Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität: Herder - Boas - Herskovits 9783839454572

In der Geschichte der amerikanischen Kulturanthropologie stellt der Kulturrelativismus einen Meilenstein dar. Dementspre

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität: Herder - Boas - Herskovits
 9783839454572

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus
3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus
4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis

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Magdalena Kopp Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Kultur und Kollektiv  | Band 6

Editorial Die Schriftenreihe Kultur und Kollektiv veröffentlicht Monographien im Bereich der Kultur- und Kollektivwissenschaft, die aktuelle Themen auf einem innovativem Theorie-Niveau und in jargonfreier Sprache zur Darstellung bringen. Von der Forschungsstelle wird ebenfalls die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft herausgegeben. Die Reihe wird herausgegeben von der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft.

Magdalena Kopp lebt und arbeitet in Regensburg.

Magdalena Kopp

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität Herder – Boas – Herskovits

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5457-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5457-2 https://doi.org/10.14361/9783839454572 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung ..................................................................9 1. 1.1 1.2 1.3

Einleitung.............................................................. 11 Kultur und Menschrechte im öffentlichen Diskurs........................ 11 Der kulturelle Relativismus in der Kulturanthropologie ................... 16 Ziel und Aufbau der Arbeit .............................................. 18

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus............ 21 2.1 Grundpositionen und Ambivalenzen ..................................... 21 2.2 Grundprinzipien der Herder’schen Kulturphilosophie .................... 27 2.2.1 Herders Geschichtsauffassung .................................. 27 2.2.1.1 Historisches Denken und Lebensalteranalogie .......... 27 2.2.1.2 Göttlicher Plan und Analogie der Natur ................. 33 2.2.1.3 Herders Fortschrittsdenken in Abgrenzung zur Aufklärung ......................................... 38 2.2.2 Herders Humanitätsideal........................................ 43 2.2.3 Relative Größen................................................. 49 2.2.3.1 Volksgeist und Vorurteil ................................ 49 2.2.3.2 Glückseligkeit .......................................... 62 2.2.4 Universal geteilte Größen ....................................... 66 2.2.4.1 Das Schöne und das Gute............................... 66 2.2.4.2 Vernunft und Fortschritt ................................. 71 2.2.4.3 Zivilisation und Bedürfnis............................... 76 2.3 Zwischenfazit ......................................................... 78

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus ......................... 81 3.1 Leben und Positionen................................................... 81 3.2 Zur wissenschaftlichen Methode Boas’ ................................. 85 3.2.1 Induktive Methode und Kritik am Kulturevolutionismus........... 85 3.2.2 Rezeption der Boas’schen Methode und Relativismus ............. 91 3.3 Grundprinzipien der Boas’schen Kulturtheorie .......................... 96 3.3.1 Zivilisation und Kultur .......................................... 96 3.3.1.1 Zivilisation und Fortschritt.............................. 96 3.3.1.2 Tradition und Fortschritt ............................... 101 3.3.1.3 Moral und Fortschritt ................................... 106 3.3.1.4 Individuum und Fortschritt .............................108 3.3.2 Natur und Kultur ................................................ 111 3.3.2.1 Volksgeist ............................................... 111 3.3.2.2 Sprache................................................ 115 3.3.2.3 Kollektiv ............................................... 125 3.4 Boas’ demokratisches Engagement und Forderungen .................. 131 3.5 Zwischenfazit ......................................................... 137 4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus ..............143 4.1 Leben und Positionen..................................................143 4.2 Kulturbegriff und methodische Ausrichtung ............................ 147 4.2.1 Cultural Relativism und anthropologisches Selbstverständnis..... 147 4.2.2 Enkulturation und Kollektiv ..................................... 152 4.2.3 Kultur als Zeichensystem ....................................... 160 4.3 Herskovits’scher Relativismus und Universalismus ......................168 4.3.1 Ethno- und Eurozentrismus .....................................168 4.3.2 Kritik am Liberalismus westlicher Prägung ...................... 171 4.3.3 Absolutes, Universals und Menschenrechte ...................... 175 4.3.4 Fortschrittsgedanke bei Herskovits ............................. 179 4.4 Zwischenfazit ......................................................... 187 5. Fazit und Ausblick .................................................... 191 5.1 Ergebnisse der Analyse ................................................ 191 5.2 Zeitgenössische Kritik und Ausblick ................................... 200

6.

Literaturverzeichnis ................................................. 209

Danksagung

Ich möchte allen, die dieses Projekt unterstützt haben, von Herzen danken – ganz besonders Herrn Prof. Dr. Klaus P. Hansen, Herrn Prof. Dr. Karsten Fitz, Moritz, Borislava und meinen Eltern. Für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Publikation gilt mein Dank der Hansen-Stiftung und für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft.

1. Einleitung

1.1

Kultur und Menschrechte im öffentlichen Diskurs

Nicht nur in Universitätskreisen ist man sich einig, dass Kulturen einander ebenbürtig sind und dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Diese Haltung vermeidet es, über Kulturen und ihre Bräuche ein wertendes Urteil zu fällen und empfindet das kulturell Fremde als Bereicherung. Nachdem es lange anders war, hat sich also endlich – wenn auch leider nicht flächendeckend – eine Einstellung durchgesetzt, die das Fremde neutral oder positiv sieht. Diese Form der Abstandnahme von der Bewertung anderer Kulturen – wobei mit Kulturen meistens immer noch nationale oder ethnische Gruppen gemeint sind1 – ist insbesondere dann anzutreffen, wenn es sich um Sitten handelt, die geringe oder gar keine Konsequenzen für das gemeinsame Zusammenleben mit sich bringen.2 Die Urteilsabstinenz wird jedoch häufig dann in Frage gestellt, wenn ein kultureller Brauch einer Gruppe einem Werteverständnis oder einem Rechtsgut einer

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Die Anthropologin Susan Wright unterscheidet eine alte und eine neue Verwendung des Kulturbegriffs. Der alte Kulturbegriff verstehe Kulturen als geschlossene, homogene Entitäten, der neue als dynamische, heterogene Systeme. (Vgl. Wright, Susan: The Politicization of ›Culture‹. In: Anthropology Today 1/14 (1998). S. 7-15. S. 8ff.) Vgl. Brown, Michael F.: Cultural Relativism 2.0. In: Current Anthropology 49/3 (2008). S. 363-383. S. 367.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

anderen zuwiderzulaufen scheint. Mit Zygmunt Baumans Worten ist von »zwei gegensätzliche[n] Impulse[n]«3 zu sprechen: einerseits Mixophilie (eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, die unbekannte und unerforschte Erfahrungen ermöglichen und daher die Freuden des Abenteuers und der Entdeckung versprechen) und Mixophobie (die Angst vor einem nicht beherrschbaren Ausmaß an Unbekanntem, nicht zu Bändigendem, Beunruhigendem und Unkontrollierbarem).4 Heins drückt das folgendermaßen aus: »Das Fremde muss genießbar, verdaulich und möglichst käuflich sein, um nicht Schrecken und Abwehr hervorzurufen.«5 Um diese These zu verdeutlichen, zieht er den »jüngere[n] Streit um die Beschneidung von Jungen«6 heran. Im Mai 2012 entschied das Landgericht Köln in zweiter Instanz, dass die Beschneidung Minderjähriger, wie es in der jüdischen und muslimischen Religion Brauch ist, als Körperverletzung einzustufen sei.7 Dem Urteil lag der Fall eines vierjährigen muslimischen Jungen zugrunde, der nach Auftreten von Nachblutungen, die durch eine religiös motivierte Beschneidung verursacht worden waren, in einem Kölner Krankenhaus behandelt wurde, woraufhin die örtliche Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Arzt erhob, der die Behandlung durchgeführt hatte.8 Zwar wurde dieser freigesprochen, da der Ritus zum Zeitpunkt

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Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017. S. 14. Ebd.f. Heins, Volker M.: Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2013. S. 9. Ebd. S. 9. Vgl. ebd. Vgl. Süddeutsche.de: Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen ist strafbar. www.sueddeutsche.de/panorama/urteil-des-landgerichts-koelnbeschneidung-von-jungen-aus-religioesen-gruenden-ist-strafbar-1.1393536 (22.01.2015), Hans, Barbara: Beschneidung aus religiösen Gründen ist strafbar. www.spiegel.de/panorama/justiz/religioes-motivierte-beschneidungvon-jungen-ist-laut-gericht-strafbar-a-841084.html (26.01.2015)

1. Einleitung

seiner Durchführung 2010 in eine rechtliche Grauzone fiel (unvermeidbarer Verbotsirrtum), genau diese Grauzone wurde jedoch durch das unmissverständliche Verdikt der Kölner Richter abgeschafft.9 Das Recht auf »körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung«10 des Kindes habe gegenüber »dem Recht der Eltern auf religiöse Kindeserziehung«11 Vorrang.12 »Grundrechte […] unterliegen häufig einer Güterabwägung. So auch der Beschneidungsfall. Abgewogen werden müssen nämlich das Erziehungsrecht der Eltern, die Religionsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit.«13 Die klare Stellungnahme gegen die Beschneidung hat in der Folgezeit für heftige Kontroversen in der öffentlichen Diskussion gesorgt. Während Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise »Terre des Femmes« den Urteilsspruch des Kölner Landgerichts einhellig begrüßten,14 äußerten sich viele Politiker, Verbands- und Vereinsvorsitzende dezidiert negativ. So bezeichnete der damalige Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery das Urteil als »›sehr kulturunsensibel und falsch‹«15 . Ähnlich äußerte sich der CDU-Politiker Hermann Gröhe: »›Wir wollen jüdisches, wir wollen muslimisches Leben in der Bundesrepublik Deutschland und respektieren Jahrhunderte alte religiöse Traditionen.‹«16 Selbst die Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich zum Kölner Urteilsspruch und stellte klar: »›Ich will nicht, dass

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Vgl. ebd., openJur e. V.: LG Köln. Urteil vom 7. Mai 2012. Az 151 NS 169/11. www. openjur.de/u/433915.html (26.01.2015) Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Spaemann, Robert: Der Traum von der Schicksalslosigkeit. www.zeit.de/2012/28/Beschneidung (31.10.2017) Vgl. Spiegel.de: Urteil zur Beschneidung von Jungen. www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/islamische-religionsgemeinschaft-kritisiertbeschneidungsurteil-a-841234.html (26.01.2015) Taz.de: Vorhautgegner machen Druck. www.taz.de/!97323/(26.01.2015) Welt.de: Wachsende Unterstützung für Beschneidungsgesetz. www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article108306663/Wachsende-Unterstuetzung-fuer-Beschneidungsgesetz.html (26.01.2015)

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation […].‹«17 Die hier vorgestellten kritischen Stimmen bringen allesamt ein Unbehagen ob des Umgangs mit anderen Kulturen zum Ausdruck und vermuten, dass der Kölner Urteilsspruch keiner sachlichen Güterabwägung, sondern tief verwurzelten Vorbehalten gegenüber dem kulturell Fremden geschuldet ist. So bewertet auch Heins die Lage: Wie in längst vergangen geglaubten Zeiten schienen sich plötzlich große Teile des Publikums bedroht zu fühlen durch etwas Dunkles, Blutiges, Außereuropäisches. Vordergründig stand im Mittelpunkt dieser Debatte der Begriff des Kindeswohls, der in einen Gegensatz gebracht wurde zur Religionsfreiheit von Muslimen und dann natürlich auch von Juden, deren religiöse Tradition ebenfalls die Beschneidung von Jungen vorschreibt und etwa zur Voraussetzung der Teilnahme am Pessachfest macht.18 Am 19. Juli 2012, circa zwei Monate nach dem Urteil des Kölner Landgerichts, stimmte der Deutsche Bundestag mehrheitlich einem von SPD, CDU/CSU und FDP initiierten Entschließungsantrag zu,19 in dem auf die »zentrale religiöse Bedeutung«20 der Beschneidung für Juden und Muslime in Deutschland verwiesen wurde. Die Antragsteller forderten: Die rechtliche Einordnung der Beschneidung muss so schnell und so gründlich wie möglich geklärt werden. Der Deutsche Bundestag hält eine gesetzliche Klarstellung für geboten, die insbesondere unseren 17

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Spiegel.de: Umstrittene Rechtslage: Kanzlerin warnt vor Beschneidungsverbot. www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeskanzlerin-merkel-warnt-vorbeschneidungsverbot-a-844671.html (27.01.2015) Heins, V. M.: Der Skandal der Vielfalt. S. 9f. Vgl. Bundestag.de: Die Beschlüsse des Bundestages vom 19. Juli 2012. https://w ww.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39861243_kw29_angenommen_ abgelehnt-209066 (11.06.2019) Bundestag.de: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP. Rechtliche Regelung der Beschneidung Minderjähriger. dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/103/1710331.pdf

1. Einleitung

jüdischen und muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermöglicht, ihren Glauben frei auszuüben.21 Noch innerhalb desselben Jahres wurde das sogenannte Beschneidungsgesetz, Paragraph 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches, verabschiedet und das Urteil des Kölner Landgerichts damit aufgehoben.22 Die beiden Lager (pro und contra Beschneidung) argumentieren von folgenden Positionen aus. Das Pro-Lager erklärt den Brauch als schützenswert, weil er Teil der Kultur ist. Die Gegner und Gegnerinnen führen dagegen die Menschenrechte ins Feld und behaupten so, dass es eine über allen Kulturen thronende Ebene gebe.23 Diese letztere Partei wirft der ersteren Kulturrelativismus vor. Inhaltliche Schilderungen von interkulturellen Konflikten, die aus der Position der kulturrelativen Urteilsabstinenz erfolgen, vermeiden häufig den Begriff Kulturrelativismus. Er taucht in der öffentlichen Debatte aber gerne als Kampfbegriff auf, wenn es darum geht, die relativistische Sichtweise anzuprangern.24 So sieht der schweizerisch-israelische Philosoph Carlo Strenger in der »relativistischen Tendenz der politischen Korrektheit, die glaubt, alle Positionen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient«25 , eine Gefahr für die »offene[…] Gesellschaft«26 . Ferner befürchtet Strenger, dass »rechtsnationale Parteien und Gruppierungen die vakante Rolle der Verteidiger der freien Welt übernehmen,

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Ebd. Vgl. Fraczek, Jennifer, Fuchs, Richard: Beschneidungsgesetz bleibt umstritten. www.dw.de/beschneidungsgesetz-bleibt-umstritten/a-17285492 (28.01.2015) Diese zwei Positionen hat Eriksen als »rights above culture and the right to culture« (Eriksen, Thomas Hylland: A Critique of the UNESCO Concept of Culture. In: Human Rights: an Anthropological Reader. Herausgegeben von Mark Goodale. Malden, MA: Wiley-Blackwell 2009. S. 356-371. S. 361.) bezeichnet. Vgl. Schimang, Dieter: Menschrechte versus Menschenwürde: Zu unserer Kultur der Diskriminierung. Frankfurt a.M.: Humanities Online 2013. S. 151. Strenger, Carlo: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015 (edition suhrkamp). S. 7. Ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

dabei aber die zu verteidigenden Werte der Aufklärung […] durch Fremdenhass und Schüren von Ängsten untergraben«27 . Strengers »Grundthese […] ist, dass mit dem Insistieren auf der politischen Korrektheit ein fundamentales Prinzip der Aufklärung über Bord geworfen wurde nämlich, dass nichts und niemand über Kritik erhaben sein darf.«28 Die Ideale der Aufklärung würden durch eine »groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips«29 aufs Spiel gesetzt. Strenger setzt der kulturrelativen Sichtweise also die seiner Meinung nach universellen Prinzipien der Aufklärung entgegen. Im Hinblick auf deren Dialektik allerdings gibt Seyla Benhabib zu bedenken: Werden in diesem Diskurs der Inklusion und der Exklusion bezogen [zum Beispiel] auf den Islam, der sich in der europäischen – und nun auch zunehmend in der nordamerikanischen – Öffentlichkeit manifestiert, nicht einige gutbekannte Tropen einer dogmatischen Aufklärung wiederholt, die Andersartigkeit nur unter dem Vorzeichen tolerieren konnte, die Andersartigen schlussendlich dazu zu zwingen, so zu werden, wie man selbst ist?30 Letztlich, so die Kritik, laufen auch jene Ideale mit vermeintlich universellem Geltungsanspruch Gefahr, eine kulturelle Partikularität (euroamerikanische Aufklärung) zum Maß aller Dinge zu erheben, an dem sich alle anderen zu orientieren haben.

1.2

Der kulturelle Relativismus in der Kulturanthropologie

Die hier geschilderte Gegenüberstellung zeigt zum einen die politische Tragweite und Aktualität der Konzepte Universalismus und Relativismus und ist zum anderen ein gutes Beispiel dafür, wie die Begriffe in 27 28 29 30

Ebd. Ebd. S. 18. Ebd.f. Benhabib, Seyla: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 2165). S. 44.

1. Einleitung

der öffentlichen Debatte verwendet und, um mit Schimangs Worten zu sprechen, zuweilen »vulgarisiert«31 werden. Von der politischen Debatte muss die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept des Kulturrelativismus unterschieden werden. Sie hat vor allem in der Kulturanthropologie stattgefunden, der das Paradigma des Kulturrelativismus auch entsprungen ist. Vom fachgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet ist der Kulturrelativismus von herausragender Bedeutung für die universitäre Disziplin der Kulturanthropologie, die für sich in Anspruch nimmt, noch immer unter seinen Prämissen zu arbeiten. So bemerkt Heidemann in seinem Einführungswerk in die Ethnologie: »Der ethnologische Blick ist kulturrelativistisch, fremdkulturell informiert und auf die Sinnstiftung im Handlungsprozess gerichtet.«32 In Bezug auf ethnologisches Arbeiten stellt Heidemann fest: »Drittens erfolgt die Forschung mit einer theoretischen Einbettung, also in Anlehnung und Abgrenzung zu den bekannten Theorieentwürfen, jedoch stets mit einem kulturrelativistischen Verständnis […].«33 Das Wissen darum, was als Kulturrelativismus zu verstehen ist, gilt in der Kulturanthropologie darüber hinaus als konsolidiert.34 So versteht man es als Gemeinplatz, dass der Kulturrelativismus vom deutsch-amerikanischen Anthropologen Franz Boas erdacht und von seinen Schülerinnen und Schülern (unter anderem Melville Herskovits, Ruth Benedict, Margret Mead) zur Theorie ausgebaut wurde.35 Die Anfänge des kulturrelativistischen Denkens werden ferner auf Herder zurückgeführt,36 auf den die »romantic idea, that nations, groups within nations and peoples at different periods have distinctive cultures«37 zurückgehe. Tatsächlich handelt es sich beim Kulturrelativismus jedoch

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Schimang, D.: Menschrechte versus Menschenwürde. S. 151. Heidemann, Frank: Ethnologie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011 (= UTB basics). S. 11. Ebd. Vgl. Brown, M. F.: Cultural Relativism 2.0. S. 363. Vgl. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 65ff. Vgl. Brown, M. F.: Cultural Relativism 2.0. S. 365. Wright, S.: The Politicization of ›Culture‹. S. 8.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

um ein Konzept, das von Herder und Boas selbst nie zusammenhängend diskutiert, geschweige denn systematisch und theoriebildend abgearbeitet wurde. Der Begriff Kulturrelativismus wurde von Franz Boas selbst nicht verwendet. Erst die Generation seiner Schülerinnen und Schüler sprach explizit von cultural relativism. Dabei sind es vor allem Melville Herskovitsʼ theoretische Überlegungen, die sich weitestgehend mit dem decken, was gemeinhin als Kulturrelativismus betrachtet wird.

1.3

Ziel und Aufbau der Arbeit

Diese Arbeit will das für das Paradigma der euro-amerikanischen Kulturanthropologie vitale Konzept des kulturellen Relativismus einer grundlegenden Untersuchung unterziehen. Dabei geht es hauptsächlich um die Frage, ob der Kulturrelativismus zum einen tatsächlich auf Herder, Boas und Herskovits zurückzuführen ist und sich zum anderen derartig monolithisch gestaltet wie häufig angenommen. Dabei soll diese Arbeit belegen, dass es keine einheitliche Traditionslinie HerderBoas-Herskovits gibt. Anhand der Schriften der drei Wissenschaftler, denen in der Regel enorme Bedeutung für die Entstehungsgeschichte und Institutionalisierung des anthropologischen Kulturrelativismus zugeschrieben wird, sollen Unterschiede festgemacht und verschiedene Spielarten der Theorie identifiziert werden. In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, dass es sich bei Herder und Boas nicht um die tatsächlichen Urheber eines Kulturrelativismus handelt, der die Existenz universaler Maximen ausschließt. Der Chronologie folgend, wird sich der erste Teil der Analyse auf Herder beziehen, wobei besonderes Augenmerk auf seine zwei prominentesten Schriften »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« und »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« gelegt werden soll. Dort, wo es nötig erscheint, werden Textstellen aus anderen Werken Herders hinzugezogen. Im dritten Kapitel der Arbeit soll der Standpunkt Herders gegen den von Boas abgegrenzt beziehungsweise Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Denker herausgearbeitet werden. Die Analyse stützt sich hauptsächlich auf die kul-

1. Einleitung

turtheoretischer Überlegungen Boasʼ in »The Mind of Primitve Man«, wobei zum Nachweis einer gewissen Kontinuität im Boas’schen Gesamtwerk teilweise verschiedene Fassungen (1911, 1938) dieses Klassikers herangezogen werden. Was Boasʼ politische Positionen anbelangt, werden hauptsächlich seine in »Race and Democratic Society« gesammelten Beiträge berücksichtigt. In Kapitel vier widmet sich die Arbeit dem im Vergleich zu seinen Kolleginnen Ruth Benedict und Margaret Mead weniger stark rezipierten Melville J. Herskovits, auch weil er als einer der ersten explizit von cultural relativism sprach und diesen als wissenschaftliche Position vertrat. Da Herskovitsʼ wissenschaftliche Ansichten im Laufe seiner Karriere stark variierten, werden in der vorliegenden Arbeit ausschließlich Werke berücksichtigt, welche den letzten Stand seiner Positionen dokumentieren. Namentlich handelt es sich dabei um »Man and His Works«, einer überarbeiteten Version dieses Klassikers mit dem Titel »Cultural Dynamics«, »Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism« und das »Statement on Human Rights« der American Anthropological Society, dessen Autor Herskovits war.38 Entgegen der weitverbreiteten Meinung, Boasʼ Schülerinnen und Schüler hätten den im Kern bei Boas angelegten Kulturrelativismus zum Paradigma ausgebaut, wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass sich Boas und Herskovits in wesentlichen Punkten unterscheiden. Darüber hinaus wird der Beweis erbracht, dass weder Herder noch Boas eine echte Phase der Abkehr von eurozentrischen Ansichten eingeläutet haben. Die Arbeit hinterfragt somit die Einordnung von Herder und Boas in den Kanon der Kulturanthropologie kritisch.

38

Vgl. Goodale, Mark: Introduction: Human Rights and Anthropology. In: Human Rights: An Anthropological Reader. Herausgegeben von Mark Goodale. Malden, MA: Wiley-Blackwell 2009. S. 1-19. S. 4.

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2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

2.1

Grundpositionen und Ambivalenzen

Der 1744 in Ostpreußen geborene »evangelische Prediger, Theologe und spätere Generalsuperintendent in Weimar«1 Johann Gottfried Herder gilt als einer der bedeutendsten und ergiebigsten Denker seiner Zeit.2 Unter anderem wird auch deswegen nach wie vor viel zu Herder publiziert, weil sich sein Werk schwer verorten lässt. Adler hat darauf hingewiesen, dass Herder als »einer der ›Klassiker,‹ die sich schwertaten mit der Klassik, einer der ›Irrationalisten,‹ die der Aufklärung verpflichtet waren«3 die Position »ein[es] Denker[s] des ›Dazwischen,‹ der selbstkritischen Aufklärung«4 einnimmt. »So ist er ein Vermittler zwischen den großen Epochen, ein Kind der Aufklärung und ein Wegbereiter der Romantik.«5 Dabei seien diese differenzierte Sichtweise und die Wür1

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Gipper, Helmut, Schmitter, Peter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik. 2., verbesserte Auflage. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1985 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik, Bd. 123). S. 60. Gipper verweist in diesem Zusammenhang auf Baier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Herausgegeben von Eckhart Holzboog. Stuttgart: Frommann-Holzboog (= problemata, Bd. 188). Vgl. Adler, Hans: Einführung. Denker der Mitte: Johann Gottfried Herder, 17441803. In: Monatshefte 95/2 (2003). S. 161-170. S. 162. Ebd. S. 161. Ebd. Gipper, Helmut: Sprachphilosophie in der Romantik. In: Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Herausgegeben von

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

digung Herders als komplexer Denker eher ein Resultat der neueren Herderforschung,6 wurde Herder doch lange Zeit vor allem mit »›irrationalism‹ and chauvinistic, even racist nationalism«7 in Verbindung gebracht. In jüngerer und jüngster Zeit wurde besonders die Rolle Herders als Ideengeber der Anthropologie beleuchtet und darauf aufmerksam gemacht, dass sich Herder bei allen vermeintlichen Inkonsistenzen stets dem Anliegen verpflichtet sah, »[d]ie Philosophie auf die Erde zurückzuholen«8 , was einer Abkehr von »den leeren Abstraktionen der ALLGEMEINBEGRIFFE, die den Sprachgebrauch der rationalistischen Philosophie beherrschten«9 gleichkam. Er wollte »nicht [v]ernünfteln, sondern [s]ammeln«10 (eine Maxime, die unter dem Terminus Feldforschung auch in der Kulturanthropologie Bestand hat) und immer auch eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Lebenswirklichkeit schaffen: »Wissen ist für ihn menschliches Wissen, Sprache ist menschliche Sprache, Geschichte ist menschliche Geschichte, Philosophie ist menschliche Philosophie—Anthropologie—[…].«11 In diesem Punkt widersprach Herder Kant, seinem früheren Lehrer und Mentor in Königsberg,12 welcher ihn kurzerhand »aus der Zunft der Philoso-

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Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz und Georg Meggle. Bd. 1.1. Berlin: de Gruyter 1992. S. 197-233. S. 208. Vgl. Adler, H.: Einführung. Denker der Mitte. S. 162. Zammito, John H., Menges, Karl, Menze, Ernest A.: Johann Gottfried Herder Revisited: The Revolution in Scholarship in the Last Quarter Century. In: Journal of the History of Ideas 71/4 (2010) S. 661-684. S. 661f. Adler, H.: Einführung. Denker der Mitte: S. 161. Gipper, H., Schmitter, P.: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. S. 61. Herder, Johann Gottfried: Begründung einer Ästhetik in der Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden.: Frühe Schriften 1764-1772. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (= Bibliothek deutscher Klassiker). S. 651-694. S. 672. Adler, H.: Einführung. Denker der Mitte. S. 161. Zaremba, Michael: Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biografie. Köln: Böhlau Verlag 2002. S. 39f.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

phen«13 verstieß. Zammito will in dieser Loslösung Herders von Kant und seiner »Schulphilosophie«14 beziehungsweise Herders Hinwendung zur »Popularphilosophie«15 den Zeitpunkt erkennen, zu dem sich eine Wissenschaft vom Menschen von der Philosophie loslöste.16 Dass Herder auch als Ideengeber für den anthropologischen Kulturrelativismus gesehen wird, gilt unter Anthropologinnen und Anthropologen als Gemeinplatz. So bemerkt Brown: [T]he Boasians crystallized relativistic thinking with deep roots in European social theory. The eighteenth-century thinker Johann Gottfried von Herder (1744-1802) is known as the author of an important strand of cultural relativism.17 Ähnliches behauptet Finkielkraut, der Herder in seinem Essay »Die Niederlage des Denkens« maßgeblich für den Einzug des relativistischen Gedankens verantwortlich macht.18 Isaiah Berlin hat angeregt, zwischen Werterelativismus und Wertepluralismus zu unterscheiden. Wertepluralismus bedeutet für Berlin folgende Lehre: Es gibt viele objektive Ziele, viele letzte Werte, darunter auch solche, die nicht miteinander übereinstimmen – Ziele und Werte, die von verschiedenen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten angestrebt werden, von verschiedenen Gruppen innerhalb derselben Gesellschaft, von ganzen Klassen oder Kirchen oder Rassen oder von Individuen, wobei jede dieser Gruppen mit den widerstreitenden Ansprüchen von Zielen konfrontiert werden kann, die sich nicht miteinander verbinden lassen, die jedoch gleichermaßen endgültig und objektiv sind. Unvereinbar mögen diese Ziele zwar sein; aber 13 14 15 16 17 18

Adler, H.: Einführung. Denker der Mitte. S. 162. Zammito, John H.: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago, IL: The University of Chicago Press 2002. S. 1. Ebd. Vgl. ebd. S. 3. Brown, M. F.: Cultural Relativism 2.0. S. 365. Vgl. Finkielkraut, Alain: Die Niederlage des Denkens. Hamburg: Rowohlt 1990. S. 14ff.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

ihre Vielfalt kann nicht unbegrenzt sein, denn so vielfältig und wandlungsfähig die menschliche Natur auch ist, sie muß einen gewissen Gattungscharakter aufweisen, wenn sie als menschlich bezeichnet werden soll. Dies gilt erst recht für die Unterschiede zwischen Kulturen.19 Unter Wertepluralismus versteht Berlin also die Annahme, dass verschiedene Kollektive gleichermaßen »wahre« moralische Grundsätze vertreten und die Anzahl dieser »wahren« Normen begrenzt ist, wohingegen Anhänger eines Werterelativismus die Existenz von gültigen Normen an sich anzweifeln und in diesem Sinne für eine Willkür ethischer Grundsätze plädieren.20 Das heißt, während ethische Relativisten die Existenz einer »Tatsachenwahrheit«21 generell anzweifeln, gehen ethische Pluralisten von einer Vielzahl koexistierender Wahrheiten aus, die gleichberechtigt nebeneinander gültig sind. Wertepluralisten teilen demnach die Vorstellung eines gemeinsamen Wertepools, aus dem die Kollektive schöpfen können; für Werterelativisten ist es laut Berlin hingegen unsinnig, »von Wahrheit und Falschheit zu sprechen«22 , weil das Urteil eines Menschen oder einer Gruppe, da es einer Geschmacksvorliebe, einer emotional geprägten Haltung oder Anschauung entspringt oder eine solche zum Ausdruck bringt, nur das ist, was es ist, ohne jede Beziehung zu einem objektiven Korrelat, aus der sich seine Wahrheit oder Falschheit bestimmen würde.23 Berlin ordnet Herder als Wertepluralisten und somit als Denker ein, welcher die Existenz von mehreren, voneinander unabhängigen,

19

20 21 22 23

Berlin, Isaiah: Der angebliche Relativismus des europäischen Denkens im 18. Jahrhundert. In: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte. Herausgegeben von Henry Hardy. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1995. S. 97122. S. 109. Vgl. ebd.f. Ebd. S. 120. Ebd. S. 110. Ebd.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

gleichberechtigten und gleichermaßen »wahren« Wertesystemen propagiert. Damit ist neben Universalismus und Relativismus eine dritte Position definiert. Hildebrandt stellt fest, dass Herder »seine Universalgeschichte der Menschheit in der Spannung zwischen mehreren, nicht immer ganz widerspruchsfreien Paaren von Paradigmen [konzipiert]«24 und nimmt in diesem Zusammenhang eine Unterteilung der Herder’schen Kulturtheorie in »philosophische[…] Anthropologie«25 und »Kulturanthropologie«26 vor, wobei erstere die »Einheit der Menschengattung«27 und letztere die »Verschiedenheit der Kulturen«28 propagiere. Ein Widerspruch in Herders Gesamtwerk wurde von vielen konstatiert. Bisweilen wird sogar von einer »weitestgehend unsystematisch[en]«29 Denkweise Herders gesprochen. Zumeist werden die von Hildebrandt skizzierten beiden Pole unter den Schlagwörtern »Humanität« und »Historismus« zusammengefasst, die einer spezifischen Schaffensperiode Herders zugeordnet werden. Schmidt geht in diesem Kontext von einer Zweiteilung Herders Schaffens in ein vom Prinzip des Historismus geprägtes Früh- und ein vom Leitbild des Humanismus inspiriertes Haupt- und Spätwerk aus. Er bezeichnet Herders »Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit« demnach als »klassische[s] Werk«30 beziehungsweise das »Hauptwerk

24 25 26 27 28 29

30

Hildebrandt, Mathias: Multikulturalismus und Political Correctness in den USA. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. S. 137. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Castaldi, Vanna: Kontinuität und Diskontinuität im Werk Herders: Anthropologie und Geschichte. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur: Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder Gesellschaft Saarbrücken 2004. Herausgegeben von Sabine Groß und Gerhard Sauder. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2007. S. 75-85. S. 75. Schmidt, Gerhart: Einleitung. In: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit. Textausgabe. Darmstadt: Joseph Melzer Verlag 1966. S. 11-36.S. 11.

25

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Herders«31 , in dessen »Zentrum […] der Begriff der Humanität«32 stehe und nicht mehr der des Historismus.33 Meinecke will »mindestens drei Stufen seiner [Herders] Geschichtsauffassung unterscheiden«34 . Als »erste Stufe«35 identifiziert Meinecke das »Jahrzwölft von 1764 bis 1776«36 mit dem in dieser Zeit entstandenen Frühwerk »Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit«, welches »das Höchste [ist], was er [Herder] als historischer Denker und Bahnbrecher des Historismus geleistet hat«37 . Diese Periode grenzt Meinecke gegen eine spätere Schaffensphase Herders ab: »Die zweite Stufe, die ersten 15 Weimarer Jahre umfassend (1776-1791) und in ihrer besten Zeit durch Goethe befruchtet, bringt das gewaltige […] Hauptwerk, die ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ […] hervor.«38 Eine dritte Schaffensperiode will Meinecke durch die Werke »Briefe zur Beförderung der Humanität« (1793-1797, Bd. 17 und 18) und »Adrastea« (1801/03, Bd. 23 und 24) realisiert wissen,39 in denen laut Meinecke das Primat des »ethischen Maßstabes«40 voll und ganz zum Tragen komme und somit einen Gegenpol zum historischen Frühwerk Herders bilde.41 Im Folgenden soll nun Herders Werk, nach den Hauptkonzepten seiner Kulturtheorie gegliedert, im Hinblick auf universalistische und relativistische Elemente analysiert werden, wobei das Augenmerk auf den beiden Schriften »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« (in der Arbeit abgekürzt als »Philosophie«) und »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (in der Arbeit

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 15. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus. 2. Auflage. München: Leibniz-Verlag 1946. S. 381. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.f. Vgl. ebd. S. 382. Ebd. Vgl. ebd.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

abgekürzt als »Ideen«), welche als exemplarische Werke des frühen beziehungsweise des reifen Herders gelten, liegt. Dadurch kann die These, man könne Herders Schaffen in ein relativistisches Früh- und ein universalistisches Hauptwerk unterteilen, widerlegt werden. Vielmehr verhält es sich so, dass das Frühwerk neben den vielzitierten kulturrelativistischen Elementen auch Textpassagen enthält, die auf eine an universellen Grundwerten orientierte Haltung Herders schließen lassen. In der Summe – das wird die Untersuchung ergeben – muss festgehalten werden, dass das Bild von Herder als Kulturrelativist der ersten Stunde, welches in der Sekundärliteratur gerne skizziert wird, nicht aufrechterhalten werden kann.

2.2

Grundprinzipien der Herder’schen Kulturphilosophie

2.2.1

Herders Geschichtsauffassung

2.2.1.1

Historisches Denken und Lebensalteranalogie

Es lässt sich nicht leugnen, dass gerade Herders »Philosophie« Textstellen enthält, die die Hypothese, Herder habe ethische Werturteile über die Traditionen anderer Völker und allgemeinbindende Standards abgelehnt, befeuern. Diese Passagen sind eng mit Herders Geschichtsverständnis verknüpft, welchem laut Meinecke vor allem im Frühwerk herausragende Bedeutung zukommt.42 Meinecke verwendet für die seiner Meinung nach dort von Herder vertretene Geschichtsauffassung den Begriff »Historismus« oder »historische[s] Denken«43 ein.44 Im Allgemeinen kann unter dem Begriff Historismus eine Denk- und Interpretationsweise verstanden werden, die Phänomene nicht synchron, sondern diachron, das heißt in ihrem Verlauf, betrachtet und sie somit als gewachsene Einheiten versteht. Die zu untersuchenden Forschungsobjekte werden nicht durch die Linse einer statischen Momentaufnahme

42 43 44

Vgl. ebd. S. 381. Ebd. S. 379. Vgl. ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

interpretiert, sondern als dynamische, veränderbare Aggregatszustände eines an sich »Werdenden« verstanden: Es ist ein Denken, dem es um die Erkenntnis der Eigenart vergangener Zeiten im Unterschied zur Gegenwart und dem es zugleich um einen übergreifenden Zusammenhang verschiedener Zeiten geht: Deren Aufeinanderfolge erscheint als einheitliche und durchgängige Entwicklung eigentümlicher menschlicher Lebensformen. »Individualität« und »Entwicklung« sind die dafür charakteristischen Kategorien.45 Geschichtliche Ereignisse, so die Theorie, können lediglich aus der jeweiligen Epoche heraus verstanden und bewertet werden. Sie an heutigen Norm- und Wertvorstellungen zu messen, wäre demnach nicht adäquat und missachte die Tatsache, dass die Gegenwart das Resultat eines kontinuierlich ablaufenden geschichtlichen Prozesses darstellt. Dieser geschichtliche Prozess wird als »Entwicklung« verstanden.46 Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Entwicklung wertneutral ist und per se lediglich eine Veränderung beschreibt, die zunächst aber nicht normativ eingeordnet werden soll. Der Historismus begründete also ein Weltverständnis […], das sich dezidiert gegen Gesetzmäßigkeiten, Berechenbarkeit und naturwissenschaftliche Deutung der Geschichte wandte und statt dessen die Individualität, Offenheit und auch ›Gemachtheit‹ der Geschichte betonte.47 Prinzipiell gibt es im Historismus also kein Ideal, dem zugearbeitet werden müsste, wohingegen dem Konzept der »Evolution« die gegenteilige Annahme zugrunde liegt, nämlich die einer steten Bewegung hin zu einem fixen End- oder Zielpunkt. In jedem Fall beschreibt das

45 46 47

Jaeger, Friedrich, Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus: eine Einführung. München: C. H. Beck 1992. S. 1. Vgl. Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. S. 396. Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus. 2., durchgesehene Auflage. München: C. H. Beck 2014 (= C. H. Beck Wissen). S. 60.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Konzept der »Evolution« keinen wertneutralen geschichtlichen Prozess, sondern ein stufenweises Voranschreiten vom Einfachen zum Komplexen und Überlegenen (kurz, zum Besseren). Dieser Vorstellung von einander folgenden Kultursequenzen unterliegt ein starker wertender Vergleich, welcher später in der cultural anthropology unter dem Namen »comparative method«48 Schule machen sollte und »[which] attempted to arrange the coexisting manifestations of human culture in temporal sequences of progressive development which were ordered in a single cultural hierarchy«49 . Ein Schlüssel zum Verständnis von Herders Geschichtsauffassung ist die sowohl in Spät- als auch in Frühwerk vertretene Vorstellung einer Analogie zwischen menschlichen Lebensaltern und den Entwicklungsstadien der Erde. Irmscher hat darauf hingewiesen, dass es sich beim Vergleich um eine beliebte Methode Herders handelt, um »Ganzheiten oder Strukturen in ein Verhältnis zu einander«50 zu setzen. Bereits in seinen frühen Schriften bringt Herder diese Methode zur Anwendung.51 In der Annahme, der weltliche Geschichtsverlauf folge einer gottgegebenen, sozusagen ins All eingeschriebenen, kosmischen Vorsehung, unterteilt Herder die Lebensalter der Erde in Kindes-, Knaben-, Jünglings, Mannes- und Greisenalter, wobei er diese verschiedenen Völkern und geographischen Schauplätzen zuweist. Die Kindheit ist das Zeitalter der alttestamentarischen Patriarchen. Sinn für Vorbilder, Leichtgläubigkeit, Aberglaube, Autorität, Ehrfurcht, kindliches Religionsgefühl, Gehorsam, Unterjochung und Enthusiasmus sind die Charakteristika dieser Epoche. Der zweite Lebensabschnitt ist das frühe Knabenalter, die Epoche der Ägypter. Ordnung, Fleiß, Bürgersitten sind die Merkmale dieser Phase. Den

48 49 50

51

Stocking, JR., George W.: Race, Culture, and Evolution: Essays in the History of Anthropology. Chicago, IL: The University of Chicago Press 1982. S. 228. Ebd. Irmscher, Hans Dietrich: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55/1 (1981). S. 64-97. S. 68. Vgl. ebd. S. 67.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Phöniziern entspricht das späte Knabenalter. Im Gegensatz zu den Ägyptern sind die Phönizier durch Völkerliebe, Völkerrecht, Kunsttrieb, Üppigkeit und Bequemlichkeit charakterisiert. Die schöne Jünglingszeit der Menschheitsgeschichte ist für Herder in der Epoche der Griechen. Den Griechen kommen Schwatzhaftigkeit, Freundschaft, Freiheit, Liebe, Lust, Grazien, schöne Künste, Leichtigkeit und Landesfreundschaft zu. Die fünfte Phase ist das Mannesalter oder das Zeitalter der Römer, das durch Stolz, Heldenmut, Gerechtigkeit, Klugheit und Tapferkeit gekennzeichnet ist. […] Das eigene Zeitalter parallelisiert Herder mit dem Greisenalter.52 Die Frage, inwieweit das in der »Philosophie« vorherrschende Geschichtsverständnis als Indiz für Herders angeblichen Relativismus interpretiert werden kann, ist ein gut beackertes Feld und in der Tat lassen sich etliche Textpassagen finden, die genau das nahezulegen scheinen. So stellt Herder beispielsweise fest: Er [der Erdkloß] ist mir auf der Karte nichts als Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt hat: so original dies Land und seine Produkte, so eine eigne Menschengattung! Der menschliche Verstand hat viel in ihm gelernt, und vielleicht ist keine Gegend der Erde, wo dies Lernen so offenbar Kultur des Bodens gewesen als hier [in Ägypten]. Sina ist noch sein Nachbild: man urteile und errate. Auch hier wieder Torheit, eine einzige ägyptische Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menschlichen Geistes herauszureißen und mit dem Maßstabe einer andern Zeit zu messen! Konnte, wie gezeigt, sich schon der Grieche so sehr am Ägypter irren und der Morgenländer den Ägypter hassen: so dünkt mich, sollts doch erster Gedanke sein, ihn bloß auf seiner Stelle zu sehen, oder man sieht, zumal aus Europa her, die verzogenste Fratze.53 52

53

Albus, Vanessa: Weltbild und Metapher: Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 2001 (= Epistamata: Reihe Philosophie, Bd. 306). S. 291f. Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1990 (= Universal-Bibliothek Nr. 440[2]). S. 5-110. S. 17.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Herder plädiert in dieser Textstelle für die Partikularität und Inkommensurabilität der Völker (»so original dies Land und seine Produkte«54 ), indem er suggeriert, dass sowohl sinnvolles menschliches Handeln (»wo jeder Sinn entwickelt hat«55 ) als auch der menschliche Verstand selbst (»Der menschliche Verstand hat viel in ihm gelernt«56 ), sprich die menschliche Vernunft, kulturell bedingt beziehungsweise dem Lebensalter eines Volkes geschuldet und von daher relativ sind. Er hält es geradezu für eine »Torheit«57 , Sitten unterschiedlicher Zeiten und Völker miteinander zu vergleichen oder mit dem »Maßstabe einer andern Zeit«58 zu messen. Da er davon ausgeht, dass sich die Menschheitsgeschichte in Lebensaltern, realisiert durch einzelne Völker, vollzieht, jede einzelne »Stufe[…] der Leiter«59 , sprich jedes Lebensalter, wichtig zur Erlangung der nächsten ist, und bei der Realisierung der Vorsehung kein Schritt ausgelassen werden kann, sind die verschiedenen Schauplätze der Geschichte, die Völker, einander gleichgestellt beziehungsweise gleich wichtig. Tatsächlich geht es Herder jedoch um die Einzigartigkeit der Zeiten, oder anders formuliert: Die Einzigartigkeit der Zeiten, die Herder mit Hilfe der Lebensalteranalogie extrapoliert, bedingt die Einzigartigkeit der Völker, weswegen, um mit Herders Worten zu sprechen, der »Rock des Knaben […] ’für den Riesen zu kurz«60 ist. In der Tat geht mit dieser Vorstellung ein gewisser Relativismus einher, der den Ist-Zustand allerdings als Folge eines vorausgegangenen Prozesses betrachtet und dementsprechend als diachroner Epochenrelativismus bezeichnet werden muss. Die Kulturen sind in diesem Sinne nicht tatsächlich, sondern lediglich in Bezug auf ihre unterschiedlichen Lebensalter relativ, »denn auch mit dem Knaben von sieben Jahren läßt sich noch nicht, wie mit

54 55 56 57 58 59 60

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 16. Ebd. S. 17.

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32

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

dem Greis und Manne, vernünfteln«61 . Ein echter synchroner Werterelativismus schlösse die Annahme von universalen Normen aus und würde Sitten, Normen und Werte als gänzlich arbiträr erachten. Diese Art von Relativismus wird jedoch weder in Herders »Philosophie« noch in den »Ideen« vertreten,62 denn auch in den »Ideen« hält Herder an der Lebensalteranalogie fest, indem er die Menschheitsgeschichte in ihrem vermeintlichen Verlauf darstellt und sich dabei systematisch von der von ihm vermuteten Wiege der Menschheit, Asien, bis nach Europa vorarbeitet.63 Dabei verwendet er immer wieder das Bild der »Veredelung« und meint damit einen durch Kulturaustausch induzierten Zivilisationsfortschritt, der ganz natürlich mit dem Durchwandern der von Herder festgestellten Lebensalter einhergehe. So stellt er fest: Wir nordischen Europäer [meine Hervorhebung] wären noch Barbaren, wenn nicht ein gütiger Hauch des Schicksals uns wenigstens Blüten vom Geist dieser Völker herübergeweht hätte, um durch Einimpfung des schönen Zweiges in wilde Stämme mit der Zeit den unsern zu veredeln.64 Anhand dieses Zitats wird ersichtlich, dass Herder zum einen davon ausgeht, dass kultureller Fortschritt nicht im luftleeren Raum vonstattengeht, sondern auf den Errungenschaften vorangegangener Lebensalter basiert und die Epochen oder Völker in diesem Sinne also relativ zum gesamtmenschheitsgeschichtlichen Verlauf zu betrachten sind, weil ein jedes für die Erreichung des nächsten Entwicklungsabschnitts oder Lebensalters wichtig ist. Gleichzeitig legt Herders Wortwahl (»noch«65 , »Barbaren«66 , »wilde Stämme«67 ) eine wertende,

61 62 63 64 65 66 67

Ebd. Siehe hierzu auch Sikka, Sonia: Enlightened Relativism. The Case of Herder. In: Philosophy & Social Criticism 31/3 (2005). S. 309-341. S. 315. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Textausgabe. Darmstadt: Joseph Melzer 1966. S. 8f. Ebd. S. 164. Ebd. Ebd. Ebd.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

pejorative Betrachtungsweise nahe, die nicht an der Idee einer wertneutralen Entwicklung orientiert ist, sondern die Vorstellung einer an allgemeinen Kategorien festhaltenden Evolutionstheorie insinuiert, wobei »Nordeuropa aktuell das letzte Resultat des natürlichen Wachstums eines historischen Organismus«68 darstellt. Sikka ist der Ansicht, dass Herder bei der Bewertung Europas nicht anders vorgehe als bei anderen Regionen auch. Er diskutiere sowohl seine Tugenden als auch die Unzulänglichkeiten.69 Oberflächlich betrachtet mag dies auch zutreffen. Wenn Herder sich explizit zu Europa äußert, ist er tatsächlich um Objektivität bemüht; implizit extrapoliert er aber die Überlegenheit Europas, die seinem Evolutionsschema innewohnt.

2.2.1.2

Göttlicher Plan und Analogie der Natur

Die aufgezeigte Vorstellung einer Epochenfolge gemäß einem bereits existierenden kosmischen Plan ist eng mit Herders Biografie und seinem Selbstverständnis als Theologen verknüpft. »Die Geschichte wird dargestellt als Handeln Gottes […].«70 Ein wichtiger Pfeiler in Herders Kulturphilosophie, sowohl im Spät- als auch im Frühwerk, ist demnach also der Glaube an einen führenden, lenkenden Gott, in dessen Händen sämtliche Fäden des menschlichen Geschickes auf Erden bis zum Ende aller Zeiten zusammenlaufen: Alles ist großes Schicksal! von Menschen unüberdacht, ungehofft, unbewürkt – siehst du, Ameise, nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnisses nur kriechest? Wenn wir in die Umstände des Ursprungs aller sogenannten Welterleuchtungen näher eindringen: die

68

69 70

Zhang, Chunjie: Geschichtsphilosophie zwischen Eurozentrismus und Kritik an der kolonialen Praxis. In: Herder und seine Wirkung: Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Jena 2008. Herausgegeben von Michael Maurer. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2014. S. 361-370. S. 366. Vgl. Sikka, S.: The Case of Europa. S. 319. Irmscher, Hans Dietrich: Nachwort. In: Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1990 (= Universal-Bibliothek Nr. 440[2]). S. 140-159. S. 159.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

nämliche Sache. Dort im Großen, hier im Kleinen, Zufall, Schicksal, Gottheit!71 An anderer Stelle bekundet Herder seiner Schicksalsergebenheit72 mit folgenden Worten: »Die Vorsehung leitet den Faden der Entwicklung weiter – vom Euphrat, Oxus und Ganges herab, zum Nil und an die phönizischen Küsten – große Schritte!«73 Der Herder’schen Geschichtsauffassung immanent ist also die Annahme einer göttlichen, fast mystischen Vorsehung menschlichen Handelns. Letztendlich geht alles auf einen »Bauplan allmächtiger Weisheit«74 zurück und »[w]ir sind bei dieser Fortrückung freilich auch auf unsrer Stelle, Zweck und Werkzeug des Schicksals«75 . Herder deutet die Menschheitsgeschichte also als eine nach Lebensaltern verlaufende Evolution, deren Stadien a priori von Gott festgelegt sind. »In der göttlichen Ordnung hat […] alles seinen zugewiesenen Platz.«76 Sie ist, »so spricht die Analogie in der Natur«77 , das »redende Vorbild Gottes in allen Werken«78 . Der göttliche Plan offenbart sich Herder zufolge also in der Natur. So bemüht Herder neben der Metapher der Lebensalter auch den Vergleich mit dem Wachstum in der Natur: Daß kein Volk lange geblieben und bleiben konnte, was es war, daß jedes, wie jede Kunst und Wissenschaft, und was in der Welt nicht? seine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme gehabt; daß jedwede dieser Veränderungen nur das Minimum von Zeit gedauert, was ihr auf dem Rade des menschlichen Schicksals gegeben

71 72 73 74 75 76 77 78

Herder, J. G.: Philosophie. S. 56f. Sikka stellt fest, dass »[t]he progress of humanity is, for Herder, the work of ›destiny‹ […]« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 315). Herder, J. G.: Philosophie.S. 14. Ebd. S. 84. Ebd. S. 82. Albus, V.: Weltbild und Metapher. S. 308. Herder, J. G.: Philosophie. S. 38. Ebd.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

werden konnte – daß endlich in der Welt keine zwei Augenblicke dieselbe sind – daß also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen […].79 Diese Abfolge von Wachstum, Blüte und Verfall, die in etwa der Lebensalteranalogie entspricht, wird zum einen für die Geschichte eines spezifischen Volks, zum anderen für die gesamte Menschheitsgeschichte angenommen und greift demnach auf zwei Ebenen, der des Volks und der des Kosmos. Das wird daran ersichtlich, dass nicht alle Völker zwangsweise »die ganze ›Laufbahn‹«80 durchwandern. »[I]hre ›Blume‹ wird vorzeitig ›abgemäht‹.«81 Im von Herder skizzierten Geschichtsverlauf übernimmt demnach ein spezifisches Volk ein bestimmtes Stadium (Wachstum, Blüte oder Abnahme), was bedeutet, dass das Volk nach der ihm durch den göttlichen Plan zugedachten Phase an Bedeutung für das große Ganze verliert und sich das göttliche Wirken gewissermaßen auf den nächsten Schauplatz der Geschichte verlagert. Auch an der von Herder zusätzlich bemühten Metapher des wachsenden Baumes wird dieses Prinzip offensichtlich: »Nicht mehr Samenkorn, wenns Sprößling, kein zarter Sprößling mehr, wenns Baum ist. Über dem Stamm ist Krone; wenn jeder Ast, jeder Zweig derselben Stamm und Wurzel sein wollte – wo bliebe der Baum?«82 Es entsteht der Eindruck, dass ein jeder Teil des Baumes sozusagen nur einmal »gelebt« werden kann, die Völker also verschiedene Funktionen des organisch gewachsenen Gesamtgebildes übernehmen. Der Baum als Metapher des sich natürlich entwickelnden Geschichtsverlaufs ist zudem eo ipso Gottes Werk, ein Aspekt, den Herder nicht müde wird zu betonen: Großes Geschöpf Gottes! Werk dreier Weltteile und fast sechs Jahrtausende! die zarte saftvolle Wurzel, der schlanke, blühende Sprößling, der mächtige Stamm, die starkstrebende, verschlungne Äste, die luf-

79 80 81 82

Ebd. S. 30. Albus, V.: Weltbild und Metapher. S. 297. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 79.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

tigen, weit verbreiteten Zweige – wie ruhet alles aufeinander, ist auseinander erwachsen! Großes Geschöpf Gottes!83 Auch im Spätwerk, den »Ideen«, hält Herder an der in der »Philosophie« vertretenen Vorstellung einer Offenbarung Gottes in der Natur fest, was unter anderem an einer ähnlich intensiven Nutzung der Naturmetaphorik ersichtlich wird. So bemerkt er: »In der Naturwelt gehört alles zusammen, was zusammen und ineinander wirkt, pflanzend, erhaltend oder zerstörend; in der Naturwelt der Geschichte nicht minder.«84 Herder stellt diese »Naturwelt der Geschichte«85 in den religiösen Kontext einer heilsgeschichtlichen Providenz: Die Zeiten rollen fort und mit ihnen das Kind der Zeiten, die vielgestaltige Menschheit. Alles hat auf der Erde geblüht, was blühen konnte; jedes zu seiner Zeit und in seinem Kreise; es ist abgeblüht und wird wieder blühen, wenn seine Zeit kommt. Das Werk der Vorsehung geht nach allgemeinen großen Gesetzen in seinem ewigen Gange fort;86 Hier spricht Herder von »allgemeinen, großen Gesetzen«87 . Wie hat man sich diese vorzustellen? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, einen Blick auf die ersten Kapitel der »Ideen« zu werfen, in denen Herder detailliert beschreibt, wie er sich die Organisation der Erde und den darauf lebenden Völkern vorstellt. Er beginnt sein Magnum Opus mit Betrachtungen »zu Geologie, Geographie, Klima, Fauna und Flora«88 und widmet sich erst danach dem Menschen beziehungsweise den Völkern. Diese Anordnung offenbart zum einen, dass Herder versucht, »die Einheit des Ganzen, insbesondere die von Natur und Geist, Mensch und Gott in den Blick zu rücken«89 . Zum anderen kann unterstellt werden, dass bereits in der bloßen Anordnung der Kapitel eine 83 84 85 86 87 88 89

Ebd. Herder, J. G.: Ideen. S. 392. Ebd. Ebd. S. 394. Ebd. Hansen, Klaus P.: Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Verlag Karl Stutz 2009 (= Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft, Bd. 1). S. 86f. Ebd. S. 87.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Systematik auszumachen ist, die ein in Stufen verlaufendes Fortschreiten der Weltgeschichte im Sinne einer Progression vom Simplen zum Komplexen suggeriert. Während sich Herder im ersten Buch auf den Planeten Erde konzentriert, rückt sein Fokus im zweiten Buch zuerst auf das Pflanzen- und dann auf das Tierreich. »Das Gewächsreich«, so Herder, »ist eine höhere Art der Organisation als alle Gebilde der Erde und hat einen so weiten Umfang, daß es sich sowohl in diesen verliert als in mancherlei Sprossen und Ähnlichkeiten dem Tierreich nähert«90 . Hier äußert sich Herder eindeutig wertend, indem er von einer »höhere[n] Art der Organisation«91 berichtet. Eine Entwicklung hin zum Höheren stellt Herder auch für den Übergang von der Pflanze zum Tier fest: Das erste Merkmal wodurch sich unsern Augen ein Tier unterscheidet, ist der Mund. Die Pflanze ist, wenn ich so sagen darf, noch ganz Mund: sie saugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; sie liegt noch wie ein unentwickeltes Kind in ihrer Mutter Schoß und an ihren Brüsten. Sobald sich das Geschöpf zum Tier organisieret, wird an ihm, selbst ehe noch ein Haupt unterscheidbar ist, der Mund merklich. […] Die Insekten sind im Zustande der Larven fast nichts als Mund, Magen und Eingeweide; die Gestalt der Fische und Amphibien, endlich sogar der Vögel und Landtiere ist auch in ihrer horizontalen Lage dazu gebildet. Nur je höher hinauf, desto vielfach geordneter werden die Teile.92 Für Herder steht außer Frage, dass der Mensch die unangefochtene Krone der Schöpfung darstellt. Hierzu bemerkt er: »So wuchs die Schöpfung in immer feineren Organisationen stufenweise hinan, bis endlich der Mensch dasteht, das feinste Kunstgebilde der Elohim, der Schöpfung vollendende Krone.«93

90 91 92 93

Herder, J. G.: Ideen. S. 67. Ebd. Ebd. S. 79. Ebd. S. 266.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

2.2.1.3

Herders Fortschrittsdenken in Abgrenzung zur Aufklärung

Der hier skizzierte Fortschrittsgedanke im Sinne eines steten Evolutionsprozesses der Natur wird auch im Kontext der Völker weitergeführt. Herder vertritt hierbei nicht nur metaphorisch, sondern ganz explizit die Vorstellung von verschiedenen »Kulturstufen«. Und das bereits in der »Philosophie«. Dort heißt es: Der Ägypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß nicht Grieche – eben ihr Haß [die Ablehnung der Lebensart des jeweils anderen] zeigt Entwickelungen, Fortgang, Stufen der Leiter!94 Dieser Fortgang, den Meinecke als »[v]egetativ-biologisch«95 und »erste Form des Herderschen Entwicklungsgedankens«96 bezeichnet, vollzieht sich, wie bereits erläutert, auf zwei Ebenen. Parallel zu der sich für jedes einzelne Volk vollziehenden Evolution aus »Wachstum[…], […] Blüte und […] Abnahme«97 findet auf der Makroebene ein identisch gearteter Prozess statt. Herder unterscheidet demnach also zwischen Evolutionsstadien der Völker und der Welt, wobei er letztere auch als »Stufe[n] des Weltalters«98 tituliert. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass er das bereits im Frühwerk, welches gemeinhin als relativistisches Schriftstück gilt, tut. In den »Ideen« wird diese Auffassung vom Stufengang der Völker und der Welt konsequent weiter vertreten: Wenn man also auch von den Endursachen der Schöpfung ganz abstrahiert, so lag es schon im Stoff der Natur selbst, daß sie aus Vielem ein Eins machen und durch das kreisende Rad der Schöpfung Zahlloses zerstören mußte, damit sie ein Minderes, aber Edleres belebte. So fuhr sie von unten hinauf, und indem sie allenthalben gnug des

94 95 96 97 98

Herder, J. G.: Philosophie. S. 16. Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. S. 396. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 30. Ebd. S. 32.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Samens nachließ, Geschlechter, die sie dauren lassen wollte, zu erhalten, bahnte sie sich den Weg zu auserlesneren feinern, höheren Geschlechtern.99 Die Grundidee einer sich in Etappen vollziehenden menschheitsgeschichtlichen Evolution ist also sowohl in der »Philosophie« als auch in den »Ideen« vorhanden. Allerdings ist sich Herder ob der Art und Weise, wie dieser Stufengang vollzogen wird, nicht ganz schlüssig, aber »[d]aß offenbar dies Erwachsen, dieser Fortgang auseinander nicht »Vervollkommung im eingeschränktem Schulsinne sei, hat […] der ganze Blick gezeigt.«100 Dezidiert richtet sich Herder diese Thematik betreffend gegen die Philosophen der Aufklärung: Gemeiniglich ist der Philosoph alsdenn am meisten Tier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte: so auch bei der zuversichtlichen Berechnung von Vervollkommung der Welt. Daß doch ja alles hübsch in gerader Linie ginge, und jeder folgende Mensch und jedes folgende Geschlecht in schöner Progression, zu der er allein den Exponenten von Tugend und Glückseligkeit zu geben wußte, nach seinem Ideal vervollkommet würde!101 Herder spricht sich also dagegen aus, Prognosen über die Zukunft (»Berechnung«102 ) anzustellen und aus der Gegenwart einen Plan für die Zukunft abzuleiten. Diese Ablehnung rührt jedoch nicht von der Annahme her, dass es keinen solchen Plan gebe. Ganz im Gegenteil ist Herder von seiner Existenz überzeugt, jedoch ist er der Auffassung, dass er sich nicht durch Geistesleistung erschließen lässt. Allenfalls kann die Geschichte bei Herder in der Rückschau gedeutet werden. Dasselbe jedoch für die Zukunft zu versuchen, ist für Herder menschliche Hybris. Genau diese wirft er auch den französischen Aufklärern, allen voran Voltaire, vor.103 In der »Philosophie«, welche als Pamphlet dem mecha99 100 101 102 103

Herder, J. G.: Ideen. S. 253f. Herder, J. G.: Philosophie. S. 79. Ebd. S. 82. Ebd. Vgl. ebd. S. 71.

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nischen Denken der Philosophen der Aufklärung Paroli bieten wollte, kritisiert Herder das selbstzugeteilte Deutungsmonopol der Aufklärer, indem er für eine diffuse Evolution nach nicht nachvollziehbaren Gesetzen plädiert. Auch Sikka thematisiert Herders Kritik an den europäischen Aufklärern. Sie führt diese auf Herders vermeintliche Prämisse zurück, dass es für Historiker geboten sei, ihre eigenen kulturell bedingten Vorurteile zu hinterfragen.104 Doch Herder erkennt diese Möglichkeit allenfalls als Ideal an. Wesentlicher Pfeiler seiner Theorie nämlich ist die Vorstellung eines Menschen, der sich seines jeweiligen Evolutionsstadiums nicht bewusst ist beziehungsweise gar nicht bewusst sein kann: Es ist fast unvermeidlich, daß eben das Höhere, Weitverbreitete unsers Jahrhunderts auch Zweideutigkeiten der besten und schlimmsten Handlungen geben muß, die bei engern, tiefern Sphären wegfielen. Eben daß niemand fast mehr weiß, wozu er würkt: das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?105 Diese hier skizzierte Vorstellung einer unklaren Rolle im Weltengefüge wird auch an anderer Stelle in der »Philosophie« geschildert: Unter dem großen Baume Allvaters, dessen Gipfel über alle Himmel, dessen Wurzeln unter Welten und Hölle reichen: bin ich Adler auf diesem Baume? bin der Rabe, der auf seiner Schulter ihm täglich den Abendgruß der Welten zu Ohr bringt? – welch eine kleine Laubfaser des Baums mag ich sein! kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten!106 Herder geht davon aus, dass nur die Retroperspektive, nur die historisierende Gesamtschau, Schlussfolgerungen und Interpretationsmöglichkeiten für das eigene Leben erschließen kann:

104 Vgl. Sikka, S.: The Case of Herder. S. 326. 105 Herder, J. G.: Philosophie. S. 105. 106 Ebd. S. 85.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Und wenn uns einst ein Standpunkt würde, das Ganze nur unsres Geschlechts zu übersehen! wohin die Kette zwischen Völkern und Erdstrichen, die sich erst so langsam zog, denn mit so vielem Geklirr Nationen durchschlang und endlich mit sanfterm aber strengerm Zusammenziehen diese Nationen binden und wohin? leiten sollte – wohin die Kette reicht? wir sehen die reife Ernte der Samenkörner, die wir aus einem blinden Siebe unter die Völker verstreut, so sonderbar keimen, so verschiedenartig blühen, so zweideutige Hoffnungen der Frucht geben, sahen – wir habens selbst zu kosten, was der Sauerteig, der so lang, so trüb und schmackhaft gärte, endlich für Wohlgeschmack hervorbrachte zur allgemeinen Bildung der Menschheit – Fragment des Lebens, was warest du?107 Auch diese Vorstellung von der Unwissenheit des Menschen beziehungsweise der Völker wird in den »Ideen« nicht aufgegeben: Ohn unsern Willen werden wir hervorgerufen, und niemand wird gefragt, welches Geschlechts er sein, von welchen Eltern er entsprießen, auf welchem Boden er dürftig oder üppig fortkommen, durch welchen Zufall endlich von innen oder von außen er untergehen wolle. In alle diesem muß der Mensch höhern Gesetzen folgen, über die er sowenig als die Pflanze Aufschluß erhält, ja denen er beinah wider Willen mit seinen stärksten Trieben dienet.108 Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass sowohl in der »Philosophie« als auch in den »Ideen« eine Vorstellung einer sich in Stufen vollziehenden Evolution des gesamten irdischen Lebens, inklusive des menschlichen, festgestellt werden kann. Diese Evolution greift auf zwei Ebenen, zum einen auf der Mikroebene der Völker und zum anderen auf der Makroebene des universellen Geschichtsverlaufes, der für das gesamte Weltengefüge angenommen wird. Herders Wirklichkeitsdeutung sieht demnach so aus, dass sich jeweils die einzelnen Völker in unterschiedlichen Evolutionsstadien befinden, während die

107 Ebd. S. 110. 108 Herder, J. G.: Ideen. S. 67f.

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Erde unabhängig davon eine eigene gesamtgeschichtliche Evolution durchläuft, die in keinem direkten Zusammenhang mit den Epochen der einzelner Völker steht. Entgegen Meinecke, der in Herder einen eher kulturrelativistischen Denker sieht und behauptet, dass er nur vereinzelt den »Entwicklungsgedanke[n], normativ verstanden, zum Fortschrittsgedanken überspannt […]«109 , ist der von Herder vertretene Entwicklungsgedanke im Kern bereits als echter Fortschrittsglaube im Sinne einer steten Veränderung zum Besseren angelegt.110 Insofern dieser in der »Philosophie« und in den »Ideen« gleichermaßen zum Tragen kommt, kann diesbezüglich von einer Stringenz und Kontinuität in Früh- und Hauptwerk gesprochen werden. Die von einigen wie zum Beispiel Schmidt konstatierte Zäsur zwischen Herders angeblich kulturrelativistischen Anfängen und den vom Leitbild universeller Werte geprägten »Ideen« kann nicht bestätigt werden. Evident ist allerdings der, der Verschiedenheit der Textgattungen geschuldete, unterschiedliche Ton beider Schriftstücke. Während es sich bei den »Ideen« um ein um Vollständigkeit und Stringenz bemühtes geschichtsphilosophisches Kompendium handelt, versteht sich die »Philosophie« vor allen Dingen als bissige Streitschrift oder »Pamphlet, wie Herder sie selbst in einem Brief vom 8. November

109 Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. S. 430. 110 Sikka versteht Herders Fortschrittsgedanken anders als die vorliegende Arbeit. Sie ist der Meinung, dass für Herder aus moralischer Perspektive keine Einordnung der »Völker« nach einem bestimmten Schema möglich sei, da jedes »Volk« sowohl Tugenden vorweise als auch Sünden begehe und man von Überoder Unterlegenheit nur in Bezug auf spezifische Bereiche oder Werte sprechen könne und nie allgemein, also im Sinne einer grundsätzlichen Überlegenheit (Vgl. ebd. S. 316). Laut Sikka ist Herder der Ansicht, dass sich Geschichte nicht als »morality tale« (ebd. S. 314.) entfalte. Angesichts der heilsgeschichtlichen Dimension Herders Entwicklungsschemas ist das nicht einleuchtend. Hier wird die These vertreten, dass Herder »unterm Strich« sehr wohl von genereller Über- und Unterlegenheit spricht. Anders formuliert: Obwohl positive Aspekte eines vorangegangen Stadiums in der allgemeinen Entwicklung durchaus unter den Tisch fallen können, müssen die positiven Aspekte zum Erlangen der nächsten Stufe überwiegen.

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1783 an Johann Gottfried Eichhorn bezeichnet hat«111 , dass sich in dem Bemühen, das mechanische Fortschrittsdenken der Aufklärer zu karikieren, wiederholt des Stilmittels der Übertreibung und der Zuspitzung bedient. Herder – darin besteht die wohl größte Divergenz zu der Philosophie der Aufklärung – plädiert in seinen Schriften für eine nach undurchschaubaren Gesetzen verlaufende Evolution, die den Menschen schicksalsergeben und ahnungslos zurücklässt. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass er keine universellen Werte, keinen Fortschritt kennt. Vielmehr obliege es nicht dem Menschen, die ihm vom Universum zugedachte Stellung im Weltgefüge zu hinterfragen. Sie ergebe sich urwüchsig aus der natürlichen Geschichte der Menschheit.

2.2.2

Herders Humanitätsideal

Wie bereits erörtert, wird zwischen Herders »Philosophie« und den »Ideen« eine Zäsur vermutet, die zuweilen als Unstimmigkeit beziehungsweise Inkonsequenz betrachtet wird. Schmidt ist gar der Auffassung, dass Herders im Frühwerk entwickelte Geschichtsauffassung in den »Ideen« gänzlich verkümmert und bedauert: »In den »Ideen« ist der Begriff der Geschichte verstümmelt.«112 Schmidt nimmt an, der Historismus aus Herders Frühwerk werde in den »Ideen« durch das Konzept der Humanität abgelöst, das Herders Kulturphilosophie der frühen Jahre ad absurdum führe. Auch Löchte diskutiert die angebliche Nichtvereinbarkeit von Herders Früh- und Spätwerk und räumt ein: Überwiegt in Herders früher geschichtsphilosophischer Schrift noch der Kampf für die Eigenständigkeit der Epochen, der sich gegen das Vernunftdenken des eigenen Jahrhunderts richtet, gewinnt in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) der Humanitätsgedanke an Gewicht.113 111 112 113

Irmscher, H. D.: Nachwort. S. 141f. Schmidt, G.: Einleitung. S. 15. Löchte, Anne: Humanitätsideal und Kulturtheorie in Herders Spätwerk. Stuttgart: ibidem-Verlag 2000. S. 9.

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Im Gegensatz zu Schmidt kommt Löchte jedoch zu dem Schluss, dass die »Philosophie« und die »Ideen« durchaus mit einander in Einklang zu bringen sind und einander in sinnvoller Art und Weise ergänzen.114 Diese Ansicht vertritt auch Sikka: Temperamentally, Herder seems to have lacked the levels of patience and detachment required for the production of that genre of philosophical disquisition. This does not mean, however, that his views on given subjects are either rash or incomplete, or inconsistent with one another. On the contrary, […] a careful examination of Herder’s works reveals a clear, coherent, and well-developed philosophical position […].115 Bevor der Frage nachgegangen wird, inwiefern Löchte/Sikka oder Schmidt Recht zu geben ist, soll zunächst in einem ersten Schritt geklärt werden, wie Herders Humanitätsbegriff zu verstehen ist. »Dem Begriff der Humanität eignet eine gewisse Unschärfe; er bringt den Interpreten in Verlegenheit.«116 Auch Herder bleibt vage: Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe; denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet.117 Die Aussage, der Mensch habe kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, ist bei Herder durchaus wörtlich zu verstehen. Für ihn steht fest: »Der Mensch, nur sofern er Mensch ist, besitzt diese Humanität.«118 Das Konzept der Humanität wird bei Herder also als Gat114 115 116 117 118

Vgl. ebd. S. 75. Sikka, Sonia: Herder on Humanity and Cultural Difference: Enlightened Relativism. New York City, NY: Cambridge University Press 2011. S. 10. Schmidt, G.: Einleitung. S. 11. Herder, J. G.: Ideen. S. 124. Schmidt, G.: Einleitung. S. 11.

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tungsmerkmal gedeutet. Allerdings – das wird in den »Briefen zur Beförderung der Humanität« deutlich – ist Humanität beim Menschen nur in der Anlage vorhanden, wird dem Menschen sozusagen von Gott mit in die Wiege gelegt, was nicht bedeutet, dass sie sich auch unbedingt entfalten muss.119 Vielmehr verhält es sich bei der Humanität wie bei den Talenten, die auch erst ausgebildet und kultiviert werden müssen, um ihr ganzes Potenzial zur Geltung bringen zu können. »Der Mensch muß diese Humanität »lernen«, da sie zunächst noch unentfaltet in ihm liegt.«120 In Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« heißt es wortwörtlich: Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein; denn eine Angelität […] im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.121 An diesem Zitat werden gleich mehrere Aspekte des Herder’schen Humanitätsbegriffs evident. Zum einen wird die Vorstellung von Humanität als kultivierbare menschliche Anlage diskutiert, zum anderen wird

119

Vgl. Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität. Rudolstadt: Der Greifenverlag zu Rudolstadt 1947. S 61. 120 Schmidt, G.: Einleitung. S. 11f. 121 Herder, J. G.: Briefe zur Beförderung der Humanität. S 61.

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darauf hingewiesen, dass diese »Bildung zur Humanität«122 das »Göttliche in unserem Geschlecht«123 sei, was insofern eine Gleichsetzung von Erlangung von Humanität und Erfüllung des göttlichen Schicksalsplans impliziert, als das Ausleben der menschlichen gottgegebenen Natur, das gleichsam ein »Ausfüllen« der von Gott zugedachten menschlichen Rolle bedeutet, Herders Verständnis nach als Humanität zu definieren ist. Die bereits skizzierte Einheit von göttlichem Schicksalsplan und natürlicher Urwüchsigkeit wird demnach also um die Komponente der Humanität erweitert. Gott ist gleich Natur, ist gleich Humanität oder mit Herders Worten: »Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben.«124 Es spricht einiges dafür, dass die Idee der Humanität im Kern bereits in der »Philosophie« vorhanden war, ein Verdacht, der bereits durch den bloßen Titel (»Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit«) und den damit verbundenen Verweis auf die Notwendigkeit einer menschlichen Bildung in den Raum gestellt wird, war Herder offensichtlich bereits zum Zeitpunkt der Entstehung der Ansicht, dass der Mensch nicht vollkommen geboren wird, sondern durch Bildung einem Ideal angenähert werden muss. Herder versteht das Konzept der Humanität »als übergreifendes Prinzip der Menschheitsgeschichte«125 und es ist nicht etwa so, dass er das Konzept und den damit einhergehenden Bildungsauftrag erst, wie Löchte behauptet, im Spätwerk »entdeckt«126 , sondern bereits in der »Philosophie« entwickelt, wo er unter dem Konzept der gottgegebenen Urwüchsigkeit firmiert, da Humanität zu besitzen nichts anderes als natürlich Mensch zu sein bedeutet. Bei der Lektüre des Werkes wird diese Auffassung einer zur Bildung verpflichteten menschlichen Natur offensichtlich: »Ist die menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit: sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet 122 123 124 125 126

Ebd. Ebd. Herder, J. G.: Ideen. S. 397. Löchte, A.: Humanitätsideal und Kulturtheorie in Herders Spätwerk. S. 9. Ebd.

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werden, im allmählichen Kampf immer weiterschreiten […].«127 Bei diesem Fortschreiten handelt es sich, wie bereits dargelegt, um keine mechanische, lineare Progression,128 sondern vielmehr um ein vegetatives, intuitives Wachsen. Wortwörtlich heißt es dazu bei Herder: »Die Vorsehung selbst, siehest du, hats nicht gefodert [sic!], hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer ihren Zweck erreichen wollen […].«129 Während sich hinter dem Ausdruck »Vorsehung«130 die Vorstellung einer lenkenden Gottheit verbirgt, impliziert die Wendung »Weckung neuer Kräfte«131 das im Menschen schlummernde Potenzial, welches, durch Bildung kultiviert, der Erreichung der Zwecke der Vorsehung dient und, soweit die hier vertretene These, in den »Ideen« als Humanität bezeichnet wird. Shimada legt überzeugend dar, dass die Konzepte der Humanität und der Evolution bei Herder eng miteinander verwoben sind, Humanität als Matrix des menschheitsgeschichtlichen Verlaufs fungiere. »Das in den Ideen immer wieder verwendete Wort ›Humanität‹ […]«, fordert Shimada, »soll also […] als […] ein Schlüsselwort oder ein Leitfaden aufgefaßt werden, der Herder bei der Beschreibung der Menschheitsgeschichte […] die Vielfältigkeit des Menschen und des Menschengeschlechts auffinden hilft«132 . Dass Herder die Idee der Humanität konsequent an die menschliche Geschichte rückkoppelt, belegt auch folgendes Zitat aus den »Ideen«: Was also in der Geschichte je Gutes getan ward, ist für die Humanität getan worden; was in ihr Törichtes, Lasterhaftes und Abscheuliches in 127 128 129 130 131 132

Herder, J. G.: Philosophie. S. 31. Vgl. ebd. S. 82. Ebd. S. 33 Ebd. Ebd. Shimada, Yoichiro: Humanität als Leitfaden der Menschheitsgeschichte. Versuch einer Interpretation der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder. In: Humanität in einer pluralistischen Welt? Themengeschichtliche und formanalytische Studien zur deutschsprachigen Literatur. Herausgegeben von Christian Kluwe und Jost Schneider. Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 2000. S. 313-324. S. 322.

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Schwang kam, ward gegen die Humanität verübet, so daß der Mensch sich durchaus keinen andern Zweck aller seiner Erdanstalten denken kann, als der in ihm selbst, d. i. in der schwachen und starken, niedrigen und edlen Natur liegt, die ihm sein Gott anschuf. Wenn wir nun in der ganzen Schöpfung jede Sache nur durch das, was sie ist und wie sie wirkt, kennen: so ist uns der Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde durch seine Natur und Geschichte wie durch die helleste Demonstration gegeben.133 An diesem Zitat wird ersichtlich, dass Humanität für Herder die sich in Natur und Geschichte offenbarende Fügung Gottes und somit eine den göttlichen Schicksalsplan flankierende Begleiterscheinung ist. Insofern wurden in den »Ideen« lediglich andere Worte für die bereits in der »Philosophie« existierende Vorstellung einer göttlichen Offenbarung gefunden. Besonders deutlich wird diese Parallelität von Humanität auf der einen und menschheitsgeschichtlicher Evolution auf der anderen Seite auch anhand folgender Textstelle aus den »Ideen«: In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts andres bauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. Ihr zugut sind die Anordnungen unsrer Geschlechter und Lebensalter von der Natur gemacht, daß unsre Kindheit länger daure und nur mit Hilfe der Erziehung eine Art Humanität lerne. Ihr zugut sind auf der weiten Erde alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden.134 Humanität als Zweck der menschlichen Natur bestimmt laut Herder maßgeblich das menschliche Geschick auf Erden und beeinflusst da-

133 134

Herder, J. G.: Ideen. S. 398. Ebd. S. 397.

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her die Menschheitsentwicklung,135 fungiert in diesem Sinne also, wie Shimada feststellt, als »Leitfaden«136 .

2.2.3 2.2.3.1

Relative Größen Volksgeist und Vorurteil

Herders angeblicher Relativismus wird meistens mit dem Begriff »Volksgeist« in Verbindung gebracht und begründet. Finkielkraut datiert die Entstehung des Begriffs auf das Ende des 18. Jahrhunderts137 und behauptet: »Herder zufolge [geht] nichts über die Vielzahl der Kollektivseelen hinaus: alle übernationalen Werte, rechtliche ebenso wie ästhetische oder moralische, werden ihrer Herrschaft enthoben.«138 Tatsächlich spricht Herder in der »Philosophie« von einem »gemeinschaftliche[n] Geist«139 oder einem »Allgemeingeist[…]«140 , den ein gewisses Volk teilt. Ebenso geläufig ist Herder die Vorstellung vom »Charakter der Nationen«141 oder eines, wie es an vielen Stellen der »Ideen« heißt, »Genius eines Volks«142 . Herder verwendet diese Begrifflichkeiten sowohl in den »Ideen« als auch in der »Philosophie«, was davon zeugt, dass er der Vorstellung eines solchen Kollektivgeistes einer Nation durchgängig treu geblieben ist. Beispielsweise kommt er in den »Ideen« auf die Araber zu sprechen, deren »Geist der Nation«143 laut Herder »poetisch«144 sei. »Die Poesie der Perser dagegen, die, wie ihre Sprache, von der arabischen abstammet, hat sich«, so Herder,

135

Sikka kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass »Herder sees a progress in Humanität over history, a decrease in violence (Ideen, p. 639) and an increase in true understanding and justice (Ideen, p. 671)« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 317.). 136 Shimada, Y.: Humanität als Leitfaden der Menschheitsgeschichte. S. 322. 137 Vgl. Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 14. 138 Ebd. 139 Herder, J. G.: Philosophie. S. 23. 140 Ebd. 141 Ebd. S. 29. 142 Herder, J. G.: Ideen. S. 234. 143 Ebd. S. 521. 144 Ebd.

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»dem Lande und Charakter der Nation gemäß wollüstiger, sanfter und fröhlicher zu einer Tochter des irdischen Paradieses gebildet.«145 In der Tat nimmt die, wie Finkielkraut formuliert, »Kollektivseele[…]«146 in Herders Kulturphilosophie einen hohen Stellenwert ein, und obwohl Herder von sich behauptet: »Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich.«147 , tut er genau dieses extensiv und macht jenes Verallgemeinern mit der Vorstellung des »Genius eines Volks«148 gar zum Eckpfeiler seiner Theorie, »[d]enn jedes Volk ist Volk; es hat seine Nationalbildung wie seine Sprache; zwar hat der Himmelsstrich über alle bald ein Gepräge, bald nur einen linden Schleier gebreitet, der aber das ursprüngliche Stammesgebilde der Nation nicht zerstöret«149 . Dieser Vorstellung entsprechend, besteht ein großer Teil der »Ideen« aus sehr plakativen Darstellungen einzelner »Völker«. Bereits die Kapitelüberschriften zeugen von der stark vereinfachenden Vorgehensweise Herders. Die insgesamt zwanzig Bücher umfassenden »Ideen« bestehen ab dem elften Buch größtenteils aus Beschreibungen von Kollektiven, deren Individuen Herder absolutes Gleichverhalten unterstellt. Diese Homogenität speist sich aus externen Faktoren wie beispielsweise dem Klima, der national geteilten Geschichte einer spezifischen Volksgruppe oder allem, »wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt«150 . So legt Herder den »alte[n] aristotelische[n] Gedanke[n] eines grundlegenden Einflusses klimatischer Verhältnisse«151 neu auf, indem er davon ausgeht, dass die geographischen und klimatischen Gegebenheiten eines bestimmten Landstrichs den Charakter eines dort ansässigen Volkes beeinflussen und sich, da sowohl Klima als auch Landschaft Gottes Werk sind, der göttliche Plan auf diese Art und Weise im Diesseits manifestiert. »Die Methode ist […] die, daß aus 145 146 147 148 149 150 151

Ebd. S. 522. Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 14. Herder, J. G.: Philosophie. S. 28. Herder, J. G.: Ideen. S. 234. Ebd. S. 179f. Herder, J. G.: Philosophie. S. 32. Geulen, C.: Geschichte des Rassismus. S. 51.

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gewißen ästhetischen Merkmalen der Landschaft und der zu erklärenden Eigenart ein tertium compartionis gewonnen und dieser Vergleich dann als Kausalitätsverhältnis angegeben wird.«152 In der »Philosophie« ist Herders Klimatheorie noch wenig ausgereift. Lakonisch stellt er fest: »Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt […].«153 An anderer Stelle bemerkt Herder: Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; und ebensowenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. Sei’s, daß er nach spätern Vorbildern dir furchtsam, todscheu, weichlich, unwissend, müßig, abergläubisch, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch!154 Während das Klima in der »Philosophie« als den Volkscharakter beeinflussende Variable lediglich als eine unter vielen (Gott, Zeit, Stufe des Weltalters, Bedürfnis, Schicksal) genannt wird, gewinnt es als Einflussfaktor in den Reflexionen der »Ideen« stark an Gewicht. Im Kapitel »Was ist das Klima und welche Wirkung hats auf die Bildung des Menschen an Körper und Seele«155 behauptet Herder, dass »wir ein bildsamer Ton in der Hand des Klimas«156 sind. Einige Seiten davor beschreibt er, wie Geographie und Klima das Leben und den Charakter eines spezifischen Volkes beeinflussen können: Der Araber in der Wüste; er gehört in dieselbe mit seinem edlen Roß, mit seinem geduldigen, aushaltenden Kamel. Wie der Mongole auf seiner Erdhöhe, in seiner Steppe umherzog, ziehet der wohlgebildetere Beduin auf seiner weiten asiatisch-afrikanischen Wüste umher,

152 153 154 155 156

Stadelmann, Rudolf: Der historische Sinn bei Herder. Halle/Saale: Max Niemeyer Verlag 1928. S. 95. Herder, J. G.: Philosophie. S. 32. Ebd. Herder, J. G.: Ideen. S. 184. Ebd. S. 185.

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auch ein Nomade, nur seiner Gegend. Mit ihr ist seine einfache Kleidung, seine Lebensweise, seine Sitte und Charakter harmonisch, und nach Jahrtausenden noch erhält sein Gezelt die Weise der Väter. Liebhaber der Freiheit, verachten sie Reichtümer und Wollüste, sind leicht im Lauf, fertig auf ihren Rossen, die sie wie ihresgleichen pflegen, und ebenso fertig, zu schwingen die Lanze. Ihre Gestalt ist hager und nervicht, ihre Farbe braun, ihre Knochen stark; unermüdlich, Beschwerden zu ertragen, und durch die Wüste zusammengeknüpft, stehen sie alle für Einen, kühn und unternehmend, treu ihrem Wort, gastfreundlich und edel. Die gefahrvolle Lebensart hat sie zur Behutsamkeit und zum scheuen Argwohn, die einsame Wüste zum Gefühl der Rache, der Freundschaft, des Enthusiasmus und des Stolzes gebildet. Wo sich ein Araber zeige, am Euphrat oder am Nil, am Libanon oder am Senega, selbst bis in Zanguebar und auf den indischen Meeren, zeiget er sich, wenn nicht ein fremdes Klima ihn in Kolonien langsam veränderte, noch in seinem ursprünglichen arabischen Charakter.157 Dieser Textausschnitt belegt, dass Herder einen direkten Zusammenhang von Klima beziehungsweise Geographie und Charakter unterstellt. Die Wüste, so behauptet Herder beispielsweise, habe den Araber »zum Gefühl der Rache, der Freundschaft, des Enthusiasmus und des Stolzes gebildet«158 . Ganz allgemein bringt das Herder mit der Aussage, die »Seele ist klimatisch«159 zum Ausdruck. Neben dem Klima erkennt Herder die Sprache als volkscharakterbeeinflussende Größe an. Herder räumt ein: »Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat«160 und behauptet, »daß sich der Genius eines Volks nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede offenbaret«161 . An anderer Stelle spricht er vom »Gefühl einer Nation, eines Vaterlands, einer Sprache [meine Hervorhebung]!«162 . Herder unterstellt also die

157 158 159 160 161 162

Ebd. S. 180f. Ebd. Ebd. S. 182. Ebd. S. 231. Ebd. S. 234. Herder, J. G.: Philosophie. S. 23.

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Nation als homogene Gruppe, in der eine bestimmte Sprache gesprochen wird, denn »[s]o wie das ganze Menschliche Geschlecht unmöglich eine Heerde bleiben konnte: so konnte es auch nicht Eine Sprache behalten. Es wird also eine Bildung verschiedner Nationalsprachen«163 . In diesem Sinne erschließen »Worte selbst, Sinn, Seele der Sprache […] ein unendliches Feld von Verschiedenheiten«164 . Herder spricht von »Nationalsprache[n] in jeder Nation«165 und dem »ursprüngliche[n] Stammesgebilde einer Nation«166 . Tatsächlich trifft Herder keine Unterscheidung zwischen Nation und Volk. Für ihn stellen beide das natürliche Kollektiv einer Sprachgemeinschaft dar; Nation beziehungsweise Volk bedingen die Nationalsprache und umgekehrt. In ihr manifestiert sich der Volksgeist und vice versa wird sie durch den Volksgeist geformt. So postuliert Herder beispielsweise eine »deutsche[…] Denkart, die mit […] [der] Muttersprache zusammengewachsen ist«167 . Auch die Unterschiede in der Denkart von Nationen begründet Herder durch die Sprache: »Drittens endlich der Sinn und Inhalt der Rede: Lieblingsausdrücke und Bezeichnungen der Nation, Lieblingswendung und Eigenheit in der Denkart – Gott, welcher Unterschied!«168 Der Sprache kommt bei Herder folglich die Bedeutung eines »constituent of cultural identity«169 zu, denn in allen […] Nationen aller Welttheile […] sind Lieder von ihren Vätern, Gesänge von den Thaten ihrer Vorfahren der Schatz ihrer Sprache, und

163

164 165 166 167 168 169

Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Johann Gottfried Herder. »Über den Ursprung der Sprache«: Text, Materialien, Kommentar. Herausgegeben von Wolfgang Proß. München: Carl Hanser Verlag 1978 (= Reihe Hanser, Bd. 269). S. 7-100. S. 93. Ebd. S. 94. Ebd. S. 95. Herder, J. G.: Ideen. S. 180. Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahre 1769. Nördlingen: Verlagsgesellschaft Greno 1985. S. 142. Ebd. S. 124. Sikka, Sonia: Herder on the Relation between Language and the World. In: History of Philosophy Quarterly 21/2 (2004). S. 183-200. S. 185.

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Geschichte, und Dichtkunst; ihre Weisheit und ihre Aufmunterung; ihr Unterricht und ihre Spiele und Tänze.170 Herder geht also von »dependence of thought on language, the deep variability of languages and hence of modes of thought, and the consequent need to access a people’s distinctive mode of thought via an investigation of its distinctive language«171 aus. Diese Vorstellung, dass »thought is essentially dependent on and bounded by language, and [.] meaning consists in word-usage«172 , die, wie Forster darlegt, den Grundstein für die Disziplinen Anthropologie und Linguistik legt,173 erschließt die Hermeneutik als wissenschaftlichen Zugang. Singer leitet aus der Annahme kulturgeistinduzierter Kulturelemente die These ab, dass Herders »Kulturkonzept […] grundlegend als Universalismuskritik gedacht«174 war, sich also gegen allgemeingültige Prinzipien und Maßstäbe gerichtet habe. Singer unterschlägt dabei, dass Herder durchaus allgemeingültige Ideale wie Schönheit, Tugend oder Vernunft anerkannte. Auch Finkielkraut legt Herders Kulturphilosophie als radikalen Relativismus aus und interpretiert seinen Ansatz folgendermaßen: Da der Prophet außerhalb seines Vaterlandes nichts gilt, brauchen die Völker von nun an nur noch sich selbst Rechenschaft abzulegen. Nichts, kein unwandelbares, für alle geltendes, von seinem Entstehungsort unabhängiges und über den Dingen stehendes Ideal darf ihre Einzigartigkeit erstarren lassen oder sie von dem Geist ablenken, dessen Träger sie sind.175 Finkielkraut stützt sich bei seiner Argumentation auf einen weiteren, mit dem Gedanken des Volksgeistes in enger Verbindung stehenden 170 Herder, J. G.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 92. 171 Forster: Michael N.: After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition. New York City, NY: Oxford University Press 2010. S. 203. 172 Ebd. S. 18. 173 Vgl. ebd. S. 3. 174 Singer, Mona: Fremd. Bestimmung. Zur kulturellen Verortung von Identität. Tübingen: o. V. 1997. S. 22. 175 Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. 17.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Pfeiler der Herder’schen Kulturphilosophie, dem guten Vorurteil. Dabei beruft er sich auf ein Zitat Herders aus der »Philosophie«. Dort erklärt Herder: Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!176 Finkielkraut bezeichnet das im Zitat geschilderte Lob des Vorurteils als »Gipfel der Dreistigkeit«177 , »äußerste Provokation«178 und verdammt diese Art des Denkens, bei dem das Vorurteil »als vorbewußte Intelligenz und Geländer des Denkens […] den Kulturschatz eines jeden Volkes«179 darstellt als bloßen »Idiotismus«180 . Herder stelle das Vorurteil, welches laut Finkielkraut als gleichbedeutend mit »Volksmeinung«181 zu verstehen ist, über das eigentliche Denken, über die Vernunft des einzelnen: Das Cogito sollte in die Tiefen des Kollektivs tauchen, die abgebrochene Verbindung mit den Vorfahren wieder aufnehmen; die Suche nach Autonomie sollte durch die Suche nach Authentizität ersetzt werden. Jeder kritische Widerstand mußte aufgegeben werden: man sollte sich von der mütterlichen Wärme der mehrheitlichen Lehren durchdringen lassen und sich ihrer unfehlbaren Urteilskraft beugen! Die Vernunft an den Instinkt ketten!182

176 177 178 179 180 181 182

Herder, J. G.: Philosophie. S. 36. Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 29. Ebd. Ebd. S. 30. Ebd. S. 32. Ebd. S. 30. Ebd. S. 31.

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Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass Herder dem Volk als Kollektiv eine geradezu sakrale Stellung einräumt und den darin praktizierten Sitten gegenüber grundsätzlich positiv gestimmt ist. Allerdings ist es eine blanke Übertreibung Finkielkrauts, zu behaupten, die »mehrheitlichen Lehren«183 besäßen in der Vorstellung Herders eine »unfehlbare[…] Urteilskraft«184 . Vielmehr verhält es sich so, dass bereits der Begriff »Vorurteil« eine gewisse Unkenntnis suggeriert, die Herder in der »Philosophie« expliziert: Er [der Knabe] mußte eingeschlossen sein; eine gewisse Privation von Kenntnissen, Neigungen und Tugenden mußte da sein, um das zu entwickeln, was in ihm lag und jetzt in der Reihe der Weltbegebenheiten nur das Land, die Stelle entwickeln konnte! Also waren ihm diese Nachteile Vorteile oder unvermeidliche Übel, wie die Pflege mit fremden Ideen dem Kinde, Streifereien und Schulzucht dem Knaben – warum willst du ihn von seiner Stelle, aus seinem Lebensalter rücken – den armen Knaben töten?185 Hier beschreibt Herder das Vorurteil als »eine gewisse Privation von Kenntnissen, Neigungen und Tugenden«186 beziehungsweise als »Nachteil[…]«187 oder »unvermeidliche[s] Übel«188 , eine Wortwahl, die nicht recht mit Finkielkrauts These von der angenommenen Unfehlbarkeit des Vorurteils in Einklang zu bringen ist. Wie aus dem Zitat ersichtlich, stellt das Vorurteil für Herder einen notwendigen Irrtum dar, der beim Durchwandern der Lebensalter schlichtweg begangen werden muss, um daran zu wachsen.189 In den »Ideen« verwendet Herder anstatt des in der »Philosophie« üblichen Begriffs »Vorurteil«

183 184 185 186 187 188 189

Ebd. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 18. Ebd. Ebd. Ebd. Sikka spricht hier von einem Wachsen durch »trial and error« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 318).

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

den Ausdruck »Einbildung[…]«190 , welcher, ähnlich negativ konnotiert, mit Verklärung und Falschinformation in Verbindung gebracht wird: Gewöhnlich siehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Priester als Urheber dieser Verblendungen des Volks an und glaubt, alles erklärt zu haben, wenn man sie Betrüger nennet. An den meisten Orten sind sie es freilich: nie aber vergesse man, daß sie selbst Volk sind, und also auch Betrogene älterer Sagen waren. In der Masse der Einbildungen ihres Stammes wurden sie erzeugt und erzogen; Ihre Weihung geschah durch Fasten, Einsamkeit, Anstrengung der Phantasie, durch Abmattung des Leibes und der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm sein Geist erschien und also in seiner Seele zuerst das Werk vollendet war, das er nachher lebenslang mit wiederholter ähnlicher Anstrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes für andre treibet.191 Herder spricht hier von »Verblendungen«192 , also gezielter Täuschung eines Volkes durch »Zauberer, Magier, Schamanen und Priester«193 . Allerdings sei das nur ein Teil der Wahrheit, da diese selbst ebenso getäuscht würden und »Betrogene älterer Sagen«194 seien, die in der Summe die »Einbildungen ihres Stammes«195 ausmachten. Herder koppelt das Vorurteil beziehungsweise den Volksgeist an einen äußeren Faktor, das Lebensalter eines bestimmten Volkes (»Geist des Jahrhunderts«196 ). Der Volksgeist entspringt somit nicht dem Wesen eines Volkes, sondern kommt »aus dem Schoß der Zeiten«197 . Daraus lässt sich schließen, dass Herders Volksgeist kein verdinglichter, essentialistischer ist. Auch Sikka vertritt diese Ansicht:

190 191 192 193 194 195 196 197

Herder, J. G.: Ideen. S. 206. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 48. Herder, J. G.: Briefe zur Beförderung der Humanität. S. 29.

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[…] Herder denies that there are clear borders between types of things anywhere in nature, and it would be bizarre to attribute to him the belief that human cultures have »essences« which are more definite and stable than those he assigns to natural kinds.198 Herder vertritt also die Ansicht, dass der Volksgeist wandelbar ist und »daß also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen«199 , denn das »menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiterrückt«200 . Durch die Abhängigkeit des Volksgeistes vom kollektivexternen Faktor Zeit ist der Volksgeist nicht in dem Ausmaß zwingend, wie Finkielkraut glauben machen will, und die generelle Möglichkeit, das Vorurteil, zu transzendieren, eröffnet. Herder findet für jene, welche im Stande sind, sich von ihrer eigenen Sozialisation, sprich den Vorurteilen ihres Volkes, zu distanzieren,201 lobende Worte: Glücklich und auserwählt ist der Mensch, der in seinem engbeschränkten Leben, so weit er kann, von Phantasie zum Wesen, d. i. aus der Kindheit zum Mann erwächst und auch in dieser Absicht die Geschichte seiner Brüder mit reinem Geist durchwandert. Edle Ausbreitung gibt es der Seele, wenn sie sich aus dem engen Kreise, den Klima und Erziehung um uns gezogen, herauszusetzen wagt und unter andern Nationen wenigstens lernt, was man entbehren möge.202 Diese Zeilen sprechen eine andere Sprache als die von Finkielkraut konstatierte, unreflektierte Huldigung des Volksgeistes. Der Mensch ist angehalten, »aus dem engen Kreise, den Klima und Erziehung um uns

198 Sikka, S.: Herder on Humanity and Cultural Difference: Enlightened Relativism. S. 7. 199 Herder, J. G.: Philosophie. S. 30. 200 Ebd. S. 25. 201 Wie schon erörtert, schätzt Herder die Chancen, dass dies überhaupt gelingen kann, als sehr gering ein. 202 Herder, J. G.: Ideen. S. 207.

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gezogen«203 , auszubrechen, um »unter andern Nationen«204 zu lernen, »was man entbehren möge«205 . Mit diesem letzten Halbsatz leitet Herder die Vorstellung ein, dass kulturelle Standardisierungen durchaus verzichtbar sind. Er expliziert: Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange für wesentlich hielt! Vorstellungen, die wir oft für die allgemeinsten Grundsätze der Menschenvernunft erkannten, verschwinden dort und hier mit dem Klima eines Orts, wie dem Schiffenden das feste Land als Wolke verschwindet. Was diese Nation ihrem Gedankenkreise unentbehrlich hält, daran hat jene nie gedacht, oder hält es gar für schädlich.206 Betrachtungen, die in Herder einen Kulturrelativisten sehen, würden diese Zeilen wohl so interpretieren, dass Herder hier für eine Relativität von kulturellen Standardisierungen plädiert. Das Zitat kann aber, besonders in Anbetracht der vorhergehenden Textstelle (»was man entbehren möge«207 ), auch als Beleg dafür gesehen werden, dass Herder von einem universalen Handlungsrahmen ausgeht, der sich offenbart, wenn das eigene Vorurteil überwunden wird. Das Vorurteil zu transzendieren, bedeutet für Herder, sich zu veredeln. Herder betont immer wieder die große Bedeutung von Kulturkontakt als »Werkzeug«208 der Vorsehung, um die »Ideal[e] von Religion und Pflicht und Völkerverbindung«209 voranzutreiben. Das Regionale zu überwinden ist also ein Desiderat der Herder’schen Kulturtheorie und »Nationalbildungen, orientalische, ägyptische, griechische, römische«210 sind bei Herder lediglich »Stufen und Zugänge«211 zum Universalen: 203 204 205 206 207 208 209 210 211

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 45. Ebd. Ebd. Ebd.

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Auch als Werkzeug allein betrachtet, schiens, daß der römische Eroberungsgeist vorhergehen mußte, überall neue Wege zu bahnen, einen politischen Zusammenhang zwischen Völkern zu machen, der voraus unerhört war, auf eben dem Wege Toleranz, Ideen vom Völkerrechte in Gang zu bringen, in dem Umfange voraus unerhört! – Der Horizont ward so erweitert, so aufgeklärt, und da sich nun zehn neue Nationen der Erde auf diesen hellen Horizont stürzten, ganz andre neue Empfänglichkeiten eben für die Religion mitbrachten, sie bedurften, sie allesamt in ihr Wesen verschmelzten – Ferment! wie sonderbar bist du bereitet! und alles auf dich zubereitet! und tief und weit umher eingemischet!212 Diese Textstelle offenbart, dass Herder durchaus für die Verbreitung allgemeiner Ideale (»Toleranz«213 , »Ideen vom Völkerrechte«214 ) einsteht,215 sofern sie sich natürlich, das heißt im Sinne der Vorsehung, entwickeln, sodass die Völker als »Werkzeuge im Plane einer unermeßlichen Vorsehung«216 fungieren und dabei helfen, »[d]as große göttliche Werk, Menschheit zu bilden«217 , zu vollenden. Dieser »Gang Gottes unter die Nationen«218 erfolgt jedoch nicht notwendigerweise von einem europäischen Epizentrum aus. Die Vorsehung ist vielmehr »unermeßlich«219 und kann vom Menschen nicht antizipiert werden, weshalb Herders Kulturtheorie auch nicht zur Rechtfertigung kolonialistischer Großmachtsbestrebungen herangezogen werden kann;220 die hält Herder nämlich für Auswüchse der »künstlichen Denkart unsres Jahrhunderts«221 . Muthu ist der Ansicht, 212 213 214 215

Ebd. Ebd. Ebd. Sikka erkennt in den von Herder vertretenen Idealen ein »typically Enlightenment commitment to strong ideals of freedom and equality« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 321.). 216 Herder, J. G.: Philosophie. S. 110 217 Ebd. S. 69. 218 Ebd. S. 89. 219 Ebd. S. 110. 220 Vgl. ebd. S 71. 221 Ebd. S. 65.

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dass Herder »undermine[s] the language of inferiority and superiority, and concomitantly the assumption, that peoples are commensurable, that informed many defences of European imperialism«222 und auch Löchte stellt fest: »Gemeinhin gilt Herder in der Forschungsliteratur als überzeugter Gegner des europäischen Kolonialismus.«223 Im für die »Philosophie« typisch polemischen Stil kritisiert Herder europäische Expansionsbestrebungen: Wo kommen nicht europäische Kolonien hin und werden hinkommen! Überall werden die Wilden, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit liebgewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich, zumal durch Branntwein und Üppigkeit, überall unsrer Kultur – werden bald, hilf Gott! alle Menschen wie wir gute sein! gute starke, glückliche Menschen! Handel und Papsttum, wieviel habt ihr schon zu diesem großen Geschäfte beigetragen! Spanier, Jesuiten und Holländer: ihr menschenfreundlichen, uneigennützigen, edlen und tugendhaften Nationen! wieviel hat euch in allen Weltteilen die Bildung der Menschheit nicht schon zu danken?224 Fortschritt geht für Herder mal von diesem, mal von jenem Volk aus und in diesem Sinne ist zum Beispiel auch »Arabien der under-plot zur Geschichte der Bildung Europas«225 . Ebenfalls Teil der Wahrheit ist allerdings, dass Herder Europa zum gegenwärtigen Zeitpunkt als am weitesten vorangeschritten in der göttlichen Evolution betrachtet. Zur Erinnerung: Er vergleicht Europa mit dem Greisenalter, sprich mit dem »Stadium«, das den höchsten »Grad« an Weisheit mit sich bringt.

222 Muthu, Sankar: Enlightenment Anti-Imperialism. In: Social Research 66/4 (1999). S. 959-1007. S. 986f. 223 Löchte, Anne: Aufklärung der »Unmündigen«? Herders Beurteilung von Missionierungen. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur: Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder Gesellschaft Saarbrücken 2004. Herausgegeben von Sabine Groß und Gerhard Sauder. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2007. S. 99-109. S. 99. 224 Herder, J. G.: Philosophie. S. 71. 225 Ebd. S. 88.

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Die Vorstellung von »Arabien«226 als »under-plot zur Geschichte der Bildung Europas«227 mutet zwar relativ weltoffen an, impliziert jedoch, dass Europa mit Hilfe der nicht-westlichen Welt einen Zustand objektiver Überlegenheit erreichen konnte. Vor diesem Hintergrund wirken Herders kritische Äußerungen in Bezug auf den europäischen Kolonialismus nicht mehr wie die anti-imperialistischen Äußerungen eines Kulturrelativisten, sondern muten vielmehr gönnerhaft an. Auch der Aussage Muthus, dass sich Herder keiner Inferioritätszuschreibungen bediene,228 ist zu widersprechen, da sie sich bei ihm in verklausulierter Form, beispielsweise durch die Implikationen seiner Lebensalteranalogie, dennoch ihren Weg bahnen. Dass Herders den Kolonialismus ablehnt, ist also vermutlich eher der Absicht geschuldet, der Vorsehung nicht vorgreifen zu wollen.

2.2.3.2

Glückseligkeit

Der wohl meistzitierte und häufig als Beleg für Herders angeblichen Relativismus ins Feld geführte Satz aus der »Philosophie« ist folgender: »[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!«229 Welsch leitet aus dieser Textstelle ein Modell, nach dem einzelne Kollektive als sich abstoßende Kugeln gedacht werden, ab. »Dieses Kugelmodell«, schreibt Welsch, »ist intern mit einem Homogenitätsgebot und extern mit einem Abgrenzungsgebot verbunden«230 . Barth gibt diese Einschätzung Welschs betreffend zu bedenken: »Ob es allerdings angemessen ist, angesichts dieser relativ kleinen Belegstelle, von einem Herderschen ›Kugelmodell‹ zu sprechen, […] sei dahingestellt.«231 Und tatsächlich entsteht bei genauerer

226 227 228 229 230 231

Ebd. Ebd. Vgl. Muthu, S.: Enlightenment Anti-Imperialism. S. 96f. Herder, J. G.: Philosophie. S. 35. Welsch, Wolfgang: Immer nur der Mensch – Entwürfe zu einer anderen Anthropologie. Berlin: Akademie Verlag 2011. S. 296. Barth, Dorothee: Ethnie, Bildung oder Bedeutung – Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik. Augsburg: Wißner-Verlag 2008. S. 95.

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Lektüre der Eindruck, dass der Fokus Herders bei der zitierter Aussage wohl eher auf dem Stichwort der Glückseligkeit als auf dem der Nation liegt oder anders formuliert: Die angenommene Relativität in puncto Glückseligkeit muss nicht zwangsweise Relativität in jeglicher Hinsicht bedeuten. Während Herder nämlich universal geteilte Werte anerkennt, scheint er in Sachen Glückseligkeit von ihrer absoluten Relativität überzeugt zu sein.232 Bereits in der »Philosophie« stellt Herder fest, dass »nämlich wiederum menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit«233 ist. Demgemäß glaubt Herder an die Relativität der Glückseligkeit der einzelnen Lebensalter: Oder siehst du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muß durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben aufeinander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher als der heftigstrebende Mann […]234 Dieser Vorstellung von relativer Glückseligkeit, sowohl die diversen Lebensalter als auch Völker betreffend, bleibt Herder durchgängig treu. In den »Ideen« wiederholt er beinahe wortwörtlich seine Aussage aus der »Philosophie« und behauptet: Schon der Name Glückseligkeit deutet an, daß der Mensch keiner reinen Seligkeit fähig sei, noch sich dieselbe erschaffen möge; er selbst ist ein Sohn des Glücks, das ihn hie oder dahin setzte und nach dem Lande, der Zeit, der Organisation, den Umständen, in welchen er lebt, auch die Fähigkeit seines Genusses, die Art und das Maß seiner Freuden und Leiden bestimmt hat.235 232 233 234 235

Siehe hierzu auch Sikka, S.: The Case of Herder. S. 321ff. Herder, J. G.: Philosophie. S. 34. Ebd. S. 38. Herder, J. G.: Ideen. S. 220.

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Ferner beschreibt Herder Glückseligkeit auch als etwas zutiefst Partikulares: Wenn Glückseligkeit auf der Erde anzutreffen ist, so ist sie in jedem fühlenden Wesen; ja, sie muß in ihm durch Natur sein, und auch die helfende Kunst muß zum Genuß in ihm Natur werden. Hier hat nun jeder Mensch das Maß seiner Seligkeit in sich: er trägt die Form an sich, zu der er gebildet worden, und in deren reinem Umriß er allein glücklich werden kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menschenformen auf der Erde erschöpft, damit sie für jede derselben in ihrer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß hätte, mit dem sie den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte.236 Mit dem Verb »hindurchtäuschen«237 im angeführten Zitat suggeriert Herder eine auf volksspezifischen Vorurteilen basierende Wirklichkeitskonstruktion (»Genuß«238 ), die eine von allgemeinen Wahrheiten unabhängige Kollektivtradition als ausschlaggebende Voraussetzung für Glückseligkeit anerkennt. »Glückseligkeit«, so interpretiert Welter Herder, »bedeutet einerseits, die Gegenwart intensiv erleben zu können und durchaus zu genießen. Andererseits bedeutet Glückseligkeit, sich aus diesen Erfahrungen ein Grundgerüst von Selbst- und Welterfahrung geschaffen zu haben.«239 Herders Begriff von Glückseligkeit ist also eng mit dem guten Vorurteil verwoben. Zur Erinnerung: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich.«240 Glückseligkeit bedeutet bei Herder letztlich, authentisch, das heißt im Einklang mit der Kultur eines bestimmten Volks leben zu können,

236 237 238 239

Ebd. S. 224. Vgl. ebd. Ebd. Welter, Nicole: Glückseligkeit und Humanität – Die Grundideen der Herderschen Bildungsphilosophie. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur: Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder Gesellschaft Saarbrücken 2004. Herausgegeben von Sabine Groß und Gerhard Sauder. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2007. S. 65-74. S. 68. 240 Herder, J. G.: Philosophie. S. 36.

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unabhängig davon, ob diese nun vernünftig ist oder nicht. Unter anderem hat Taylor darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Herders Überlegungen zur Authentizität um eine frühe Thematisierung des Identitätskonzepts handelt: »Just like individuals, a Volk should be true to itself, that is, its own culture. Germans shouldn’t try to be derivative and (inevitably) second-rate Frenchmen […].«241 Gemäß dem Volksgeist der Nation, der man angehört, zu leben, bedeutet für Herder der Vorsehung nicht vorzugreifen, sondern dem Lebensalter der Nation entsprechend natürlich zu leben. Herder verabscheut alles Künstliche. In den französischen Aufklärern, vor allem Voltaire, glaubt er diese Antipode zum Natürlichen identifiziert zu haben: Es ist für mich unbegreiflich, wie unser Jahrhundert so tief in die Schatten, in die dunklen Werkstäten des Kunstmäßigen sich verlieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der uneingekerkerten Natur erkennen zu wollen.242 In »Journal meiner Reise im Jahre 1769« findet Herder ebenfalls deutliche Worte: Das menschliche Geschlecht hat in allen seinen Zeitaltern, nur in jedem auf andre Art, Glückseligkeit zur Summe; wir, in dem unsrigen, schweifen aus, wenn wir wie Rousseau Zeiten preisen, die nicht mehr sind und nicht gewesen sind, wenn wir aus diesen zu unserm Mißvergnügen Romanbilder schaffen und uns wegwerfen, um uns nicht selbst zu genießen.243 Herders Fazit: Um glückselig zu sein, bedarf es keiner Wahrheit. Glückseligkeit ist konstruiert und damit genuin relativ. Der Aussage Meineckes allerdings, dass Herder »denselben Relativismus auf alle historischen Gebilde anwandte«244 , ist zu widersprechen. 241 Taylor, Charles: The Politics of Recognition. In: Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition. Herausgegeben von Amy Gutman. Princeton, NJ: Princeton University Press. S. 25-73. S. 31. 242 Herder, J. G.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 85. 243 Herder, J. G.: Journal meiner Reise. S 34f. 244 Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. S. 431.

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2.2.4 2.2.4.1

Universal geteilte Größen Das Schöne und das Gute

Einen Anhaltspunkt hierzu liefern Herders Bemerkungen zur Ästhetik im Hinblick auf angebliche physiognomische Merkmale einzelner Völker. Nicht zuletzt wegen dieser unsäglichen Bemerkungen in Bezug auf das angebliche äußere Erscheinungsbild einiger Volksgruppen gilt Herder als umstritten.245 An früherer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass Herder einen Zusammenhang zwischen Klima und Lebensweise vermutet. Wie in den »Ideen« expliziert, nimmt Herder jedoch nicht nur einen direkten Einfluss des Klimas auf menschliche Sitten, sondern auch auf die körperliche Konstitution einzelner Völker an, den er in den »Ideen« äußerst plastisch beschreibt: Und wie hat sich die Organisation des Menschen auf dieser Grenze [in der Nähe des Nordpols] erhalten? Alles, was die Kälte an ihm tun konnte, war, daß sie seinen Körper etwas zusammendrückte und den Umlauf seines Bluts gleichsam verengte. Der Grönländer bleibt meistens unter fünf Fuß, und die Eskimos, seine Brüder, werden kleiner, je weiter nach Norden sie wohnen. Da aber die Lebenskraft von innen heraus wirkt, so ersetzte sie ihm an warmer zäher Dichtigkeit, was sie ihm an emporstrebender Länge nicht geben konnte. Sein Kopf ward im Verhältnis des Körpers groß, das Gesicht breit und platt, weil die Natur, die nur in der Mäßigung und Mitte zwischen zwei Extremen schön wirket, hier noch kein sanftes Oval ründen und insonderheit die Zierde des Gesichts und, wenn ich so sagen darf, den Balken der Waage, die Nase noch nicht hervortreten lassen konnte.246 Dieser Textausschnitt verdeutlicht die von Herder angenommene Auswirkung des Klimas auf die menschliche Physis und steht zum anderen exemplarisch für seine chauvinistischen, eurozentristischen Ergüsse. Herder äußert sich stark wertend über die Ästhetik der Physiognomie der hier diskutierten Volksgruppe der Grönländer, indem er behauptet, 245 Siehe hierzu auch Sikka, S.: The Case of Herder. S. 328. 246 Herder, J. G.: Ideen. S. 154.

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die Natur wirke nur in der »Mäßigung und Mitte zwischen zwei Extremen schön«247 und habe hier »noch [meine Hervorhebung] kein sanftes Oval ründen«248 können. Herder zufolge sorgt also ein extremes Klima wie beispielsweise starke Kälte für ein wenig ansprechendes Äußeres. Je gemäßigter die Temperaturen, desto wohlgeformter ist laut Herder die menschliche Gestalt.249 Über die samojedischen Völker250 urteilt Herder dementsprechend folgendermaßen: So vermischt und verdrängt manche dieser Völker wohnen, so sehen wir auch die von der verschiedensten Abkunft unter Ein Joch der nordischen Bildung gedruckt und gleichsam an Eine Kette des Nordpols geschmiedet. Der Samojede hat das runde, breite, platte Gesicht, das schwarze, sträubige Haar, die untersetzte, blutreiche Statur der nördlichen Bildung; nur seine Lippe wird aufgeworfener, die Nase offner und breiter, der Bart vermindert sich, und wir werden östlich hin auf einem ungeheuren Erdstrich ihn immer mehr vermindert sehen.251 »[U]nter Ein Joch der nordischen Bildung gedruckt«252 also und »an die Kette des Nordpols geschmiedet«253 fristet der Samojede sein unansehnliches Dasein – Herders unerträgliche Darstellung missfällt durch unsachliches Fabulieren und geradezu naiv-kindliche Phantasterei, die wir bereits von Buffon kennen.254 Auch Buffon, auf den Herder gelegentlich lobend anspielt,255 stellt in seiner opulenten »L’Histoire Naturelle« einen Zusammenhang zwischen Klima und Körper her: Das kältere und feuchtere Klima der neuen Welt Amerika, so Buffon, bewirke

247 248 249 250 251 252 253 254

Ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 163. Indigene des russischen Nordens Ebd. 156. Ebd. Ebd. Vgl. Küchler Williams, Christiane: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. Bd. 10. Göttingen: Wallstein Verlag 2004 (= Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa). S. 64f. 255 Vgl. Herder, J. G.: Journal meiner Reise. S. 54.

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nicht nur die Degeneration der Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die des Menschen: Buffon unterscheidet drei klimatische Weltzonen: Die heiße Klimazone befindet sich zwischen dem 17./18. nördlichen und 18./20. südlichen Breitengrad, die kalte Klimazone liegt mit ihrer entwicklungshemmenden Kälte jenseits des 50. Breitengrads. Nur die gemäßigte Zone zwischen dem 40. und 50. Breitengrad bietet in physischer, geistiger und kultureller Hinsicht ideale Lebensbedingungen. Hier wohnen die schönsten Menschen der Erde, und hier stand auch die Wiege der Menschheit.256 So heißt es bei Buffon: »Both in animals and plants, their particular constitution is relative to the general temperature of the earth, and which temperature depends upon its situation and distance from the sun.«257 Buffon will in den unterschiedlichen klimatischen Bedingungen den Grund für die angebliche Degeneration der neuen Welt sehen. Seine Theorie mündet folgenschwer in einer »Inferioritätserklärung der Indianer und ihres Landes im Vergleich zu Europa«258 , indem er annimmt, »daß die amerikanische Flora und Fauna (einschließlich des Menschen) kleinere und minderwertigere Versionen der europäischen Spezies seien«259 . Die Parallele zu Herder erschöpft sich jedoch nicht bereits in der Klimathese: Genauso wenig wie sich Herder selbst vor Ort von der angeblichen Unansehnlichkeit der Samojeden überzeugt hat,260 hat Buffon jemals amerikanischen Boden betreten, um seine

256 Küchler Williams, C.: Erotische Paradiese. S. 65. 257 Buffon, George Louis Leclerc de: Barr’s Buffon. Buffon’s Natural History. Containing a Theory of the Earth, a General History of Man, of the Brute Creation, of Vegetables, Minerals. In: Barr’s Buffon. Bd. 10. London: J. S. Barr 1797. S. 349. 258 Küchler Williams, C.: Erotische Paradiese. S. 55. 259 Ebd. 260 Herder bezieht sich an besagter Textstelle in den »Ideen« auf Beschreibungen von anderen Wissenschaftlern. Er stützt sich auf Johann Gottlieb Georgis »Beschreibung der Nationen des russischen Reichs« und auf Timotheus Merzahn von Klingstedts »Mémoires sur les Samojedes et sur les Lappons« (Vgl. Herder, J. G.: Ideen. S. 156.).

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Thesen einer Prüfung in der beschriebenen Welt zu unterziehen.261 Umso erstaunlicher ist, mit welcher Selbstverständlichkeit und Frequenz – die »Ideen« sind gespickt mit Passagen, in denen sich Herder wertend über das Aussehen einzelner Volksgruppen äußert – Herder ästhetische Urteile über einzelne Völker fällt, Urteile, die die These vom Kulturrelativisten Herder fraglich erscheinen lassen. Zwar wettert Herder auf einer Metaebene gegen europäische Expansionsbestrebungen (siehe 2. 2. 3. 1), doch hindert ihn dies nicht daran, dem Außereuropäischen inhaltlich, durch die Logik seiner kulturtheoretischen Thesen, eine Absage zu erteilen. Das macht er fürchterlich billig und geschmacklos durch die ästhetische Diskreditierung der angeblichen äußerlichen Merkmale einzelner Volksgruppen. Um noch ein weiteres Beispiel anzuführen, sei hier auf Herders Kommentar in Bezug auf die Perser, auf die er im Kapitel »Organisation des Erdstrichs schöngebildeter Völker«262 zu sprechen kommt, verwiesen: »Die alten Perser«, so schreibt Herder, »waren ein häßliches Volk von den Gebirgen, wie noch ihre Reste, die Gauren zeigen.«263 Allerdings habe sich, »da aber schwerlich ein Land in Asien so vielen Einbrüchen ausgesetzt ist als Persien, und gerade unter dem Abhange wohlgebildeter Völker lag, […] eine Bildung zusammengesetzt, die bei den edleren Persern Würde und Schönheit verbindet«264 . Ganz ähnlich fällt das Urteil über die Türken aus: »Die Türken, ursprünglich ein häßliches Volk, veredelten sich zu einer ansehnlichern Gestalt, da ihnen als Überwindern weiter Gegenden jede Nachbarschaft schöner Geschlechter zu Dienst stand […].«265 Eine Klimax der Schönheit will Herder im griechischen Volk realisiert sehen. Er schreibt: Endlich fand an den Küsten des Mittelländischen Meeres die menschliche Wohlgestalt eine Stelle, wo sie sich mit dem Geist vermählen und

261

262 263 264 265

Vgl. Beyer, Heiko: Soziologie des Antiamerikanismus. Zur Theorie und Wirkmächtigkeit spätmodernen Unbehagens. Frankfurt a.M.. Campus Verlag 2014. S. 28. Herder, J. G.: Ideen. S. 160. Ebd. S. 161. Ebd. Ebd. S. 162.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

in allen Reizen irdischer und himmlischer Schönheit nicht nur dem Auge, sondern auch der Seele sichtbar werden konnte; es ist das dreifache Griechenland in Asien und auf den Inseln, in Gräcia selbst und auf den Küsten der weiteren Abendländer. Laue Westwinde fächelten das Gewächs, das von der Höhe Asiens allmählich her verpflanzt war, und durchhauchten es mit Leben; Zeiten und Schicksale kamen hinzu, den Saft desselben höher zu treiben und ihm die Krone zu geben, die noch jedermann in jenen Idealen Griechischer Kunst und Weisheit mit Freuden anstaunet. Hier wurden Gestalten gedacht und geschaffen, wie sie kein Liebhaber tschirkassischer Schönen, kein Künstler aus Indien oder Kaschmire entwerfen können. Die menschliche Gestalt ging in den Olympus und bekleidete sich mit göttlicher Schönheit.266 Herder führt die Schönheit des griechischen Volkes auf sein gemäßigtes Klima zurück267 und nimmt ferner an, »daß eine sanfte Regelmäßigkeit der Jahreszeiten auch auf das Gleichgewicht der Neigungen großen Einfluß zeiget«268 , so dass sie »solchen in den Spiegel und Abdruck unserer Seele nicht minder«269 hat. Oder mit anderen Worten: Gemäßigtes Klima wirkt sich sowohl positiv auf die menschliche Gestalt als auch auf den menschlichen Geist aus, was im Prinzip bedeutet, dass schöne Menschen zwangsweise bessere Menschen sein müssen. Da gemäßigtes Klima eher in Europa anzutreffen ist, konstruiert Herder den europäischen Kontinent indirekt als überlegenen Erdstrich. Sikka will in den vorgestellten pejorativen Aussagen Herders eine Inkonsistenz zu seinen eigenen Maximen erkennen.270 Doch tatsächlich gibt es hier keinen Widerspruch, da Herder an eine menschheitsgeschichtliche Evolution glaubt. Er ist lediglich der Ansicht, dass die Frage der Über- und Unterlegenheit kein moralisches Problem darstellt, da eben jedes »Volk«

266 267 268 269 270

Ebd.f. Vgl. ebd. S. 163. Ebd. Ebd. Vgl. Sikka, S.: The Case of Herder. S. 328.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

in seiner Konfiguration und Ausprägung wichtig für die Gesamtentwicklung ist.271

2.2.4.2

Vernunft und Fortschritt

Eine weitere universale Größe vermutet Herder in der göttlichen Vernunft. Dabei stelle Finkielkraut zufolge – das ist sein größter Kritikpunkt – die Kulturphilosophie Herders die menschliche Ratio an sich in Frage, indem sie jegliches Denken an das Nationalkollektiv delegiere, wo es sich dann in Tradition, Volksgeist und partikularen Sitten verliere. Darin bestehe, laut Finkielkraut, auch die größte Diskrepanz zu den französischen Philosophen der Aufklärung. Herders Kritik fasst Finkielkraut folgendermaßen zusammen: »Indem er [Voltaire] die Geschichte mit der Elle dessen, was er Vernunft nenne, messe, begehe er die Sünde des Hochmutes: eine bestimmte und vergängliche Art zu denken blähe er zur Dimension der Ewigkeit auf.«272 Anders als Finkielkraut vermutet, stellt Herder die Existenz »einer« Vernunft jedoch nicht in Abrede. Im ersten Buch etwa spricht er von einer »himmlischen Vernunft«273 , der es zu folgen gelte und skizziert somit die Prämisse eines Ideals, dem sich angenähert werden könne. Getragen wird die Idee einer einheitlichen, universal geteilten Vernunft von der Annahme einer gewissen menschlichen Anlage zur Ratio, nach der Vernunft gattungsimmanent sei und demzufolge eine anthropologische Kategorie darstelle. Zum Ausdruck gebracht hat Herder das mit der Formel: »[D]ie Vernunft des Menschen ist menschlich.«274 Vernunft ist bei Herder also nicht volksspezifisch beziehungsweise partikular, sondern human und generell.

271

Auch hier ist Sikka zu widersprechen, denn ihr zufolge ist Herder der Meinung, dass »no society should be regarded merely as a stepping-stone to another« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 332.). Tatsächlich sind die »Völker« in einen übergeordneten, heilsgeschichtlichen Entwicklungsprozess eingebettet und insofern eben doch Mittel zum Zweck. 272 Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 16. 273 Herder, J. G.: Ideen. S. 46. 274 Ebd. S. 119.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Im Gegensatz zum instinkthaften Tier sei diese Vernunft allerdings nicht angeboren, sondern müsse durch Bildung erlernt werden: »Entweder mußte ihm [dem Menschen] also die Vernunft als Instinkt angeboren werden, welches sogleich als Widerspruch erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt ist, schwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.«275 Herder spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »künstliche[n] Instinkt, der ihm [dem Menschen] angebildet werden soll«276 und aus »Vernunft, Humanität, menschliche[r] Lebensweise«277 besteht. Der Mensch zeichnet sich bei Herder aus durch die [e]inzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewißen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Thieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt und bei den Thieren Instinkt wird.278 Eine Manifestation der menschlichen Vernunft ist laut Herder die Sprache, denn »[d]er Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden«279 . Gleichzeitig sei es auch die Sprache, in der Fortschritt zum Ausdruck komme und die ihrerseits wieder als Motor des Fortschritts fungiere: »Sie [die Sprache] zählt uns nur Einen Ton nach dem Andern in die Seele, gibt und ermüdet nie, gibt und hat immer mehr zu geben – sie übet also das ganze Kunststück der Methode: sie lehret Progreßiv!«280 Bei Herder kommt der Sprache die Funktion eines Gradmessers der Entwicklung der Vernunft zu, da er der Überzeugung ist, dass »keine Nation in ihrer Sprache mehr und andre Wörter habe, als sie abstrahiren gelernt«281 und »so muß die Sprache auch in jedem Volk Abstraktionen enthalten, das ist, ein Ausdruck der

275 276 277 278 279 280 281

Ebd. S. 118. Ebd. Ebd. Herder, J. G.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 27. Ebd. S. 31. Ebd. S. 55. Ebd. S. 65.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

Vernunft seyn, von der sie ein Werkzeug gewesen«282 . Diese Abstraktionen seien »Beweise von der Fortwandrung der Sprache mit der Vernunft, und ihrer Entwicklung aus derselben unter allen Völkern, Weltgürteln und Umständen«283 . Zum Beispiel geht Herder davon aus, dass sich der »Stuffengang des Menschlichen Geistes«284 durch »mehr […] Grammatik«285 äußere. Außerdem behauptet er: Endlich »da jede Grammatik nur eine Philosophie über die Sprache, und eine Methode ihres Gebrauchs ist: so muß je ursprünglicher die Sprache, desto weniger Grammatik in ihr seyn, und die älteste ist blos das vorangezeigte Wörterbuch der Natur!«286 Auch die Sprache und mit ihr die Vernunft bildet sich bei Herder also vor dem Hintergrund eines übergeordneten Evolutionsschemas aus, was dazu führt, dass verschiedene Nationen einen unterschiedlichen Zugang zur Vernunft haben. Interessanterweise sind es gerade die sprachtheoretischen Überlegungen, die in der Herder-Rezeption häufig als Relativismus ausgelegt worden sind. Um ihn zu belegen, wird gerne auf Herders »Eine Metakritik der Kritik der reinen Vernunft« verwiesen, die von Herder als Antwort auf Kants »Kritik der reinen Vernunft« verfasst wurde.287 In seiner »Metakritik« wendet sich Herder, so die gängige Rezeption, gegen Kants Vorstellung von der reinen, abstrahierten Vernunft, indem er dem Idealismus Kants sein Verständnis von örtlicher und zeitlicher Prägung moralischer Urteile, sprich seinen Realismus, entgegensetzt.288 Tatsächlich

282 283 284 285 286 287

Ebd. S. 67. Ebd. S. 66. Ebd. S. 70. Ebd. Ebd. S. 67. Vgl. Sikka, Sonia: Herder’s Critique of Pure Reason. In: The Review of Metaphysics 61/1 (2007). S. 31-50. S. 31. 288 Wie bereits bemerkt, erkennt Zammito in diesem Disput den Startschuss für die Disziplin der Anthropologie. Tatsächlich lassen sich auch heute noch etliche Konflikte in moralischen Fragen auf diese zwei Grundhaltungen, den Idealismus und den Pragmatismus/Realismus/Empirismus, zurückführen.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

ist Herder der Ansicht, dass »reason depends upon language«289 oder, um es mit Herders Worten zu sagen: »[E]ine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land.«290 Bei Herder ist Sprache also Ausdruck einer regional und zeitlich geprägten Vernunft. Allerdings gibt es in Herders Philosophie nicht nur keinen Widerspruch zum Ideal einer göttlichen Vernunft; beide Vorstellungen, regional beziehungsweise temporal geprägte und universale Vernunft, ergänzen einander gar, da Herder die Einsicht, dass erstere das menschliche Leben beeinflusst, mit dem Glauben an moralisches Lernen (und damit an eine de facto Annäherung an einen Idealzustand)291 verbindet: Aber wie’s auch laufe, (und es wäre schlimm, wenn nur der Aberglaube wieder den Unglauben abwechseln könnte und der ewige elende Kreislauf nicht weiterbrächte!) Religion, Vernunft und Tugend müssen durch die tollesten Angriffe ihrer Gegner unfehlbar einmal gewinnen!292 Es ist dieses hier skizzierte moralische Lernen, welches Herder bildund wortreich durch die Metaphern der Lebensalteranalogie, der Analogie in der Natur und der humanistischen Bildung beschreibt. Finkielkrauts Einwand, dass Herder eine Art »Anything goes«, einen ethischen Nihilismus begründe, ist also eine Fehleinschätzung. Herder mahnt – das könnte als die positive Folge seiner Kulturtheorie verstanden werden – vielmehr zur Vorsicht an, was die Geschwindigkeit und Vehemenz anbelangt, mit der moralische Urteile gefällt werden.

289 Sikka, S.: Herder’s Critique of Pure Reason. S. 34. 290 Herder, J. G.: Ideen. S. 231. 291 Herder glaubt allerdings, dass das göttliche Ideal nie vollkommen erfüllt werden kann. 292 Herder, J. G.: Philosophie. S. 103.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

In dieser Hinsicht ist er auch heute noch aktuell.293 Herders Philosophie beinhaltet die Gelassenheit, Unterschiede und Widersprüche als solche zu akzeptieren und zunächst unkommentiert zu lassen, da viele Sachverhalte erst im Nachhinein interpretiert werden könnten.294 Dem schnellen Urteil entgegnet Herder mit seinem Verständnis für »die Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meiner Blicke, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel meiner Neigungen und Begierden«295 , kurzum damit, dass Irren menschlich ist. Mit seiner Aussage »[J]eder vernünftelt doch nur nach seiner Empfindung[.]«296 findet er im Prinzip nur andere Worte für diesen Gemeinplatz. An anderer Stelle spricht Herder von einem »Anstrich der Vernunft«297 , der bestimmten kulturellen Handlungen gegeben werden könnte. Hier kommt wieder die Vorstellung der menschlichen Unkenntnis zum Tragen, da Herder die Meinung vertritt, dass viele nationale Vorstellungen von Vernunft zwar falsch sind, was Relativität eigentlich ausschließt, sich jedoch relativ zum Entwicklungsstadium des jeweiligen Volkes verhalten (»denn auch mit dem Knaben von sieben Jahren läßt sich noch nicht, wie mit dem Greis und Manne, vernünfteln«298 ) und demnach als diachron relativ bezeichnet werden können. Herder kommt zu dem Schluss: »[D]er größte Teil von Nationen der Erde ist noch in Kindheit, reden alle noch die Sprache, haben die Sitten, geben die Vorbilder des Grads der Bildung […].«299

293 Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »Helikoptermoral« geprägt und meint damit eine »Hypertrophie von ängstlicher Aufmerksamkeit und hastigen Bewertungen ohne Empathie und ohne Blick auf Zusammenhänge« (Schmidbauer, Wolfgang: Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum. Hamburg: Murmann Verlag 2017 (= Kursbuch. edition). S. 5.). 294 Sikka spricht in diesem Zusammenhang von »a suspension of values« (Sikka, S.: The Case of Herder. S. 326.). 295 Herder, J. G.: Philosophie. S. 109. 296 Ebd. S. 10. 297 Ebd. S. 44. 298 Ebd. S. 17. 299 Ebd. S. 91.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

2.2.4.3

Zivilisation und Bedürfnis

Löchte hat darauf hingewiesen, dass Herder »die Begriffe Zivilisation, Aufklärung und Kultur synonym verwendet«300 . Herder unterscheidet ferner verschiedene Stufen oder Grade der Kultur/Zivilisation: »Aus der Geschichte der Menschheit ists unleugbar, daß, wo sich irgendein Land zu einem vorzüglichen Grad der Kultur [meine Hervorhebung!] erhob, es auch auf einen Kreis der Nachbarn gewirkt habe.«301 In der Bewertung einzelner Völker führt er dementsprechend die binären Kategorien »zivilisiert« und »barbarisch« beziehungsweise »wild« ein (z.B. »Die Japaner waren einst Barbaren […].«302 ), wobei er betont, dass »[d]er Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern […] nicht spezifisch, sondern gradweise«303 sei. Damit bewegt sich Herder sehr nahe an dem, was Kulturevolutionisten wie Henry Lewis Morgan später behaupten sollten, denn auch Morgan entwickelte eine Stufenfolge, die er in »Wildheit«, »Barbarei« und »Zivilisation« unterteilte.304 Eine besondere Bedeutung hatte bei Morgan die Schrift inne, »deren Herausbildung nach Morgan den Anfang der Stufe der Zivilisation markierten«305 , und welche ebenso Herder als Ausschlusskriterium zur Einteilung in »kultivierte« beziehungsweise »unkultivierte« Völker heranzieht: Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unsres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bildung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieser künstlichen Tradition lagen, sind nach unsern Begriffen un300 Löchte, Anne: Johann Gottfried Herder: Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Andrastea. Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 2005 (= Epistamata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 540). S. 32. 301 Herder, J. G.: Ideen. S. 286. 302 Ebd. S. 287. 303 Ebd, S. 227. 304 Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden: eine Einführung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. München: C. H. Beck 2012. S. 153. 305 Ebd.

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

kultiviert geblieben; die daran auch nur unvollkommen teilnahmen erhoben sich zu einer Verewigung der Vernunft und der Gesetze in Schriftzügen.306 Die Schrift – das wird anhand des Zitates ersichtlich – ist eine Kulturpraxis, die Herder nicht nur für »kultiviert«, sondern gleichzeitig für vernünftig hält. Mit dieser Vorstellung von sinnvoller Kultur geht der Glaube an einen von Bedürfnissen geplagten Menschen einher, welcher diese Bedürfnisse durch Kultur zu befriedigen versucht. Zur Erinnerung: Herder schreibt bereits 1774: »Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt […].«307 Die Theorie von Kultur als adaptives und bedürfnisbefriedigendes System wurde, nebenbei bemerkt, später von Bronislaw Malinowski308 neu aufgelegt. Obwohl das Bedürfnis laut Herder lediglich einen unter mehreren »Auslösern« für Kultur beziehungsweise Zivilisation darstellt – »Der praktische Verstand des Menschengeschlechts ist allenthalben unter Bedürfnissen der Lebensweise erwachsen; allenthalben aber ist er eine Blüte des Genius der Völker, ein Sohn der Tradition«309 –, ist es in Herders Kulturphilosophie ein wichtiger Eckpfeiler und bildet das erste Glied einer Argumentationskette, in deren Zentrum der Glaube an eine vegetativ verlaufende Kulturevolution mit Europa als Fluchtpunkt steht. Der von Herder dargelegte Gedankengang ist folgender: Es gibt Unterschiede zwischen den Völkern in Bezug auf ihre Vernunftfähigkeit. Diese Unterschiede offenbaren sich in der Verwendung kultureller Praktiken. Die Schrift hält Herder für eine vernünftige Praktik, da sie Gedankengänge für die Nachwelt fixiert. Anhand dieser Argumentationskette wird deutlich, dass Herder, ob nun wissentlich oder unwissentlich, Europa als Epizentrum des »Vernünftigen« und als Antipode des »Barbarischen« konstruiert beziehungsweise einen Graben aufreißt zwischen

306 Herder, J. G.: Ideen. S. 235. 307 Herder, J. G.: Philosophie. S. 32. 308 Vgl. Girtler, Roland: Kulturanthropologie: eine Einführung. Wien: LIT Verlag 2006. S. 192. 309 Herder, J. G.: Ideen. S. 207.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

sogenannten »schriftlosen« »Völkern« und denen, welche eine Tradition des schriftlichen Wissenstransfer vorweisen können. Indem Herder behauptet, vernünftige Traditionen entsprängen dem praktischen Verstand, dienten der Bedürfnisbefriedigung und seien »unvernünftigen« Traditionen überlegen, entwickelt er – ohne ihn so zu benennen – einen Zivilisationsbegriff, der im Grunde genommen dem des anthropologischen Kulturevolutionismus in Nichts nachsteht. Die unglaublich eurozentrische Dimension dieser Annahmen ist sowohl von Herder als auch vielen seiner Rezipientinnen und Rezipienten nicht erkannt worden.

2.3

Zwischenfazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Herders Werk kaum als relativistisch im Sinne der eingangs vorgestellten Definition eingestuft werden kann. Widerlegt werden konnte auch die Vorstellung von einem relativistischen Früh- und einem universalistischen Spätwerk. Vielmehr sind eine Vielzahl an in den »Ideen« erörterten Prinzipen bereits in der »Philosophie« enthalten, was nahelegt, dass zum einen Herders Werk weitaus kontinuierlicher ist als zuweilen angenommen, und zum anderen die Rezeption der »Philosophie« als relativistische Schrift dem Umstand geschuldet sein könnte, dass sie als der Textgattung »Pamphlet« zugehöriges Werk auf das literarische Stilmittel der Übertreibung rekurriert und primär der Enttarnung des aufklärerischen Anspruchs auf alleinige (moralische) Deutungshoheit verpflichtet ist. Entgegen der Unterstellung, unter anderem Finkielkrauts, Herder kenne keine universalen, sondern nur regionale Werte, fördert die Sichtung Herders Schriften ein anderes Ergebnis zutage. Tatsächlich skizziert Herder ein komplexes Schema, bei dem sowohl makroperspektivisch die ganze Welt und mikroperspektivisch, die einzelnen Völker eine Entwicklung, und das durchaus im Sinne einer Evolution, erfahren. Diesen Prozess stellt sich Herder jedoch nicht als einen linearen vor, bei dem sämtliche Völker eine bestimmte Abfolge an Entwicklungssequenzen durchlaufen müssen, ohne dabei einen Schritt auslassen zu kön-

2. Johann Gottfried Herder: Relativismus und Universalismus

nen. Der Mensch ist nicht über seinen Entwicklungszustand in Kenntnis gesetzt, weswegen Herder eine gewisse, dem Umstand der Unwissenheit geschuldete, Toleranz gegenüber den Lebensformen anderer fordert. Da Herder von verschiedenen Entwicklungsstadien, die allesamt aufeinander aufbauen und in diesem Sinne gleich wichtig für die Gesamtevolution sind, ausgeht, können im Sinne seiner Kulturtheorie einzelne Völker nicht wertend miteinander verglichen werden. Dieser diachrone Epochenrelativismus ist allerdings nicht mit einem absoluten Werterelativismus gleichzusetzen. Werte sind laut Herder eben nicht arbiträr und austauschbar, sondern größtenteils universal. In dieser Hinsicht wird und wurde er von vielen falsch rezipiert. Der Behauptung Berlins, Herder sei ein Wertepluralist, der von einem gemeinsamen Pool an gleichermaßen gültigen Werten ausgehe, ist zu entgegnen, dass Herder nur einen universalen Standard anerkennt, den göttlichen. Die Lebensalter sind notwendige »Fehler« auf dem Weg zur Bildung der Menschheit. Wenn man so will, ist es diese Gelassenheit gegenüber diesen »Fehlern«, diese Toleranz, die Herder von einigen als radikaler Relativismus ausgelegt wird. Herders Evolution hat insofern nur bedingt Ähnlichkeit mit dem späteren, rassistischen Evolutionismus der Kulturanthropologie, als Herder keine Annäherung an einen konkreten Idealzustand fordert. Die Realität muss sich bei Herder also nicht an einer als natürlich empfundenen Ordnung ausrichten, da Geschichte in der Herder’schen Kulturphilosophie immer erst im Nachhinein gedeutet werden kann. Die Zukunft ist unberechenbar, da sich der göttliche Schicksalsplan unserer Kenntnis entzieht. Dies erklärt auch, warum Herder Gegner des Kolonialismus ist. Dessen ungeachtet verleitet ihn auch die Retrospektive zu vernichtenden Urteilen über andere Nationen (siehe 2. 2. 4. 1), die den Chauvinismusvorwurf der früheren Herderforschung bestätigen. Da in seiner Kulturphilosophie nicht der Zufall, sondern das Schicksal regiert, glaubt Herder zwar nicht die Zukunft, wohl aber die Vergangenheit vor dem Hintergrund eines Evolutionsschemas deuten zu können. Dabei greift er zuweilen auch auf sehr problematische Hilfsmittel der Aufklärung zurück: So wurde unter 2. 2. 4. 3 gezeigt, dass Herder den »Zivilisationsgrad« eines bestimmten

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Volks als Fortschrittsmarker, also als Kriterium für Über- oder Unterlegenheit, heranzieht. In 2. 2. 4. 1 wurde dargelegt, dass Herders Klimathese eine Überlegenheit Europas konstruiert, auch wenn er diese vordergründig abzulehnen scheint. Ebenso heikel ist Herders Volksbegriff, denn für Herder ist »der natürlichste Staat […] also auch Ein Volk mit Einem Nationalcharakter«310 . Die Kollektivgrenzen des »Volks« macht Herder vor allem an der Sprache fest. Aber er unterstellt auch ein zusammenhängendes Konglomerat an Traditionen, Lebensund sogar Denkweisen. Herder fordert, dass die jeweils typische Lebensart geschätzt und ausgelebt werden müsse. Nur so könne ein Volk glücklich und im Einklang mit sich existieren. Der positive Aspekt dieses Gedankens ist ein prinzipieller Respekt vor dem Fremden. Der negative ist, dass Mechanismen der Exklusion über diese Logik des Volksbegriffs greifen. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, setzt Boasʼ Kulturanthropologie am Herder’schen Volksbegriff und am Versuch an, die geschilderte Dialektik aufzulösen.

310 Ebd. S. 243.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

3.1

Leben und Positionen

Boas, der 1858 in Minden in einen jüdischen Haushalt hineingeboren wurde,1 gilt als der Begründer der amerikanischen cultural anthropology und wird »in der Fachgeschichte häufig als erster wissenschaftlicher Anthropologe der USA gesehen«2 . Tatsächlich ist die Kulturanthropologie, wie sie heute besteht, in vielerlei Hinsicht von Franz Boas geprägt. So geht beispielsweise die amerikanische Einteilung in die vier Felder der physischen Anthropologie, der Linguistik, der Archäologie und der kulturellen Anthropologie auf Boas zurück.3 Ebenso entwickelte sich die Wissenschaft unter seiner Ägide von einer reinen arm-chair

1 2

3

Vgl. Cole, Douglas: Franz Boas. The Early Years, 1858-1906. Vancouver: Douglas & McIntyre 1999. S. 9. Hirte, Edith: »To See is to Know?« Franz Boas und die amerikanische Anthropologie auf der World’s Columbia Exposition. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von HansWalter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 17-47. S. 17. Vgl. Schmuhl, Hans-Walter: Feindbewegungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und seine Auseinandersetzung mit Franz Boas, 1927-1942. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 187-209. S. 189.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

anthropology4 hin zu einem Fach, das Feldforschung und intensive Datensammlung zum Paradigma erhob. Boas studierte zunächst ein Semester Mathematik und Physik in Heidelberg, um dann für vier Semester nach Bonn zu wechseln, wo er ebenfalls Kurse in Mathematik und Physik, aber auch in Botanik und Geographie belegte. Die letzten zwei Jahre seines Studiums verbrachte er in Kiel und promovierte 1881 im Fach Geographie mit der Arbeit »Beiträge zur Erkenntnis der Farbe des Wassers«.5 Im Juni 1883 folgte eine 15-monatige Forschungsexpedition zu den Inuit nach Baffinland,6 an deren Anschluss er sich im Fach physikalische Geographie habilitierte.7 Die Reise nach Baffinland und die dort gesammelten Erfahrungen als teilnehmender Beobachter unter den Inuit markierten einen wichtigen Wendepunkt in seiner Karriere beziehungsweise den Übergang vom Naturwissenschaftler zu einem Forscher, der sich fortan mit der »interaction between the organic and the inorganic, above all between the life of a people and their physical environment«8 beschäftigen wollte und damit die messbare Welt der Geographie hinter sich ließ. 1887 brach Boas erneut zu einer Expedition auf, um die Bräuche der Indigenen der kanadischen Nordwestküste zu erforschen. Er sollte nicht wieder nach Deutschland zurückkehren, sondern emigrierte in die USA, wo er 1899 Professor an der Columbia University in New York wurde.9 4

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6

7

8 9

Unter arm-chair anthropology versteht man das Vorgehen früherer Ethnologen, welche vor allem von zu Hause aus arbeiteten und sich bei ihrer Analyse auf Reiseberichte dritter verließen (Vgl. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 33f.). Vgl. Boas, Franz: Psychic Life from a Mechanistic Viewpoint. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York: Basic Books 1974. S. 43-44. S. 43. Vgl. Stocking, JR., George W.: The Background of Boas’ Anthropology. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York City, NY: Basic Books 1974. S. 2123. S. 22. Vgl. Girtler, Roland: Franz Boas. Burschenschafter und Schwiegersohn eines österreichischen Revolutionärs von 1848. In: Anthropos 96/2 (2001). S. 572-577. S. 573. Boas, F.: Psychic Life from a Mechanistic Viewpoint. S. 44. Vgl. Girtler, R.: Franz Boas. Burschenschafter und Schwiegersohn. S. 573.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Die herausragende Bedeutung von Franz Boas für das Fach der Kulturanthropologie ist offenkundig. Dennoch gilt sein Werk mitunter als umstritten. Boas, so behauptet Schmuhl, »[…] war ein Wissenschaftler, der viele Türen aufstieß, aber selber auf der Schwelle stehen blieb«10 . Schmuhl meint damit, dass Boas, was beispielsweise die antirassistische Ausrichtung der Disziplin anbelangt, als Vorreiter in der Fachgeschichte der Ethnologie gilt, jedoch aus der Fülle an auf Forschungsreisen gesammelten Daten nie eine zusammenhängende Kulturtheorie auszuarbeiten vermochte. In der Tat lesen sich Boasʼ Texte zuweilen wie eine Kollage einander widersprechender Passagen. Krupat hat das folgendermaßen kommentiert: »It is a simple matter to quote Boas on both sides of what seem to me antithetical and – in the form of which they are stated – irreconcilable positions.«11 Krupat geht sogar so weit, Boas ein ernsthaftes Interesse an Erkenntnisgewinn abzusprechen. In diesem Kapitel soll unter anderem gezeigt werden, dass der Eindruck der Widersprüchlichkeit unter anderem auch Boasʼ Kulturbegriff geschuldet ist beziehungsweise seiner Einteilung von Kultur in zwei Teile (einen vernünftigen und einen unvernünftigen), für die er jeweils andere Prämissen aufstellt. Bekannt ist Boas vor allem als Gründervater des kulturellen Relativismus. Dabei nennt man ihn häufig in einem Atemzug mit einigen seiner Schülerinnen und Schüler. So stellt Schimang fest: Namen wie Franz Boas, Ruth Benedict, Alfred Kroeber, Margret Mead erlangten nicht nur eine hohe Popularität – auch ihr Konzept des Kulturellen Relativismus eroberte in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur die entsprechenden Hörsäle, sondern auch relevante Teile der öffentlichen Meinung.12 Ganz ähnlich sieht das Kohl: 10

11 12

Schmuhl, Hans-Walter: Einleitung. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 9-16. S. 13. Krupat, Arnold: Anthropology in the Ironic Mode: The Work of Franz Boas. In: Social Texts 19/20 (1988). S. 105-118. S. 108. Schimang, D.: Menschrechte versus Menschenwürde. S. 150.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Vor allem Ruth Benedict, Alfred L. Kroeber und Melville J. Herskovits bauten den in seinen Grundzügen in Boasʼ Werk bereits angelegten kulturellen Relativismus (Rudolph 1968: 27) zu einer Art wissenschaftlicher Doktrin aus.13 Die Vorstellung von einem von Boas erdachten und seinen Schülern und Schülerinnen institutionalisierten kulturellen Relativismus ist in der Sekundärliteratur allgegenwärtig und hat sich als vorherrschende Lehrmeinung etabliert. Auch Hatch ist der Ansicht, dass Boas »was largely responsible for developing cultural relativism in American anthropology«14 . Die Einstimmigkeit, mit der Boas die Gründerrolle in der Geschichte des anthropologischen Kulturrelativismus zugeschrieben wird, geht mit der Auffassung einher, Boas habe diese Theorie als Antwort auf den zur Anfangszeit Boasʼ Wirken vorherrschenden Evolutionismus entwickelt, welcher einen für Boas unzulässigen Ethnozentrismus propagiere.15 In diesem Teil der Arbeit wird auch der Frage nach der Plausibilität dieser Lehrmeinung nachzugehen sein, zumal es Stimmen wie beispielsweise Cook gibt, die diese gängige Einschätzung in Zweifel ziehen16 und der Tatsache, dass »[t]he claim that Boas endorsed cultural relativism is commonplace in the literature and has […] gone unchallenged among anthropologists«17 , kritisch gegenüberstehen. Im Folgenden sollen nun Kernkonzepte und Prinzipien der Boas’schen Kulturanthropologie vorgestellt werden. So kann auf der einen Seite eine gewisse Stringenz in Bezug auf wichtige Ideen des Boas’schen Werks nachgewiesen werden, was mit der häufig ins Feld geführten These einer rein deskriptiven Arbeitsweise Boasʼ nicht in Einklang zu bringen ist, und auf der anderen Seite Boasʼ Variante des Kulturrelativismus, welche von Herders Schaffen stark beeinflusst ist,

13 14 15 16 17

Kohl, K.-H.: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. S. 147. Hatch, Elvin: Culture and Morality. The Relativity of Values in Anthropology. New York City, New York: Columbia University Press 1983. S. 38. Vgl. Cook, John W.: Morality and Cultural Differences. New York City, New York: Oxford University Press 1999. S. 51. Vgl. ebd. Ebd. S. 71.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

mit der Herders verglichen beziehungsweise dagegen abgegrenzt werden. Da sich Boas – das wird in den folgenden Kapiteln zu belegen sein – dem Kampf gegen den durch einen rassistischen Biologismus begründeten Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe von Minoritäten verschrieben hatte, publizierte er auch immer im Hinblick auf die sozio-politischen Implikationen seiner wissenschaftlichen Einsichten.18 Die angeblichen, durch das Aufeinanderprallen der wissenschaftlichen und der politischen Realität evozierten Unstimmigkeiten wurden zuweilen kritisiert, da »einige Anthropologinnen und Anthropologen einen Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und politisch-moralischer Parteinahme für kulturelle Minderheiten«19 zu erkennen glaubten. Hier soll nun zunächst ein Blick auf die wissenschaftlichen Positionen und die Arbeitsweise Boasʼ geworfen werden, um diese dann im Hinblick auf seine sozio-politische Standpunkte zu analysieren.

3.2

Zur wissenschaftlichen Methode Boas’

3.2.1

Induktive Methode und Kritik am Kulturevolutionismus

Zur Anfangszeit Boasʼ Karriere als Anthropologe war der Evolutionismus die vorherrschende Theorie in der Kulturanthropologie: Im 19. Jahrhundert war die Vorstellung, dass die Menschheit auf der ganzen Welt bestimmte Entwicklungsstufen durchlaufe, ein weit verbreitetes Deutungsmuster. Gerade innerhalb der im Entstehen begriffenen wissenschaftlichen Disziplin der Ethnologie bot dieser »Kulturevolutionismus« ein sinnstiftendes Schema, das klare Hierarchien zwischen den Kulturen aufrechterhielt und gleichzeitig die

18

19

Vgl. Leicht, Imke: Multikulturalismus auf dem Prüfstand: Kultur, Identität und Differenz in modernen Einwanderungsgesellschaften. Berlin: Metropol 2009. S. 24. Ebd. S. 33.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

»primitiven« Kulturen als wichtigen Schlüssel zur Erforschung des Urzustandes der eigenen Kultur anpries.20 Heidemann bezeichnet den Evolutionismus als »die umfassendste und wirkungsmächtigste Theorie der vergangenen zwei Jahrhunderte«21 . Ihre Entwicklung sei nur vor dem Hintergrund eines sich verändernden Weltbildes zu verstehen, ihre Entstehungsgeschichte von daher konkomitant mit den damaligen Entwicklungen in den Naturwissenschaften, wohl am prominentesten durch Charles Darwins »On the Origin of Species« aus dem Jahre 1859 belegt.22 Heidemann spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ablösung des christlichen und somit transzendentalen Weltbilds[,] [was] von Wissenschaftshistorikern oft als Beginn der modernen Wissenschaft bezeichnet [worden] [ist]«23 . Dem Evolutionismus liegt die Annahme zugrunde, man könne eine allgemeine, unilineare Entwicklung der Menschheitsgeschichte

20

21 22

23

Kudrass, Eva: Franz Boas und die kulturgeschichtliche Ethnologie. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 141-162. S. 143. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 51. Harris verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass »die Entstehung biologischer Interpretationen der Kulturentwicklung auf die Zeit vor Erscheinen des Darwinschen Werks Origin of Species (dt.: Vom Ursprung der Arten) zurück[geht]« (Harris, Marvin: Kulturanthropologie: ein Lehrbuch. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1989. S. 439.). Auch Geulen zieht die gängige Darwinrezeption in Zweifel und gibt zu bedenken, dass selbst bei Darwin, der gemeinhin, und laut Geulen fälschlicherweise, als der Gründervater des biologischen Determinismus angesehen wird, »eine solche Zuordnung [zum Determinismus] zumindest schwierig« ist, da Darwin »die bis dahin sakrosankte Annahme der Konstanz der Arten umstieß und die Natur historisierte, […] den Zufall als Motor und Prinzip der natürlichen Entwicklung einführte und […] die prinzipielle Unberechenbarkeit der Evolution implizierte« (Geulen, Christian: Franz Boas und der Kulturdeterminismus. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 121-139. S. 123.). Heidemann, F.: Ethnologie. 51.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

rekonstruieren, einzelne Kollektive also bestimmten Entwicklungsstufen zuordnen.24 »Mit das einflußreichste Entwicklungsschema entwarf der amerikanische Ethnologe Lewis Henry Morgan in seinem Buch Ancient Society (dt. Die Urgesellschaft).«25 Er unterteilte den Kulturverlauf in drei einander ablösende Hauptsequenzen: »Wildheit«, »Barbarei« und »Zivilisation«.26 Durch Erkenntnisse in der Biologie und Geologie ermutigt, glaubte man, die für Tier und Erde angenommene universale Entwicklungssequenz auch auf den Menschen übertragen zu können. Auf diese Weise sollte die Welt »aus sich selbst heraus«27 erklärt werden. Die supponierte stufenweise Evolution von simplen zu komplexen Kollektiven28 suggeriert ganz offenkundig eine Wertung, die den damaligen imperialistischen Bestrebungen europäischer Großmächte in die Hände spielte. Nebenbei bemerkt, verweist Heidemann auf die Hartnäckigkeit, mit der sich dieses »evolutionäre Entwicklungsparadigma«29 selbst bis zum heutigen Tag in der gesellschaftlichen Wahrnehmung hält: »Entwicklung erscheint [da] als gerichteter, oft als eindimensionaler Prozess hin zu einem fiktiven Zielpunkt und findet seine Konkretisierung auch in Begriffen wie ›Entwicklungsland‹ oder ›Entwicklungshilfe‹.«30 Beim Evolutionismus handelt es sich um eine Theorie, die per se mehr an allgemeinen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten interessiert ist als an partikularen kulturellen Phänomenen. In der Praxis würde das beispielsweise bedeuten, dass ein bestimmter Ritus nicht hinsichtlich seines Ablaufes, seiner Symbole und Logik untersucht 24

25 26 27 28 29 30

Im Prinzip fußt die Vorstellung, die Menschheitsgeschichte vollziehe sich in Etappen, in der Epoche der Aufklärung und der wachsenden Bedeutung der empirischen Naturwissenschaften. Schon »Auguste Comte postulierte ein Fortschreiten vom theologischen zum metaphysischen und schließlich positivistischen (wissenschaftlichen) Denken« (Harris, M.: Kulturanthropologie: ein Lehrbuch. S. 437.). Harris, M.: Kulturanthropologie: ein Lehrbuch. S. 438. Vgl. ebd. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 51. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

wird, sondern lediglich in Bezug auf seine vermeintliche Einordenbarkeit in eine spezifische, vermutete Evolutionsstufe. Insofern ist der Evolutionismus als nomothetische Theorie zu klassifizieren. Harris definiert nomothetische Lehren folgendermaßen: »The focus of nomothetic explanations is not […] on the fine detail, but on the general structural and functional category of which a particular institution or trait is an example.«31 Im Hinblick auf ethnologische Fragestellung heißt das, dass »highly general types of conditions in different parts of the world«32 im Vordergrund stehen, während sich ideographische Theorien auf das Ergründen partikularer historischer Umstände konzentrieren: In contrast, the explanation of a particular instance of warfare (say, the Battle of Waterloo) or of the introduction of a particular calendar (say, the one Julius Caesar reformed in 45 B.C.) in terms which make no reference to any general theories of warfare or calendrical record keeping would constitute an idiographic explanation. Such explanations usually stress the unique sequential thoughts and activities of prominent individuals rather than recurrent causal processes.33 Welches Vorgehen Boas zum Erkenntnisgewinn in der Anthropologie präferiert, ist gut dokumentiert: Thus it appears that the elements of the character of a people are extremely complex. There are two ways of treating this problem. One of the remarkable features of such problems is the occurrence of similar inventions in regions widely apart, and without having a common origin. One method of studying them – and this is Professor Mason’s method – is to compare the phenomena and to draw conclusions by analogy. It is the deductive method. The other method is to study phenomena arising from a common psychical cause among all tribes and 31 32 33

Harris, Marvin: The Rise of Anthropological Theory: A History of Theories of Culture. London: Routledge & Kegan and Paul 1968. S. 378. Harris, Marvin: Cultural Materialism. The Struggle for a Science of Culture. Ney York City, NY: Altamira Press 2001. S. 78. Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

as influenced by their surroundings; i.e., by tracing the full history of the single phenomenon. This is the inductive method. For this method of study, the tribal arrangements of museum specimens is the only satisfactory one, as it represents the physical and ethnical surroundings.34 Boas spricht sich in diesem bereits 1887 veröffentlichten Zitat dezidiert für die induktive Methode aus und tritt damit für ein wissenschaftliches Arbeiten ein, das nicht deduktiv, sprich unter Verwendung bestehender Arbeitshypothesen, vorgehen soll, sondern empirisch die jeweilige historische Entwicklung eines bestimmten Kollektivs beleuchten und erforschen will, wobei dabei durchaus auch großangelegte Gesetzmäßigkeiten entdeckt werden könnten. Der größte Mangel der deduktiven Methode beziehungsweise der »comparative method«35 , besteht nach Boasʼ Dafürhalten darin, rein spekulativ zu sein, denn »[a]s soon as we admit that the hypothesis of a uniform evolution has to be proved before it can be accepted, the whole structure loses its foundation«36 . Als Boas zum ersten Mal mit seiner Kritik am Evolutionismus an die Öffentlichkeit trat, richtete sie sich gegen Otis T. Mason.37 Dieser war als Kurator der ethnologischen Abteilung des United States National Museum38 für die Anordnung der Ausstellungsartefakte zuständig und durch eben jene bei Boas massiv in Kritik geraten: […] Professor Mason has arranged the ethnological collections of the national museum according to objects, not according to the tribes to

34 35 36 37 38

Dall, Wm. H., Boas, Franz: The Museums of Ethnology and their Classification. In: Science 9/228 (1887). S. 587-589. S. 588. Bock, Kenneth E.: The Comparative Method of Anthropology. In: Comparative Studies in Society and History 8/3 (1966). S. 269-280. S. 269. Boas, Franz: Race, Language and Culture. New York City, NY: The Free Press 1966. S. 281. Vgl. Hirte, E.: »To See is to Know?«. S. 26ff. Vgl. Hough, Walter: Otis Tufton Mason. In: American Anthropologist 10/4 (1908). S. 661-667. S. 662.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

whom they belong, in order to show the different species of throwingsticks, basketry, bows etc.39 Boasʼ Kritik gilt im Kern der seiner Meinung nach zusammenhangslosen Anordnung von Ausstellungsgegenständen, die nicht nach Vorkommensort, also nach »Völkern«, sondern nach der Kategorie des Gegenstands gegliedert wurden. Dieser Gliederungslogik lag das kulturevolutionistische Paradigma und damit die Vorstellung zugrunde, dass anhand der Verbreitung einzelner Artefakte und deren anschließender Zuschreibung zu einer bestimmten »Kulturstufe« eine gesetzmäßige Evolution von Kultur nachgewiesen werden kann. Boas erachtet die Anordnung kultureller Artefakte nach lediglich vermuteten Evolutionsstufen als vollkommen sinnentleert: Another instance will show that the arrangement of similar implements does not serve the purpose of ethnological collections. From a collection of string instruments, flutes or drums of ›savage‹ tribes and the modern orchestra, we cannot derive any conclusion but that similar means have been applied by all peoples to make music. The character of their music, the only object worth studying, which determines the form of the instruments, cannot be understood from the single instrument, but requires a complete collection of the single tribe. […] Mason’s method takes a place in ethnology similar to the former ›comparing method‹ in geography. A mere comparison of forms cannot lead to useful results […].40 Anstatt sich auf das fragwürdige (Re)konstruieren etwaiger Evolutionsstufen und allgemeingültiger Gesetze zu konzentrieren, sollte laut Boas der Fokus eher auf die partikulare Betrachtung spezieller Volksgruppen gelegt werden. »Boas setzt somit dem Evolutionismus sein naturwissenschaftlich geprägtes Verständnis detaillierter empirischer For-

39

40

Boas, Franz: The Principles of Ethnological Classification. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York City, NY: Basic Books 1974. S. 61-67. S. 61. Ebd. S. 62f.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

schung entgegen.«41 Dabei sollte die zu betrachtende Einheit immer in ihrem geschichtlichen Kontext untersucht werden. Anstatt zu generalisieren, müsse also partikularisiert werden. Er selbst drückt das folgendermaßen aus: In regarding the ethnological phenomenon as a biological specimen, and trying to classify it, he [Mason] introduces the rigid abstractions species, genus, and family into ethnology, the true meaning of which it took so long to understand. It is only since the development of the evolutional theory that it became clear that the object of study is the individual, not abstractions from the individual under observation. We have to study each ethnological specimen individually in its history and in its medium […]. By regarding a single implement outside of its surroundings, outside of other inventions of the people to whom it belongs, and outside of other phenomena affecting that people and its productions, we cannot understand its meaning. […] Our objection to Mason’s idea is, that classification is not explanation.42

3.2.2

Rezeption der Boas’schen Methode und Relativismus

Boasʼ methodischer Standpunkt wird in der Sekundärliteratur häufig als »Historischer Partikularismus« bezeichnet. Heidemann subsumiert unter dem Terminus folgende Annahme: Da er – in Abgrenzung zur evolutionären, also nach festen Gesetzen verlaufenden Veränderung – von einer Geschichtlichkeit der schriftlosen Völker ausging und stets den Einzelfall betonte, wurde sein Ansatz später Historischer Partikularismus genannt.43 Das Kernstück dieser historischen Methode bildet nach Boas Feldforschung und intensive Datensammlung. Berman hat darauf hingewiesen, dass »[f]or many anthropologists, the salient charac-

41 42 43

Leicht, I.: Multikulturalismus auf dem Prüfstand. S. 27. Boas, F.: The Principles of Ethnological Classification. S. 62. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 66.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

teristic of Boasʼ texts is how raw and undigested they appear«44 . Harris spricht gar von »a programmatic avoidance of theoretical synthesis«45 . Dieser Kritik ist entgegenzuhalten, dass Boasʼ begründetes Misstrauen gegenüber großen Theorien aus heutiger Sicht und besonders vor dem Hintergrund der Auswirkungen, die der Evolutionismus für die nicht-westliche Sphäre mit sich brachte, folgerichtig und ein wichtiger Schritt in die Richtung einer anti-rassistischen Anthropologie war. Davon abgesehen war Boasʼ Loslösung vom evolutionären Paradigma keinesfalls so radikal wie häufig angenommen.46 So plädiert Boas in dem 1898 veröffentlichten Aufsatz »Advances in Methods of Teaching« gar für eine Kombination aus Einzelfallstudie und Vergleich mit anderen Kollektiven zur Klassifikation einzelner Untersuchungsgegenstände und spricht sich dezidiert für die Entdeckung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten als fachinhärentes Ziel aus: Its main object may be briefly described as the discovery of the laws governing the activities of the human mind, and also the reconstruction of the history of human culture and civilization.47 An anderer Stelle bemerkt er, dass the general law is expressed in the individual phenomenon just as much as the individual phenomenon is interpreted as an exemplification of the general law.48

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47 48

Berman, Judith: »The Culture as It Appears to the Indian Himself« – Boas, George Hunt, and the Methods of Ethnography. In: Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. Madison, WI: The University of Wisconsin Press 1996 (= History of Anthropology, Bd. 8). S. 215-256. S. 216. Harris, M.: The Rise of Anthropological Theory. S. 250. Vgl. Darnell, Regna: And Along Came Boas. Continuity and Revolution in Americanist Anthropology. Philadelphia, PA: John Benjamins Publishing Company 1998 (= Studies in the History of the Language Sciences, Bd. 86). S. xif. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 624. Ebd. S. 634.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der a posteriori eingeführte Term »Historischer Partikularismus« nicht falsche Akzente setzt, vermittelt er doch den Eindruck, Boas habe anstelle einer großangelegten Kulturtheorie das Paradigma des geschichtlich zu untersuchenden Einzelfalls gesetzt und hart mit den Thesen des Evolutionismus gebrochen. Tatsächlich ging es Boas aber eher darum, vor allem in methodischer Hinsicht eine Alternative zum unter Zuhilfenahme falscher Prämissen arbeitenden Kulturevolutionismus (deduktive Methode) zu bieten. Boasʼ historische Methode jedoch war eher als Strategie gedacht, die angewandt werden sollte, um die grundsätzliche Vergleichbarkeit von ethnographischem Material zu überprüfen und dann auf dieser Grundlage eine Kulturtheorie auszuarbeiten. Von Boas war die historische Methode ursprünglich also nicht als Selbstzweck entwickelt worden, sondern sie sollte in Verbindung mit dem Vergleich zu anderen Kollektiven bei der Entdeckung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten behilflich sein.49 Vor diesem Hintergrund – das hat Berman betont – muss auch die Fülle an von Boas auf Forschungsreisen gesammeltem Material verstanden werden: »Boas envisioned bodies of primary materials as scholarly resources comparable to the historical records and remains of civilizations of the Old World.«50 So spricht sich Boas nicht per se gegen die »comparative method«51 aus, sondern fordert lediglich eine gesicherte Datenlage, bevor Vergleiche angestellt werden können: »In short, before extended comparisons are made, the comparability of the material must be proved.«52 Die Idee des Historischen Partikularismus wird auch dann falsch rezipiert, wenn behauptet wird, Boas schließe die Entstehung gleicher kultureller Phänomene durch Kulturkontakt grundsätzlich aus,53 bezie49 50 51 52 53

Siehe hierzu auch Cook, J. W.: Morality and Cultural Differences. S. 56ff. Berman, J.: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«. S. 218. Bock, K. E.: The Comparative Method of Anthropology. S. 269. Boas, Franz: The Limitations of the Comparative Method of Anthropology. In: Science 4/103 (1896). S. 901-908. S. 904. Es sei hier angemerkt, dass auch der Kulturevolutionimus, im Gegensatz zum Diffusionismus, welcher davon ausging, dass »change [was] […] gradually spreading across cultures from a common point«, annahm, dass »all societies, if

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

hungsweise gehe prinzipiell von der unabhängigen, partikularen Entwicklung der Kulturen aus. Leicht impliziert genau dies, wenn sie behauptet: Laut Boas gibt es keinen Beweis für gemeinsame historische Quellen bei entfernt lebenden Völkern, sodass kulturelle Phänomene ausschließlich unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur erklärt werden könnten. Jede Kultur habe ihre eigene Entwicklung, spezifische historische Wurzeln und sei gänzlich unabhängig von anderen Kulturen entstanden.54 Es ist eben nicht so, dass Boas eine Ausschließlichkeit unabhängiger kultureller Entwicklung vermutet. Allein müsse solange von unabhängiger Entstehung ausgegangen werden, wie das Gegenteil nicht bewiesen werden könne. Boas äußert sich folgendermaßen zum Thema: »It is not too much to say that there is no people whose customs have developed uninfluenced by foreign culture, that has not borrowed arts and ideas which it has developed in its own way.«55 Boas verweist allerdings darauf, dass die Wahrscheinlichkeit von Kulturkontakt bei entfernt lebenden »Völkern« als gering einzustufen sei: »Nevertheless the distribution of isolated customs in regions far apart hardly admits of the argument that they were transmitted from tribe to tribe and lost in intervening territory.«56 Entgegen der Annahme, Boas gehe automatisch von einer unabhängigen Entwicklung einzelner Kulturen aus, plädiert er auch hier für eine eingehende Prüfung: It is not a safe method to assume that all analogous cultural phenomena must be historically related. It is necessary to demand in every

54 55 56

left alone, would evolve through broadly similar stages« (Gardner, Katy, Lewis, David: Anthropology, Development and the Post-Modern Challenge. London: Pluto Press 1996 (= Anthropology, Culture and Society). S. 27.). Leicht, I.: Multikulturalismus auf dem Prüfstand. S. 27. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 631. Ebd. S. 252f.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

case proof of historical relation, which should be the more rigid the less evidence there is of actual recent or early contact.57 Boasʼ Forderung nach vergleichbarem ethnologischem Material hatte zur Folge, dass auch die Arbeitshypothese des Kulturevolutionismus von der stufenweisen Progression vom »Einfachen« hin zum »Komplexen« von Boas in Zweifel gezogen wurde. Diese ist Boas schlichtweg zu spekulativ.58 Die Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Verlässlichkeit kulturevolutionistischer Stufenfolgen ist eine der Hauptgründe für Boasʼ Ruf als Begründer des kulturellen Relativismus. Kulturevolutionismus, verbunden mit dem Glauben an universal geltende Prinzipien, auf der einen Seite und die Idee von sich unabhängig voneinander entwickelnden Kulturen, gepaart mit der Vorstellung von relativen Werten, auf der anderen stellen in der Kulturanthropologie einen vielbeschworenen dichotomen Gegensatz dar. Fraglich ist, ob diese Gegenüberstellung plausibler Weise aufrechterhalten werden kann, und ob Boasʼ Ablehnung des Kulturevolutionismus somit bereits eine relativistische Position darstellt. Cook hat darauf hingewiesen, dass Boas keinerlei Versuch unternimmt, seine Kritik am Evolutionismus mit einem Plädoyer für kulturelle Relativität zu verknüpfen.59 Oder anders ausgedrückt: »So far, then, no reason has been found to agree with the claim that Boas, in criticizing evolutionism, demonstrated that cultural relativism is essential to the proper conduct of anthropology.«60

57 58 59 60

Ebd. S. 254. Vgl. Cook, J. W.: Morality and Cultural Differences. S. 56ff. Vgl. ebd. S. 58. Ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

3.3

Grundprinzipien der Boas’schen Kulturtheorie

3.3.1 3.3.1.1

Zivilisation und Kultur Zivilisation und Fortschritt

Die vom Evolutionismus propagierte Stufenfolge vollzieht sich a, unilinear, b, immer vom »Simplen« zum »Komplexen« und c, erdumspannend mit d, der westlichen Welt als gerichteten Zielpunkt. Inhaltlich nimmt Boas an genau diesen Punkten der Theorie Anstoß: The evolutionary point of view presupposes that the course of historical changes in the cultural life of mankind follows definite laws which are applicable everywhere, and which bring it about that cultural development is, in its main lines, the same among all races and all peoples. This idea is clearly expressed by Tylor in the introductory pages of his classic work »Primitive Culture.« […] It is true that there are indications of parallelism of development in different parts of the world, and that similar customs are found in the most diverse and widely separated parts of the globe. The occurrence of these similarities which are distributed so irregularly that they cannot readily be explained on the basis of diffusion, is one of the foundations of the evolutionary hypothesis, as it was the foundation of Bastian’s psychologizing treatment of cultural phenomena. On the other hand, it may be recognized that the hypothesis implies the thought that our modern Western European civilization represents the highest cultural development towards which all other more primitive cultural tribes tend, and that, therefore, retrospectively, we construct an orthogenetic development towards our own modern civilization. It is clear that if we admit that there may be different ultimate and co-existing types of civilization, the hypothesis of one single general line of development cannot be maintained.61

61

Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 281f.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Hier übt Boas Kritik an der kulturevolutionistischen Vorstellung von »definite laws which are applicable everywhere«62 und eine einzige Linie kultureller Entwicklung bedingen. Daneben entlarvt Boas die Vorstellung von der westlichen Welt als Fluchtpunkt der kulturellen Evolution als konstruiert. Zum anderen vertritt er die Ansicht, dass sich eine Entwicklung nicht immer zwingend vom »Simplen« zum »Komplexen« vollziehen muss: If the evolution of culture had proceeded in a single line the simplest forms of the family would be associated with the simplest types of culture. This is not the case, for a comparative study discloses the most irregular distribution.63 Eine kritische Haltung Boasʼ hinsichtlich des kulturevolutionistischen Paradigmas ist also sowohl in Bezug auf wissenschaftliche Methodik als auch den Inhalt betreffend, besonders die Annahme einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung im Sinne einer unilinearen Evolution, festzustellen.64 Dennoch taucht bei Boas – und das dürfte Leserinnen und Leser, die mit Boas vor allem durch die Sekundärliteratur vertraut sind, erstaunen – immer wieder die Idee eines zivilisatorischen Fortschritts auf. In seinem bereits 1896 veröffentlichten Aufsatz »The Limitations of the Comparative Method of Anthropology« setzt sich Boas gar folgendes Ziel: »The object of our investigation is to find the processes by which certain stages of culture have developed.«65 Und auch in »The Mind of Primitive Man« spricht Boas wahlweise von »stages of human culture«66 , »low stage of culture«67 , »low stages of civilization«68 ,

62 63 64 65 66 67 68

Ebd. S. 281. Boas, Franz: The Mind of Primitive Man. Überarbeitete Auflage. New York City, NY: The Free Press 1965. S. 168. Vgl. Cook, J. W.: Morality and Cultural Differences. S. 56ff. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 276. Boas, Franz: The Mind of Primitive Man. New York City, NY: The Macmillan Company 1921. S. 70. Ebd. S. 104. Ebd. S. 119.

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»stages of development«69 , »advanced stage of civilization«70 , »social stages«71 , »advance of civilization«72 , »cultural development«73 oder auch von »Progress of Culture«74 . Die Tatsache, dass diese Begriffe auch nach Überarbeitung beibehalten wurden, offenbart ein bewusstes Bekenntnis Boasʼ zur Fortschrittsidee.75 Dabei geht Boas genau wie Herder davon aus, dass Fortschritt kulturübergreifend, durch den Kontakt von »Völkern« untereinander, erzielt wird: First of all, we must bear in mind that none of these civilizations was the product of the genius of a single people. Ideas and inventions were carried from one to the other; and, although intercommunication was slow, each people which participated in the ancient development contributed its share to the general progress.76 Boasʼ Resümee: »[…] [W]e must bow to the genius of all, whatever group of mankind they may represent, North African, West Asiatic, European, East Indian or East Asiatic.«77 In seiner Einschätzung der Vorstellung eines Verlaufs hin zu der westlichen Welt als Zielpunkt erinnert Boas stark an Herder. Dieser sieht, wie dargelegt wurde, davon ab, explizit von Unter- beziehungsweise Überlegenheit zu sprechen und suggeriert die prinzipielle Möglichkeit, dass ein jedes »Volk« an der Speerspitze

69 70 71 72 73 74 75

76 77

Ebd. S. 184. Ebd. Ebd. S. 249. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 202. Ebd. S. 170. Ebd. S. 180. Auch Stocking räumt ein, dass Boas am Fortschrittsgedanken weiterhin festhält. (Vgl. Stocking, JR., George W.: Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective. In: American Anthropologist 68/4 (1966). S. 867-882. S. 870ff.); allerdings argumentiert Stocking, dass sich Boas um 1911 bereits auf dem Weg zu einem neuen Kulturbegriff befand (vgl. ebd.). Der Vorstellung, dass sich Boas mit diesem »neuen« Kulturbegriff von der Fortschrittsidee verabschiedet, wird in der vorliegenden Arbeit widersprochen. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 22. Ebd. S. 23.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

der menschlichen »Evolution« stehen könne. De facto geht er aber davon aus, dass gegenwärtig Europa diese Position einnehme. Auch Boasʼ Aussagen legen diese Einschätzung nahe. Es entsteht der Eindruck, dass er mit dem Verweis auf frühere Zeiten, in denen laut Boas die nicht-westliche Welt die Vorhut des Fortschritts bildete, eine gegenwärtige euro-amerikanische Überlegenheit suggerieren und diese gleichzeitig relativieren möchte: »In the Middle Ages the civilization of the Arabs and Arabized Berbers had reached a stage which was undoubtedly superior to that of many European nations of that period.«78 Bei aller Kritik am Evolutionismus geht Boas also nicht so weit, die Fortschrittsidee zu verwerfen. Tatsächlich kann bei Boas eine Entwicklungsidee ausfindig gemacht werden, die stark der Herder’schen ähnelt und einen Zivilisationsbegriff insinuiert: As time passes, the bloom of civilization bursts forth now here, now there. A people that at one time represented the highest type of culture sinks back into obscurity, while others take its place. At the dawn of history we see civilization cling to certain districts, taken up now by one people, now by another.79 Boasʼ Fortschrittsidee beinhaltet, wie dem Zitat zu entnehmen ist, durchaus die Vorstellung, dass »Völker« unterschiedlich weit entwickelt sein können. So stellt er Überlegungen an zum Unterschied »between the civilization of the Old World and that of the New World«80 , der nach seinem Dafürhalten »essentially a difference in time«81 sei. Er expliziert: »The one reached a certain stage three thousand or four thousand years sooner than the other.«82 Weiler spricht von der These der »Ungleichzeitigkeit […] des Fremden«83 als Charakteristikum des 78 79 80 81 82 83

Ebd. S. 27. Ebd. S. 22. Ebd. S. 23. Ebd. Ebd. Weiler, Bernd: Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie. Bielefeld: transcript Verlag 2006. S. 293.

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Evolutionismus. Tatsächlich vertritt auch Boas diese Vorstellung in »The Mind of Primitive Man«. Doch wie kann es sein, dass Boas trotz dieser haarsträubenden Textpassagen, die ihn eindeutig in die Nähe des Kulturevolutionismus rücken, als Relativist gefeiert wird? Die Antwort ist, dass Boas unterschiedliche Prämissen für verschiedene »Teile« von Kultur aufstellt. Er geht davon aus, dass Kultur in einen logischen und einen nichtlogischen Teil gegliedert werden könne. Für »logische« Prozesse hält Boas’ Konzept der Evolution fest: Nevertheless the increasing intellectual achievements as expressed in thought, in inventions, in devices for gaining greater security of existence and in relief from the ever-pressing necessity of obtaining food and shelter, bring about differentiations in the activities of the community that give to the life a more varied, richer tone. In this sense we may accept the term »advance of culture […]«.84 Boas vermutet, dass traditionelle Elemente, die er als emotionsbehaftet, kollektiv bestimmt und intuitiv ansieht, im Zuge dieser Evolution sukzessive von rationalen Prozessen abgelöst würden. Er bemerkt dazu: Thus an important change from primitive culture to civilization seems to consist in the elimination of what might be called the emotional, socially determined associations of sense-impressions and of activities, for which intellectual associations are gradually substituted.85 Diese dem Fortschritt unterworfenen Elemente stellen bei Boas also den logischen, vernünftigen Teil von Kultur dar. Obwohl er die Begrifflichkeiten nicht konsequent anwendet, macht es den Anschein, dass er zwischen »Zivilisation« und »Kultur« unterscheidet.86 Boas geht noch 84 85 86

Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 180. Ebd. S. 225. Descola macht das Begriffspaar Kultur/Zivilisation betreffend darauf aufmerksam, dass »bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts […] die beiden Termini in der Anthropologie unterschiedslos verwendet [wurden], sogar bei Boas« (Descola, Philippe: Jenseits von Kultur und Natur. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2013 (= surkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 2076). S. 122).

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

einer weiteren folgenschweren Prämisse der Moderne auf den Leim. Er nimmt eine Unterscheidung von »modernem« und »primitivem« Leben vor und vermutet folgenden Unterschied: »Among primitive people the aesthetic motive is combined with the symbolic, while in modern life the aesthetic motive is either quite independent or associated with utilitarian ideas.«87 Boas verknüpft also das Symbolische mit dem »Primitiven«. Es sei hier erwähnt, dass Boasʼ Wortwahl, und das bereits den Titel seines Klassikers »The Mind of Primitive Man« betreffend, befremdet, was von einer prinzipiell positiven Boasrezeption, die vor allem auf die antirassistischen und antinationalistischen Elemente seiner Kulturtheorie verweist, häufig unkommentiert bleibt. Zwar spricht Boas, wenn auch nicht konsequent, von »so-called primitive people«88 , doch legen die von ihm gebrauchten Begrifflichkeiten nahe, dass er prinzipiell weiterhin an den modernen89 Kategorien »rückständig« und »fortschrittlich« festhält. Insofern ist Audra Simpson zuzustimmen, wenn sie behauptet, dass »The Mind of Primitive Man« »was far from the revolutionary or paradigm-shifting text it has been hailed as«90 .

3.3.1.2

Tradition und Fortschritt

Vom logischen Teil der Kultur abzugrenzen sei die Tradition. Sie versteht Boas als genuin irrational und emotionsbesetzt.91 Darüber hinaus 87 88 89 90

91

Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 218. Ebd. S. 24. Hier gebraucht im Sinne von der Epoche der Moderne zugehörig. Simpson, Audra: Why White People Love Franz Boas; or The Grammar of Indigenous Dispossession. In: Indigenous Visions. Rediscovering the World of Franz Boas. Herausgegeben von Ned Blackhawk und Isaiah Lorado Wilner. New Haven, CT: Yale University Press 2018 (= The Henry Roe Cloud Series on American Indians and Modernity). S. 166-181. S. 166. Vgl. Bauman, Richard, Briggs, Charles L.: Voices of Modernity. Language Ideologies and the Politics of Inequality. Cambridge: Cambridge University Press 2003 (= Studies in the Social and Cultural Foundations of Language, Bd. 21). S. 268. Die vom Evolutionismus vertretene Vorstellung von ursprünglich rationalen kulturellen Gewohnheiten, deren eigentlicher Sinn aber verloren gegangen ist, findet sich auch in den Überlegungen Marvin Harris‹ wieder. Er ist im

101

102

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

würden sich traditionelle Handlungen unterbewusst und automatisiert vollziehen.92 Für Boas stellt die Tradition den konservativen Teil des Lebens dar. Er spricht von einem »resistance to change of automatic acts«93 . In Bezug auf den »Manieren« oder der »Etikette« zugeschriebene Handlungen, die innerhalb einer bestimmten Gruppe virulent werden, bemerkt er: Most important for the purpose of our investigation is the observation that all of us who live in the same society react to certain stimuli in the same way without being able to express the reasons for our actions.94 Hier spricht Boas von »society«95 als zu untersuchendem Kollektiv, welchem er Gleichverhalten unterstellt. Dieses Gleichverhalten sei keinesfalls angeboren, sondern habituell und kollektiv eingeübt: A good example of what I refer to are breaches of social etiquette. A mode of behavior that does not conform to the customary manners, but differs from them in a striking way, creates, on the whole, unpleasant emotions; and it requires a determined effort on our part to make it clear to ourselves that such behavior does not conflict with moral standards.96 Im Falle eines Bruchs mit tradierten »customary manners«97 , so die These Boas’, entstünden beim Menschen Gefühle der Ablehnung, ähnlich wie bei Nichtbeachtung moralischer Standards. Dabei bedürfe es der aktiven Vergegenwärtigung des Umstands, dass der Etikette entgegengesetzte Verhaltensweisen keine moralischen Grenzen überschrit-

92 93 94 95 96 97

Gegensatz zu Boas davon überzeugt, dass »even the most bizarre-seeming beliefs and practices turn out on closer inspection to be based on ordinary, banal, one might say ›vulgar‹ conditions, needs and activities« (Harris, Marvin: Cows, Pigs, Wars and Witches. The Riddles of Culture. New York City, NY: Vintage Books 1975. S. 5.). Vgl. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 218. Ebd. S. 220. Ebd. S. 205. Ebd. Ebd. Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

ten. Boas erklärt hierzu: »Among those who are not trained in courageous and rigid thought, the confusion between etiquette—so-called good manners—and moral conduct is habitual.«98 Und weiter: »In certain lines of conduct the association between traditional etiquette and ethical feeling is so close, that even a vigorous thinker can hardly emancipate himself from it.«99 In der Vorstellung Boasʼ sind Fragen des guten Geschmacks und der Etikette immer, ähnlich wie bei Herder, an die Zeit und an ein bestimmtes Kollektiv gebunden. Die Antworten und kulturellen Lösungen, die dieses zu geben vermag, seien eng mit seiner jeweiligen Geschichte und tradierten Gewohnheiten verzahnt. Boas führt unter anderem Kleiderkodizes als Beispiel an: The most cursory review of the history of costume shows that what was considered modest at one time has been immodest at other times. The custom of habitually covering parts of the body has at all times led to the strong feeling that exposure of such parts is immodest. This feeling of propriety is so erratic, that a costume that is appropriate on one occasion may be considered opprobrious on other occasions; as, for instance, a low-cut evening dress in a street-car during business hours, or a modern bathing suit in a formal assembly. What kind of exposure is felt as immodest depends always upon fashion. It is quite evident that fashion is not dictated by modesty, but that the historical development of costume is determined by a variety of causes. Nevertheless fashions are typically associated with the feeling of modesty, so that an unwonted exposure excites the unpleasant feelings of impropriety. There is no conscious reasoning why the one form is proper, the other improper; but the feeling is aroused directly by the contrast with the customary.100 Insofern voneinander abweichende geschichtliche Entwicklungen andere Vorstellungen von Sittsamkeit zutage fördern, plädiert diese Argumentationskette von Seiten Boasʼ, welche die Gewohnheit als Herz-

98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd.f.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

stück in den Fokus nimmt, für eine Relativität von Etikette. Gewohnheiten seien kollektiv eingeübt, nicht reflektiert und emotional besetzt und liefen in diesem Sinne dem Vernunftsgedanken zuwider. A posteriori gelieferte Erklärungen zur Rechtfertigung einzelner Bräuche hätten demgemäß keinen Bestand, da »even [meine Hervorhebung] in our civilization popular thought is primarily directed by emotion, not by reason; and […] the reasoning injected into emotionally determined behavior depends on a variety of conditions and is, therefore, in course of time, variable«101 . Die Rechtfertigungen kultureller Traditionen haben für Boas demgemäß auch nichts mit der tatsächlichen Entstehungsgeschichte bestimmter Bräuche zu tun. Boas expliziert: To eat with people having table manners different from our own excites feelings of displeasure which may rise to such an intensity as to cause qualmishness. Here, also, explanations are often given which are probably based solely on attempts to explain the existing manners, but which do not represent their historical development.102 Zwar räumt Boas ein, dass »[t]his does not preclude the possibility that the first special act, which became in course of time customary, may have been due to a conscious mental process;«103 , allerdings geht er davon aus, dass »it seems likely that many customs came into being without any conscious activity«104 . Bauman und Briggs verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kritik am Evolutionismus, die aus dieser Annahme von irrationalen Traditionen erwächst: Folklore enabled Boas to attack evolutionism by rejecting degenerative bias of traditional philological approaches and countering E. B. Taylor’s view that each folk element is a survival from a previous social form, one that was rational in its origins but became increasingly

101 102 103 104

Ebd. S. 210. Ebd. S. 207. Ebd. S. 211. Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

irrational (see Stocking 1968: 225). For Boas, folklore was deeply embedded in culture, and it was irrational all the way down.105 Boasʼ Überlegungen können in diesem Punkt wie folgt zusammengefasst werden: Kulturelle Gewohnheiten im Sinne von Sitten sind auf ein bestimmtes Kollektiv und eine bestimmte Zeit beschränkt. Sie entspringen im Regelfall keinem vernünftigen Interesse, sondern manifestieren sich rein zufällig und stabilisieren sich durch ständige Übung zum Habitus. Rationale Erklärungen zur Genese und zur Bedeutung dieser Handlungsweisen erfolgten laut Boas erst a posteriori durch sogenannte »secondary explanations«106 , die nichts mit der tatsächlichen Entstehungsgeschichte gemein hätten.107 »Die kulturelle Logik taucht also in einer mystifizierten Form – als Ideologie – wieder auf, und zwar nicht mehr als Klassifikationsprinzip, sondern zur Befriedigung eines Rechtfertigungsanspruchs.«108 Herder spricht in diesem Zusammenhang, wie im vorangegangenen Kapitel erörtert, vom »Anstrich der Vernunft«109 , der a posteriori zur Rechtfertigung kultureller Handlungen erfolgt. Insofern er davon ausgeht, dass kulturelle Handlungsweisen an eine bestimmte Zeit gebunden sind, plädiert Boas in der Tat für eine Arbitrarität. Allerdings handelt es sich bei den von Boas diskutierten Fragen der Etikette und der guten Manieren um eine Handlungsklasse, die für Boas außerhalb des moralisch zu Bewertenden steht, und somit nicht zur Rechtfertigung eines moralischen Relativismus herangezogen werden kann.

105 Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 268. 106 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 220. 107 Siehe hierzu auch Stocking, JR., G. W.: Franz Boas and the Culture Concept. S. 877. 108 Sahlins, Marshall: Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1981. S. 108. 109 Herder, J. G.: Philosophie. S. 44.

105

106

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

3.3.1.3

Moral und Fortschritt

Entscheidend ist nun, ob Boas den Bereich der Moral zum »rationalen« oder »irrationalen« Teil der menschlichen Existenz zählt.110 Hierzu äußert er sich folgendermaßen: In a general review of moral standards we observe that with increasing civilization a gradual change in the valuation of actions takes place. Among primitive man, human life has little value, and is sacrificed on the slightest provocation […]. From this starting-point on we find an ever-increasing valuation of human life […].111 Da Boas moralisches Handeln als vernünftig einstuft, geht er davon aus, dass es mit Zunahme der »logischen« Prozesse an Gewicht gewinne. Dies impliziert freilich, dass das Boasʼ Meinung nach emotionsgesteuerte »primitive« Leben weniger moralisch sei. Vor dem Hintergrund dieser gewagten Behauptung sind auch seine vermeintlich kulturrelativistischen Aussagen zu verstehen: The person who slays an enemy in revenge for wrongs done, a youth who kills his father before he gets decrepit in order to enable him to continue a vigorous life in the world to come, a father who kills his child as a sacrifice for the welfare of his people, act from such entirely different motives, that psychologically a comparison of their actions does not seem permissible. It would seem much more proper to compare the murder of an enemy in revenge with destruction of his property for the same purpose; or to compare the sacrifice of a child on behalf of the tribe with any other action performed on account of the strong altruistic motives, than to base our comparison on the common concept of murder (Westermarck).112

110

111 112

Stocking ist der Ansicht, dass sich Boas’ Kulturbegriff verschiebt, nämlich von einer Vorstellung von Kultur im Sinne von evolutionärer Zivilisation hin zu einer Idee von Kultur, für die Fortschritt keine Rolle spielt (siehe Stocking, JR., G. W.: Franz Boas and the Culture Concept. S. 867-882.). In dieser Arbeit wird hingegen argumentiert, dass Boas keine Ablösung einleitete, sondern eine Zweiteilung. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 172. Ebd. S. 173.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Es wurde bereits dargelegt, dass Boas eine kulturelle Entwicklung à la Herder annimmt. Auch in diesem Zitat sind starke Anklänge an Herder anzutreffen. Boas hält es für nicht zulässig, eine Handlung, in der »a father kills his child as a sacrifice for the welfare of his people«113 als Mord zu verurteilen und alludiert damit auf Herder, welcher eine »Torheit«114 darin sieht, Sitten unterschiedlicher Zeiten und »Völker« miteinander zu vergleichen oder mit dem »Maßstabe einer andern Zeit«115 zu messen; und wie bei Herder kann diese Sichtweise nicht als relativistisch betrachtet werden, da sie dem Glauben an einen evolutionären Entwicklungsprozess für den Bereich der Moral entspringt, was einer Wertung, einer sukzessiven Annäherung an ein mehr oder weniger bestimmtes Ideal gleichkommt.116 Das, was häufig als Relativismus gilt, wird von Boas selbst wohl am ehesten als »Verständnis« für andere Moralvorstellungen »Primitiver« empfunden. In diesem Sinne würden sich laut Boas auch universale Werte und moralische Ideale mit zunehmendem »Entwicklungsstand« ausbreiten: We see in primitive society the feeling of solidarity confined to the small horde, while every outsider is considered a being specifically distinct, and therefore as a dangerous enemy who must be hunted down. With the advance of civilization, we see the groups which have common interests, and in which the bonds of human brotherhood are considered binding, expand until we reach the concept that all men are created with equal rights.117

113 114 115 116

117

Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 17. Ebd. Auch Cook diskutiert diese Stelle aus »The Mind of Primitve Man«. Er kommt zu einem anderen Schluss: Laut Boas könnten verschiedene kulturelle Handlungen nicht wertend miteinander verglichen werden, da sie in den verschiedenen Gesellschaften eine andere Bedeutung transportierten (Vgl. Cook, J. W.: Morality and Cultural Differences. S. 69f.). Boas, Franz: Race and Democratic Society. New York City, NY: J.J. Augustin Publisher 1946. S. 156.

107

108

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Die Beispiele legen nahe, dass Boas entgegen der generellen Rezeption keinesfalls als ethischer Relativist gesehen werden kann. Ganz im Gegenteil offenbaren seine Aussagen das Fortleben chauvinistischer und eurozentrischer Tropen, die durch die Herder’sche Volte der »Nachsicht« für die mangelhaften Moralvorstellungen derer, welche gegenwärtig in der Entwicklung weiter unten angesiedelt seien, zwar vermeintlich abgeschwächt wurden, jedoch gerade aufgrund dieses Kniffes erst in die Epoche der Moderne überführt werden konnten. In Vorgehen und Argumentationsweise wiederholt Boas Herder hier nahezu wortwörtlich und auch in Bezug auf die Stellung des Individuums bleibt diese Nähe zu Herder bestehen.

3.3.1.4

Individuum und Fortschritt

In der Sekundärliteratur wurde immer wieder auf Boasʼ homogenen Kulturbegriff verwiesen.118 Lewis findet »the stereotype of Boas’s approach to culture as integrationist, uniformitarian, essentializing, and blind to individuals […] quite inaccurate«119 und verweist darauf, dass »Franz Boas himself was deeply concerned about individuals and individuality«120 . Tatsächlich gibt es dafür einige Anhaltspunkte. So erklärt Boas: »The problems of the relation of the individual to his culture, to the society in which he lives have received too little attention.«121 Außerdem ist die Zugehörigkeit zu oder die Identifikation mit einem qua Geburt übergeordnetem Kollektiv bei Boas nicht in dem Maß zwingend wie häufig angenommen: The habit of identifying an individual with a class, owing to his bodily appearance, language, or manners, has always seemed to me a sur-

118

Vgl. Lewis, Herbert S.: The Individual and Individuality in Franz Boas’s Anthropology and Philosophy. In: The Franz Boas Papers: Franz Boas as Public Intellectual – Theory, Ethnography, Activism. Herausgegeben von Regina Darnell, Michelle Hamilton, Robert L. A. Hancock, und Joshua Smith. Bd. 1. Lincoln, NE: The Nebraska University Press 2015. S. 19-41. S. 19. 119 Ebd. S. 33. 120 Ebd. S. 19. 121 Zitiert nach ebd. S. 31.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

vival of barbaric, or rather of primitive, habits of mind […]. There are too few among us who are willing to forget completely that a particular person is a Negro, a Jew, […] and to judge him as an individual.122 Der Freiheitsgrad des Individuums sei ein Indikator für die Entwicklung einer Volksgruppe, da »everywhere with progressing culture the individual becomes freer«123 . Das Individuum ist es auch, welches laut Boas auf Kollektivebene Fortschritt initiiert, indem es die eigenen Einstellungen und Ansichten kritisch hinterfragt, da »[p]rogress results from the peaceful struggle of national ideals and endeavors, and from the knowledge that what is dear to us is for that reason not the best for the rest of mankind«124 . Fortschritt ist in Boasʼ Kulturtheorie also das Hinterfragen beziehungsweise das Transzendieren der eigenen Kultur. Bauman und Briggs haben darauf hingewiesen, dass Boas »constructed culture as a force that limits individual freedom«125 . Insofern ist Kultur für Boas etwas, das auf dem Weg zu einer kosmopolitischen Gesellschaft überwunden werden muss. Bauman und Briggs formulieren das folgendermaßen: »Boas did not, however, celebrate culture; indeed, it was, for him, largely negative, an obstacle to the achievement of a more rational and cosmopolitan world.«126 Darüber hinaus sieht Boas durch das Diktum der Kultur auch die individuelle Meinungsfreiheit in Gefahr:127

122 123 124 125 126 127

Zitiert nach ebd. S. 30. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 634. Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 121. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 267. Ebd. S. 257. Hier sei angemerkt, dass Kymlicka der Kritik, dass die Gruppe »tends to subordinate the individual’s freedom to the group’s claim to protect its historical traditions or cultural purity« (Kymlicka, Will: The Good, the Bad, and the Intolerable: Minority Group Rights. In: Human Rights: An Anthropological Reader. Herausgegeben von Mark Goodale. Malden, MA: Wiley-Blackwell 2009. S. 5867. S. 58.) die Ansicht gegenüberstellt, dass »this view is overstated« (Ebd.) da »[i]n many cases, group rights supplement and strengthen human rights, by responding to potential injustices that traditional rights doctrine [sic!] cannot address« (Ebd.).

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

As I remember it now, my first shock came when one of my student friends, a theologian, declared his belief in the authority of tradition and his conviction that one had not the right to doubt what the past had transmitted to us. The shock that this outright abandonment of freedom of thought gave me is one of the unforgettable moments of my life.128 Boas schildert dieses Gespräch als Initiationserlebnis, welches seine wissenschaftliche Stoßrichtung mitbeeinflusst haben soll: The psychological origin of the implicit belief in the authority of tradition, which was so foreign to my mind and which had shocked me at an earlier time, became a problem that engaged my thoughts for many years. In fact, my whole outlook upon social life is determined by the question: how can we recognize the shackles that tradition has laid upon us? For when we recognize them, we are also able to break them.129 Geprägt sei sein wissenschaftliches Vorgehen also immer von der Frage gewesen, wie die Grenzen der eigenen Kultur durchbrochen werden können. Boas schreibt hierzu: That we want to have freedom from interference with our individuality is obvious, but there are very few people even at the present time who understand that true freedom means that we ourselves should be able to rise above the fetters that the past imposes upon us;130 »[T]o rise above the fetters that the past imposes upon us«131 sei ähnlich wie bei Herder prinzipiell möglich, doch für normale Menschen eine nahezu unlösbare Aufgabe:

128

Boas, Franz: The Background of My Early Thinking. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York City, NY: Basic Books 1974. S. 41-42. S. 42. 129 Ebd. 130 Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 179. 131 Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Absolute truth, he [Adolf Bastian] held, is therefore an unattainable ideal. While at the present time we should not be willing quite to subscribe to these opinions, they contain a great underlying truth; namely, that the individual, notwithstanding his most energetic efforts, cannot free himself entirely of the form of thought and action imposed upon him by his social environment […].132 Um sich wirklich von den eigenen »fetters that the past imposes upon us«133 beziehungsweise den »fetters of tradition«134 befreien zu können, bedürfe es laut Boas »hard and courageous work to recognize where the irrational prejudices of the day take the place of rational thought«135 . Die hier skizzierte Art des Denkens könnten, so die Annahme, nur Gelehrte liefern. Auch in diesem Aspekt ähneln sich Herder und Boas stark. Boas’ »irrational prejudices«136 bezeichnet Herder als »Vorurteile« und versteht darunter »eine gewisse Privation von Kenntnissen, Neigungen und Tugenden«137 , die, wenn überhaupt, nur Gelehrte überwinden könnten. Bauman und Briggs kritisieren, dass durch Boas’ Unterteilung in Gelehrte und Nicht-Gelehrte die alte Dichotomie von »primitiv« und »zivilisiert« unter anderen Vorzeichen in die Moderne überführt würde.138 Tatsächlich wohnt dem Ansatz ein elitäres Element inne, das dem demokratischen Anspruchsdenken Boas’ paradoxerweise zuwiderläuft.

3.3.2 3.3.2.1

Natur und Kultur Volksgeist

Eine weitere Parallele zu Herder besteht in der Annahme eines »genius of a […] people«139 . Vermeulen stellt eine direkte Verbindung zwischen

132 133 134 135 136 137 138 139

Ebd. S. 125. Ebd. S. 179. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 201. Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 184. Ebd. Herder, J. G.: Philosophie. S. 18. Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 285. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 22.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Herder’scher und Boas’scher Kulturphilosophie her und verweist auf einen ähnlichen Kulturbegriff: Boas did not see cultures as tightly integrated systems but as entities made up of bits and pieces, elements accumulated through historical accidents, diffusion, and processes of reintegration and reinterpretation. Yet Boas’s flexible view of cultures did not preclude a sense that they did have certain characteristics, even Volksgeist, a prototype of culture introduced by Herder, Lazarus and Steinthal […].140 Da Boas Herder gar namentlich erwähnt, steht außer Frage, dass Boas Herders Werk geläufig war. Folgendes Zitat belegt eine gewisse Sympathie Boasʼ für Herders Vorstellung vom Volksgeist: We are rather concerned with the views of those who saw and felt clearly the individuality of each type of cultural life, but who interpreted it not as an expression of innate mental qualities but as a result of varied external conditions acting upon general human characteristics. The understanding of foreign cultures is much more definite among all members of this group. Herder who had a marvelous aptitude for entering into the spirit of foreign forms of thought and who saw clearly the value of the manifold ways of thinking and feeling among the different peoples of the world, believed that natural environment was the cause of the existing biological and cultural differentiation.141 Mit der hier zitierten »marvelous aptitude for entering into the spirit of foreign forms of thought«142 alludiert Boas Herders Konzept des Volksgeistes, wobei er diesen nicht an biologische, sondern an externe Faktoren gekoppelt sieht, eine Ansicht, die mit der politischen Agenda Boasʼ, der Bekämpfung der Unterdrückung von Minderheiten durch

140 Vermeulen, Han F.: Before Boas: The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. Lincoln, NE: University Press of Nebraska 2015 (= Critical Studies in the History of Anthropology). S. 454. 141 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 42f. 142 Ebd. S. 43.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

einen damals salonfähigen rassistischen Biologismus, konform geht. Boas nimmt hier genau wie Herder Abstand von einer Verdinglichung des Volksgeistes beziehungsweise des »Fremden« an sich, indem er die Ansicht derer bestärkt, »who saw and felt clearly the individuality of each type of cultural life, but who interpreted it not as an expression of innate mental qualities [meine Hervorhebung]«143 . Fremdheit ist bei Boas genau wie bei Herder also kein Wesensmerkmal, sondern ein durch von außen auf den Menschen einwirkende Faktoren zu erklärendes Phänomen. Diese Komponente der Boas’schen Kulturtheorie ist keinesfalls banal, leitet Boas dadurch doch die Idee ab, dass das kulturell Fremde lediglich eine Facette des Universalen ist. Bei Boas stellt eine bloße Alterität kultureller Bräuche und Gepflogenheiten keine Provokation und erst recht keinen Angriff auf die als eigenen empfundenen Werte dar, eine Erkenntnis, die bis zum heutigen Tag noch nicht flächendeckend Fuß fassen konnte. Boas betont – das wurde bereits unter 3. 3. 1. 2 gezeigt –, dass andere Tischmanieren, Kleiderordnungen etc. keiner grundlegenden Andersartigkeit von Personen entspringen, sondern zufällig sind und von Raum und Zeit abhängen. Damit tritt Boas dem entgegen, was man heute unter kulturellem Rassismus versteht, einer Ablösung des biologischen Rassenbegriffs durch den der Kultur/Religion.144 Fredrickson weist uns auf die Probleme hin, die ein verdinglichter Kulturbegriff mit sich bringen kann: Admittedly, however, there is a substantial gray area between racism and »culturalism.« One has to distinguish between among differing conceptions of culture. If we think of culture as historically constructed, fluid, variable in time and space, and adaptable to changing circumstances, it is a concept antithetical to that of race. But culture can be reified and essentialized to the point where it becomes the functional equivalent of race.145

143 Ebd. S. 42. 144 Vgl. Wright, S.: The Politicization of ›Culture‹. S. 10f. 145 Fredrickson, George M.: Racism: A Short History. Princeton, NJ: Princeton University Press 2002. S. 7.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Hall bemerkt hierzu: Natürlich operiert der Rassismus mit der Konstruktion von unüberschreitbaren symbolischen Grenzen zwischen ›rassisch‹ konstruierten Kategorien, sein typisch binäres Repräsentationssystem markiert, fixiert und naturalisiert unaufhörlich die Differenz zwischen Zugehörigkeit und Anderssein.146 Boas’ wohl größtes Verdienst besteht in der Entlarvung dieser von Hall skizzierten konstruierten Alterität. Boas gibt zu bedenken, dass it is certainly conceivable that there may be other civilizations, based perhaps on different traditions and on a different equilibrium of emotion and reason which are of no less value than ours, although it may be impossible for us to appreciate their values without having grown up under their influence.147 Boas besteht darauf, dass »[t]he general theory of valuation of human activities, as developed by anthropological research, teaches us a higher tolerance than the one we now profess«148 . Boas selbst verwendet in seinen Texten weitestgehend den Begriff »genius of […] a people«149 ,150 wenn er vom Volksgeist spricht, eine Bezeichnung, die in ihrer wortwörtlichen deutschen Übersetzung auch schon von Herder gebraucht worden ist. Damit einher gehen für das jeweilige Kollektiv typische »modes of life«151 , die bei Herder unter dem Schlagwort der »Lebensweise«152 firmieren. Wie bereits erörtert, sieht Finkielkraut im Herder’schen Volksgeist die Manifestation eines sich auf die Einzigartigkeit und regionale Begrenztheit der jeweiligen Kollektivstandards berufenden Kulturrelativismus, bei dem das Kollektiv 146 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Bd. 2. Hamburg: Argument Verlag 1994 (= Ausgewählte Schriften). S. 20. 147 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 203. 148 Ebd. 149 Ebd. S. 22. 150 Siehe hierzu auch Hatch, E.: Culture and Morality. S. 43. 151 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 24. 152 Herder, J. G.: Ideen. S. 180.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

durch seine ihm immanente Einzigartigkeit zum Mikrokosmos mit eigenen Werten erhoben wird. Ein wichtiges Argument in diesem Zusammenhang ist die angebliche mentale Abgeschottetheit im Sinne eines grundlegend anderen Geisteslebens Angehöriger unterschiedlicher Kollektive (Volksgeist), die in der Annahme mündet, es gäbe keine universalen, von Regionalismen abstrahierten Werturteile und Kultur sei folglich kulturgeistspezifisch und von daher von Mitgliedern anderer Kollektive nicht nachzuvollziehen.153 Dieses Argument wird von Boas jedoch nicht aufgegriffen, da sein Konzept des »genius of […] a people«154 kein verdinglichtes ist, sondern die Abhängigkeit von externen Faktoren betont. Boas, so Bunzl, »refigures the question of Otherness in terms of temporal rather than cultural alterity«155 . Kulturelle Unterschiede sind in Boasʼ Kulturtheorie lediglich die Folge anderer historischer Umstände, die auf ein an und für sich universales Substrat, die menschliche Konstitution, einwirken. Boas teilt also Herders »Humanitätsideal«156 , das »affirmed the common bond of humanity«157 .

3.3.2.2

Sprache

In Entsprechung des Volksgeistkonzepts, welches bei Boas in Anlehnung an Herder als historisches Konstrukt gedacht wird, versteht Boas auch Sprache als ein der Geschichte beziehungsweise externen Faktoren unterworfenes Charakteristikum der menschlichen Existenz.158 Maas stellt hierzu fest:

153 154 155

156 157 158

Vgl. Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 17. Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 22. Bunzl, Matti: Boas, Foucault and the »Native Anthropologist«: Notes toward a Neo-Boasian Anthropology. In: American Anthropologist 106/3 (2004). S. 435442. S. 437. Ebd. Ebd. Vgl. Maas, Utz: Franz Boas und Edward Sapir. Zur Grundlegung der deskriptiven Sprachwissenschaft. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 251-275. S. 268.

115

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Für ihn [Boas] als Ethnologen lag auf der Hand, dass Sprachstrukturen kulturelle Habitualisierungen darstellen, dass sie in Reaktion auf die kulturelle Aufgabe, mit den Lebensbedingungen zurechtzukommen, ausgebildet sind. […] Aber Sprachstrukturen sind keine kulturellen Mauern […].159 Deutlich wird diese Vorstellung von Sprache als fluider Kategorie bei Boas vor allem auch, wenn er sie in einen Zusammenhang mit Kultur und »Rasse« (Boas verwendet meistens den Begriff »physical type«160 ) stellt. Boas betont, dass sich die drei Einheiten nicht bedingen, das heißt, dass beispielsweise ein bestimmter »physical type«161 konstant bleiben kann, während sich die von ihm gesprochene Sprache und/oder Kultur ändert. Oder aber eine bestimmte Kultur bleibt konstant und die von Angehörigen dieser Kultur gesprochene Sprache verändert sich und/oder der »physical type«162 etc.163 Boas löst sich also von »neat Herderian packages containing a common language, history, territory, people, race, and religion«164 und argumentiert auf diese Art und Weise gegen die Festschreibung biologisch, kulturell oder sprachlich begründeter Inferiorität. Das absolute Gegenteil dieser Annahme von fluiden, an die Außenwelt rückgekoppelten »Sprachstrukturen«165 war die von Evolutionisten wie John Wesley Powell vertretene Ansicht einer genetischen Bedingtheit/Determiniertheit von Sprache.166 So war Powell, erster Direktor des 1879 gegründeten Bureau of Ethnology, das 1894 in Bureau of

159 Ebd. 160 Boas, Franz: Introduction. In: Handbook of American Indian Languages. Herausgegeben von Franz Boas. Bd. 1. Washington, D. C.: Government Printing Office 1911 (= Smithsonian Institution; Bureau of American Ethnology. Bulletin 40). S. 1-84. S. 8. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Vgl. ebd.ff. 164 Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 289. 165 Maas, U.: Franz Boas und Edward Sapir. S. 268. 166 Vgl. Darnell, R.: And Along Came Boas. S. 50.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

American Ethnology umbenannt wurde,167 der Ansicht, dass »genetic classification should rely on lexicon«168 . Wie Herder ging Powell davon aus, dass die Grammatik Rückschlüsse auf »the mental development«169 einer Sprechergruppe zulasse.170 Zur Klassifikation zog er allerdings hauptsächlich den Wortschatz heran,171 da »Powell believed that the original character of a language was preserved in its vocabulary«172 . Darnell hat darauf hingewiesen, dass die Linguistik in den USA unter der Ägide Powells vor allem dazu benutzt wurde, die vermeintliche Unterlegenheit der indigenen Sprachen, besonders im Vergleich zum Englischen, zu belegen: »Powell believed he knew the evolutionary sequence by which human language developed to its ultimate efficiency in English.«173 Unterschiede in den Sprachen wurden folglich auf die vorausgesetzte Zugehörigkeit zu verschiedenen Evolutionsstufen zurückgeführt. Dadurch verkam die Erforschung der indigen Sprachen Amerikas zum Erfüllungsgehilfen der »civilizing mission«174 , da aus dem »Entwicklungsgefälle« die Notwendigkeit von paternalistischen Maßnahmen abgeleitet wurde.175 Zum anderen erhoffte man sich von der Erforschung Kenntnisse über den Verwandtschaftsgrad der Sprachen, die die Verteilung der indigenen Bevölkerung auf Reservate erleichtern sollte.176

167

Vgl. Woodbury, Richard B., Woodbury, Nathalie F. S.: The Rise and Fall of the Bureau of American Ethnology. In: Journal of the Southwest 41/3 (1999). S. 283296.S. 284. 168 Darnell, R.: And Along Came Boas. S. 50. 169 Ebd, S. 55. 170 Vgl. ebd. 171 Vgl. ebd. S. 54. 172 Ebd. 173 Ebd. S. 55. 174 Muthu, Sankar: Enlightenment Against Empire. Princeton, NJ: Princeton University Press 2003. S. 2. 175 Vgl. Holzer, Jacqueline: Franz Boas, die linguistische Anthropologie und die USSprachenpolitik. In: Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942). Herausgegeben von Hans-Walter Schmuhl. Bielefeld: transcript 2009. S. 49-68. S. 50f. 176 Vgl. ebd. S. 54.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Im Geiste dieses Forschungsparadigmas referierte Powells Kollege Daniel Garrison Brinton 1888 an der American Philosophical Society über »the phenomenon of ›alternating sounds,‹ the apparent fluctuation of pronunciation in American Indian languages, and attributed them to a low developmental stage […]«177 .178 Boas konterte dieser Auffassung von instabiler Aussprache »primitiver« Sprechergruppen – die Evolutionisten glaubten, dass Wörter in diesen Sprachen mal so, mal so ausgesprochen wurden – mit seinem berüchtigten Aufsatz »On Alternating Sounds«.179 Darin gelangt er zu der Ansicht, dass there is no such phenomenon as synthetic or alternating sounds, and that their occurrence is in no way a sign of primitiveness of the speech in which they are said to occur; that alternating sounds are in reality alternating apperceptions of one and the same sound.180 Boas argumentiert, dass »a new sensation is apperceived by means of similar sensations that form part of our knowledge«181 . Als Beispiel führt er an, dass es in vielen Sprachen keinen Ausdruck für die Farbe Grün gebe. Wenn man nun einer Person, deren Muttersprache eine solche Sprache ist, Grün zeigte und nach dem Namen fragte, so bezeichnete die Person die Farbe mal als Gelb und mal als Blau.182 Boas folgert daraus: »He [die Person] apperceives green by means of yellow and blue«183 und nimmt also den eigenen kulturellen Apparat zur Ein177

Bunzl, Matti: Franz Boas and the Humboldtian Tradition. From Volksgeist and Nationalcharakter to an Anthropological Concept of Culture. In: Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. Madison, WI: The University of Wisconsin Press 1996 (= History of Anthropology, Bd. 8). S. 17-78. S. 65. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. ebd. 180 Boas, Franz: On Alternating Sounds. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York City, NY: Basic Books 1974. S. 72-77. S. 76. 181 Ebd. S. 74. 182 Vgl. ebd.f. 183 Ebd. S. 75.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

ordnung der Realität zu Hilfe. Zur Untermauerung verweist Boas auf seine eigenen Transkriptionen, bei denen er ein und dasselbe Wort zu verschiedenen Zeitpunkten anders wahrgenommen und verschriftlicht hat.184 Nebenbei bemerkt, sagt Boas jedoch nicht, dass es keine Fakten gebe; nur, dass die eigene Prägung dazu führen kann, dass »fremde« Phänomene falsch eingeordnet werden. Für Boas war die sprachwissenschaftliche Forschung von zentraler Bedeutung, da er glaubte, dass die Sprache Rückschlüsse auf andere Bereiche zulasse.185 Sprache fungiert in diesem Sinne als »a model of culture«186 . So finden sich die oben geschilderten »alternating apperceptions«187 auch in Boasʼ kulturtheoretischen Überlegungen wieder. Hier sei noch einmal auf die bereits unter 3. 3. 1. 3 zitierte Textstelle hingewiesen: The person who slays an enemy in revenge for wrongs done, a youth who kills his father before he gets decrepit in order to enable him to continue a vigorous life in the world to come, a father who kills his child as a sacrifice for the welfare of his people, act from such entirely different motives, that psychologically a comparison of their actions does not seem permissible. It would seem much more proper to compare the murder of an enemy in revenge with destruction of his property for the same purpose; or to compare the sacrifice of a child on behalf of the tribe with any other action performed on account of the strong altruistic motives, than to base our comparison on the common concept of murder (Westermarck).188 Boas suggeriert, dass unbekannte kulturelle Phänomene von den Betrachtenden nach Maßgabe des eigenen kulturellen Erfahrungs- und Deutungshorizonts fehlinterpretiert würden. Laut Boas bedeutet das, dass wir Traditionen, die in unserer eigenen Kultur nicht vorkommen,

184 185 186 187 188

Vgl. ebd. S. 76. Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 258. Ebd. Boas, F.: On Alternating Sounds. S. 76 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

mit uns bekannten Elementen vergleichen; im obigen Beispiel würde also das Konzept »Mord« auf alle möglichen Phänomene angewandt, denen in Realität jedoch andere Motive zugrunde lägen. Noch eine weitere Parallele zieht Boas zwischen Sprache und kulturellem Habitus: Beide sind bei Boas Produkte eines Auswahlprozesses: In the same way as the automatic and rapid use of articulations has brought it about that a limited number of articulations only, each with limited variability, and a limited number of sound-clusters, have been selected from the infinitely large range of possible articulations and clusters of articulations, so the infinitely large number of ideas have been reduced by classification to a lesser number, which by constant use have established firm associations, and which can be used automatically.189 Laut Boas werden sprachliche Elemente und (kulturelle) Ideen aus einem unendlich großen Pool an menschlichen Möglichkeiten geschöpft. Boas betont, dass auch »linguistic classifications never rise into consciousness, and that consequently their origin must be sought, not in rational, but in automatic mental processes«190 . Insofern besteht auch hier eine Gemeinsamkeit zwischen Sprache und kulturellem Habitus. Für Bauman und Briggs stellt das hier geschilderte »principle of selectivity in languages and cultures«191 eine »attack on ethnocentrism«192 dar, weil es gleichberechtigte Zugänge zum Universalen, also Einheit in der Verschiedenheit insinuiere. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass es auch diese Vorstellung von einem universalen menschlichen Handlungsrahmen war, die die »Zivilisierungsmission« für Evolutionisten erst sinnvoll erscheinen ließ, da dieser menschliche Handlungsrahmen die vermeintliche Möglichkeit zum »Aufstieg« innerhalb seiner Grenzen bot.193 189 190 191 192 193

Ebd. S. 190. Ebd. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 261. Ebd. Kendi verweist die Geschichte des Rassismus betreffend auf die zwei unterschiedlichen Theorien der Monogenese und der Polygenese. In ihrer rassisti-

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Ein weiterer Grund für Boasʼ Auffassung von Sprache als wichtigstes Forschungsobjekt der Kulturanthropologie besteht in der Vorstellung, dass sie seiner Ansicht nach ein Fenster zur Vergangenheit aufstößt und einen Einblick in die Denkweise »Anderer« gestattet, da »the history of language reflects the history of culture«194 . Hier existiert eine weitere Gemeinsamkeit zu Herder, welcher ebenfalls eine Verbindung zwischen Sprache und Idee vermutete. In der »Introduction to International Journal of American Linguistics« aus dem Jahr 1917 bedauert Boas den »influence of European languages«195 auf »native languages«196 : The far-reaching influence of these causes may be observed in a most striking manner in modern Mexican and other Central American languages that have been under Spanish influence for centuries, and which not only have lost large parts of their vocabularies that have disappeared with the ancient ideas, but which have also developed a new syntax, and, in part at least, new morphological forms.197 Boas glaubt also, dass sich gewisse Ideen durch die Sprache tradieren. Über die europäischen Sprachen urteilt er folgendermaßen: If we want to form a correct judgement of the influence that language exerts over thought, we ought to bear in mind that our European lan-

schen Variante besagt die Polygenese, die menschlichen »Rassen« hätten sich getrennt voneinander entwickelt, seien ungleich und hierarchisch gegliedert, während rassistische Monogenetiker behaupten, dass alle Menschen »von den Weißen Adam und Eva abstammen« (Kendi, Ibram X.: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018. S. 97.). Letztere Theorie wurde vor allem von Assimilationisten und Assimilationistinnen vertreten, die im Rahmen der aufklärerischen Zivilisierungsmission eine Anpassung von Minderheiten an die euro-amerikanischen Ideale forderten (Ebd.ff.). 194 Boas, F.: The Aims of Ethnology. S. 631. 195 Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 201. 196 Ebd. 197 Ebd.

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guages, as found at the present time, have been moulded to a great extent by the abstract thought of philosophers.198 Boas schlussfolgert weiter: Since the foundation of human thought lies in the rise into consciousness of the categories in which our experience is classified, the principal difference between the mental processes of primitives and ourselves lies in the fact that we have succeeded by reasoning to develop from the crude, automatically developed categories a better system of the whole field of knowledge, a step which the primitives have not made.199 Diese Aussagen, die ihrem Gehalt nach durchaus auch von Herder stammen könnten, als eurozentristisch zu bezeichnen, ist noch wohlmeinend formuliert, behaupten sie doch das glatte Gegenteil von Boasʼ Essay »On Alternating Sounds«, in dem er noch die Vorstellung von »primitiven« Sprachen zurückweist und diese Sprachen vor der chauvinistischen Abwertung des Evolutionismus in Schutz nimmt. Hier kann tatsächlich ein Wiederspruch ausgemacht werden. Darnell zufolge hat sich der Paradigmenwechsel von der evolutionistischen Anthropologie zur Boas’schen Schule keinesfalls so abrupt vollzogen, wie häufig angenommen, denn Boasʼ »early work necessarily proceeded in the context of preexisting personnel and institutional structures«200 . So führte Boas gegen Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens noch genetische Untersuchungen zur Sprache durch, von denen er aber ab 1894 abließ,201 »[when] he was moving toward more intense analyses of particular languages«202 .203 Eine Überlappung 198 199 200 201 202 203

Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 198. Ebd. Darnell, R.: And Along Came Boas. S. 7. Vgl. ebd. S. 184. Ebd. Geulen bemerkt in diesem Zusammenhang, dass für Boas während der Anfangsphase seines Wirkens in Amerika »physiologisch-biologische und kulturanalytische Untersuchungen gleichermaßen wichtig bei der Erforschung dieser Gemeinschaften [der native Americans]« waren und er »auch keine Hemmungen

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

mit dem evolutionistischen Forschungsinteresse bestand darüber hinaus auch im Hinblick auf die »categories of thought that find expression in grammatical form«204 und auf die sowohl von Boas als auch von Evolutionisten geteilte Auffassung, dass sich die Kultur einer bestimmten Volksgruppe in ihren Mythen manifestiere und »which […] would reveal the mental systems of various American Indian groups«205 , eine Prämisse, die auch Boasʼ Forschung zu den Kwakiutl zugrunde lag.206 Doch während Evolutionisten dadurch eine euro-amerikanische Überlegenheit nachweisen wollten, ging es Boas grundsätzlich darum, die sich auf sprachlicher Ebene manifestierende menschliche Vielfalt zu dokumentieren und die Einsicht zu fördern, dass unterschiedliche Sprachen (und in der Folge auch Kulturen) gleichberechtigte Zugänge zum Universalen darstellen. Bauman and Briggs führen hierzu aus: »Because cultural phenomena are encoded grammatically, anthropologists could transcend the limits imposed by Euro-American categories by analyzing native American languages.«207 Werden in Bezug auf Boasʼ Verhältnis zum Kulturevolutionismus Überschneidungen in der Sekundärliteratur häufig vernachlässigt beziehungsweise verschwiegen, betont man die Gemeinsamkeiten Boasʼ mit seinen Schülerinnen und Schüler bisweilen zu stark. Maas hat für den Fall Boas und Sapir überzeugend dargelegt, dass »in der Literatur oft eine Traditionslinie Boas-Sapir-Whorf gezogen [wird], die die Verhältnisse auf den Kopf stellt«208 . Er ist der Ansicht, dass bei allem Interesse für die »categories of thought that find expression in grammatical form«209 Boas diese stets als an Raum und Zeit rückgekoppelte Einheiten betrachtete.210 Mit anderen Worten waren sie für ihn zufällig. Sa-

204 205 206 207 208 209 210

[hatte], sich an ihrer Zurschaustellung im imperialen Rahmen der Weltausstellung von 1893 in Chicago zu beteiligen« (Geulen, C.: Franz Boas und der Kulturdeterminismus. S. 129.). Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 206. Darnell, R.: And Along Came Boas. S. 47. Vgl. Berman, J.: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«. S. 240ff. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 263. Maas, U.: Franz Boas und Edward Sapir. S. 268. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 206. Vgl. Maas, U.: Franz Boas und Edward Sapir. S. 268.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

pir hingegen steht für Maas für ein »relativ ungebrochenes Fortschreiben essentialistischer Konzepte, von transhistorischen Identitäten der Sprache bis zu ihrer Funktion als Weltbildformatierung«211 . Festgehalten werden kann, dass Sprache und Text bei Boas unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten betrachtet den wichtigsten Stellenwert einnehmen; unter anderem deshalb, weil er davon ausgeht, dass sie Rückschlüsse auf die Kultur eines bestimmten »Volkes« zuließen. Gleichzeitig plädiert er allerdings für die Auffassung, Sprache, Kultur und »physical type«212 als voneinander getrennte, veränderbare Kategorien zu betrachten. Hierin liegt ein Widerspruch, denn wenn sprachliche Analysen dazu dienen sollen, mehr über die Kultur einer bestimmten Gruppe zu erfahren, ist die zugrundeliegende Prämisse die, dass Sprache und Kultur eine unveränderliche Einheit bilden.213 Bauman und Briggs bemerken hierzu: In sum, Boas constructed language and culture as separate domains calling for distinct methods, only to hybridize his construction of culture by deeply embedding language ideologies within it. Herein lies a central contradiction in Boas’s epistemology. Languages and cultures are historically shaped and constantly changing.214 In dieser Hinsicht unterschied sich Boas dann in der Tat kaum vom Evolutionismus mit seinem »image of a world made up of stable, language-bounded, one language cultural units«215 .

211 212 213

Ebd. S. 270. Boas, F.: Introduction. S. 8. Haas hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Inkonsistenzen auch zuweilen in der heutigen Diasporaforschung anzutreffen sind (Vgl. Haas, Helene: Das interkulturelle Paradigma. Passau: Verlag Karl Stutz 2009 (= Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft, Bd. 2). S. 97f.). 214 Bauman, Richard, Briggs, Charles L.: Voices of Modernity. S. 265. 215 Hymes, Dell H.: Essays in the History of Linguistic Anthropology. Philadelphia, PA: John Benjamins Publishing Company 1983 (= Studies in the History of Linguistics, Bd. 25). S. 136.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

3.3.2.3

Kollektiv

Demgemäß wird Kultur bei Boas von einer bestimmten Menschengruppe, die ein und dieselbe Sprache spricht, geteilt. Obwohl Boas, wie unter 3. 3. 1. 4 dargestellt, dem Individuum große Bedeutung beimisst, führt sein methodisches Vorgehen, das eine Kongruenz von Sprache und Kultur impliziert, unweigerlich zum Volksbegriff. Dies verwundert umso mehr, als Boas bei seiner Forschung auf die Hilfe von Personen mit sehr komplexem kulturellem Hintergrund zurückgriff und er selbst als Migrant in die Vereinigten Staaten gelangt war: It is remarkable that Boas’s ethnographic success could depend for more than three decades on the multilingual abilities of George Hunt, who was raised with overlapping English-Canadian, Tlingit and Kwakwaka'wakw memberships, without creating a theoretical space for such diversity […]. It is similarly remarkable that a German immigrant of Jewish ancestry did not recognize travel as fostering critical comparisons of culture and a blurring of borders between them.216 Beim hier erwähnten George Hunt handelt es sich um den wohl bedeutsamsten Informanten Boasʼ. Er sollte ein erkenntnistheoretisches Hindernis aus dem Weg räumen,217 »the problem posed by what we now call relativity«218 . Boas hoffte, durch Hunt zu verhindern, dass durch Voreingenommenheit und Prägung durch die eigene Kultur Bräuche und Traditionen des Anthropologen oder der Anthropologin missinterpretiert oder verzerrt wahrgenommen werden. Mit einem Wort ging es Boas hier um die Authentizität des ethnologischen Materials.219 Da Hunts Vater Engländer und seine Mutter eine ranghohe Tlingit war, verfügte er über Expertise in beiden Kulturen und wurde aufgrund der matrilinearen Organisation bei den Tlingit als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft anerkannt.220 Geboren und aufgewachsen im Fort Rupert 216 217 218 219 220

Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 265. Vgl. Berman, J.: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«. S. 217. Ebd. Vgl. ebd. S. 217ff. Vgl. ebd. S. 226.

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der Kwagulh, einem Stamm der Kwakwaka’wakw, sprach er Kwak’wala als Fremdsprache, Tlingit als Muttersprache und Englisch.221 Obwohl er nicht den Kwakwaka’wakw angehörte, fungierte Hunt für Boas als Informant für ihre Bräuche, dokumentierte sie, sammelte Geschichten und verschriftlichte diese.222 Berman zeigt anschaulich, wie Boas bei der wissenschaftlichen Verwertung von Hunts Berichten zuweilen komplexitätsreduzierende Maßnahmen ergreift, um den Eindruck, es handele sich um authentisches Material über die Kwakwaka’wakw, zu bewahren beziehungsweise zu bekräftigen: Boas learned about Hunt’s non-Kwakwaka'wakw origins at an early date in their relationship, but he did not always make them perfectly clear to his readers. He did acknowledge Hunt’s background briefly in the prefaces to some, but not all, of the text volumes […], and he occasionally made somewhat cryptic references to it elsewhere […]. In general, however, Boas was silent about the fact that the author of the texts was a foreigner among the Kwakwaka'wakw. Boas also failed to identify Hunt in most accounts in which Hunt was not just a recorder but also an actor.223 Berman vermutet: »In obscuring Hunt’s antecedents, Boas may have been trying to deflect scholarly quibbling over the authenticity of his texts, or confusion over how to interpret the events described therein.«224 Ebenfalls erwähnenswert ist, dass Boas mitunter die Mitautorenschaft Hunts beziehungsweise die Beteiligung an der Forschung herunterspielt.225 Aus der Art und Weise, wie Boas den tatsächlichen familiären Hintergrund Hunts verschleiert, kann geschlossen werden, dass er sich jenseits des Herder’schen Volksbegriffs, des »conservative view of languages and cultures as entities that come one-to-a-customer«226 , kei221 222 223 224 225 226

Vgl. ebd. Vgl. ebd.231ff. Ebd. S. 228. Ebd. S. 230. Vgl. ebd. S. 234. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 265.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

ne anderen beziehungsweise komplexeren Formen von Identität vorstellen kann.227 Boas vertritt also nach wie vor »the individualist ideology of the West, that a self is not constituted by multiple intersecting discourses but consists in a unified whole capable of autonomy from others«228 . Dabei hat Boas durchaus einen Blick für »internal cultural diversity«229 auf kollektiver Ebene. So ermutigte Boas Hunt regelmäßig, Widersprüche, zum Beispiel mehrere Versionen ein und derselben Geschichte, erzählt von verschiedenen Stammesmitgliedern, nicht etwa unter den Tisch fallen zu lassen, sondern gleichberechtigt in seine Dokumentation mitaufzunehmen.230 Auch spricht Boas in der berüchtigten Einleitung des »Handbook of American Indian Languages«, in der er, wie bereits dargelegt, die Kongruenz von »Rasse«, Kultur und Sprache dekonstruiert, davon, dass diese vom Evolutionismus proklamierte Deckungsgleichheit noch unwahrscheinlicher wird, wenn man vom verallgemeinernden Begriff »Kultur« absieht und stattdessen einzelne Bestandeile analysiert: It may be added that the general term »culture« which has been used here may be subdivided from a considerable number of points of view, and different results again might be expected when we consider the inventions, the types of social organization, or beliefs, as leading points of view in our classification.231 Bis zu einem gewissen Grad räumt Boas auch die Tatsache ein, dass Nationen konstruiert sind.232 So warnt er davor, einen Zusammenhang von »Rasse« und Nation anzunehmen: »It has become evident that unity of racial descent does not bring about national cohesion, and that distinct racial elements may combine and form a nation of great solidar-

227 Vgl. ebd. 228 Alcoff, Linda: The Problem of Speaking for Others. In: Cultural Critique 20 (Winter, 1991-1992). 5-32. S. 21. 229 Berman, J.: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«. S. 239. 230 Vgl. ebd. 231 Boas, F.: Introduction. S. 14. 232 Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 289.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

ity.«233 Ebensowenig tauglich als Kriterium zur Bestimmung der Nation scheint ihm die Sprache: »We also recognize that between the members of a nationality, language is a firmer bond than race, although it does not necessarily coincide with national boundaries.«234 Über die Nationalsozialisten schreibt Boas in diesem Zusammenhang: »They ignore the elementary facts of anthropology; they confuse race and nation; they seem to believe that languages are inborn, so that Jews or Japanese, even though born and educated in Germany, can never hope to speak German faultlessly.«235 Für Boas steht außer Frage, dass das Dach der Nation die unterschiedlichsten Gruppen vereint, und dass zum Beispiel the Sicilian and the Venetian, or the Bavarian and the Westphalian peasants, if they should meet and converse solely in regard to matters of everyday life, would find so little in common that the feeling of national unity would not arise on this basis.236 Als Beispiel dafür, wie abstrakt die Idee der Nation beziehungsweise des Nationalstaats ist, verweist Boas darauf, dass »[t]here are many regions in Mexico in which the very existence of Mexico is unknown and where the social interests of the people are confined to the village of their fathers«237 . Boas kommt zu folgendem Schluss: The feeling of national political unity requires first of all a knowledge of the nation and its work. In all large units the existence of which is not manifested in the narrow cycle of everyday life, knowledge must necessarily be based on education.238 Bei Boas ist Nationalgefühl demnach kein Phänomen der natürlichen Welt, sondern ein kultürliches, das dem Menschen durch Bildung und Erziehung vermittelt wird. Das nationale Ideal, sagt Boas, »is rather

233 234 235 236 237 238

Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 113. Ebd. Ebd. S. 13f. Ebd. S. 118. Ebd. S. 116. Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

an abstraction based on the current forms of thought, feeling, and action—an abstraction of high emotional value, that is further enhanced by the consciousness of political power«239 . In diesem Punkt unterscheidet sich Boas von Herder, dessen Nationsbegriff, wie im ersten Kapitel dargelegt, in der natürlichen Welt angesiedelt ist. Boasʼ Beitrag zu einer antirassistischen Kulturanthropologie besteht jedoch nicht allein in der Dekonstruktion der Kongruenz von »Rasse«, Kultur und Sprache und damit einhergehend mit der Relativierung des Begriffs der Nation, sondern auch in der Entlarvung von deterministischen Vorstellungen von Biologie beziehungsweise »Rasse« selbst. So verabschiedete sich die Kulturanthropologie mit Boas von ihrer Rolle als verlässliche Erzählerin weißer Überlegenheitsmythen. Beispielsweise war Boas einer der ersten, der die Validität von angeblich objektiven Intelligenztests, deren Ergebnisse eine Minderbegabung der schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner nahelegten, in Frage stellte: »It is true that whites surpass Blacks in meeting intelligence tests. But how good is the evidence? Can we be sure that this mental inferiority of the Negro is real?«240 Boasʼ Antwort auf diese rhetorische Frage lautet »Nein«. Für ihn ist »Rasse« ein soziales Konstrukt und kein natürlicher Fakt. Demgemäß ist es unsinnig, einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und »Rasse« herzustellen. In seinem einflussreichen Aufsatz »Changes of Bodily Form of Descendants of Immigrants« aus dem Jahr 1912 veröffentlichte Boas die Ergebnisse einer Studie »über die Kopfformen von Immigranten im Vergleich zu denjenigen ihrer in Amerika geborenen Kinder«241 . Boas kommt im Aufsatz zu dem Schluss, dass »American-born descendants of immigrants differ in type from their foreign-born parents«242 , und dass »[t]he influence of American environment makes itself felt with increasing intensity, according to the time elapsed between the arrival

239 Ebd. S. 109f. 240 Ebd. S. 8. 241 Geulen, C.: Geschichte des Rassismus. S. 94. 242 Boas, Franz: Changes in Bodily Form of Descendants of Immigrants. In: American Anthropologist 14/3 (1912). S. 530-562. S. 530.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

of the mother and the birth of the child«243 . Wie Baker darlegt, war Boasʼ Aufsatz »the first authoritative text to document biological plasticity«244 . Tatsächlich wird er bis heute herangezogen, um die Variabilität von angeblich statischen biologischen Größen und den Einfluss der Umwelt auf eben jene zu belegen.245 Boas selbst leitete aus den Ergebnissen die Schlussfolgerung ab, dass sich die USA auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne »Rassen« befand, da erbliche Merkmale im Laufe der Zeit durch den Prozess der Amerikanisierung nivelliert würden.246 Hierzu bemerkt Geulen: Er [Boas] glaubte, einen Mechanismus gefunden zu haben, mit dem man das gesamte Problem von Fremdenfeindlichkeit und Rassenhaß aus der Welt schaffen könnte. Wenn sich die Rassenmerkmale durch klimatische Einflüsse verändern ließen, so seine Überlegung, dann könne man durch großflächige Bevölkerungsverschiebungen unerwünschte Rassenmerkmale auch ganz zum Verschwinden bringen. Ein erstes mögliches Anwendungsfeld dieser Idee sah er in der schwarzen Bevölkerung Amerikas. Ließe sich für sie ein Klima finden, das sie langfristig weniger ›schwarz‹ mache, wäre dem Rassenhaß bald ein Ende gesetzt. Hier schlug das liberale Gleichheitsideal endgültig in ein Phantasma der totalen biologischen Angleichung um.247 Die hier zur Sprache gebrachte assimilationistische Einstellung Boasʼ wurde auch von Kendi kritisiert: »Ironischerweise«, so Kendi »hassten Assimilationisten wie Boas die Solidarität unter den »Rassen«, brachten aber weiter Vorstellungen von Rasse auf genau dieser Grundlage

243 Ebd. 244 Baker, Lee D.: Anthropology and the Racial Politics of Culture. Durham, NC: Duke University Press 2010. S. 159. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. Geulen, C.: Geschichte des Rassismus. S. 94. 247 Ebd. S. 95.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

hervor«248 , da sich in ihren Augen »kulturelle[…] Schattierungen vermischten (und zum weißen Amerikanertum verschmolzen)«249 .250

3.4

Boas’ demokratisches Engagement und Forderungen

An diesem letzten Beispiel wird gut ersichtlich, wie Boas wissenschaftliche Erkenntnisse mit direkten politischen Forderungen und Ideen verknüpfte. Als »public intellectual«251 , der sich sowohl seiner alten als auch seiner neuen Heimat verpflichtet fühlte, »nahm [Boas] zu zahlreichen politischen Themen in Deutschland und Amerika öffentlich Stellung und versuchte, politische Entscheidungen zu beeinflussen.«252 In einem Brief an John Dewey aus dem Jahr 1939 legt Boas seine politischen Ziele dar: There are two matters to which I am devoted: absolute intellectual and spiritual freedom, and the subordination of the state to the interests of the individual; expressed in other forms, the furthering of conditions, in which the individual can develop to the best of his own ability—as far as this is possible with a full understanding of the fetters that are imposed upon us by tradition; and the fight against all forms of power policy of states or private organizations. This means devotion to the principle of a true democracy.253

248 Kendi, I. X.: Gebrandmarkt. S. 328. 249 Ebd. 250 Corey Sparks und Richard Jantz wollen in einer 2002 veröffentlichten, aufsehenerregenden Studie nachgewiesen haben, dass Boas’ Ergebnisse aus »Changes in Bodily Form of Descendants of Immigrants« fehlerhaft seien (Vgl. Baker, L. D.: Anthropology and the Racial Politics of Culture. S. 159.), was von einigen zum Anlass genommen wurde, die Vorstellung von »Rasse« als soziales Konstrukt in Zweifel zu ziehen (Vgl. ebd.f.). 251 Schmuhl, H.-W.: Einleitung. S. 14. 252 Kudrass, E.: Franz Boas und die kulturgeschichtliche Ethnologie. S. 156. 253 Zitiert nach Harkin, Michael E.: »We Are Also One in Our Concept of Freedom«: The Dewey-Boas Correspondence and the Invention of Postmodern Bourgeois Liberalism. In: Historicizing Theories, Identities and Nations. Herausgegeben

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Wie aus dem Zitat hervorgeht, versteht sich Boas als glühender Verfechter der Demokratie; in Verbindung mit der Priorisierung individueller Freiheit (»the subordination of the state to the interests of the individual«254 ), der hier vorgetragenen, negativen Besetzung von Kultur (»the fetters that are imposed upon us by tradition«255 ) und der damit einhergehenden Betonung der Vernunft beziehungsweise Wissenschaft kommt dieses Plädoyer für die Demokratie einem Bekenntnis zur liberalen Moderne gleich. Zu Beginn dieses Kapitels wurde die von einigen gestellte Frage aufgeworfen, ob Boasʼ politische Positionen in Widerspruch zu seinen wissenschaftlichen Standpunkten stünden. Diese Frage kann in diesem Punkt verneint werden, da sich, wie dargelegt wurde, die hier zitierten Tropen der Aufklärung beziehungsweise des modernen Liberalismus auch in Boasʼ wissenschaftlichen Positionen widerspiegeln. Im Prinzip affirmiert Boas die gesamte Palette der US-amerikanischen Gründungsideale. Allerdings war sich Boas der Diskrepanz zwischen Utopie und realpolitischer Wirklichkeit bewusst und darüber mit den Jahren zunehmend desillusioniert. Den Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg nahm er zum Anlass, seine Enttäuschung in einem Leserbrief an die New York Times zu äußern: At the time of my arrival here more than thirty years ago, I was filled with admiration of American political ideals. […] Events like the great movement westward, and the Mexican war, appeared rather as digressions from the self-imposed path of self-restraint. A rude awakening came in 1898, when the aggressive imperialism of that period showed that the ideal had been a dream. Well I remember the heated discussions which I had that year with my German friends when I maintained that the control of colonies was opposed to the fundamental ideas of right held by the American people, and the profound disappointment

von Regna Darnell and Frederic W. Gleach. Bd.11. Lincoln, NE: University of Nebraska Press 2017 (= Histories of Anthropology Annual). S. 27-40. S. 37. 254 Ebd. 255 Ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

that I felt when, at the end of the Spanish war, these ideals lay shattered. The America that had stood for right, and right only, seemed dead; and in its place stood a young giant, eager to grow at the expense of others, and dominated by the same desire of aggrandizement that sways the narrowly confined European states. The hope that the United States would guide the world to a saner concept of national aspirations seemed gone.256 Boas – und hier erinnert er stark an Herder und seine Vorstellung vom guten beziehungsweise schlechten Vorurteil – unterscheidet hier zwischen gesundem und ungesundem nationalem Zugehörigkeitsgefühl und prangert die USA für zunehmendes außenpolitisches Engagement an. Er ist der Meinung, dass »no individual or State has the right to impose his own views upon other individuals or States«257 . Über den amerikanischen Patriotismus schreibt Boas: »The American, on the whole, is inclined to consider American standards of thought and action as absolute standards; and the more idealistic his nature, the more strongly he wishes ›to raise‹ everyone to his own standards.«258 So ist Boas beispielsweise dagegen, anderen Ländern den amerikanischen Individualismus aufzuoktroyieren. Zwar empfindet er individuelle Freiheit als ein erstrebenswertes Ziel für alle, doch behauptet Boas, dass nicht jedes Land dieselben Voraussetzungen für einen Lebensstil à la USA mitbringe: It is rather a fortunate accident than conscious choice that enables us to allow to the individual as much freedom of action as we do. A new country, rich in resources, sparsely settled, provides openings without number. The advantages that we possess in our country are provided in England in her vast colonial possessions. On the contrary, a country as thickly settled as Germany is compelled much sooner to husband

256

Boas, Franz: American Nationalism and World War I. In: The Shaping of American Anthropology, 1883-1911. A Franz Boas Reader. Herausgegeben von George W. Stocking, JR. New York: Basic Books 1974. S. 331-335. S. 331f. 257 Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 163. 258 Ebd. S. 169.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

her resources and to restrict the freedom of action of the individual, because co-ordination is necessary to the well-being of the community.259 Wie aus dieser Textstelle hervorgeht, ist es nicht etwa so, dass Boas individuelle Freiheit als Ideal aufgibt; vielmehr sieht er in der unterschiedlichen Ausgangslage der Länder die Voraussetzungen dafür, dass dieses Ideal auch tatsächlich erreicht werden kann, als mehr oder weniger gegeben an. Seine Ansichten in puncto Demokratie sind ähnlich gelagert. So warnt er davor, eine bestimmte Variante, die amerikanische, zum Maßstab für alle zu erheben: Modern democracy was undoubtedly the most wholesome and needed reaction against the abuses of absolutism and of a selfish, often corrupt, bureaucracy. […] To claim, as we often do, that our solution is the only democratic and the ideal one, is a one-sided exaggeration of Americanism. I see no reason why we should not allow other nations to solve their problems in their own ways, instead of demanding that they bestow upon themselves the benefactions of our regime. The very standpoint that that we are right and they are wrong is opposed to the fundamental idea that nations have distinctive individualities, which are expressed in their modes of life, thought and feeling.260 Spannend ist, dass er sich interkulturelle Konflikte beziehungsweise Machtgefälle, entgegen seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die, wie gezeigt wurde, die Konstruiertheit der Nation betonen, nur als Konflikte zwischen Staaten beziehungsweise Nationen vorstellen kann.261 259 Ebd. S. 171. 260 Ebd. S. 170. 261 Simpson zufolge hat die unter anderem von Boas vertretene Priorisierung des Nationalstaats eine Abwertung und auch die Enteignung Indigener zur Folge (Vgl. Simpson, A.: Why White People Love Franz Boas. S. 176f.). In diesem Sinn argumentiert Simpson auch gegen eine Politik der Anerkennung, weil diese als Mechanismus innerhalb der Nationalstaatslogik, die indigenes Leben per se als ungleichberechtigt ausweist, lediglich zur besseren Verwaltung Indigener eingesetzt werde, und so Kolonialität und bestehende Machtstrukturen repro-

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Vor allem hinsichtlich der Aussage, dass »nations have distinctive individualities, which are expressed in their modes of life, thought and feeling«262 widerspricht er seiner wissenschaftlichen Hypothese, dass keine Kongruenz von Sprache, Kultur und »Rasse« besteht. Boas warnt also in erster Linie vor einem Ethnozentrismus im Sinne einer Überbetonung des eigenen Nationalstolzes und der Tendenz, anderen den eigenen nationalen Maßstab aufs Auge zu drücken. Was innerstaatliche Diversität anbelangt, ist sein Standpunkt jedoch ein anderer. Von Minderheiten im eigenen Land erwartet Boas nämlich, wie bereits dargelegt, sich anzupassen: There is a rising tide of race prejudice and especially of anti-Semitism and anti-Catholicism. The obvious remedy is education—teaching the indisputable fact that color of skin, class, religious belief, geographical or national origin are no tests of social adaptability. […] It is time to restate the beliefs of the founders of this nation and drive home again the democratic principle that a citizen is to be judged solely by the readiness with which he fits himself into the social structure and by the value of his contributions to the country’s development.263 Wie dem Zitat zu entnehmen ist, versteht Boas Anpassungsfähigkeit als erstrebenswert und demokratisch (»the democratic principle«264 ). Dass es jedoch keinen Unterschied macht, ob die Anpassung von der Bevölkerung anderer Staaten oder Teilen der eigenen Bevölkerung eingefordert wird, unterschlägt er. Aus der Kritik am überhöhten Nationalstolz leitet Boas zudem die Notwendigkeit von internationalen Organisationen ab: Americanism has no solution to offer, because in international affairs Americanism is but one form of nationalism. The only solution that

duziere (Vgl. Balaton-Chrimes, Samantha, Stead, Victoria: Recognition, Power and Coloniality. In: Postcolonial Studies 20/1 (2017). S. 1-17. S. 1). 262 Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 170. 263 Ebd. S. 14. 264 Ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

can be found must be looked for in a form of international administration, in which the principles of justice as developed for the individual are applied to nations.265 Gemäß seiner Vorstellung vom menschlichen Fortschritt denkt Boas, dass »[t]he federation of nations is the next necessary step in the evolution of mankind«266 . Dementsprechend meint Boas, dass »the political power of a nation is important only when the national unit is the carrier of ideals that are of value to mankind«267 , dass »the whole history of mankind points in the direction of a human ideal as opposed to a national ideal«268 , und dass »patriotism must be subordinated to humanism«269 . So argumentiert Boas auch für »the clear recognition of human rights«270 . Um Menschenrechte definieren und einfordern zu können, sei es wichtig, herauszufinden, »what is generally valid for all humanity and what is specifically valid for different cultural types«271 . Für diese Aufgabe, so Boas, kommt letztlich nur die Anthropologie in Frage, da Boas glaubt, dass sich erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden die Relativität der eigenen Traditionen, Maßstäbe etc. offenbarten272 und dass »[o]nly the greatest minds can free themselves of this tendency [von der Tendenz, im Eigenen das Absolute zu sehen], and they are the ones who in course of time revolutionize the course of our civilization«273 . Die Wissenschaft nimmt bei Boas also eine herausragende

265 266 267 268 269 270 271 272

Ebd. S. 167. Ebd. S. 111. Ebd. S. 110. Ebd. S. 137. Ebd. S. 156. Ebd. S. 130. Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 261. Bauman und Briggs haben darauf aufmerksam gemacht, dass Boas politische Partizipation von »gewöhnlichen« Leuten sogar als gefährlich einstufte, da Boas Personen, die über keinerlei anthropologische Grundbildung verfügten, für anfälliger für Demagogie hielt (Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 284.). 273 Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 157.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

Stellung ein und muss einer sozialen, humanistischen Verantwortung gegenüber der Menschheit gerecht werden: The organization of scientific workers is one of the indications of our consciousness that scientists can no longer work remote from the social problems of our time, that it is necessary both for the commonweal and for the interest of science that we become more keenly aware of the impact of scientific discovery upon our social structure and of the influence of social life upon progress of science.274 Die von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse sollen dann durch Bildung und Erziehung an die Jugend herangetragen werden. Da für Boas »[u]ncontrolled emotionalism is the greatest enemy of intellectual freedom«275 , ist er der Ansicht, dass »[t]o educate people to rational ideals without destroying their emotional life is one of the great and difficult tasks of our times«276 . Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen also die rationalen Ideale der Forschung an die emotionsgesteuerten Bürgerinnen und Bürger weitergeben. Damit will Boas die Vorurteile seiner Zeit aus der Welt schaffen. Boasʼ Annahme, durch Wissenschaft ließe sich die Welt verbessern, entgegnet Kendi, dass »Überzeugung durch Aufklärung«277 ein wenig probates Mittel ist, um mit Stereotypen und Diskriminierung aufzuräumen, da diskriminierende Ideen häufig gezielt in die Welt gesetzt würden, um politische Ziele zu verfolgen und das, obwohl sich Produzentinnen und Produzenten dieser Ideen oft selbst über deren Unwahrheit im Klaren seien.278

3.5

Zwischenfazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die zu Beginn dieses Kapitels vorgestellte Auffassung, Boasʼ Ablehnung des Kulturevolutio274 275 276 277 278

Ebd. S. 215. Ebd. S. 217. Ebd. Kendi, I. X.: Gebrandmarkt. S. 539. Vgl. ebd. S. 542ff.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

nismus sei Teil einer Haltung, die universelle Normen negiert, widerlegt werden konnte. Gezeigt werden konnte außerdem, dass Boas ein Denker war, der sich in vielerlei Hinsicht den Prämissen der Moderne verpflichtet fühlte und weiterhin im Rahmen ihrer Dichotomien von »›primitive‹ and ›civilized‹, ›backward‹ and ›advanced‹, ›superstitious‹ and ›scientific‹, ›nature‹ and ›culture‹«279 forschte und publizierte. Auch wenn Boas die schnöde Stufenfolge des Evolutionismus ablehnt, glaubt er an Fortschritt, und zwar an einen Progress weg von der bei Boas negativ konnotierten Tradition hin zur rationalen Wissenschaft, womit er, freilich entgegen der Ziele, die er sich selbst auf die Fahne geschrieben hat, den Westen als Zielpunkt dieses Fortschritts konstruiert. Boas vertritt im Grunde einen aufklärerischen Fortschrittsgedanken, der sich im Glauben an die Wissenschaft und das Vernünftige, verkörpert zum einen durch zur Abstraktion fähige Gelehrte und zum anderen durch die sich ausbreitenden rationalen Prozesse offenbart. Daraus ergeben sich für Boas Forderungen an und Aufgaben für die wissenschaftliche Disziplin der Kulturanthropologie: »The eternal war between rational thought and emotion and the historical development of the progress of reason over tradition must find its principal source in the data of ethnology.«280 Die Wissenschaft nehme in dieser Situation eine besondere Stellung ein, da sie im Gegensatz zum dem Kulturgeist ausgelieferten Kollektiv in der Lage sei, zu differenzieren. »Among those«, so Boas zur Erinnerung, »who are not so trained in courageous and rigid thought, the confusion between traditional etiquette – so-called good manners – and moral conduct is habitual«281 . Die Aufgabe der Kulturanthropologie besteht nach dem Dafürhalten Boasʼ darin, sich von den »fetters of tradition«282 zu befreien – ein Prozess, der Boasʼ Ansicht nach durch den Vormarsch der Vernunft begünstigt werde283 – und zwischen willkürlichen und logischen Elementen zu unterscheiden. Mit anderen Worten 279 Gardner, K., Lewis, D.: Anthropology, Development and the Post-Modern Challenge. S. 4. 280 Boas, F.: Race, Language and Culture. S. 638. 281 Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 205. 282 Ebd. S. 201. 283 Vgl. ebd.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

soll die Kulturanthropologie diejenigen Standards, welche verbindlich sind und für alle gelten, von jenen unterscheiden, welche arbiträr, wesensmäßig unvernünftig und für das Gelingen eines guten Zusammenlebens irrelevant sind, da sie eine bloße Frage des Geschmacks seien. Während die letztere Kategorie von Handlungen bei Boas dem Volksgeist zuzuschreiben sind, handelt es sich bei den logischen Elementen um Handlungen, die sich evolutionär, als Folge einer auf vernünftigen Prozessen basierenden Genese, ergäben.284 Boas ist demnach also kein ethischer Relativist. Die Ansicht von einigen, Boasʼ Werk sei widersprüchlich, ist teilweise auf diese von Boas vorgenommene, aber mangelhaft kommunizierte und ausgearbeitete Unterscheidung, zurückzuführen. In der Tat ist Boas beides, Anhänger der These von kulturell relativen Traditionen und Verfechter universaler Standards. Das »Vorurteil« ist in Boasʼ Kulturtheorie letztlich eines, das überwunden werden kann. Sowohl der Bedeutung des Individuums in der Gruppe als auch seinen intellektuellen Fähigkeiten misst Boas also weitaus größere Bedeutung bei, als gemeinhin angenommen. Tradition beziehungsweise Kultur hat bei Boas per se auch keine positive Bedeutung. Boas begrüßt gar ihre »Überwindung«. Ähnlich wie bei Herder sind jedoch jene, welche dazu in der Lage und ausreichend »trained in courageous and rigid thought«285 sind, spärlich gesät. Hinter dem »Nebel« der Kultur könne nur die Anthropologie Menschenrechte und jene universelle Wahrheit finden, die sich als menschliches Substrat manifestiere. Ferner ergibt die Gesamtschau, dass Herders Werk starken Einfluss auf Boas genommen und damit ein Fortleben der deutschen romantischen Tradition in der amerikanischen cultural anthropology, welche von dem Deutsch-Amerikaner mitbegründet wurde, zementiert hat. So greift Boas gewisse Kernkonzepte wie beispielsweise die Idee einer volksspezifischen Genialität im Sinne eines »Genius eines Volks«286 mit der wortwörtlichen Übersetzung ins Englische, »genius of […]

284 Vgl. ebd. 285 Ebd. S. 205. 286 Herder, J. G.: Ideen. S. 234.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

a people«287 , auf. Dieses unter dem Namen »Volksgeist« berühmt gewordene Konzept wird häufig ins Feld geführt, um den ethischen Relativismus Herders zu belegen. Finkielkraut beispielsweise ist der Ansicht, dass der Volksgeist die Existenz eines »unwandelbare[n], für alle geltende[n], von seinem Entstehungsort unabhängige[n] und über den Dingen stehende[n] Ideal[s]«288 eo ipso negiere. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass weder Herders noch Boasʼ Volksgeist zum Beleg eines ethischen Relativismus herangezogen werden. Des Weiteren weisen Herder und Boas vor allem bezüglich des ihrem Werk eigenen historischen Ansatzes, der von Boas gar zur ethnologischen Methode erhoben wurde, Parallelen auf. Es ist gerade dieser Historismus, der die sowohl dem Herder’schen als auch dem Boas’schen Werk zugrundeliegende Vorstellung eines menschheitsgeschichtlichen Fortgangs extrapoliert. Interessanterweise wurde das »historische Denken«289 Herders und Boasʼ bisher vorrangig als Ausgangspunkt einer relativistischen Deutung herangezogen. Dabei ist es gerade der Historismus, der bei beiden die Fortschrittsidee in den Universalismus einbettet. Doch während sich die universelle Wahrheit bei Herder aus einer göttlichen Vernunft speist, ist sie bei Boas in einer menschlichen Vernunft begründet. Darin unterscheiden sich Boas und Herder: die göttliche Ratio weicht der menschlichen. Einigkeit herrscht hingegen hinsichtlich des Gedankens, dass Fortschritt kulturübergreifend erzielt würde. Ein weiteres Ziel dieses Kapitels war es, zu überprüfen, inwiefern Boasʼ Rolle als »public intellectual«290 von seinen wissenschaftlichen Positionen abweicht. Prinzipiell, so konnte gezeigt werden, sind die Positionen, die Boas als öffentliche Person einnimmt, mit seinen wissenschaftlichen Überzeugungen in Einklang, da auch sie eine Überlegenheit des westlichen Liberalismus nahelegen. Der Eindruck des Relativisten Boas entsteht durch die Verschleierung seiner problematischen Vorstel-

287 288 289 290

Boas, F. (1965): The Mind of Primitive Man. S. 22. Finkielkraut, A.: Die Niederlage des Denkens. S. 17. Meinecke, F.: Die Entstehung des Historismus. S. 379. Schmuhl, H.-W.: Einleitung. S. 14.

3. Franz Boas: Relativismus und Universalismus

lung einer evolutionären Moralentwicklung durch die Forderung nach »Nachsicht« mit jenen, welche »noch« unzulängliche ethische Standpunkte verträten. Dieser Forderung nach Nachsicht, welche auch bei Herder anzutreffen ist, gepaart mit der Unterscheidung von Gelehrten und Nicht-Gelehrten, wohnt, darauf haben Bauman und Briggs verwiesen, ein elitäres Element inne, welches, so kann argumentiert werden, die alten Gegensätze von »wild« und »zivilisiert« perpetuiert. Es sei hier noch erwähnt, dass die überwiegend sehr positive Boasrezeption, die hauptsächlich auf die antirassistischen, antinationalistischen Implikationen seiner Schriften verweist, übersieht, dass seine Theorie nach wie vor auch sehr reaktionäre Elemente wie die Vorstellung vom irrationalen »Primitiven« enthält.

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4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

4.1

Leben und Positionen

Weitaus stärker als Boas grenzte sich sein Schüler Melville J. Herskovits von den Prämissen des Evolutionismus ab. Als Jude mit dem Alltagsrassismus in den USA konfrontiert,1 entwickelte Herskovits ein Interesse für Minderheiten und deren Stellung in der US-amerikanischen Gesellschaft, welches sein späteres Wirken als Anthropologe stark beeinflussen sollte.2 Nach einem Studium an der Universität von Cincinnati und am Hebrew Union College, das er für seinen Kriegsdienst 1918 im United States Army Medical Corps in Frankreich unterbrach, erwarb er in Chicago einen Bachelorabschluss im Hauptfach Geschichte und zog im Anschluss daran nach New York, wo er an der New School of Social Research in einem progressiven, kosmopolitischen Umfeld mit den Ideen moderner Denkerinnen und Denker konfrontiert wurde. In dieser Zeit begann Herskovits, sich zunehmend für 1

2

Zum Beispiel gab es damals Quoten für jüdische Studierende an amerikanischen Hochschulen, darunter Princeton, Duke, Yale, Harvard, Northwestern und Columbia. So wurde der Anteil der jüdischen Studierenden an der Columbia University vom Stand des Jahres 1917 (40 Prozent) binnen vier Jahre auf 22 Prozent reduziert (Vgl. Gershenhorn, Jerry: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. Lincoln, NE: University of Nebraska Press 2004. (= Critical Studies in the History of Anthropology). S. 14.). Vgl. Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 13.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

soziale Fragestellungen wie Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe zu interessieren.3 Herskovits wurde vorübergehend Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW) und publizierte im American Mercury, dem damaligen »preeminent medium for the attack on traditional middle-class beliefs«4 . Unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten betrachtet, kann diese Epoche des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Phase des Umbruchs und des Wandels vom viktorianischen Zeitalter zur Moderne betrachtet werden. Während in der viktorianischen Ära strikte Vorstellungen von »gender, race and class divisions«5 verbunden mit »fixed notions of social role and hierarchy«6 vorherrschten, betonte die Moderne »the fluidity, change, and unpredictability of culture, society, and politics«7 . Einer dieser Modernisten war Franz Boas, bei dem Herskovits nach Beendigung seines Masterstudiums der Politikwissenschaften an der Columbia University ein Studium der Kulturanthropologie aufnahm und 1923 mit der Arbeit »The Cattle Complex in East Africa« promovierte.8 Damit war auch Herskovitsʼ Forschungsgebiet festgelegt. Er beschäftigte sich in der Folgezeit intensiv mit Afrika beziehungsweise mit Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikanern und deren Stellung in den USA.9 Als amerikanischer Jude war das durchaus kein ungewöhnlicher Schritt, ist doch »the propensity of Jews during this period to fight anti-Semitism indirectly by attacking racist discrimination against African Americans«10 gut belegt. Sein Vorgehen folgte dabei einem emanzipatorischen Impetus, der sich in seiner frühen Forschung in der Widerlegung des von der viktorianischen Forschung vertretenen biologischen Determinismus niederschlug:

3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. ebd. S. 13ff. Ebd. S. 15. Ebd. S. 11. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 23. Ebd.ff. Ebd. S. 20f.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

In his earliest work on the physical anthropology of American blacks – in the midst of the 1920s modernist attacks on Victorian thought – he challenged the Victoriansʼ understanding of race as a biological concept. Using anthropometry, the tool that racist scholars had used to support the notion of a racial hierarchy, Herskovits refuted the dogma of race as an unchanging category, fixed in nature. In The American Negro (1928), Herskovits demonstrated that most American blacks had both African and European ancestry, but contrary to expectations, they exhibited very similar physical characteristics. […] Herskovits challenged the biological definition of race and helped steer scholars toward a more modern conception of race as a sociological category.11 Im Laufe seines Lebens änderten sich Herskovitsʼ Standpunkte stark. So vertrat er zu Beginn seiner Karriere noch assimilationspolitische Ansichten.12 Diese Position wurde damals gerne von Liberalen vertreten, die im Konzept des melting pots eine Chance für Minderheiten sahen, als gleichberechtigte Mitglieder in einer neuen amerikanischen Gesellschaft aufzugehen (siehe Boas).13 »In order to undermine racial discrimination and refute theories of black inequality based on racial differences, Herskovits minimized the differences between the cultures of blacks and whites.«14 Die auf Forschungsreisen nach Surinam, Dahomey, Trinidad, Haiti und Brasilien gewonnenen Erkenntnisse zwangen Herskovits jedoch, den assimilationspolitischen Standpunkt aufzugeben und »by 1930 Herskovits concluded that black cultures throughout

11 12 13

14

Ebd. S. 4. Vgl. Bourguignon, Erika: Relativism and Ambivalence in the Work of M. J. Herskovits. In: Ethos 28/1 (2000). S. 103-114. S. 104. In der Praxis wurde die Idee vom melting pot allerdings häufig so gelebt, dass die anglo-amerikanische Deutung des Konzepts zum Maßstab gemacht wurde, nach dem sich Minderheitenkulturen zu richten hatten (Vgl. Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 61.). Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 62.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

the Americas were strongly influenced by African cultures«15 .16 Seine Position wechselte also richtiggehend vom melting pot zum Partikularismus distinkter Kulturen.17 Herskovits erkannte in den in Afrika und Südamerika vorgefundenen Bräuchen und Lebensweisen Elemente, die auch in der afro-amerikanischen Bevölkerung anzutreffen waren, und gelangte dadurch zu der Ansicht, dass Kulturen eben nicht amerikanisiert würden, sondern weiterhin eigenständige Einheiten bildeten.18 In seinem wohl berühmtesten Werk »The Myth of the Negro Past« widersprach Herskovits der weitläufigen Meinung, »that Africanisms have disappeared as a result of the pressures exerted by the experience of slavery on all aboriginal modes of thought or behavior«19 vehement und entlarvte die Vorstellung, dass »[t]he Negro is thus a man without a past«20 als rassistisch und falsch. Herskovitsʼ wissenschaftliches Engagement führte dazu, dass die African American Studies beziehungsweise African Studies in den Kanon der akademischen Fächer aufgenommen wurden. So führte Herskovits an der Northwestern University Anthropologiekurse zu afrikanischen Kulturen ein und wurde dort Direktor des Programms African Studies.21 Da die vorliegende Arbeit sich nicht mit der Genese Herskovitsʼ wissenschaftlicher Positionen befasst, sondern untersucht, wie Herskovits den kulturellen Relativismus definiert und herleitet, werden hier zur Analyse hauptsächlich jene Werke herangezogen, welche die späteren Positionen Herskovitsʼ enthalten, jene, in denen er sich theoriebildend zu Methode, Kulturkonzept und Ziele der Kulturanthropologie äußert. Diese Werke sind vor allem die Monographie »The Works 15 16 17 18 19 20 21

Ebd. S. 59. Vgl. ebd. Vgl. Bourguignon, E.: Relativism and Ambivalence in the Work of M. J. Herskovits. S. 104. Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 59f. Herskovits, Melville J.: The Myth of the Negro Past. Boston, MA: Beacon Press 1969. S. 3. Ebd. S. 2. Vgl. Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 3.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

of Man«, eine überarbeitete Version davon (»Cultural Dynamics«), die Aufsatzsammlung »Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism« und das aus Herskovitsʼ Feder22 stammende »Statement on Human Rights« (1947) der American Anthropological Association.

4.2 4.2.1

Kulturbegriff und methodische Ausrichtung Cultural Relativism und anthropologisches Selbstverständnis

Herskovits – und hier ist ein erster Gegensatz zu Boas festzustellen – erklärt die Unterschiede in der Lebensweise von Kulturen zum primären Forschungsinteresse der cultural anthropology. Für ihn ist »the real problem to be attacked on many fronts« die Frage, »of why cultures do differ«23 , aus der er »the need for the systematic examination of cultural differences«24 folgert. »The cultural anthropologist«, so Herskovits, »generally studies peoples who are outside the stream of European cultural history, and attempts, insofar as he can, to investigate a given body of custom as a whole.«25 Herskovits nimmt hier eine Unterteilung »between ethnographic Self and native Other«26 vor, die der »historically constructed divide between the West and the nonWest«27 entspricht. In dieser Hinsicht steht Herskovits außerhalb des kosmopolitischen Blicks, welcher, nach Beck impliziert, dass »Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung […] sich nicht länger aus[schlie-

22 23 24 25 26 27

Vgl. Goodale, M.: Introduction. S. 4. Herskovits, Melville J.: Man and His Works. The Science of Cultural Anthropology. New York City, NY: Alfred A. Knopf 1967. S. 223. Ebd. Ebd. S. 4. Bunzl, M.: Boas, Foucault and the »Native Anthropologist«. S. 435. Abu-Lughod, Lila: Writing against Culture. In: Anthropology in Theory: Issues in Epistemology. Herausgegeben von Henrietta L. Moore und Todd Sanders. Malden, MA: Blackwell Publishing 2006. S. 466-479. S. 467.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

ßen]«28 . Während der Evolutionismus die außerwestliche Sphäre als Forschungsfeld wählt, um eine Unterlegenheit festzustellen und Boas, um den Nachweis eines, den verschiedensten Kulturen zugrundeliegenden, universellen Substrats zu erbringen, geht es Herskovits jedoch darum, dem Rassismus der kolonialen Moderne eine Kultur der Wertschätzung und des Respekts gegenüber fremden Traditionen entgegenzusetzen und das Fremde an sich aufzuwerten, indem er vom euroamerikanischen Maßstab Abstand nimmt und gerade deshalb den Blick auf außerwestliche Kulturen richtet. Wie Boas kritisiert Herskovits den Kulturevolutionismus und ist der Ansicht, dass »Respect for differences between cultures is validated by the scientific fact that no technique of qualitatively evaluating cultures has been discovered«29 und dass »objective indices of cultural inferiority and superiority cannot be established«30 . Herskovitsʼ Definition des anthropologischen Kulturrelativismus ist vor allem dieser Haltung entsprungen. Bevor in diesem Kapitel genauer auf die Kernkonzepte der Herskovits’schen Kulturtheorie eingegangen wird, soll hier nun ein erster Blick darauf geworfen werden. Unter Kulturrelativismus versteht Herskovits folgende Ansicht: Cultural relativism is in essence an approach to the question of the nature and role of values in culture. It represents a scientific, inductive attack on an age-old philosophical problem using fresh, cross-cultural data, hitherto not available to scholars, gained from the study of the underlying value-systems of societies having the most diverse customs. The principle of cultural relativism, briefly stated, is as follows: Judgements are based on experience, and experience is interpreted by each

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30

Beck, Ulrich: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2004 (Edition Zweite Moderne). S. 17. The Executive Board, American Anthropological Association: Statement on Human Rights. In: American Anthropologist, New Series, 49/4 (1947). S. 539-543. S. 542. Herskovits, Melville J.: Tender and Tough-Minded Anthropology and the Study of Values in Culture. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York: Random House, Inc. 1972. S. 35-48. S. 36.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

individual in terms of his own enculturation. Those who hold for the existence of fixed values will find materials in other societies that necessitate a re-investigation of their assumptions.31 Nach Herskovits ist der Kulturrelativismus also gleichzusetzen mit der Haltung, dass Werte kulturell geteilt sind und von Kultur zu Kultur stark variieren können. Herskovitsʼ Anliegen ist es, ein Bewusstsein für die Relativität der eigenen kulturellen Prägung zu schaffen, »to achieve […] the psychological distances that are essential in re-evaluating our own culturally determined values«32 . Herskovits unterscheidet drei Arten beziehungsweise Aspekte des kulturellen Relativismus: den methodischen, den philosophischen und den praktischen.33 Ersterer »asserts the principle that to understand a people, one must study them in their own terms, and not, as a student, judge them«34 . Der methodische Relativismus ist demnach mehr eine Art Berufsethos denn eine inhaltliche Aussage. Er fordert: »A basic necessity of ethnographic research is the exercise of scientific detachment, which in turn calls for a rigid exclusion of value-judgements.«35 Herskovitsʼ Anspruch an Anthropologen und Anthropologinnen resultiert ähnlich wie bei Boas in einer hervorgehobenen Stellung von Gelehrten, da »[t]o do this is not easy, and requires special training for a person from our society«36 . Unter dem philosophischen Relativismus versteht Herskovits die bereits geschilderte re-examination of systems of thought that have come down to us through the works of generations of thinkers who were quite unaware

31

32

33 34 35 36

Herskovits, Melville J.: Cultural Relativism and Cultural Values. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 11-34. S. 14f. Herskovits, Melville J.: Cultural Diversity and World Peace. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York: Random House, Inc. 1972. S. 71-96. S. 90. Vgl. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 32. Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 90. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 80. Ebd. S. 81.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

of the degree to which their basic assumptions, even concerning the nature of reality itself, were culture-bound.37 Der philosophische Relativismus verweist Herskovits zufolge auf den idiosynkratischen Charakter tradierter Denkschulen und möchte ein Bewusstsein für die kulturelle Prägung von (wissenschaftlichen) Annahmen über die Welt schaffen. Der praktische Relativismus wiederum widmet sich laut Herskovits der Frage, wie die Prämissen des philosophischen Kulturrelativismus für das Ziel »to achieve world peace«38 eingesetzt werden können, denn in a world where contacts of peoples having different ways of life are constantly increasing in duration and intensity, and the potentialities of conflict arising out of a failure to respect cultural differences are thereby enhanced, the philosophical questions we have posed take on a new urgency in quite practical terms.39 Die durch Forschung gewonnenen Kenntnisse sollen laut Herskovits dazu verwendet werden, die Spannungen zwischen Kulturen gering zu halten. Herskovits schlägt vor, dass Anthropologinnen und Anthropologen in beratender Position in Regierungsorganisationen tätig werden, um die Interessen von »underprivileged groups«40 und »natives who no longer conrol their own lives«41 zu verteidigen.42 Wie problematisch der Ansatz ist, als Sprachrohr für Unterprivilegierte agieren zu wollen, ist spätestens seit Spivak bekannt.43 Ihrer Ansicht nach reproduziere der Versuch, den »Anderen« eine Stimme zu geben, das alte Machtgefälle zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten,44 ein

37 38 39 40 41 42 43 44

Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 91. Ebd. S. 93. Ebd. Herskovits, Melville J.: Cultural Dynamics. New York City, New York: Alfred A. Knopf 1967. S. 241. Ebd. Vgl. ebd. S. 240f. Vgl. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 137. Vgl. ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

Umstand, den Alcoff als »discursive imperialism« 45 bezeichnet hat. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Herskovits überhaupt den Wunsch äußert, »underprivileged groups«46 , seinem Forschungsgegenstand also, Gehör zu verschaffen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass diese Gruppen für Boas vor allem als Quellen ethnographischen Materials wertvoll sind und er die Rolle indigener Stimmen zuweilen herabspielt beziehungsweise vernachlässigt (siehe 3. 3. 2. 3).47 Damit soll nicht gesagt werden, dass Boas sich nicht für soziale oder politische Fragestellungen interessiert – es wurde ja das Gegenteil unter 3. 4 gezeigt –, doch Boas versucht nicht, Unterprivilegierte in den Diskurs miteinzubeziehen. Im Gegensatz dazu problematisiert Herskovits ein Machtgefälle zwischen westlicher (euro-amerikanischer) und nicht-westlicher Sphäre beziehungsweise den Machtverlust von »Subalternen, also Unterdrückten und Marginalisierten«48 (»natives who no longer control their own lives«49 ) und gibt dadurch implizit zu, dass es sich bei der Feldforschung um eine Form von »colonial encounter«50 handelt, denn er geht automatisch davon aus, dass sich Anthropologen und Anthropologinnen in der privilegierten Position befinden. In dem Bestreben, »die normgebende Kraft Europas«51 einzudämmen, verfolgt Herskovits Ziele der postkolonialen Theorie und greift gleichzeitig Herders Grundsatz auf, dass sich »[a]lles […] heutzutage an die Politik anschmiegen«52 muss, sprich, dass Wissen politisch ist, was an sich ebenfalls eine postmoderne beziehungsweise postkoloniale Prämisse darstellt.53 Typisch für die postkoloniale Theorie ist zudem das Misstrauen gegenüber vereinfachten Darstellungen kollektiver Homogenität.54 Hier schlägt Herskovits einen anderen Ton an. 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Alcoff, L.: The Problem of Speaking for Others. S. 17. Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 241. Berman, J.: »The Culture as It Appears to the Indian Himself«. S. 234. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 137. Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 241. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 282. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 138. Herder, J. G: Journal meiner Reise. S. 44. Vgl. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 138. Vgl. Hansen, K. P.: Kultur, Kollektiv, Nation. S. 104.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

4.2.2

Enkulturation und Kollektiv

Er versteht Kulturen nämlich als in sich geschlossene, weitestgehend homogene Entitäten, deren Mitgliedern er grundsätzlich Gleichverhalten unterstellt: »By general consensus, culture is defined as the learned, socially sanctioned behavior of a people.«55 Dieses Gleichverhalten werde durch »enculturative conditioning«56 erzielt, welches Herskovits als unterbewussten, automatischen Prozess beschreibt. Er führt aus: All this he [der Mensch] learns so thoroughly that, for most of his life, he need not call on conscious thought-processes to guide his behavior. In a far larger measure than is customarily understood, he reacts rather than thinks; and the immediacy of his reactions reflects the emotional loading given the behavior he accepts as right and proper.57 Die Nähe zu Boas ist hier offenkundig. Kulturelles Handeln wird nicht als das Ergebnis eines rationalen Denkprozesses gesehen, sondern als automatisiertes und unterbewusstes Reagieren, da »most part we live our lives in terms of reactions that lodge below the level of our consciousness«58 . Wie Boas ist Herskovits der Ansicht, dass der automatisierte Handlungsprozess erst ins Bewusstsein trete, wenn er direkt hinterfragt wird: What is of the greatest importance is that the resulting structure of thought and action is enculturated so early in life, and so thoroughly, that the responses to the socially sanctioned cues to behavior are sub-

55

56 57

58

Herskovits, Melville J.: The Problem of Adopting Societies to New Tasks. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 121-144. S. 136. Herskovits, M. J.: Tender and Tough-Minded Anthropology. 37. Herskovits, Melville J.: Economic Change and Cultural Dynamics. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 145-172. S. 152. Herskovits, M. J.: The Problem of Adopting Societies to New Tasks. S. 137.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

liminal, emerging into consciousness only when subjected to challenge.59 Die Kraft dieser unterbewussten Enkulturation schätzt Herskovits also als sehr stark ein. Sie vermag, das Individuum mehr oder weniger mit der Lebensweise des Kollektivs verschmelzen zu lassen: In the course of the enculturative experience of the individual, he tends to be molded into the kind of a person his group envisages as desirable. Complete success is never achieved; some persons are more pliant than others, some resist the enculturative discipline more than their fellows. Yet by and large, all become sufficiently alike so that, as one travels over the earth, one finds that just as cultures differ from each other, so people seem to differ from one society to the next.60 Besonders in der Kindheit spiele die Enkulturation eine tragende Rolle. Sie bewirke, dass »[i]n our earliest years we are being continuously conditioned to conformity«61 . In dieser Hinsicht greift Herskovits, der gut mit Freuds Werk vertraut war,62 Gedanken der Culture and Personality-Schule auf, welche Freuds Thesen zur frühkindlichen Prägung auf Kulturen angewandt hatte.63 Doch der Einfluss auf das Individuum ist bei Herskovits auch im Erwachsenenalter stark.64 Er führt aus: We achieve this result [Konformität] by means of the lifelong conditioning of the enculturative process, which gives each of us a set of individual behavior-patterns that resemble, to a greater or lesser degree, those of every other member of our society.65

59 60 61 62 63 64 65

Herskovits, M: J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 152. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 43. Ebd. S. 40. Vgl. Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 32f. Vgl. Haas, H.: Das interkulturelle Paradigma. S. 31. Vgl. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 40. Ebd. S. 201.

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Die Konditionierung hin zur Konformität wird bei Herskovits durch sogenannte »sanctions«66 erreicht. »[S]anctions«, so Herskovits, »mold conduct«67 . Er definiert sie wie folgt: Sanctions, viewed from another point of view, are those validations of custom that people tend to rationalize, when they express them at all. They are the underlying forces that give an inner logic to the behavior of a people, which, in patterned expression, make possible that prediction of behavior, whose importance for the study of human social life we have discussed.68 Das Postulat von der kulturellen Determiniertheit des Individuums modifiziert Herskovits, indem er ihm im Rahmen eines innerhalb der Kultur abgesteckten Bereichs limitierte Handlungsfreiheit einräumt. So bemerkt Herskovits beispielsweise, dass »the reality with which he [der Ethnologe] is dealing is the unity that results from observations of the behavior of different individuals«69 . Herskovits identifiziert »differing forms of behavior dictated by considerations of sex, age, class, occupation and other distinctions«70 und weicht somit von der These von ausschließlich durch die dem Individuum übergeordnete Kultur geprägten, homogenen Gesellschaften ab: »What is of signal importance is to perceive that in every society all know, recognize and cope with sub-patterns of their culture other than their own.«71 Er räumt ein, dass »it is essential that we fully comprehend both the need to study how a culture is synthesized, and the usefulness of breaking down this unity into its component parts«72 . Herskovits schlägt demgemäß die Unterscheidung von vier Einheiten vor: »THE structure of culture has been usefully phrased in terms of trait, complex, area, and pattern.«73 Laut Her-

66 67 68 69 70 71 72 73

Ebd. 226. Ebd. Ebd. S. 222. Ebd. S. 214. Ebd. S. 211. Ebd. S. 212. Ebd. S. 214. Ebd. S. 169.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

skovits ist »[t]he trait […] the smallest unit that can be identified«74 . Ein Konglomerat an »trait[s]«75 bilde in der Summe einen »complex«76 . Ein Kulturkomplex wiederum werde durch die Wirkkraft einer bestimmten »pattern«77 zusammengehalten,» that direct[s] the behavior of the members of a society into broad channels whose courses are known to all«78 . Eine »culture-area«79 wiederum zeichnet sich bei Herskovits durch die »distribution of similarly patterned ways of life in a given region«80 aus. An dieser Stelle sei gesagt, dass Herskovits unter pattern etwas anderes versteht als seine Kollegin Ruth Benedict, welche als »konsequenteste Verfechterin kultureller Kohäsion […] [an] Zivilisationen als Ganzheiten, die einem konsistenten Gedanken- und Handlungsmuster fol[gen]«81 glaubt. Benedicts Auffassung nach bestimmt die pattern das Leben einer Kultur in sämtlichen Bereichen des Lebens.82 Eine Kultur ist demnach also lediglich von einer pattern geprägt, die in Benedicts Kulturtheorie als »overall principle«83 gesehen werde, an dem sich das gesamte kulturelle Leben ausrichtet. Dieser Vorstellung steht Herskovits kritisch gegenüber, da »we must be on guard against giving expression to any form of cultural mysticism«84 . Herskovits führt aus: As concerns the concept of pattern, the view that a whole culture can be designated in terms of a single overall-pattern has been modified by the recognition that every society, even the smallest, devises many different patterns. Today the concept represents a very complicated series of different behavior types existing simultaneously in the same society.85 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 212 Ebd. S. 169. Ebd. Haas, H.: Das interkulturelle Paradigma. S. 52. Vgl. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 222. Ebd. Ebd. S. 221. Ebd. 170.

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Wenn bei Herskovits von »cultural mysticism«86 die Rede ist, dann hat er damit vermutlich auch Herder im Sinn. So spricht Herskovits von expressions of cultural mysticism evidenced in such common phrases as ›the genius of a culture,‹ or its ›spirit‹ or its ›feel,‹ which brought into relief the need for the systematic examination of cultural differences and the factors that lend themselves to such formulations.87 Herskovits ist, wie bereits erörtert, der Ansicht, dass die Hauptaufgabe der Anthropologie darin bestehe, die Unterschiede der Kulturen zu erforschen. Dennoch scheint es, so lässt der Gebrauch des Ausdrucks »cultural mysticism« vermuten, dass ihn bei der Vorstellung von holistischen Kulturen doch auch ein gewisses Unbehagen beschleicht. Er bemerkt: Under these circumstances, it becomes clear that what we do is to reify, that is, objectify and make concrete, the experiences of individuals in a group at a given time. These we gather into a totality we call their culture. And, for the purpose of study, this is quite proper. The danger point is reached when we reify similarities in behavior that only result from similar conditioning of a group of individuals to their common setting into something that exists outside man, something that is superorganic.88 Herskovits – das geht aus dem Zitat hervor – möchte Kultur als etwas Menschengemachtes verstanden wissen. Die Idee einer »superorganic«89 Kultur, wie sie beispielsweise der Evolutionismus insinuiert (also vorbestimmte Kulturstufen, die einzelne Kulturen je nach »Entwicklungsstand« durchleben), lehnt er ab. Dennoch ist ihm bewusst, dass auch er den Kulturbegriff hypostasiert. Herskovits thematisiert hier selbst die Problematik, die ein verdinglichter Kulturbegriff mit sich bringt und

86 87 88 89

Ebd. S. 221. Ebd. S. 223. Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 13. Ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

nimmt damit die zeitgenössische Kritik, die am Multikulturalismus geübt wird, vorweg. Er geht sogar so weit, einzugestehen, dass wenn wir über Kultur reden, »we are dealing with a construct«90 . Für die methodische Herangehensweise sei das auch legitim, denn »as in all science, we erect this construct as a guide to our thinking and as an aid to analysis«91 . Herskovits ist sich also seines komplexitätsreduzierenden wissenschaftlichen Settings im Gegensatz zu Boas durchaus bewusst. Zur Erinnerung: Boas dekonstruiert auf einer Metaebene (zum Beispiel die Einheit von Sprache und »Volk«), reproduziert durch sein methodisches Vorgehen jedoch unwissentlich die Vorstellung von holistischer Kultur. Herskovits wählt seine Methodik hingegen absichtlich. Vor dem Hintergrund seines Anspruchs, den Subalternen eine Stimme zu geben, ist Herskovitsʼ Ansatz ähnlich gelagert wie Spivaks strategischer Essentialismus, welcher simplifizierte Identitätskonstruktionen als Mittel zur Ermächtigung heranzieht.92 Jedoch handelt es sich bei den genannten Identitätskonstruktionen um Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft, die von Subalternen lediglich aufgegriffen werden.93 Qua Forschungsparadigma ist Herskovits aber selbst an der Produktion dieser vereinfachten Fremdzuschreibungen beteiligt, denn obwohl er intrakollektivische Diversität thematisiert, wiegt für ihn das Verbindende schwerer als das Trennende. Insofern bleibt seine Einsicht, dass Kultur konstruiert ist, ein bloßes Lippenbekenntnis. Die Vielzahl an »sub-patterns«94 würden von einer kollektivtypischen Bindungsenergie, die die Gesamtheit an individuellen und kollektiven Verhaltensformen unter dem Dach einer gemeinsamen Kultur bündelt, zusammengehalten. Herskovits selbst drückt das folgendermaßen aus:

90 91 92

93 94

Ebd. Ebd. Vgl. Mackenthun, Gesa: Essentialismus, strategischer. In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Herausgegeben von Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2017. S. 142-144. S. 143. Vgl. ebd. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 212.

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LET us turn again for a moment to the individual in society. From his enculturative experience, he has learned a set of socially sanctioned behavior patterns which, while permitting the play of variables – minor or pronounced as in idiosyncratic behavior – yet keep his acts within the matrix of his culture.95 Die hier von Herskovits ins Feld geführte »matrix of his culture«96 , die im Grunde genommen eine Neuauflage des Herder’schen Volksgeistes ist, sorgt nach dem Dafürhalten Herskovitsʼ für Kohärenz innerhalb einer bestimmten Kultur. Herskovits plädiert also in der Summe für ein holistisches Kulturverständnis und befasst sich mit eben jenem »integrative factor, that gives to a cultural complex its unity, no matter what fortuitous traits seemingly comprise it«97 . Die einzelnen Aspekte einer Kultur würden in einem Integrationsprozess zu einer »cultural unity«98 zusammengefasst.99 Herskovits spricht von »the values and goals of […] culture[s]«100 , wahlweise auch von »the inner logic of […] culture[s]«101 oder »the ends of living«102 . Er argumentiert also für einheitliche, kulturabhängige »Kulturziele«, die durch die Enkulturation vermittelt würden,103 und erinnert auch in diesem Aspekt stark an Benedict, welche der Auffassung ist, dass kulturelle Handlungen »keine Produkte des Zufalls«104 sind: »Das Kulturziel wählt sich unter den in der Umgebung vorhandenen Elementen die brauchbaren aus und verwirft die unbrauchbaren.«105 Der Enkulturationsprozess habe darüber hinaus die Aufgabe, für kulturelle Stabilität zu sorgen. Herskovits stellt dazu fest: »The 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

Ebd. S. 207. Ebd. Ebd. S. 179. Ebd. S. 226. Vgl. ebd. Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 79. Ebd. S. 150. Ebd. S. 151. Vgl. ebd. Benedict, Ruth: Urformen der Kultur. Hamburg: Rowohlt 1955 (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie: Sachgebiet Ethnologie). S. 40. 105 Ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

enculturation of the individual in the early years of his life is the prime mechanism making for cultural stability […].«106 Er behauptet: »Conformity to the code of the group is a requirement for any regularity in life.«107 Umgekehrt bedeute Kultur für das Individuum Halt und Orientierung, da »the individual’s total culture describes the basic orientations in terms of which his group, considered as a whole, regularize their dayto-day conduct«108 . Es kann also festgehalten werden, dass dem Enkulturationsprozess, als einem Mechanismus, »that is variously termed habituation, or imitation, or perhaps best, unconscious conditioning«109 , in der Herskovits’schen Kulturtheorie herausragende Bedeutung als Instrument der Homogenisierung und als Stabilisator beigemessen wird. Darüber hinaus gereicht Herskovits das Phänomen der Enkulturation zur Erklärung kultureller Alterität. Es bildet somit das Herzstück seiner Kulturtheorie. Herskovits betrachtet die Prägung im Schicksalskollektiv »Kultur« als zwingenden Prozess und spricht zuweilen vom Individuum als einem »culturally determined«110 Element der Gruppe: »The traditions of a people dictate what for them is right and wrong, how they are to interpret what they see and feel and hear, and they live according to these imperatives.«111 Für das Individuum bedeutet Enkulturation Herskovits zufolge Entlastung, da der einzelnen Person dadurch ein Set an Handlungsmustern vermittelt wird, das ihr zur Orientierung dient.112

106 107 108 109 110 111

112

Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 40. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 33. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 23. Ebd. S. 25f. Ebd. S. 26. Herskovits, Melville J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 97-118. S. 101. Zur großen Ähnlichkeit mit dem interkulturellen Paradigma hinsichtlich dieses Aspekts siehe Haas, H.: Das interkulturelle Paradigma.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

4.2.3

Kultur als Zeichensystem

Herskovits betont, dass, obgleich zum besseren Verständnis einer Kultur eine Analyse dieser Kulturbausteine nötig sei, die Hauptaufgabe der Anthropologie darin bestehe, »the integration of the whole«113 zu erfassen, denn Kultur, so Herskovits, »is more than the sum of its parts«114 . Diese Aussage Herskovitsʼ suggeriert ein Durchwirktsein der materiellen Manifestation von Kultur mit einer metaphysischen Begleitkraft. Dieser Haltung wird auch durch den von Herskovits gebrauchten Begriff »meaning«115 Rechnung getragen. Herskovits ist der Ansicht, »that every phenomenon in human behavior has two aspects—its form, and its meaning«116 , und dass »culture is meaningful«117 . Zur Erinnerung: Boas betont vor allem den Charakter von Kultur als zufälliges Ergebnis von Raum und Zeit. Kultur ist bei Boas nicht sinnvoll oder bedeutsam, sondern die Summe von standardisierten, arbiträren Gewohnheiten. An die Stelle des Zufalls tritt bei Herskovits die Vorstellung eines systemischen Ganzen. Die Idee von Kultur als symbolischem System beziehungsweise semiotischem Zeichensystem zum Zweck der Sinnstiftung und Orientierung, wobei »der Sinn einer Handlung […] hiernach ablösbar von der Handlung als Ereignis«118 ist, wird für den Fall der Kulturanthropologie üblicherweise mit Clifford Geertz, der der Annahme war, »that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun«119 , und der Idee von Kultur als Text in Verbindung

113 114 115

116 117 118 119

Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 214. Ebd. Herskovits, Melville J.: The Role of Culture-Pattern in the African Acculturative Experience. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 173-184. S. 180. Ebd. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 27. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Berlin: Rowohlt Verlag 2011. S. 73. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York City, NY: Basic Books 1973. S. 5.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

gebracht.120 Tatsächlich ist sie jedoch im Kern bereits bei Herskovits anzutreffen. In der Argumentationsführung Herskovitsʼ spricht der Umstand, dass menschliches Verhalten kulturell eingeübt sei, für die Annahme, dass »man learns his culture«121 . Die Bedeutung eines kulturellen Systems könne sich daher letztlich nur dem jeweiligen Kollektiv vollständig erschließen.122 Das Konzept der Enkulturation ist in der Kulturtheorie Herskovitsʼ so gesehen mit der Vorstellung von Kultur als semiotischem System verzahnt, da »[e]xperience is culturally defined, a definition which implies that culture has meaning for those who live in accordance with it«123 . Herskovits Vorstellung von kulturell geprägten Bedeutungssystemen impliziert, dass der Mensch, als Produkt seiner Enkulturation, in seiner Wahrnehmung der Welt stark beeinflusst beziehungsweise eingeschränkt ist. Kollektivexterne Individuen sind demnach nicht ohne weiteres imstande, die Lebenswirklichkeit anderer Gruppen mit den Mitteln des eigenen kulturellen Apparates zu erfassen.124 Das heißt auch, dass die Möglichkeit, auf einer gemeinsamen Erkenntnisgrundlage basierende, (Wert)urteile zu fällen, in Zweifel gezogen wird. Herskovits stellt fest: »We even approach the problem of the ultimate nature of reality itself.«125 Anstatt einer Realität gibt es mehrere kulturabhängige »Realitäten«, die von Außenstehenden nicht komplett nachvollzogen werden können. Das Individuum ist in seiner Sicht der Dinge vom ihm übergeordneten kollektiven Zeichensystem abhängig: We are coming to understand that for the individual the ultimate nature of reality must derive from his percepts, which, in turn, are screened by his culture. Insofar as the total group is concerned, the conventionalized realities accepted by the members of a society are consensuses of these individual percepts.126 120 121 122 123 124 125 126

Vgl. Heidemann, F.: Ethnologie. S. 25. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 26. Vgl. ebd. S. 27. Ebd. Siehe auch Hatch, E.: Culture and Morality. S. 7. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 15. Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 152.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Die Kultur ist bei Herskovits folglich der Filter, durch den »[t]he individual […] comes to grasp the nature of his world, regulate his behavior, derive his motivations, and achieve his values in terms of the modes of perception, sanction, and control of his society«127 . Er vertritt die Ansicht, dass »[e]ven the facts of the physical world are discerned through the enculturative screen, so that the perception of time, distance, weight, size and other ›realities‹ is mediated by the conventions of any given group«128 . Herskovits versteht menschliches Verhalten als grundsätzlich und in seiner Gesamtheit symbolisch.129 Hierzu bemerkt er: »Working back from this factor of symbolism, then, it is apparent that by the use of symbols man gives meaning to his life. Through this he culturally defines his experience […].«130 Auch in diesem Aspekt unterscheiden sich Boas und Herskovits, da Boas das Symbolische dem »Primitiven« zuordnet (3. 3. 1. 1). Herskovits hebt diese Unterscheidung auf, wie er auch insgesamt die von Boas vorgenommene Aufteilung in einen vernünftigen und einen unvernünftigen Teil menschlicher Standardisierungen aufhebt. Für Herskovits ist Kultur an sich vernünftig, weil sie bedeutsam ist. Aus dieser Einsicht speist sich auch sein Relativismus. Benhabib macht uns darauf aufmerksam, dass »[c]ontemporary philosophical arguments about relativism often proceed from insights developed in the philosophy of language«131 . Dass auch Herskovits von der Sprachphilosophie beeinflusst war, belegen unter anderem die zahllosen Verweise auf Sapir,132 welcher – darauf wurde bereits in 3. 3. 2. 2 aufmerksam gemacht – für ein essentialistisches Verständnis von Sprache steht,133 wohingegen Boas eher ihre Zufälligkeit beziehungsweise ihre Rückkoppelung an Raum, Zeit und die menschliche

127 128 129 130 131 132 133

Ebd. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 64. Vgl. ebd. S. 27. Ebd. Benhabib, Seyla: The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era. Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2002. S. 29. Vgl. zum Beispiel Herskovits, M. J.: Cultural Dynamics. S. 205f. Vgl. Maas, U.: Franz Boas und Edward Sapir. S. 270.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

Natur extrapoliert und die Einheit von Sprache und »Volk« dekonstruiert. Die unterschiedliche Ausrichtung Sapirs zeigte sich unter anderem in seinem literarischen Schreibstil, was dazu führte, dass »Sapir and Benedict had […] to hide their poetry from the scientific gaze of Franz Boas.«134 Eine Parallele zwischen Herskovits und Boas (und auch Herder) besteht darin, dass sie in der Sprache ein Modell für Kultur beziehungsweise »the Vehicle of Culture«135 sehen. Doch Herskovitsʼ Sprachverständnis ist stark von Sapirs Essentialismus beeinflusst. Herskovits kommt zu dem Schluss, dass »[t]o the student of culture, language, it must now be apparent, offers rich resources for his investigations«136 , da »the symbolic values of language lead to a comprehension of the least tangible elements in any body of custom—the values, the goals, the ideals that direct conduct and order convention«137 und »reveal some of the deepest roots of culture itself«138 . Aus diesem Grund sei es gerechtfertigt, Sprache als »›an index to culture[…]‹«139 beziehungsweise als »the vehicle of custom«140 zu sehen. Herskovits plädiert dafür, dass Sprache selbst, genau wie Kultur, als symbolisches System zu verstehen sei, das Aufschluss über die Werte, Kulturziele und Ideale einer bestimmten Kultur gebe. Außerdem lohne es sich, Sprache zu untersuchen, weil sich daraus die Unterschiede in den Kulturen erklären ließen, denn »[i]s reality, then, not defined and redefined by the ever-varied symbolisms of the innumerable languages of mankind?«141 Herskovits geht davon aus, dass der Sprache als ein Instrument zur Vermittlung von Kultur große Bedeutung zukommt:

134

Clifford, James: Introduction: Partial Truths. In: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Herausgegeben von James Clifford und George E. Marcus. Los Angeles, CA: University of California Press 1986. S. 4. 135 Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 440. 136 Ebd. S. 457. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 15.

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164

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

For one thing, there is the symbolism of language, that provides for an entire cultural system the instrument of communication that is essential to human social life. By means of language, the education of the young, in the broadest sense, is achieved.142 Hier greifen Herskovitsʼ Konzept der Enkulturation und seine Sprachphilosophie ineinander: Da dem Individuum im Zuge des (frühkindlichen) Enkulturationsprozesses der kulturelle Wahrnehmungsapparat gewissermaßen anerzogen werde und die Kategorien zur Erfassung der Welt sprachlich transportiert würden, sei die Sprache »a reflection of the categories of their [eines Volks] thought, that seem to stem from their linguistic usages«143 . Mit anderen Worten ist Herskovits der Ansicht, dass die Sprache die Wahrnehmung der Welt beeinflusst und gleichsam ein Spiegel der kulturellen Kategorien ist. Wofür es sprachlich kein Wort gibt, kann nicht gedacht werden. Die Parallele zur Sapir-Whorf-Hypothese und zu Herder ist offensichtlich. Im Unterschied zu Boas, für den Sprache »keine kulturellen Mauern«144 zementiert, steht die Sapir-Whorf-Hypothese für die Deckungsgleichheit von Sprache und Kultur und damit einhergehend für scharfe Kulturgrenzen. Benhabib kritisiert die mit der Idee von Kultur als Text in Verbindung stehenden Prämissen der »[i]ncommensurability, incompatibility, and untranslatability«145 , die mit einem holistischen Kulturbegriff einhergehen. Annahmen der Unübersetzbarkeit kultureller Phänomene lenkten uns ab von »the many sublte epistemic and moral negotiations that take place across cultures, within cultures, among individuals, and even within individuals themselves in dealing with discrepancy, ambiguity, discordancy, and conflict«146 . Auch Sen warnt davor, unüberbrückbare Kulturgrenzen zu sehen, die meist mit Ethnie, Sprache, Glaube oder Nationalität gleichgesetzt würden und so für politische 142 143 144 145 146

Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 84. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 440. Maas, U.: Franz Boas und Edward Sapir. S. 268. Benhabib, S.: The Claims of Culture. S. 29. Ebd, S. 31.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

Interessen instrumentalisiert werden könnten.147 Er setzt der Vorstellung des Nationalstaats als «Behälter«”148 die Idee der multiplen Identitäten entgegen. Identität sei nichts, was man entdecken könne, »als handele es sich um ein reines Naturphänomen«149 , sondern etwas höchst Spezifisches, das dem Zutun des Individuums bedürfe.150 Beck spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Gefängnis-Irrtum der Identität«151 , den es zu überwinden gelte. Tatsächlich suggeriert Herskovitsʼ Enkulturationskonzept die Notwendigkeit einer bestimmten Identität, abhängig von der jeweiligen Kultur. Auch kann seine Auffassung von Kultur als Raum, in dessen Grenzen ein bestimmtes Bedeutungssystem zum Tragen kommt, so ausgelegt werden, dass sie die Vorstellung eines holistischen Kulturganzen mit unüberbrückbaren Kulturgrenzen fördert. Dass diese Idee der in sich abgeschlossenen Kulturen auch als Argument zur Abwertung der »Anderen« missbraucht werden kann, war Herskovits durchaus bewusst. So machte er selbst auf die Gefahren eines Kulturbegriffs aufmerksam, welcher an die Stelle der Kategorie der Rasse tritt; ein Phänomen, welches Jahrzehnte später auch Wright beschreiben sollte.152 Herskovits stellt fest: »It is important that […] we not be beguiled by an equally fallacious concept of cultural inferiority and superiority, and thus replace racism by culturism.«153 Wie unter 4. 2. 1 erörtert, bestand Herskovitsʼ Motivation jedoch darin, ein Milieu des Respekts und der Toleranz gegenüber dem kulturell Fremden zu schaffen. Als »a humanist and a humanitarian«154 fühlte sich Hersko147

Vgl. Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. 3. Auflage. München: dtv 2015. S. 26f. 148 Beck, U.: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. S. 9. 149 Sen, A.: Die Identitätsfalle. S. 44. 150 Vgl. ebd.ff. 151 Beck, U.: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. S. 15. 152 Vgl. Wright, S.: The Politicization of ›Culture‹. S. 10f. 153 Herskovits, M. J.: The Role of Culture-Pattern in the African Acculturative Experience. S. 184. 154 Fernandez, James W.: Tolerance in a Repugnant World and Other Dilemmas in the Cultural Relativism of Melville J. Herskovits. In: Ethos 18/2 (1990). S. 140-164. S. 141.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

vits der Verbesserung der sozialen und politischen Lebenswirklichkeit der von ihm untersuchten Kulturen verpflichtet. Dieser Aspekt des Herskovits’schen Wirken kommt in der von ihm vorgenommenen Einteilung des Relativismus in methodischen, praktischen und philosophischen Relativismus und in dem Plädoyer für eine Priorisierung des praktischen Relativismus gegenüber dem philosophischen zum Ausdruck.155 Zu Herskovitsʼ Selbstverständnis als Wissenschaftler äußert sich Fernandez wie folgt: Herskovits did not consider himself to be a philosopher, although he recognized how extraordinarily provocative the thesis of relativism in any form was to philosophy and particularly to moral philosophers. He frequently regretted that »cultural relativism« was taken up and treated mainly as a philosophical issue. He considered it to be a very practical problem if not a political one—a matter, as we would say today, of praxis.156 An seinem Arbeitsplatz, der Northwestern University, sah sich Herskovits starker Kritik vonseiten seines Kollegen, dem Philosophen Eliseo Vivas, ausgesetzt, welcher die geschilderte Priorisierung von praktischem gegenüber philosophischem Relativismus beanstandete.157 Diese hier erörterte Diskrepanz von praktischem und philosophischem Relativismus erinnert an den im ersten Kapitel erwähnten Disput zwischen Kant und Herder. Während ersterer der kritischen Philosophie verpflichtet war, stand Herder in den Diensten der Popularphilosophie.158 Seine Lehre sollte sich nicht im Elfenbeinturm, sondern in der realen Welt bewähren. Auch heute noch ist dieses Gefälle zwischen spürbar, wenn über interkulturelle Fragestellungen diskutiert wird. So warnt Judith Butler vor der Vernachlässigung der Binnenperspektive, wenn es darum geht, fremde Bräuche vor dem Hintergrund etwaiger Menschenrechte zu bewerten. Ihre Bedenken äußerte sie im Sommer

155 156 157 158

Vgl. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 32. Fernandez, J. W.: Tolerance in a Repugnant World. S. 141. Vgl. ebd. S. 143. Vgl. Zammito, J. H.: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. S. 3.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

2017, als ein Feuilletonstreit zwischen Butler und Alice Schwarzer entbrannte, bei dem es im Kern um die Frage ging, »ob man aus feministischer Perspektive den Islam kritisieren kann«159 . Während Butler auf die »Andersheit der Anderen«160 verweist und vor »selbstgerechter und hypokritischer Empörung«161 warnt, spricht Schwarzer von »elementarsten Menschenrechten der Frauen in unserer Welt«162 , die es zu schützen gelte. Schwarzer nimmt in ihrer Kritik unter anderem zu einem Interview Stellung, in dem sich Butler, zur Burka befragt, auf die Anthropologin Abu-Lughod bezieht und folgende Antwort gibt. Dort stellt Butler fest: In letzter Zeit hat sie [Abu-Lughod] versucht, klar zu machen, dass die Burka sehr unterschiedliches symbolisiert. Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und dass sie ihrer Familie verbunden ist, aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und dass sie stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist. Sie symbolisiert Modi der Zugehörigkeit innerhalb eines sozialen Netzwerks. Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterschätzen sollte. Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keineswegs davon ausgehen, dass Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennen zu lernen es uns an Geduld fehlt.163

159

Walser, Franziska: Überfälliger Streit der Über-Frauen. www.deutschlandfunkkultur.de/alice-schwarzer-contra-judith-butler-ueberfaelligerstreit.1013.de.html?dram:article_id=394048 (30.09.2017). 160 Butler, Judith, Hark, Sabine: Die Verleumdung. www.zeit.de/2017/32/genderstudies-feminismus-emma-beissreflex/seite-2 (02.10.2017) 161 Ebd. 162 Schwarzer, Alice: Der Rufmord. www.zeit.de/2017/33/gender-studies-judithbutler-emma-rassismus/seite-3 (02.10.2017) 163 Butler, Judith: Krieg und Affekt. Herausgegeben von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker. Berlin: diaphanes 2009. S. 86.

167

168

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Schwarzer stößt sich an dem von Butler gebrauchten Argument der möglichen kulturellen und sozialen Entfremdung durch ein Burkaverbot und bezeichnet ihre Haltung als »lebensfern und zynisch«164 . Ferner impliziert Schwarzer: »diese Art von Kulturrelativismus«165 sei eine »›Kulturfalle‹«166 , was so viel bedeute wie »zweierlei Maß in Sachen Menschen-/Frauen-Rechte im Namen einer kulturellen Differenz«167 . Butler hingegen macht uns in der Tradition Herskovitsʼ stehend darauf aufmerksam, dass die Bedeutung von Bräuchen keineswegs eindeutig, sondern eklektisch und zuweilen von Außenstehenden nicht immer ohne weiteres nachzuvollziehen sei und spricht vom Anlegen westlicher Standards unter dem Deckmantel universeller Menschenrechte.168 Damit wiederholt sie Herskovitsʼ Kritik und seine Vorstellung von symbolischer Kultur.

4.3 4.3.1

Herskovits’scher Relativismus und Universalismus Ethno- und Eurozentrismus

Der westlichen Dominanz und Deutungshoheit Einhalt zu gebieten, war das Anliegen Herskovitsʼ. Allzu oft würden seiner Meinung nach westliche Werte als absolute Standards gesehen, wo sie in Wirklichkeit idiosynkratische Varianten darstellten. Dementsprechend würden »value judgements based on the degree to which a given body of customs resembles or differs from those of Euroamerican culture«169 . Diesen Vorgang bezeichnet Herskovits als Eurozentrismus. Er kann als westliche Variante des Ethnozentrismus betrachtet werden. Unter Ethnozentrismus wiederum versteht Herskovits die durch »strongest 164 Schwarzer, Alice: Der Rufmord. www.zeit.de/2017/33/gender-studies-judithbutler-emma-rassismus/seite-1 (02.10.2017) 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Vgl. Butler, J: Krieg und Affekt. S. 86. 169 Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 34.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

enculturative conditioning«170 entstandenen »ethnocentrisms implicit in the particular value-systems of their society«171 . Wie auch Herders Vorurteil hat der Herskovits’sche Ethnozentrismus eine Innen- und eine Außenwirkung. Nach innen, kollektivintern also, hat Ethnozentrismus laut Herskovits eine positive Wirkung: There can be all kinds of bias, and bias can be a very good thing. If bias is defined as having a penchant for the things and ideas one has been taught since childhood are right and proper; if by bias is meant the ordering of behavior in such a way that one is in accord with the traditions of his own society and thereby obtains the satisfactions that come from conformity, then bias can be said to play an important role in promoting social and psychological adjustment.172 Die hier von Herskovits vertretene Vorstellung ähnelt Herders Idee vom guten Vorurteil und seiner Annahme, dass ein bestimmtes Kollektiv – Herder spricht von Völkern – nur Glückseligkeit erlangen könne, wenn es gemäß den eigenen Vorurteilen lebte. Laut dieser Ansicht hat das gute Vorurteil die Aufgabe, für Stabilität und Orientierung innerhalb der Gruppe zu sorgen: »Without it, the kind of orientations in society that is indispensable to man could not be achieved, and the adjustment each individual must make to the world in which he lives would be difficult, if not impossible.«173 Darüber hinaus gibt es in Herskovitsʼ Kulturtheorie dem Individuum die Chance, sich mit einer ihm übergeordneten Gruppe zu identifizieren: Technically, we speak of bias as a form of ethnocentrism, a word used to designate the reactions of a person who is centered on the customs of his own people. In these terms, ethnocentrism provides an excellent way of establishing and validating the structure of one’s own ego through the simple process of identification. For the individual, it works something like this: I am a member of my society. The way my 170 171 172 173

Herskovits, M. J.: Tender and Tough-Minded Anthropology. S. 37. Ebd. Herskovits, M. J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. S. 101f. Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 75.

169

170

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

society does things is right and proper. I do things that are right and proper, therefore I am a good member of my society. The way my society does things is the best way. I do things in the best way, therefore I am one of the best people. This simple kind of reasoning is not only healthy, but it is an important stabilizing factor in social life.174 Die Idee, dass das Individuum durch die Identifikation mit einer ihm übergeordneten Gruppe gestärkt werde, ist bei Herskovits häufig anzutreffen: In this form, ethnocentrism is to be viewed as a factor making for individual adjustment and social integration. For the strengthening of the ego in terms of an identification with one’s own group, whose ways are implicitly accepted as best, is all-important.175 Herskovits unterscheidet also zwei Arten von Ethnozentrismen; einen nach innen gerichteten »benevolent ethnocentrism«176 , der »permits identification by an individual with the things that everyone he knows or has had contact with thinks is good«177 und einen auf aggressiven Imperialismus zielenden »militant ethnocentrism«178 . Ersterer toleriere andere Lebensformen und sei gepaart mit »respect for differences«179 , letzterer nicht. Die Nähe zu Herder ist hier verblüffend; auch dieser trennt das gute vom schlechten Vorurteil und verurteilt das Eingreifen in die Angelegenheiten anderer Völker beziehungsweise deren Unterjochung. Und wie Herskovits unterstellt Herder dem guten Vorurteil eine positive, identitätsstiftende Wirkung. Auch bei Vertretern des Multikulturalismus wie Charles Taylor oder Will Kymlicka spielt Identität als sinnstiftende Kategorie eine große Rolle. Davon ausgehend plädiert Taylor für eine Politik der Anerkennung in liberalen Demokratien:

174 175 176 177 178 179

Herskovits, M. J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. S. 102f. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 68. Herskovits, M. J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. S. 102. Ebd. Ebd. S. 103. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 33.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

The thesis is that our identity is partly shaped by recognition or its absence, often by the misrecognition of others, and so a person or group of people can suffer real damage, real distortion, if the people or society around them mirror back to them a confining or demeaning or contemptible picture of themselves. Nonrecognition or misrecognition can inflict harm, can be a form of oppression, imprisoning someone in a false, distorted, and reduced mode of being.180 Benhabib hat, wie bereits angesprochen, den Identitätsbegriff hinterfragt. In »The Claims of Culture« kritisiert sie das »privileging of certain forms of collective identity over other possible identity markers« wie zum Beispiel »gender or sexual preference«, was zu einer »illegitimate reification of ›national‹ and ›ethno-cultural‹ identities over other forms«181 führe. Die Folge dieses Identitätsverständnisses sei eine Perpetuierung des alten Kulturbegriffs, der Kultur mit Volk oder Nation gleichsetze.182

4.3.2

Kritik am Liberalismus westlicher Prägung

Die Vorstellung eines »benevolent«183 und eines »militant ethnocentrism«184 wird auch im aus dem Jahre 1947 stammenden »Statement on Human Rights« der American Anthropological Association offenkundig, dessen Autorschaft Herskovits zugeschrieben wird und das vielen als kulturrelativistisches Manifest par excellence gilt.185 Das Statement nimmt die Alterität von Kulturen zum Ausgangspunkt einer Argumentationsführung, die das Recht auf kulturelle Selbstbestimmtheit zum Menschenrecht erklärt. Dieser Forderung liegt die Ansicht zu Grunde, dass bei dem Versuch, eine allgemeine Menschenrechtsdeklaration zu verfassen, der Zuschnitt auf »the values prevalent in

180 181 182 183 184 185

Taylor, C.: The Politics of Recognition. S. 25. Benhabib, S.: The Claims of Culture. S. 60. Vgl. ebd. Herskovits, M. J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. S. 102. Ebd. Vgl. Goodale, M.: Introduction. S. 4.

171

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

the countries of Western Europe and America«186 zu vermeiden sei. Der »Verband der amerikanischen Anthropologen« sah, so Benhabib, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte »die illegitime Universalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen für den Rest der Menschheit«187 . Im Grunde genommen gerieren sich die Einwände der American Anthropological Association beziehungsweise Herskovitsʼ als Aufklärungskritik, die auch von der postkolonialen Theorie geteilt wird. So bemängelte das Statement, »die UDHR sei trotz ihres universalen Anspruchs unverkennbar mit den Prinzipien des westlichen Liberalismus verklammert […] [und] auf ein autonomes Individuum fixiert, ohne dessen Einbindung in soziale Gruppen zu berücksichtigen«188 . In Entsprechung dazu gelte das Interesse der Menschenrechtsdeklaration laut Statement dem »respect for the personality of the individual as such, and his right to its fullest development as a member of his society«189 . In dieser Hinsicht ähnelt die Deklaration der Boas’schen Vorstellung vom Individuum, welches die »shackles that tradition has laid upon us«190 nach Möglichkeit abstreifen sollte. Das Statement hingegen betont, dass »[t]he individual realizes his personality through his culture, hence respect for individual differences entails a respect for cultural differences«191 . Außerdem stellt es fest: »There can be no individual freedom, that is, when the group with which the individual identifies himself is not free.«192 Im Gegensatz zu Boas, der die Gefahr höher einstuft, dass das Individuum durch seine eigene Kultur in seiner Freiheit eingeschränkt wird, sieht Herskovits in der Missachtung des Individuums durch die Missbilligung seiner Kultur also das weitaus größere Risiko.

186 The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 539. 187 Benhabib, S.: Kosmopolitismus ohne Illusionen. S. 40. 188 Bachmann-Medick, Doris: Menschenrechte als Übersetzungsproblem. In: Geschichte und Gesellschaft 38/2 (2012). S. 331-359. S. 340. 189 The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 539. 190 Boas, F.: The Background of My Early Thinking. S. 42. 191 The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 540. 192 Ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

Herskovits kritisiert die hervorgehobene Stellung des Individuums zudem hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen Möglichkeiten. So beanstandet Herskovits indirekt Kants Ideen, indem er Kluckhohn zitiert, welcher behauptet: »›The doctrine that science has nothing to do with values […] is a pernicious heritage from Kant and other thinkers.‹«193 Herskovits nimmt also Anstoß an der seiner Meinung nach von Kant vertretenen Ansicht, Wissenschaft könne objektiv und losgelöst vom kulturellen Kontext betrieben werden. Herskovitsʼ Vernunftkritik wird ebenso deutlich, wenn er Zweifel an der Vorstellung vom freien, der Ratio verpflichteten Willen des Individuums beziehungsweise der Idee vom homo oeconomicus äußert. Er moniert, dass die Idee vom Menschen als »economic man«194 als anthropologische Kategorie vorausgesetzt würde, in Wahrheit aber der euro-amerikanischen Tradition beziehungsweise der »European social and economic history«195 entspringe.196 Herskovits übt also Kritik an der Vorstellung rein rational agierender Individuen, die, wie Mishra behauptet, »erstmals während der Aufklärung entwickelt [wurde], die Tradition und Religion verachtete und die menschliche Fähigkeit, individuelle und kollektive Interessen rational zu bestimmen, an deren Stelle setzte«197 . In poststrukturalistischer Manier legt das Statement daneben dar, wie der Schutz des Individuums vorgeschoben werde, um Machtverhältnisse zu zementieren: »There can be no full development of the individual personality as long as the individual is told, by men who have the power to enforce their commands, that the way of life of his group is inferior to that of those who wield the power.«198 Es wird eine Diskrepanz zwischen Wort und Tat beziehungsweise zwischen Ideal und »the world

193 194 195 196 197

Zitiert nach Herskovits, M. J.: Tender and Tough-Minded Anthropology. S. 42. Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 158. Ebd. Vgl. ebd. Mishra, Pankaj: Politik im Zeitalter des Zorns. In: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Herausgegeben von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017 (= edition suhrkamp). S. 175-195. S. 177. 198 The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 541

173

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as it exists today«199 festgestellt, welche sich auch in anderen Kategorien der westlichen Moderne zeige: »Professions of love of democracy, of devotion to freedom have come with something less than conviction to those who are themselves denied the right to lead their lives as seems proper to them.«200 Im Statement kommt also eine sehr viel kritischere Einstellung gegenüber den Idealen Demokratie und Freiheit zum Ausdruck, als sie Boas, welcher noch eine »devotion to the principle of a true democracy«201 bekundet, vertritt. Arendt stellte 1951 fest, dass »[d]ie Paradoxie, die von Anfang an in dem Begriff der unveräußerbaren Menschenrechte lag, war, daß dieses Recht mit einem ›Menschen überhaupt‹ rechnete, den es nirgends gab«202 , einen abstrakten Menschen also. Da aber »der Begriff des Menschen, wenn er politisch brauchbar gefaßt sein soll, die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen muß«203 , musste man »den ›Menschen überhaupt‹ mit dem Glied eines Volkes identifizier[en]«204 . Dies mündet darin, dass die Menschenrechte in ihrer gelebten Form häufig eben keine universellen Prinzipien darstellen, auf die sich jedermann berufen kann, sondern de facto spezifische Rechte einer bestimmten Klientel verbriefen. Im »Statement on Human Rights« wurde genau darauf bereits 1947 aufmerksam gemacht: The problem of drawing up a Declaration of Human Rights was relatively simple in the Eighteenth Century, because it was not a matter of human rights, but of the rights of men within the framework of the sanctions laid by a single society. Even then, so noble a document as the American Declaration of Independence, or the American Bill of Rights, could be written by men who themselves were slave-owners, in a country where chattel slavery was a part of the recognized social

199 200 201 202

Ebd. Ebd. Zitiert nach Harkin, M. E.: Dewey-Boas Correspondence. S. 37. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1958. S. 436. 203 Ebd. 204 Ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

order. The revolutionary character of the slogan »Liberty, Equality, Fraternity« was never more apparent than in the struggles to implement it by extending it to the French slave-owning colonies.205 Herskovits stößt sich also sowohl an der unrechtmäßigen Universalisierung regionaler Rechte und Werte als auch an der euro-amerikanischen Doppelmoral, mit der die eigenen Privilegien unter Berufung auf universelle Rechte gesichert werden, während Subalterne dezidiert und im Sinne des Systems nicht unter ihrem Schutz stehen.

4.3.3

Absolutes, Universals und Menschenrechte

Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, geht Herskovits von geschlossenen Kulturen mit eigenen Identitäten aus. Der seinen Überlegungen zugrunde liegende Kulturbegriff und die daraus abgeleitete Kritik an der Einforderung vermeintlich universeller Standards wirken sich auch auf seine Überlegungen zur Moral aus. Herskovits unterscheidet zwei Arten von Werten: »absolutes«206 und »universals«207 . Er definiert beide wie folgt: Absolutes are fixed, and, as far as convention is concerned, are not admitted to have to have variation, to differ from culture to culture, from epoch to epoch. Universals, on the other hand, are those least common denominators to be extracted from the range of variation that all phenomena of the natural or cultural world manifest.208 Dieser Einteilung zufolge ist die Moral an sich ein »universal«, während etwaige, kollektivspezifische Normen »absolutes« darstellten: To say that there is no absolute criterion of values or morals, or even, psychologically, of time or space, does not mean that such criteria, in differing forms, do not compromise universals in human culture.

205 206 207 208

The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 542. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 31. Ebd. Ebd. 31f.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Morality is a universal, and so is enjoyment of beauty, and some standard for truth.209 Daraus folgt, um es mit Herskovitsʼ Worten zu sagen, dass »[t]he more specific an item, the less chance there is of its being a universal in culture«210 . Er expliziert: »The universals in culture, we may thus say, provide a framework within which the particular experiences of a people are expressed in the particular forms taken by their body of custom.«211 Herskovits spricht sich gegen »underscoring differences from absolute norms that, however objectively arrived at, are nonetheless the product of a given time or place«212 aus. Für Herskovits ist es also unzulässig, von den eigenen Normen anzunehmen, sie seien für jedermann gültig und zu beachten. Stattdessen plädiert er für »the relativistic point of view«213 , der »brings into relief the validity of every set of norms for the people who have them, and the values they represent«214 . Herskovits möchte betonen, dass sein Verständnis von Kulturrelativismus keinesfalls mit »behavioral anarchy«215 gleichgesetzt werden könne, da »every society has rules of conduct, an ethical system, a moral code, that the individual members rarely question«216 . Diese Art von Relativismus bezeichnet Benhabib als »›the relativism of frameworks[…]‹«217 . Sie führt aus: Framework relativists do not defend the indefensible; they do not argue that »anything goes« in morality, in the sphere of law, in epistemology or ethics. They recognize criteria of validity for action, conduct, and inquiry in all of these fields. Yet they argue that judgements of 209 210 211 212 213 214 215

216 217

Ebd. S. 32. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 233. Ebd. S. 19f. Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 31. Ebd. Ebd. Herskovits, Melville J.: Further Comments on Cultural Relativism. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 49-61. S. 56. Ebd. Benhabib, S.: The Claims of Culture. S. 28.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

validity are »framework relative,« whether these frameworks are defined as language games, epistemological worldviews, or ethnocentric traditions. Furthermore, a preference for one framework over another cannot be established in universal, rational terms, since such terms themselves would be framework relative.218 Herskovits verwendet einen ganz ähnlichen Begriff: »The very definition of what is normal or abnormal is relative to the cultural frame of reference.«219 In den Augen von »Framework relativists«220 haben Normen, Ansichten, Einstellungen etc. immer nur im Bezug zu einem übergeordneten Rahmen Bestand. Dieser übergeordnete Rahmen wird bei Herskovits durch die Gruppe beziehungsweise die »Kultur« konstituiert und beeinflusst alle Bereiche des menschlichen Lebens.221 Herskovits mahnt an: Cultural relativism, in all cases, must be sharply distinguished from concepts of the relativity of individual behavior, which would negate all social controls over conduct. Conformity to the code of the group is a requirement for any regularity in life.222 Daraus ergeben sich Forderungen an die Menschenrechte. Das »Statement on Human Rights« gibt Aufschluss: Standards and values are relative to the culture from which they derive so that any attempt to formulate postulates that grow out of the beliefs or moral codes of one culture must to that extent detract from the applicability of any Declaration of Human Rights to mankind as a whole.223

218 219 220 221

Ebd. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 66. Benhabib, S.: The Claims of Culture. S. 28. Es sei hier gesagt, dass Herskovits an den Reaktionen auf den Kulturrelativismus »by anthropologists or others« (Herskovits, M. J.: Further Comments on Cultural Relativism. S. 51.) aufgrund des »almost exclusive stress that has been laid on the problems of value and ethics« (ebd.) Anstoß nimmt. 222 Herskovits, M. J.: Cultural Relativism and Cultural Values. S. 33. 223 The Executive Board, AAA: Statement on Human Rights. S. 542.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Gemäß Zitat kann eine allgemeine Menschenrechtsdeklaration allein das sein, was von allen Kulturen sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner geteilt wird. Herskovits versteht das Universale also in erster Linie als etwas, das ist und nicht als etwas, das sein soll.224 Aleida Assmann nimmt eine Unterscheidung zwischen »universell« und »universal« vor und definiert: »Universell ist, was überall produziert und praktiziert wird, universal ist, was an einem Ort produziert wurde und von dem gefordert wird, dass es überall praktiziert wird.«225 Bei Herskovits gibt es keine solche Trennung, denn dass das, »was an einem Ort produziert wurde«226 , überregional gültig sein soll, hält er für nicht zulässig. Ein noch zu ermittelndes Ideal sieht die Herskovits’sche Kulturtheorie nicht vor, zumindest nicht auf internationaler beziehungsweise interkultureller Ebene. Zum Vergleich dazu ist Benhabib der Überzeugung: »Universalismus ist ein Streben, ein moralisches Ziel, zu dem wir unterwegs sind, keine Tatsache und keine Beschreibung der Beschaffenheit der Welt.«227 In der Tat weist Herskovits Theorie ein recht essentialistisches Kulturverständnis auf, wonach Kulturen ihre Normen und Werte wie in einem Gefäß in sich tragen. Ähnlich wie bei Boas bedarf es nach Herskovits der wissenschaftlichen Arbeit von Gelehrten, um diese Normen zu ermitteln. Als übergreifender Konsens kann dann nur der kleinste gemeinsame Nenner gelten. Die Folge ist eine statische Vorstellung von Menschenrechten, die als solche bereits existieren, durch die menschliche Natur (im Falle Herskovitsʼ durch die Kulturen) vorgegeben sind und sozusagen nur noch entdeckt werden müssen. Als Alternative zu solchen a priori gegebenen Menschenrechten schlägt Benhabib ein demokratisches Verfahren vor, in dem unter Beteiligung sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft die Menschenrechte provinzialisiert werden sollen. Eine solche »jurisgenerative Politik [signalisiert] die Möglichkeit der Interpretation und 224 Eine häufige Kritik am Relativismus ist, dass ein Soll- von einem Ist-Zustand abgeleitet würde (siehe Hatch, E.: Culture and Morality. S. 67.). 225 Assmann, Aleida: Menschenrecht und Menschenpflichten. Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag. Wien: Picus Verlag 2017. S. 27. 226 Ebd. 227 Benhabib, S.: Kosmopolitismus ohne Illusionen. S. 64.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

Intervention zwischen transzendenten Normen und dem Willen einer demokratischen Mehrheit«228 . Diesen Vorgang bezeichnet Benhabib als »demokratische Iterationen«229 , durch die Menschenrechtsnormen »›Fleisch und Blut‹«230 gewinnen. »Solche Prozesse«, so Benhabib »sind auch als ›Anreicherung‹ und ›vernacularization‹ bezeichnet worden«231 . Sie sind der Versuch, der essentialistischen Vorstellung von durch wahlweise der menschlichen Natur oder der menschlichen Kultur bedingten Menschenrechten ein prozedurales Verständnis entgegenzusetzen und die Einsicht zu befördern, dass Menschenrechtsnormen verhandelt werden müssen. Nebenbei bemerkt, würde ein Bild von Gesellschaftsmitgliedern, »[als] nicht bloß […] dem Recht Unterworfene, sondern auch als Urheber des Rechts«232 die Stellung von Gelehrten, welche als Ermittelnde des Wahren und des Guten obsolet würden, schwächen.

4.3.4

Fortschrittsgedanke bei Herskovits

Die Idee der Menschenrechte ist eng mit der aus der Zeit der Aufklärung stammenden Vorstellung von einem menschheitsgeschichtlichen, vernunftgesteuerten Progress verzahnt, im Laufe dessen sich einem a priori gegebenen Ideal angenähert werden soll. In den vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, dass der Fortschrittsgedanke sowohl bei Herder als auch bei Boas, wenn auch verschieden stark ausgeprägt, prinzipiell vorhanden ist. Der Glaube an einen menschheitsgeschichtlichen Progress geht bei beiden Denkern mit der Idee von universalen Werten einher. Boas, der zwar viele vermeintliche Probleme kultureller Natur in moralischer Hinsicht für irrelevant hält, argumentiert für Menschenrechte und fordert deren globale Einhaltung. Herder zweifelt nicht etwa die Existenz allgemeingültiger moralischer

228 229 230 231 232

Ebd. S. 186. Ebd. S. 149. Ebd. Ebd. Ebd. S. 115.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Grundsätze an, sondern das Erkenntnismonopol der Aufklärung. Prinzipiell kann gesagt werden, dass Herder und Boas eine Relation zwischen Region und Zeit auf der einen Seite und moralischen Werten auf der anderen feststellen, aber dennoch davon ausgehen, dass ungeachtet dieser Vielfalt eine moralische Wahrheit, ein Ideal, dem zugearbeitet werden könne, existiert. Den »Vorurteilen« von Zeit und Ort sollte unter methodologischen Gesichtspunkten Rechnung getragen werden, auf keinen Fall dürften sie allerdings in eine Argumentationskette eingebaut werden, die ein generelles Vorhandensein allgemeiner Ideale negiert. Herskovits geht hier einen entscheidenden Schritt weiter und bestreitet die Existenz einer moralischen Wahrheit an sich. Indem Herskovits behauptet, »that there is no absolutely valid moral system, any more than there is an absolutely valid mode of perceiving the natural world«233 , definiert er den Kulturrelativismus als einen Relativismus, der den Versuch, kulturunabhängige, allgemeingültige ethische Normen zu formulieren, kritisch sieht. Demgemäß verneint Herskovits auch einen einheitlichen, menschheitsgeschichtlichen Progress, die Idee also, dass sich die Menschheit kulturübergreifend einem bestimmten Ideal annähere beziehungsweise annähern müsse. Herskovits hält die Fortschrittsidee an sich für eine Form westlichen Vorurteils und findet: »It is not often recalled that the concept of progress, that strikes so deep into our thinking, is relatively recent. It is, in fact, a unique product of our culture.«234 Die Vorstellung eines Progresses sei aufs engste mit »the belief and motivational systems of Europe and American societies«235 verflochten und damit als Ausdruck von euro-amerikanischem Ethnozentrismus abzulehnen: From western Europe and North America, as a second influence, came technological development and vistas of improved standards of living; the drive to extend literacy and broaden the base of schooled citizenry, and to make use of the resources of scientific medicine. The contributions were, however, by no means all material, for ideals of democratic 233 Herskovits, M. J.: A Cross-Cultural View of Bias and Values. S. 101. 234 Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 69. 235 Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 156.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

participation on the political level, and new interpretations of the concepts of human rights and human dignity were also derived from the same source.236 Die von Herskovits geäußerte Kritik am sich sowohl auf materieller als auch auf ideeller Ebene manifestierenden euro-amerikanischen Fortschrittsdenken ist immer noch brandaktuell und wird gegenwärtig besonders prononciert von Mishra vorgetragen. Wie Herskovits betrachtet auch Mishra das Aufklärungsprojekt beziehungsweise die Fortschrittsidee als westliches Unterfangen, welches von Amerika und Europa gerne und bis zum heutigen Tag als notwendiges Entwicklungsstadium wahrgenommen werde: Aus westlicher Sicht mag der Einfluss des Westens sowohl unvermeidlich als auch notwendig erscheinen und keiner sorgfältigen historischen Überprüfung bedürfen. Europäer und Amerikaner halten ihre Länder und Kulturen gewöhnlich für die Quelle der Moderne und finden sich in dieser Auffassung bestätigt durch das außergewöhnliche Schauspiel der weltweiten Verbreitung ihrer Kultur. Heute scheinen alle Gesellschaften, mit Ausnahme einiger isolierter Stammesgemeinschaften auf Borneo oder am Amazonas, zumindest teilweise verwestlicht zu sein oder nach Formen einer westlichen Moderne zu streben. Aber es gab eine Zeit, als der Ausdruck »Westen« nur eine geographische Region bezeichnete und andere Völker unbefangen eine universelle Ordnung unterstellten, in deren Zentrum ihre eigenen Werte standen.237 Mishras Anliegen ist es, zu zeigen, dass der Westen noch immer in den eurozentristischen Kategorien der westlichen Moderne denkt und der

236 Herskovits, Melville J.: Rediscovery and Integration. In: Cultural Relativism. Perspectives in Cultural Pluralism. Herausgegeben von Frances Herskovits. New York City, NY: Random House, Inc. 1972. S. 264-293. S. 270. 237 Mishra, Pankaj: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014. S. 17f.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

kulturelle sowie ökonomische Aufstieg Europas eng miteinander verbunden sind: Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sollte Europa ein Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, das auf vielfältigen Errungenschaften im Bereich der Technologie, des konstitutionellen und säkularisierten Staates und einer modernen Verwaltung basierte. Und dieses Selbstverständnis, das aus der Amerikanischen und Französischen Revolution hervorging und den Westen zur Vorhut des Fortschritts zu machen schien, ließ sich immer weniger von der Hand weisen.238 Mishra identifiziert die Aufklärung und den damit verbundenen Fortschrittsgedanken als dezidiert westliches Projekt und Argument zur Rechtfertigung euro-amerikanischen Kultur- und Wirtschaftsimperialismus. In dieser Hinsicht kann eine starke Ähnlichkeit zu Herskovits festgestellt werden, dessen Kritik am Fortschrittsglauben westlicher Prägung ähnlich gelagert ist. Diese Idee von »einem« Westen, der »dem« Nichtwesten gegenübersteht, wird von Benhabib angefochten. Nach ihrem Dafürhalten ist auch die westliche Sphäre eklektisch: The question Is universalism ethnocentric? betrays an anxiety that has haunted the West since the conquest of the Americas. It grows from beliefs that Western ways of life and systems of value are radically different from those of other civilizations. This widespread anxiety rests on false generalizations about the West itself, about the homogeneity of its identity, the uniformity of its developmental processes, and the cohesion of its values systems.239 Ebenso wenig gebe es laut Muthu auch nur eine Aufklärung. Er fordert, »that we should diversify our understanding of Enlightenment thought«240 . So habe es innerhalb der Aufklärung durchaus auch an-

238 Ebd. S. 28. 239 Benhabib, S.: The Claims of Culture. S. 24. 240 Muthu, S.: Enlightenment Against Empire. S. 2.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

tiimperialistische Stimmen gegeben.241 Unter anderem nennt Muthu hier Herder, welcher, das wurde bereits dargelegt, dem europäischem Kolonialismus gegenüber kritisch eingestellt war. Tatsächlich wurde aus dem aufklärerische Fortschrittsdenken vor allem von europäischen Kolonialmächten eine rassistische »civilizing mission«242 abgeleitet, die auf dem kulturevolutionistischen, unilinearen Entwicklungsschema basierte. Es ist diese de facto Anwendung der aufklärerischen Ideale, weswegen Herskovits der westlichen Fortschrittsgläubigkeit nichts abgewinnen kann. In diesem Sinne verurteilt er »the idea of the African as a passive recipient of European culture«243 und »the nineteenth century concepts of the white man’s burden«244 aufs Schärfste und betont, dass auch »the Marxist doctrine of social progress«245 dieser Logik folgt und davon ausgeht, dass jedes »Volk« eine »series of stages to reach the higher status of the industrialized Communist states«246 durchlaufen müsse. Während Boas noch an technischen Fortschritt glaubt und davon ausgeht, dass traditionelle Elemente einer Kultur sukzessive durch rationale Elemente im Zuge einer zunehmenden Technologisierung ersetzt würden, bezweifelt Herskovits, dass »the benefits rendered by scientific knowledge and the machine technology are therefore selfevident, and must accordingly transcend pre-existing differences in cultural values«247 . Er verweist darauf, dass technische Erfindungen keinesfalls notwendigerweise positive Effekte auf die Menschheit haben müssten und mahnt: »[I]t should not be forgotten that this same scientific methodology has made possible the development of far more effective instruments of warfare and death than the world has ever known.«248 Herskovits verweist auch darauf, dass »[w]here the

241 242 243 244 245 246 247 248

Vgl. ebd. S. 4. Ebd. Herskovits, M. J.: Rediscovery and Integration. S. 290. Ebd. S. 291 Ebd. Ebd. Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 79. Ebd. S. 79.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

uses of technical power […] has [sic!] carried its conviction, it does not necessarily follow that scientific achievement will be identified with enlightenment and truth«249 und betont dabei den idiosynkratischen Charakter der Aufklärung und des aufklärerischen Fortschrittsdenkens. Während Boas für den Bereich des technischen Fortschritts noch eine Entwicklungslinie vermutete, ist Herskovitsʼ Auffassung nach die »machine culture«250 mit ihrem Effizienz- und Wachstumsstreben eindeutig dem euro-amerikanischen Raum zuzuordnen und dessen spezifischen Kulturzielen verpflichtet: The analysis of economic and technical change falls under the heading of acculturation research, since we are here concerned with the results of contact between peoples whose ways of life are marked by a machine technology, a pecuniary economy, and what may be called the scientific approach to the solution of problems, and those who do not have these traditions.251 Den Grad der Technologisierung einer Kultur als Indikator für deren Entwicklung zu Rate zu ziehen, sei deswegen nicht zulässig, da die Standards und Kulturziele der euro-amerikanischen Zone nicht auf andere Kulturen übertragen werden könnten:252 »This is why, for instance, efficiency as an end does not necessarily appeal to all peoples as it does to us, for there are many who do not accord time the great value we assign to it.«253 Herskovits grenzt die »pecuniary societies of Europe and America«254 , die er wahlweise auch »pecuniary cultures of Europe and America«255 nennt und nach seinem Dafürhalten der »scientific tradition«256 zuzuordnen sind, scharf gegen andere Gesellschaften, die

249 250 251 252 253 254 255 256

Ebd. S. 80. Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 155. Ebd.f. Siehe auch Hatch, E.: Culture and Morality. S. 48. Herskovis, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 77. Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 153. Ebd. S. 156. Ebd. S. 159.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

er auch als »nonmachine civilization[s]«257 , bezeichnet, ab.258 Das dem Westen eigene Ideal von »economic growth«259 klassifiziert er als »ideology«260 , sprich als regionales Vorurteil. Die hier implizierten Vorstellungen von linearer Progression sind für Herskovits inakzeptabel. Veränderungen innerhalb einer bestimmten Kultur könnten laut Herskovits lediglich durch diese Kultur selbst vollzogen werden, dies zwar durchaus auch initiiert durch Kontakt mit anderen Kulturen,261 jedoch nie unter Zwang und vor allem nicht dergestalt, dass darin ein regelhafter Zivilisationsfortschritt gesehen werden könnte. Zwar sieht er Kulturen als dynamische Einheiten, »marked as they are by constant changes«262 , diese kulturelle Dynamik unterliegt jedoch keinen Gesetzen und wird bei Herskovits lediglich durch die Kultur selbst bestimmt: »Culture is stable, yet culture is also dynamic, and manifests continuous and constant change.«263 Die Erforschung der »dynamics of culture change«264 war Herskovits ein großes Anliegen. So machte er sich dafür stark, die Acculturation Studies in die Anthropologie zu integrieren.265 Unter Akkulturation versteht Herskovits folgenden Prozess: »Acculturation comprehends those phenomena which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact, with subsequent changes in the original culture pattern.«266 Von der Akkulturation zu unterscheiden sei die Assimilation, welche einen einseitigen Prozess beschreibe, im Zuge des-

257 Ebd. S. 158. 258 Herskovits spricht auch davon, dass die nicht-westlichen Zivilisationen »pitched in a different key« (Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 532.) seien. 259 Herskovits, M. J.: Economic Change and Cultural Dynamics. S. 155. 260 Ebd. 261 Vgl. Herskovits, M. J.: Cultural Diversity and World Peace. S. 84. 262 Ebd. 263 Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 18. 264 Gershenhorn, J.: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. S. 89. 265 Vgl. ebd. S. 88. 266 Redfield, Robert, Linton, Ralph, Herskovits, Melville J.: Memorandum for the Study of Acculturation. In: American Anthropologist 38/1 (1936). S. 149-152. S. 149.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

sen Individuen sich in einer »fremden« Gesellschaft vollständig anpassten, was letztlich die Aufgabe der »eigenen« Kultur zur Folge habe. Der Begriff der Diffusion hingegen definiere lediglich einen Aspekt der Akkulturation, nämlich die Verbreitung einzelner Kulturelemente.267 Daneben trifft Herskovits eine weitere Unterscheidung zwischen Diffusion und Akkulturation, indem er Diffusion als »achieved cultural transmission«268 und Akkulturation als »cultural transmission in progress«269 bezeichnet. Während erstere also nur in der Retrospektive erforscht werden könne, herrscht beim Begriff der Akkulturation ein prozedurales Verständnis vor.270 Charakteristisch für die Akkulturation ist nach Herskovitsʼ Auffassung auch, dass sie sich durch beidseitigen Kulturaustausch definiert. Damit dementiert Herskovits die eurozentristische Vorstellung von europäischen Geber- und »unzivilisierten« Nehmerkulturen.271 Stattdessen spricht er von »mutual borrowing«272 und »cultural interchange«273 und betont den Einfluss der indigener Völker auf den Westen: »It is doubtful, as a matter of fact, if the native peoples of the world, by and large, have taken over much more of Euroamerican culture than the western world has borrowed from them.«274 Im Zuge des Akkulturationsprozesses würden Elemente der »fremden« Kultur im Sinne der »eigenen« Kultur neu aufgenommen und uminterpretiert.275 Herskovits geht davon aus, dass Kulturen dadurch »old meanings to the new forms«276 übertragen und vermutet, dass auf diese Arte und Weise neue Traditionen relativ reibungslos in eine andere Kultur übertragen werden könnten, und zwar unter Beibehaltung von »pre267 268 269 270 271 272 273 274 275

Vgl. ebd. Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 525. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 532. Ebd. S. 531. Ebd. Ebd. S. 532. Vgl. Herskovits, M. J.: The Role of Culture-Pattern in the African Acculturative Experience. S. 180. 276 Ebd.

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

existing systems of values«277 , was dafür sorge, dass »the break with established customs«278 minimal gehalten werde. Durch Akkulturation also, gedacht als Prozess des Austauschs zwischen Kulturen, vollzieht sich laut Herskovits kultureller Wandel, der jedoch nicht mit Fortschritt gleichgesetzt werden kann, da dieser bei Herskovits ein rein westliches Konstrukt ist. Im Zuge des Herskovits’schen Akkulturationsprozesses werden die Kulturgrenzen jedoch nur bedingt aufgeweicht, da Herskovits auch hier von festen, klar umrissenen »bodies of tradition«279 ausgeht, welche sozusagen aufeinanderprallen. Finden »fremde« Bräuche, Traditionen, Riten etc. auch Eingang in die »eigene« Kultur, so werden sie durch Neuinterpretation angepasst und provinzialisiert. Der von Herskovits skizzierte Kulturaustausch und die Inkorporation neuer Kulturelemente sind daher durchaus kein Widerspruch zum Herskovits’schen Postulat der klaren Kulturgrenzen.

4.4

Zwischenfazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Herskovitsʼ Kulturrelativismus vor allem aus dem Wunsch erwachsen ist, dem Rassismus und der kulturell begründeten Unterdrückung kulturell Fremder Einhalt zu gebieten. Gemäß seiner Einteilung in methodischen, philosophischen und praktischen Kulturrelativismus bezeichnet er sich selbst als praktischen Kulturrelativisten und plädiert dafür, im Kulturrelativismus keine philosophische Fragestellung im Sinne eines abstrakten Gedankenspiels zu sehen, welches unter Zuhilfenahme der Gesetze der Logik behandelt werden muss, sondern ein praktisches, die tatsächlichen Machtverhältnisse betreffendes Problem. Vor diesem Hintergrund ist auch sein methodischer Ansatz zu verstehen, welcher eine scharfe Trennung von westlicher und nicht-

277 Ebd. 278 Ebd. 279 Herskovits, M. J.: Man and His Works. S. 527.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

westlicher beziehungsweise von euro-amerikanischer und nicht euroamerikanischer Sphäre vornimmt und den Forschungsgegenstand der Kulturanthropologie im außereuropäischen Raum ansiedelt. Herskovits argumentiert hier vom Paradigma der kulturellen Alterität aus. Sein Impetus ist dabei ein antikolonialistischer. Er möchte darauf hinweisen, dass außerhalb des Westens andere Traditionen und Annahmen über unter anderem die menschliche Natur vorherrschen und der westliche Liberalismus mit seiner Vorstellung vom vernunftbegabten Individuum lediglich eine von vielen Lebensformen darstellt. Davon abweichende Traditionen müssten nicht etwa, wie es eine eurozentristische Sichtweise fordert, an den Westen angepasst, sondern in ihrer Andersartigkeit wahrgenommen und respektiert werden. Im Gegensatz zum Evolutionismus, der, von einer universalen menschlichen Natur ausgehend, für eine menschliche Entwicklungslinie plädiert, was in der Vergangenheit dazu geführt hat, dass die Vorhut derselben meist von der westlichen Sphäre, namentlich Europa und USA, in Anspruch genommen und vor den Karren einer rassistischen Zivilisationsmission gespannt wurde, argumentiert Herskovits für die kulturelle Natur des Menschen, die eo ipso als pluralistisch zu verstehen ist. Das Plädoyer für die Anerkennung und Wertschätzung kultureller Alterität verbindet Herskovits mit der These von homogenen Kulturen, deren Traditionen, Werte und Ansichten im Zuge eines Enkulturationsprozesses an das Individuum weitergegeben werden. Auf diese Art und Weise entstehe ein eigener kultureller Kosmos, innerhalb dessen kulturelle Symbole und Handlungen verstanden würden. Da sich die Enkulturation unterbewusst vollziehe, ist sie Herskovitsʼ Verständnis nach automatisch und unausweichlich und die eigene Kultur somit Schicksalskollektiv. Die individuelle kulturelle Prägung, inklusive Wertvorstellungen, moralischen Empfindens und Wahrnehmung der Welt, ist bei Herskovits aufs engste mit dem, dem Individuum übergeordneten, kulturellen Rahmen verbunden, welcher nur von geschulten Fachleuten (Anthropologinnen und Anthropologen) transzendiert werden kann. Die enkulturationsbedingte Einbettung des Individuums in seiner Kultur und der sich daraus ergebende Ethnozentrismus werden in Herskovitsʼ Theorie durchweg positiv bewertet, da sie dem Individu-

4. Melville J. Herskovits: Relativismus und Universalismus

um zu Identität und Orientierung verhelfen. Ethnozentrismus werde erst dann negativ, wenn er sich als ein militanter geriere und die eigene Lebensart als Oktroi für andere verstanden werde. Dies werde meist von der euro-amerikanischen Welt so aufgefasst, was Herskovits als Eurozentrismus bezeichnet. Daraus ergibt sich für Herskovits die Notwendigkeit, das, was als universal gelten soll, soweit einzuschränken, dass den regionalen beziehungsweise kulturellen Unterschieden, manifest in den Moralvorstellungen und Rechtstraditionen unterschiedlicher Kulturen, Rechnung getragen wird. Das Universale, das für alle gelten soll, ist bei Herskovits gleichzeitig das, was auch tatsächlich bei allen vorzufinden ist. Das heißt, Menschenrechte stellt sich Herskovits als kleinsten gemeinsamen Nenner vor. Herskovits unterscheidet dabei universals und absolutes. Erstere sind bei Herskovits erdumspannend anzutreffen; letztere stellen für ihn sozusagen die Umsetzung der universals in eine konkrete provinzialisierte Form dar. Regional begrenzt geltende absolutes dürften, um einen militanten Ethnozentrismus zu vermeiden, nicht für universals gehalten werden. Dies sei auch bei dem Versuch, eine allgemeine Menschenrechtsdeklaration zu verfassen, zu beachten. Der Herskovits’schen Theorie inhärent ist eine Aufklärungskritik, die eine Verbindung zwischen europäischer Fortschrittsgläubigkeit und Imperialismus erkennt. Technischer Fortschritt werde vom Westen als notwendige Etappe innerhalb einer Entwicklungslinie gedeutet. Auch das Menschenbild der Aufklärung, die Vorstellung eines rein rational handelnden homo oeconomicus, zieht Herskovits stark in Zweifel und setzt ihr die Idee eines unterbewusst agierenden und »culturally determined«280 Individuums entgegen. Die Kultur, der menschliches Handeln entspringt, folgt bei Herskovits keiner allgemeinen, sondern ihrer eigenen Logik. Demgemäß spricht Herskovits von verschiedenen kulturellen Zeichensystemen, innerhalb derer einzelne kulturelle Handlungen sinnvoll und vernünftig sind, weil sie eine bestimmte Bedeutung transportieren, die außerhalb der Gruppe nicht verstanden werden kann. 280 Ebd. S. 26.

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5. Fazit und Ausblick

5.1

Ergebnisse der Analyse

Die Analyse hat ergeben, dass die weitverbreitete Ansicht, das kulturrelativistische Paradigma basiere auf einheitlichen, von Herder initiierten, von Boas weiterentwickelten und von Herskovits ausgearbeiteten Grundannahmen über die menschliche Kultur nicht der Wahrheit entspricht. Während Kultur für Herder vorbestimmt und für Boas zufällig ist, vertritt Herskovits einen systemischen Kulturbegriff und die Vorstellung von sinnvollen kulturellen Einheiten. Es muss festgehalten werden, dass weder Herder noch Boas nach der in der Einleitung vorgestellten Definition1 als Kulturrelativisten bezeichnet werden können, Herskovits jedoch schon. Bei Herder befindet sich die Menschheit in einem steten Entwicklungsprozess, der sich in verschiedenen, den menschlichen Lebensaltern entsprechenden Etappen vollzieht, wobei sich die einzelnen Völker in jeweils unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden und mal diese, mal jene die Vorhut des menschheitsgeschichtlichen Verlaufs bilden. Herders Relativismus betont vor allem, dass im Hinblick auf das Ganze die verschiedenen Entwicklungsabschnitte oder Epochen nicht miteinander verglichen werden dürfen. Herder steht somit für einen ortsgebundenen Epochenrelativismus. Diese Auffassung ist mit dem

1

Dort wurde der Terminus vorgestellt, wie er als Kampfbegriff in der öffentlichen Diskussion auftaucht.

192

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Glauben an allgemeine, universal gültige Maßstäbe moralisch richtigen Handelns durchaus vereinbar. In diesem Sinne ist der Herder’sche Volksgeist auch nicht als statische Größe zu verstehen, sondern als stetige Dynamik, die sich gemäß den aufeinander folgenden Lebensaltern verändert. Herders Entwicklungsmodell folgt für das menschliche Auge scheinbar keiner regelhaften Progression, jedoch offenbart sich die Zielgerichtetheit sub specie aeternitatis. Sie ruht unrelativistisch auf moralischen Standards mit universalem Geltungsanspruch, über die der Mensch in seinem jeweiligen Entwicklungszustand lediglich nicht in Kenntnis gesetzt ist und an denen er sich folglich auch nicht bewusst orientieren kann. Er tappt im Dunkeln und ist seinem Schicksal blind ausgeliefert. Übt Herder Kritik an der französischen Aufklärung, so argumentiert er nicht gegen deren Forderung an, die moralischen Standards an dem Kollektiv ausgelagerte universelle Prinzipien zu knüpfen – dasselbe tut Herder ja auch – , sondern gegen die aufklärerische Anmaßung, diese Prinzipien ermitteln zu wollen und so dem Universum beziehungsweise Gott vorzugreifen. Aufgrund des Epochenrelativismus stehe es dem Menschen nicht an, über Recht und Unrecht zu richten. Herders Relativismus besteht entgegen der Meinung Finkielkrauts also nicht in der behaupteten Unfehlbarkeit der Völker, sondern in der Unfehlbarkeit eines göttlichen Entwicklungsplans, in dem Irren und Scheitern als notwendige Wachstumsanstöße miteinkalkuliert sind und die »Fehler« der Völker als Erfüllungsgehilfen einer erdumspannenden Heilsgeschichte dienen. Es gibt eine universelle Moral. Sie ist göttlich und dem Kollektiv vorgelagert. Das Kollektiv wiederum ist bei Herder ein in sich geschlossenes Ganzes, das sich durch gemeinsame Sprache und Sitten konstituiert. Demnach »passt« bei Herder eine Kultur immer zu einem bestimmten »Volk« beziehungsweise zu einer bestimmten Nation. Alle drei Kategorien nimmt er also als real beziehungsweise gottgegeben wahr. Solche Vorstellungen von holistischen, inkommensurablen Kulturen und Völkern werden oft als Argumente zur Rechtfertigung relativistischer Sichtweisen herangezogen. Auch Herder wurde unterstellt, so vorgegangen zu sein. Tatsächlich aber leitet sich die Negation universeller Wahrheiten nicht zwangsweise aus der Annahme stark voneinander ab-

5. Fazit und Ausblick

gegrenzter Kulturen ab. Bei Herder beispielsweise sind diese Kulturinseln durch den Schicksalsplan an die universale Instanz angeschlossen. Boasʼ Kulturtheorie weist Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Herder auf. Gemein ist Herder und Boas der ihrer Arbeit innewohnende historische Ansatz. Wie bei Herder sind Völker beziehungsweise Kulturen für Boas das Ergebnis einer Entwicklung. Sein methodisches Vorgehen berücksichtigt dies und versucht, kulturelle Praktiken vor dem Hintergrund der Geschichte der jeweiligen Kultur zu deuten (Historischer Partikularismus), wobei Boasʼ eigentliches und ursprüngliches Forschungsinteresse dem Nachweis interkultureller Konstanten und nicht dem Herausarbeiten kultureller Unterschiede galt. Seine Motivation folgt also einer anderen Logik als Herskovitsʼ Ansatz, welcher auf der Prämisse der grundsätzlichen Verschiedenheit einzelner Kulturen fußt. Anstatt auf das Trennende zu verweisen, betont Boas die Gemeinsamkeiten und das Verbindende der Kulturen. Bunzl hat das Paradigma der »Self/Other dichotomy«2 , welches kulturelle Alterität zum Ausgangpunkt für »anthropological knowledge production«3 macht, kritisiert und darauf hingewiesen, dass Boasʼ Ansatz von der Fetischisierung des Fremden Abstand nimmt.4 Für Boas lassen sich Fremdheit beziehungsweise kulturelle Andersheit erklären, da sie von externen Faktoren abhängen und nicht essentialistisch an ein bestimmtes Kollektiv gebunden sind. Der Mensch ist in Boasʼ Anthropologie der Ton, der durch die Geschichte, Geographie etc. geformt wird. Dadurch dass das Fremde für Boas erklärbar ist und nachvollzogen werden kann, ist es nicht exotisch, sondern lediglich eine Facette des Menschlichen. Es ist diese Betonung der Formbarkeit von Kultur, die Boas eine klare Absage an verdinglichte Kategorien (Rasse, Kultur, Volk, Nation) erteilen lässt, zumindest auf analytischer Ebene. In methodischer Hinsicht, durch das Heranziehen von Sprache und Texten zur Erschließung »fremder« Kulturen nämlich, steht er weiterhin in

2 3 4

Bunzl, M.: Boas, Foucault and the »Native Anthropologist«. S. 436. Ebd. Vgl. ebd.

193

194

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

der Herder’schen Tradition und setzt implizit die Festschreibung und Deckungsgleichheit von Sprache, Kultur und Volk fort.5 Es ist noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Herder und Boas auszumachen. Beide glauben prinzipiell an Fortschritt. Diesem Aspekt der Boas’schen Kulturtheorie wurde in der Vergangenheit vor allem im Vergleich zu Boasʼ Rezeption als Kulturrelativist eher wenig Beachtung geschenkt. So unterscheidet Boas einen Teil der Kultur, der gesetzmäßig agiere beziehungsweise vernunftmäßig und universal erschlossen werden könne. Dieser Bereich, für den nach Boasʼ Dafürhalten die Gesetze der Logik gelten, umfasst Wissenschaft und Technik, aber auch – das legen einige Textstellen nahe – den Bereich der Moral. Daneben geht Boas auch davon aus, dass kultureller »Fortschritt« einen höheren Freiheitsgrad des Individuums mit sich bringe. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, Boasʼ Relativismus umfasse auch die ethische Dimension, fördert die Analyse die Einsicht zutage, dass Boas durchaus an eine universale Moral glaubt, die aber nun nicht mehr wie bei Herder Gott, sondern der menschlichen Vernunft verpflichtet ist. In diesem Punkt wird der Einfluss der Aufklärung auf Boasʼ Kulturtheorie deutlich. Des Öfteren, so Boas, werde der Blick auf die pure Vernunft durch die »shackles that tradition has laid upon us«6 getrübt. Boasʼ Einstellung gegenüber Kultur und Tradition ist demnach also mitnichten rein positiv. Genaugenommen betrachtet er Traditionen in weiten Teilen – und hier ähnelt er Herder – als Aberglauben. Auf der Suche nach der reinen Wahrheit müsse dieser überwunden werden, auch weil Kultur die individuelle Freiheit einschränke. Boas hält paradoxerweise also seinen eigenen Forschungsgegenstand, Kultur, für ein dem Untergang geweihtes Relikt aus vormodernen Zeiten, das es durch die Wissenschaft zu transzendieren gelte. Hier wiederum unterscheiden sich Boas und Herder; letzterer glaubt nämlich, dass sich die Überwindung des Vorurteils organisch aus der sich entfaltenden Geschichte ergebe und der

5 6

Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 265. Boas, F.: The Background of My Early Thinking. S. 42.

5. Fazit und Ausblick

Mensch gut daran tue, sich dem Vorurteil hinzugeben, das heißt den Volksgeist auszuleben, da Kultur identitätsstiftend wirke.7 Durch den von ihm vertretenen Fortschrittsgedanken läuft Boas Gefahr, die alte rassistische Zweiteilung von »primitiv« und »zivilisiert« zu perpetuieren. Zwar besteht Boasʼ Hauptverdienst in der Ablösung des kulturevolutionistischen Paradigmas und der Entlarvung des damit gerechtfertigten Kolonialismus als rassistischen Imperialismus, doch birgt die Vorstellung von einem technischen Fortschritt, der einer regelhaften Progression folgt und dabei allein den Gesetzen der menschlichen Vernunft unterworfen ist, die Gefahr, dass ein höherer Technologisierungsgrad als Zeichen für eine generelle Überlegenheit einer bestimmten Kultur gewertet wird und auf diese Art und Weise westliche Dominanz diesmal nicht durch »Rasse«, sondern durch die Hintertür des technischen Fortschritts gerechtfertigt wird. Hinzu kommt, dass – darauf haben Bauman und Briggs aufmerksam gemacht – Boasʼ Ansicht nach die reine Vernunft lediglich durch besonders geschulte Fachkräfte, sprich Anthropologinnen und Anthropologen, ausfindig gemacht werden kann.8 Dies ist besonders im Hinblick auf etwaige zu ermittelnde Menschenrechte heikel, da zum einen die Anthropologie ihrer Entstehungsgeschichte nach eine westliche Disziplin ist und von Gelehrten bestimmten Menschenrechten zum anderen die demokratische Legitimation fehlt. Dies ist insbesondere bemerkenswert, weil Boas ein glühender Verfechter der Demokratie war. Dem logischen Gesetzen folgenden Teil gegenüber steht laut Boas ein Bereich, welcher willkürlich und für moralische Fragen irrelevant ist. Von Kultur zu Kultur variierende Tischmanieren seien hierfür ein gutes Beispiel. Fremde Sitten dürften nicht zum Ausgangspunkt einer diskriminierenden Inferioritätszuschreibung gemacht werden. Boasʼ Relativismus besteht im Plädoyer für die Beliebigkeit kultureller Formen (Tischmanieren, Kleiderordnung etc.) und für die Wertschätzung

7 8

So gesehen vertritt Herder zwar keinen Relativismus, seine Theorie ist jedoch mit denselben Forderungen verbunden. Vgl. Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 285.

195

196

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

kultureller Vielfalt bei gleichzeitiger Annahme von verbindlichen moralischen Normen. Boas unterscheidet also zwischen arbiträren, unter ethischen Gesichtspunkten irrelevanten Fragestellungen und einem »vernünftigen« Teil der Kultur, der für alle die gleichen Rahmenbedingungen schafft. So gesehen nimmt er eine Zwischenstellung zwischen den beiden Polen Universalismus und Relativismus ein. Zweifelsohne gilt Boas als Koryphäe seines Fachs und als Wegbereiter und Vertreter einer antirassistischen Kulturanthropologie. Kritisiert wird zuweilen seine recht unsystematische Arbeitsweise und die Tatsache, dass er, wie Krupat es formuliert, dem Anschein nach »irreconcilable positions«9 vertritt. Dieser Eindruck von unauflösbaren Aporien ist Boasʼ Versäumnis geschuldet, die Hauptthesen seiner Kulturphilosophie nicht im Sinne einer zusammenhängenden Theorie formuliert und den von ihm proklamierten vernünftigen Teil der Kultur nicht klar vom arbiträren Bereich abgegrenzt zu haben. Hier bleibt Boas in der Tat schwammig und darin besteht auch die Schwäche seines Werks. Tatsächlich widerspricht er sich sogar, wenn er auf der einen Seite eine Unterscheidung von arbiträrer und vernünftiger Kultur vornimmt und gleichzeitig behauptet, der arbiträre Teil werde sukzessive durch logische Elemente abgelöst. Durch diesen Zusatz bringt Boas sein antirassistisches Konzept der arbiträren Kultur, die nicht nach universellen Maßstäben beurteilt und abgewertet werden kann, ins Wanken, da die Moderne sie letztlich durch »vernünftige« Elemente ersetze. Kultur war bei Boas also nie tatsächlich willkürlich, sondern nur vorübergehend, in einem bestimmten – und man kann hier durchaus anmerken, von Boas als »primitiv« wahrgenommenen und auch häufig so bezeichneten – Stadium der menschlichen Entwicklung. Es wird daher in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass das Innovationspotenzial seiner Arbeit, besonders was das Aufbrechen alter Denkmuster anbelangt, generell überschätzt wird. Boas – das wird mitunter anhand seines aufklärerischen Glaubens an einen übergeordneten, moralischen Maßstab, an eine abstrahierte menschliche Vernunft und an menschheitsgeschichtlichen, linearen 9

Krupat, A.: Anthropology in the Ironic Mode: The Work of Franz Boas. S. 108.

5. Fazit und Ausblick

Fortschritt klar – ist ein Denker, der sich seinem wissenschaftlichen Impetus nach der Epoche der Moderne verpflichtet fühlte. Darüber hinaus vertrat er in klassisch liberaler Manier assimilationistische Thesen, also eine Einstellung, die für die Nivellierung kultureller Differenz steht,10 ironischerweise also das glatte Gegenteil von dem, wofür Boas landläufig bekannt ist. Ebenso wenig mit Boasʼ Ruf als Kulturrelativist in Einklang zu bringen ist sein massives Werben für die »federation of nations«11 , die er für den nächsten Schritt »in the evolution of mankind«12 hält. Boasʼ Schüler Herskovits hingegen nimmt von den aufklärerischen Vorstellungen von der reinen Vernunft beziehungsweise eines zivilisatorischen Fortschritts und dem damit einhergehenden Menschenbild des economic man Abstand und verabschiedet sich im Gegensatz zu Boas nicht nur in methodischer Hinsicht vom Evolutionismus, sondern ganz dezidiert auch auf inhaltlicher Ebene. Für ihn sind diese Ideen zutiefst westlich, nicht generalisierbar und Ausdruck eines eurozentrischen Vorurteils. Menschenrechtskonzeptionen wie die der UN seien stark vom westlichen Denken und der Aufklärung, bei der es sich laut Herskovits keinesfalls um ein universales, sondern um ein örtlich begrenztes Phänomen handelt, beeinflusst. Daraus schlussfolgert Herskovits, dass bei dem Versuch, eine allgemeine Konvention der Menschenrechte zu verfassen, die unzulässige Verallgemeinerung ursprünglich westlicher Werte und Normen vermieden werden muss. Die globale Durchsetzung solcher Menschenrechte käme einem unzulässigen Eurozentrismus gleich. Mit Herskovits setzt zudem eine Verschiebung der Priorisierung verschiedener Aspekte ein. Während Boas die Stellung und die Freiheit des Individuums hervorhebt und, zumindest auf analytischer Ebene, die Einheit von Sprache, Kultur und Nation dekonstruiert, zementiert Herskovits mit seinem ganzheitlichen, weiten, auf eine ethnische Gruppe beschränkten Kulturbegriff genau diese Deckungsgleichheit und be-

10 11 12

Vgl. Kendi, I. X.: Gebrandmarkt. S. 328. Boas, F.: Race and Democratic Society. S. 111. Ebd.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

tont die Uniformität von Kulturen. Die von Boas vorgenommene Unterscheidung von einem vernünftigen und einem arbiträren Teil der Kultur wird aufgehoben und durch das Verständnis von Kultur als zu interpretierendem Bedeutungssystem ersetzt. Ferner verlagert sich der historische Blick hin zu einem Forschungsdesign, dessen primäres Interesse auf eine vermutete Andersartigkeit gerichtet ist. Diese Andersartigkeit wird durch den Prozess der Enkulturation bedingt, die bei Herskovits einen hohen Stellenwert einnimmt. Die jeweilige Kultur kann somit nur vom Volk selbst nachvollzogen werden. Herskovitsʼ Kulturtheorie betont insofern die Bedeutung des Kollektivs als Ursprung und Ideengeber des eigenen, individuellen Denkens. War Boas davon überzeugt, dass sich das Individuum mit »fortschreitender« kultureller Entwicklung sukzessive von seiner Kultur löst, ist Kultur bei Herskovits vor allem positiv konnotiert, da sie wie bei Herder identitätsstiftend auf das Individuum einwirkt und für Orientierung sorgt. Dementsprechend sei dem Individuum am besten Respekt gezollt, indem man die Kultur, die es hervorgebracht hat, respektiert. Vor diesem Hintergrund ist auch das von Herskovits verfasste »Statement on Human Rights« der American Anthropological Association zu verstehen, in der Herskovits primär auf kollektive denn auf individuelle Freiheitsrechte verweist. Die Debatte, die das Statement von 1947 ausgelöst hat, beruht vorrangig auf der Auseinandersetzung zweier Anschauungen, dem Beharren auf persönlichen Freiheitsrechten beziehungsweise dem aufklärerischen Vernunftgedanken im Sinne eines sapere aude und der Betonung von kollektiven Rechten beziehungsweise des Rechts einer Gruppe, anders zu leben und andere Sitten und Bräuche zu pflegen als der Westen. Herskovits vertritt in der Tat einen ethischen Relativismus und geht davon aus, dass sämtliche auf der Welt existierende Normen prinzipiell gültig sind, und das immer nur für das jeweilige Kollektiv, da aufgrund der Unübersetzbarkeit tradierter Normen und Sitten eine Beurteilung fremder Bräuche unzulässig sei. Vertritt Herder eine göttliche und Boas eine menschliche Moral, so plädiert Herskovits für eine kulturelle. Damit erfolgt eine Zäsur und mit der Abkehr vom Menschenbild des rein vernunftgesteuerten Individuums auch ein Übergang von der von Boas

5. Fazit und Ausblick

vertretenen Moderne hin zur Postmoderne. Das Konzept des Kulturrelativismus ist in der Kulturanthropologie folglich auch mitnichten eine einheitliche Theorie. Vielmehr unterscheiden sich die angeblich sehr nah beieinanderliegenden Wissenschaftler Herder, Boas und Herskovits stark. Es ist überliefert, dass sich Herskovits, dem die Aporien seiner Theorie, zum Beispiel, dass ihre Prämissen auch so ausgelegt werden können, dass sie menschenverachtendes Verhalten rechtfertigen, durchaus bewusst waren, dagegen ausgesprochen hat, im kulturellen Relativismus eine Lehre zu sehen, die a, lediglich die moralische Dimension umfasst und b, als rein philosophische Theorie – in der Tat gab es vonseiten der Philosophie große Einwände – angesehen wird.13 Vielmehr war Herskovits darum bemüht, ganz praktisch die Lebenswirklichkeit Subalterner zu verbessern. Für Herskovits war Wissenschaft (wie auch für Herder) immer politisch und von daher nicht losgelöst von den soziokulturellen Realitäten zu betreiben. Auch hier unterscheiden sich Boas und Herskovits. Letzterer schätzte die vom Westen ausgehende Gefahr größer ein als die Gefahr, »Opfer« der eigenen Kultur zu werden, was ihn zu einem Vordenker der postkolonialen Studien macht. Herskovitsʼ Selbstverständnis war dementsprechend das eines Aktivisten und eines »humanist and a humanitarian«14 . Problematisch an Herskovitsʼ Theorie jedoch ist sein essentialistisches Verständnis von Kultur. Tatsächlich sind »Kultur« und »Volk« für Herskovits Begriffe, die synonym gebraucht werden können beziehungsweise sich wie »Topf« zu »Deckel« verhalten. Das heißt, Kultur ist bei Herskovits immer die passgenaue Maßanfertigung eines Volkes.

13 14

Vgl. Fernandez, J. W.: Tolerance in a Repugnant World. S. 140.ff. Ebd. S. 141.

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200

Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

5.2

Zeitgenössische Kritik und Ausblick

Diese Arbeit hat sich dem anthropologischen Konzept des Kulturrelativismus auf einer Metaebene genähert und seine Entstehungsgeschichte anhand von drei Schlüsselfiguren erörtert. Wie relativistische Argumente in der politischen, sozialen und kulturellen Praxis angewandt werden, ist eine andere interessante Fragestellung. Festgehalten werden soll, dass zumindest ein starker Relativismus auf einem problematischen Kulturverständnis fußt. Im Insistieren auf Rechte homogener Kulturen nämlich manifestiert sich eine Dialektik, die sowohl regressiv als auch progressiv urbar gemacht werden kann und entweder zur nationalen Abschottung oder zum Minderheitenschutz gereicht. Um es mit Baumann und Briggs auszudrücken: »Culture is now a social fact that shapes contemporary social life. Anthropologists would be naive to think that since they made it, they have the power to decide how – or if – it will be used.«15 Das ist auch die Krux bei einem starken Relativismus im Sinne eines Gegenspielers des Universalismus. Auch er kann, entgegen gutgemeinter Intentionen, letztlich zugunsten xenophober und diskriminierender Praktiken ausgelegt werden. So hat Jaqueline Bhabha – darauf haben Bauman und Briggs aufmerksam gemacht – herausgefunden, dass die Immigrationsbehörde der USA beim Gebrauch kultureller Argumente mit zweierlei Maß misst: [W]hile human rights discourses may be used in condemning genderbased discrimination and female genital mutilation as barbaric, denials of refugee protection to individuals seeking to escape them are justified through a language of cultural relativism as a need to be sensitive to the norms of the home country.16 Neben diesen perfideren Ausschlussmechanismen pocht nach wie vor ein kruder, unverblümter Rassismus/Nationalismus auf die Naturalisierung vermeintlicher Kollektivgrenzen und beschwört in wahlweise ein völkisches, abendländisches oder christliches etc. »wir«, freilich mit 15 16

Bauman, R., Briggs, C. L.: Voices of Modernity. S. 296. Zitiert nach ebd.

5. Fazit und Ausblick

dem Ziel, alle anderen auszuschließen. Es ist dieser Wunsch nach einer »reinen« Kultur, der rechte Ideologen wie Pierre Krebs dazu bewegt, sich eine »›heterogene Welt homogener Völker, nicht umgekehrt‹«17 zu wünschen.18 Im vermeintlichen Fremden das Verbindende zu erkennen, ist also bei der europäischen Rechten nicht angesagt. Stattdessen werden unüberbrückbare Kulturmauern herbeigeredet. Dieser »Wahn dichotomer Identitäten«19 ist laut Sen leider nach wie vor an der politischen Tagesordnung (Deutsche/Muslime, Westen/Osten etc.). Sen stellt fest: Ein starkes – und exklusives – Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann in vielen Fällen mit der Wahrnehmung einer Distanz und Divergenz zu anderen Gruppen einhergehen. Solidarität innerhalb der Gruppe kann Zwietracht zwischen Gruppen verstärken. Es kann passieren, daß wir plötzlich erfahren, daß wir nicht nur Ruander, sondern speziell Hutus sind (»wir hassen die Tutsis«), oder daß wir eigentlich nicht nur Jugoslawen sind, sondern genaugenommen Serben (»wir können Muslime absolut nicht ausstehen«).20 Auch Butler äußert ähnliche Bedenken: Wenn ich mich einer Gemeinschaft anschließe, die sich über die Zugehörigkeit zu Nation, Territorium, Sprache, Kultur begründet, und meine Verantwortung auf diese Zugehörigkeit beziehe, übernehme ich implizit die Auffassung, dass ich nur denen gegenüber verantwortlich bin, die mir in irgendeiner wahrnehmbaren Weise ähneln.21

17 18

19 20 21

Zitiert nach Kraske, Michael: Vermischt euch. www.taz.de/!5033354/(22.10.2018) Derselben verqueren Logik folgend behauptet der AfD-Abgeordnete Tillschneider über sich selbst, »er sei immer neugierig auf das Fremde, Nichtdeutsche gewesen. Aber es bleibe fremd und das sei auch gut so« (Wassermann, Andreas: Biodeutsche Erbauungsstücke. In: Der Spiegel 23 (2018). S. 40-41. S. 41.). Sen, A.: Die Identitätsfalle. S. 19. Ebd. S. 17. Butler, J.: Krieg und Affekt. S. 14f.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Butlers kritische Überlegungen setzen wie bei Sen an der zunächst banal scheinenden Feststellung an, dass je nachdem welche Kriterien man zur Identitätskonstruktion heranzieht, bestimmte Personen aus- oder miteingeschlossen werden. Spezifische Identitäten werden demnach konstruiert, was sie anfällig für Manipulation und Instrumentalisierung machen. Schlussendlich ist das seltenste »wir«, das ausgerufen wird, eines, das tatsächlich alle Mitglieder einer Gesellschaft miteinbezieht oder mitdenkt. Auf der anderen Seite greifen auch emanzipatorische, antirassistische Bewegungen auf das anthropologische Kulturkonzept und Vorstellungen von homogenen Identitäten zurück. Darauf hat unter anderem Baker aufmerksam gemacht: Throughout U. S. history, anthropologically informed concepts of culture have been used to advance civil rights and achieve justice, but they have also been employed to defend segregation and maintain oppression. Many times it is difficult to sort out the intent and intentions from the truth or consequences.22 Bakers Zitat legt nahe, dass es einen großen Unterschied macht, ob das Kulturkonzept von einer machtausübenden Mehr- oder einer diskriminierten Minderheit in Anspruch genommen wird. Darüber hinaus geht mit dem auf gemeinsame Identität beruhendem emanzipatorischen Anspruch einzelner Gruppen meistens eine auf genau dieser Identität basierende Ausgrenzungserfahrung einher. Dass diese Identität freilich konstruiert ist, spielt für die betroffenen Personen de facto keine Rolle. Das Bedürfnis, eigene, kollektiv geteilte Identitätsmerkmale (Hautfarbe, Geschlecht, Kultur) aufzuwerten, ist so gesehen lediglich die Antwort auf eine vorausgegangene Abwertung. Teilweise erfolgt diese Abwertung in Form einer »Hypostasierung kultureller Symbole zu politischen Streitthemen«23 , bei denen sich Universalismus und Relativismus wie beim in der Einleitung erörterten Beispiel (Beschneidung) unversöhnlich gegenüber zu stehen scheinen. 22 23

Baker, L. D.: Anthropology and the Racial Politics of Culture. S. 30. Geulen, C.: Geschichte des Rassismus. S. 113.

5. Fazit und Ausblick

Die »vulgarisiert[e]«24 Verwendung des Begriffs Kulturrelativismus als Schlagwort suggeriert hier eine Ausschließlichkeit der beiden Konzepte Universalismus und Relativismus und fordert ein klares und generelles Bekenntnis zu entweder a, den Menschenrechten oder b, einem kulturell begründeten »Anything goes«. Dabei wird eine derart abstrakte und pauschale Einordnung den komplexen realen Bedingungen nicht gerecht. Mit anderen Worten ist der Kontext entscheidend. Bei der Aushandlung solcher Fragestellungen erweist sich der kulturrelative Blick als äußerst hilfreich und vor dem Hintergrund der Problematik demokratischer Teilhabe von Minderheiten auch als nötig. Nicht zuletzt hat die Globalisierung dafür gesorgt, dass die geschilderte Thematik seit Boas nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat. In der Tat ringt man im 21. Jahrhundert noch mit annährend identischen Fragestellungen wie zu Boasʼ Zeiten. Dieser erfährt unter anderem deswegen gerade eine Neubewertung. Blackhawk und Wilner begründen das wiedererwachte Interesse an Boas mit seiner »unmistakable importance to contemporary discussions of race, inequality, empire, and migration«25 . Besonders vor dem Hintergrund neuer um sich greifender reaktionärer Strömungen auf beiden Seiten des Atlantiks gewinnen derzeit Beiträge an Relevanz, die sich mit Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und des Zugangs zu Ressourcen von Minderheiten in Demokratien beschäftigen.26 Traditioneller Weise wurde Boas als jemand gelesen, der für die Verteidigung von Minderheitenrechten und kultureller Selbstbestimmung steht. Diese Ansicht wird zunehmend – auch in der vorliegenden Arbeit – in Zweifel gezogen beziehungsweise relativiert. Der 2018 erschienene Sammelband »Indigenous Visions. Rediscovering the World of Franz Boas«, der 2011 durch eine Konferenz 24 25

26

Schimang, D.: Menschrechte versus Menschenwürde. S. 151. Blackhawk, Ned, Lorado Wilner, Isaiah: Introduction. In: Indigenous Visions. Rediscovering the World of Franz Boas. Herausgegeben von Ned Blackhawk und Isaiah Lorado Wilner. New Haven, CT: Yale University Press 2018 (= The Henry Roe Cloud Series on American Indians and Modernity). S. ix-xxi. S. ix. Zur gegenwärtigen politischen Lage siehe auch: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Herausgegeben von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017 (= edition suhrkamp).

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

zum 100-jährigen Jubiläum von »The Mind of Primitive Man« initiiert wurde, unterzieht Boas einer kritischen Neubewertung. Ziel des Sammelbandes ist es, auf die Bedeutung indigener Stimmen für die Boas’sche Forschung aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang ist Isaiah Lorado Wilners Beitrag »Transformation Masks: Recollecting the Indigenous Origins of Global Consciousness« zu erwähnen, in dem er argumentiert, dass »Indigenous people were no mere recipients of history, showing up in bit roles to accommodate othersʼ inventions or stage a forlorn act of resistances«27 . Stattdessen hätten Indigene aktiv an der Entstehung eines »global consciousness«28 mitgewirkt. Die Rolle Boasʼ schätzt Wilner als ambivalent ein: »The Mind of Primitive Man«, so Wilner, »epitomizes the ironies of the Boasian legacy, part of a long and ongoing struggle to face the heritage of empire«29 . Eindeutig negativ hingegen fällt das Urteil Audra Simpsons aus. Die indigene Anthropologin argumentiert in »Why White People Love Franz Boas; Or the Grammar of Indigenous Dispossssion«, dass sich »The Mind of Primitive Man« nahtlos in die Traditionslinie anthropologischer Schriften einreiht, die indigenes Leben als vormodern und dem Untergang geweiht einstuften. So half »The Mind of Primitive Man« nicht etwa dabei, ein Verständnis zu bewerben, das Indigene als gleichberechtigt und ebenbürtig sieht, sondern spielte jenen Bemühungen in die Hände, die Indigene zu »governable«30 Objekten degradieren wollten.31 Als eher affirmativ ist im Gegensatz dazu eine 2019 erschiene Ausgabe (Ausgabe 63/Nummer 4) der »Amerikastudien« mit dem Titel »Boasian Aesthetics: American Poetry, Visual Culture, an Cultural

27

28 29 30 31

Wilner, Isaiah Lorado: Transformation Masks: Recollecting the Indigenous Origins of Global Consciousness. In: Indigenous Visions. Rediscovering the World of Franz Boas. Herausgegeben von Ned Blackhawk und Isaiah Lorado Wilner. New Haven, CT: Yale University Press 2018 (= The Henry Roe Cloud Series on American Indians and Modernity). S. 3- 41. S. 3. Ebd. S. 4. Ebd. S. 5. Simpson, A.: Why White People Love Franz Boas. S. 174. Vgl. ebd.

5. Fazit und Ausblick

Anthropology« zu betrachten. Ausgangspunkt dieser nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschienenen Publikation ist nach wie vor die fragliche Prämisse eines ungebrochenen Fortschreibens der Boas’schen Grundsätze durch die Generation seiner Schülerinnen und Schüler, wobei Boas gemäß etabliertem Narrativ als Urheber des »concept of ›cultural relativism,‹ which postulates that every society has its own cultural system of behaviors, norms, and values with its own social and historical logic«32 angesehen wird. Auch wenn sich das Themenheft in der Mehrheit seiner Beiträge nicht direkt mit Boas und bis auf eine Ausnahme auch nicht mit dem Konzept des Kulturrelativismus beziehungsweise Boasʼ Rolle in Bezug auf deren Entstehungsgeschichte auseinandersetzt, sondern sich der Analyse »of entangled early-twentieth-century histories of reformist agendas, aesthetic production, and aisthetic [sic!] practices at the intersection of art and anthropology«33 widmet, so ist die zweifelhafte Verortung von Boas als Kulturrelativist dennoch von Belang für die vorliegenden Aufsätze; und zwar aus dem Grund, weil sie Boas und seine Schülerinnen und Schüler in der Tradition von »countercultural movements«34 sehen und dabei dazu tendieren, die ideologischen und methodischen Verstrickungen der Boas’schen Kulturanthropologie mit Empire und Kolonialismus zu vernachlässigen. Richard Handler beispielsweise untersucht in seinem Beitrag die Verwendung der Ausdrücke »primitive« und »savage« und möchte darlegen, dass trotz deren Gebrauch die »central messages of their [Boasian] anthropology […] antiracism and cultural relativism«35 waren. Es ist zu erwarten, dass die Debatte um die Verortung von Boas und seinem Erbe gerade auch vor dem 32

33 34 35

Schweighauser, Philipp, Rippl, Gabriele, Chakkalakal, Silvy, Reichel, A. Elisabeth: Introduction. Boasian Aesthetics: American Poetry, Visual Culture, and Cultural Anthropology In: Amerikastudien/American Studies 63/4 (2018). S. 431440. S. 431. Ebd. S. 432. Ebd. S. 431. Handler, Richard: Voices and Vices of the Ancestors: Reading and Teaching the Boasians in the Twenty-First Century. In: Amerikastudien/American Studies 63/4 (2018). S. 457-471. S. 457.

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Kulturrelativistische Positionen und ihre Aktualität

Hintergrund eines gesellschaftlichen Wandels, der die kolonialen und eurozentrischen Rahmenbedingungen von Wissensproduktion zunehmend hinterfragt, in Zukunft verstärkt geführt werden wird. Die vorliegende Arbeit möchte hier einen Beitrag liefern. Ebenfalls 2019 erschienen ist »Gods of the Upper Air: How a Circle of Renegade Anthropologists Reinvented Race, Sex, and Gender in the Twentieth Century« (dt. »Schule der Rebellen: Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand«) von Charles King. Das Buch beschäftigt sich mit dem Boas-Kreis und der Herausbildung einer antirassistischen Anthropologie und fängt dabei den Zeitgeist im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts ein. Es liefert interessante biografische Einblicke in die Leben der im Dunstkreis Boasʼ agierenden Anthropologinnen und Anthropologen und legt den Fokus auf Boas selbst, Ruth Benedict, Margret Mead und Zora Neale Hurston. Letztere findet derzeit in der Forschung viel Beachtung. Vermutlich weil sie als schwarze Schriftstellerin und Anthropologin sinnbildlich für die Chancen und Versäumnisse der sich damals neu formierenden Disziplin Kulturanthropologie steht: Die Boas-Schülerin Hurston feierte nicht nur als Schriftstellerin der Harlem Renaissance Erfolge,36 sondern entwickelte auch »key methodological and textual innovations«37 für die Disziplin der Kulturanthropologie, konnte aber letztlich nicht ihren Lebensunterhalt als Anthropologin bestreiten, da ihr als schwarze, alleinstehende Frau der Zugang zu Ressourcen verwehrt blieb und sie daher von weißen Gönnerinnen und Gönnern und schlecht bezahlter Arbeit im Dienstleistungssektor abhängig blieb.38 Lange Zeit war Hurston in der Fachgeschichte der Kulturanthropologie lediglich eine Randnotiz,

36 37

38

Vgl. Williams, Sherley Anne: Afterword. In: Zora Neale Hurston: Their Eyes Were Watching God. London: Virago Press 2018. S. 222-231. S. 222. Dunbar, Eve: Women on the Verge of a Cultural Breakdown: Zora Neale Hurston in Haiti and the Racial Privilege of Boasian Relativism. In: Indigenous Visions. Rediscovering the World of Franz Boas. Herausgegeben von Ned Blackhawk und Isaiah Lorado Wilner. New Haven, CT: Yale University Press 2018 (= The Henry Roe Cloud Series on American Indians and Modernity). S. 231-257. S. 234. Vgl. ebd. S. 238.

5. Fazit und Ausblick

bis das Interesse an ihr in den 90er Jahren erneut entbrannte.39 In ihrer Weitsichtigkeit war Hurston ihren Zeitgenossen weit voraus40 und erst heute findet ihr Werk die Beachtung, die es verdient. »Schule der Rebellen« ist als Hommage angelegt und betont vor allem die innovativen und progressiven Elemente der Boas’schen Kulturanthropologie, doch geht es auch vereinzelt auf die Punkte und Aspekte ein, die ein Fortbestehen rassistischer Ideen nahelegen.41 King legt die soziokulturellen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anthropologischer Wissensproduktion offen und thematisiert die Widersprüche einer Disziplin, die einerseits Teilhabe und Gleichberechtigung forderte, auf institutioneller und struktureller Ebene jedoch nicht in der Lage war, ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse in den USA ist »Schule der Rebellen« lesenswert, denn: Wollen wir Rassismus und Sexismus tatsächlich überwinden, ist es notwendig, sich mit den subtilen Ausschlussmechanismen zu beschäftigen, die ein wirklich demokratisches Miteinander untergraben.

39 40 41

Vgl. ebd. S. 232f. Siehe zum Beispiel Kendi, Ibram X.: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018. Siehe unter anderem King, Charles: Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. München: Carl Hanser Verlag 2020. S. 246.

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6. Literaturverzeichnis

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Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

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