wirkungen sie beim innerfilmischen Publikum auslöst.

Abb. 66: Robert Langdons Vortrag über kulturelle Symbolik

Später kommt es zu einer ähnlichen intermedialen Konstellation, wenn Leigh Teabing seinen Gästen Langdon und Neveu sein gelehrtes Wissen über den Gral mitteilt. Er demonstriert seine Überlegungen zu Leonardo Da Vincis Darstellung des letzten Abendmahls optisch wirkungsvoll auf einem großen Flachbildschirm. Die Computerpräsentation erlaubt es ihm, elegant und effektiv einzelne Figuren wie Jesus und Maria Magdalena50 50 Kunsthistorisch betrachtet ist Dan Browns Deutung nicht korrekt, da die Figur, die auf Leonardos Gemälde rechts neben Christus sitzt, gemäß der vertrauten Ikonographie des Abendmahls den Jünger Johannes, nicht Maria Magdalena, darstellt. Auch die ins Bild hineinprojizierte Gralsdeutung erscheint weit hergeholt. Vgl. dazu auch das ausführliche Interview mit Prof. Frank Zöllner (Kunstgeschichte, Universität Leipzig): http://www.uni120

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

farbig zu kennzeichnen und visuell hervorzuheben. Vordergründig dient das gewählte Verfahren der anschaulichen Darstellung kunsthistorisch recht subtiler Sachverhalte. Mehr noch: Die Bildlektüre wird mit den Mitteln der Computeranalyse eingeleitet und durchgeführt – die digitale Technik avanciert im Film einmal mehr zum geeigneten Interpretationsmedium mythischer und semiotischer bzw. symbolischer Zusammenhänge. Sie legt eine der kanonisierten christlichen Deutung des Gemäldes gegenläufige, subversive Interpretationsmöglichkeit offen. Ein interessantes Detail der Sequenz in Teabings Studierzimmer besteht darin, dass Sophie Neveus Kopf und Oberkörper durch die gewählte Kameraführung einmal unvermittelt neben dem farblich konturierten Abbild der Maria Magdalena vor dem Computerbildschirm erscheinen.

Abb. 67: Sophie Neveau vor dem Bildausschnitt der Magdalena

Abb. 68: Leigh Teabing bei seinen Forschungen

leipzig.de/~kuge/zoellner/e-publikationen/brown.htm (eingesehen am 30.3. 2008). Das gesamte Interview „Mona Lisa lächelt“ mit Universitätsprofessor Frank Zöllner findet sich auch in: Alexander Schick: Das wahre Sakrileg. Die verborgenen Hintergründe des Da-Vinci-Codes – Das Geheimnis hinter Dan Browns Weltbestseller. München 2006. S. 34-44. 121

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Jene Gegenüberstellung von innerfilmisch realem menschlichen Körper und künstlerischer Repräsentation fungiert so als interessante Antizipation der später enthüllten Erkenntnisse über die Familiengeschichte und Abstammung Sophie Neveus. Aufschlussreich im Blick auf die intermediale Konfiguration, die in der Sequenz in Teabings Arbeitszimmer sicherlich ihren Höhepunkt erreicht, ist ferner der abrupte Wechsel zwischen traditionellem Schriftbild und Computerbild. Zwischenzeitlich lässt Teabing nämlich auf seinem Bildschirm ein Tafelbild erscheinen, das optisch signifikanterweise an eine schlichte Wandtafel und Kreide erinnert, um damit die Wortbedeutung und Etymologie von ‚sangreal‛ zu erläutern, also jene angenommene Herkunft der Bezeichnung ‚Heiliger Gral‛ von „sang royal“ / „royal blood“. Das Prinzip der Ineinanderschachtelung der (alten und neuen) Medien wird dabei als zugrunde liegendes Konstruktionsschema der Filmsequenz ersichtlich.

Abb. 69-70: Im Studierzimmer von Leigh Teabing

Insgesamt bedient sich der esoterische Gelehrte und selbsternannte Gralsforscher einer avancierten computergestützten Darstellung, wäh-

122

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

rend die Kameraregie die Ebene des Visuellen, der perfektionierten, digitalisierten Vorführung und die Möglichkeiten der virtuellen Repräsentation sowie Simulation betont. Die medialen Interferenzen und Wechselwirkungen führen dabei eine beachtliche Informationsdichte und Komplexitätssteigerung herbei. Zudem deuten sie einen Zwiespalt und eine Ambivalenz an, die sich auch auf der Figurenebene niederschlägt, zumal sie mit der Charakterisierung des idiosynkratischen Gralsforschers Leigh Teabing offenbar in einem engen Zusammenhang steht. Sir Leigh Teabing erscheint als eigenwilliger, aber sympathischer, britischer Gelehrter, der spitzfindige Raffinesse mit der Eleganz und skurrilen Lebensart eines Gentlemans zu verbinden weiß. In der Figur Teabings macht sich indes eine auffallende Doppelbödigkeit bemerkbar, die durch die Besetzung der Rolle mit dem Schauspieler Ian McKellen bestätigt wird, der als Filmstar sowohl in der Rolle von Shakespares Richard III. als auch in der Gestalt des weisen Zauberers Gandalf in Peter Jacksons Filmtrilogie THE LORD OF THE RINGS überzeugte. Die Sympathielenkung der Kinozuschauer im Blick auf Teabing erweist sich als wechselhaft und gerät erst zum Schluss gänzlich ins Wanken, als er sich schließlich unerwartet als mysteriöser Drahtzieher und Auftraggeber der Morde entpuppt, als jene geheimnisvolle Gestalt des ‚Lehrers‛, dessen Befehle Silas ausführt. Die intermediale Modellierung und der verstärkte Einsatz medialer Interferenzen bringt eine Situation der erhöhten semiotischen Komplexität, ja sogar der Unentscheidbarkeit hervor und stiftet mitunter (gezielte) Verwirrung durch die Überlagerung unterschiedlicher medialer und semiotischer Systeme, die zu einer plötzlich generierten Informationsdichte führt. Jene Neigung des Films, Ambivalenzen zu erzeugen, wird durch die durch die Technik des unzuverlässigen und unentscheidbaren Erzählens verstärkt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Neben Leonardos Gemälden fungieren im Film auch Monumente und Werke der bildenden Kunst – insbesondere Newtons Grabmal – das für die Dreharbeiten im Maßstab 1:1 aufwendig rekonstruiert wurde – als Objekte der kryptologischen Lektürearbeit und Decodierung. Die Spurensuche führt Langdon und Neveu schließlich in die Westminster Abbey zu Newtons Grabstätte und Denkmal, die durch den klassizistischen Dichter Alexander Pope besorgt wurden. Jenes Monument soll Langdon und Neveu als Symbolträger und geheime Referenz für das Codewort des Kryptex dazu verhelfen, das Mysterium des Auftrags und des Gralsmythos zu lösen.

123

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 71 und 72: Der Kryptex

Der Film operiert dabei zunächst mit einer Überblendung verschiedener Zeitebenen, denn Robert Langdon und Sophie Neveu gehen gleichsam unbemerkt durch den Trauerzug der Teilnehmer an Newtons Beerdigung hindurch. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen in einer eigentümlichen Konstellation. Der Höhepunkt des Films, der zugleich die Auflösung des Mordfalls und des verschlungenen Knotens der Handlung mit sich bringt, wird in einem Modus der Ambivalenz präsentiert, der durch die Verschränkung der Dimensionen von Geschichte und Gegenwart symbolträchtig vorbereitet wird. Die Verunsicherung der Rezipienten wird dabei durch die Verwendung spezifischer narrativer Verfahren in der Filmerzählung erhöht, insbesondere durch instabiles, unentscheidbares bzw. unzuverlässiges Erzählen, das seine Anregungen aus den entsprechenden Kapiteln der Romanfiktion bezieht. Dan Browns Roman bringt instabiles und unzuverlässiges Erzählen vor allem bei der entscheidenden Konfrontation zwischen den ehemals befreundeten Kollegen Robert Langdon und Leigh Teabing in der Westminster Abbey51 zum 51 Im Film wurde als Drehort aus logistischen Gründen statt dessen Lincoln Cathedral gewählt. 124

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

Einsatz. Der amerikanische Wissenschaftler versucht verzweifelt das Schlüsselwort zu finden, das den Kryptex öffnen würde, um damit wiederum den fanatischen Teabing überreden zu können, Sophie aus seiner Gewalt frei zu lassen. Er ruft sich zu diesem Zweck die kryptischen Worte der letzten Aufgabenstellung nochmals in Erinnerung: „You seek the orb that ought be on his tomb / It speaks of rosy flesh and seeded womb.“52 Langdons Blick schweift sodann nachdenklich aus dem Fenster und sammelt die Eindrücke der umgebenden, idyllisch wirkenden Landschaft: „Gazing out at the rustling trees of College Garden Langdon sensed her playful presence. The signs were everywhere. Like a taunting silhouette emerging from the fog, the branches of Britain’s oldest appletree burgeoned with five-petalled blossoms, all glistening like Venus. The goddess was in the garden now. She was dancing… as if to remind Langdon that the fruit of knowledge was growing just beyond his reach.”53 Die Beschreibung der Gartenszenerie, die aus der Sicht Langdons wahrgenommen wird, suggeriert dem Leser mit Hilfe der geweckten Assoziationen von weiblicher Fruchtbarkeit und spielerischer erotischer Verführungskunst, Langdon suche noch immer vergeblich nach dem Schlüsselwort für den Kryptex, das augenscheinlich außerhalb der Reichweite seiner Erkenntnisse liegt. An dieser Stelle vollzieht sich im Roman ein aufschlussreicher Perspektivenwechsel zur Sichtweise und den aktuellen Gedanken Leigh Teabings, ein abrupter Wechsel, der an die filmische Technik des Schnitts erinnert. Wenig später bietet Langdon dem britischen Gelehrten an, ihm die Lösung des Rätsels zu verraten. Teabing bleibt allerdings skeptisch, wie sein innerer Monolog den Lesern indiziert: „It took me several seconds, but I can see now that you’re lying. You have no idea where on Newton’s tomb the answer lies.“54 Die Leser werden dazu verleitet, Teabings durch die Umstände berechtigten Verdacht zu teilen und wie jener anzunehmen, Langdon habe lediglich eine Notlüge erfunden und diese benutzt, um Sophie zu retten. Jener Verdacht erhärtet sich umso mehr, als der auktoriale Erzähler bald darauf mitteilt, Langdon bemerke, dass seine Lüge versagt habe: „Langdon knew his lie had failed.“55

52 53 54 55

Dan Brown: The Da Vinci Code. Random House 2003. S. 549. Ebd., S. 549-550. Ebd., S. 553. Ebd., S. 553.

125

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 73: Robert Langdons nachdenklicher und unsicherer Ausdruck

Die folgenden Zeilen evozieren sodann den inneren Konflikt Langdons, der Sophie retten und zugleich das Geheimnis des Grals vor dem endgültigen Verlust bewahren will. In vager Umschreibung deutet der Text eine plötzliche Einsicht des Protagonisten an, deren genauer Inhalt allerdings im Dunkeln bleibt: „The stark moments of disillusionment had brought with them a clarity unlike any he had ever felt…He knew not from where the epiphany came.“ Unklar bleibt an der zitierten Stelle, ob es sich bei der unvermutet gewonnenen Einsicht um eine ethische Entscheidung (etwa Sophie zu retten und den Gral aufzugeben oder umgekehrt) handelt, zu der Langdon sich mit einem Mal durchringt, oder um einen plötzlichen Erkenntnisgewinn anderer Art, vielleicht im Blick auf die gesuchte Lösung des Rätsels. Erst im Nachhinein, nachdem Langdon den Kryptex nach oben zur Decke geworfen hat, um Teabing dazu zu bringen, ihn aufzufangen und den Revolver fallen zu lassen, erfährt der Leser, dass Langdon die Lösung tatsächlich entdeckt hat. Es ist ihm nicht nur gelungen das entscheidende Losungswort zu finden, sondern auch den Kryptex heimlich zu öffnen, ehe er dessen Zerstörung riskiert hat: „Bewildered Teabing looked back at the keystone and saw it. The dials were no longer at random. They spelled a five letter word: APPLE.“ Die sich in den oben zitierten Zeilen artikulierende Verwirrung Teabings dürfte mit einer nicht minder großen Überraschung auf Seiten der meisten Leser koinzidieren, da die selektive bzw. sparsame Informationsvergabe durch die Erzählinstanzen die Rezipienten daran hindert, Langdons erfolgreiches Vorgehen vorher vollends zu durchschauen. Im Film werden eine ähnliche Ambivalenz und Unsicherheit bzw. ein nach126

KONSTELLATIONEN DES ‚DAZWISCHEN‘ IM KINOFILM

träglicher Überraschungseffekt auf Seiten der Zuschauer mit anderen Mitteln erzeugt. Die Kamera zeigt zwar, wie sich Langdon nachdenklich von Sophie und Teabing einige Schritte entfernt und wie er über die mögliche Lösung des Rätsels nachsinnt, spart aber den entscheidenden Moment aus, in dem Langdon den Kryptex heimlich öffnet. Auf diese Aussparung wird der Rezipient des Films nicht vorbereitet, insofern die Kamera ansonsten die wichtigsten Handlungen der Protagonisten Neveu und Langdon durchaus festhält und dem Zuschauer übermittelt. Nur an der entscheidenden Stelle auf dem Höhepunkt des Geschehens erfolgt eine solche signifikante Auslassung. Die Instabilität und Sprunghaftigkeit der Filmerzählung passen indes wiederum sehr gut zu einer zweiten konsequenten ‚Irreführung‛, die dem kriminalistischen Genre entspringt. Leigh Teabing wird gemäß den Konventionen eines Thrillers erst verspätet als Verantwortlicher und Drahtzieher der mysteriösen Mordserie enthüllt, während er zuvor als eine besonders gewinnende Figur mit dem Charme eines merkwürdigen Sonderlings eingeführt wird und als vermeintlicher Helfer der Protagonisten längere Zeit ein eindeutiger Sympathieträger der Zuschauer bleibt.56 Einige Änderungen der Filmadaption gegenüber der Buchvorlage erscheinen systematisch durchdacht und dem Kontext der filmischen Interpretation angepasst. Es ist in gewisser Hinsicht konsequent, dass Robert Langdon und Sophie Neveu im Film – anders als im Roman, in dem eine sich anbahnende intime Beziehung angedeutet wird, nicht als Liebespaar zusammenkommen. Robert Langdon küsst Sophie beim Abschied lediglich auf die Stirn. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass der Mythos der Magdalena-Genealogie im Film weitaus mehr Emphase erhält und Sophie Neveu als Nachfahrin Maria Magdalenas in direkter Linie

56 Die Faszination, die im Film von der Rolle Teabings ausgeht findet ihre Bestätigung nicht zuletzt darin, dass er von einigen Kritikern sogar als die interessanteste Figur und gelungenste Besetzung eingestuft wird: “What works considerably better is the arrival of Sir Ian McKellan as the crippled English Holy Grail scholar Sir Leigh Teabing, who gives us a helpful slideshow ferreting out the secrets of Da Vinci's "Last Supper." McKellan arrives midway through the thriller, by which time it desperately needs his mischievous, over-the-top energy.” David Ansen. A Disappointing ‘Da Vinci Code’. Newsweek. 18. Mai 2006. http://www.msnbc.msn.com/id/ 12853397/site/newsweek/page/2/ Vgl. auch den aufschlussreichen Kommentar von Jeffrey M. Anderson: „Only Ian McKellen strikes the right note of joviality as a religious scholar with a twinkle in his eye,“ Groana Lisa: http://www.combustiblecelluloid. com/2006/davincicode.shtml 127

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

stärker auratisiert wird,57 ein Eindruck, der durch die Filmmusik und die Kameraführung unterstützt wird, insbesondere in der Sequenz nach der Aufklärung des Falls, in der Robert Langdon zur Pyramide am Louvre zurückkehrt und andächtig niederkniet, da er unter ihr das Grab der Maria Magdalena verborgen glaubt. Zum anderen treten die Figurenkonfiguration und die Beziehungsstrukturen tendenziell hinter dem intermedialen Netzwerk der geheimnisvollen Zeichengenese und Zeichenlektüre zurück, das sich im Film als eigentliches Zentrum der Aufmerksamkeit und spannungsgenerierendes Faszinosum erweist. Zweifellos erlaubt das Filmgeschehen auch eine schlichtere inhaltsbezogene Rezeption als Thriller oder ‚Whodunnit‛; allerdings verfehlt eine solche das Spezifische und Besondere des Films, seine medienreflexive Konstruktion und die konstitutive Ebene hermetischer Zeichencodierung im Medienwechsel, die DA VINCI CODE erst seine individuelle Kontur verleiht. Ganz ähnlich verhält es sich mit SHAKESPEARE IN LOVE, dessen Potential unterbelichtet bleibt, wenn man ihn lediglich als Historienfilm bzw. period movie wahrnimmt. Ebenso unzureichend und schematisch bliebe die Etikettierung von Greenaways PROSPEROS BOOKS als Shakespeare-Verfilmung. Auch wenn jene oberflächlichen Gattungszuordnungen und Lesarten auf einer Ebene der genannten Filmbeispiele funktionieren mögen, so greifen sie im Blick auf die jeweiligen besonderen Charakteristika der Filme auffallend zu kurz. Mehr noch: Die filmeigenen Markierungen des Intermedialen und Semiotischen drängen die Beobachter zu subtileren Lektüren und sensibilisieren sie für die Komponente des Medienwechsels und des bedeutungsvollen Wiedereintritts von Medien in Medien.

57 Dieser Umstand wurde nicht zufällig von einigen Kinobesuchern als unpassend und unfreiwillig komisch empfunden. Die Stilisierung Sophie Neveus zur Heiligen grenzt derart ans Lächerliche, dass selbst der vermeintlich blasphemischen Provokation des Films der Wind aus den Segeln genommen wird. In diesem Sinne notiert Verena Lueken in ihrem scharfsinnigen Kommentar zu THE DA VINCI CODE von den Filmfestspielen in Cannes: „Wenn die Vorabempörten das Gelächter hätten ahnen können, das den Kinosaal erfüllte, als gegen Filmende der entscheidende Satz fiel – „Du bist die letzte Nachfahrin Christi“ –, hätten sie geschwiegen.“ Verena Lueken: Fürchtet euch nicht: Der Auftakt von Cannes. FAZ. 16.9.2006. 128

4. Die ,gefilmte‘ Stimme – Gérard Corbiaus FARINELLI – IL CASTRATO (1994) Gérard Corbiaus FARINELLI lässt sich in eine Reihe von neueren Spielfilmen über Musiker, Komponisten und Interpreten einordnen. In diesem Zusammenhang sind vor allem DIE SIEBENTE SAITE (1991)1 und AMADEUS nach dem Drehbuch und gleichnamigen Drama von Peter Shaffer zu nennen sowie Corbiaus zweiter Film über die frühe Musik, LE ROI DANSE, DER KÖNIG TANZT, der zu der Zeit Ludwig XIV. am Hof des Sonnenkönigs spielt. In jene Gruppe reiht sich ferner auch Luciano Viscontis kunstvolle Verfilmung von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig ein, da der Regisseur statt des fiktiven Schriftstellers Gustav Aschenbach als Protagonisten den Komponisten Gustav Mahler einsetzt, was ihm eine interessante neue Modellierung gegenüber der novellistischen Erzählung erlaubt. Es liegt nahe, im Blick auf die erwähnten Musiker-Filme der letzten Jahrzehnte von einem eigenen interessanten SubGenre des Künstlerfilms zu sprechen. Den genannten Filmproduktionen ist gemeinsam, dass sie zwei Darstellungsziele miteinander verbinden: Zum einen geht es darum, die Vita eines außergewöhnlichen Komponisten oder Virtuosen zu thematisieren, zum anderen rückt die Musik als künstlerisches Ausdrucksmedium und Wahrnehmungsmedium eigener Art ins Zentrum des Interesses. In Corbiaus Farinelli-Film verhält es sich ganz ähnlich, da der Regisseur sowohl die biografische Problematik des Kastratensängers psychologisierend entfaltet, als auch die besonderen Modalitäten der Barockoper und die Bedeutung des Musikalischen in der Kultur der frühen Neuzeit reflektiert. Die medialen Gesichtspunkte werden innerhalb eines vielschichtigen Beziehungsgeflechts aus persönlichen Interessen, historischen Rahmen- und Aufführungsmodalitäten sowie wirkungsästhetischen Aspekten verortet.

1

Originaltitel: TOUS LES MATINS DU MONDE. Regie: Alain Corneau. 129

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

4.1 Das Farinelli-Projekt „Music enables me to exploit cinematographically, virgin territory; it makes music live. I find it interesting to make music the dramatic source of my film, to look at it as one of the lead characters. As for filmed opera, why not? However, opera is composed to be acted and sung on a set and the internal rhythm of opera is totally incompatible with that of film. I like films which ‚speak‘ like music.“2 (Gérard Corbiau) Gérard Corbiau verspricht in dem oben zitierten Interview-Beitrag, mit seinem Farinellifilm (1994) 3 Neuland zu betreten, denn Musik im Film – nicht etwa als bloßer Hintergrund oder atmosphärische Grundierung konzipiert, sondern als eigentliches sujet der Handlung – sei für einen Regisseur noch weitgehend terra incognita.4 Die außergewöhnliche Stimme des berühmten Kastratensängers avanciert bei Corbiau gleichsam zum eigentlichen ,Hauptdarsteller‘ des Films und zum Zentrum der Aufmerksamkeit, das von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Um ein solches Projekt zu realisieren, nimmt der Regisseur eine Reihe von Paradoxien und Schwierigkeiten in Kauf. Nicht nur versucht er, mit der legendären Farinelli-Stimme einen Mythos zum Leben zu erwecken bzw. zu re-inszenieren, auch die Profilierung der musikalischen Stimme des Sängers im Film scheint als solche ein prekäres Unterfangen, handelt es sich dabei doch um ein zwar keineswegs abstraktes, unsinnliches, aber nichtsdetoweniger unsichtbares Moment, das in einem hochgradig visuell orientierten Medium wie dem Film in den Mittelpunkt rücken soll.

2 3

4

http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html (1.3.2010) Als Dirigent des Farinelli-Soundtrack wirkte Christophe Rousset. Vor Farinelli hat sich bereits der Amadeus-Film nach dem Drehbuch von Peter Shaffer, der Herausforderung gestellt, das Porträt eines berühmten Musikers in Gestalt von Wolfgang Amadeus Mozart zu entwerfen. Auch hier war die Darstellung der überragenden musikalischen Leistung des Komponisten bzw. der Mythos „Mozart“ integraler Bestandteil der filmischen Gesamtkonzeption. Anders als bei Farinelli konnte der Regisseur im Blick auf Mozart beim Publikum indes bereits auf einen bestimmten Erwartungshorizont und ein spezifisches Vorwissen zurückgreifen, da die Einzigartigkeit des musikalischen Genies gewissermaßen Gemeingut der europäischen Kulturtradition ist. 130

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Es stellt sich somit von Anfang an die Frage, wie mit kinoästhetischen Mitteln die opernhafte Gesangskunst angemessen zur Geltung gebracht werden kann. Hinzu kommen weitere Probleme, die sich daraus ergeben, dass wir es im Falle der Farinelli-Stimme mit einem Gegenstand zu tun haben, der infolge seiner Auratisierung eher dem Bereich des Imaginären, Irrealen und Übernatürlichen angehört als der historischen Wirklichkeit. Aus heutiger Sicht bildet jene Stimme auch insofern beinah ein reines Phantasiegebilde, das nur noch der Imagination zugänglich ist, als solche Kastratenstimmen in der empirischen Realität der Gegenwart nicht (mehr) existieren. Es gibt also keine genauen natürlichen Vergleichsgrößen, an denen die Filmstimme zu messen wäre. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass Farinellis Gesang, zu Lebzeiten des Sängers schon ein Mythos, die Aura einer exzeptionellen und fast übermenschlichen musikalischen Erfahrung anhaftet, die die vertrauten Dimensionen der sinnlichen Wahrnehmung sprengt. Carlo Broschi, genannt Farinelli (1705-1782), galt bekanntlich als der berühmteste Opernsänger seiner Zeit, der Epoche des beginnenden 18. Jahrhunderts, die musikgeschichtlich noch dem Zeitalter des Barock zugeordnet wird, und verfügte über einen außergewöhnlichen, mehr als drei Oktaven umfassenden Stimmumfang. Es geht im Corbiauschen FarinelliProjekt also um die Erzeugung einer Solostimme, die keine Vorbilder in der vertrauten empirischen Wirklichkeit kennt,5 die zunächst nur in der Phantasie des Regisseurs existiert und deren ungefähre Wirkung auf die Zuhörer allenfalls aus historischen Dokumenten aus dem 18. Jahrhundert, Berichten von Zeitgenossen Farinellis und seiner Sängerkollegen, vorsichtig eruiert werden kann.6 Gleichzeitig aber soll die zu rekonstruie5

6

Wie die am Farinelli-Projekt beteiligten musikalischen Spezialisten bemerken, besteht das Hauptproblem darin, daß es – sieht man von einer unbefriedigenden Aufnahme aus den Jahre 1902-1904 einmal ab – praktisch keine Aufzeichnungen gibt, die als Muster für die angestrebte Zielstimme dienen könnten: „Lorsqu’on réalise un film sur un castrat, la principale difficulté est le manque de références enregistrées. Le dernier en occident, Alessandro Moreschi, a enregistré moins d’une heure de voix chantée sur des cylindres de cire entre 1902 et 1904. La mauvaise qualité technique de cet enregistrement historique ne nous permet pas d’en extraire de données acoustiques mais seulement d’apprécier l'esthétique globale du chant.“ (http://www.ircam.fr/index-e.html) 1.3.2003 Vgl. die minutiöse Darstellung des schwierigen Annäherungsprozesses an die Farinellistimme von IRCAM: „Pour mieux approcher cette voix disparue et définir ce qui la distingue, il a fallu tenir compte des caractéristiques physiques du système de production vocale du castrat, de l’esthétique globale de l’enregistrement historique dont nous disposons et des descriptions 131

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

rende Stimme im Zuhörer den Eindruck der historischen Authentizität erwecken und darüber hinaus eine fast körperliche Präsenz bzw. unmittelbar erfahrbare sinnliche Konkretheit erreichen. Es versteht sich aus dem bisher Gesagten beinah von selbst, dass Farinellis Gesang in einem Film über seine ungewöhnliche Sängerkarriere keine bloße Schattenexistenz führen darf. Die (Re)Konstruktion dieser Stimme stellt daher die Musikexperten sowie die computerunterstützten und digitalen Tontechniken, für deren Nutzung sich der Regisseur entschieden hat, auf eine Bewährungsprobe. Ferner erfordert die skizzierte Konstellation die angemessene Integration des verwendeten technischen Aufwands in das Medium des Films. Das Gelingen des Unternehmens beruht nicht allein auf der Produktion und Synthese akustischer Zeichen auf hohem musikalischen Niveau, sondern auch auf einer erfolgreichen Einbettung derselben in ein ihnen von Haus aus eher fremdes Medium, in eine Filmnarration, deren Darstellungsmittel von den historischen Operndarbietungen im 18. Jahrhundert weit entfernt sind. Gilt es doch nicht nur, für Farinelli die passende Vokalmusik zu kreieren, vielmehr ist es keine geringere Aufgabe, sie in überzeugender Weise in ein neues Medium zu integrieren, das nicht primär musikalisch orientiert ist und in dem die Klänge der alten Musik eher selten zu hören sind.7 Corbiau lässt sich mit seinem Farinelli-Projekt so gesehen auf ein gewagtes intermediales Experiment ein, dessen Komplexität dadurch erhöht wird, dass er im Film nicht allein die Stimme als solche zu präsentieren beabsichtigt, sondern sie zudem im komplexen theatralischen Ambiente der Barockoper mit ihren besonderen wirkungsästhetischen und soziologischen Strukturen in Szene setzt, also in einem anderen, dem Film im Grunde fremden theatralischen Medium verortet. Wie das Eingangszitat von Corbiau verdeutlicht, ist sich der Regisseur der Tatsache bewusst, dass die Opernaufführung völlig anderen Darstellungsprinzipien zu folgen hat als das kinematographische Medium und eine unmittelbare Transposition von Opernszenen in den Film kaum möglich ist. Nicht von ungefährt erinnert der Regisseur an die bleibende Inkongruenz der unterschiedlichen Medien, Film und Oper, gesteht er doch, dass ihre internen Rhythmen und Zeitdimensionen im Prinzip inkompatibel seien. Diese Konstellation bringt eine komplexere Form der Intermedialität, eine Intermedialität mit einer doppelten Orientierung (am

7

du chant que l’on peut trouver dans les littératures spécifiques. Parallèlement, les décisions artistiques ont été prises par le réalisateur et les conseillers musicaux du film.“ (http://www.ircam.fr/index-e.html) Ausnahmen bilden der bereits erwähnte Amadeus-Film nach dem Drehbuch von Peter Shaffer, DIE SIEBENTE SAITE, sowie die neuere Filmproduktion von G. Corbiau: LE ROI DANSE [DER KÖNIG TANZT] 2000. 132

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Gesang und an der theatralische Aufführung) mit sich, die dem Zuschauer, will er alle Facetten der filmischen Präsentation angemessen erfassen, eine besondere Beobachtungssubtilität zumutet. Ein weiteres Paradoxon des Farinelli-Projekts besteht darin, dass die mit den Mitteln modernster Computertechnik erzeugte, aus dem Gesang zweier verschiedener Solisten künstlich verschmolzene Stimme den Eindruck natürlicher Perfektion und Eleganz erwecken soll. Eine ähnliche Ambivalenz betrifft das Auftreten der männlichen Hauptfigur auf der Opernbühne im Film, denn Farinelli selbst bewegt sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen einer betonten Künstlichkeit, der hochgradig artifiziellen Welt barocker Opernaufführungen, und der Suggestion von Natürlichkeit und virtuoser Leichtigkeit, wie sie den primo uomo der Barockoper auszeichnen soll. Trotz der erwähnten historischen Verortung des Geschehens im frühen 18. Jahrhundert setzt Corbiau in seiner Interpretation der Hauptfigur empfindsame und romantische Akzente, die eigentlich in einem anderen historischen Epochenkontext, nämlich dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, verankert sind. Entscheidend für Corbiaus Sicht des Barocksängers ist nicht in erster Linie das Streben nach einer größtmöglichen Perfektionierung der musikalischen Darbietung im Dienste einer Virtuosität, die von artistischen und rhetorischen Mitteln ausgiebig Gebrauch macht, wie es die Musikästhetiken der Barockzeit lehren. Stattdessen hebt der Regisseur in seiner Interpretation die Dimensionen der emotionalen Intensität und der besonderen Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme hervor. Wie sich erkennen lässt, figuriert die Vokalmusik in ihrer idealen Ausprägung für Corbiau in erster Linie als ein von Artifizialität unverstellter, natürlicher bzw. authentischer Ausdruck der Gefühle, wenn nicht gar als überzeitliches Symbol der menschlichen Psyche überhaupt. Gerade im Blick auf die im Film entfaltete, dominante musikästhetische Position führt Corbiau, sei es bewusst oder unbewusst, ein anachronistisches Moment ein, das auch die in das Filmgeschehen eingebetten, musikologischen Dialoge zwischen Händel (Jeroen Krabbe) und Farinelli (Stefano Dionisi) kennzeichnet. Auf letztere wird noch ausführlicher zurückzukommen sein. Erhält der Film einerseits eine allgemeine anthropologische Dimension, indem er das komplexe Psychogramm des Sängers zu skizzieren versucht, so umfasst er andererseits Momente von Alterität und Fremdartigkeit, die dem spezifischen, barocken Epochenkontext angehören und einem modernen Publikum kaum mehr unmittelbar zugänglich sind. Schon die Wahl des Kastratensängers als Mittelpunktsfigur eines Kinofilms ist nicht ohne weiteres einleuchtend bzw. naheliegend. Die Option für eine 133

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

derart ungewöhnliches sujet scheint auf den ersten Blick kaum auf eine Breitenwirkung hin angelegt. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob Corbiau mit FARINELLI vielleicht eine bewusste Alternative zum Main stream-Kino sucht.8 Allerdings verzichtet der Regisseur weder auf die im Genre des Kinofilms gleichsam obligatorische romantische Liebesbeziehung, noch fehlt es an einer spannungsreichen Handlungsstruktur.9 Das Sexualleben der Kastraten, die entgegen eines geläufigen Vorurteils keineswegs impotent waren, findet im Film anschauliche Umsetzungen, was von Musikhistorikern teilweise mit Skepsis aufgenommen und als „historischer Voyeurismus“10 bezeichnet wurde. Neben den amourösen Abenteuern, die der Held zusammen mit seinem Bruder Riccardo erlebt, erhält vor allem sein intimes Verhältnis zu der Sängerin Alexandra (Elsa Zylberstein) eine besondere Bedeutung, da dieses nicht auf die erotische und sexuelle Ebene beschränkt bleibt. Die Dynamik der Handlung wird zudem durch die latent konfliktreiche Beziehung der Broschi-Brüder erzeugt und, mehr noch, durch das Spannungsverhältnis zwischen Händel und Farinelli bedingt, das von Bewunderung und Konkurrenzgefühlen geprägt ist und sich in London zur offenen Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten steigert. Trotz des entlegenen Themas erweist sich der Farinelli-Film als durchaus spannungsreich und publikumswirksam, was sich nicht zuletzt auch an der Oscar-Nominierung des männlichen Hauptdarstellers Stefano Dionisi zeigt. Corbiaus Film versucht beides, die aus heutiger Sicht fremdartige Welt der Barock-Oper in einem faszinierenden Panorama aus bunten Bildern ins Leben zu rufen und zugleich die menschliche Stimme als verborgenen Mittelpunkt, um den sich das wechselhafte Filmgeschehen dreht, zu etablieren. Die Opernbühne des 18. Jahrhunderts und der Gesang bilden also die beiden Referenz-Medien, die der Film fokussiert und sich dabei auf subtile Weise zueigen zu machen bestrebt ist. In einem Interview hat Corbiau die zentrale Rolle der Musik und der Stimme des Sängers hervorgehoben, von der eine geheimnisvolle Faszination auf die Zuhörer ausgehen soll. Mehr noch: Farinellis Filmstimme soll die Erwartungen des Publikums übertreffen und sich im Klang von 8

Filmbilder aus: http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/farinelli .html und http://www.imdb.com/title/tt0109771/ 9 Sämtliche im Text dieses Kapitels abgedruckten Filmbilder und - aus schnitte sind der offiziellen Website ent nommen (31.März 2010): http:// www.sonypictures.com/classics/farinelli/multimedia/fphotos.html 10 Reinhard Strohm: Wer ist Farinelli? In: CD-Beiheft zu: Arias for Farinelli. Harmonia mundi France 2000. S. 38-44, hier S. 38. 134

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

allen bisherigen musikalischen Erlebnissen der Rezipienten unterscheiden: „I couldn’t make a film about a castrato without music being a major part of the film and it was necessary to make the voice of Farinelli fascinating, mysterious, moving and powerful, like nothing one has ever heard before.“11 Sicher bildet die Produktion einer Stimme, die derart hochgesteckte Erwartungen zu erfüllen vermag, die größte Schwierigkeit von Corbiaus Farinelli-Projekt. Doch kommt der überzeugenden Darstellung des soziologischen Kontexts und des theatralischen Ambientes, in dem sich Farinellis Opernkarriere abspielt, im Film ebenfalls keine geringe Bedeutung zu.

4.2 Farinelli im Spannungsfeld zwischen barocker Thetralik und modernem Psychogramm des Sängers So gilt es zunächst, den Raum der Barock-Oper mit seinen illusionistischen Kulissen, seinem abwechslungsreichem architektonischen Design, den weiten Zuschauergalerien und dem aristokratischen Publikum in aufwendigen historischen Kostümen im Film zu rekonstruieren. Dabei sieht sich der Regisseur mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert. Geht es doch darum, die barocke Opernbühne einerseits als historischen Schauplatz zu markieren und sie dem modernen Kinopublikum zu entrücken, sie andererseits als wichtigstes Szenario, auf dem sich die psychischen Konflikte des Helden in seinem Ringen um den adäquaten Gefühlsausdruck und um gesangliche Expressivität abspielen, den Zuschauern nahezubringen und Empathie zu wecken. So fällt der Blick des Rezipienten bei einer Betrachtung von Corbiaus Farinelli zunächst auf die minutiöse historische Rekonstruktion der damaligen Opernbühne mit ihrer subtilen Maschinerie aus Dreh- und Schiebekulissen, beweglichem Inventar, Flug- und Wellenmaschinen sowie diversen Zuschauerräumen. Durch jene komplizierte Theatermaschinerie verwandelt sich die barocke Opernbühne in einen quasimagischen Raum, der mit trompe l’oeil-Effekten verschiedenster Art operiert und sich außerdem zentralperspektivische Raumillusionen zunutze macht, wie sie in der Malerei der Renaissance entwickelt und perfektioniert worden waren. Die ‚Zauberwerkstatt‘ der frühneuzeitlichen Opernbühne bedurfte zudem einer beträchtlichen Menge Personals, denn sie wurde, wie Boris Kehrmann gezeigt hat, während der Aufführungen

11 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 135

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

von nicht weniger als 500 Bediensteten bewegt und von bis zu 8000 Kerzen beleuchtet.12 Die Rekonstruktion jenes raffinierten Ambientes der barocken Theaterwelt im Film geht indes über ein rein historisches Interesse ebenso hinaus wie über die Lust am pittoresken, dekorativen Detail.13 So wehrt sich der Regisseur in einem Interview ausdrücklich gegen das Konzept des ‚Historienfilms‘, der es sich zum Ziel setze, ein detailgetreues Gemälde der Vergangenheit zu liefern und sich am Maßstab der Authentizität und Gschichtstreue messen lassen will: „Making a mere historical ,fresco‘; has never interested me, I am not a historian and I believe, very strongly, that this is not the purpose of film. The past only interests me when it encourages a reflection on the present.“14 Wie ersichtlich, geht es Corbiaus filmischer Darstellung weder um Faktentreue15 noch um einen historisierenden Detailrealismus als solchen, wie er für das Genre opulenter Historienfilme typisch ist. Sein Regiekonzept besteht vielmehr darin, die seelische Entwicklung und die inneren Konflikte des Sängers Farinelli, die dessen Karriere als international anerkannter und bewunderter ‚Opernstar‘ begleiten, in prägnante Raumsymbole und visuelle Metaphern zu übersetzen.16 12 Vgl. dazu den erhellenden Artikel von Boris Kehrmann: Und sie bewegt sich doch! Wie man die Barockoper mit 500 Bedienten bewegte und mit 8000 Kerzen beleuchtete. In: Opernwelt. März 1997. S. 35-39. 13 Noch ein weiterer Grund spricht nach Corbiau gegen eine zu große Gewichtung opulenter Ausstattung und prächtiger Kostüme, da letztere ein zu harmonisches Bild des 18. Jahrhunderts suggerierten und die tatsächliche Gewalt und Grausamkeit der Epoche verdrängten bzw. verharmlosten: „I did not wish to show the 18th Century as one of nothing but lace and elaborate dresses. The 18th Century was a hard, uncouth, coarse and, I believe, very violent period.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli /about /finterview.html) 14 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 15 Vgl. dazu auch Corbiaus eigene Aussage: „All artistic projects require a certain amount of creative license; one has to be free to recreate, invent, and be subjective about the story one is dealing with. I think one should make use of the historical facts, without remaining completely faithful to them, except when they are crucial to understanding a characters personality.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 16 Corbiau berichtet von seinen Bemühungen, dem Set und den Kostümen eine solche symbolische Dimension zu verleihen, um die Psychologie der Charaktere zu verstärken bzw. zu untermalen: „Then I worked on the set design, scene by scene, making sure it would become an integral part of the story, enhancing the script, reinforcing the work of the actors and increasing the intensity of emotion. I was lucky enough to work with Gianni 136

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Der Zuschauer wird auf diese Weise Augenzeuge eines langwierigen Prozesses, einer psychologischen Durchleuchtung, innerhalb deren das Reversbild der glänzenden Opernkarriere des Kastraten nach und nach sichtbar wird. Im Kern von Corbiaus filmischem Farinelli-Porträt liegt nicht zuletzt die Absicht, die dunkle Seite der bewunderten musikalischen Perfektion17 des Sängers zutage zu fördern und die verborgenen Beschädigungen seiner Psyche aufzudecken. Nahezu auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angelangt, wird sich Farinelli seiner prekären psychischen Situation bewußt, die sich immer wieder in Schüben von Depression und physischer Krankheit äußert. Den eigentlichen Auslöser und tieferen Grund der seelischen Krise des Sängers bildet ein Kindheitstrauma in der ursprünglichen etymologischen Bedeutung des Wortes trauma, das im Griechischen „Wunde“ denotiert. Die Erinnerungen und Fieberträume des Sängers umkreisen immer wieder den Akt der Kastration, ohne ihn präzise fixieren zu können. Insofern die genauen Umstände des Ereignisses ihm unbekannt sind, handelt es sich für ihn um ein in seiner Unbestimmtheit bedrohliches Moment, das sich seiner Kontrolle sowie der Möglichkeit einer psychischen Bearbeitung entzieht und ihn alptraumartig heimsucht. Insofern erfüllt die Corbiausche Interpretation der Kastration exakt die klassische psychoanalytische Definition des Traumas, wie Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis sie in ihrem einschlägigen psychoanalytischen Lexikon18 entwickeln. Handelt es sich doch um ein Ereignis im Leben des Subjekts, das gleichermaßen durch seine besondere „Intensität“ wie durch die „Unfähigkeit des Subjekts, darauf adäquat zu antworten“ bestimmt ist.19 Ferner geht es bei der Kastration, wie die filmische Interpretation sie vorstellt, um einen Eingriff, der eine ErschütteQuaranta, who has designed a number of sets for theatre and opera. He created sets which perfectly complimented the interior lives of the characters. The same applies to the costumes. Everyone was working towards creating an image of the 18th Century which didn’t necessarily conform completely to historical truth, but which was appropriate to help convey what the different characters were feeling.“ (http://www.sonypictures.com/classics /farinelli/about/finterview.html) 17 Vgl. dazu auch Corbiaus Selbstaussage: „I have a horror of a camera which only reflects excellence. Farinelli, at the beginning of his career thought of little other than excellence, [...] Farinelli was both strong and fragile. He was a man constantly in search of his lost dignity.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 18 Vgl. den Eintrag „Trauma.“ In: J. Laplanche und J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp 1972. S. 513-518. 19 Ebd., S. 513. 137

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

rung mit dauerhaft pathogenen Wirkungen in der psychischen Organisation des Ich hervorruft. Das unbewältigte infantile Ereignis führt nach Laplanche und Pontalis – wie auch im Farinelli-Film – überdies zu einer dauernden Reizüberflutung, welche die Toleranz des Subjekts und seine Fähigkeit übersteigen, jene Reize zu kontrollieren und mit ihnen fertigzuwerden.20 Es ist entscheidend zu sehen, dass Corbiaus Perspektivierung des Geschehens keine selbstverständliche oder notwendige ist. Zwar liegen die psychischen Wirkungen der Kastration aufgrund ihres Verbots im 20. und 21. Jahrhunderts außerhalb des heutigen empirischen menschlichen Erfahrungsbereichs, aber aus zeitgenössischen Quellen ist bekannt, dass die talentierten Kastratensänger an den europäischen Höfen nicht allein zu großem materiellen Wohlstand gelangten, sondern auch ein durchaus selbstbewusstes Auftreten hatten. In Margriet de Moors Roman Der Virtuose zeigt die männliche Hauptfigur, ebenfalls ein italienischer Kastratensänger, keinerlei Anzeichen von seelischer Bedrückung oder sonstige Krankheitssymptome.21 Demgegenüber akzentuiert Corbiau den tragischen Bedingungszusammenhang von stimmlichem Ausnahmetalent und psychischer Beschädigung, die durch die ungewöhnliche musikalische Erfolgsgeschichte Farinellis nur oberflächlich kaschiert ist. Wiederholt versucht Corbiaus Farinelli, seine psychischen Krisen durch die Erinnerung an das vergangene Geschehen zu bewältigen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei Farinellis Beziehung zu seinem älteren Bruder, der seine Kastration durchgeführt hat, diese Tatsache aber vor Farinelli verborgen hält und statt dessen als Ursache der körperlichen Verstümmelung einen Unfall vorgegeben hat: Farinelli glaubt, als Kind vom Pferd gestürzt zu sein. Der imaginäre Sturz vom Pferd verfolgt Farinelli in seinen Träumen und ‚wiederholt‘ sich signifikanterweise bei einem Auftritt auf der Opernbühne, bei dem Farinelli – in Einklang mit dem extravaganten Geschmack der Zeit – auf einem lebendigen Pferd auf die Bühne reitet. Der mißlungene Auftakt, der zum Abbruch der Vorstellung führt, ist indes nur der äußere Anlass eines tieferliegenden psychischen Konflikts. Farinelli steht vor der schwierigen Aufgabe, die vor ihm geheimgehaltene Wahrheit, den tatsächlichen Ablauf seiner Kastration, an die Oberfläche zu bringen und in einem langwierigen Prozess der Selbstfindung das Trauma der Kastration zu verstehen und schließlich partiell zu überwinden. Es wird aus dem bisher Gesagten bereits deutlich, inwiefern Farinelli sich in einer komplexen, durch die im Film gewählte Perspektive und

20 Vgl. ebd., S. 513. 21 Vgl. Margriet de Moor: Der Virtuose. München 1997. 138

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Interpretation subtil nuancierten Seelenlage befindet. Denn das psychische Grundproblem des Sängers besteht offenbar nicht allein in der körperlichen Verletzung als solcher, sondern darüber hinaus auch in der Verhüllung des Ereignisses vor dem leidenden Subjekt, das daher gezwungen ist, ein fantastisches, fingiertes Geschehen, den Sturz vom Pferd, zu erinnern. Insofern der eigentliche traumatische Auslöser durch eine andere, fiktive ‚Erinnerung‘ überlagert ist, laufen die wiederholten Erinnerungs- und Bearbeitungsversuche des Subjekts notwendig ins Leere. In den Traumbildern Farinellis spielt sich bezeichnenderweise immer wieder die gleiche Handlungssequenz ab, das Subjekt wiederholt alptraumartig den Vorgang des Reitens, ohne fallen zu können; der phantasmatische Sturz vom Pferd bleibt selbst in den Bildern des Imaginären ungreifbar, weil ihm ein spezifisches Korrelat in der Erinnerung fehlt. Solange der Sänger die wahre Ursache seiner psychischen Krise und den genauen Hergang des Geschehens nicht kennt, ist ihm die Möglichkeit einer befreienden Durcharbeitung des traumatischen Moments entzogen. Der Film hält in seiner Umsetzung der psychoanalytischen Deutung nun einen entscheidenden Punkt geschickt in der Schwebe, die Frage nämlich, ob es sich bei der Kastration an sich um eine unüberwindbare Schockerfahrung handelt, die im Leben des Erwachsenen, psychologisch gesehen, nie vollständig überwunden werden kann und Glückserfahrungen verstellt, oder ob die Tatsache der Geheimhaltung des Ereignissses durch den Bruder der Grund dafür ist, dass es Farinelli vorerst verwehrt ist, durch den Prozess analytischer Arbeit22 aus der zirkulären Struktur seines Traumas herauszufinden. Immerhin deutet sich ein vorsichtiger Lösungsversuch an, insofern die Gesangskunst selbst im Film ein Medium der Krisenbewältigung zu eröffnen scheint. Die entscheidenden Wandlungen in der Selbsterfahrung des Protagonisten werden darüber hinaus von maßgeblichen Veränderungen in seiner Einstellung gegenüber der Musik begleitet. Dabei wird besonders deutlich, dass die im Film gezeigten thetralischen Kostüme des Helden eine andere als nur dekorative Funktion erfüllen, indem sie sich den veränderten musikalischen Intentionen und den verschiedenen Stimmungen der Hauptfigur anpassen.23 Zunächst trägt Farinelli bei seinen Auftritten in der Oper

22 Vgl. auch den Eintrag „Durcharbeitung.“ In: J. Laplanche und J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt 1972. S. 123-125. 23 Diese Beobachtung stimmt mit den Intentionen des Regisseurs durchaus überein, der sich zur Auswahl der Kostüme wie folgt geäußert hat:„The costumes which Anne de Laugardiere and Olga designed were made from material which existed at the time, however the designers, like everyone else, were working towards the common goal of being true to the psychol139

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

opulente Kostüme, die überladen und disfunktional wirken, wie z. B. einen Helm mit einem riesigen Kopfschmuck aus Federn, der sein Gesicht, das ohnehin unter einer Schicht weißer Theaterschminke maskenhaft erscheint, partiell verdeckt. Es handelt sich überwiegend um Kleidung und Requisiten in barocker Manier, die zwar durchaus zeittypisch wirken, in ihrer besonderen Zusammenstellung und übertriebenen Anhäufung aber das Gekünstelte derart betonen, dass es an Lächerlichkeit grenzt.

Abb. 74: Darstellung des barocken Opernkostüms Farinellis Außerdem wird deutlich, dass das Theaterkostüm die Bewegungsfreiheit des Sängers sehr stark einschränkt und sein Auftreten hochgradig artifiziell erscheinen lässt. Die Schwere der Kostüme bildet einen interessanten Kontrast zu der Leichtigkeit von Farinellis Gesang, der sich offenbar mühelos immer wieder zu ungeahnten Höhenflügen in die hohe Sopranlage aufschwingt. Allerdings wird das barocke Bildinventar, der Blick auf die Opernkulissen im Film, durchaus ökonomisch eingesetzt. Im Gegensatz zu Greenaways Filmen begegnen wir bei Corbiau einer erstaunlichen Ökonomie der Bilder, die auf den zweiten Blick – ungeachtet der aufwendigen barocken Opernwelt mit ihren raffinierten Kulissen und prachtvollem Dekor – sichtbar wird. Wenn Farinelli in einer Szene in einem kunstvollen, von zwei geflügelten Fabel-Tieren gezogenen Wagen von der Decke schwebt, so erinnert dies an die mythologische Figur des Phaeton, der in der griechischen Sage in den Sonnenwagen seines göttlichen Vaters Heogy of the characters and making the scene work.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 140

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

lios steigt. Der Aufgabe, diesen Wagen am Himmelsgewölbe zu lenken, nicht gewachsen, gerät der Sohn von der üblichen Bahn ab und stürzt in die Tiefe.

Abb. 75: Die Kulissen und Requisiten der Barockoper

Berücksichtigt man die erwähnte mythologische Anspielung, so wird deutlich, dass die beschriebene Opernszene im Film auf eine spätere verweist, insofern sie nämlich Farinellis spektakulären Sturz vom Pferd in der Dresdner Oper antizipiert, welcher wiederum mit dem unbewältigten Trauma der Kastration aufs engste zusammenhängt. Noch das kleinste Detail wie z.B. Händels Spazierstock erhält eine zeichenhafte, metaphorische Dimension, da jener als phallisches Symbol und sonderbares Zeichen übertriebener Virilität mit dessen abschätziger Behandlung der Kastraten genau in Einklang steht. Männliches Imponiergehabe spiegelt sich auch in den diversen Schimpfworten und Flüchen wider, die zum geläufigen Sprachgebrauch des Maestros gehören. Der in FARINELLI durchgängig zu beobachtende funktionale Aspekt der Bilder und der ökonomische Umgang mit den verwendeten theatralischen Kulissen und Requisiten, die als sinnlich-konkrete Zeichen für die innere Entwicklung der Figuren dienen, ist im visuell orientierten Medium des Films umso wichtiger, als sie die Wahrnehmung der Musik nicht stören bzw. verstellen dürfen. Denn die Konzeption von Corbiaus Film erfordert eine ungewöhnliche Konzentration auf die auditive Dimension, die seltene Stimme, die sozusagen die Individualität der Hauptfigur selbst verkörpert und daher den Zuschauer ganz in ihren Bann ziehen muss und ihn letztlich von dem barocken Bilderreigen zu abstrahieren nötigt. Dieser Sachverhalt lässt die Bedeutung der Filmstimme Farinellis nochmals prägnant hervortreten. Denn er setzt zugleich voraus, dass die Stimme des Sängers im Film so gewählt bzw. gestaltet sein muss, dass sie befähigt ist, den Rezipienten zu bewegen und in ihm Erstaunen hervorzurufen. Ohne dass von der Stimmqualität als solcher eine gewisse 141

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Aura des Einzigartigen ausginge, ließe sich das zugrunde liegende Konzept des Regisseurs wohl kaum erfolgreich umsetzen. Der Bezug zum Medium der Oper bewirkt zugleich eine Betonung der theatralischen Momente und des Performativen, deren Funktion sich jedoch im Verlauf des Films merklich verändert. Während die Wahl der Kostüme und Kulissen zunächst die Künstlichkeit der Barockbühne in den Vordergrund rücken und diese auf die Spitze treiben, dienen jene später dazu, das differenzierte Psychogramm von Farinellis wechselnden Gemütszuständen seismographisch zu enthüllen. In einer der frühen Aufführungen, die im Film gezeigt werden, schwebt Farinelli von Drahtseilen gehalten von der Decke auf die Bühne. Diese mit symbolischen Konnotationen befrachtete Szene lässt den Sänger als eine Art Marionette erscheinen, die fremdbestimmt von den unsichtbaren Fäden des Operndirektors und der Publikumserwartugen gelenkt wird. Die Metapher des Virtuosen als Puppe veranschaulicht jene konkret vorhandenen Erwartungshaltungen sowie unbewussten psychologischen Zwänge, denen der junge Protagonist sich nicht entziehen kann. Zudem verweist das puppen- und maskenhafte Erscheinungsbild Farinellis zu Beginn insbesondere auf die Kontrolle seines Bruders Riccardo Broschi (Enrico Lo Verso), der die dreifache Rolle des Komponisten, Dirigenten und Managers des Opernstars einnimmt.

Abb. 76: Riccardo Broschi als Operndirigent

Bei der Aufführung von Händels Rinaldo verlagern sich die artifiziellen Momente der barocken Aufführungstradition von dem Kostüm des Sängers, das im Vergleich zu den vorhergehenden Szenen nun einen etwas schlichteren und natürlicheren Eindruck erweckt, stärker auf die Kulissen und die Bühnenaustattung. Die Persönlichkeit des Sängers wird nun nicht mehr von barocken Requisiten verstellt und ausladenden Gewändern er142

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

drückt; statt dessen strahlt lediglich die theatralische Umgebung noch die Aura des Artifiziellen und Fiktiven aus. Während Farinelli die berühmte lyrische Arie „Cara sposa“ aus Händels Oper Rinaldo singt, bewegt er sich in einer aufwendig gestalteten Gartenszenerie mit exotischen Vögeln; bei einer späteren Arie („Lascia qu’io pianga mia cruda sorte“) öffnet im Hintergrund der Bühne ein künstlicher Pfau seine Schwanzfedern eindrucksvoll zu einem Rad.

Abb. 77 und 78: Die Londoner Rinaldo-Inszenierung

Wenn der Film die verschwenderische barocke Bühnenausstattung oder die Opernkostüme in ihrem Hang zu dekorativer Überladenheit fokussiert, so rückt er dabei zugleich das illusionistische Medium des Barock143

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

theaters kritisch in den Blick. Die analytisch zersetzende Perspektive der Kamera entlarvt die illusionserzeugende Kulissenwelt der damaligen Aufführungspraxis und lässt den Kino-Zuschauer darüber fast vergessen, dass die moderne Kinoästhetik über nicht weniger wirksame Verzauberungsstrategien und Illusionierungsmöglichkeiten verfügt. Der Blick der Kamera und die barocke Inszenierungskunst befinden sich tendenziell in einem Konkurrenzverhältnis der Medien, das in der intermedialen Konstellation selbst impliziert ist. Der Film ist indes – das versteht sich aufgrund der prinzipiellen Differenzen zwischen den beiden Medien fast von selbst – etwas völlig Anderes als gefilmtes Theater bzw. gefilmte Oper. Da die Aufführung einer opera seria insgesamt mehr als drei Stunden in Anspruch nehmen würde, muss der Film in der Auswahl der Musikpartien hochgradig selektiv vorgehen und kann immer nur einige Ausschnitte präsentieren. Bei der Auswahl der Musikstücke für den Film wurden, insbesondere, was die Londoner Aufführung von Händels Rinaldo betrifft, offenbar lyrische Partien („Cara sposa“, „Lascia qu’io pianga“) bevorzugt, denen im Vergleich zu dramatischen Arien wie „Or la tromba“ mehr Raum gegeben wird. Wie Corbiau in den eingangs zitierten Reflexionen eigens betont, weisen Film und Oper eine Reihe von entscheidenden medialen Unterschieden auf, die die Idee, dem Zuschauer ‚gefilmte Oper‘ zu präsentieren, gewagt erscheinen lassen. Die Opernbühne ist ein mehr oder weniger statisch wahrgenommener Raum, der nur durch den Kulissenwechsel Veränderungen im Schauplatz der Handlung suggerieren kann, wohingegen die Filmkamera, produktionsästhetisch gesehen, nicht an einen einzigen Ort gebunden ist. Andererseits kann der Film nicht das gleiche intensive Theatererlebnis bieten wie ein Opernbesuch, denn er vermag die Schauspieler nicht in ihrer unmittelbaren dreidimensionalen körperlichen Präsenz zu zeigen. Einen Opernabend in voller Länge dem Film zu integrieren, wäre zudem schon aus zeitlichen Gründen nicht machbar, da die Zeitstruktur des Films eine gänzlich andere ist als die des Musiktheaters. Allein die langen Da-capo-Arien der Händelzeit würden die heutigen Kinobesucher auf eine harte Geduldsprobe stellen. Gefilmte BarockOper, so lässt sich insgesamt resümieren, birgt das Risiko in sich, im statischen Tableau zu erstarren und Monotonie zu erzeugen. Diese Gefahr umgeht Corbiau in Farinelli vor allem durch eine geschickte Kameraführung. Der ‚Blick‘ der Kamera wandert von der Bühne in den Zuschauerraum, lässt die Kinobesucher – das Publikum zweiter Ordnung – die Musik fast gleichzeitig mit den durch sie ausgelösten Reaktionen im Opernpublikum erleben. Die Mobilität der Kamera bringt Bewegung ins Spiel, sie findet auch den Weg hinter die Kulissen, zeigt Händel und Farinelli 144

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

im Gespräch hinter der Bühne und blendet während Farinellis glänzendem Auftritt die beiden Komponisten Händel und Riccardo Broschi, als geheime Zuschauer, die angesichts des überragenden Erfolgs des nunmehr psychologisch gereiften und unabhängig gewordenen Sängers gleichermaßen resignieren, oberhalb des Bühnenraums ein. Gleichzeitig rücken dabei das Räderwerk und die Theatermaschinerie in den Blick, die für die Bewegung bzw. den Wechsel der Bühnenkulissen zuständig sind. Der Film legt so fast beiläufig immer wieder diejenigen Konstruktionsverfahren offen, auf denen das Medium Oper und seine spektakulären Effekte beruhen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang einen genaueren Blick auf das Verhältnis zwischen Film und Oper zu werfen, wie es sich bei Corbiau abzeichnet. Es ist interessant zu beobachten, dass die gewählte kinematographische Perspektive auf das ältere Medium der Oper offenbar zwischen Faszination und Kritik eigentümlich schwankt. Einerseits beruht die intendierte Wirkung des Films zu keinem geringen Teil auf dem wirkungsästhetischen Erfolg der gezeigten Opernausschnitte, auf ihrer Attraktiviät, die sie selbst auf die modernen Kinobesucher auszuüben vermögen; andererseits wird eine kritische Perspektive durch den analytischen und entlarvenden ‚Blick‘ der Kamera eingebracht, der nicht nur die psychischen Dispositionen von Sänger und Komponisten exponiert, sondern auch den artifiziellen Konstruktcharakter der Operninszenierungen selbst zur Schau stellt. Dabei wird nicht zuletzt unwillkürlich eine geheime Affinität zwischen dem illusionistischen Opernerlebnis des 18. Jahrhunderts und dem Film als modernem Gesamtkunstwerk sichtbar, das über weitaus raffiniertere Simulationstechniken verfügt als die damalige theatralische Kulissen- bzw. Guckkastenbühne. Die Zuschauer von Corbiaus FARINELLI können sich somit selbstreflexiv in ihrer Doppelrolle als Zuschauer zweier parallel verlaufender, jeweils hochgradig technisch perfektionierter Medienereignisse erkennen. Strukturell gesehen, macht der Film, um eine solche Wirkung zu erzielen, von dem Verfahren der Rückblenden ausgiebig Gebrauch. Mitten in die Londoner Aufführung der Händeloper Rinaldo werden in Form von kürzeren flashbacks Erinnerungen des Sängers an die Vergangenheit eingeblendet, die alle um das traumatische Ereignis der Kastration kreisen. Während des Singens kommt das Verdrängte in Bildsequenzen an die Oberfläche, die den musikalischen Duktus nicht unterbrechen, sondern vielmehr durch ihn ausgelöst und auf ihn abgestimmt erscheinen. Das Fortschreiten der Rinaldo-Musik erfolgt in den Rückblenden (als Musik aus dem off) parallel zu einer immer klareren Konturierung der zunächst undeutlichen, weil verdrängten Erinnerung und somit analog zu einer immer weiteren Annäherung an das gesuchte Geschehen. Der mu145

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

sikalische Höhepunkt der Aufführung fällt schließlich mit der exakten Fokussierung des entscheidenden Moments aus der Kindheit des Helden zusammen: Riccardo Broschi setzt den Bruder nach der vollzogenen Operation in einen Bottich. Das kinematographische Medium ermöglicht es indes nicht allein, zwei verschiedene, zeitlich verschobene Handlungsabläufe durch Parallelmontage einander zu überlagern und auf diese Weise aufeinander zu beziehen. Im Unterschied zur Opernaufführung erlaubt der Film einen raschen Blickwechsel, denn die variable Kameraführung ermöglicht es, in unmittelbarer Folge den Sänger, das Orchester mit dem Dirigenten, das Publikum im Zuschauerraum und die Reaktionen einzelner Zuschauer zu zeigen. Während Farinelli Arien aus Händels Rinaldo singt, bewegt sich die Kamera, schweift von der Bühne durch den Zuschauerraum, um einzelne Besucher im Parkett und auf den Galerien zu fokussieren und deren Reaktionen in minutiösen Detailaufnahmen und Close-ups der Gesichter einzufangen. Gleichsam zwanglos erhält der Kinobesucher auf diese Weise erhellende Impressionen und Aperçus von dem außerordentlichen Respons, dem Farinelli auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn in London von den Zuschauern entgegengebracht wird: Der körperlich behinderte Junge, eine interessante Nebenfigur, den eine Art Wahlverwandtschaft mit Farinelli verbindet, lauscht währenddessen gebannt und fängt eine der lebendigen Tauben auf, die von der Bühne in den Zuschauerraum entflogen sind. Besonderes Gewicht erhalten indes die Reaktionen Händels, der sich unter dem Eindruck von Farinellis Aufführung vom entschiedenen Gegner zum unfreiwilligen Bewunderer des Sängers wandelt. Gerührt von der Perfektion und der überragenden emotionalen Ausdrucksfähigkeit Farinellis, sieht sich Händel genötigt, seine anfängliche Reserve und Verachtung gegenüber Kastraten zu revidieren. Als Farinellis Verehrer wider Willen muss er seine Niederlage eingestehen, indem er den Zuschauerraum schließlich abrupt verlässt. Es ist entscheidend zu sehen, dass der Rezipient des Films gerade durch die Einblendungen der fiktiven Zuschauerreaktionen in seinem eigenen Respons auf Farinellis Musik gelenkt und positiv beeinflusst wird. Die Wahrnehmung der Stimme und der Bühnenpräsenz Farinellis erfolgt gewissermaßen durch die Brille der fiktiven Opernbesucher im Film, und der Betrachter wird ständig dazu angeregt, sich zu den gezeigten Reaktionen und Verhaltensformen in Beziehung zu setzen. Die subtile Ineinanderschachtelung der Rezeptionsebenen dient nicht allein der Sympathielenkung, sondern stellt auch ein prominentes Moment der ästhetischen Selbstreflexion dar. Denn die Zuschauersituation im Film lenkt die Aufmerksamkeit des Kinopublikums, wie ersichtlich wurde, 146

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

unweigerlich auf die eigene Rezipientenrolle und lässt den Film selbst unwillkürlich als opernähnliches Gesamtkunstwerk erscheinen. Ähnlich wie die Rinaldo-Aufführung zum Katalysator und Medium psychologischer Erkenntnis avanciert, stellt auch Corbiaus Film den Anspruch, psychologische Einblicke zu eröffnen, wobei der Moment der entscheidenden Enthüllung im Film durch den flash back bezeichnenderweise mit dem erfolgreichen Londoner Opernauftritt Farinellis koinzidiert. Während eine Stärke des Farinelli-Films sicherlich in der flexiblen Kameraführung zu sehen ist, die sich nicht damit begnügt, die Opernszenen von einem fixierten Standort im Parkett abzudrehen, sondern geschickt dazu eingesetzt wird, den Bühnen- und Zuschauerraum der Barockoper im zeitlichen Nacheinander schrittweise zu erkunden, zeichnen sich andererseits gewisse Defizite bei der filmischen Repräsentation der frühneuzeitlichen Operninszenierungen ab. So erwecken Corbiaus filmische Darstellung und seine Selektion der Opernausschnitte fälschlicherweise den Eindruck Farinelli bzw. der primo uomo der Truppe habe damals ausschließlich in Soloauftritten geglänzt. Statt den Sänger im Handlungskontext eines ganzen Ensembles zu zeigen und die Aufführung einer Barockoper als eine Gemeinschaftsproduktion vorzuführen, kapriziert sich der Regisseur ganz darauf, die Person und die Stimme seines Helden zu profilieren und dessen tiefenpsychologische Dimension zu durchleuchten. Das im Film entworfene Bild der Barockoper gerät dadurch, sieht man von der Tätigkeit der Komponisten einmal ab, tendenziell zu einem Ein-Mann-Unternehmen, das von der Rolle des Hauptdarstellers dominiert wird. Besonders evident wird das genannte Defizit, wenn Corbiaus Farinelli nicht nur Gesangspartien der männlichen Titelrolle des Rinaldo singt, sondern auch noch die eigentlich der Rolle der Geliebten Almirena zugehörige lyrische Arie „Lascia qu’io pianga“ übernimmt.

4.3 Die Produktion der imaginären Stimme “It was in fact the music which pushed me to make the film, and the combination of this together with the story of Farinelli was irresistible.”24 Farinellis Gesang zu rekonstruieren, die Stimme eines hochbegabten, überaus virtuosen Kastraten wiederzugeben, bedeutet für Corbiau die eigentliche Herausforderung und Problematik, der er sich in seinem un24 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 147

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

gewöhnlichen Filmprojekt stellen wollte. Das Außergewöhnliche und Unerreichbare der Farinellischen Stimme wurde bereits von dessen Zeitgenossen und den nachfolgenden Musikhistorikern des 18. Jahrhunderts registriert sowie ausführlich beschrieben, wie etwa die folgenden Ausführungen von Johann Joachim Quantz dokumentieren: „Seine Intonation war rein, sein Trillo schön, seine Brust, im Aushalten des Atems, außerordentlich stark, und seine Kehle sehr geläufig, so daß er die weit entlegensten Intervalle geschwind und mit der größten Leichtigkeit und Gewißheit herausbrachte [...] In den willkührlichen Auszierungen des Adagio war er sehr fruchtbar. Das Feuer der Jugend, sein großes Talent, der allgemeine Beyfall und die fertige Kehle machten, daß er dann und wann zu verschwenderisch damit umging.“25 Die Aufgabe, den Gesang eines Solosängers der barocken Operntradition zu ‚filmen‘, brachte für den Regisseur und seine musikalischen Berater indessen keine geringen Schwierigkeiten mit sich und gestaltete sich als ein fast unlösbares Problem. Corbiau war sich der Tatsache bewusst, dass die hohe Stimmlage der Kastraten (insbesondere der Alt- und Sopranbereich) außerhalb der Reichweite der natürlichen männlichen Bruststimme liegt. Die entsprechenden Gesangspartien der Barockopern werden daher heutzutage entweder von Frauen, Altistinnen und (Mezzo-) Sopranistinnen, übernommen oder durch die neben den tieferen Tönen ihrer Bruststimme auch das Falcettregister nutzenden Stimmen von Countertenöre wiedergegeben. Corbiau erläutert genau diesen Sachverhalt: „Today the music composed for castrati is occasionally sung by sopranos or high counter-tenors. However, much of the music composed for these wonderful singers has been lost, simply because today no single person can sing it.“26 Bei der Suche nach der geigneten Farinelli- Stimme begegnet der Regisseur jedoch noch einer zusätzlichen Schwierigkeit, da Carlo Broschi über einen Stimmumfang verfügte, der selbst für einen berühmten Kastratensänger des 18. Jahrhunderts außergewöhnlich war: „The range of Farinelli’s voice covered three and a half octaves and whilst some singers today aspire to this, there is no one who can sing like a castrato. I think the reason there has never really been a film about castrati is because of this problem.“27 Die Tatsache, dass Farinelli über eine besondere stimmliche Reichweite, einen mehrere Oktaven umfassenden Ambitus, souverän disponierte, belegen auch die überlieferten musikhistorischen Doku25 F. W. Marpurg: Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, 1755, zitiert nach René Jacobs: Es gibt keine Kastraten mehr: was jetzt? In: Beiheft zu: Arias for Farinelli. S. 49-50. 26 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 27 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 148

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

mente aus dem 18. Jahrhundert. Der bereits zitierte Johann Joachim Quantz notiert diesbezüglich signifikanterweise: „ Farinlli hatte eine durchdringende, völlige, dicke, helle und egale Sopranstimme, deren Umfang sich damals vom ungestrichenen a bis ins dreigestrichene d erstreckte; wenige Jahre hernach sich in der Tiefe noch mit einigen Tönen, doch ohne Verlust der hohen, vermehret hat: dergestalt, daß in vielen Opern eine [einzige] Arie, meistens ein Adagio, in dem Umfang des Contralts und die übrigen in dem Umfang des Soprans geschrieben waren.“ Corbiau hat sich aus den oben erörterten Gründen dagegen entschieden, Farinellis Arien im Film durch die Stimme einer Mezzosopranistin oder Altistin wiederzugeben und wählte so eine andere Alternative als beispielsweise der Dirigent und Spezialist für barocke Musiktraditionen René Jacobs, der einige Jahre später eine Einspielung von Farinelli-Arien mit der Sängerin Vivica Genaux besorgte.28 Wenn Farinellis Stimmumfang die Dimensionen dessen überschreitet, was von heutigen menschlichen Stimmen zu leisten ist,29 mag es zunächst naheliegen, an die vollständig synthetische Genese solcher Vokalmusik mit Hilfe avancierter Computerprogramme zu denken. Jedoch wurde jener Lösungsvorschlag vom Regisseur sehr bald wieder verworfen. Es genügte ihm nämlich nicht, eine gänzlich synthetische Stimme mit den Mitteln moderner Computertechnik herzustellen, denn ein reines Hightech-Produkt würde kaum den Anforderungen von Farinellis Filmstimme gerecht werden, und zwar nicht allein deshalb, weil sie nicht die

28 Vivica Genaux: Arias for Farinelli. Dirigent: René Jacobs. Harmonia mundi 2002. 29 Zu den besonderen Qualitäten der Kastratenstimmen und ihren biologischen Voraussetzungen vgl. auch die erhellenden Erläuterungen von IRCAM: „Les castrats étaient surtout connus pour leur timbre très spécifique : en raison de l'intervention chirurgicale pratiquée, leur voix ne muait pas à la puberté. A l'âge adulte, la taille de leur cage thoracique, leur capacité pulmonaire, leur endurance physique et leur force étaient en général supérieures à celles des autres hommes. Ils avaient, dès lors, une très grande puissance vocale, certains réussissant à tenir des notes pendant plus d'une minute. Enfin, un larynx petit et souple et des cordes vocales courtes leur permettaient de vocaliser avec un ambitus assez large (au-delà de 3 octaves et demie) et de chanter avec une grande souplesse (ils pouvaient contrôler de grands intervalles, de longues cascades et des trilles). De plus, les castrats étaient au départ sélectionnés parmi les meilleurs chanteurs et recevaient une formation intensive. Les castrats étaient des musiciens virtuoses, surdoués et surentraînés. Ainsi, la quasi-totalité de leur répertoire ne peut plus être inte prétée aujourd’hui.“ (http://www.ircam.fr/index-e.html) 149

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

volle Klangqualität von Spitzensolisten erreichen würde.30 Ausschlaggebend für die Entscheidung gegen das reine Computerprodukt war vielmehr auch die Überlegung, dass eine solche, vollständig technische ‚Stimme‘ nicht den Eindruck einer individuellen menschlichen Ausdrucksform31 vermitteln könne, geschweige denn geeignet sei, differenzierte Gefühle zu artikulieren. Die Fähigkeit, emotionale Momente zu kommunizieren, war für Farinellis Filmstimme insofern zentral, als sie zu den wesentlichen Voraussetzungen von Corbiaus empfindsamer und ‚romantischer‘ Interpretation der Musik gehörte: „Above all“, so der Regisseur, „we looked for a voice which was ,physical‘, in which one could feel the humanity, and a voice which would reveal emotion.“32 Der Rückgriff auf eine rein synthetische Stimme würde, so Corbiaus Befürchtung, die psychologisch-anthropologische Ausrichtung seines Regiekonzepts nachhaltig stören, wenn nicht gar völlig unterlaufen. Ohne die Eigenschaft der gesuchten Stimme, intensive Emotionen zu artikulieren, wäre es ferner undenkbar gewesen, die Vokalmusik als Ausdruck und Symptom des jeweiligen Stadiums jener psychischen Entwicklung aufzufassen, in dem sich der Kastratensänger gerade befand. Corbiau und seine Mitarbeiter teilten offenbar die Auffassung, es bestehe eine enge Korrelation zwischen der Reichweite, dem Stimmumfang des Sängers, und der ihm eigenen Expressivität bzw. dem Nuancenreichtum des Gesangs. So gehört die Annahme zu den Prämissen des Regiekonzepts, dass die drei-einhalb Oktaven umfassende Stimme Farinellis mit einer nicht weniger umfassenden Reichweite der Gemütszustände einhergeht, deren Skala von Verzweiflung und Schmerz (etwa über die mit dem Akt der Kastration vermeintlich verlorene menschliche Würde) bis zu höchster Euphorie reicht.33 30 Vgl. die Ausführungen zur Entstehung des soundtrack: „The first solution suggested by the musical team was to create a synthesized voice. The idea, however, was abandoned as it became obvious that the most powerful computers and fabulous synthesizers could not reproduce the unique richness, sensitivity and emotion of the human voice.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 31 „L’enjeu le plus important de cette entreprise commune était de respecter la volonté impérieuse du réalisateur de garder à Farinelli une voix émotionnelle aussi éloignée que possible de l’artifice et de lui conserver par ce mélange étonnant d’une voix d'homme et d'une voix de femme, toute sa puissance humaine.“ 32 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 33 Vgl. dazu wiederum Corbiau: „Farinelli was both strong and fragile. He was a man constantly in search of his lost dignity.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 150

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Berücksichtigt man die genannte filmische Grundkonzeption des Regisseurs, schien es unabdingbar, für die Erzeugung der Farinelli-Stimme in der Grundsubstanz auf reale menschliche Opernsänger zurückzugreifen. Corbiau hatte dazu die durchaus geniale Idee, zwei Stimmen, eine Frauen und eine Männerstimme miteinander zu verschmelzen: „So I had the idea, absolutely crazy I admit, of somehow finding a way to combine two voices: the voice of a man and the voice of a woman which had a similar quality of tone. I was faced by a challenge to which I had to rise and which, in fact, took me and many others on an adventure which lasted nearly two years.“34 Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf das von Corbiau etwas emphatisch beschriebene ‚Abenteuer‘ zu werfen und die einzelnen Produktionsschritte näher zu betrachten, die notwendig waren, um Farinellis Stimme zu erfinden und in sinnlich-konkreter Gestalt zu erzeugen.35 Denn zweifellos waren der konzeptuelle Entwurf und die materielle Realisation der Farinellistimme zeitweilig gleichsam der Fluchtpunkt des Filmprojekts, von dem letztlich das Gelingen oder Scheitern des ganzen Unternehmens abzuhängen schien. Die Wahl der Sänger fiel auf Derek Lee Ragin, einen in New York geborenen Countertenor afro-amerikanischer Herkunft, der sich bereits in den Hauptrollen von Aufführungen Händelscher Opern (z.B. in Tamerlano 1984) bewährt hatte, und die polnische Sopranistin Ewa Mallas Godlewska, die 1992 in der Metropolitan Opera debütiert hatte. Zunächst wurde nach der Aussage des Regisseurs die männliche Stimme ausgesucht und dann eine zu ihr passende weibliche, die eine ähnliche Klangfarbe aufwies. Das Unternehmen Auvidis produzierte die Musik. Die Aufnahme des Soundtracks für CD unter der Leitung von Christophe Rousset wurde bereits parallel zu den Dreharbeiten des Films erstellt. Wie kaum ein zweites Filmprojekt gibt Corbiaus FARINELLI zu erkennen, welche eminente Bedeutung der Soundtrack für die Ästhetik des Gegenwartskinos inzwischen erlangt hat. Nach der Aufzeichnung wurden die beiden Stimmen von Jean-Claude Gaberel für die weitere digitale Bearbeitung vorbereitet. Dieser Vorgang erwies sich als äußerst schwierig und langwierig, weil die Musik Note für Note ediert werden musste.36 Die erste Phase des Editionsprozesses, 34 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 35 Die einzelnen Schritte jener aufwendigen Genese der Farinelli-Stimme sind auf der Website von IRCAM dankenswerter Weise sorgfältig dokumentiert; die vorliegende Darstellung orientiert sich im folgenden daher eng an dem dort zur Verfügung gestellten Material und den zugehörigen Erläuterungen. 36 Vgl. den detailiierten Produktionsbericht : „Une fois les enregistrements effectués sous la direction de Christophe Rousset, le traitement s’est dérou151

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

die mit 3000 edits arbeitete, dauerte zehn Monate. Die auf diese Weise analysierten Stimmen beider Sänger wurden sodann an die Spezialisten von IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/ Musique) weitergegeben, das seinen Sitz im Centre GeorgesPompidou in Paris hat. Die Techniker von IRCAM haben die Aufzeichnung der beiden Stimmen unter der Leitung von Philippe Depalle digital verschmolzen, um schließlich den fertigen Soundtrack herzustellen. Dem technischen Team von IRCAM ging es in erster Linie darum, die je individuellen Tonqualitäten der beiden Sänger einander anzupassen und zu homogenisieren. Dazu musste zunächst die Aufzeichnung jedes Sängers einzeln betrachtet werden, um die konstitutiven Frequenzen der Klangfarbe (des Timbre) der jeweiligen Stimme zu identifizieren. Es war dabei erforderlich, den Gesang jeweils Vokal für Vokal auseinanderzunehmen und zu analysieren37 und ihn in differenzierten graphischen Darstellungen zu veranschaulichen.38 Man entschied sich dafür, als Referenz für die gewünschte Stimme eine Klangfarbe zu wählen, die derjenigen des Countertenors nahekam und zugleich sehr individuell und spezifisch war. Doch auch die Aufzeichnung der Stimme Ragins bedurfte einer Bearbeitung: um ihr einen jugendlicheren Charakter zu verleihen, wurden vorhandene abrupte Aspekte ausgeblendet.39 In einem nächsten Schritt wurlé en deux étapes. La première, réalisée au studio Image et son par JeanClaude Gaberel (à Neufchâtel-Suisse), s’est attachée à reconstituer la ligne mélodique du castrat à partir de l’enregistrement des deux chanteurs. Cette démarche a consisté à enchaîner les parties pouvant être chantées par le haute-contre avec celles spécifiques de la sopraniste. Ce délicat travail d’édition a parfois nécessité un montage note à note.“ http://www.ircam.fr/ Vgl. auch die englischsprachigen Informationen auf der offiziellen Website des Films (eingesehen am 1.3.2010): http://www.sonypictures.com/classics/ farinelli/about/fmusic.html 37 Es handelte sich bei dieser Analyse, folgt man den Ausführungen der Hersteller, um akribische Kleinarbeit, die äußerste Sorgfalt verlangte: „Pour réaliser ces subtiles transformations, nous avons utilisé des programmes développés dans le cadre de nos recherches menées à l'Ircam, tel que le Super Vocodeur de Phase et élaboré d'autres programmes spécifiques. En particulier, chaque voyelle chantée a été analysée, identifiée selon sa nature, sa note et sa puissance, puis transformée de manière particulière.“ (http://www.ircam. fr/index-e.html) 38 In diesem Sinne heißt es weiter: „Des outils graphiques permettent de comparer les analyses et de les modifier en temps réel pour réaliser des tests. Un procédé de synthèse (appelé FFT-1 et breveté par l'Ircam) a servi à synthétiser les voyelles longues.“ 39 Vgl. diesbezüglich auch: „Il a été décidé de prendre pour référence un timbre proche de celui du haute-contre, déjà très spécifique. Cette voix a 152

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

de die Stimme der Sopranistin so modifiziert, dass sie sich derjenigen des Countertenors annäherte, um die Metamorhose beider zu einer einzigen Klangfarbe zu erzielen.40 Bei diesem Vorgang handelte es sich insgesamt um eine Art der ‚Morphogenese‘, der Interpolation von Formen (engl. morphing), wie sie sonst benutzt wird, um optische Bilder so zu bearbeiten, dass sie miteinander zu verschmelzen scheinen.41 Die erfolgreiche Fusion der visuellen bzw. auditiven Daten beruht dabei auf einer graduellen Modifikation von Form, Textur und Kontur. Durch weitere Bearbeitungen lassen sich spezifische Effekte hervorrufen, die für die Filmmusik wichtig sind, wie zum Beispiel die sehr langen Noten, die von heutigen Interpreten nicht mehr gesungen werden können. Die betreffenden Töne wurden als ganze synthetisch erzeugt, ausgehend von den Charakteristika, die man zuvor anderen Teilen des Gesangs entnommen hatte. 42 Die Aufgabe, in der beschriebenen Weise einen geeigneten Soundtrack zu produzieren, nahm in der zweiten Phase der Bearbeitung (durch IRCAM) nicht weniger als sieben Monate in Anspruch, was aufgrund der aufwendigen Arbeitsschritte kaum verwundert. Corbiaus wohl durchnéanmoins été traitée afin de lui donner un caractère plus juvénile en retirant notamment certains aspects bruités.“ (http://www.ircam.fr/index-e. html) 40 Vgl. wörtlich: „La voix de la soprano a ensuite été modifiée en poussant la métamorphose vers celle du haute-contre.“ (ebd.) 41 IRCAM nutzt die Analogie zur visuellen Gestaltwahrnehmung und – verschmelzung, um den vollzogenen Transformationsprozess genauer zu beschreiben und dem Laien zu verdeutlichen: „Afin de bien comprendre le type de transformation effectuée, on peut employer une analogie avec le traitement des images: il est maintenant possible de concevoir des séquences qui représentent le passage progressif d’une scène à une autre. Une des applications les plus fréquemment rencontrées métamorphose le visage d'une personne en celui d’une autre. Ce procédé dit d'interpolation de formes (en anglais morphing), consiste alors à passer progressivement d'une image à une autre en modifiant continûment la forme, la texture et le contour de chacun des éléments constitutifs du visage. De la même façon, nous passons d’une voix à une autre en modifiant progressivement des caractéristiques d’une voix en celles d’une autre.“ (http://www.ircam.fr/ index-e.html) 42 In diesem Sinne verraten die Produktionsnotien : „Des traitements additionnels ont été effectués pour produire certains effets spécifiques requis par le film, comme des notes très longues qui ne peuvent être interprétées par des chanteurs d’aujourd’hui. Ces notes ont été entièrement synthétisées à partir de caractéristiques prélevées sur d’autres parties du chant.“ (http://www.ircam.fr/index-e.html) 153

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

dachtes musikalisches ‚Experiment‘ ist bei den Spezialisten für alte Musik – nicht zuletzt aufgrund der extensiven Verwendung digitaler Technik – teilweise auf pauschale Ablehnung und zersetzende Kritik gestoßen. Der Dirigent René Jacobs wertete den Corbiauschen Rekonstruktionsversuch gar als ein im ganzen gescheitertes Unternehmen, dessen Ergebnis „eine Art Monster“ oder ein „aus Leichenteilen zum Leben“ erweckter „Frankenstein“ sei.43 Demgegenüber ist allerdings zu bedenken, dass die Forderungen nach Integrität und Homogenität der Stimme, auf die sich solche Negativ-Urteile implizit stützen, selbst wiederum in einer wohl einseitig ganzheitlichen Auffassung der menschlichen Stimme sowie in einer gegenwärtig möglicherweise überholten romantischen Einstellung gegenüber der Musik verwurzelt sind. Man mag Corbiaus Farinelli-Film allerdings eine gewisse Inkonsequenz vorwerfen, insofern im Soundtrack mitunter eine beihnah postmoderne, durch eine bleibende Heterogenität und wahrnehmbare Künstlichkeit gekennzeichnete Stimme ertönt, während die Protagonisten Farinelli und Händel eine Musikästhetik vertreten und ein Gesangsideal anstreben, deren Hauptinteresse dem durch Artistik unverstellten, natürlichen Ausdruck der Affekte im Sinne der Empfindsamkeit gilt Ferner könnte man sich fragen, ob im Medium des Films ein solches Unterfangen wie die Rekonstruktion einer idealen, zum Mythos gewordenen Gesangsstimme überhaupt gelingen kann. Man könnte einwenden, der Film sei eher wenig geeignet, um die menschliche Gesangsstimme bzw. anspruchsvolle Vokalmusik angemessen zur Geltung zu bringen. Hier scheint die Oper mit ihrer überzeugenderen Akustik, der unmittelbaren körperlichen Präsenz der Sänger und dem oft optimalen Raumklang des Gebäudes deutliche Vorzüge zu bieten. Auch die präzise digitale Aufnahme und Verbreitung musikalischer Werke auf CDs und DVDs scheinen den technischen Möglichkeiten des Kinofilms durchaus überlegen zu sein. Bei Farinelli kommt die Tatsache erschwerend hinzu, dass man anders als bei Mozart und anderen berühmten musikalischen Genies im Vorfeld der Filmproduktion noch kein breites Publikumsinteresse voraussetzen konnte, sondern letzteres erst durch den Film selbst wecken musste. Daher war es wichtig, die Unvergleichlichkeit und Virtuosität der Stimme des Kastratensängers allererst durch spezielle Werbestrategien überzeugend zu vermitteln und dem Publikum durch die gelungene Realisation plausibel zu machen. Denn mit dem Niedergang der Opera seria ist auch die ehemalige Berühmtheit ihrer großen Solisten in Ver-

43 René Jacobs: Es gibt keine Kastraten mehr: was jetzt? In: Beiheft zu: Arias for Farinelli. S. 45-50, hier S. 49. 154

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

gessenheit geraten und den Kinobesuchern – abgesehen von den wenigen Spezialisten auf dem Terrain der europäischen Musikgeschichte – weitgehend unbekannt. 44 Betrachtet man den Farinelli-Film genauer, so wird jedoch deutlich, dass das Medium des Films im Vergleich zur Opernaufführung und zur akustischen Datenübertragung auf Cds im Blick auf die Steuerung der Publikumsreaktionen durchaus Vorteile mit sich bringt und neue Möglichkeiten erschließt, die den anderen Medien unzugänglich sind. Die Visualisierung des Singenden und der Zuhörer erlaubt eine virtuelle Modellierung und Hervorhebung des Gesangs, wie sie in den anderen Kontexten und Gebrauchszusammenhängen nicht geläufig sind. Hier verdient etwa die Möglichkeit des Films Beachtung, zeitgleich mit der Gesangsstimme die innerfiktiven Zuschauerreaktionen der Opernbesucher einzublenden und auf diese Weise den Respons der Filmrezipienten als Beobachter höherer Ordnung zu lenken. Die Begeisterung des im Film gezeigten Opernpublikums inspiriert die Imagination der Kinobesucher und regt letztere dazu an, sich die Stimme und ihre unmittelbare Wirkung präziser vergegenwärtigen zu können. Dabei kann sich die euphorische Reaktion der gefilmten Zuschauer auf das jeweilige Publikum der Filmrezipienten übertragen. An der Konstruktion der Farinellischen Singstimme in ihrer Einmaligkeit und Virtuosität ist somit ungeachtet des technischen Aufwands und des Einsatzes komplexer digitaler Verfahren die Fantasie der Zuschauer auf subtile Weise beteiligt. Ferner gelingt es Corbiau in seinem Film, nicht allein die individuelle Stimme des Kastraten in ihrer eigentümlichen fremdartigen Qualität zu erzeugen und die virtuose musikalische Leistung als solche zu inszenieren, sondern er zeigt darüber hinaus auch die Genealogie dieser Stimme, ihre verborgene Herkunft und ihre Verflechtung mit der ambivalenten Psyche des Helden. Neben der musikalischen Höchstleistung als solcher kann der Film einen individuellen, psychomentalen und musikalischen Entwicklungsprozess aufzeichnen, der, biographisch gesehen, in die Kindheit des Helden zurückreicht und, psychoanalytisch gewendet, das Verdrängte und Ausgegrenzte nach und nach einholt, um es durch das Spiel visueller und akustischer Zeichen vorsichtig sichtbar zu machen.

44 Erschwert wird die Aufgabe, Farinellis Gesang zu rekonstruieren, noch dadurch, dass die Stimmen von Kastraten in der heutigen Gesellschaft nicht mehr existieren und daher außerhalb des unmittelbaren Erfahrungsbereichs von Regisseur, Filmschauspielern und Publikum liegen. 155

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

4.4 Zwischen Romantik und Barock – Corbiaus Synthese zweier unterschiedlicher Musikkonzepte

“I am especially interested in the connection between fiction, music and emotion: Music in its relation to fiction and vice-versa.”45 Die Farinellische Stimme verdankt ihre eigentümliche Ausstrahlung nicht zuletzt dem besonderen charismatischen Typ des Kastraten, der die Verkörperung der Androgynität par excellence darstellt. Hier decken sich die Vorlieben des Barock durchaus mit denen der Gegenwart,46 da auch Popstars wie Michael Jackson ihre erstaunliche Popularität zu keinem geringen Teil ihrem androgynen Erscheinungsbild verdankten. Der Kastrat versinnbildlicht für Corbiau das Faszinosum des Androgynen schlechthin, da er in seiner Stimme (und seiner äußeren Gestalt) männliche und weibliche Eigenschaften verbindet und gleichsam auf ein höheres Ideal hin transzendiert: „It is true that an androgynous ,look‘ seems to fascinate the public. But what I find especially interesting with regard to castrati is their interior androgyny. The extraordinary voice of the castrato conjures up images of universal harmony between the sexes, between man, woman and child.“47 Mehr noch: „Their voice is probably the closest the human voice has ever come to the voice of God, it enables us to catch a glimpse of another world.“48 Hier stehen Corbiaus Vorstellungen wiederum ganz in Einklang mit der vormodernen barocken Konzeption der Kastratenstimmen als überirdischem Gesang, der dem von Engeln vergleichbar sei. Auch Spezialisten der alten Musik wie der Dirigent René Jacobs betonen den besonderen Reiz der ‚hermaphroditischen‘ Stimme in der Barockoper, der den männlichen Helden ein eigentümliches Profil und eine besondere jugendliche Ausstrahlung verleiht: Da die Kastratenstimme beide Geschlechter in sich vereint und „große Klangkontraste zwischen männlich klingender Bruststimme und weiblich klingender Kopfstimme“ erzeugt, aber zugleich eine „perfekte Verbindung zwischen beiden“ herstellt, ist

45 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 46 Vgl. beispielsweise die aktuellen Websites von beliebten Countertenören wie Andreas Scholl, David Daniels und Michael Chance. 47 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 48 Ebd. 156

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

sie wie keine andere geeignet, die „Idee ewiger Jugend“ und die Vorstellung von „Halbgöttern ohne eigentliches Alter“ zu transportieren.49 Obwohl die Farinelli-Stimme im Film jenes ätherische Profil annimmt, wie es der musikhistorischen Überlieferung und den letztere begleitenden Mystifikationen entspricht, bleibt das vom Regisseur anvisierte, musikalische Ideal hochgradig ambivalent und in sich gebrochen. Denn Corbiaus Film bewegt sich in einem Spannungsfeld von Natur und Kunst, einem Gegensatzpaar, dem zwei unterschiedliche Theorien über das Wesen der Musik korrespondieren. Die Stimme des Kastraten selbst erweist sich als eine eigentümliche Mischung aus natürlicher Begabung und dem künstlichem, gewaltsamen Eingriff der Kastration. Nicht zufällig hebt Regisseur Corbiau die Härte und Grausamkeit hervor, die im 18. Jahrhundert bei der Kastrierung der Knaben und während der musikalischen Ausbildung der Kastratensänger angewendet wurde. Insofern lassen sich der barocke Chorgesang und die Opera seria schwerlich mit der Vorstellung eines zwanglosen, natürlichen Ursprungs von Musik und Kunst vereinbaren, wie sie spätere Epochen bestimmen sollte.50 Die angesprochene Doppelperspektive von angestrengter oder gesuchter Artifizialität und Naturtalent bleibt nicht auf die Interpretation der Hauptfigur beschränkt, sondern wiederholt sich exakt auf der Ebene der im Film vertretenen Musikkonzeptionen.51 Einerseits knüpft Corbiau in seiner filmischen Farinelli-Interpretation an den verbreiteten, fast zum Klischee gewordenen Topos einer Verbindung von Schmerz und großer Musik an, die gleichsam aus dem Leid geboren wird. Trotz der Bewunderung, die der Sänger durch das höfische Publikum erfährt, bleibt er ein Außenseiter in der Gesellschaft, von der er gleichwohl finanziell und psychologisch abhängig ist. Das adlige Publikum schätzt ihn als eine Rarität und ein Divertissement unter anderen, ohne seine musikalische 49 René Jacobs: Rhetorik und Improvisation. In: Carl Heinrich Graun: Cesare e Cleopatra. Beiheft zur Einspielung von René Jacobs. WDR Köln. Harmonia Mundi 1990. S. 44. 50 Vgl. diesbezüglich die aufschlussreichen Ausführungen des Regisseurs: „The violent nature of this century interested me a great deal. The young castrati were forced to live a very hard life. First they were emasculated, then made to undertake long and exhausting apprenticeships, and all this purely for the glory of music or the church! It is not surprising that many resisted this fate by trying to defend their art and become someone in the public eye. The public was as cruel at this time as in the Roman era.“ (http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html) 51 Vgl. dazu auch Annette und Linda Simonis: Der Opernheld im KameraAuge. Über Gérard Corbiaus Farinelli. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Januar 2003. S. 11-22. 157

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Leistung wirklich angemessen würdigen bzw. annähernd begreifen zu können. Händel bringt die Einstellung der Mäzenaten ironisch auf den Punkt, die ihre Künstler als Besitztümer und Sammelobjekte betrachten, wenn er Farinelli das Interesse des englischen Königs eröffnet: „Der König will Euch für Covent Garden. Seine Leidenschaft sind Sänger und Tabakdosen. Er will Euch als Schmuckstück für seine Sängerkollektion.“ Zu dem oberflächlichen, lediglich an Kuriositäten interessierten Kunstgenuss der adligen Gönner steht Farinellis Kunstverständnis in auffallendem Kontrast. Die Hypersensibilität und das psychische Leiden des Sängers erscheinen unter dieser Perspektive als Stigma des begabten Künstlers und verweisen auf einen engen wechselseitigen Bedingungszusammenhang von großer Kunst und Krankheit. Corbiau greift in seiner Farinelli-Deutung durchaus auf romantische Topoi zurück, die die Musik als quasi-natürliches Zeichensystem verstehen und als (unwillkürlichen) Ausdruck der menschlichen Gefühle und Leidenschaften definieren. Die Stimme des Sängers bildet demzufolge, wie die Spiegelmetapher im anschließenden Zitat verdeutlicht, ein transparentes Medium, das dem aufmerksamen Zuhörer sämtliche Gefühlsregungen und inneren Zustände verrät: „A voice doesn’t really change. It is the perfect mirror of all our emotions. It reveals our feelings and enables us to convey them to others.“52 Mehr noch, die Musik übertrifft, wie Corbiau emphatisch behauptet, durch ihre innere Differenziertheit, Beweglichkeit und Variationsfähigkeit alle anderen semiotischen Systeme: „Music permits us to touch and feel a quality of emotion which no words could ever express. It enables us to reach the otherwise inexpressible and indescribable.“53 Jener Musikkonzeption zufolge, die im Kern Erbe der Empfindsamkeit und der Romantik ist, erweist sich der musikalische Ausdruck als ein der Sprache überlegenes Kommunikationsmedium, insofern er jenes, mit verbalen Zeichen nicht zu artikulierende, Unaussprechliche wiederzugeben vermag. Der Konflikt zwischen Händel und Farinelli, der sich psychologisch gewendet, als ein Vater-Sohn-Konflikt begreifen lässt, erhält im Film noch in anderer Hinsicht einen zentralen Stellenwert. Händel nämlich vertritt eine der barocken Oper mit ihrer Vorliebe für das Artifizielle und die stilisisierte ästhetische Ausdrucksform diametral entgegengesetzte Kunstauffassung. In anachronistischer Manier legt Corbiau Händel ein leidenschaftliches Plädoyer für eine natürliche und ungezwungene Musik in den Mund, die als authentischer Gefühlsausdruck zu fungieren vermag. Dies wird im Film vor allem bei der ersten Begegnung zwischen

52 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 53 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 158

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Händel und Farinelli in Neapel sowie bei dem späteren Zusammentreffen der beiden in Dresden deutlich, als sich der Komponist programmatisch gegen die Konvention des Kastratengesanges wendet. „Ihr habt Eure Stimme in den Dienst einer Virtuosität ohne Seele gestellt, nur der Künstlichkeit gewidmet“ lautet der provozierende Vorwurf, den Händel an Farinelli richtet. Corbiau scheint hier die Tatsache, dass es Händel selbst war, der die italienische Opernmode und den Kastratengesang in der vornehmen Londoner Gesellschaft einführte, geflissentlich zu übersehen. Paradoxerweise teilt auch Corbiaus Farinelli insgeheim Händels expressive, empfindsame Musikkonzeption und bewundert darüber hinaus die Werke des Komponisten, obwohl dieser ihm nur mit Verachtung begegnet und ihn als Marionette seiner fürstlichen Mäzene betrachtet. „Ihr müßt mir beweisen, daß Ihr mehr seid als eine singende Maschine,“ fordert Händel den Sänger heraus und bezeichnet dessen bisherige musikalische Leistungen abschätzig als im Grunde triviales „Geträller, das gewisse Dämchen in Ohnmacht fallen lässt.“ Im Grunde scheint der Handlungsverlauf des Films Händels empfindsam-romantische Musik-Auffassung zunächst zu bestätigen, denn Farinelli strebt danach, die Zielvorstellungen seines Idols – Leichtigkeit und natürliche Spontanität des Ausdrucks – zu verwirklichen und sucht die Solidarität des ihn abweisenden Komponisten zu gewinnen. Der Sänger weiß sich mit Händel in ästhetischen Fragen einig, wenn er im Blick auf die Musik nachdrücklich bekräftigt: „Wir kennen beide die Offenbarung des Mysteriums.“ Demgegenüber wächst die kritische Distanz, mit der er unter dem Eindruck der Händelschen Musik den Kompositionen seines Bruders begegnet: „Du verwechselst Inspiration mit Virtuosität“, kommentiert Farinelli Riccardo Broschis Versuche, indem er in anachronistischer Weise die artistischen Ziele der barocken Kompositionskunst, für die artistische Virtuosität und künstlerische Eingebung noch nicht notwendig Gegensätze bildeten, in Zweifel zieht. Eine ähnliche Infragestellung des barocken Ziergesangs wird deutlich, wenn Farinelli an den Werken seines Bruders „all diese Ornamente, diese Verzierungen“ und „die Komplexität“ bemägelt, mit denen er seine Partituren überlade. Jene andere, von der barocken Kunstkonzeption abweichende Musikästhetik erhält im Film nicht zuletzt dadurch besonderen Nachdruck, dass sie Farinelli motiviert, um Händels Anerkennung zu werben, obwohl dieser ihn wiederholt zurückweist. Eine weitere Pointe und nochmalige Wendung ergibt sich in Corbiaus Darstellung schließlich daraus, dass Händel während einer Aufführung von Rinaldo die Überlegenheit und außerordentliche Ausdrucksfähigkeit 159

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

von Farinellis Stimme bewundernd eingestehen muss, wie aus seinen Reaktionen im Zuschauerraum abzulesen ist und damit seinen eigenen Vorurteilen schließlich selbst widerspricht. Nun ist einzuräumen, dass auch die barocke Musikästhetik durchaus an einem Ideal der Eleganz augenscheinlichen Mühelosigkeit und natürlichen Leichtigkeit („sprezzatura“) orientiert war. Es lag den damaligen Musiktheoretikern indessen fern, in der Rhetorik und der artistischen Form ein Hindernis des ungezwungenen, bewegenden Gefühlsausdrucks zu sehen. Eine hohe Artifizialität und eine große Intensität des musikalischen Ausdrucks bildeten die komplementären, einander wechselseitig fördernden Grundmomente des barocken Ziergesangs. Mit ihrer Hilfe sollte eine naturähnliche Wirkung simuliert, die natürlichen Anlagen nurmehr gesteigert und perfektioniert werden. Stefano Arteaga erfasst die Verbindung von hoher Artifizialität und naturähnlicher Ausdruckskunst in der barocken Gesangsästhetik sehr prägnant, wenn er in seiner Geschichte der italienischen Oper 1783 aus der Retrospektive notiert: „Die Kunst die geringsten Gradationen auszudrücken, den Ton aufs feinste abzutheilen, unmerkliche Verschiedenheiten fühlbar zu machen ... die Mannigfaltigkeit in den Modulationen, die Geschicklichkeit in den Appogiaturen, Passagen, Trillern, Cadenzen ... der feine, künstliche, polirte Styl, der Ausdruck der sanftesten Leidenschaften, bisweilen auf den höchsten Grad von Wahrheit gebracht, sind daher lauter Wunder des italienischen Himmels, die von wenigen noch lebenden Sängern vortrefflich in Ausübung gebracht werden.“54 Erst die empfindsam-romantischen Musikkonzeptionen machten die Leitidee eines von Rhetorik unverstellten, quasi-transperenten künslerischen Ausdrucks geltend und begründeten so allererst die bis heute wirksame Dichotomie zwischen Artistik und Natürlichkeit, die der Barockepoche und dem frühen 18. Jahrhundert fremd war. Die damaligen Reformbestrebungen, die von Musiktheoretikern wie Pier Jacopo Martello,55 Francesco Algarotti56 und C.G. Krause57 ausgingen, äußerten zwar eine partielle Kritik an den Charakteristika der Opera Seria, beschränkten sich indes darauf, eine gewisse formale Ökonomie der verwendeten Mittel zu fordern und die Vormachtstellung der Sänger in Frage zu stellen. Sie bildeten eine immanente Kritik an der italienischen Opernform, ohne diese als solche verabschieden zu wollen, und wendeten sich ledig-

54 Zitiert nach: René Jacobs: Es gibt keine Kastraten mehr: was jetzt? In: Beiheft zu: Arias for Farinelli. S. 45-50, hier S. 46-47. 55 L’impostore: dialogo sopra la tragedia antica e moderna. Paris 1714. 56 Saggio sopra l’opera in musica. 1755. 57 Von der musikalischen Poesie, Berlin 1752. 160

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

lich gegen Übertreibungen und Auswüchse, die künslerisch unbefriedigend schienen. In Einklang mit der im Fim artikulierten ‚romantischen‘ Auffassung der Musik als natürlichem, quasi authentischem Ausdrucksmedium steht die Hochschätzung der menschlichen Stimme, die Corbiau aufgrund ihrer angenommenen Beziehung zum essentiellen Kern der menschlichen Natur euphorisch beschreibt: „The human voice is that part of us which lies closest to the essence of being human. It is the most basic and at the same time the most refined means of expression.“ Indem der Regisseur der Stimme eine wichtige ontologische und anthropologische Bedeutung beimisst, sieht er in ihr zugleich die Verkörperung von Individualität: „The voice is the most distinctive and obviously personal characteristic. One is frequently able to identify a person more clearly by their voice than by their silhouette which can easily be disguised.“58 Mehr noch, die Musik wird für Corbiau zum Symbol des Lebens selbst, wenn er emphatisch bemerkt: “I have always found it wonderful that babies in the womb know their mother’s voice and when they are born they rediscover this voice. A mother’s voice has the miraculous ability to calm and soothe. It is also, by its first cry that a child signals its arrival to the world, its desire to live and exist as a separate being. Yes, the voice is life itself.“59 Die menschliche Stimme wird von Corbiau als organischer Teil des Lebens gefeiert, der beinah von selbst wie im Schrei des Kleinkinds nach Ausdrucksmöglichkeiten ringt. In Corbiaus Musikauuffassung tritt somit punktuell ein vitalistisches Grundmoment zutage, das auf romantische Vorläufer zurückblicken kann. In der barocken Musikauffassung und Ästhetik bilden Natürlichkeit und Artistik indes noch keinen unüberbrückbaren Gegensatz, da die Polarisierung zwischen Kunst und Natur selbst eine historisch bedingte, in der frühen Neuzeit noch kaum geläufige Dichotomie darstellt. Rhetorik und ästhetische Stilisierung stellen die angemessenen Mittel bereit, um eine naturähnliche Expressivität des Gesangs zu erzielen, die sich von einer naiven mimetischen Kunstkonzeption in charakteristischer Weise unterscheidet. Eine derart differenzierte Musikästhetik wird in den Traktaten der zeitgenössischen Musiktheoretiker des frühen 18. Jahrhunderts entfaltet. Corbiau nimmt demgegenüber ein anachronistisches Moment in Kauf, um seiner Farinelli-Interpretation eine größere innere Kohärenz sowie Überzeugungskraft im Blick auf das zeitgenössische Kino-Publikum zu

58 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 59 http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html 161

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

verleihen, dem das genannte musiktheoretische und historische Vorwissen weitgehend fehlt. Der Regisseur entwickelt in dem bereits zitierten Interview eine utopische, im Kern überzeitliche Konzeption der Musik, die dem Sänger und dem Zuhörer die Hoffnung auf universelle Versöhnung verspricht,60 aber aus heutiger Sicht auch wiederum ein wenig naiv anmutet. Interessanterweise bestätigt der Film selbst letztlich nicht die anvisierte Auffassung, denn Farinelli verzichtet schließlich darauf, sein musikalisches Talent weiterhin zu nutzen. Statt dessen zieht er sich aus der glamourösen Welt des Theaters und der euphorisch gefeierten öffentlichen Auftritte in die intime Beziehung zu der Freundin Alexandra zurück. Auch der räumliche Wechsel unterstreicht jenen Rückzug, denn Farinelli flieht, auf dem Höhepunkt seines Ruhms angelangt, aus der Musikmetropole London an den spanischen Hof, der ihm private Rückzugsmöglichkeiten eröffente.

4.5 Funktionen der Intermedialität in FARINELLI Im Unterschied zu Peter Greenaway, bei dem die intermedialen Aspekte sich inerhalb des Films tendenziell zu einem ästhetischen Spiel im Dienste der reinen Schau-Lust verselbständigen und die am Zuschauer unentwegt vorbeiziehenden Bilderfluten und zahllosen Eindrücke letztlich selbstreflexiv auf die künslerische sowie mediale Dimension bezogen blieben, verfolgt der Regisseur des Farinelli-Films offenbar eine andere Zielsetzung. Auch Corbiau verlässt zwar die Ebene des konventionellen Historienfilms, indem er in eine komplexe und asynchrone Filmnarration Implementierungen anderer Medien vornimmt, die das barocke Theater und den virtuosen Gesang als Medien- und Kunstformen sui generis profilieren. Aber der Regisseur ist in seinem Farinelliprojekt nicht allein durch das Medium der Musik und des Gesangs fasziniert, sondern wird – bei aller Aufmerksamkeit auf die Kunst in ihren medialen Erscheinungsformen – von einem starken kulturanthropologischen und psychologischen Interesse geleitet. So verwundert es kaum, dass er seinem Filmprojekt, wahrnehmungsästhetisch gesehen, einen ganzheitlichen Ansatz zugrunde legt und danach strebt, hinter dem Virtuosen die menschliche 60 Vgl. Corbiau: „These connections enable me to look at what really fascinates me. They make it possible for me to touch that which unites us all: the heart and the need to dream. In the movie theatre I want to dream and I also want to make others dream... What enables us to unwind and find ourselves more powerfully than music?“ http://www.sonypictures.com/classics /farinelli/about/finterview.html 162

DIE ‚GEFILMTE‘ STIMME

Persönlichkeit in ihrer überzeitlichen psychologischen Problematik und mentalen Disposition durchscheinen zu lassen. Daher besteht ein Fluchtpunkt und wichtiges Anliegen des Corbiauschen Regiekonzepts darin, der fiktiven Farinelli-Figur eine morphologisch prägnante, mehrdimensionale Erscheinung zu geben. Intermedialität fungiert bei Corbiau insofern als geeignetes Instrument, um eine, wenn auch fiktive (sich diesseits oder jenseits der historischen Figur Farinellis bewegende), so doch in hohem Maße ganzheitliche Persönlichkeit zu konturieren. Dieses Streben nach dem morphologisch überzeugenden Gesamteindruck muss nun umso mehr überraschen, als die sinnliche Wahrnehmung des Filmprotagonisten durch den Rezipienten sich in Wirklichkeit aus den Ausdrucksformen von drei ganz verschiedenen menschlichen Personen zusammensetzt, also eigentlich ein reines Kunstprodukt bildet und eine perfekte kinematographische Illusion verkörpert. Während der Schauspieler Stefano Dionisi dem Film-Farinelli seine optische sowie körperliche Gestalt und den verbalen Ausdruck, die Sprache außerhalb der Gesangspartien, verleiht, vedankt sich Farinellis Singstimme ungeachtet der ihr eigenen Suggestion von Individualität und Homogenität zwei verschiedenen, im Film, sieht man von den quasi-körperlichen Momenten des Gesangs einmal ab, abwesenden Sängern. Auf der wahrnehmungstheoretischen Ebene des Films bedeutet dies, dass sich die verschiedenartigen Eindrücke, die intermedialen Strukturen, nur zu einer in sich hochgradig widersprüchlichen Synthese zusammenfügen und insbesondere die Einheit der Hauptfigur (als runden psychologischen Charakter) kaum mehr gewährleisten können. Es muss offen bleiben, ob Corbiau seine in Intreviews und anderen Paramedien geäußerten Zielsetzungen bewusst unterlaufen hat. Denn es tut dem Film offenbar keinen Abbruch, dass die intermediale Synthese nicht völlig reibungslos gelingt. Ohne die Andeutungen von Brüchen und Inhomogenitäten, etwa die bleibenden Unebenheiten bei der Fusion der beiden Sängerstimmen, würde die angestrebte Identität der Persönlichkeit wohl zu glatt, zumal es in Corbiaus FARINELLI gerade darum geht, die inneren Spannungen und Konflikte in der Psyche des Sängers sichtbar zu machen. Durch die ‚Visualisierung‘ des Operngesangs im Film und seine Einbettung in einen genetischen, entwicklungspsychologischen Zusammenhang werden eine Anthropomorphisierung der Barockmusik und eine ästhetische Hervorhebung des musikalischen Mediums bewirkt, die den Zuschauer zum Zeugen jener vielfältigen Relationen zwischen Oper, Stimme und Film werden lässt, die in der Filmhandlung selbst stets nur andeutungsweise sichtbar werden.

163

5. Peter Jacksons Filmtrilogie THE LORD OF THE RINGS – ein Klassiker der fantastischen Literatur und ‚Kultbuch‘ gelangt ins Kino

Das Projekt einer Verfilmung von Tolkiens literarischem Hauptwerk Der Herr der Ringe stellt den Regisseur und die Produzenten vor ungewohnte Probleme. Haben wir es doch mit einem Roman zu tun, der ungeachtet seiner entlegenen mythologischen Thematik1 bei einem wachsenden internationalen Leserkreis einen erstaunlichen Kultstatus genießt, der sich im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr und mehr verfestigt hat. Dabei bleibt die Frage nach den genauen Ursachen für den ungewöhnlichen Erfolg des Buchs bis heute rätselhaft und weitgehend ungeklärt, wenn auch die Hochkonjunktur der fantastischen Literatur im 20. Jahrhundert zu der steigenden Beliebtheit des Romans entscheidend beigetragen haben mag, so wie umgekehrt das Tolkiensche Werk rückblickend als moderner Prototyp der fantastischen Gattung in der Gegenwartsliteratur erscheint.2 Der Tolkien-Spezialist Tom Shippey notiert in diesem Sinne treffend: „Tolkien was the Chrétien du Troy of the twentieth century. Chrétien, in the twelfth century, did not invent the Arthurian romance, which must have existed in some form before his time, but he showed 1

2

Die starke Präsenz der mythologischen Dimension in Tolkiens Werk wurde in der Forschung bereits vielfach erörtert. Vgl. etwa: Jane Chance: Tolkien’s Art. A Mythology for England. University Press of Kentucky 2001. Vgl. auch: Verlyn Flieger, Carl F. Hostetter (Hg.): Tolkien’s Legendarium : Essays on the History of Middle-Earth (Contributions to the Study of Science Fiction and Fantasy, No 86). London: Greenwood Press 2000. Zur Präsenz mittelalterlicher Denkformen und Topoi im Herrn der Ringe vgl. auch die interessante Studie von Rose A. Zimbardo: The MedievalRenaissance Vision of the Lord of the Rings. In: J.R.R.Tolkien’s The Lord of the Rings. Modern Critical Interpretations. Hg. Harold Bloom. Philadelphia 2000. S. 133-139. Vgl. diesbezüglich auch Annette Simonis: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Winter 2005, Kapitel 9: “Tolkiens Lord of the Rings als Prototyp moderner Fantasy“. 165

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

what could be done with it [...] in the same way, Tolkien did not invent heroic fantasy, but he showed what could be done with it; he established a genre whose durability we cannot estimate.“3 Jene große Popularität und internationale Breitenwirkung von Tolkiens Oeuvre wurde in den 1990er Jahren durch weltweite Umfragen bestätigt, in denen es zum ‚Buch des 20. Jahrhunderts‘ gewählt wurde. So sieht sich jeder Regisseur, der Tolkiens Fantasy-Epos verfilmen möchte, mit der eigentümlichen Situation konfrontiert, dass die Textvorlage bei den zahlreichen Fans den Status einer ‚heiligen Schrift‘ innehat, einer Vor-Schrift, an der die filmische Umsetzung nicht zu rütteln hat und implizit gemessen wird. Wir haben es im Falle der Verfilmung eines solchen ‚Kultbuchs‘ mit einem Primat des geschriebenen Textes, einer unbedingten Priorität der Buchvorlage zu tun, die selbst innerhalb der Gattung Literaturverfilmung selten ist. Die Vorstellung von der ‚Treue‘ des Films zum literarischen Werk gewinnt angesichts der Auratisierung des betreffenden Buchs zum Kultobjekt eine völlig neue Dimension. In eben dem Maße, in dem Tolkiens fantastischer Roman aus der Perspektive seiner zahllosen Bewunderer eine quasi-sakrale Funktion annimmt, droht jede noch so geringfügige Änderung der Handlung, der Charakterzeichnungen oder der Schauplätze nicht allein als willkürliche Entscheidung des Regisseurs, sondern gar als blasphemischer Akt zu erscheinen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Plan, Tolkiens Romantrilogie The Lord of the Rings auf die Kinoleinwand zu projizieren, grundsätzlich als ein risikoreiches Vorhaben, das Schwierigkeiten und Anforderungen mit sich bringt, die über den in einer Literaturverfilmung stets involvierten Medientransfer als solchen weit hinausgehen. Der Film muss von Anfang an mit einer ambivalenten Resonanz rechnen: Einerseits scheint das bereits vorhandene breite Interesse an dem Werk auch der prospektiven Rezeption des Films günstig zu sein, andererseits stehen Produzenten, Regisseur und Schauspieler unter einem hohen Erwartungsdruck. Geht es doch bei diesem Unterfangen nicht allein um den Versuch, die Kinogänger und begeisterten Cineasten zufrieden zu stellen, sondern um die eher ungewöhnliche Aufgabe, wenn nicht in erster Linie, so doch zu einem beträchtlichen Teil die Vorstellungen eines wohl informierten Lesepublikums zu befriedigen. Wie kaum ein anderer Film weckt die Adaption der Tolkienschen Trilogie im Medium des Films hochgesteckte Erwartungen.4 Nur wenigen 3 4

Tom Shippey: J.R.R. Tolkien. Author of the Century. London: HarperCollins Publishers 2000. S. xviii-xix. Es ist interessant zu sehen, wie Jackson mit der Herausforderung umgeht, zugleich die eigenen individuellen Zielsetzungen zu verwirklichen (in ei166

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Tolkienlesern wird bewusst, dass die Adaptation literarischer Stoffe in anderen Medien komplexe Transformationsprozesse erforderlich macht, die eine naive ‚Buchstäblichkeit‘ der Umsetzung unmöglich machen. Gerade bei einem Fantasy-Sujet wie dem Herrn der Ringe wird aber aufgrund des Kultstatus, den das Buch seit den siebziger Jahren erlangt hat, eine gleichsam ‚buchstabengenaue‘ filmische Umsetzung erwartet. Der Regisseur, der ein solches Unterfangen in Angriff nimmt, muss sich daher von vornherein mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert sehen. Interessanterweise haben wir es im Falle von Jacksons Tolkienverfilmung mit der überraschenden Konstellation zu tun, in der eine große Hollywoodproduktion sich an einen breiten Kreis primär literarisch interessierter Rezipienten, nämlich den (enthusiastischen) Tolkienlesern als Kern des potentiellen Publikums und der Filmkritiker wendet. Wenn der Regisseur mit seinem Unternehmen reüssieren will, gilt es zunächst, die Aufgabe zu lösen, das Feld jener unscharfen, von der Lektüre geprägten Publikumserwartungen abzustecken und die bestehenden Kollektivvorstellungen über Tolkiens Mythen sorgfältig zu rekonstruieren. Der Regisseur wird bei der Konzeption des Films in einem nicht zu unterschätzenden Maße von Faktoren bestimmt, die mit der Rezeption des Buchs zusammenhängen, und dabei von Anfang an auf eine spezifische Variante der Intermedialität verpflichtet, auf einen während der Dreharbeiten bis hin zum fertigen Filmprodukt durchgängig zu reflektierenden Textbezug, der selbst bei Literaturverfilmungen keineswegs selbstverständlich ist. Die wichtigste Zielgruppe des Films erwartet von der Regie nichts anderes, als in den Film durchgängig erkennbare intermediale Verweise auf den Wortlaut der Romane oder die durch sie hervorgerufenen Vorstellungshorizonte zu integrieren. Ohne eine Kenntnis der oben erwähnten Gesichtspunkte wäre bei unbefangener Betrachtung kaum zu verstehen, warum im Vorfeld, bei den Dreharbeiten in Neuseeland und bei der Vermarktung sowie Rezeption der Filmtrilogie eigentlich eher vage, impressionistische Schlagworte wie ‚Werktreue‘ und historische Genauigkeit Hochkonjunktur hatten und einen besonderen Stellenwert erlangen konnten, während auf Seiten des Regisseurs und der Schauspieler das Bedürfnis evident wurde, die eigene Arbeit zu einem nahezu religiösen Dienst am Original-Text zu stilisieren.5 Emphatisch bezeichnet Jackson seine Regie-Arbeit am dreiteiligen

5

nem Interview spricht er von der Erfüllung eines Kindheitstraums) und dabei doch die zahllosen Tolkienfans – eine wichtige Zielgruppe des Films – nicht zu enttäuschen. Vgl. in dieser Hinsicht auch die Aussage Richard Taylors, des Leiters der Firma Weta Workshop: „Wir haben das ganze Projekt mit einer religiösen Leidenschaft behandelt. Es war ein Kreuzzug, und ich bin felsenfest davon 167

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Herr der Ringe-Projekt „in großem Maße“ als eine „Liebeserklärung: von Liebhabern des Buches für Liebhaber des Buches gemacht.“ 6 In der Selbstdarstellung und Präsentation des Filmprojekts vor dem internationalen Publikum scheint es Jackson geboten, die Omnipräsenz des Buchs während des Entstehungsprozesses der Filmszenen hervorzuheben. Nicht ohne Grund weist das offizielle Filmbuch zum ersten Teil nachdrücklich darauf hin, welchen fundamentalen Stellenwert die begleitende Lektüre für den Regisseur im Laufe der 18-monatigen Dreharbeiten innehatte und wie allgegenwärtig der Tolkiensche Text an den Drehorten war. Das Prinzip der wiederholten Lektüre soll den unmittelbaren Bezug zum entstehenden Filmprodukt gewährleisten: „Seit Beginn der Dreharbeiten“, versichert Jackson seinem Publikum im ‚offiziellen Filmbuch‘, „habe ich dieses Buch hunderte Male gelesen, buchstäblich, Wort für Wort [...] Bevor ich eine Szene drehe, lese ich gewöhnlich das entsprechende Kapitel.“7 Ähnlich heißt es an anderer Stelle in fast beschwörendem Ton eindringlicher Versicherung: „Wir haben einfach nicht aufgehört es zu lesen. Drei Jahre lang ist kein Tag vergangen, an dem wir es nicht aufgeschlagen und nachgelesen hätten, wie Tolkien eine Szene oder eine bestimmte Figur beschrieb.“8

Abb. 79: Peter Jackson bei der Lektüre (www.herr-der-ringe-film.de)

6 7 8

überzeugt, daß wir nicht einen Film gemacht, sondern ein Vermächtnis geschaffen haben.“ (Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001. S. 83) Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001. S. 7. Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001. S. 7. Ebd., S. 15. 168

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 80: Frodo als Leser9 (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Der Regisseur präsentiert sich den Filmrezipienten nicht von ungefähr programmatisch als Leser und als sorgfältiger Philologe, als Liebhaber des Worts, wie auch das im Filmbuch abgedruckte Foto mit dem lesenden Peter Jackson, der mit Bleistift im Mund in das Studium des Textes vertieft ist, wirkungsvoll demonstriert. So soll die inszenierte ‚Momentaufnahme‘ vom Set auch die dem Medium des Films gegenüber skeptischeren Tolkienleser von Jacksons akribischem Bemühen um den Sinn der textuellen Details und von seinem ständigen Ringen mit dem Wortlaut des Originals überzeugen. Betrachtet man Jacksons Selbstinterpretation als Regisseur genauer, so wird deutlich, dass ihm daran gelegen ist, eine Orientierung am Kriterium der Buchstäblichkeit und einen liebevollen detailfreudigen Umgang mit dem Text zu suggerieren, die eher einem textanalytischen, philologischen Unternehmen als einem Film-Projekt zu entsprechen scheinen. Zeigt sich der Regisseur doch jenem Grundsatz einer „Andacht zum Unbedeutenden“ verpflichtet, wie sie die traditionelle Philologie des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Wilhelm Scherers propagierte. Dem naiven Selbstverständnis einer abbildartigen ‚Werktreue‘, das Peter Jackson und sein Team offenbar bis zu einem gewissen Grade teilen, lassen sich medientheoretische Überlegungen entgegenhalten, die jener von den Produzenten stillschweigend vorausgesetzten bzw. suggerierten Vorstellung eines möglichen 1:1-Verhältnisses zwischen Buch und Verfilmung nachhaltig widersprechen. Scheint die Forderung der absoluten Treue zum Original bei jeder Literaturverfilmung fragwürdig, da wir es bei Text und Film mit zwei ganz unterschiedlichen semiotischen Systemen10 und grundsätzlich verschiedenen Medientypen zu tun haben, so wirkt die genannte Begrifflichkeit im Falle der Verfilmung von fantastischer Litera9

Sämtliche Fotos sind der Film-Website www.herr-der-ringe-film.de entnommen. 10 Vgl. Irmela Schneider: Der verwandelte Text, passim. 169

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

tur besonders problematisch. Mehr als bei anderen literarischen Genres haben wir es bei fantastischen Texten mit Erzählungen über imaginäre Figuren und Handlungen zu tun, die jenseits der empirischen Alltagserfahrung der Rezipienten liegen. Dieser Umstand wiederum hat zur Folge, dass jeder einzelne Leser im individuellen Lektüreprozess eigene Vorstellungen über das Aussehen und die Wirkung der Personen und Charaktere entwickelt. Die verschiedenartigen Bewohner von Mittelerde (Zwerge, Elben, Zauberer und Hobbits) nehmen in der Imagination der Tolkienleser immer wieder andere Gestalt an, ohne sich auf irgendwelche Schablonen festlegen zu lassen. Nicht zufällig bedient sich der Tolkiensche Erzähler gerade bei der Personendarstellung oft subtiler Suggestionstechniken und vermeidet meist eine exakte ‚realistische‘ Schreibweise. Die anspielungsreiche, in Andeutungen verharrende Erzählweise, die bei der Informationsvergabe eine geschickte Balance zwischen Enthüllung und Verhüllung anstrebt, lässt sich exemplarisch an der ersten Beschreibung Aragorns bzw. Streichers ablesen, den die Hobbits im Wirtshaus zum tänzelnden Pony antreffen. Aragorn wird bezeichnenderweise als eine rätselhafte Figur, ein seltsam aussehender, wettergegerbter Mann („a strange-looking weather-beaten man“11), eingeführt, der einen Platz im Halbschatten eingenommen hat, so dass seine Gesichtszüge nur undeutlich zu erkennen sind. Der Erzähler vermittelt den Lesern nun eine Reihe detaillierter Angaben über die Kleidung der merkwürdigen Gestalt, die in einen abgetragenen Umhang aus dunkelgrünem Tuch („a travelstained cloak of dark green cloth“12) gehüllt ist und eine Kapuze, ein weiteres Indiz der Verhüllung, trägt: „he wore a hood that overshadowed his face; but the gleam of his eyes could be seen as he watched the hobbits“13. Die Erzählperspektive registriert sogar minutiöse Details der äußeren Erscheinung wie z.B. die Schlammklumpen auf den Stiefeln, während sie bis auf die lebhaften Augen, die unter der Kapuze hervorleuchten, keinerlei mimischen und physiognomischen Einzelheiten verrät. Es entspricht Tolkiens erzählerischen Vorlieben, das präzise Aussehen der Gesichtszüge in seiner Beschreibung auszusparen, um statt dessen durch Farbadjektive wie ‚dunkelgrün‘ und spezifische Attribute wie die auffallende lange Pfeife, die Aragorn raucht, („a long-stemmed pipe curiously carved“14) im Leser, der mit Tolkiens mythologischer Ordnung vertraut ist, bestimmte (in diesem Fall positive) Konnotationen zu wecken.

11 J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings. London: Guild Publishing 1981, S. 172. 12 Ebd., S. 172. 13 Ebd., S. 172. 14 Ebd., S. 172. 170

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Die Evokation der Charaktere ist zudem häufig an mythologischen Vorbildern orientiert, die ihnen (neben ihren individuellen Merkmalen) überzeitliche typenhafte Züge verleihen. Bei der Veranschaulichung der Figuren während der Lektüre sieht sich jeder Leser auf die eigene Imagination verwiesen, so dass die individuellen Vorstellungen, wie die Charaktere aussehen, sprechen und handeln, notwendigerweise je verschieden ausfallen. Im Medium des Films hingegen kommt es zwangsläufig zu einer Festlegung des visuellen Eindrucks auf ganz bestimmte, von den jeweiligen Schauspielern repräsentierte Figuren, so dass die suggestive Offenheit des Textes in dieser Hinsicht verloren geht oder zumindest deutlich eingeschränkt wird. Während Tolkien das Aussehen und Auftreten seines mythischen Personals geschickt in der Schwebe hält und die genaue Ausmalung der Einzelheiten dem Spielraum und der Imagination seiner Leser überlässt, wird die Fixierung einzelner Figuren auf eine ganz bestimmte Erscheinungsform in Jacksons Filmtrilogie dadurch verstärkt, dass es im Fahrwasser der Filmproduktion zu massiven Vermarktungsstrategien und einer Serien-Produktion von Werbeartikeln kommt. Dazu gehören beispielsweise die Tolkienschen Figuren in KinderÜberraschungseiern, die angeblich die Gesichtszüge der Schauspieler und deren Filmkostüme tragen. Es zählt sicher zu den Schattenseiten, die Jacksons Hollywood Produktion begleiten, dass sie die Fantasie der zukünftigen Tolkien-Leser durch die Omnipräsenz der Werbeindustrie auf die spezifischen Eindrücke der Filmversion festlegt, zumal Szenenfotos aus der Filmtrilogie neuerdings auch als Umschlagbilder der Neuauflagen des Buchs verwendet werden. Andererseits sind die erwähnten Folgeerscheinungen ein typisches, vielleicht unausweichliches Phänomen des massenattraktiven Kinos, das sich nur im Falle der Herr der RingeVerfilmung mit besonderer Deutlichkeit zeigt. Da die Produktionskosten des aufwendigen Dreiteilers die vorläufig geschätzten 250 Millionen Dollar inzwischen weit überschritten haben,15 15 Die tatsächlichen Produktionskosten belaufen sich auf ca. 320 Millionen Dollar. Vgl. dazu auch den aufschlussreichen Artikel Herr der Ringe III auf der Website des Bayrischen Fernsehens http://www.bronline.de/kultur-szene/film/kino/0311/02066/: „Mit 320 Millionen Dollar Produktionskosten ist Peter Jacksons in drei Spielfilme aufgeteilte Verfilmung von J.J.R. Tolkiens Romankonvolut ‘Der Herr der Ringe’ noch vergleichsweise preiswert. Wenn man zudem berücksichtigt, dass bereits die beiden ersten Teile über 2 Milliarden Dollar eingespielt und allein in Deutschland mehr als 20 Millionen Zuschauer ins Kino gelockt haben, ist klar: Das Ganze ist ein Riesengeschäft.“ Vgl. auch die Einschätzung auf der sorgfältig angelegten Film-Webseite „Sphärentor“: „Jüngsten Berichten 171

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

erweisen sich der Publikumserfolg und, damit verbunden, die verwendeten Vermarktungsstrategien als Anliegen von zentraler Bedeutung. Die eigentümliche Konstellation und die Arbeitsbedingungen, auf die sich eine Hollywoodproduktion des Lord of the Rings einlassen muss, wirft, wie in den skizzierten Vorüberlegungen deutlich wurde, eine ganze Reihe von Fragen auf. Inwiefern und in welchem Maße beeinflusst – so wäre zunächst zu überlegen – die Orientierung an der Lektüre und am Medium des Buchs bzw. der Schrift einzelne Entscheidungen des Regisseurs bei der Konzeption, bei den Dreharbeiten und der Nachbearbeitung des Materials durch moderne Computertechnik? Gibt es im Film subtilere Formen der intermedialen Referenz auf das Buch und die Schrift, die mehr als trivial wären und über den naiven Gestus der ‚Werktreue‘ hinausgehen? In der Tat lässt sich in Jacksons Tolkien-Verfilmung, wie bereits der erste Kino-Trailer zu erkennen gibt, an prominenten Stellen ein Bezug zum Buch beobachten und eine Reflexion auf das ältere Medium der Schrift, die in einem Action-Film eher ungewöhnlich ist.

5.1 Der Kinotrailer: Flammende Schriftzeichen und bewegte Bilder

Abb. 81: Foto aus dem ersten Trailer: http://www.herr-der-ringe-film.de/

nach seien die Produktionskosten jedoch in Wirklichkeit auf 300 Millionen Dollar (ca. 600 Millionen DM bzw. 306 Millionen Euro) angestiegen, was die Filmtrilogie zu einer der teuersten Produktionen aller Zeiten (nach der neuen Star Wars -Trilogie) machen würde.“ (http://www.sphaerentor.com/tolkien/index.php?file=rubrik.php&id=6) 172

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 82: Bild aus dem ersten Trailer: http://www.herr-der-ringe-film.de/

Feuer lodert empor. Die Flammen wälzen sich über ein leicht gebogenes Metallband (die Innenseite eines Rings); plötzlich erscheinen darauf Schriftzüge – fremdartige, unlesbare Schriftzeichen – in einer unbekannte Sprache – Tolkiens Elbenschrift. Im Hintergrund zucken Blitze, leises Donnergrollen ist zu hören, während sich der Ring von der Seitenansicht langsam dreht, nun als kreisförmige Gestalt sichtbar und allererst als konkretes Objekt identifizierbar wird. Zugleich ertönt bedrohlich eine Stimme – sie rezitiert die ominösen Zeilen: “One ring to rule them all, / one ring to find them / and in the darkness bind them / in Mordor where the shadows are ...” Von unten greift eine Hand nach dem Ring, öffnet sich und umschließt ihn.

Abb. 83: http://www.herr-der-ringe-film.de/

Unverkennbar zitiert das Eingangstableau des Kinotrailers für den ersten Teil von Peter Jacksons Herr der Ringe-Verfilmung die im kulturellen Gedächtnis der Zuschauer fest verankerte Vorstellung eines einmaligen Schöpfungsakts, an dem die Schrift wesentlich teilhat. Die Flammen vor dunklem Bildhintergrund, aus denen sich allmählich sichtbare Bilder und Schriftzeichen herauslösen, suggerieren die Idee der Kreation der Welt aus dem Nichts oder dem ursprünglichen Element des Feuers. Die leuchtende Inschrift selbst wiederum erinnert an das erste Wort, den göttlichen

173

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Logos, der im biblischen Text die Entstehung der Welt in Gang setzt.16 Den Auftakt zum bevorstehenden Kinoereignis bildet also die Sprache, deren wirkungsmächtige Präsenz der Trailer in Szene setzt – sie ist der eigentliche Anlass und die geheime Triebfeder des angekündigten Filmgeschehens. Doch diesmal ist es nicht das gehauchte Wort, die Unmittelbarkeit der mündlichen Rede, die am Anfang steht, vielmehr geht die Schrift, genauer: die Inschrift des Rings, dem gesprochenen Wort voraus. Letzterem kommt lediglich eine sekundäre, dienende Aufgabe zu, denn es entziffert die rätselhafte Botschaft und übersetzt sie in eine dem Zuschauer verständliche Sprache. Jene intermediale Anspielung auf das alte Medium der Schrift(tafel) kann zugleich auf frühe, schon klassisch gewordene und von Medienwissenschaftlern gerne zitierte Filme wie Paul Wegeners Der Golem – Wie er in die Welt kam (1921) zurückblicken, der die Leuchtschrift auf dem Atem sichtbar werden lässt.17 Doch wir haben es hier – trotz der fesselnden Qualität der visuellen Eindrücke, der Ästhetik der Bilder, der Schönheit der schlanken, leicht geschlungenen Schriftzüge, des Spiels von bewegtem Feuer und Licht – mit einem blasphemischen Schöpfungsbericht zutun: die gesprochene Sprache, personifiziert durch die Stimme des Sprechers, verheißt nichts Gutes, kündigt den Zuhörern Gefahr und Destruktion an – denn sie nennt den Namen ‚Mordor‘ – Tolkiens Inbegriff des Bösen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Peter Jackson in seinem ersten Werbefilm (Kinoteaser) als eine der frühen entscheidenden Impressionen Schriftbilder zeigt und vor den Augen der Zuschauer die Inschrift des Rings zum emphatischen Eingangstableau aufrollt. Hat es der Regisseur doch, wie bereits erwähnt wurde, bei der anvisierten Literaturverfilmung mit den „Hütern der heiligen Schrift“ zu tun, mit einer aufmerksamen Fan-Gemeinde, die auf ‚Treue‘ zum Original bedacht, die Dreharbeiten im abgeschiedenen Neuseeland mit Skepsis beobachtete. Der Trailer erkundet die Idee der medialen Transformationen auf der Ebene sinnlich-konkreter Bildprozesse in einem interessanten Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Verhüllung und Entzifferung der Schriftzeichen. Er zeigt im Anschluss an die Eingangssequenz mit dem Ring wechselnde Bilder von der Reise 16 Vgl. Johannes 1,1-5: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ 17 Vgl. Joachim Paech: Der Schatten der Schrift auf dem Bild. In: Michael Wetzel / Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München: Fink 1994. S. 216. 174

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

der Gefährten, um dann in einen Vorspann oder Abspann zu münden, dessen Text in Anlehnung an die Tolkienschen Schriftzeichen der Twengar-Type entworfen ist.

Abb. 84: http://www.herr-der-ringe-film.de/

Inwieweit die Schrift in Jacksons Verfilmung ein bleibendes Faszinosum bildet, manifestiert sich wirkungsvoll in ihrer Assoziation mit dem zentralen Dingsymbol des Rings, der in Tolkiens Werk das wohl stärkste Symbol der Macht repräsentiert. Zugleich bilden die Buchstaben, die auf der metallenen Oberfläche des Rings erscheinen, die semiotische Verkörperung einer mächtigen, wenn auch gefährlichen und destruktiven Autorität. Es ist nicht zu übersehen, dass der Film auf der Ebene der visuellen Bilder das Medium der Schrift über die (metonymische) Verbindung mit dem Ringsymbol vorerst aufs engste mit den Repräsentationen des Bösen18 und Bedrohlichen assoziiert. Darüber hinaus betont die filmische Perspektive die konkrete Materialität der Schrift, die auf dem Metall nach und nach Gestalt annimmt. Das Feuer und der Prozess des Schmiedens verweisen auf den mythischen Ursprung, die im Dunkeln der Vorgeschichte liegende Entstehung von Ring und Schrift, den Prozess der bedeutungsvollen Einschreibung, der sich symbolisch in einer Sequenz in der Hobbitwohnung im ersten Teil der Filmtrilogie wiederholt, als Gandalf den Ring ins Feuer wirft, um die Schriftzeichen als verborgene Inschrift sichtbar werden zu lassen und die wahre Natur des Rings zu identifizieren. Die Schrift bzw. Inschrift fungiert somit als herausragendes Erkennungsmerkmal, das selbst rätselhaft und magisch erscheint. Während die Schriftzeichen als persönliche Signatur auf einen individuellen Urheber (Sauron) und dessen ‚Handschrift‘

18 Zu Tolkiens Bezeichnungen und Bildern des Bösen und ihrer mythologischen Herkunft vgl. die differenzierte Darstellung von Tom Shippey: Orcs, Wraiths, Whights. Tolkien’s Images of Evil. In: George Clark, Dan Timmons (Hg.): J.R.R. Tolkien and his literary Resonances. Views of Middle-earth. London: Greenwood 2000. S. 181-196. 175

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

bezogen werden können, nehmen sie im mythischen Kontext der Schöpfung zugleich überpersönliche Dimensionen an. Indem der Film den Prozess der Einschreibung in seiner symptomatischen Doppeldeutigkeit von Blasphemie und individueller Kreativität wiederholt, geben sich die Schriftzeichen des Rings als Ausdruck einer kulturellen Prägung zu erkennen, einer Kulturtechnik mit genuin künstlerisch-ästhetischen Qualitäten, auch wenn diese vor der Folie der weiteren Ereignisse des Filmgeschehens eher eine Anti-Kultur, eine ‚Gegenschöpfung‘ und die Anwesenheit von destruktiven Kräfte repräsentiert. Obwohl Jacksons so genannte ‚Realverfilmung‘ des Herr der Ringe-Romans kaum an einer systematischen selbstreflexiven Durchleuchtung der medialen Bedingtheiten von Buch und Film gelegen sein dürfte, wie dies etwa bei Peter Greenaway zu beobachten ist, zeichnet sich bei ihm doch immer wieder eine Aufmerksamkeit auf semiotische Prozesse ab, die im Rahmen eines primär auf spannende Handlung ausgerichteten Abenteuerfilms eher erstaunlich ist.

5.2 Die Rätselschrift von Moria Eine ähnliche Wirkung wie das Eingangstableau des Kino-Trailers haben im Film selbst die silbernen Schriftzüge, die auf dem Eingangstor der Minen von Moria aufleuchten. Auch hier ist das Medium der Schrift an ein Rätsel gekoppelt, ein Geheimnis, von dessen erfolgreicher Lösung das weitere Schicksal der Gefährten abhängt. Die enigmatische Schrift figuriert nicht von ungefähr an einer entscheidenden, handlungsrelevanten Stelle des Filmgeschehens. Denn bevor die Reise durch die Höhlengewölbe von Moria fortgesetzt werden kann, muss erst das wirksame Losungswort gefunden werden, das den Durchgang der Gruppe erlaubt.

Abb. 84: Am Eingangstor von Moria Aus: http://www.elostirion.com/ und http://www.herr-der-ringe-film.de/ 176

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Die Umstände, unter denen den Gefährten der Eintritt durch das Portal gelingt, sind in mehrfacher Hinsicht bezeichnend. Nur bei der adäquaten Beleuchtung, im Licht der Sterne und des Mondes, zeigen sich die Schriftzeichen dem Betrachter. Die glänzenden, augenblickshaft aufblitzenden Schriftzüge verkörpern die Flüchtigkeit der Schrift und verweisen darüber hinaus auf eine weitere symbolische Bedeutungsebene. Als Leuchtschrift stellen sie ein Sinnbild, eine Allegorie des filmischen Mediums selbst dar und bilden somit ein verstecktes autoreflexives Moment, das auf eine längere Tradition selbstreflexiver Inszenierungen des Schreibens mit Lichts im Film zurückblicken kann19. Während die leuchtende Elbenschrift auf dem Eingangsportal zu den unterirdischen Gängen von Moria den Zuschauern den Umstand in Erinnerung ruft, dass die Medialität der filmischen Projektion selbst im Kern ein Lichteffekt ist, bleibt die Präsenz der Schrift in Jacksons Film überwiegend eine mythische. Ihre Gegenwart wird zwar im eindrucksvollen Tableau als ein rätselhaftes Moment inszeniert, beschränkt sich aber bezeichnenderweise auf den Augenblick eines punktuellen Innehaltens der filmischen Handlungssequenzen, ehe sie von der Dynamik der Action-Szenen, Verfolgungsjagden und Kampfsequenzen wieder von der Bildfläche verdrängt wird. Bezeichnend ist ferner der Umstand, dass die Schriftzüge Zeichen einer vergangenen Kultur sind, deren Untergang längst besiegelt ist. Wenn auch die Schrift von den Gelehrten wie Gandalf grundsätzlich noch entziffert werden kann, ist sie doch Bestandteil einer untergegangenen Zwergenkultur, von deren gewaltsamer Zerstörung jene Spuren zeugen, welche die Gefährten nach ihrem Durchgang durch das Eingangstor entdecken. Das wohl eindringlichste visuelle Symbol für die Untergangsvision von Moria bildet nicht zufällig ein verstaubtes Buch, das der Zauberer der Hand eines Zwergenskeletts entnimmt und das den letzten vergeblichen Kampf von Balins Gefolgsleuten gegen die destruktiven Mächte protokolliert. Vor dem Grab Balins liegen verstreute alte Bücher, die Zeugnis von der Zerstörung einer reichen Schriftkultur ablegen. Auf der Ebene der visuellen Bilder und Metaphern inszeniert das Filmgeschehen in den Hallen von Moria eine merkwürdige Verbindung von Schrift, Buch, Destruktion und Tod, die eine fast zwanghafte Eigendynamik entfaltet. So steht die Darstellung der Schriftkultur im Film einmal mehr im Zeichen eines nostalgischen Rückblicks und einer unwiederbringlichen Verlusterfahrung, wie sie auch schon für Jean Jacques Annauds Evokation der mittelalterlichen Bibliothek und der monasti-

19 Vgl. dazu ausführlich: Joachim Paech: Der Schatten der Schrift auf dem Bild. In: Michael Wetzel / Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München: Fink 1994. S. 213-233. 177

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

schen Buchkultur in seiner Verfilmung von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose symptomatisch war.

Abb. 85: Gimli kniet zwischen den Büchern an Balins Grab (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Weniger unheilvoll bzw. der Zerstörung noch nicht anheim gefallen erscheint das Medium des Buchs in einem anderen Kontext des Films – gemeint ist das Tage- und Erinnerungsbuch, in dem Bilbo seine eigene Lebensgeschichte aufschreibt, die mit der Geschichte des Rings eng verzahnt ist. Als Gandalf es in der Hobbitwohnung sieht, mustert er es mit dem nostalgischen Blick auf einen skurrilen Gegenstand bzw. die Tätigkeit eines Sonderlings. In ‚Rivendell‘ ist das Buch von Bilbo wiederum ein exponiertes Objekt der Filmperspektive. Hier steht es als Gegenstand der (persönlichen und historischen) Erinnerung im Zeichen des Abschieds und der bevorstehenden Trennung zwischen Frodo und Bilbo und im Kontext der melancholiegesättigten Atmosphäre ‚Rivendells‘.

Abb. 86: Bilbos Reisetagebuch in Nahaufnahme Aus: Herr der Ringe, DVD extended version 178

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Zugleich vergegenwärtigt es dem Tolkienfan wiederum die enge Bindung des Films an das Buch, die Jackson für seine Produktion insgesamt in Anspruch nimmt, denn Bilbos Buch verkörpert nicht allein die Geschichte des Rings und des Ringträgers in nuce, sondern steht auch für das Drehbuch als integralen Bestandteil des Films, das jene Geschichte (noch einmal) erzählt, bevor es die ‚Leuchtschrift‘ auf der Kinoleinwand wiederholt. Im konkreten Bild des Buchs bündeln sich also verschiedene Bedeutungsebenen, die wie die unterschiedlichen Medien von Film und Text aufeinander bezogen werden und sich wechselseitig durchdringen.

Abb. 87 und 88: DVD Special Edition: Die Kamera nähert sich dem schreibenden Bilbo (AUS: DIE GEFÄHRTEN)

Interessanterweise ist die Darstellung Bilbos als Buchgelehrter und Schreiber auf der „extended version“ der DVD bzw. im „Director’s cut“ gegenüber der Kinofassung entscheidend erweitert und ausgebaut. Entsprechend ist auch die Optik des DVD-Menüs den aufgeblätterten Buchseiten mit alten Schriftzeichen angepasst. Auch hier lässt sich also eine

179

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

gesuchte und intendierte Nähe des neuen Speichermediums zur Buchvorlage beobachten, die durch die altertümliche und bibliophile Stilisierung untermalt wird.

Abb. 89 und 90: Menü der Extended DVD von THE TWO TOWERS AUS: DVD THE TWO TOWERS, EXTENDED VERSION

In der erweiterten DVD-Fassung finden sich eine Reihe von Schrift- und Buchmotiven, die im Roman allenfalls angedeutet, aber nicht explizit dargestellt sind. Zu erwähnen wäre zum Beispiel das Bannschreiben, das König Theoden in THE TWO TOWERS unterzeichnet, als Schlangenzunge es ihm überreicht, um damit Eomer aus Edoras zu verbannen.

180

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 91: Grima zeigt Éomer die offizielle Bannschrift von König Théoden, die der König im Dilirium unterschrieben hat (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Es gibt weitere ähnliche Szenen, die verdeutlichen, inwiefern die Inszenierung von Schrift und Schriftlektüren sowie das Medium des Buchs einen roten Faden bilden, der leitmotivisch die Ringtrilogie durchzieht. In diesem Zusammenhang wäre die lesende Arwen in Rivendell ebenso zu nennen wie das elbische Buch, das über den Pfad der Toten Auskunft gibt.

Abb. 92: Arwen liest Abb. 93: Ein elbisches Buch vom Pfad der Toten (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Obgleich die filminternen Referenzen auf die Buchkultur und das Medium der Schrift quantitativ – gemessen an der beachtlichen mehrstündigen Dauer jedes Teils der Film-Trilogie – als eher gering einzustufen sind, wird doch ersichtlich, inwiefern den Schriftzitaten und den Verweisen auf das Buch eine strukturierende Funktion zukommt, die sich in der motivischen oder thematischen Bedeutung keineswegs erschöpft. Es handelt sich vielmehr um eine neuere Variante des intermedialen Spiels mit der Differenz von Schrift und Film. Der spezifische Umgang mit dem Medi181

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

um der Schrift und des Buchs in Jacksons Tolkien-Verfilmung gibt dabei eine aufschlussreiche Tendenz zu erkennen, das ältere Medium zugleich zu fokussieren und zu exponieren, indem es bevorzugt an entscheidenden Höhepunkten oder unmittelbar bevorstehenden Krisenmomenten des Handlungsgeschehens eingesetzt wird, um es schließlich doch wiederum zu marginalisieren und in den Bereich des unwiderruflich Vergangenen zu verdrängen, mit dem die aktionsreiche Gegenwart des Films kontrastiert. Deshalb erreichen die diversen Schriftzitate in Jacksons Verfilmung der Gefährten kaum jene die kinematographische Illusion nachhaltig unterlaufende Differenzqualität, die Joachim Paech als ein generelles, selbst in Hollywood-Filmen greifbares wirkungsästhetisches Merkmal von ‚Schriftbildern‘ im Film postuliert hat.20

5.3 Die Sprachen des Fantastischen – Mythische Sprachenvielfalt in ‚Mittelerde‘ „I am a philologist, and all my work is philological.“ „The remark about philology was intended to allude to what is I think a primary fact about my work, that it is all of a piece, and fundamentally linguistic in inspiration... The invention of languages is the foundation. The stories were made rather to provide a world for the languages than the reverse. To me a name comes first and the story follows.“ (J.R.R. Tolkien, 1955)21 Die Sprache bildet zweifellos die Keimzelle von Tolkiens fantastischem Universum und mythologischem Kosmos.22 Ihr kommt innerhalb der Werkgenese des Romanciers und Oxford-Professors eine herausragende Funktion und ein eigentümliches kreatives Potential zu, ohne die die Entstehung und Ausarbeitung des Herrn der Ringe undenkbar gewesen wären. Diese Feststellung bezieht sich weniger auf die stilistischen Eigen20 Vgl. Paech: Der Schatten der Schrift auf dem Bild, S. 224. 21 Zit. nach: Tom Shippey: J.R.R. Tolkien. Author of the Century. London: HarperCollins Publishers 2000. S. xiii. 22 Vgl. dazu auch die aufschlussreichen Überlegungen von Humphrey Carpenter im dritten Kapitel seiner sehr lesenswerten, werkgenetisch orientierten Tolkien-Biographie, das bezeichnenderweise den Titel „He had been inside the language“ trägt. Vgl. Carpenter: J.R.R. Tolkien. A Biography. London: Allan and Unwin 1977. S. 135-146. Vgl. ferner die philosophisch orientierte Studie von Verylyn Flieger: Splintered Light. Logos and Language in Tolkien’s World. Michigan: Eerdmans 1983. 182

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

heiten des Werks und die sprachliche Sensibilität des Autors, die ebenfalls Beachtung verdienen, als vielmehr auf einen besonderen Umstand des Tolkienschen Schaffensprozesses. Die Erfindung einer eigenen, dem Finnischen ähnelnden Sprache (des so genannten ‚Quenya‘) ist nämlich für Tolkien das Primäre, der eigentliche Auslöser und die Antriebsfeder seines literarischen und mythologischen Schaffens gewesen, das erst über diverse Umwege und Vorstufen in den Entwurf des Herrn der Ringe einmündete. Der Entwurf einer eigenen Sprache mit ihrer spezifischen Grammatik, ihrem phonetischen System und ihren Varianten, der noch in seine Studienzeit in Oxford zurückreicht, brachte Tolkien auf die Idee, es müsse Völker geben, die jene erfundene Sprache sprechen und über eigene literarische und mythologische Traditionen verfügen. Dies wiederum gab Tolkien den Anlass, entsprechende mythologische Geschichten zu erfinden und im Book of Lost Tales festzuhalten, Erzählungen, die in abgewandelter Form in das postum erschienene Silmarillion (die mythische Vorgeschichte zu The Lord of the Rings) eingeflossen sind. Insofern die Sprache die Keimzelle von Tolkiens Mythopoetik und Romangenese darstellt, lohnt es sich zu fragen, welcher Stellenwert Sprache(n) und dem sprachlichen Ausdrucksvermögen in der TolkienVerfilmung von Peter Jackson zukommen. Die besondere Aufmerksamkeit des Regisseurs und seines Mitarbeiter-Teams auf die Sprache findet bereits Ausdruck im Casting, da einige Schauspieler unter den Hauptdarstellern vom (Sprech)Theater herkommen. Ian Mckellen hat sich als Darsteller großer Shakespearescher Rollen bei der Royal Shakespeare Company, anderen renommierten Theatern sowie im Film (Richard III) bewährt, während Bilbo-Darsteller Ian Holm schon einmal die Rolle eines Hobbits (Frodo) in der berühmten, von Brian Sibley geleiteten BBCHörspielversion des Herrn der Ringe übernommen hatte. Die Sprache spielt nun in Tolkiens Roman nicht allein in werkgenetischer Hinsicht, sondern auch auf der semantischen Ebene des Textes eine besondere Rolle, handelt es sich doch im Falle des Herrn der Ringe nicht um das Werk eines freiberuflichen Schriftstellers, sondern um die literarische Produktion eines Linguisten und Sprachhistorikers, der auf das Altenglische und die altnordische Sprache spezialisiert war. Die eigentümliche Faszination von Tolkiens Werken beruht nicht allein auf der Erfindung eines eigenen phantastischen Universums, das von unterschiedlichen mythologischen Wesen wie Hobbits, Elfen, Zwergen und Zauberern bevölkert wird. Darüber hinaus hat Tolkien seine wissenschaftliche Sprachkenntnis dazu genutzt, den Fabelwesen seines Oeuvre in minutiöser Konstruktionsarbeit vollständige Sprachen mit den zugehö-

183

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

rigen Grammatiken und Ausspracheregeln zu erschaffen,23 die wir in den (teilweise erst aus dem Nachlass publizierten) Konvoluten der Vorarbeiten zum Herrn der Ringe finden.24 Jacksons enge Anlehnung an die mythologischen Aspekte von Tolkiens Werk wird besonders darin ersichtlich, dass er die genannten sprachlichen Aspekte in seiner Filmtrilogie berücksichtigt und – zumindest partiell – zu integrieren versucht. Im Film sprechen einige Figuren wie Arwen und Aragorn tatsächlich Tolkiens Elbisch;25 zum besseren Verständnis für die Nicht-Elben und die Laien im Publikum werden in den entsprechenden Partien englische Untertitel eingeblendet. Die elbischen Dialoge erfordern eine spezielle Schulung der Schauspieler, für die 23 Die in der Sprache reflektierte Vielfalt und Variation der Tolkienschen Sagenwelt zeichnet sich mit besonderer Deutlichkeit ab, wenn man seine Werke mit den Harry Potter-Romanen von J. K. Rowling vergleicht, die sich zwar grundsätzlich auch in einem magischen Universum abspielen, aber dennoch kaum die mythische Reichweite von Tolkiens Oeuvre anstreben. Ein solcher Vergleich bietet sich nicht zuletzt deshalb an, weil die Verfilmungen beider Werke im Dezember 2000 fast zeitgleich in die Kinos kommen werden: “J.K. Rowling’s magical universe is jokier, less primal than Tolkien’s Middle Earth, which melds the stern landscapes of Finnish and Norse sagas with the green swards of Arthurian Romance and the comfy villages of preindustrial England. Tolkien’s charakters have depths that Rowling’s kindly or malignant cartoons never try for; his sub-Shakespearean grandiosity is irresistible if you check your sense of irony at the door.” (Newsweek) 24 Vgl. dazu auch Carpenter: J.R.R. Tolkien. A Biography. London: Allan and Unwin 1977, besonders das bereits erwähnte Kapitel 3: “He was inside the language.” 25 Die Arwen-Dastellerin Liv Tyler wird darüber in einem Interview des amerikanischen Fachmagazins Flaunt vom 22.03.2001 befragt und gibt erste Auskünfte über die Vorstellungen des Regisseurs und ihre eigene elbische Sprachpraxis: “Tyler is in awe over how Jackson poured excruciatingly over every detail of the mythology surrounding the books, to the point they made the actors learn a new language spoken by its charactersElvish. “It’s an amazing thing, really,” she gushes, “It’s a legitimate language. There are only a certain amount of people in the world who can speak it, like Oxford professors and what not. It’s such a beautiful language too, it’s really brilliant.” Asked to speak a few lines, Tyler obliges and though the words pouring out sound like gibberish, she speaks them delicately, fluidly, and it sounds like a gentler version of French done with a crisp New Zealand accent. Tyler translates, “I said, ‘Now my Lord, winter has not yet come. Would you before your time leave your people?’ And the last one I said was, ‘I’ll take him. I’m the fastest rider.’” (http://www.herr-der-ringe-film.de/ und http://www.tolkienonline.com/) 184

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

eigens ein ‚Elvish Language Coach‘ an die Drehorte nach Neuseeland berufen wurde. Gezielte Ausspracheübungen mit Spezialisten tragen zu einer genauen Artikulation der Tolkiensprachen bei und helfen Details zu klären, wie etwa die Frage, auf welcher Silbe der elbischen Wörter jeweils die richtige Betonung liege. Die multilinguale Dimension des Herrn der Ringe führt gelegentlich zu einer Art babylonischer Sprachverwirrung, und es ist kaum verwunderlich, dass hin und wieder während der Dreharbeiten seitens der Experten kurzfristige Änderungen in der Aussprache einzelner Worte wie z.B. ‚Palantir‘ vorgenommen werden. Schauspieler McKellen berichtet ausführlich über das linguistische Training: “For instance, I have to learn a new pronunciation. All this time we have being saying ‘palanTIR’ instead of the Old English stress on the first syllable. Just as the word was about to be committed to the soundtrack, a correction came from Andrew Jack the Dialect Coach; he taught me a Norfolk accent for Restoration, and for LOTR he supervises accents, languages and all things vocal. Palantir, being strictly of elvish origin should follow Tolkien's rule that the syllable before a double consonant should be stressed – ‘paLANTir’ making a sound which is close to ‘lantern’.”26 Manche Filmszenen werden sogar mehrmals in verschiedenen Sprachen gedreht, wie zum Beispiel die Thronrede Aragorns in Minas Tirith. Wie man von den Dreharbeiten weiß, wurde der Abschnitt in drei verschiedenen Varianten aufgenommen, einmal soll Viggo Mortensen Englisch gesprochen haben, dann die Elbensprache, und schließlich denselben Wortlaut in Elbisch gesungen haben.27 Der Regisseur wollte sich anscheinend zunächst die Entscheidung noch offenhalten, wieviel Elbisch er seinem Publikum im letzten Teil der Filmtrilogie (in einer fortgeschrittenen Adaptionsphase des Romanwerks) zumuten konnte. Die fremde Sprache markiert jedenfalls, soviel lässt sich ersehen, einen merklichen Aspekt des Anderen, und hebt die irreduzible Alterität der Phantasiewesen hervor. Die elbischen Sätze rufen dem Rezipienten die während des spannenden Handlungsverlaufs vorübergehend verdrängte Tatsache wieder ins Bewusstsein, dass es sich bei Tolkiens Werk bzw. dessen filmischer Umsetzung um ein imaginäres Konstrukt handelt, das keinerlei reales Korrelat in der empirischen Alltagswelt hat. Daraus ergibt sich nicht allein eine Unterbrechung der unmittelbaren Beobachtung, sondern auch eine momentane Distanzierung von dem mythischen Personal, mittels deren die Identifikation der Zuschauer mit den handelnden Figuren punktuell durchkreuzt, wenn nicht aufgehoben wird. Jackson scheint sich 26 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/jour nal. htm 27 Vgl. http://www.herr-der-ringe-film.de/ 185

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

eines solchen potentiellen ‚Verfremdungseffekts‘ der elbischen Sätze bewusst gewesen zu sein und hat daher – jedenfalls im ersten Teil der Trilogie – das Risiko vermieden, seinen Zuschauern mehr als einige Sätze zuzumuten. Da im Film die englische Sprache gegenüber den Tolkienschen Erfindungen überwiegt, musste nach weiteren Möglichkeiten gesucht werden, die sprachliche Vielfalt der Bewohner von Mittelerde dem Kinopublikum zu vermitteln. Dazu sollte die Verwendung von verschiedenen Dialekte und Varianten des heutigen Englisch entscheidend beitragen. Während die Hobbits, ihrem ländlichen Charakter gemäß, einen typischen Gloucestershire Dialect sprechen sollten, war für die Elben ein irischer Akzent, für die meisten Menschen wiederum eine amerikanische Aussprache vorgesehen.28 Somit sollte das Filmkonzept auf der Ebene der Sprache ein zentrales Thema von Tolkiens Roman realisieren, das Spannungsverhältnis zwischen der Pluralität und der drohenden Homogenisierung durch den einen Ring, den Widerstand der verschiedenartigen Bewohner von Mittelerde gegen das (eine) Prinzip des Bösen, wie es durch den Kontrahenten Sauron verkörpert wird. So subtil die sprachlichen Vorüberlegungen seitens des Regisseurs und seines Mitarbeiter-Teams auch sein mögen, so lässt sich doch beobachten, dass sie in der tatsächlichen, fertigen Filmversion der Gefährten letztlich einer weitgehenden Homogenisierung der Aussprache gewichen sind, in der die dialektalen Varietäten kaum prominent sind – wie schon im Blick auf den Umgang mit dem Elbischen scheinen hier die ursprünglich komplexeren und ambitionierten Pläne pragmatischen Erwägungen zum Opfer gefallen zu sein, da der Regisseurs seine Entscheidung zugunsten einer leichteren Aufnahme des Films durch ein internationales Filmpublikum getroffen hat.

28 Vgl. Herr der Ringe, Filmtrilogie, Frequently Asked Questions in Zusammenarbeit zwischen Deutsche Tolkien Gesellschaft e.V., 28. Januar 2000, http://www.tolkiengesellschaft.de, http://www.Herr-der-Ringe-Film.de: „Wird es Englische und Amerikanische Akzente geben? Jede Rasse im HdR-Film wird ihren eigenen Dialekt haben. Hobbits werden einen Yorkshire Country Dialekt sprechen, Zwerge einen Cockney Dialekt, die Elben werden einen Irischen Dialekt sprechen und die Zauberer einen sehr klaren Stil wie bei der BBC. Die meisten Menschen werden einen amerikanischen Akzent haben. Sprechen die Elben ihre Sprachen? Gibt’s dann Untertitel? Was ist mit der dunklen Sprache der Orks? Es wird tatsächlich solche Fremdsprachen geben. Es wurde ein Spezialist für Elbisch nach Neuseeland gebracht, der die Sprache ähnlich wie Tolkien, fließend beherrscht. Dialoge in solchen Sprachen werden untertitelt.“ 186

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Schrift und Sprache haben im Film, wie die angeführten Beispiele belegen, eine durchaus nicht zu unterschätzende Funktion, was die Differenzierung der Charaktere und die Plausibilität der Gespräche angeht. Ihre Rolle ist aber auch wiederum begrenzt, da das Tempo des Abenteuerfilms eine Konzentration auf die Sprache kaum zulässt und schnelle Handlungssequenzen wie die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Ringgeistern, Orcs und Trollen das Filmgeschehen dominieren. Die Tendenz zur Privilegierung von rasanten Bewegungsabläufen und nonverbaler Handlung spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass weite Teile der Tolkienschen Dialoge und Figurenrede den Kriterien des Action-Films zum Opfer gefallen sind.29 Dieses Defizit wiegt um so schwerer, als Tolkiens Vorlage durchaus dramatischen Charakter trägt, wie sich an den recht umfangreichen Dialogpartien im Herrn der Ringe ablesen lässt, und die Möglichkeit, Passagen fast wörtlich ins Drehbuch zu übernehmen, dadurch zweifellos erleichtert wird. Nicht zufällig hat es in den 1980er Jahren bereits eine Hörspielversion der BBC gegeben,30 die die ganze Romantrilogie umfasste. Der Film lässt dem Betrachter indes keine Zeit, auf szenischen Dialogführungen oder kontroversen Argumentationen zu verweilen, sondern muss aufgrund des beschleunigten Tempos immer wieder erhebliche Reduktionen von Komplexität vornehmen. Dieser Sachverhalt lässt sich beispielhaft an der filmischen Umsetzung der zentralen Auseinandersetzung zwischen den Zauberern Gandalf und Saruman im ersten Buch der Tolkienschen Trilogie ablesen, die das Risiko des Rings als Machtinstrument und die Gefahren seines Gebrauchs thematisiert. Sie gehört zweifellos zu den Höhepunkten des Buchs, insofern sie Tolkiens dramatisches und dramaturgisches Talent unter Beweis stellt, wohingegen sie im Film im wesentlichen als spektakuläre Actionszene gestaltet ist. Statt ihre Argumente für und wider den Gebrauch des Rings als mächtiger Zauberwaffe gegen den Feind Sauron im einzelnen vorzubringen, werden 29 Das von Regisseur Peter Jackson, seiner Frau, Frances Walsh und Philippa Boyens gemeinsam verfasste Drehbuch ist nach den Selbstaussagen der Verfasser teilweise eng an Tolkiens Original orientiert, insbesondere, was die Dialoge angeht. Auf der anderen Seite wurden einzelne Dialogpartien nicht in voller Länge übernommen Die Kürzungen sind bis zu einem gewissen Grad verständlich, da sie dem Zweck dienen, eine dem Medium des Films unangemessene, zu langatmige Struktur einzelner Szenen zu vermeiden; dies betrifft insbesondere längere Erzählungen einzelner Figuren. Durch die starke Kürzung ergibt sich in den Gesprächen bzw. Dialogen allerdings auch ein erheblicher Verlust an argumentativer Differenziertheit. 30 Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001. 187

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

die beiden Kontrahenten sehr bald in einen handgreiflichen Zweikampf verwickelt, in dessen Verlauf Gandalf an die Decke und die Wände des Turms Orthanc geschleudert wird.

Abb. 94: Der Zweikampf der Zauberer (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Es mag noch einleuchten, dass die genannte Episode im Film anders als im Buch nicht als erzählter Rückblick, den Gandalf in Elronds Rat vorträgt, umgesetzt werden konnte und dass eine Verschiebung der Szene an eine frühere Stelle des Films nötig war, um sie als aktuelles, unmittelbares, statt als erinnertes Geschehen zu präsentieren und somit eine zu hohe erzählerische Komplexität31 zu vermeiden. Schwerwiegender erscheinen demgegenüber die drastischen Kürzungen von Gandalfs Bericht, der sich im Buch über Seiten erstreckt und die Rolle des Zauberers als weiser Ratgeber in Elronds Rat untermauert. Was ein Schauspieler diesbezüglich von den Dreharbeiten berichtet, darf als symptomatisch für die tiefgreifenden Kürzungen im verbalen Ausdruck gelten: “In the book, Gandalf talks for pages about his confrontation with Saruman, but in the film, where this episode is seen as it happens, he is mostly silent at the Council.”32 Die Kürzungen der Figurenrede bringen, wie an dem genannten Beispiel evident wird, merkliche Veränderungen in der Interpretation einzelner Charaktere mit sich, denn Gandalfs Autorität auf der Versammlung und seine entscheidende Funktion als erfahrener Ratgeber werden angesichts der genannten Modifikationen und der Verschiebung in der Chronologie der Darstellung merklich eingeschränkt. 31 Tom Shippey betont zu Recht die außergewöhnlich subtile und aufwendige Erzählstruktur des Kapitels „The Council of Elrond“: „Tolkien ... succesfully presented an immensely complex pattern of narrative ‘interlace’ – which works, like the best narrative strategies – even on those unconscious of it, but which nevertheless deserves proper appreciation.“ (Tolkien. Author of the Century. London: HarperCollins Publishers 2000. S. xxix). 32 Notes from Ian McKellen, 28 November 2000: http://www.mckellen.com/ cinema /lotr/journal.htm (15.12.2001). 188

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Überhaupt geht ein wichtiges gedankliches und diskursives Potential des Werks durch die Streichung von Redeanteilen und Dialogpartien verloren, denn die philosophischen, ethischen und handlungsstrategischen Debatten um den angemessenen Umgang mit dem gefährlichen Ring müssen (in der Optik des Regisseurs) knapp gehalten werden oder in anschauliche Handlungen umgesetzt werden, wie z.B. Gimlis Versuch, den Ring in Elronds Rat mit seiner gigantischen Axt zu zerschlagen – an diesem Beispiel lässt sich kritisch nachvollziehen, wie spektakuläre Aktionen im Filmgeschehen oft die Ebene der Argumente ersetzen und eben jenen Bereich der gelehrten Auseinandersetzung verdrängen, der im Tolkienschen Text zentral ist. Nicht weniger wichtig als die Rolle der Sprache(n) ist die Wahl der geeigneten Drehorte und die künstlerische Gestaltung der fiktiven Räume, in denen sich die Schauspieler bewegen und sich das mythische Handlungsgeschehen abspielen soll. Die Entscheidung für Neuseeland als Drehort trägt dem mythisch entlegenen Charakter von Tolkiens Handlungsraum Middle-Earth Rechnung, denn es stellt mit seinen Nationalparks und urtümlich wirkenden Landschaften einen von der Zivilisation abgeschiedenen, gleichsam naturbelassenen Raum bereit, ein Szenario, das der geschlossenen fiktiven Welt der Tolkienschen Figuren, die gleichsam einen mythischen Kosmos für sich bildet, in hohem Maße zu entsprechen scheint. Neben der sorgfältigen Auswahl von natürlichen Filmkulissen bezeugt auch das artistische Design der (künstlichen) Kulissenentwürfe einen Primat der Visualität, wie er für das Filmkonzept Peter Jacksons insgesamt typisch ist. Es ist kein Zufall, dass Jackson keinen Aufwand und keine Mühe gescheut hat, die jeweils angemessene Umgebung für die einzelnen Romanepisoden bereit zu stellen und sich bei der Auswahl wiederum eng an den Vorstellungen der Tolkien-Leser zu orientieren. Zunächst musste dieses Unterfangen als eine unlösbare Aufgabe erscheinen, denn obwohl die fantastischen Landschaftsbeschreibungen in Tolkiens Werk einen breiten Raum einnehmen, sich durch einen Reichtum an plastischen Details auszeichnen und atmosphärisch unverzichtbar sind, lassen sie sich kaum als präzise Anleitungen für das Design von Filmkulissen lesen. Jede individuelle Lektüre scheint andere, je eigene Landschaftsbilder hervorzubringen, die unter einander nicht zur Deckung zu bringen sind. Die optische Realisation der imaginären Landschaftsbilder mit ihren visionären und fantastischen Qualitäten, wie sie bei der stillen Lektüre durch die Vorstellungskraft des Lesers optimal visualisiert werden können, bildete daher sicher eine der zentralen Herausforderungen, denen Jacksons Filmprojekt begegnete.

189

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

5.4 Filmbilder und Buchillustrationen, Bildzitate und historische Kunststile Es ist bezeichnend für Jacksons umsichtige Vorgehensweise, dass er für den Entwurf der Filmkulissen wiederum auf einen integralen Bestandteil des Buchs, nämlich auf das spezifische Medium der Buchillustration zurückgriff, um sich so zugleich an Text-Bild-Strukturen zu orientieren, die in der Erinnerung vieler Leser bereits existierten, wenn nicht gar eine privilegierte Position einnahmen. Mit Alan Lee konnte Jackson einen angesehenen Tolkien-Maler für sein Filmprojekt gewinnen, der die schon kanonisch gewordenen Illustrationen der berühmten, luxuriös ausgestatteten Harper Collins Edition gestaltet hat. Lees Aquarelle zeichnen sich durch eine Dominanz von Pastellfarben und weiche Konturen aus, die geeignet sind, die Fantasie der Betrachter anzuregen, ohne sie auf allzu präzise realistische Details festzulegen. Der Kunststil der Gemälde wirkt spätromantisch, während die Farbgebung impressionistisch-suggestiv erscheint, ohne dabei avantgardistische Ambitionen zu artikulieren. Alan Lees Illustrationen erfreuen sich bei den Tolkienlesern aufgrund der erwähnten Qualitäten einer großen Beliebtheit, zumal ihre besondere Ausstrahlung, wie häufig betont wird, der melancholischen Grundstimmung des Tolkienschen Oeuvres korrespondiert und daher insgesamt als besonders passend empfunden wurde. Insofern die Leeschen Bilder in ihrer Funktion als Buch-Illustrationen den individuellen Lektürevorgang begleiten, erweisen sie sich als ein textnahes Medium; zugleich handelt es sich um markierte Momente der visuellen Wahrnehmung, die über den Text als solchen hinausgehen, eigene interpretierende Akzente setzen und die Lektüre ergänzen. Geht man davon aus, dass sich die Leeschen Illustrationen über die Wahrnehmung und Erinnerung im Bewusstsein der Tolkien-Leser fest verankert und auf diese Weise in das kulturellen Bildgedächtnis Eingang gefunden haben, so scheinen sie in hohem Maße geeignet, zwischen dem Buch und dem Film zu vermitteln. Denn die Buchillustrationen, mit denen Lee die inzwischen klassisch gewordenen Editionen von Tolkiens Schriften ausgestattet hat, sind inzwischen selbst zum festen Bestandteil der Werküberlieferung geworden.33 Der Rückgriff auf Buchillustrationen und Gemälde von angesehenen Malern, die sich einer großen allgemeinen Akzeptanz im Leserkreis erfreuen, erweist sich insofern als geschickter Schachzug von Peter Jackson. Neben Lees Bildern sind in diesem Zusammenhang auch die Werke John Howes zu nennen, dessen Illustrationen den jährlichen Tolkienka-

33 Das belegt nicht zuletzt ihre auffallende Präsenz im Filmbuch. 190

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

lender schmücken, der bei den Fans Kultstatus genießt und ebenso wie die Bilder Alan Lees auf zahlreichen Websites im Internet zu finden ist.34

Abb. 95 und 96: Alan Lee: Rivendell und Ruined City35

Es gehört sicherlich zu den genialsten Kunstgriffen des Regisseurs, die beiden bewährten ‚Tolkienmaler‘ Lee und Howe als künstlerische Berater (artistic advisors) gewählt zu haben, denen unter anderem die Aufgabe zukam, das Design der diversen Sets und die Requisiten zu entwerfen. Selbst zum integralen Teil des Tolkienkults avanciert, kommt den Gemälden der genannten Künstler ein zentraler Stellenwert in der Rezeptionsgeschichte der Romane sowie eine Schlüsselfunktion bei der Abstimmung des Filmprojekts auf die Publikumserwartungen zu. Das außerordentliche Vertrauen der ‚Fangemeinde‘ auf die Kompetenz der beiden Maler zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es in den Medien – im Gegensatz zu einer heißen Debatte um die Besetzungsliste – kaum Kontro-

34 Vgl. Anmerkung 34. Siehe auch die im Aufbau befindliche offizielle Website des Künstlers: http://www.alan-lee.com/ 35 Quellen: Bildergalerien von Alan Lee im Internet: http://fan.theonering.net/middleearthtours/lee1.html (1.3.2010) http://home.arcor.de/franz.fie/galerie/lee_alan/lee_art.html 191

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

versen und Mutmaßungen über die jeweilige ästhetische Gestaltung der einzelnen Drehorte gegeben hat.36 Betrachtet man den Rückgriff auf die Bildillustrationen und Gemälde als Vorbilder für die Filmbilder genauer, so wird deutlich, dass es sich dabei um einen komplexen medialen Adaptionsprozess handelt. Denn die Gemälde und Illustrationen fungieren ja im Film nicht einfach als zweidimensionale Bildzitate, sondern als architektonische Räume und mehrdimensionale plastische Gebilde. Es bedarf also bereits eines ersten medialen Transpositionsprozesses, um sie in dreidimensionale Raumgestalten zu übertragen, ehe sie dann in den Film integriert und durch eine entsprechende Kameraführung vor den Augen der Zuschauer schrittweise enthüllt und erfahrbar gemacht werden. Dabei gelangen die optische Bildwahrnehmung und die Bilderinnerungen über den Umweg architektonischer Räume in den Film und können dadurch von den Zuschauern in anderer medialer Gestalt – als Raumerlebnis – wiedererkannt und identifiziert werden. Der Überraschungseffekt und das ästhetische Vergnügen am wiedererkannten Bildeindruck gehen Hand in Hand und ergänzen einander. Für die meisten Filmsets wurden nach den Entwürfen der Künstler zwei Varianten hergestellt, je eines in ‚Lebensgröße‘ und ein Miniaturmodell von sechs bis zehn Meter Größe, das für Gesamtaufnahmen aus der Entfernung und Darstellungen aus der Vogelperspektive genutzt wurde.

Abb. 97: Alan Lee: Minas Tirith Abb. 98: Filmkulisse Minas Tirith (http://www.herr-der-ringe-film.de/) 36 “The Lord of the Rings fan sites have been chatting about the characters’ onscreen appearances for months. There has been less speculation about the look of the places they travel to, perhaps because, with Alan Lee as artistic advisor, it’s assumed that Rivendell, Edoras and Minas Tirith will reflect his haunting watercolours in the Harper Collins' illustrated editions.” (Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm) 192

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 99: Minas Tirith – das sechs Meter hohe Modell (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Abb. 100: Richard Taylor in Bruchtal (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Alan Lees und John Howes Entwürfe sind dabei nicht nur als pittoresker Hintergrund oder atmosphärische Grundierung der Verfilmung gedacht, vielmehr lässt sich bei genauerer Betrachtung erkennen, dass der intermediale Bezug zur bildenden Kunst in Jacksons Programm ein konstitutives, unverzichtbares Moment darstellt, das der filmischen Adaption von Tolkiens Trilogie eine besondere ästhetische Qualität verleiht. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass das gemalte Bild, die Buchillustration, zum Leitmedium für den Film avanciert. Wir haben es mit einer Ästhetik der Intermedialität zu tun, die sich wie schon bei Peter Greenaway nicht nur an der Schrift orientiert, sondern sich darüber hinaus in einer engen Beziehung zur Malerei entfaltet. Die malerischen Momente der Kulissen und die wirkungsmächtige Präsenz der Bildzitate unterstreichen das Irreale und Phantastische der filmischen Tolkienwelt; sie verleihen dem Filmgeschehen eine spezifische ästhetische Differenz, die es von der Alltagsrealität deutlich abhebt. Die bewusst gesuchte, enge Film-BildBeziehung erlaubt es dem Regisseur, die repräsentierten Orte als imaginäre Räume jenseits der vertrauten empirischen Erfahrung zu konturieren. Der Beobachter glaubt, wie einer der Schauspieler von seinen ersten 193

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Eindrücken vom Set berichtet, in ein riesiges Gemälde zu treten: “When I first walked into Rivendell, I gasped. It was like being inside a huge, three-dimensional Lee painting; the sort of thrill that movie theme parks aim for.”37

Abb. 101 und 102: Rivendell, Set (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Anders als bei Peter Greenaway bewirkt das intermediale Spiel mit Kunstzitaten und verschiedensten Bildelementen im Herr der RingeProjekt indes keine bewusste künstlerische Selbstreflexion, bei der die Rezipienten vom Handlungsgeschehen distanziert und auf die besonderen Eigenschaften der in den Blick genommenen Medien aufmerksam würden. Die Verweise auf andere Medien und Künste produziert hier wohl keine intentionale Beobachtung höherer Ordnung, sondern dient durchaus der Genese von illusionistischen Landschaften mit gelegentlichen surrealen Effekten und der Erzeugung diverser ästhetischer Illusionen. Obwohl im Rezipienten verschiedene Wahrnehmungsformen angesprochen werden, wie etwa die kontemplativ verweilende Bildbetrachtung und die dynamischere Beobachtung von typischen Actionszenen, führt dies nicht zu Brüchen und Dissonanzen, die das unmittelbare Erleben stören bzw. gezielt unterbrechen. Statt dessen versuchen die Cinematographen und die Techniker von Weta bei der späteren Bearbeitung des gedrehten Materials gerade, harte Übergänge und Reibungen zwischen

37 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm. 194

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

den verschiedenartigen Medienzitaten aus Schrift, Malerei und Computersimulationen zu vermeiden und deren Konturen gleichsam unmerklich ineinander übergleiten zu lassen. Das vorrangige Bemühen um einen möglichst reibungslosen Ablauf des Filmgeschehens schränkt die bewusste bzw. modellierte mediale Selbstreflexion von vornherein ein und lässt ‚avantgardistische‘ Ambitionen bzw. eine markierte mediale Autoreflexivität im Sinne Greenaways gar nicht erst aufkommen. Interessant bleibt indes die Wahl der Buchillustration als vermittelndes Medium zwischen Literatur und filmischer Adaption. Die Bebilderungen des Romans bieten einen buchnahen Typ von Visualität, der in den Zuschauern des Films Erinnerungen an die eigene Textlektüre und die textbegleitende Bildbetrachtung weckt, wobei jene narrativ und visuell vermittelten Eindrücke im Rückblick zu einer mehr oder weniger homogenen Erfahrung der Erzählung verschmelzen. Wenn Jacksons Verfilmung immer wieder den Bezug zur bildenden Kunst sucht, sind es nicht allein die technischen und illusionistischen Möglichkeiten des Bildmediums selbst, als vielmehr auch die unterschiedlichen Epochen der neuzeitlichen Kunstgeschichte, die ein breites Zitatenrepertoire und einen geeigneten Anspielungshorizont eröffnen. Die Maler der englischen Romantik haben offensichtlich bei den Entwürfen des Hobbitlandes oder ‚Auenlands‘ (The Shire) Pate gestanden. Ein offizielles Filmfoto zeigt die Hobbitdarsteller in einer idyllischen Hügellandschaft, während im oberen Bildhintergrund ein Pony mit Wagen als malerischer Blickfang figuriert. Die Landschaft und die verschiedenen Bildkomponenten erinnern an die Gemälde des berühmten englischen Romantikers John Constable. Ähnlich verhält es sich mit dem Design der Hobbitwohnungen, die in ihrer runden, leicht verniedlichten und zugleich rustikalen Form ebenfalls romantische Bilderinnerungen auslösen.

Abb. 103: Im Auenland – Die Beutelsend-Kulisse (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

195

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 104: John Constable: Flatford Mill, 1817 Abb. 105: John Constable: The White Horse, 181938

Ähnliche romantische Impressionen von ‚Hobbiton‘ vermittelt Ian McKellen, Darsteller des weisen Zauberers Gandalf, in seinem Tagebuch The Grey Book, das er während der Dreharbeiten in Neuseeland (seit Januar 2000) regelmäßig führte und auf seiner Website im Internet publizierte. Das Ambiente, in dem die Film-Hobbits leben, schildert er als ländliche Idylle mit dem Flair rustikaler Gemütlichkeit: „We are on location an hour’s flight north of the Three Foot Six studios in Wellington. The village has weathered nicely since it was built a year back. The flowers have had a chance to settle in and bloom. Nasturtians, sunflowers, daisies and a fieldful of allotments where communal gardening has produced rows of vegetables and fruit. Hobbiton looks itself, settled-in and cosy.“39 Das Ziel des gewählten Designs, das dem Set des Auenlands 38 Quelle der Bilder von John Constable: http://cgfa.sunsite.dk/constabl/index .html 39 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm. 196

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

zugrunde liegt, besteht offenbar darin, eine harmonische, kontemplative Gesamtwahrnehmung zu erzeugen, die der naturnahen bodenständigen Lebensweise der Hobbits entspricht. Mitunter lässt sich vom Standpunkt des Laien kaum entscheiden, welches die natürlichen Bestandteile der neuseeländischen Landschaft sind und welche ‚Requisiten‘ zum artistischen Entwurf der Designer gehören: „It has been tucked in and around the curving farmland, surrounded by green low peaks and gentle valleys. The lone poplars on the horizon look as if placed by the art department but I’m told were not.“40 Eine andere Kunstrichtung als die oben skizzierte romantische Strömung wird hingegen im Falle der eleganteren Behausungen und Wohnräume der Elben herbeizitiert. Derjenige Bereich, der Elrond, dem Nachkommen der Elbenfürsten, zugeordnet wird – Rivendell bzw. Bruchtal genannt – unterscheidet sich nicht allein durch größere Pracht von dem Bezirk der Hobbits, sondern erhält vielmehr durch einen völlig anderen Kunststil, den des Jugendstils und des art nouveau, prägnante Konturen. Der Rückgriff auf verschiedenartige Stile und Epochen der Kunstgeschichte, die dem Filmprojekt insgesamt eine eklektische Gestalt verleihen, dient nicht zuletzt dazu, die unterschiedlichen mythologischen Völker in Tolkiens Werk zu differenzieren und ihnen durch die ästhetischen Details ein je typisches Charakterbild zu verleihen und einem anderen kulturellen Lebensraum zuzuordnen. Die Elben bevorzugen eine Ausstattung im Geiste des Jugendstils, der in den schlanken Säulengänge und Arkaden ihres Wohnsitzes seinen wohl prägnantesten Ausdruck findet. Die Architektur suggeriert dem Betrachter spielerisch fließende Übergänge zwischen Natur und Kunst: “The Elves’ headquarters grew out of the vegetation, slim wooden pillars supporting walkways above open spaces and shaded arcades. The rooms had no outer walls so it wasn’t easy to sense where the buildings gave way to the gardens. One upperlevel gallery had four original Alan Lee landscapes that he had painted especially for his favourite set: and I wondered whose walls they would end up on.”41 Das verspielte Design erstreckt sich auch auf die Gestaltung des Interieurs von Elronds Haus. Hier macht sich einmal mehr Alan Lees Sinn fürs dekorative Detail bemerkbar, denn selbst die Möbel und das verwendete Besteck sind minutiös auf die als ästhetisches Leitbild gewählte

40 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm. (15.12.2001) http://www.herr-der-ringe-film.de/v2/de/archiv/archiv_20311.php (1.3.2010) 41 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/001128 .htm (1.3.2010). 197

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Epoche des Jugendstils abgestimmt.42 Vergoldete vielarmige Kerzenleuchter, schlanke Säle und ornamentale Reliefs imitieren die Kunst des Fin de Siècle und akzentuieren damit zugleich die elegische Haltung und Endzeitstimmung, die sich unter den Elben verbreitet, da viele im Begriff sind, Mittelerde zu verlassen.

Abb. 106: Elrond und seine Tochter Arwen in Rivendell 43

Sieht man von einem ästhetisierenden Überschuss einmal ab, der Lees Elben-Set dem Prinzip des l’art pour l’art annähert, so haben die Entwürfe des Designers insgesamt eine nicht zu übersehende funktionale Dimension. Sie geben nicht allen den unterschiedlichen mythischen Personengruppen ihr jeweiliges soziokulturelles Profil, sondern vermitteln dem Betrachter auch ein gewisses Traditionsbewusstsein. Die recht präzisen Bildzitate verankern die fiktive Welt der Tolkienmythen zugleich in der westeuropäischen Kulturgeschichte, also in demjenigen Horizont, dem sich auch der Autor selbst verpflichtet fühlte und vor dem er sich in seinen Schriften mit ihrem Anklängen an nordische Mythologie vorzugsweise bewegte.44 42 „When Gandalf dined with Elrond, Hugo Weaving and I used custommade elongated silver cutlery and sat on Rennie Mackintosh inspired chairs. Nothing seemed out of place: simply the place was Rivendell. Yet not quite – 10 miles away we had worked on an elven extension to this interior marvel, just off the main road leading north from Wellington. In the forested valley of a park, two months back, there was a Rivendell extension with its main gates and wide shallow stairs fashioned a l'Art Nouveau, airy and sylvan.“ (Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema /lotr /001128.htm) 43 http://www.herr-der-ringe-film.de/ 44 David Gates/ Devin Gordon: One Ring To Lure Them All. Christmas 2001: Tolkien Goes Hollywood. Newsweek. Bei der Darstellung der Völker, die auf der Seite des ,Guten‘ kämpfen hält sich Jackson an Tolkiens 198

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Lees architektonische Arbeit am Set überzeugt im ganzen vor allem durch die gelungene Synthese von Natur und Kultur, die ausgewogene Mischung dekorativer kultureller Artefakte und atmosphärischer Momente, sowie die auffallende Aufmerksamkeit aufs minutiöse Detail wie den herbstlichen Laubfall und das Rauschen eines Wasserfalls: „The largest of the Wellington studios had grown an autumnal forest glade of large fibreglass trunks and tangled canvas roots; a Japanese-style bridge spanned the electrified waterfall splashing into a pool. On the steel catwalk that supports the lights, and effects; a person was ready with a bag of leaves to trickle down during shooting.“45 Eine dritte Stilrichtung kommt im architektonischen Design der von Menschen erbauten und bewohnten Stadt Minas-Tirith zur Geltung. Da Tolkien in seinem Buch erwähnt, Minas-Tirith sei auf sieben Hügeln errichtet, haben sich Lee und Howe (wie schon zuvor in ihren Illustrationen zum zweiten und dritten Buch) in ihren Entwürfen am klassischen römischen Baustil orientiert und hier und da einige klassizistische bzw. gräzisierende Momente einfließen lassen. Wiederum sind es die gewählten Kunst-Zitate und historisierenden Versatzstücke, die einen spezifischen Epochenstil umkreisen.

Abb. 107 und 108: Dreharbeiten in den Straßen von Minas Tirith (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Trotz der Genauigkeit und Akribie des künstlerischen Designs und der sorgfältigen Herstellung der Filmkulissen für Jacksons Trilogie hinterlässt deren Gesamtwirkung ein gewisses Unbehagen auf Seiten des Filmeurozentrische Perspektive: „Die Rohirrim – werden sie mehr als Wikinger oder Indianer oder wie auch immer dargestellt? Man wird sich bei der Darstellung sehr an die Roman-Vorlage halten und versuchen die Beschreibungen 1:1 umzusetzen. Sie werden nach Angaben der Produktionsfirma – nordisch aussehen.“ 45 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm. 199

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

rezipienten. Nach der Rezeption der drei Teile der Filmtrilogie lässt sich der Umstand erkennen, dass das aufwendige Design zumindest partiell den selbst gesetzten Anspruch verfehlt. Es besteht offenbar ein Missverhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und der tatsächlichen Wirkung der Kulissen im Film, das zum Teil aus der Überfülle an dekorativen Details herrührt. Indessen bleibt die Frage, warum Lees Gemälde auf den Betrachter völlig anders wirken als ihre nicht weniger behutsam angefertigten dreidimensionalen Korrelate im Film, weiterhin klärungsbedürftig. Das Unvermögen der Filmkulissen, eine ähnlich suggestive Atmosphäre zu erzeugen wie die Buchillustrationen, ist wohl in erster Linie auf signifikante mediale Unterschiede zwischen Gemälde und Film zurückzuführen, die vor allem in rezeptionsästhetischer Hinsicht wirksam werden. Lees Bilder stimmen den Betrachter auf eine meditative Zugehensweise ein, die Zeit in Anspruch nimmt und eigene kreative Energien des Beobachters freisetzen kann, während das beschleunigte Tempo des Films weder die Zeit lässt noch die Gelegenheit dazu bietet, auf den wahrgenommenen optischen Eindrücken zu verweilen, und eine betrachtende Versenkung des Rezipienten gar nicht erst erlaubt. Statt dessen wird der Filmrezipient durch die Serie dekorativer Augenblickswahrnehmungen mit einer Reizüberflutung konfrontiert, die eine kontemplative Haltung und eine meditative Einstellung, wie sie Alan Lees künstlerischen Produktionen angemessen wäre, nicht zulässt. Im Film fehlen also die Kontemplation, die nötig wäre, um die Bilder angemessen aufzunehmen, und die Konzentration, die Voraussetzung dafür wäre, dass sich die den Bildern eigene Atmosphäre überhaupt entfalten kann. Darin mag der Grund liegen, warum der gewöhnliche Filmrezipient die euphorischen Beschreibungen und die in Interviews aperçuhaft mitgeteilten, atmosphärischen Eindrücke der Schauspieler, die während der langen Phase Dreharbeiten die Filmkulissen mit mehr Muße und über einen längeren Zeitraum auf sich einwirken lassen konnten, kaum nachvollziehen kann. So wirken die detailfreudigen Designs der Schauplätze von Mittelerde im Film trotz einer subtileren Konzeption letztlich doch allenfalls pittoresk und dekorativ, wenn nicht gar überladen. Die melancholische Atmosphäre der fallenden Blätter und der Jugendstilkunst im Haus Elronds wird von dem raschen Tempo, in dem die Handlung dahinfegt, gleichsam weggespült, während die eben geweckte Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die filmischen Einzelheiten unterlaufen wird.

200

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 109: Edoras, Detail Abb. 110: Alan Lee: The Golden Hall (http://www.herr-der-ringe-film.de/) Für die künstlerische Ausgestaltung der Waffen, Kleidung und Gebäude der Reiterkultur von Rohan wurden angelsächsische und keltische Ornamente wie z.B. verschlungene Tierköpfe als Vorlagen gewählt, wie sie vor allem in den Evangelien von Lindisfarne und dem Book of Kells überliefert sind.

Die ‚malerischen‘ Sets und Filmkulissen können ihre Wirkung also insgesamt nur in sehr eingeschränktem Maße entfalten, so beeindruckt sich die Schauspieler bei ihrer Arbeit am Set auch davon zeigen. Deshalb hinterlässt gerade die anspruchsvolle Arbeit der Designer den Eindruck eines eigentümlichen Missverhältnisses, das sich zwischen der künstlerischen Leistung, dem vorhandenen Potential, und der tatsächlichen ästhetischen Wirkung im Film auftut. Das partielle Scheitern der Bildwelten, wie sie im Film evoziert werden, hat neben den medienspezifischen Differenzen zwischen bildender Kunst und Film eine tiefere Ursache in Jacksons programmatischer Entscheidung zugunsten einer so genannten ‚Realverfilmung‘ des Stoffs, in der das Kriterium der ‚historischen Glaubwürdigkeit‘ und ‚Authentizität‘ im Vordergrund steht – was immer man darunter im Falle der Verfilmung eines fantastischen sujets zu verstehen hat. So gehört es zu den vorrangigen selbst benannten Zielen des Regisseurs, „den Herrn der Ringe mit einem früher unvorstellbaren visuellen Realismus auf die Leinwand zu bringen.“46 Mit dem Plädoyer für eine Realverfilmung ist Jackson einerseits um die Abgrenzung von der früheren Zeichentrickversion des Herrn der Ringe (1978, Regie: Ralph Bakshi) bemüht, andererseits spiegelt sich darin ein Anspruch auf Vollständigkeit, der angesichts des monumentalen Umfangs der literarischen Vorlage ein wenig überzogen wirkt; zugleich postuliert Jacksons Projekt einen ‚Realitätsbezug‘ und eine

201

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

vermeintliche Faktizität, die gemessen an dem mythologischen Sujet des Buchs überraschen. Wer den unmittelbaren Realitätsbezug und die Authentizitätsmomente der literarischen Vorlage derart betont, verkennt zudem den hohen Grad an Stilisierung, wie er etwa den Kampfszenen in Tolkiens Werk eigen ist. Stabreim bzw. Alliteration sowie obsolete Wendungen, von denen Tolkien besonders in The Return of the King umfassend Gebrauch macht, schaffen einen ausgeprägten Gegensatz zum herkömmlichen Sprachgebrauch im modernen Englisch. So benutzt Tolkien zahlreiche Inversionen, die nach der angelsächsischen Syntax modelliert sind und deren literarische Qualität sowie ausgeprägter Kunstcharakter insbesondere den englischen Lesern auffallen muss. Ferner zeichnet sich bei Tolkien passagenweise eine merkliche Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch der frühen Neuzeit ab, der von einigen Kritikern wie Harold Bloom kritisch konstatiert wurde.47 Inwieweit die Detailfreudigkeit und die von Jackson beschworene Treue zur literarischen Beschreibung in die Irre führen können, demonstrieren einige aufschlussreiche Notizen des Gandalf-Darstellers McKellen, in denen der Schauspieler nicht ohne einen Anflug von Ironie berichtet, wie man versuchte, Tolkiens Charakterzeichnung des Magiers durch Kostüm und Maske liebevoll und detailgetreu wiederzugeben. Man ließ sich bei der Wahl der passenden Kleidung und des Make-up zunächst von der ausführlichen Beschreibung des Zauberers leiten, die Tolkien in The Hobbit (der Vorgeschichte des Lord of the Rings) entfaltet.48 Der Vorsatz, Tolkiens Schilderung akribisch genau zu beachten, führt jedoch sehr bald zu eigentümlichen Widersprüchen und Absonderlichkeiten. Gandalfs überdimensionaler Bart lässt sich kaum mit seinem dynamischen Charakter und seinen agilen Verhaltensweisen in Einklang brin46 Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch, S. 13. 47 Vgl. Harold Blooms aufschlussreiche Bemerkung: „What justifies the heavy King James Bible influence upon this style?“ (Harold Bloom: Introduction. In: J.R.R.Tolkien’s The Lord of the Rings. Modern Critical Interpretations. Hg. Harold Bloom. Philadelphia 2000. S. 2.) 48 Als zweite Inspirationsquelle für die Filmfigur dient wiederum eine prominente Buchillustration, die der kollektiven Fantasie besonders gut erfassen soll: „Peter Jackson has ensured that Tolkien rules the enterprise. So, in working out Gandalf's appearance we went back to the few terse descriptions in the novel. We agreed that the cover illustration of Gandalf on the Harper Collins complete edition of The Lord of the Rings had captured too much of our collective imaginings to be ignored. John Howe painted it and he has for 18 months been crucial to the ‘conceptual art’ of the movie, along with that other formidably imaginative illustrator, Alan Lee.” Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal.htm (15. Dezember 2001) 202

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

gen, mehr noch: bei den Dreharbeiten, die den Zauberer in Aktion zeigen wollen, erweist er sich sehr bald als sperriges Hindernis. McKellen notiert seine Eindrücke detailliert: „At the first screen test the beard was too long and cumbersome for Gandalf the man of action – he is forever tramping and riding and on the move. I didn’t want a beard which hampered me with a life of its own once the winds blew.“49 Außerdem ruft der künstliche Bart offenbar die falschen literarischen Konnotationen wach und erinnert den Schauspieler an ganz andere Figuren der englischen Literaturgeschichte: „Alien visages stared back at me from the mirror – hirsute offbeats like Shylock, Fagin, and Ben Gunn. Even Rasputin for a moment.“50 Eine allzu wörtliche Umsetzung von Tolkiens Beschreibung erweist sich, wie das Beispiel verdeutlicht, mitunter sogar als kontraproduktiv, wenn der optische Eindruck beim Zuschauer irreführende Assoziationen weckt. So scheinen zum Beispiel auch die buschigen Augenbrauen des Zauberers problematisch, die, wie Tolkien in poetischer Zuspitzung schreibt, bis zum Rand des Zauberhuts reichen und darunter hervorschauen. Die bei einem ersten Anlauf vom Maskenbildner besorgten und aufgeklebten Augenbrauen wirken auf Ian Mckellen und den Regisseur wenig überzeugend: „Peter Jackson suggested a droopier moustache. I suddenly looked like a double for the Beatles’ Maharishi. So the eyebrows, over-faithful to Tolkien’s description, were plucked thinner and shorter. “ Der akribische Versuch, den Zuschauern im Blick auf die Charaktere und Handlungen eine ausgeprägte Realitätsnähe und Plausibilität zu vermitteln, zeigt sich exemplarisch in der minutiösen Rekonstruktion der Größenverhältnisse, die für Tolkiens mythologische Spezies charakteristisch sind. Jackson und seine Techniker haben erstaunliche gedankliche Energien investiert, um die ungewöhnlichen Körpergrößen der Figuren im korrekten Maßstab umzusetzen. Die Darsteller der Hobbits und Zwerge müssen, will man Tolkiens Angaben treu bleiben, kleiner erscheinen als die der Elben, Menschen und Zauberer. Ihre Aufnahmen müssen daher im Rechner im Anschluss an die Dreharbeiten gelegentlich nachträglich verkleinert werden. In einigen Szenen werden – bei Aufnahmen aus größerer Entfernung – zu diesem Zweck auch zwergwüchsige Doubles eingesetzt, die später mit den Nahaufnahmen der Schauspieler kombiniert und zusammengeschnitten werden. McKellen berichtet darüber ausführlich: „Hobbits must appear smaller than the other charac49 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm (15. Dezember 2001) 50 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal .htm (15. Dezember 2001) 203

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

ters in the film. When I, as Gandalf, meet Bilbo or Frodo at home, I bump my head on the rafters. (Tolkien didn’t think to mention it!) So there is a small Bag End set with small props to match. As Ian Holm and Elijah Wood would be too big within it, they have ,scale doubles‘ who are of a matching size with the scenery and its miniature furniture. In the small set Bilbo and Frodo are played by Kiran Shah (Legend) who is in Hobbit proportion to my Gandalf.“ Ferner zieht die angesprochen ‚Verdopplung‘ der Schauspieler die Notwendigkeit nach sich, im Falle der Hobbitwohnungen ein zweites Set zu errichten, das eine maßstabgetreue Vergrößerung des ersten bildet: „And of course there has to be a big Bag End, where the scale is humansized and all the objects of the small set are duplicated but bigger. There the ‘hero actors’ can play the hobbits but the camera expects a gigantic Gandalf and gets him in Paul Webster (a 7'4" Wellingtonian) who substitutes for me.“51 Von den Schauspielern fordert es eine zusätzliche Koordinationsleistung, sich zu den Verhaltensweisen ihrer Doubles in Beziehung zu setzen und ihre Bewegungen mit ihnen in Einklang zu bringen, damit die nachträgliche Zusammenführung der Aufnahmen gelingt: „It is not easy acting, as you try to feed off your colleagues’ reactions during a scene; but we manage. By starting with the close-up shots (where the hero actor being filmed can see the expressions of another just behind the lens) we can remember the detail of that experience when confronted by the scale double's face, which is sometimes masked, as the camera films a twoshot at longer range. Normally this master shot would precede the closeups in a film’s schedule.“52 Um die ‚richtigen‘ Größenverhältnisse zu erzielen, wird zuweilen auch eine besondere Kameraführung eingesetzt. Weite Aufnahmen, die aus einem schrägen Winkel von unten erfolgen, bewirken eine optische Täuschung, indem sie das wahrgenommene Objekt scheinbar vergrößern. Durch einen geschickten Einsatz jener Technik lassen sich einige Figuren im Vergleich zu anderen auf derselben Aufnahme optisch „strecken“. Das Problem, dem Anspruch einer detailgenauen und realitätsnahen Verfilmung gerecht zu werden, wird von Jackson und seinem ExpertenTeam, wie am Beispiel der Rekonstruktion angemessener Größenverhältnisse evident wird, so angegangen, als handele es sich um die Lösung einer mathematischen Optimierungsaufgabe. Entsprechende graphische Darstellungen im ‚offiziellen Filmbuch‘ sollen den Fans und Filmkriti51 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr /journal.htm. (15. Dezember 2001) 52 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal.htm. (15. Dezember 2001) 204

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

kern zusätzlich die mathematische Exaktheit und Akribie vor Augen rufen und dokumentieren, mit welcher Umsicht Regisseur und Produzenten ans Werk gehen. Es ist bezeichnend für die von Peter Jackson gesetzten Prioritäten und die Vorgehensweise des Regisseurs, dass seine Sorgfalt bei der technischen Umsetzung im ersten Teil der Filmtrilogie durch vier Oscars prämiert wurde (für die besten visuellen Effekte, die beste Kamera, das beste Make-up und die beste Filmmusik), während die schauspielerischen Leistungen selbst sich weit weniger entfalten konnten. Der für seine Rolle in den GEFÄHRTEN Oscar-nominierte Ian McKellen ging trotz seines Potentials und seiner Erfahrungen in Film und Drama bei der Verleihung letztlich leer aus, was wiederum den eingeschränkten Spielraum der Schauspielkunst in Jacksons Tolkienverfilmung reflektiert. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Teil der Trilogie, DIE ZWEI TÜRME, die nur zwei Oscars erhielt (Visual Effects, Sound Editing), während der dritte Teil, DIE RÜCKKEHR DES KÖNIGS, mit nicht weniger als elf Oscar prämiert wurde. Allerdings fehlt in der imponierenden Reihe der Auszeichnungen bezeichnenderweise auch hier jegliche Würdigung der schauspielerischen Leistungen: Beste Ausstattung, beste Kostüme, beste Regie, bester Schnitt, beste Maske, bester Soundtrack, bester Titel-Song, bester Film, bester Ton, beste visuelle Effekte, bestes adaptiertes Drehbuch. Es gibt unterdessen in den Filmen der Trilogie auch eine dem Detailrealismus gegenläufige Ausdrucksebene, und zwar eine eigentümliche Verwendung von überwiegend visuellen Symbolen, die sich durch starke Kontrastierungen auszeichnen. Ein prototypisches Beispiel für eine solche sinnbildliche Gegenüberstellung findet man in der Figurenkonstellation in Edoras, genauer in der Relation Grima (Brad Dourif) – Eowyn (Miranda Otto), die von der Buchvorlage abweicht. Grima ist in Eowyn verliebt und versucht, sie für sich zu gewinnen. Seine geheime Leidenschaft wird auf diese Weise als verborgene Handlungsmotivation für Grimas Versuch sichtbar, Eomer zu beseitigen bzw. vom Hof fern zu halten und den König zu täuschen. Interessanterweise ist die filmische Umsetzung von Grimas heimlicher Werbung um Eowyn offenbar eng an einer berühmten Filmvorlage orientiert, und zwar an Laurence Oliviers Verfilmung von Shakespeares Richard III aus dem Jahr 1955, in der Olivier gleichzeitig Regie führte und die Titelrolle übernahm. Jackson orientiert sich genau an jener FilmSequenz, in der Richard (Olivier) um die trauernde Lady Anne (Claire Bloom) wirbt, die gerade ihren toten Gemahl bestattet. Auffallend ist die kontrastive schwarze und weiße Kleidung der Figuren, die Richard als teuflisch-dämonische Gestalt, Lady Anne als unschuldiges, engelsgleiches Wesen erscheinen lässt. Analog dazu kommt es in THE TWO TOWERS zu ganz ähnlich gestalteten Annäherungsversuchen Grimas an Eo205

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

wyn, als diese, wie Lady Anne in Oliviers Interpretation auffallend weiß gekleidet, am Totenbett von Theodens Sohn steht und um ihren verstorbenen Verwandten trauert. Wenn Jackson sich jenes berühmten Filmzitats und der wirkungsvollen Ikonographie jener Filmbilder aus RICHARD III. bedient, geschieht dies allerdings im Kontext einer völlig anders verlaufenden Filmhandlung, da die Verführungskunst und Intrige der Usurpatorfigur im Verlauf von THE TWO TOWERS letztlich scheitern.

Abb. 111-113: Richard III (Laurence Olivier) und Lady Anne (Claire Bloom)

Aus: http://galen-frysinger.com/favmovies1.htm und RICHARD III (1955) DVD 2004

206

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 114: Grima und Eowyn am Totenbett des Königssohns Aus: THE TWO TOWERS (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Das Shakespeare-Theater und die filmische Adaption von Theaterstücken bilden also einen weiteren, nicht unwesentlichen intermedialen Bezugspunkt von Jacksons Filmtrilogie, zumal der Regisseur durch solche Zitate und Referenzen kulturelle Erinnerungen wachruft, die besonders im kollektiven Gedächtnis eines britischen und angloamerikanischen Publikums präsent sein dürften.

5.5 Digitalisierung des Mythos: Film und Computer „Die mit einem Computer heute möglichen visuellen Bilder versetzen uns in die Lage, die Bilder, welche die Geschichte auslöst, in einer Fülle und mit einem Glanz zu zeigen, wie das bis jetzt unmöglich war“ (Peter Jackson)53 In Jacksons Filmprojekt gehen der Anspruch auf Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit mit dem Einsatz modernster Computertechnik eine komplexe und merkwürdige Verbindung ein. Auf der einen Seite tendiert Jackson zu einer auffallenden Selbstbeschränkung, einer selbst auferlegten Ökonomie in der Verwendung digitaler Techniken, die zu dem historisierenden Stil des Regiekonzepts nicht so recht passen wollen und daher möglichst elegant integriert werden sollen, ohne die Realitätssuggestionen zu stören. Nichtsdestoweniger kann eine Dominanz der Spezialef-

53 Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. S. 13. 207

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

fekte nicht geleugnet werden. Die Oscar-Vergabe für die besten visuellen Effekte an Die Gefährten sowie an die folgenden Teile der Filmtrilogie ist in dieser Hinsicht aufschlussreich und symptomatisch. Der besondere Stellenwert, den das Computermedium im Produktionsprozess der Herr der Ringe-Filme einnimmt, zeigt sich allein schon darin, dass die digitale Bearbeitung und Verschmelzung der gedrehten Szenen nach Angaben der Experten einen großen Teil der Produktionskosten schluckte und einen erheblichen Zeitaufwand in Anspruch nahm. Trotz der ungewöhnlichen Länge der Dreharbeiten (einer Dauer von 18 Monaten) war die Filmtrilogie damit keineswegs abgeschlossen, denn nicht weniger aufwendig als die Aufnahmen der einzelnen Szenen selbst war die Nachbearbeitung des gedrehten Materials im Computer Einige mächtige mythologische Figuren in Tolkiens Werk wie beispielsweise der Balrog, die auch im Film unverzichtbar sind, wurden von WETA, abgesehen von der Stimme, rein synthetisch im Computer hergestellt.54 Besonders die wirkungsvolle Darstellung der Unholde und Monster,55 die auf Seiten Saurons kämpfen, bedürfen offenbar der digitalen Effekte und Modifikationen. Die schwarzen Reiter etwa wurden zwar von realen Schauspielern dargestellt, doch sind die Gesichter später per Computer nachbearbeitet worden.56 Hinzu kommen künstliche Hintergründe und Übergänge, die ebenfalls durch den Einsatz von Hightech den Szenen und Figuren im Nachhinein unterlegt wurden: “In WETA’s digital workshops Gandalf’s image, shot against bluescreen, will be matched to backgrounds of deepest Moria or the highest sky, with a computerized battling Balrog and soaring Gwaihir carrying him to safety from the Tower of Orthanc.”57

54 Zu den computertechnischen Aspekten im Film vgl. auch Konrad Lischka: Digitales Kino. Computer träumen von ‚Mittelerde’. Spiegel Online, 5. Oktober 2000. Vgl. ferner die Auskünfte der Tolkiengesellschaft: „Gollum wird ähnlich wie bei Star Wars Jar Jar Binks zu 100% aus dem Computer (CGI) stammen. Gesprochen wird er im englischen Original von Andy Serkis.“ http://www.tolkiengesellschaft.de (28. Januar 2000) http://www.Herr-der-Ringe-Film.de. 55 Vgl. zur Genese des Monsters im Film allgemein auch die interessante und erhellende Studie von Siehe auch Arno Meteling: Monster: zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm. 2006. 56 Vgl. ebd. 57 Notes from Ian McKellen, http://www.mckellen.com/cinema/lotr/journal.htm (15.12.2001) 208

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Abb. 115-116: Ian McKellen als Gandalf vor dem Bluescreen Andy Serkins (Gollum) bei Special Effects-Aufnahmen (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Das eigentümliche Schwanken des Regisseurs zwischen den Vorzügen der Computersimulation und dem Streben nach Natürlichkeit macht sich beispielhaft in der Figur des Gollum bemerkbar, der, wie Jackson in einem Produktionsvideo von den Dreharbeiten erläutert, in den gedrehten Szenen durch den Schauspieler Andrew Perkins gespielt wurde, aber dann in der digitalen Nachbearbeitung von einer entsprechenden Simulation überlagert wird. Auf diese Weise sollen die natürlichen Bewegungsabläufe, die menschliche Mimik und Gestik möglichst genau in das computergenerierte Bild des mythischen Wesens übertragen werden, um im Blick auf Aussehen und Körperbewegungen der Figur die Assoziationen des Puppenhaften und Automatenhaften zu vermeiden. Die Filmfigur Gollums beruht somit auf einem höchst komplizierten Vorgang, durch den über den Umweg des Computers Bilder produziert werden, die im Zeichen einer sekundär erzeugten und digital gesteuerten Naturähnlichkeit stehen. Jackson und seine Computerexperten werden augenscheinlich nicht von einem unbegrenzten Vertrauen in die digitalen Technik selbst geleitet, sondern ihre Arbeit zeugt ironischerweise von einer nostalgisch anmutenden Sehnsucht nach Natürlichkeit, authentischem Erleben und Ursprünglichkeit, die zu dem modernen Computermedium eigentümlich quer liegt. Die aufwendigen Simulationsstrategien geben eher eine tiefgreifende Skepsis gegenüber den digitalisierten und technischen Aspekten zu erkennen, deren Präsenz im Film daher immer wieder durch den Anschein des Realen und Natürlichen verhüllt werden muss. Obwohl Peter Jackson insgesamt eher auf eine historisierende und romantische Version des Herrn der Ringe setzt, sorgt die digitale Ästhetik der Computersimulationen schließlich doch – und zwar besonders in den Kampfszenen mit übernatürlichen Wesen – für eine gewisse Annäherung der Tolkien-Verfilmung an Science Fiction-Filme, etwa die Star Wars Trilogie.

209

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Was bedeutet der Einsatz digitaler Technik im großen Stil nun für das Gesamtkonzept der Filmtrilogie? Das intermediale Zusammenspiel zwischen Computer und Film, mag seinen Reiz haben und, ökonomisch eingesetzt, zu wirkungsvollen Szenen und Eindrücken führen. Nichtsdestoweniger birgt die digital gesteuerte, technische Perfektionierung auch ihre Gefahren, die sich insbesondere bei der Darstellung der Mächte des Bösen bemerkbar machen. Mag der Rückgriff auf Computersimulationen bei Naturgewalten wie Fluten und Schneestürmen den Betrachter noch überzeugen, so lässt er bei der Darstellung der Monster und Unholde (Orks) aus Tolkiens mythologischem Fundus umso mehr zu wünschen übrig. Die Computerproduktion von Saurons und Sarumans Gehilfen wirkt nicht zuletzt insofern unbefriedigend, als bei der digitalen Evokation der Monster überwiegend alte Stereotypen wie die Verbindung des Bösen mit dem Hässlichen und dem kulturell Fremden reproduziert werden. Bei Tolkien mag die genannte klischeehafte Verbindung zwar im Keim ebenfalls angelegt sein, aber sie hat in einem stilisierten mythischen Text, in dem sie ihre symbolischen Qualität entfalten kann, eher ihren Platz als in einer Filmproduktion, die auf einen hohen Detailrealismus setzt. Was sich an den digitalisierten Filmbildern mit besonderer Schärfe ablesen lässt, gibt eine Schwäche des Films zu erkennen, die im Grunde durchgängig spürbar ist. Paradoxerweise birgt gerade die Suche nach den idealen und gleichsam perfekten Repräsentationen der mythischen Figuren aus dem Tolkienschen Werk ihre eigenen Fallstricke. Die Tatsache, dass Jackson über die technischen und materiellen Mittel verfügt, seine filmische Interpretation in bisher ungeahntem Maße zu perfektionieren, verleiht den einzelnen Filmbildern und den Figuren eine mitunter hochgradig statische Qualität. Statt mit Suggestionen zu arbeiten und die Imagination des Zuschauers anzuregen, glaubt Jackson, seinem Publikum detailgenaue (teilweise computergeschaffene) Bilder zu präsentieren, bei denen die eigene Vorstellungskraft oft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Ganz im Gegensatz zu Tolkiens literarischem Werk, das die Leser durch seine sprachliche Vielfalt und Mehrdeutigkeit dazu stimuliert, sich von Mittelerde und ihren Bewohnern je eigene Vorstellungen zu bilden, bleibt der kreative Spielraum des Rezipienten im Film letztlich eher gering. Gerade die Ausrichtung auf die idealen Verkörperungen und die gleichsam perfekte Illusion der fantastischen Wesen und Handlungen hemmt die produktive Wahrnehmung des Zuschauers, der überwiegend auf die passive Aufnahme der perfektionierten Bilder festgelegt wird. Die Kehrseite der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten heutiger Regisseure und Filmproduzenten besteht darin, dass sie ein fertiges Produkt liefern, ohne den individuellen Respons miteinzubeziehen und die

210

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

Vorstellungskraft der Zuschauer noch zu aktivieren. Die mangelnde Berücksichtigung der imaginativen und kreativen Beteiligung der Zuschauer macht sich besonders bei der Verfilmung fantastischer Sujets bemerkbar. Es scheint so, als würde Jacksons Versuch, Tolkiens Ringtrilogie in eine möglichst realitätsnahe Filmversion zu übersetzen, gerade deshalb an ihre Grenzen stoßen, weil man es bei der literarischen Vorlage mit einer imaginären mythischen Welt zu tun hat. Die Präsenz des mythologischen Ambientes ist im Ton der Tolkienschen Schriften durchgängig spürbar, die über ein facettenreiches Vokabular verfügen. Der mythische Kontext wird im Film hingegen gerade dort verfehlt, wo eine quasirealistische Umsetzung der Erzählung angestrebt wird, die aufgrund einer Übergewichtung historisierender Details die Vorstellungskraft der Rezipienten unterfordert und das Moment des Imaginären und Anderen weitgehend ausblendet. Die Verfasser des offiziellen Filmbuchs, denen solche Einwände fremd sind, loben die detailgenauen Rekonstruktionen und sehen darin ein untrügliches Indiz von filmischer Perfektion und Vervollkommnung der Kulissen und Designs: „Keine Kosten und keine Mühe wurde gescheut, um die geeigneten Requisiten und Kostüme mit minutiöser Aufmerksamkeit für das handwerkliche Detail herzustellen. Es gibt keine Schnalle, die nicht mit dem Feldzeichen eines bestimmten Heeres versehen ist. Jeder Nietkopf ist ausgearbeitet. Jeder Gürtel ist handgemacht, als wäre er ein Produkt der Handwerkskunst der Rasse, die ihn trägt. Und wir hoffen, dass der Zuschauer dadurch ein reicheres, vollkommeneres Bild der Kulturen bekommen wird, die Tausende von Jahren gebraucht haben, um so auszusehen, wie in der Zeit, in der der Film spielt.“58 Die Kleidung, der Elbenschmuck, die Waffen und die Satteldecken sowie das Zaumzeug der Pferde wurden in eigenen minutiösen Designs, inspiriert durch angelsächsische und frühmittelalterliche Vorbilder, entworfen und nach diesen Vorlagen sorgfältig hergestellt, wie die Skizzen für die Ausstattung der Reiterkultur von Rohan beispielhaft zeigen. Dabei kristallisiert sich eine historisierende Detailgenauigkeit als leitendes Prinzip heraus, wie sie aus dem monumentalen Historienfilm der 1950er und 1960er Jahre vertraut ist.

58

Brian Sibley: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch, S. 19. 211

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Abb. 117: Theodens Pferd (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Abb. 118: Dolche mit elbischen Schriftzeichen, in denen sich wiederum ein funktionsästhetischer Aspekt des Dekors vorsichtig andeutet (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Abb. 119: Entwürfe von Zaumzeug, Geschirr und Satteldecken der Rohirrim-Pferde (http://www.herr-der-ringe-film.de/)

Indem sich die Energien des Regisseurs und seiner Mitarbeiter auf historische Detailarbeit richten, vernachlässigen sie nicht allein die Frage, inwieweit es überhaupt möglich ist, die dekorativen Details und ihre je-

212

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

weilige handwerkliche Perfektion im laufenden Film angemessen wahrnehmen zu können, sondern vergessen ebenfalls zu erwägen, ob es in rezeptionsästhetischer Hinsicht überhaupt wünschenswert ist, solche vollendeten Bilder zu produzieren. Die Möglichkeiten einer bisher unvorstellbaren Perfektionierung der filmischen Eindrücke führt möglicherweise in eine filmästhetische Sackgasse, denn sie scheint der Imagination des Zuschauers mehr im Wege denn förderlich zu sein und in diesem Fall zudem einen Überhang des rein Dekorativen hervorzubringen.

Kleiderentwürfe für Arwen (http://www.herr-der-ringe-film.de/) Die Verwechslung von medialer Plausibilität mit einem filmischen Realismus, der besonders in den monumentalen Schlachtszenen merkwürdige Auswüchse mit sich bringt, führt letztlich dazu, dass die filmische Darstellung hinter der Polyvalenz des Romans zurückbleibt. Die monumentale Umsetzung und die ambitionierte (im Grunde aber naive) Vorstellung, man könne Tolkiens Epos gleichsam im Maßstab 1:1 auf die Kinoleinwand produzieren, bewirken schließlich nichts anderes, als dass die Filmversion eine Eindeutigkeit in der Präsentation annimmt, die zu der Suggestivkraft der literarischen Vorlage deutlich quer liegt. So liegen der Hauptwiderspruch und die innere Inkonsequenz von Jacksons Unternehmen wohl darin, dass die Verfilmung einer fantastisch-mythologischen Thematik der imaginativen Kompetenz der Kinobesucher zu wenig Rechnung trägt und jenes Vermögen letztlich unterschätzt. Rückblickend wäre zu fragen, welcher Stellenwert der autoreflexiven Komponente, dem Medienwechsel sowie dem Gesichtspunkt intermedialer Ausdrucksformen in der Tolkien-Verfilmung von Jackson zukommt. Wir haben es sicher nicht mit einer gezielten oder markierten Verwendung intermedialer Techniken im Dienste avantgardistischer und experimenteller Filmproduktion zu tun, zumal die Verhüllung des technischen 213

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Einsatzes und die illusionistische Orientierung eine solche Ausrichtung unterbinden. Auf der anderen Seite sind die Offenlegung und die Reflexion der eigenen filmischen Verfahren (in Produktionsvideos und im Genre des ‚Making of‘) zu einem integralen und wichtigen Bestandteil der Vermarktung von Kinofilmen avanciert. Dies gilt besonders für die Herr der Ringe-Filmtrilogie, deren langwierige Dreharbeiten eine erhebliche Verzögerung des eigentlichen Kinoereignisses mit sich brachten. Die Veröffentlichung von Videos über die Dreharbeiten und Trailern im Internet schien unumgänglich, um die wachsende Ungeduld der Fans zu beschwichtigen und gespanntes Interesse am Filmstart zu wecken. Aus der neugierigen Erwartungshaltung und dem verzögerten Kinostart hat sich – sozusagen als eine unbeabsichtigte Begleiterscheinung der Werbestrategien der Produzenten – eine aufschlussreiche Interessenverschiebung ergeben, die das Augenmerk der Beobachter von rein inhaltlichen Aspekten der Filmproduktion mehr und mehr auf eine Diskussion der eingesetzten Techniken und Verfahren lenkte. Der Verkauf des Films auf DVD begünstigt die Ergänzung des eigentlichen Films durch weitere Specials, Begleitfilme und entfallene Filmsequenzen, die einen Vergleich zwischen den Vorstufen mit der für das Kino erstellten Endfassung sowie mit jener schließlich für den internationalen DVD-Markt produzierten „extended Version“ anregen und eine Diskussion über alternative Umsetzungsmöglichkeiten stimulieren. Es lässt sich also sogar bei einem Action-Film wie dem Herrn der Ringe eine eigentümliche Umstellung im Interesse der Rezipienten von rein inhaltlichen Aspekten auf WieFragen beobachten, die Fragen des intermedialen Zusammenspiels begünstigen. Auch wenn sich die genauen Auswirkungen jenes Trends zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kaum abschätzen lassen, zeichnet sich eine vorsichtige Tendenz ab, die zur Prognose einer gewissen Orientierungsänderung auf Seiten der Film-Rezipienten und -Konsumenten Anlass gibt: Die sich anbahnende, ursprünglich marktstrategisch bedingte Umstellung der Publikumsinteressen hat langfristig wohl eine Sensibilisierung der Kinobesucher für die Dimension der Filmgenese und die Aspekte der Intermedialität zur Folge, die selbst im massenattraktiven Film immer größere Relevanz gewinnen und Ansätze zu einer erhöhten Selbstreflexion des filmischen Mediums in der Gegenwart zeigen. Im Unterschied zu experimentellen und ‚avantgardistischen‘ Filmprojekten bleibt die Wahrnehmung der selbstreflexiven Komponenten in der Herr der Ringe-Filmtrilogie und im begleitenden kinographischen Material zum Hauptfilm lediglich ein Angebot an den Rezipienten, das dieser nach eigenem Belieben aufnehmen oder ignorieren kann. Der Film lässt sich, obwohl mit weniger Gewinn, weiterhin als reiner Action-Film genießen. Das selbstreflexive Spiel mit Bild- und Schriftzitaten verlagert sich hier

214

EIN ‚KULTBUCH‘ GELANGT INS KINO

auf eine zusätzliche, gleichsam optionale Ebene, welche die Möglichkeit einer doppelten Lektüre erlaubt, ohne die gewohnten Wahrnehmungsmodalitäten der Kinobesucher nachhaltig zu verunsichern bzw. zu dezentrieren. So zollen die Mitarbeiter des HERR DER RINGE-Filmteams letztlich doch den Erwartungen des Mainstream-Kinos und den angenommenen illusionistischen Vorlieben eines weiteren Kinopublikums Tribut.

215

6. Ausblick: Ludische Filmästhetik – zur Ausdifferenzierung neuer Zuschauerrollen und filmischer Subgenres

Im neueren Kinofilm begegnet man einer Intensivierung und Markierung von intermedialen Vorgängen, die als ästhetische Verfahren sui generis in Erscheinung treten. Es gilt, jene medialen Zwischenräume zu bespielen, die bei oberflächlicher Betrachtung der Reichweite filmspezifischer Mittel entzogen sind und nur durch komplexe Formen der Implementierung von Medien in Medien eingeholt werden können nach dem Muster des Wiedereintritts der Form in die Form (re-entry). Dabei kann es zur filmischen Beobachtung eines bestimmten Leitmediums, etwa dem Buch, kommen, häufiger aber führt die ästhetische Implementierung einer spezifischen intermedialen Beobachtung im Film zu einer Begünstigung von Intermedialität überhaupt und zur Integration und Aneignung weiterer Fremdmedien. So finden sich bei Greenaway Kombinationen von Schriftkultur und thetraler Performanz, bei Corbiau Verbindungen von Stimme/Gesang und Operninszenierung. Nicht selten hat man es mit einer gewagten Vermischung und Vernetzung sämtlicher zur Verfügung stehender Medientypen zu tun, einer Tendenz, mit ihrer Engführung zu experimentieren, um die ästhetischen Wirkungen solcher Vorgänge auszutesten. Der Film kristallisiert sich, wie die unterschiedlichen Beispiele gezeigt haben, als bevorzugtes Medium gezielter intermedialer Verfahren heraus, wenn nicht gar als Ort einer intermedialen ästhetischen Kompositionskunst eigener Art. Eine solche Kinoästhetik ist symptomatisch für eine postmoderne Gesellschaft um 2000, in der die ehemaligen ästhetischen Stilkriterien und medienspezifischen Konventionen ins Wanken geraten zugunsten einer spielerischen Auflösung der Formen, Gattungsgrenzen etc. durch diverse Hybridisierungs-und Vernetzungsprozesse. Die Modellierung des Intermedialen und der Medienwechsel generieren überdies eine spezifische, neuartige Zuschauerdisposition. Sie produzieren im Rezipienten nicht hektische Unruhe, sondern regen dazu an, Medientypen und deren jeweilige Eigenheiten bewusster wahrzunehmen. Die (bewusste) Wahrnehmung von intermedialen Konstellationen im 217

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Film und der Medienvergleich bewirken meist eine erhöhte Prägnanz sowie eine Bündelung der Aufmerksamkeit auf Seiten der Zuschauer. Für die Filmproduktion der Gegenwart scheint ferner die Tatsache prägend und entscheidend, dass Regisseure, Schauspieler und Zuschauer inzwischen auf mehr als ein Jahrhundert Filmgeschichte zurückblicken können und neben der Möglichkeit, intermediale Verfahren und Verweise einzusetzen, auch die Gelegenheit zu vielfältigen innermedialen Referenzen und Zitaten haben. So verfügt man über einen reichen Anregungsfundus, der zu höchst unterschiedlichen Zwecken genutzt werden kann. Es ist ebenso denkbar, an frühere Filme anzuknüpfen, wie sich von ihnen abzusetzen, Reihen zu bilden oder ein gezieltes Remake anzustreben. Der Rückblick auf eine längere kulturelle Erfolgsgeschichte des Films erlaubt einen produktiven, mitunter spielerischen Umgang mit den ‚Vorgängern. Die aktuelle Situation vermittelt den Drehbuchautoren und Regisseuren mithin eine doppelte Souveränität, da jene innermedial und intermedial über eine Fülle von Möglichkeiten disponieren und sich der unterschiedlichsten medialen Ausdrucksweisen und Vermittlungstechniken bedienen können. In diesem Kontext ist eine dreifache Dimension der am Film teilhabenden Medien und ihrer Funktionen zu berücksichtigen, die Wahrnehmungsmedien, die künstlerischen Ausdrucksmedien und die Rolle des Films als (ästhetisches) Kommunikationsmedium. Interessant und zeittypisch erscheint schließlich die Beobachtung, dass die Wirkungen von filmimmanenter Intermedialität kaum eine dissoziierende ist, die das filmische Medium aufzulösen droht. Vielmehr scheinen die markierten intermedialen Strukturen neue Wahrnehmungsgewohnheiten, Erwartungen und Zusammenhänge hervorzubringen. Die Modellierungen von intermedialen Komponenten führen zu einer beachtlichen Bedeutungsvervielfachung und zu Mehrfachcodierungen, die den zeitgenössischen Film als ein komplexes, vielschichtiges und mehrdeutiges Gebilde erweisen. Die subtiler und komplexer gewordenen medialen Strukturen gehen mit einer erhöhten semantischen Bedeutungsdichte einher. Der Rezipient sieht sich veranlasst, die medialen Überlagerungen zu interpretieren und zu erraten, was sich in den Zwischenräumen zwischen den unterschiedlichen Medienkomponenten abspielt. Die Aufgabe der gegenwärtigen Kinobesucher besteht nicht allein darin, der spannenden oder unterhaltsamen Handlung zu folgen, sondern darüber hinaus latente Bedeutungsebenen zu erkennen, die durch intermediale Konstellationen und Interferenzen entstehen. Dabei erweisen sich besonders die Grenzlinien und Übergangsstellen als zentrale Momente und Generatoren neuer Bedeutungen. Gerade die Grenzen, Brüche oder fließenden Übergänge zwischen den verschiedenen Medienelementen führen zu perspektivi-

218

AUSBLICK: LUDISCHE FILMÄSTHETIK

schen Brechungen, veränderten Sichtweisen auf vertraute Medienformen und können so neue Wahrnehmungsweisen hervorbringen. Sicherlich handelt es sich bei den medienüberschreitenden Komponenten im Film um subtile Vorgänge, die einen vergleichsweise hohen Anspruch an den Rezipienten stellen. Eine erhöhte ‚Lektüreleistung, eine aktive Rolle des Kinobesuchers und ein hohes Niveau der ‚Filmlektüresind charakteristische Merkmale der Aufnahme von Filmen, die sich im Rahmen einer (markierten) intermedialen Ästhetik bewegen. Jene anspruchsvolle Zuschauerrolle sowie die mit ihr verbundene aktive Wahrnehmungs-und Deutungstätigkeit lassen sich entgegen der verbreiteten ideologiekritischen Vorbehalte gegenüber dem Medium Kino beobachten. Elisabeth Büttner hat in ihrem aufschlussreichen Beitrag zum Kino der 1910er Jahre bereits ähnliche Anzeichen und Kriterien für einen komplexen Rezeptionsprozess auf Seiten des Kinopublikums entdeckt: „Das frühe Kino ist eher durch das Erlebnis am Sehen der bewegten Bilder bestimmt denn über den Fortgang oder Dramaturgie einer Geschichte […] Im Early Cinema befinden sich die Dinge oftmals in einer rohen und unbewussten Koexistenz im Raum vor der Kamera […]. Die Tiefenschärfe weist dem Zuschauer eine eigenständige Rolle zu: Er kann durch das Bild streifen, Dinge aufgreifen, verweilen, Vordergrund und Hintergrund in Beziehungen setzen.“ 1

Der schweifende Blick des Zuschauers ist sowohl selektiv als auch analytisch. Indem die visuelle Wahrnehmung Raumbilder entwirft und organisiert, erprobt sie ein genuin kreatives Vermögen, das sich als imaginäre Erweiterung und Interpretationsleistung begreifen lässt: „Er wird angehalten, seine Wahrnehmung des Bildes selbst zu organisieren. Der Kinobesucher durchwandert die Bilder. Er mischt die Orte, von denen er ausgeht, mit den Nicht-Orten, die er erzeugt. Im Bild zu gehen, bedeutet sowohl einen Ort zu verfehlen wie der reinen Gegenwart auszuweichen. Wer Filme sieht, verdichtet und unterbricht. Er wendet im Kino Praktiken an, die denjenigen des Flaneurs in den Städten verwandt sind.“2 Die heterogene mediale Struktur des Films, so ließe sich ergänzen, scheint solche Unterbrechungen und Verdichtungen im Rezeptionsprozess zu begünstigen, wenn nicht sogar herauszufordern. Je ausgeprägter 1

2

Elisabeth Büttner: Aktualität als Handlungsraum. Konstellationen des Bildes und Modalität des Gebrauchs im Kino der 1910er Jahre. In: Claudia Liebrand, Irmela Schneider: Medien in Medien. Köln 2002, S. 184-197, S. 188. Ebd., S. 188-189. 219

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

und deutlicher die intermediale Form im Film zu Tage tritt und je mehr sie ästhetisch herausgearbeitet und modelliert wird, desto intensiver wird sie den Betrachter zu deutungsgeladenen Verdichtungen und Brechungen des Wahrgenommen anregen. In dem Maße, in dem sich der vagabundierende Blick des Kinobesuchers als Schaltstelle zwischen Wahrnehmungsmedien und ästhetischen Verfahren erweist, vermag er selbständig am Zustandekommen des medialen Gesamteindrucks mitzuwirken. Gerade die medialen Differenzen geben Gelegenheit, Deutungsmöglichkeiten und Lektüreoptionen in den Zwischenräumen und Spannungsfeldern zu erzeugen. Die produktive und fruchtbare Dimension der Reibungen und des Dazwischen oder des Schwebezustands zwischen den Medien äußert sich auch in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen intermedialer Vorgänge in der kulturellen Evolution, im Medienwandel und bei der Ausdifferenzierung der Medien, indem sie an der Ausbildung eines gewissen medialen Formenreichtums maßgeblich teilhaben. Intermedialität und Medienvernetzung fungieren als Motor von kultureller Evolution sowie als verborgene Keimzellen kulturellen Wandels, als Triebfedern von Umstellungen, die sich zunächst als Veränderungen im Bereich der Mikroevolution abzeichnen, aber weiterreichende Folgen haben können. Dass durch Medienkontakt und mediale Verschachtelungen bzw. Überlagerungsprozesse mitunter eine erstaunliche Genese und Entfaltung von Subgenres bewirkt wird, haben die vorausgehenden Kapitel, insbesondere am Beispiel der filmischen In-Szene-Setzung von Buch und Schrift, ausführlicher dokumentiert. So kann die ästhetische Modellierung von intermedialen Situationen zu einer beachtlichen Ausdifferenzierung von Mediensorten und zur Erfindung von neuen Darstellungsstrategien und Beobachtungskonventionen führen, die kulturund mediengeschichtlich mitunter epochemachend wirken.

220

Literaturverzeichnis (Auswahlbibliographie) Anderegg, Michael: „James Dean Meets the Pirate’s Daughter: Passion and Parody in William Shakespeare’s Romeo + Juliet and Shakespeare in Love”. In: Richard Burt, Boose Lynda E. (Hg.): Shakespeare, the Movie II. Popularizing the Plays on Film, TV, Video and DVD. London: Routledge 2003. S. 56-71. Anz, Thomas: Literatur als Spiel. In: Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. S. 33-76. Anz, Thomas: Literaturtheorie als Spieltheorie. Aus Anlass neuerer Bücher zum Thema von Stefan Matuschek, Johannes Merkel und Ruth Sonderegger. In: literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und für Kulturwissenschaft 3/5 (2001). http://www.literaturkritik.de/ welcomeneu.html?maifra=idx/archiv.html Anz, Thomas und Heinrich Kaulen: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte. Berlin/New York 2009 (Spektrum Literaturwissenschaft – Komparatistische Studien; Bd. 22), S. 323-335. Baecker, Dirk, Frank E. P. Dievernich, und Thorsten Schmidt (Hg.): Strategien der Organisation: Ressourcen – Strukturen – Kompetenzen. Wiesbaden 2004, S. 160. Bachorski, Hans-Jürgen: Viele bunte Bilder, aber schlichte Gedanken: Annauds Verfilmung von Ecos Roman ‚Der Name der Rose’. LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 18 (1988), S. 107-115. Balasz, Bela: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. 1924. Balazs, Bela: Schriften zum Film. Bd. 2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931. Hg. H. Diederichs und W. Gersch. München. 1984, S. 204. Berensmeyer, Ingo: Mystik und Medien: Erfahrung – Bild – Ton. München 2008. Gates, David / Devin Gordon: One Ring To Lure Them All. Christmas 2001: Tolkien Goes Hollywood. The Bulletin with Newsweek. 2001.

221

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Bildhauer, Katharina: Das Drehbuch. Dramaturgische Modelle, narrative Konzepte und neue Formen – mit Analysen zeitgenössischer Beispiele. Dissertation Gießen 2006. Bock, Wolfgang: Medienpassagen: der Film im Übergang in eine neue Medienkonstallation. 2006. Boehm, Gottfried: Bilder jenseits der Bilder. Transformationen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Transform. BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, hg. Theodora Vischer, Kunstmuseum und Kunsthalle Basel 1992. Böhnke, Alexander: Paratexte des Films: über die Grenzen des filmischen Universums. 2007. Bondella, Peter: Umberto Eco and the open text. Semiotics, fiction, popular culture. Cambridge 1997. Buckland. Warren: Introduction: Puzzle Plots. In: Buckland: Puzzle films: complex storytelling in contemporary cinema. Blackwell 2009. S. 1-12. Büttner, Elisabeth: Aktualität als Handlungsraum. Konstellationen des Bildes und Modalität des Gebrauchs im Kino der 1910er Jahre. In: Claudia Liebrand, Irmela Schneider: Medien in Medien. Köln 2002, S. 184-197, S. 188. Burkhardt und Eberhard Rohse (Hg.): Umberto Eco. Zwischen Literatur und Semiotik. Braunschweig: Ars & Scientia 1991, S. 319-364. Capozzi, Rocco (Hg.): Reading Eco. An Anthology. Bloomington und Indianapolis 1997 [Advances in Semiotics, hg. Thomas A. Sebeok]. Carpenter, Humphrey: J.R.R. Tolkien. A Biography. London: Allan and Unwin 1977, Chance, Jane: Tolkien's Art. A Mythology for England. University Press of Kentucky 2001. Corbiau, Gerard: An Interview with Gerard Corbiau: http://www.sonypictures.com/classics/farinelli/about/finterview.html (1. März 2010) Darby, William und Jack Dubois: American Film Music: Major Composers, Techniques, Trends, 1915-1990. Jefferson, N.C. 1990. Denham, Laura: The Films of Peter Greenaway, London 1993. Distelmeyer, Jan: Spielräume. Videospiel, Kino und die intermediale Architektur der Film-DVD, in: Rainer Leschke und Jochen Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. S. 389-416 „Durcharbeitung“ in: J. Laplanche und J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt 1972, S. 123-125. Eder, Jens: Oberflächenrausch: Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre. 2002. 222

LITERATURVERZEICHNIS

Elsaesser, Thomas: The Mind Game Film. In: Warren Buckland: Puzzle films: complex storytelling in contemporary cinema. Blackwell 2009. S. 13-41. Fehr, Richard und Frederick G. Vogel: Lullabies of Hollywood: Movie Music and the Movie Musical, 1915-1992. Jefferson, N.C. 1993. Flieger, Verlyn, Carl F. Hostetter (Hg.): Tolkien's Legendarium : Essays on the History of Middle-Earth (Contributions to the Study of Science Fiction and Fantasy, No 86). London: Greenwood Press 2000. Flieger, Verylyn: Splintered Light. Logos and Language in Tolkien’s World. Michigan: Eerdmans 1983. Flusser, Vilém: Schriften. Band IV: Kommunikologie. Hg. Stefan Bollmann u.a. 1. Aufl. Mannheim 1996. Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1985 und ders.: Eine neue Einbildungskraft. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt 1990, S. 115126. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983 und Harro Segeberg: Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996. Frommer, Kerstin: Inszenierte Anthropologie. Ästhetische Wirkungsstrukturen im Filmwerk Peter Greenaways. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, 1994. Garncarz, Joseph: Vom Varieté zum Kino. Ein Plädoyer für ein erweitertes Konzept der Intermedialität. In: Jörg Helbig: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 244-256. Gorbman, Claudia: Unheard Melodies. Narrative Film Music. London / Bloomington / Indianapolis: BFI Publishing & Indiana University Press, 1987. Graevenitz, Gerhart v.: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes 'West-östlichen Divan', Stuttgart, Weimar 1994. Grassi, Ernesto: Die Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen. Köln 1970. Griem, J. (Hg.): Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien, Tübingen 1998. Graupner, Stefan: Vernetzungsmöglichkeiten ästhetischer Ausdrucksformen im künstlerischen Arbeitsprozess als ein Modell ästhetischer Bildung. Peter Greenaway – Rebecca Horn – Robert Wilson. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophi-

223

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

schen Fakultät III der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, 1995. Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. Hess-Lüttich, Ernest W. B. und Roland Posner (Hg.): Codewechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen 1990. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1939). Reinbek 1994. Jacobs, René: Es gibt keine Kastraten mehr: was jetzt? In: Beiheft zu: Arias for Farinelli, S. 45-50. Jacobs, René: Rhetorik und Improvisation. In: Carl Heinrich Graun: Cesare e Cleopatra. Beiheft zur Einspielung von René Jacobs. WDR Köln. Harmonia Mundi 1990. Kehrmann, Boris: Und sie bewegt sich doch! Wie man die Barockoper mit 500 Bedienten bewegte und mit 8000 Kerzen beleuchtete. In: Opernwelt. März 1997, S. 35-39. Kocher, Manuela und Michael Böhler: Über den ästhetischen Begriff des Spiels als Link zwischen traditioneller Texthermeneutik, Hyperfiction und Computerspielen. http://computerphilologie.uni-muenchen.de/jg01/kocher-boehler.html Kargl, Reinhard: Wie Film erzählt. Wege zu einer Theorie des multimedialen Erzählens im Spielfilm. Frankfurt 2006. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt: Suhrkamp Kremer. Detlef: Arche und Apokalypse. Bild und Schrift in Peter Greenaways Filmen. In: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 503-520. Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher. Stuttgart 1995 Leschke, Rainer und Jochen Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. Leschke, Rainer und Jochen Venus: Spiele und Formen. Zur Einführung, in: Leschke und Venus: Spielformen im Spielfilm: zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. Liebrand, Claudia und Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002. Liebrand, Claudia und Irmela Schneider: Einleitung. In: Claudia Liebrand, Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002. Lischka, Konrad: Digitales Kino. Computer träumen von ‚Mittelerde’. Spiegel Online, 5. Oktober 2000.

224

LITERATURVERZEICHNIS

Luhmann, Niklas: Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/M. 1980, S. 235-300. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992. Mai, Ekkehard und Kurt Wettengl (Hg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Katalog erschienen aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst München (1. Februar bis 5. Mai 2002) und im Wallraf-Richartz-Museum - Fondation Corboud, Köln (25. Mai bis 25. August 2002). Wolfratshausen: Edition Minerva 2002. Malina. Ein Filmbuch von Elfriede Jellinek. Nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Frankfurt 1991. Marpurg, F. W.: Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik. 1755. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964). Aus dem Englischen von Meinrad Amann. 2. Auflage. Dresden, Basel 1995.. Meteling, Arno: Monster: zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm. 2006. Mitchell, W. J. Thomas: Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago: University Press 1995. Mitchell, W. J. T.: Was ist ein Bild? in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt 1990, S. 17-68, Mitchell, W. J. T. (Hg.): The Language of Images. Chicago 1980. Moor, Margriet de: Der Virtuose. München 1997. Muir, Kenneth (Hg.): International Shakespeare Association Congress Proceedings (1981): Shakespeare, Man of the Theatre 2nd, ed.. University of Delaware Press.1984. Mundt, Michaela: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung. Tübingen 2000. Oesterle, Günter: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels „Brief über den Roman“, in: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, hg. Dirk Grathoff, Frankfurt 1985. ders.: Arabeske. Schrift und Poesie in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“. Athenäum 1 (1991). S. 69-107. Paech, Joachim: Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert. In: Knut

225

INTERMEDIALES SPIEL IM FILM

Hickethier (Hg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Berlin 1989, S. 68-77. Paech, Joachim: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, S. 15-16. Paech, Joachim: Der Schatten der Schrift auf dem Bild. Vom filmischen zum elektronischen „Schreiben mit Licht“ oder „L’image menacé par l’écriture et sauvé par l’image même“. In: Michael Wetzel / Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München: Fink 1994. S. 213-233. Paech, Joachim: Intermedialität – Analog /Digital: Theorien, Methoden, Analysen, hg. Joachim Paech und Jens Schröter. München 2007. Puzberg, Sabine und Anke Weihmann: Zur Verfilmung von Ecos Der Name der Rose. In: Armin Burkhardt und Eberhard Rohse (Hg.): Umberto Eco. Zwischen Literatur und Semiotik. Braunschweig: Ars & Scientia 1991. S. 319-364. Pidduck, Julianne: „Elizabeth and Shakespeare in Love. Screening the Elizabethans”. In: Ginette Vincendeau (Hg.): Film/ Literature/ Heritage. A Sight and Sound Reader. London: British Film Institute 2001. S. 130-135. Rötzer, Florian: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt 1991. Rötzer, Hans Gerd (Hg.): Literaturverfilmung, Bamberg 1993. Roloff, Volker: Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkung zu aktuellen Problemen, in: Intermedialität - Analog /Digital: Theorien, Methoden, Analysen, hg. Joachim Paech und Jens Schröter, München 2007, S. 15-30. Scheffer, Bernd und Christine Stenzer (Hg.): Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung. Bielefeld 2009. Schneider, Irmela: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung, Tübingen 1981. Schnitzler, Günter und Edelgard Spaude (Hg.): Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten. Freiburg 2004. Simonis, Annette: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Winter 2005. Shippey, Tom Tolkien. Author of the Century. London: HarperCollins Publishers 2000. Shippey, Tom: Orcs, Wraiths, Whights. Tolkien’s Images of Evil. In: George Clark, Dan Timmons (Hg.): J.R.R. Tolkien and his literary Resonances. Views of Middle-earth. London: Greenwood 2000. 226

LITERATURVERZEICHNIS

Sibley, Brian: Der Herr der Ringe. Das offizielle Filmbuch. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001. Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000. Spencer Brown, George: Laws of Form. New York 1979. Spielmann, Yvonne: Aspekte einer ästhetischen Theorie der Intermedialität. In: Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Hg. Heinz B. Heller, Matthias Kraus, Thomas Meder, Karl Prümm und Hartmut Winkler. Marburg 2000. S. 57-68. Strohm, Reinhard: Wer ist Farinelli? In: CD-Beiheft zu: Arias for Farinelli. Harmonia mundi France 2000. S. 38-44, hier S. 38. Thomsen, Kai und Christian W. Thomsen: Digitale Bilder, virtuelle Welten Computeranimationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. S. 275-290. „Trauma“ in: J. Laplanche und J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp 1972, S. 513-518. Wetzel, Michael und Herta Wolf: „Vorwort der Herausgeber“, in: Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, hg. Michael Wetzel und Herta Wolf. München: Fink 1994. Womack, Kenneth: „Reading (and Writing) the Ethics of Authorship. Shakespeare in Love as Postmodern Metanarrative”. Literature Film Quarterly, 2004. Bd. 32 (2). S. 153-162 Zimbardo, Rose A.: The Medieval-Renaissance Vision of the Lord of the Rings. In: J. R. R. Tolkien’s The Lord of the Rings. Modern Critical Interpretations. Hg. Harold Bloom. Philadelphia 2000.S. 133-139.

227

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film März 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit August 2010, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4

Gesche Joost Bild-Sprache Die audio-visuelle Rhetorik des Films 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-923-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch November 2010, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Michael Wedel Filmgeschichte als Krisengeschichte Schnitte und Spuren durch den deutschen Film Dezember 2010, ca. 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1546-3

Waltraud »Wara« Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm Juni 2010, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1135-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Joanna Barck Hin zum Film – Zurück zu den Bildern Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini 2008, 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-817-9

Maik Bozza, Michael Herrmann (Hg.) Schattenbilder – Lichtgestalten Das Kino von Fritz Lang und F.W. Murnau. Filmstudien 2009, 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1103-8

Catrin Corell Der Holocaust als Herausforderung für den Film Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie 2009, 520 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-719-6

Daniel Fritsch Georg Simmel im Kino Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1315-5

Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung Das Transitorische im Film

Katrin Oltmann Remake | Premake Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960 2008, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-700-4

Sebastian Richter Digitaler Realismus Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-943-5

Elisabeth Scherer Spuk der Frauenseele Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge November 2010, ca. 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1525-8

Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm 2008, 384 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-833-9

Thomas Weber Medialität als Grenzerfahrung Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre 2008, 374 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-823-0

2008, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-931-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de