Think Tanks im Gesundheitswesen: Deutsche Denkfabriken und ihre Positionen zur Zukunft der Gesundheit [1. Aufl.] 9783658297275, 9783658297282

Think Tanks sind in den USA bereits fester Bestandteil und machtvolle Institutionen zur Beeinflussung von Wirtschaft und

1,571 30 6MB

German Pages XI, 335 [332] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Think Tanks im Gesundheitswesen: Deutsche Denkfabriken und ihre Positionen zur Zukunft der Gesundheit [1. Aufl.]
 9783658297275, 9783658297282

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Front Matter ....Pages 1-1
Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen (Karl Friedrich Braun, Dominik Pförringer)....Pages 3-10
Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige Unternehmenskultur, Sinngebung und innovatives Personalmanagement gelingen können (Katharina Daniels, Karin Burtscher)....Pages 11-28
Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen Medizin im deutschen Gesundheitssystem aus ärztlicher Sicht (Wolf-D. Beecken)....Pages 29-44
Front Matter ....Pages 45-45
Stiftung Münch – Think Tank zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung (Boris Augurzky, Annette Kennel)....Pages 47-54
Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“ (Ingo Horak)....Pages 55-66
Ayinger Gesprächskreis (Alois G. Steidel)....Pages 67-71
Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw) (Alois G. Steidel)....Pages 73-77
Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life (Thomas Breisach)....Pages 79-88
Gesundheitsversorgung neu denken (Volker Amelung, Patricia Ex, Valerie Stutenbecker, Susanne Eble, Helmut Hildebrandt, Cornelia Kittlick et al.)....Pages 89-104
Think Tanks in der Onkologie (Florian Kron, Jennifer Bonn, Ina Veith, Hannah Muranko, Anna Kron, Jürgen Wolf et al.)....Pages 105-118
Initiative Gesundheitswirtschaft e. V. (IGW) – Gesundheitswirtschaft gehört zur Wirtschaft (Heinz Lohmann, Jörg F. Debatin, Dietmar Reese)....Pages 119-127
Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf – Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihre Ursachen im Fokus aller Lebenswelten. (Mark Dankhoff, Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Michael Wirtz)....Pages 129-141
Informationsnetzwerk Homöopathie – Ein homöopathiekritischer Think Tank (Natalie Grams, Christian W. Lübbers, Bettina Frank, Udo Endruscheit)....Pages 143-154
Front Matter ....Pages 155-155
Flying Health – Think Tank und Ökosystem für Next Generation Healthcare (Markus Müschenich, Laura Wamprecht, Christiane Meyer)....Pages 157-170
Denkfabrik BKK Young Talents – „Aus alten Gewohnheiten ausbrechen! Wer, wenn nicht wir?!“ (Sophie Dannenfeld, Sabrina Steffan, Julia Zink, Kathrin Wirler, Robert Ghukasyan)....Pages 171-185
Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise für eine enkeltaugliche Politik (Luise Tavera)....Pages 187-201
Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung der Medizinstudierenden als Stimme der zukünftigen Ärzteschaft (Julian Pascal Beier, Constanze Czimmeck, Sylvia Hartmann)....Pages 203-209
Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht – Der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0 (Stefan Krojer)....Pages 211-218
Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen (Mathias Krisam, Rebecca Janßen)....Pages 219-231
Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie (Ulrike Koock, Katharina Thiede, Katharina Bröhl, Christian Lübbers)....Pages 233-248
Healthcare Innovations – eine private Initiative zur Förderung von Innovationen im Gesundheitswesen (Sarna Röser, Marius Henkel, Tobias Krick)....Pages 249-259
SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0 (Henri Michael von Blanquet, Marion von Blanquet)....Pages 261-278
The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale (Ulrich Henning Pieper, Henri Michael von Blanquet, David Matusiewicz)....Pages 279-287
Front Matter ....Pages 289-289
Globale Zukunftstrends in Health Care für die deutsche Wirtschaft nutzen (Philipp Plugmann)....Pages 291-306
Global Health Think Tanks – Think Tanks im Bereich der Globalen Gesundheit (Mathias Bonk, Ole Döring, Timo Ulrichs)....Pages 307-324
Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern (Maike Henningsen, Joscha Hofferbert)....Pages 325-335

Citation preview

David Matusiewicz Hrsg.

Think Tanks im Gesundheitswesen Deutsche Denkfabriken und ihre Positionen zur Zukunft der Gesundheit

FOM-Edition FOM Hochschule für Oekonomie & Management Reihe herausgegeben von FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen, Deutschland

II



Bücher, die relevante Themen aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchten, sowie Lehrbücher schärfen das Profil einer Hochschule. Im Zuge des Aufbaus der FOM gründete die Hochschule mit der FOM-Edition eine wissenschaftliche Schriftenreihe, die allen Hochschullehrenden der FOM offensteht. Sie gliedert sich in die Bereiche Lehrbuch, Fachbuch, Sachbuch, International Series sowie Dissertationen. Die Besonderheit der Titel in der Rubrik Lehrbuch liegt darin, dass den Studierenden die Lehrinhalte in Form von Modulen in einer speziell für das berufsbegleitende Studium aufbereiteten Didaktik angeboten werden. Die FOM ergreift mit der Herausgabe eigener Lehrbücher die Initiative, der Zielgruppe der studierenden Berufstätigen sowie den Dozierenden bislang in dieser Ausprägung nicht erhältliche, passgenaue Lehr- und Lernmittel zur Verfügung zu stellen, die eine ideale und didaktisch abgestimmte Ergänzung des Präsenzunterrichtes der Hochschule darstellen. Die Sachbücher hingegen fokussieren in Abgrenzung zu den wissenschaftlich-theoretischen Fachbüchern den Praxistransfer der FOM und transportieren konkrete Handlungsimplikationen. Fallstudienbücher, die zielgerichtet für Bachelor- und Master-Studierende eine Bereicherung bieten, sowie die englischsprachige International Series, mit der die Internationalisierungsstrategie der Hochschule flankiert wird, ergänzen das Portfolio. Darüber hinaus wurden in der FOM-Edition jüngst die Voraussetzungen zur Veröffentlichung von Dissertationen aus kooperativen Promotionsprogrammen der FOM geschaffen.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12753

David Matusiewicz (Hrsg.)

Think Tanks im Gesundheitswesen Deutsche Denkfabriken und ihre Positionen zur Zukunft der Gesundheit

Hrsg. David Matusiewicz FOM Hochschule für Oekonomie & Management Essen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

ISSN 2625-7114 ISSN 2625-7122  (electronic) FOM-Edition ISBN 978-3-658-29727-5 ISBN 978-3-658-29728-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Margit Schlomski Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Denkfabriken im Gesundheitswesen geben wichtige Impulse und Denkanstöße für die Gesundheitspolitik und ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem. Als Denkfabriken (engl. Think Tanks) werden Organisationen (in der Regel Stiftungen, Vereine, (g)GmbHs oder informelle Gruppen) bezeichnet, die insbesondere durch wirtschafts-, sozial- und gesundheitspolitische Konzepte und Strategien Einfluss auf die Politikberatung und die öffentliche Meinungsbildung nehmen. In den USA sind Think Tanks inzwischen machtvolle Player der Gesundheitspolitik, weil Politiker ihre Argumentationshilfen nahezu routinemäßig nutzen. Ein Beispiel ist die Heritage Foundation, der nachgesagt wird, dass sie maßgeblich die US-Gesundheitsreform Obama Care beeinflusst hat. In Deutschland wurden erst in den 1960er- bzw. 1970er-Jahren praxisnahe Organisationen installiert, die sich unter anderem mit Fragestellungen rund um das Gesundheitswesen beschäftigen. Derzeit gibt es zahlreiche Think Tanks, wie beispielsweise politische Stiftungen (hierzu zählen Friedrich-Ebert-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung Hanns-Seidel-Stiftung, H ­ ans-Böckler-Stiftung, HeinrichBöll-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Rosa-Luxemburg-Stiftung), Stiftungen des öffentlichen Rechts (exemplarisch Stiftung Deutsches Krebsforschungszentrum) und schließlich Stiftungen des privaten Rechts (exemplarisch Robert Bosch Stiftung, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Bertelsmann Stiftung). Daneben gibt es aber auch noch eine ganze Reihe anderer Organisationsformen. Die „Next Generation Think Tanks“ wollen durch Positionspapiere, Diskussionen und Festivals frische Ideen für ein eingefahrenes Gesundheitswesen liefern. Seit ein paar Jahren geben zudem junge Initiativen, wie beispielsweise Young Lions Gesundheitsparlament, Denkschmiede Gesundheit oder die BKK Young Talents, inhaltliche Impulse und Denkanstöße. Es gibt aber auch neue (internationale) Formate wie SÜNJHAID! Networking for the Future of Health Sciences auf Föhr oder die ehemalige XPOMET in Berlin. Letztgenannte war ein Medizinfestival und wollte sich als globale Plattform für das Gesundheitssystem der nächsten Generation etablieren. Das vorliegende Buchprojekt legt einen ersten Überblick über die neuen Diskursstrukturen vor und beschäftigt sich mit den folgenden Fragen: Was sind und machen Think Tanks im Gesundheitswesen bzw. der Medizin? Welche gibt es und wie V

VI

Vorwort

unterscheiden sie sich? Welche Themen greifen sie auf und was sind ihre Ziele? Wer steckt überhaupt hinter der Gestaltung derartiger Plattformen? Und welchen Einfluss haben schließlich diese Organisationen auf das heutige und morgige Gesundheitssystem? Das sind die Fragen, die in diesem Mehrautorenwerk durch verantwortlich handelnden Personen aus den Organisationen differenziert und pointiert beantwortet werden. Das Buch gliedert sich in die folgenden Teile: • Einführung • Etablierte Think Tanks im Gesundheitswesen • Next Generation Think Tanks im Gesundheitswesen • Learnings aus dem Ausland Ich danke Linda Kaiser (Research Fellow am Institut für Gesundheit & Soziales (ifgs) der FOM Hochschule) für die hilfreiche Unterstützung sowie Kai Stumpp (Teamleiter Publikationen und Schriftleitung der FOM Hochschule) für die Betreuung. Auch beim Team von Margit Schlomski (Senior Editor bei Springer Gabler im Bereich VWL und Gesundheitsökonomie) in Wiesbaden möchte ich mich herzlich bedanken. Mein ganz besonderer Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die durch ihre Beiträge das Buch erst ermöglicht haben. Es lebe das Netzwerk. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen: Healthcare Leaders are Healthcare Readers.

Essen 01.08.2020

Prof. Dr. David Matusiewicz Dekan und Institutsdirektor Gesundheit & Soziales (ifgs), FOM Hochschule

Inhaltsverzeichnis

Teil  I Einführung 1

Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen. . . 3 Karl Friedrich Braun und Dominik Pförringer

2

Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige Unternehmenskultur, Sinngebung und innovatives Personalmanagement gelingen können. . . . . 11 Katharina Daniels und Karin Burtscher

3

Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen Medizin im deutschen Gesundheitssystem aus ärztlicher Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wolf-D. Beecken

Teil II  Etablierte Think Tanks im Gesundheitswesen 4

Stiftung Münch – Think Tank zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Boris Augurzky und Annette Kennel

5

Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Ingo Horak

6

Ayinger Gesprächskreis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Alois G. Steidel

7

Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Alois G. Steidel

8

Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Thomas Breisach

VII

VIII

9

Inhaltsverzeichnis

Gesundheitsversorgung neu denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Volker Amelung, Patricia Ex, Valerie Stutenbecker, Susanne Eble, Helmut Hildebrandt, Cornelia Kittlick, Wolfgang Klitzsch, Ralph Lägel, Ralf Sjuts, Jürgen Wasem, Thomas Ballast und Franz Knieps

10 Think Tanks in der Onkologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Florian Kron, Jennifer Bonn, Ina Veith, Hannah Muranko, Anna Kron, Jürgen Wolf, Christian Reinhardt und Michael Hallek 11 GInitiative Gesundheitswirtschaft e. V. (IGW) – Gesundheitswirtschaft gehört zur Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Heinz Lohmann, Jörg F. Debatin und Dietmar Reese 12 Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf – Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihre Ursachen im Fokus aller Lebenswelten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Mark Dankhoff, Elisabeth Steinhagen-Thiessen und Michael Wirtz 13 Informationsnetzwerk Homöopathie – Ein homöopathiekritischer Think Tank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Natalie Grams, Christian W. Lübbers, Bettina Frank und Udo Endruscheit Teil  III Next Generation Think Tanks im Gesundheitswesen 14 Flying Health – Think Tank und Ökosystem für Next Generation Healthcare. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Markus Müschenich, Laura Wamprecht und Christiane Meyer 15 Denkfabrik BKK Young Talents – „Aus alten Gewohnheiten ausbrechen! Wer, wenn nicht wir?!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sophie Dannenfeld, Sabrina Steffan, Julia Zink, Kathrin Wirler und Robert Ghukasyan 16 Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise für eine enkeltaugliche Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Luise Tavera 17 Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung der Medizinstudierenden als Stimme der zukünftigen Ärzteschaft. . . . . . . . . . 203 Julian Pascal Beier, Constanze Czimmeck und Sylvia Hartmann 18 Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht – Der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Stefan Krojer 19 Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen. . . . 219 Mathias Krisam und Rebecca Janßen

Inhaltsverzeichnis

IX

20 Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie. . . . . . 233 Ulrike Koock, Katharina Thiede, Katharina Bröhl und Christian Lübbers 21 Healthcare Innovations – eine private Initiative zur Förderung von Innovationen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sarna Röser, Marius Henkel und Tobias Krick 22 SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0 . . . . . . . . . 261 Henri Michael von Blanquet und Marion von Blanquet 23 The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale . . . . . . . . . . . . . 279 Ulrich Henning Pieper, Henri Michael von Blanquet und David Matusiewicz Teil IV  Learnings aus dem Ausland 24 Globale Zukunftstrends in Health Care für die deutsche Wirtschaft nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Philipp Plugmann 25 Global Health Think Tanks – Think Tanks im Bereich der Globalen Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Mathias Bonk, Ole Döring und Timo Ulrichs 26 Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern . . . . . . . . . . 325 Maike Henningsen und Joscha Hofferbert

Über den Herausgeber

Foto: Tom Schulte/FOM

David Matusiewicz ist Professor für Medizinmanagement an der FOM Hochschule – der größten Privathochschule in Deutschland. Seit 2015 verantwortet er als Dekan den Hochschulbereich Gesundheit & Soziales und leitet als Direktor das Forschungsinstitut für Gesundheit & Soziales (ifgs). Darüber hinaus ist er Gründungsgesellschafter des Essener Forschungsinstituts für Medizinmanagement (EsFoMed GmbH) und unterstützt als Gründer bzw. Business Angel technologie-getriebene Start-ups im Gesundheitswesen. Matusiewicz ist zudem in verschiedenen Aufsichtsräten (Advisory Boards) sowie Investor von Unternehmen, die sich mit der digitalen Transformation des Gesundheitswesens beschäftigen. Vor seiner Professur arbeitete er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Jürgen Wasem am Alfried Krupp von Bohlen und HalbachStiftungslehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen in den Arbeitsgruppen „Gesundheitsökonomische Evaluation und Versorgungsforschung“ sowie „Gesundheitssystem, Gesundheitspolitik und Arzneimittelsteuerung“. Berufserfahrung sammelte Matusiewicz bis 2017 zudem in der Stabsstelle Leistungscontrolling in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Betriebskrankenkasse u. a. von Thyssen Krupp). Er ist zudem Gründer der Digital Health Academy mit Sitz in Berlin und des Medienformats Digi Health Talk.

XI

Teil I Einführung

1

Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen Karl Friedrich Braun und Dominik Pförringer

Inhaltsverzeichnis 1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.1 Hintergrund Denkfabriken, ursprünglich abhörsichere Räume zur Entwicklung militärischer Strategien in Zeiten des Krieges, haben sich in den letzten Jahrzehnten in allen relevanten Branchen rasch vermehrt. Die Hälfte der heute über 6000 existenten „Think Tanks“ bestehen erst seit 1980 (McGann 2010). Dieser Zuwachs erklärt sich unter anderem durch die Entwicklung von (innovativen) Lösungskonzepten für verschiedenste politische, gesellschaftliche, ökonomische und/oder medizinische Problemstellungen – in der Hoffnung, diese in aller Regel unabhängig und frei zu gestalten. Diese gedankliche und gestalterische Freiheit nutzend, etablieren sich heutzutage erfreulicherweise viele Denkfabriken zum Thema Innovation im Gesundheitswesen in Deutschland. Insbesondere an den universitären Klinikstandorten wie zum Beispiel

K. F. Braun  Charité Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Pförringer (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_1

3

4

K. F. Braun und D. Pförringer

in Essen (Prof. Dr. Werner und Prof. Dr. Matusiewicz), in Berlin (Dr. Müschenisch, PD Dr. David Back), in Mainz (PD Dr. Sebastian Kuhn), in Hamburg (PD Dr. Maike Henningsen) und in München (Dr. Roman Rittweger), entwickeln sich Schlüsselstandorte meistens geleitet durch Vordenker der modernen medizinischen Versorgung. Diese Zentren tauschen sich durch den Einsatz neuer Medien regelmäßig aus, um gemeinsam an fruchtbaren Lösungskonzepten für die zukünftigen medizinischen Herausforderungen zu arbeiten – allerdings ist diese Zusammenarbeit ausbaufähig. Mit der kürzlichen Gründung des Healthcare Innovation Hub in Berlin, dem ausgelagerten Brückenkopf des Bundesministeriums für Gesundheit, gewinnt die Thematik weiter an Relevanz und Momentum (Bundesministerium für Gesundheit 2019). Unter der Leitung des umfassend sowohl in Medizin als auch Ökonomie erfahrenen Professor Dr. Jörg Debatin werden relevante Informationen an das Ministerium geliefert sowie die Strategien aus dem Ministerium auf Markttauglichkeit und -relevanz getestet. Gemäß einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung, welche Deutschland einen hohen Aufholbedarf im Bereich Digitalisierung des Gesundheitswesens attestiert, zeigt sich die dringende Notwendigkeit der Koordination und Zusammenarbeit der vorgenannten Köpfe und Zentren, wenn wir die rote Laterne in der modernen und digitalen Medizin wieder abgeben wollen (Abb. 1.1). (Bertelsmann-Stiftung 2018). Das Balkendiagramm in Abb. 1.1 schlüsselt die einzelnen Ergebnisse auf: An der Spitze findet sich Estland mit einem Wert im Digital-Health-Index von 81,9. Auf dem

Abb. 1.1   Digital-Health-Index (Bertelsmann-Stiftung 2018)

1  Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen

5

letzten Platz liegt Polen mit dem niedrigsten Index-Wert von 28,5. Knapp darüber liegt Deutschland mit 30,0. Dieser notwendige Gedankenaustausch und das gemeinsame Querdenken ist durch eine Vielzahl an Konferenzen, welche Offenheit und Dialogbereitschaft signalisieren, bereits in Gange: Unter anderem die ETIM in Essen (https://etim.uk-essen.de/), die Frontiers Health in Berlin, die DMEA in Berlin, der Digital Health Summit (www. digitalhealthsummit.de) in München katalysieren den angestrebten Meinungsaustausch und die Priorisierung/Fokussierung der einzelnen Aktivitäten. Allerdings ist diese Form der Zusammenarbeit bei Weitem noch nicht ausreichend, um den großen Herausforderungen des digitalen Wandels in der Medizin adäquat zu begegnen. Woran es in diesem Kontext noch klar mangelt, ist die dauerhafte und strukturierte Koordination und Kooperation, sprich eine Institutionalisierung des Austauschs, eine Plattform für Zusammenarbeit auf intellektueller und wissenschaftlicher Ebene. Erfreulicherweise entscheiden sich mehr und mehr Universitätskliniken, einen Lehrstuhl für digitale Medizin zu etablieren und kompetent zu besetzen.

1.1.1 Erwartungshaltung Es hat sich über die Jahre gezeigt, dass insbesondere die derzeitige Kommunikation zwischen ärztlichen und nicht-ärztlichen Innovationstreibern eine deutliche Asymmetrie und zugleich zu geringe Frequenz aufweist. Dies führt zum einen zu erheblichen Verzögerungen der Weiterentwicklung und zu einer unnötig erhöhten Komplexität in der Kommunikation. Vereinfacht gesagt fehlt es an einer gemeinsamen Sprache, was bedauerlicherweise allzu oft zu unnötigen Missverständnissen führt. Die zeigt sich unter anderem in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im April 2019: „Zu wenig Ärzte wollen das Internet“ (Mihm 2019, www.faz.de). Wollen sich die Mediziner wirklich der modernen digitalen Welt verschließen oder zeigt sich hier vielmehr der Kernpunkt der Problematik? Es wird zu wenig oder gar nicht miteinander gesprochen, oft, weil die Ärzte die IT-Welt und ihre Möglichkeiten nicht kennen und die IT-Entwickler nicht wissen, welche digitale Transformation in der Medizin wirklich sinnvoll und realistisch umsetzbar ist. Umfragen und Literatur zeigen, dass die Ärzteschaft per se offen ist, sich der Digitalisierung zu öffnen, jedoch die technischen Methoden entweder nicht zur Verfügung stehen (begonnen bei flächendeckendem WLAN in Kliniken), oder die rechtlichen Rahmenbedingungen dies deutlich erschweren. Diese Tatsache ist äußerst bedauerlich, da die Vergangenheit beweist, dass dies zu einer Verschleppung des Fortschritts und Energieverschwendung der eingesetzten Kräfte führt. Daher bleibt zu wünschen, dass sowohl die vorhandenen Innovationsstandorte sich untereinander noch besser vernetzen als auch, dass innerhalb der Kliniken eine Katalyse hinsichtlich des Austausches zwischen IT, Ökonomie und Medizin gefördert wird, um die so dringend benötigten Innovationen zu entwickeln und zu implementieren.

6

K. F. Braun und D. Pförringer

Abb. 1.2   Stellenwert der digitalen Medizin (Vogt et al. 2018)

Wünschenswert ist es daher an jedem Hochschulstandort einen zuständigen Innovationsmotor für das Thema digitale Medizin in Forschung, Lehre und Patientenversorgung in Form eines Lehrstuhls für digitale Medizin zu schaffen. Dies ist dringend angezeigt, um dem deutlichen Ungleichgewicht zwischen denen, die über Digitalisierung fantasieren, visionieren oder youtubisieren, und denen, die etwas konkret umsetzen entgegenzuwirken. Denn die Bedeutung der digitalen Medizin ist eindeutig (Abb. 1.2). Neben den innerklinischen Aufgaben in der Gestaltung einer zeitgemäßen Patientenversorgung, warten auf diese künftigen Lehrstuhlinhaber kontinuierlich zu bewertende Neuerungen aus dem Bundesgesundheitsministerium sowie den lokalen Gesundheitsministerien. Ihnen obliegt die Aufgabe der Kommunikation durch Konferenzen sowie selbstverständlich von Onlineplattformen zur Informations- und Aufklärungserleichterung der Patienten (gesteigerte Patientenautonomie) sowie der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegenden im Sinne einer „digital health literacy“.

1.1.2 Rahmenbedingungen Digitalisierung in der Medizin ist wie Teenage-Sex. Jeder spricht darüber, jeder denkt, der andere sei weiter als er selbst, und die wenigsten wissen, worum und wie es wirklich geht. Um dieser Unwissenheit und vor allem Unsicherheit entgegenzuwirken bedarf es klar definierter Leitstrukturen. Diese Rahmenbedingungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen müssen auf politischen, rechtlichen und finanziellen Faktoren aufbauen. Die Politik muss die notwendigen Themen entsprechend aufgreifen und vorantreiben, sie muss die Akzeptanzförderung unter Ärzten, Pflege und Patienten aktiv vorantreiben, sie muss das gesetzliche Gerüst schaffen, um der Digitalisierung zu mehr Momentum zu verhelfen. Insbesondere die rechtlichen Unsicherheiten im Datenschutz

1  Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen

7

müssen rasch und verbindlich, jedoch vor allem innovationsoffen gelöst werden. Ebenfalls müssen die finanziellen Mittel zur Umsetzung zur Verfügung gestellt werden und unter anderem die Kliniken mutiger ihr Digitalbudget aufstocken – denn bisher werden weniger als drei Prozent des Gesamtbudgets deutscher Krankenhäuser jährlich in digitale Lösungen investiert. Da wir uns in einer Aufholsituation befinden, ist es absolut relevant, diese Prozentsätze adäquat zu steigern und hoch zu halten, bis Deutschland wieder eine Spitzenposition inne hat. Der sichere, schnelle und strukturierte Austausch medizinischer Informationen stellt einen der wichtigsten Eckpfeiler der Digitalisierung im Gesundheitswesen dar. Die bisherige relativ ungerichtete Digitalisierung mit der Konzentrierung von Informationsund Kommunikationstechnologien auf separate Einheiten oder Sektoren führt zu einer endlosen Heterogenität in diesem Gebiet. Die dadurch entstandenen Einzellösungen erschweren die weitere Vernetzung der fachgebiets- und sektorenübergreifenden Prozesse und führen damit zu erheblichen Verzögerungen. Im Ergebnis dessen ergibt sich ein nicht zu geringer Aufwand für Arztpraxen, Krankenhäuser etc. bei der Übermittlung und Weiterverarbeitung vorliegender Daten in elektronischer Form. Hier gilt es an einer einheitlichen und gemeinsamen Lösung zu arbeiten. Ohne eine adäquate digitale Ausbildung der Anwender wird es nahezu unmöglich, den digitalen Wandel zu beflügeln. Wenn der Arzt oder die Pflegekraft nicht wissen, wie mit der neuen Technologie adäquat umgegangen werden soll, wie soll Digitalisierung dann überhaupt ihren Nutzen entfalten? Erst in diesem Sommersemester 2019 hat im Medizinstudium an den Universitäten Marburg/Gießen ein Teilbereich „digitale Medizin“ Einzug gehalten – im Bereich der Pflegeschulen sieht es nicht besser aus. Eine Kernaufgabe der Denkfabriken muss daher neben der Kommunikationsverbesserung und dem Brückenbau zwischen den beteiligten Partnern somit der Dialog mit der Politik, die Identifikation der zu schließenden Lücken sowie die Allokation künftiger Investitionen sein (Abb. 1.3). Abb. 1.3 verdeutlicht klar, wieso die technische Infrastruktur den Schlüssel zur Innovationskraft darstellt.

1.2 Ausblick Wie kann man diese Hürden des digitalen Wandels nun erfolgreich nehmen? Wünschenswert wäre eine sogenannte „Regulatory Sand Box“, ein geschützter Raum innerhalb des Gesundheitswesens, der Experimente, Feldversuche und damit Innovation zulässt und deren realitätsnahe Erprobung zulässt – rechtlich abgesichert und ausreichend finanziert. Der Flaschenhals der Innovation ist zumeist ein finanzieller. Aus diesem Grunde erscheint ein kurzfristiger finanzieller Fördermittelzuschuss aus dem Bund für alle deutschen Kliniken und Praxen sinnvoll. Dieser kann sehr spezifisch für die Aktualisierung des technischen Zustandes und die Aufrüstung der Gesundheitseinrichtungen mit Hard- und Software genutzt werden.

8

K. F. Braun und D. Pförringer

Abb. 1.3   Die digitale Brücke in der Medizin

Die Zukunft des Gesundheitswesens ist zweifelsohne digital. Die Innovationen werden die Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegenden und Patienten erleichtern, Diagnoseschritte verbessern, Behandlungspläne optimieren und damit vor allem die Qualität und Sicherheit unseres Gesundheitssystems als Ganzes verbessern. Digitalisierung kann und wird den Fokus wieder auf die Schlüsselperson richten: den Patienten und seine Gesundheit. Es ist daher unabdingbar, die Digitalisierung im Gesundheitswesen zusammen mit der gedanklichen Freiheit von Denkfabriken und den offensichtlich folgenden Kernproblemen voranzutreiben: 1. Digitale Gesundheitskompetenz – lehren, verstehen, umsetzen: Es ist entscheidend, alle Angehörigen der Gesundheitsberufe (Studenten, Krankenschwestern, Ärzte, Administratoren) auszubilden, damit sie ein grundlegendes Verständnis davon haben, was die Digitalisierung verbessert und wie sie wirklich genutzt werden kann. 2. Schnelle Innovation – Lernen vor Ort: Um die Umsetzung innovativer Technologien zu beschleunigen, müssen wir die deutsche Erschöpfung überwinden und „Krieger und keine Sorgenträger“ sein und dabei intelligente und problemorientierte Lösungen einsetzen.

1  Erwartungshaltung an Denkfabriken im deutschen Gesundheitswesen

9

3. Erhöhung der IT-Budgets: Innovation hat zweifellos zuerst ihren Preis. Wir müssen das zugewiesene Budget deutlich erhöhen und dürfen unser Wachstum nicht durch engstirnige, kurzfristig gedachte Berechnungen lähmen. 4. Digitale Strategie: Es ist wichtig, eine Strategie der Digitalisierung zu diskutieren, zu implementieren und zu verfolgen – eine Strategie, die von jedem Krankenhaus, jeder Praxis oder Klinik nach deren Bedürfnissen entwickelt und vor allem nach einem Zeitplan anhand von Meilensteinen überwacht wird. Wir empfehlen, einen Chief Digital Officer einzustellen. 5. Interdisziplinärer Austausch: Kontinuierliche funktionsübergreifende Kommunikation ist der Schlüssel zur Verbesserung einer patientenorientierten digitalen Gesundheitsversorgung – wir müssen das Gesamtbild sehen und alle Gesundheitsdienstleister einbeziehen. 6. Rechtssicherheit: Es bedarf einer langfristigen Strategie und der Installation entsprechender juristischer Leitplanken, um allen Akteuren im Gesundheitswesen die Planung und Implementierung digitaler Innovation zu ermöglichen. 7. In jedem Dialog, auf jeder Konferenz, jeder Podiumsdiskussion wird der eklatante Mangel an Informationen und fehlende Austausch der involvierten Akteure deutlich. Vorhandene Ressentiments, Ängste und Bedenken gilt es abzubauen, die Kommunikation zu fördern und kontinuierlich aufrecht zu halten. Teilaufgabe der Denkfabriken ist also nicht nur das reine Denken, die intellektuelle Aufgabe des Ersinnens von Lösungen, sondern weit darüber hinaus, die Kommunikation, die Information und das Entwickeln eines konkreten Schlachtplanes, der dem Deutschen Gesundheitswesen erfolgreich der Sprung in die digitale Zukunft ermöglicht. Die Grundvoraussetzungen sind parat, die Infrastruktur ist vorhanden, die notwendige Intelligenz ebenso, durch eine erfolgreiche Vernetzung all dessen und dem Willen zur Zusammenarbeit kann und wird dies gelingen.

Literatur Bertelsmann-Stiftung. (2018). Digitale Gesundheit: Deutschland hinkt hinterher. https://www. bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/november/digitale-gesundheitdeutschland-hinkt-hinterher/. Zugegriffen: 11. Nov. 2019. Bundesministerium für Gesundheit. (2019). Health Innovation Hub startet. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2019/health-innovation-hub.html. Zugegriffen: 11. Nov. 2019. McGann. J. G. (2010). The leading public policy research organizations in the world. (PDF, 801 kB) University of Pennsylvania, Januar 2010. Mihm, A. (2019). Zu wenige Ärzte wollen Internet. FAZ.net. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ diginomics/zu-wenige-aerzte-wollen-internet-16153851.html. Zugegriffen: 11. Nov. 2019. Vogt, F., Seidl, F., Santarpino, G., van Griensven, M., Emmert, M., Edenharter, G., & Pförringer, D. (2018). Healthcare IT utilization and penetration among physicians: Novel IT solutions in healthcare – Use and acceptance in hospitals. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30048992. Zugegriffen: 11. Nov. 2019.

10

K. F. Braun und D. Pförringer

Priv.-Doz. Dr. med. Karl F. Braun ist Orthopäde und Unfallchirurg an der Charité in Berlin. Neben seiner klinisch orientierten Arbeit und Forschung konzentriert er sich derzeit auf die digitale Transformation in Krankenhäusern und im Gesundheitswesen. Priv.-Doz. Dr. Dominik Pförringer ist Orthopäde und Unfallchirurg in München. Mit seinem Vollzeit-MBA am INSEAD hat er seine Neugierde auf den digitalen Gesundheitssektor weiterentwickelt. Neben seiner medizinischen Tätigkeit fördert er aktiv Ventures, Unternehmer und Industrie. Zudem berät er Investoren im Bereich des digitalen Gesundheitswesens.

2

Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige Unternehmenskultur, Sinngebung und innovatives Personalmanagement gelingen können Katharina Daniels und Karin Burtscher

Inhaltsverzeichnis 2.1 Einführung: Braucht die Unternehmensform Klinik einen Sinn?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2 Führungskultur: Was zeichnet Leadership aus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.3 Mitarbeiteridentifikation: „Das ist meine Klinik“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Personalverantwortung: Konzepte und Projekte aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.5 Bilanz und Ausblick: Wie Sinn in der Klinik gelingen kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

2.1 Einführung: Braucht die Unternehmensform Klinik einen Sinn? Die Kultur des miteinander Arbeitens rückt in den Fokus. Das zeigen unter anderem eindrücklich die Kongressprogramme in der Gesundheits- und Klinikbranche: Auslöser ist nicht selten die Suche nach ärztlichem oder pflegerischem Nachwuchs. Der Arbeitsplatz für einen Facharzt für Innere Medizin bleibt im Schnitt 170 Tage unbesetzt und auf eine Führungskraft in der Pflege (vgl. dazu auch Abschn. 2.2.1) warten laut Hauptstadtkongress im Mai 2019 Arbeitgeber immerhin noch rund 80 Tage. „Markenbildung gegenüber potenziellen Mitbewerbern“ hob der Gesundheitskongress des Westens im März 2019 in sein Programm, um „die begehrten Fachkräfte“ ans Haus zu holen.

K. Daniels (*) · K. Burtscher  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Burtscher E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_2

11

12

K. Daniels und K. Burtscher

Der Arbeitgeber als Marke zum Zwecke der Personalrekrutierung (Employer Branding) steht heute vor der Herausforderung „weicher“ Faktoren, weit über die bekannten Markenbildungsinstrumente wie Work-Life-Balance-Programme, Bildungsangebote und medizinische Exzellenz der Klinik hinaus. Die Arbeitgebermarke lebt zunehmend von eher schwer fassbaren Faktoren wie Unternehmenskultur; mehr noch sieht sich Personalmarketing mit der Frage nach Sinngebung und -erfüllung konfrontiert: „Warum sollte ich ausgerechnet in dieser Klinik arbeiten?“ ist eine Frage, die heute gerade bei ärztlichem als auch bei pflegerischem Nachwuchs vorrangig ist, verbunden mit der Sehnsucht nach Sinn im beruflichen Tun und Kontext. Nun scheint die Unternehmensform Klinik den Sinn bereits selbstreferenziell in zu bergen: durch den existenziellen Zweck, Patienten zur Gesundung zu verhelfen. In dem Maße allerdings, in dem Kliniken sich nach Einführung der Fallpauschale zu wettbewerbsfokussierten Wirtschaftsunternehmen entwickelt haben, wird der Patient zur Berechnungsgröße, Zweck und Sinn sind nicht identisch. Zugleich sehen sich die Angestellten im ärztlichem und im pflegerischen Bereich mit einem grundlegenden Wandel ihres Berufsbildes konfrontiert. Begriffe wie „Kunde“ und „Markt“ „klingen für ärztliche Ohren fast blasphemisch“ (Hollmann und Sobanski 2015). Da drängt sich die Sinnfrage direkt auf: Was ist eine sinngebende und sinnerfüllte Klinik? Sinn im Unternehmensbezug hat eine doppelte Bedeutung (Fink und Möller 2018): als emotional-individuelle Komponente einerseits: „meine Arbeit motiviert mich und gibt mir Energie“. Als sachlich-inhaltliche Komponente andererseits: Hier geht es um das „Wofür“ der Organisation, um deren ultimatives Ziel. Wenn nun als sinngebendes Moment der „Patient im Mittelpunkt“ und die wettbewerbsgerechte Aufstellung der Klinik nicht selten einen Zielkonflikt generieren – dann braucht es für das „Wofür“ einen umfassenderen Ansatz. Der Begriff der „Purpose Driven Organizations“ fußt auf dem Verständnis einer Organisation als sozialem System, welches sich durch seine Entscheidungsprämissen seinen individuellen Sinn verleiht. Warum definiert diese Klinik Strukturen und Prozesse so und nicht anders? Warum entscheiden sich die Akteure für diese Art der Hierarchien, Kommunikationswege und personelle Zusammensetzung? Das alles Verbindende, das „Gewebe“ formaler Entscheidungsvorgaben spiegelt sich in der Unternehmenskultur. Hier spannt sich der Bogen zum Patienten. Studien belegen, dass Patientenzufriedenheit (siehe „Patientenzufriedenheit und Klinikkultur“1) über die unmittelbare Partizipation im Arzt-Patientenverhältnis hinaus auch aus der Wahrnehmung der Klinikkultur resultiert. Je partizipativer sich das interprofessionelle Miteinander der Akteure in der Klinik darstellt, desto stärker die positive Wirkung auf den Patienten. Der Brite Gerry Johnson, Inhaber einer Managementprofessur an der englischen Lancaster University, beschreibt Organisationskultur als Netzwerk interner Strukturen

1https://docplayer.org/47269257-Die-bedeutung-von-interprofessioneller-teamarbeit-fuer-diepatientenzufriedenheit-in-der-behandlung-chronischer-erkrankungen.html

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

13

und Prozesse, welche die Selbstwahrnehmung einer Organisation kontinuierlich sowohl erzeugen als auch verstärken. Er bezieht sich dabei auf den Vordenker und Sozialwissenschaftler Edgar Schein, der als einer der Mitbegründer von Organisationsentwicklung – und -psychologie gilt. Das Modell „Kulturnetz“ definiert insgesamt sechs Themengebiete, aus deren Gesamtcharakter sich das Paradigma, die alles überspannende Grundannahme, der Organisation entwickelt. Die sechs Charaktermerkmale einer Organisation sind • Geschichte und Geschichten, eine Art organisationales Gedächtnis, • Symbole, die das Miteinander regeln (wie etwa das Chefarztvorzimmer) als auch eindeutige Markierungen nach außen wie ein Unternehmenslogo, • Machtstrukturen, die klassischen Hackordnungen: Wer hat wem was zu sagen? • Organisationsstrukturen, die auch informelle Phänomene erfassen, wie Cliquen abteilungsübergreifender Natur (wer sitzt mit wem regelmäßig am Mittagstisch zusammen?) • Kontroll- und Steuerungssysteme; auch hier in einer Mischung aus formalen und informellen Faktoren (Figur des heimlichen Anführers) – sowie • Rituale und Routinen. Wann werden bestimmte Veranstaltungsformate festgesetzt? Welcher Umgangston herrscht hier? Beispielsweise eine Duz- oder eine Siez-Kultur in einer Abteilung? Das „Kulturnetz“ übt Signalwirkung auch auf potenzielle Mitarbeiter aus. Ist diese Klinik die Richtige für mich? Zugleich bedeutet es für die Angestellten der Klinik das Moment der positiven Identifikation – oder umgekehrt den Auslöser, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Personalrekrutierung und Mitarbeiterbindung gehen dabei Hand in Hand. Mitarbeiter, die „ihre“ Klinik positiv konnotieren, sind die besten Botschafter für ihren Arbeitgeber. Aus Sicht eines strategisch fundierten Personalmanagements nehmen wir zuerst die Führungskultur als Kernmerkmal von Unternehmenskultur in den Fokus.

2.2 Führungskultur: Was zeichnet Leadership aus? Historisch-philosophisch betrachtet sind Führung und Gefolgschaft dem menschlichen Genom eingeschrieben – und, über den anthropozentrischen Blickwinkel hinaus, wohl fast jeder kreatürlichen Lebensform auf unserem Planeten. Die eigentliche Frage ist, wie Führung verstanden wird. Seit der Antike umkreisen Geisteswissenschaftler, Naturforscher und Kreativschaffende das Wesen von Führung. Lag das Hauptaugenmerk von Platon und Aristoteles auf dem gesellschaftlichen und politischen Kontext von Führung, so widmeten sich Shakespeare und Machiavelli den Ambitionen des Individuums. Marx, Darwin und Weber rückten im industriellen Zeitalter rationale, normative und biologische Perspektiven in den Fokus. In der Moderne verkörpert Freud den Beginn

14

K. Daniels und K. Burtscher

einer verhaltens- und persönlichkeitsorientierten Betrachtung des Führenden (Enste 2013). Im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung, in einer VUCA-Welt mit einer immer noch exponentiell wachsenden Dynamik der Entwicklungen, gewinnt das Modell partizipativer Führung an Aufmerksamkeit: Hier wird der Führungsbegriff von der starren Funktion entkoppelt und situativ-aufgabenbezogen gedacht: Höchstmögliche Autonomie jedes Einzelnen in seiner definierten Aufgabe korrespondiert mit hoher individueller Verantwortung und einem unaufhörlichen Lernprozess; hin zur lernenden, „sich neu erfindenden“ Organisation (Laloux 2014).

2.2.1 Neuralgische Denk- und Handlungsfelder in Kliniken Ein stark ausgeprägtes Hierarchiedenken, die Trennung der drei Säulen Ärzteschaft, Pflege, Verwaltung sowie ein starres Rollen- und Funktionsdenken: Das sind die Ingredienzien, die auch heute noch den Charakter des Gros der Kliniken kennzeichnen. Merkmale, die ein flexibles, auf Dynamik der Entscheidungen ausgelegtes Denken und Handeln erschweren. Wenig zeitgemäße Konnotationen von Funktionshoheit, elitärem Berufsbild und caritativem Ethos bilden den Rahmen einer „wenig veränderungsfreudigen Unternehmenskultur“ (Hollmann und Sobanski 2015), die sich, im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbranchen, schwertut mit heute schon feststehenden Begriffen wie agiles Management (Abschn. 2.4.3), flache Hierarchien und Anerkennungskultur (Abschn. 2.5). Nehmen wir die Figur des Chefarztes: Ja, es gibt immer mehr Chefärzte und Leitende Ärzte, die sich aufgeschlossen zeigen für neue Rollenverständnisse. Aber: Der „Typus“ Chefarzt, der sich als Alleinherrscher seines kleinen „Fürstentums“ wähnt, ist durchaus noch in den Klinikfluren präsent. Dieser „Typus“ schreckt so manchen ärztlichen Anwärter ab. „Speziell im Bereich Führungsqualifikation haben viele Leitende Ärzte bis auf wenige Naturtalente noch erhebliche Defizite“, prononciert ein hoher Funktionsträger im medizinischen Verbandswesen im Interview (Hollmann 2013). Im Pflegebereich stellen sich andere Gewichtungen als problematisch heraus. Das Selbstbild der aufopfernd-selbstlosen Florence Nightingale ist durchaus noch heute prägend für das Verständnis dieses Berufs – und trägt viel zur Motivation Auszubildender bei, „ich helfe den Menschen“. Kommt diese Pflegekraft dann ins „Getriebe“ der Klinik, gerät das altruistische Selbstverständnis sehr rasch in einen unauflösbaren Widerspruch mit den Herausforderungen einer Führungsposition im Pflegebereich, in der managementorientiertes Verständnis und Denken erforderlich ist. Eine zunehmende Realitätsdepression ist oft beobachtbar die Folge. Der Beruf als solcher verliert zunehmend an Attraktivität; die fast schon verzweifelte Suche von Kliniken nach Pflegekräften – auch im Ausland – zeichnet ein unmissverständliches Bild. In der Praxis konnten wir, weit über die im Hauptstadtkongress genannten 80 Tage Wartezeit hinaus, Vakanzen von bis einem Jahr beobachten.

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

15

2.2.2 Zukunftsfähige Führungskultur: Rahmen geben, Freiräume schaffen Unternehmenskultur ist in hohem Maße eine Frage der Führungskultur. In welchem Maße Mitarbeiter sich engagieren und bereit sind, Veränderungen nicht nur mehr oder minder begeistert mitzugehen, sondern sie im Idealfall entscheidend mitzugestalten – das hängt im Überbau von drei Faktoren ab: • Gibt es eine Vision? Eine übergeordnete Vorstellung davon, wohin diese Klinik will, welche Rolle sie in Wirtschaft und Gesellschaft spielen will? • Wie transparent und klar ist die strategische Ausrichtung der Klinik? Gibt es überhaupt eine solche, die diesen Namen verdient? • Wie verständlich und nachvollziehbar sind Ziele formuliert? Sowohl qualitativ als auch quantitativ? Die drei Faktoren gewinnen für die Unternehmenskultur (Albrecht und Töpfer 2017) dann an Leben, wenn Vision, Strategie und Ziele nachvollziehbar und vor allem erlebund gestaltbar sind auch für die Mitarbeiterschaft, den „Korpus“ des Unternehmens (Abschn. 2.5). Wie oft ist aus Mitarbeiterreihen beispielsweise zum Leitbild einer Klinik zu hören: „Liest sich ja alles ganz wunderbar. Hat aber mit der Realität nichts zu tun!“ Teamführung und -fähigkeit: Ein Merkmal von Leadership In der Interaktion im Arbeitsumfeld zeigt sich die Fähigkeit der Führungskraft zum Leadership. Ist der oder die jeweils Führende in der Lage und bereit, Inspirationen, als auch gegebenenfalls kritische Anmerkungen, aus dem Team zu würdigen und konstruktiv für die gemeinsame Aufgabenstellung zu integrieren? Der Begriff des „Followership“ bezeichnet rein formal die Handlungsweise eines Menschen in subordinierter Funktion. Wie aber verhält sich der Mitarbeiter in dieser Funktion? Folgt er „blind“ den Anordnungen des Vorgesetzten? Ist er von Angst durchdrungen, eigene Ideen einzubringen oder gar Widerworte? Oder ist er inspiriert, seine Überlegungen zugunsten des Umfeldes, in dem er tätig ist, zu entfalten, Verantwortung zu übernehmen? Auch quer zu funktionalen Hierarchien und Alter? Hier ist in jüngster Zeit der Begriff des „Reverse Mentoring“ entstanden: Entgegen der gesetzten Vorstellung, es seien immer der hierarchisch Höherstehende oder die Älteren, die aufgrund ihres Wissensvorsprungs Mentoren sind, evoziert speziell die Digitalisierung einen grundlegenden Perspektivenswitch. In Sachen technologischer Entwicklung haben die sogenannten Digital Natives die Nase vorn. Das Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ fasst das in den eingängigen Titel: „Wenn der Azubi plötzlich den Chef coacht“.

16

K. Daniels und K. Burtscher Digitalisierung und Reverse Mentoring in einer bayerischen Klinik

Seit April 2019 ist Karin Burtscher Personal- und Akademieleiterin an einem großen kommunalen Klinikum in Bayern. In den vielen, gerade in der Einarbeitungszeit anstehenden, Mitarbeitergesprächen eröffnet ihr eine junge Personalsachbearbeiterin Einblicke in Wunsch und Wirklichkeit der Digitalisierung. Programme zur Verschlankung von Prozessen und zur Entlastung von Personalern von rein operativen Aufgaben stehen zur Verfügung. Noch aber scheinen die Berührungsängste seitens einiger Mitarbeiter, die nicht in der Personalabteilung tätig sind, vor der Technologie zu überwiegen. Auf Wunsch dieser nicht digitalaffinen Mitarbeiter druckt die Personalabteilung immer noch Antragsformulare aus, die dann handschriftlich von den Antragstellenden ausgefüllt und erneut ins System eingespeist werden müssen. Die digitalen Workflows werden nicht effizient genutzt: So kann jeder Mitarbeiter, der einen Antrag stellen möchte, dies mittels elektronischer Unterlagen direkt am Rechner erledigen. Um hier Abläufe noch schlanker und effizienter zu organisieren, sprudelt die junge Personalsachbearbeiterin vor Ideen, darunter beispielsweise eine App., um Organisatorisches auch via Smartphone erledigen zu können. Die Personalleiterin freut sich über das Engagement der jungen Mitarbeiterin und beauftragt diese mit einem Konzept für Nutzung, Akzeptanz und Weiterentwicklung der digitalen Unterstützer. Sie bietet der jungen Kollegin außerdem an, ihr Konzept vor dem Projektlenkungsgremium selbst zu präsentieren. Die junge Frau ist begeistert (Abschn. 2.3): „Danke, dass Sie mir das ermöglichen!“ ◄ Mitarbeiter, denen derart „kuratierte“ Entfaltungsräume zur Verfügung stehen, „unterstehen“ einer Führungspersönlichkeit, die erkannt hat, dass Freiräume weiterführende Impulse ermöglichen, dass dies zugleich einer Orientierung, eines Ordnungsrahmens bedarf, in dem sich Freiheit zeigen kann. Diesen Spannungsbogen zu vergegenwärtigen und zu leben in tiefem Verantwortungsbewusstsein für die „Gefolgschaft“ und das eigene Handeln – das zeichnet Leadership aus. 

„Wenn wir gelernt haben, zu folgen, können wir auch führen“ (Arnold, „Heut führe ich, morgen folge ich“ 2018). https://www.amazon.de/Positive-Leadership-Strategies-ExtraordinaryPerformance/dp/1609945662

Die Kulturuhr: Evolution von Innovation und Leadership Zukunftsfähige Führung verbindet Inspiration und Sinnstiftung mit Empowerment und Förderung. Das bedeutet das Zugestehen von Handlungsspielräumen und Verantwortung für die Mitarbeiter und zugleich einen, Sicherheit gebenden, Ordnungsrahmen, in dem die Mitarbeiter Orientierung finden. Diese geistige Reife der Führungspersönlichkeit entsteht nicht gestern auf heute. Die „Kultur- oder auch Innovationsuhr“, entworfen vom Unternehmensberater und Lehrstuhlinhaber, Wolfgang Winter (o. J.) zeichnet einen möglichen Weg von der Führungskraft zur Führungspersönlichkeit. Stellen wir uns eine volle Stunde vor.

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

17

• Die ersten 15 min stehen unter dem Signum „Anpassungsfähigkeit“. Pro fünf Minuten bedeutet dies zuerst die grundlegende Bereitschaft zur Veränderung, sodann den Fokus auf den Patienten als ursprünglich existenziellem Sinn der Klinik und im dritten die Offenheit für organisationales Lernen: Strukturen, Prozesse und Grundannahmen als veränderungsfähig und fluide zu begreifen. • Die nächsten 15 min gehören der „Mission“. Hier ist der Dreiklang aus Vision, Strategie und Zielen angesiedelt (Abschn. 2.2.2) • Bis zur Dreiviertelstunde ist die „Widerspruchsfreiheit“ im Fokus: Stimmen die Kernwerte des Hauses mit den vorhandenen Strukturen und Prozessen überein? Wie kann die Koordination und Integration des Wertegerüsts mit dem und in das Alltagsgeschäft gelingen? • Bis zur vollen Stunde geht es um „Engagement und Beteiligung“: In welchem Maße gelingt die Einbindung der Mitarbeiter? Wie lebendig, inspiriert und ergebnisorientiert arbeiten die Teams unter Leitung dieser Führungskraft? Und: Eine Führungspersönlichkeit ist ein Katalysator für oft noch unentdeckte, schlummernde Fähigkeiten und Potenziale jedes einzelnen Mitarbeiters, sowie der klugen Einbindung dieser Potenziale ins Team und in die prozessualen Verläufe. So wie es der Fall der Personalleiterin an ihrer aktuellen Wirkungsstätte zeigt.

2.3 Mitarbeiteridentifikation: „Das ist meine Klinik“ Als Marketinginstrument wird das Possessivpronomen gern genutzt: „Meine Versicherung, meine Bank, meine Klinik“. Zwischen einer abstrakten Organisation und dem Individuum wird durch das besitzanzeigende Pronomen eine tiefe Verbindung mit hoher emotionaler Komponente suggeriert. In dem „mein“ steckt die Anmutung, das Individuum habe – fast – die identischen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten in der und auf die Organisation wie im Rahmen des persönlichen Lebensmodells. Bereits am klassischen Leitbild, im Regelfall rein in den Führungsebenen entwickelt, entlarvt sich diese Imagination oft rasch als Chimäre.

2.3.1 Neuralgische Muster der Mitarbeiterführung Immer noch kursieren die Begrifflichkeiten des „Mitarbeiter ins Boot holen“, sie „mitnehmen“. Begrifflichkeiten, die „den“ Mitarbeiter eher als passives Gefolge zeichnen: Veränderungen werden „von oben“ verkündet, gegebenenfalls noch interne Newsletter herausgegeben oder ein Kick-off veranstaltet. Wer dann aber immer noch nicht „verstanden“ hat, oder es nicht verstehen will, wohin die Reise gehen soll – dem bleibt nur zorniger Widerstand oder die innere Emigration. In Kliniken mit dem hohen Veränderungsdruck ein nicht unbekanntes Phänomen.

18

K. Daniels und K. Burtscher

2.3.2 Die drei „Gesichter“ der Klinik: Wie Kohärenz gelingen kann Wie kann „Spirit“ entstehen? Was ist es, dass Mitarbeiter mit ehrlicher Begeisterung an der Entwicklung „ihrer“ Klink mitwirken? Kohärenz ist das Stichwort: Eine Durchlässigkeit und Verwobenheit zugleich zwischen den drei Gesichtern oder auch Phänomen einer Organisation: • Das Außengesicht: Es ist die Fassade der Klinik, was die Klinik nach außen darstellen will. Etwa hohe Patientenorientierung, innovative Medizin, starke Verankerung in der Region. • Das formale Gesicht: Dies ist die im Organigramm abgebildete Aufbau- und Ablauforganisation, die „Reißbrettvariante“ wie das Unternehmen funktionieren soll. • Das informelle Gesicht: Es sind die „weißen Flächen“ (Müngersdorff und Müngersdorff 2017) zwischen den Kästen des Organigramms; das kann der kleine Dienstweg sein, vorbei an der regulären Hierarchiekette, die Kantinenrunden über Abteilungsgrenzen hinweg. Hier ist die Seele des Unternehmens respektive der Klinik beheimatet. Zeigen sich zwischen den drei Phänomen Brüche, kann es zu keiner wahren Verbundenheit von Mitarbeiter und Klinik kommen. Etwa, wenn die Außendarstellung eine Maskerade ist, wenn Aufbau- und Ablauforganisation zum Korsett werden, wenn Ideen aus den informellen Kanälen heraus als Aufmüpfigkeit oder als inkompetente Gefühlsduselei abgetan werden: „Die Mitarbeiter wissen ja nicht, wovon sie reden“. Wenn diese Stimmung greift, dann ist wahres (Mitarbeiter-)Leben wirklich nur noch außerhalb der Klinik angesiedelt. Die Klinik als identifikationsstiftendes Unternehmen zu entwickeln, „meine Klinik“ – das kann gelingen, wenn Mitarbeiter aus eigenem Antrieb heraus und in Selbstverantwortung etwas vorantreiben, ohne dass es zuvor eine entsprechende Anordnung gegeben hätte. Und ohne dass Mitarbeiter in der Angst leben müssten, bei nicht erfolgreichen Projekten abgewertet, blamiert, bestraft zu werden (Abschn. 2.5). Es gibt kaum einen stärkeren Antrieb als den Stolz darauf, selbst etwas zu bewirken, wie es das Beispiel des Reverse Mentoring zeigt. In diesem Verständnis von Mitarbeitern als Gestalter „ihrer“ Klinik sind die drei „Gesichter“ kohärent.

2.3.3 Vom „Ich“ zum „Wir“: Das ist unsere Klinik Jeder Angestellte in einer Klinik ist Mitarbeiter, über alle Hierarchien hinweg. Selbst die Geschäftsführung untersteht dem Aufsichtsrat oder dem Klinikeigner. Sich dies bewusst zu machen, ist ein entscheidender Schritt zu einem neuen Verständnis von Kollegialität, Gestaltungsfreiräumen und Verantwortung. Der Taylorismus des 19. Jahrhunderts, „oben wird gedacht, unten gemacht“ (Oesterreich und Schröder 2017) ist ein Fossil.

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

19

 „Je dynamischer und komplexer das Geschäft und die Organisation

sind, desto weniger sind einzelne Akteure in der Lage, allein sinnvoll zu entscheiden – und desto wichtiger wird die hierarchieübergreifende Kooperation.“ (Oesterreich und Schröder 2017) Die Digitalisierung von Prozessen verdeutlicht dies in besonderem Maße. Es ist immer stärker der Mensch als derjenige gefragt, der über Werte reflektiert und über Grundannahmen. Denn diese bilden das Fundament der Daten, die sogenannten selbstlernende Systeme dann verarbeiten – und so den Menschen im Operativen entlasten. Zugleich gewinnt der Mensch im Unternehmen eine neue Verantwortung: Welches Bild von Patienten als auch von Mitarbeitern der Klinik vermittelt er via Dateneinspeisung dem elektronischen System? „Kollegiale Selbstverantwortung“, so Oesterreich und Schröder (2017), „ist nicht zu verwechseln mit Hierarchiefreiheit, Basisdemokratie und Herrschaft des Mittelmaßes“. Im Gegenteil: Organisationen, die Mitarbeitern verantwortlich-unternehmerisches Denken nicht nur als Imagebehauptung zugestehen, „müssen dafür die Voraussetzungen schaffen. Sie brauchen eine belastbare und leistungsfähige soziale Architektur“ (Abschn. 2.4.3). In einer rahmengebenden und zugleich Gestaltungsspielräume freigebenden (und fordernden) Organisationskultur kann ein „Wir“ wachsen.

2.4 Personalverantwortung: Konzepte und Projekte aus der Praxis Noch ist es ein gängiges Bild: Personalabteilung? Das sind die, die sich um korrekte Abrechnungen kümmern und Vorgaben der Geschäftsführung exekutieren. Das mag tatsächlich in so mancher Klinik noch genauso laufen. Personalverantwortliche, die sich in dieses Raster nicht fügen mögen, zeichnen ein gänzlich anderes Bild. Personalentwicklung, Personalmanagement und Personalmarketing verlangen antizipativstrategisches Denken, Durchsetzungsstärke, Einfallsreichtum; und dies alles gepaart mit dem Überblick zu widerstreitenden Positionen. Denn es darf nicht aus dem Blick geraten, dass speziell Personalverantwortliche oft zwischen Skylla und Charybdis segeln. Nicht selten gerät zukunftsgewandte Personalpolitik mit Betriebsverfassungsrecht und/oder Arbeitsrecht in Widerspruch, die oft noch aus Zeiten der Industrialisierung stammen, also mit den entsprechenden Wertvorstellungen und Ordnungsrahmen gekoppelt sind. Welche auf agile Strukturen und Prozesse, auf eine neue Deutung hierarchischer Zuständigkeiten (Abschn. 2.2.2) keine Antwort haben. Hier den Kurs zu finden, ist sowohl als Funktionsträger als auch persönlich eine große Herausforderung. Hinzu kommt eine, in der Wirtschaft generell, besonders aber in der Klinikbranche, dominierend-abwertende Einstellung zu den sogenannten „weichen“ Faktoren im Personalwesen.

20

K. Daniels und K. Burtscher

• Strategische Personalentwicklung etwa bedeutet vorausschauende Personalpolitik: Welche Berufsfelder werden mittel- und langfristig keinen Bestand haben, welche werden sich neu entwickeln? Welche Fähigkeiten werden in Zukunft weniger, welche mehr gefragt und erforderlich sein? Die Frage nach den Fähigkeiten, den sogenannten Softskills, galt lange (und in so mancher Klinik auch heute noch) als fast esoterisches Geschwätz. Wichtig sei, was der- oder diejenige fachlich könne, welche ärztliche Expertise sie beispielsweise mitbringe. Errungenschaften wie Softskill-Datenbanken (Busse 2014) sind in der Klinikbranche wohl weitgehend noch unerforschtes Gebiet. • Im Personalmanagement stehen Programme zur Mitarbeiterbindung im Fokus. Begriffe allerdings wie emotionale Führung (Abschn. 2.5) oder „Positive Leadership“ (ein stärken-, nicht defizitorientierter Führungsstil, der begrifflich auf die, von Martin Seligman begründete, positive Psychologie rekurriert (Positive Leadership2:) werden oft noch als Sozialromantik abgetan, ganz im Verständnis von: „Nicht getadelt ist genug gelobt“. • Personalmarketing bedeutet die adressatengerechte Übermittlung des Klinikimages. Und hier steckt so viel mehr drin als die bloße Werbetrommel für einen (vermeintlich) attraktiven Arbeitgeber zu rühren. Wenn das Image mit der Wirklichkeit im Innen nicht übereinstimmt, können Werbemaßnahmen regelrecht gegenteilige Wirkung entfalten: Mitarbeiter fühlen sich nicht ernstgenommen – und das dringt rasch ins Umfeld. Es ist in der Potenz immer die Kohärenz (Abschn. 2.3.2) zwischen allen drei Wirkungsfeldern, welche die Basis schafft für Mitarbeiteridentifikation und damit Arbeitgeberattraktivität und Wettbewerbsstärkung der Klinik am Markt. Die Autorin Karin Burtscher hat im Rahmen ihrer Leitungsfunktionen in verschiedenen Kliniken (s. Autorenprofil) etliche konkrete Projekte für das zukunftsfähige Krankenhaus angeschoben. Sämtliche von ihr initiierten Entwicklungen versteht sie als exemplarisch-kulturelle Innovationen, die sie auch an ihrer aktuellen Wirkungsstätte erneut aufgreift und weiterkultiviert.

2.4.1 Sensibilisierung für Leadership Es mag sie geben, die Ausnahmebegabungen, denen Führungsfähigkeit in die Wiege gelegt wurde. Der fachlich herausragende Arzt – oder die mitfühlende Pflegefachkraft – sind aber noch lange keine Führungspersönlichkeiten. Interne Fortbildungen können den Weg in die Führungsposition zum Erfolg machen. „Wirklich in Führung gehen“ hieß eines der Konzepte Burtschers. In der modularen Fortbildung standen vier Kernthemen auf dem Programm, welche die Bandbreite geforderter Kompetenzen und Fähigkeiten verdeutlichen. Eine Übersicht dazu ist in Abb. 2.1 dargestellt:

2https://www.wissensdialoge.de/positive-leadership/

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

21

Abb. 2.1   Schwerpunkte Führungskompetenz

Welche Fähigkeiten erforderlich sind, um der Aufgabenfülle gerecht zu werden, zeigt Abb. 2.2.

2.4.2 Case-Study: Identifikation von Führungspersönlichkeiten Assessments gehören heute auch in Kliniken zum Standardrepertoire, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht. Die marktüblichen Prozeduren allerdings ähneln sich im Regelfall. So ziehen Auswahlgremien gern Persönlichkeitstests heran, wie etwa das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung. Hinter solchen Tools aber liegen standardisierte Daten. Kandidaten, die sich im „Personalkarussell“ auskennen, wissen nicht selten, welche Antworten in den oft Multiple-Choice-artig gestalteten ACs wohl am ehesten kommod sind. Um im Führungskräfte-Recruiting wirklich die Besten zu gewinnen, hat Burtscher, gemeinsam mit der Kommunikationsberaterin Katharina Daniels, das Assessment um das klinikspezifische, individualisierte Auswahlgespräch erweitert. Die Autorinnen entwickelten den „Piloten“ des individuellen Case-Studys. Gedankliche Vorlage waren Fallstudien mit generalisierten Situationen und Fragestellungen, wie sie von Beratungsunternehmen gern genutzt und regelmäßig auch im Magazin Harvard Business Manager publiziert werden. Der in dieser Form erstmalig so eingesetzte, spezifische Case-Study widmet sich ausschließlich Aspekten der, nun neu zu besetzenden, Position in diesem speziellen Klinikum.

22

K. Daniels und K. Burtscher

Abb. 2.2   Förderprogramm Karrieresprung zum Oberarzt

• Phase Eins der Fallstudiengenese ist die sorgfältige Inhouse-Analyse der aktuell anhängigen Herausforderungen für den künftigen Stelleninhaber – seien sie organisatorischer oder psychosozialer Natur. • Phase Zwei ist die Transformation ins Erzählformat, in das sogenannte Storytelling. • Phase Drei ist die Erarbeitung von Lösungsszenarien organisations- und arbeitspsychologischer Natur, auf die der Bewerber in der Bearbeitung der ihm gestellten Aufgabe kommen sollte. Diese Lösungsszenarien, wie beispielsweise Maßnahmen des Konfliktmanagements, der Teamführung oder Interventionen strukturellprozessualer Natur, sind allein zur Kenntnis für das Auswahlgremium bestimmt, um diesem eine profunde Basis für sein Urteil zu liefern. Beim Auswahltermin selbst hat der (die) Kandidat(in) ca. 20 Min. Bearbeitungszeit, um seine Überlegungen dann dem Auswahlgremium zu präsentieren. Vertiefend sind hier, ebenfalls vorab entwickelte, Interviewsequenzen möglich, oder auch Rollenspielsituationen. Gegebenenfalls kann auch ein internes Punktesystem integriert werden. Der Aufwand rechtfertigt sich durch die Individualität des Auswahltools und damit Unvorhersehbarkeit für den Kandidaten. Wie rasch sich die Kandidatin in eine ihr gänzlich unbekannte Situation hineindenken kann, wie empathisch sie sich für spezifische Herausforderungen zeigt und mit welcher Souveränität sie bei Konflikten auftritt – all dies sind Schlüsselfaktoren einer Führungspersönlichkeit.

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

23

Modell eines klinikspezifischen Case-Studys

Auszug aus der schriftsprachlichen Ansprache des Kandidaten (hier CA-Position) … Damit wir Sie besser kennenlernen und uns ein Bild machen können, wie Sie mit herausfordernden Situationen im arbeitspsychologischen als auch im strukturellprozessualen Kontext umgehen, haben wir folgendes Fallbeispiel, in Anlehnung an tatsächliche Geschehnisse in dieser Klinik, gestaltet. Bitte arbeiten Sie neuralgische Situationen und Konstellationen heraus und überlegen Sie, welche Handlungsfelder Ihnen offenstehen. … Auszug Fallbeispiel Die Entscheidung ist gefallen: Zwei Fachkliniken innerhalb des Klinikums werden … zusammengelegt, weil zwei Chefärzte in den Ruhestand gingen. Ein neuer Chefarzt soll künftig für beide Fachkliniken verantwortlich sein. Die fusionierte Fachklinik wird zusammen … xyz … Ärzte sowie Personal aus dem medizinisch-technischen Bereich haben, Funktions- und Pflegepersonal und zwei Chefarzt-Sekretariate. Fast alle Positionen sind künftig doppelt besetzt. … Bislang stand jedem Chefarzt je ein Leitender Oberarzt (LOA) als Stellvertreter für das gesamte Aufgabenspektrum zur Seite. In der künftig fusionierten Fachklinik werden sich die LOÄ die Position des Stellvertreters teilen und als Sektionsleiter für ihre jeweiligen Fachgebiete firmieren. … Die bisherigen zwei Fachkliniken haben sehr unterschiedliche Kulturen. In Fachklinik 1 waren Abläufe und Prozesse straff und transparent organisiert und digitalisiert. Etwa in Gestalt elektronisch beauftragter Konsilien, softwarebasierter Diktate, Einsehbarkeit eingesetzten Materials per Barcode sowie digitalisierter Weiterbildungsdokumentationen. In Fachklinik 2 werden bis zum heutigen Tage sämtliche genannten Prozesse weitgehend manuell erfasst. Hier haben besonders ältere Mitarbeiter große Angst vor Digitalisierung… Zugleich herrscht in einer der beiden Fachkliniken eine ungleich höhere Arbeitsbelastung aufgrund disziplinär bedingter, intensiverer Bereitschafts-/Rufbereitschaftsdienste. In der anderen Klinik sind medizinische Interventionen vorrangig elektiver Natur. … Grundsätzlich ist die Stimmungslage zur Fusion in der Belegschaft beider Kliniken heterogen. • Welche Herausforderungen organisatorischer Natur erkennen Sie? • Wo sehen Sie prozessualen Handlungsbedarf? • Welche Situationen erfordern Ihre Führungskompetenz in puncto Teamentwicklung, Konfliktmanagement und Motivation?

24

K. Daniels und K. Burtscher

Auszug aus Überlegungen zur internen Verwendung für das Auswahlgremium: Auf welche Problematiken sollte der Kandidat aufmerksam werden und welche Antworten findet er? • Strukturen und Prozesse: Wie kann es gelingen, zwei sehr unterschiedlich arbeitende Kliniken zu fusionieren? Braucht es andere Zuständigkeiten oder gegebenenfalls auch neue Funktionen? • Weiterbildung: Wer bekommt welche Pfründe aus dem Weiterbildungspool? • Stellvertreterposition: Welche Aufgabengebiete des CA an welchen Stellvertreter delegieren? • Digitalisierung: Die sehr unterschiedlichen „Reife“-Stufen müssen sukzessive angepasst werden, ohne die noch vorrangig analog arbeitende Klinik zu überfordern. Es wäre ein großer Pluspunkt, wenn der Kandidat hier auf Weiterbildung rekurrieren würde, auch unter dem Gesichtspunkt altersgerechter Weiterbildung. • Vorder- und Hintergrunddienste/elektive OPs: Lasten gerechter verteilen – wie kann das gelingen? Neue Strukturen? Andere prozessuale Verläufe? • Doppelbesetzungen: Rollen und Funktionen neu konzipieren und zuweisen; gegebenenfalls individuelle Schwerpunkte neu setzen: Frage: autokratische Verteilung oder Einbezug der Mitarbeiter? • Haltung zur Fusion: Gibt es aktiven Widerstand? Oder stille Resignation? Wenn ja, identifizieren. Folge: Einbindung, Motivation. Überlegung von Begegnungsformaten. ◄

2.4.3 Personal und Personalorganisation: Der Fingerabdruck der Klinik „Organismus Klinikum: vernetzt bis in die kleinste Zelle“: Im Verständnis dessen, dass es über die drei „Säulen“ in der Klinik sowie über Abteilungsgrenzen hinweg, ähnlich geartete Herausforderungen gibt, hatte Karin Burtscher im Laufe ihrer Karriere eine Personalabteilung neu aufgestellt. Die Modellstruktur, die wir hier nur skizzenartig vorstellen können, bündelt Zuständigkeiten, schafft klare Aufgabenprofile und Ansprechpartner – und verbindet so Effektivität und Effizienz in den Abläufen mit hoher Autonomie seitens der zuständigen Mitarbeiter. In diesem exemplarischen Modell schlägt im Servicecenter das „Herz“ des Personalmanagements. Ein Personalbetreuerstab soll sich um Einzelanliegen kümmern, wie etwa einen internen Versetzungswunsch. In einem Expertise-Center, vom Selbstverständnis her das „Rückgrat“ im Personalmanagement, können Fach- und Führungskräfte den Sachverstand für eine bedarfsgerechte personelle Ausstattung ihres Verantwortungsbereichs abrufen. Bedarfsgerecht bedeutet die optimale Mischung aus Mitarbeiterqualifikation und wirtschaftlich tragbarem Vergütungsrahmen. Für diese Balance braucht es Strukturen und Instrumente, die die Leistungsfähigkeit (das Können), die Leistungsbereitschaft (das Wollen) und die

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

25

Leistungsspielräume (das Dürfen) jedes einzelnen Mitarbeiters fördern. Das ExpertiseCenter stellt den anfragenden Führungsverantwortlichen die Instrumente bereit für eine individuell und wirtschaftlich sinnvolle Arbeitszeitgestaltung, eine passgenaue Zuteilung von Funktionen, für erforderliche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und Bewerbersuche sowie für Komplementärfaktoren, die dem Mitarbeiter seine physische und psychischmentale Leistungsfähigkeit erhalten.

2.5 Bilanz und Ausblick: Wie Sinn in der Klinik gelingen kann Der Patient ist der genuine Zweck einer Klinik. Um ihn und seine Gesundung rankt sich sämtliches Geschehen. Strukturen, Prozesse, Unternehmenskultur und damit auch Patientenbild generieren den individuellen Sinn der Klinik. Der sich dem Patienten als emotionale Schwingung mitteilt und die Klinik für potenzielle Fachkräfte attraktiv gestaltet – oder auch genau das Gegenteil. Kennzeichnend für Sinnverständnis und Charakter der Klinik ist die Führungskultur. Wie viel Partizipation, Agilität und Mitarbeiterautonomie verträgt eine Klinik? Angesichts der immer noch wachsenden Anforderungen an Kliniken in einem unerbittlichen Wettbewerb sehen wir als Autorinnen einen aussichtsreichen Weg in einer Anerkennungskultur. Warum sollten die so begehrten Fachkräfte hier arbeiten wollen? Weil sie hier erst einmal auf ihre Defizite hingewiesen und ihres Platzes verwiesen werden? Wohl kaum! Identifikation und damit Leistungswille und Engagement gedeihen in einer Kultur von Kollegialität (Oesterreich und Schröder 2017) und Wertschätzung. Das Modell des „Positive Leadership“3 nach Kim S. Cameron (Cameron 2010), Lehrstuhlinhaber an der Universität Michigan, eruiert vier Denk- und Handlungsfelder. https://www.amazon.de/Positive-Leadership-Strategies-Extraordinary-Performance/ dp/1609945662 • Menschenbild: Der Fokus liegt auf den Potenzialen der Mitarbeiter, im Gegensatz zu einem Menschenbild der Unselbstständigkeit, Abhängigkeit und des Versagens: „Wenn man denen nicht sagt, wo’s langgeht, klappt hier gar nichts“. Die bejahende Führungspersönlichkeit rekurriert auf verbindende Werte und auf ein Miteinander im Erreichen von Zielen. • Arbeitsklima: Anerkennung, Fehlertoleranz und Einfühlungsvermögen sind Merkmale eines gesamt bejahenden Arbeitsklimas. Ein Dankeschön für vermeintlich selbstverständliche Leistungen kann Wunder wirken. Fehler werden aus der individuellen Schuldzuweisung (Sanktionsprinzip) in eine chancenorientierte Analyse von Fehlverläufen transformiert, um Fehlerquellen zu minimieren. Eine einfühlsame Führungspersönlichkeit sieht im Kollegen, über den Leistungserbringer hinaus, den

3https://www.wissensdialoge.de/positive-leadership/

26

K. Daniels und K. Burtscher

Menschen mit seinen Stimmungen, seinem Hintergrund – und kann Leistungen so in umfassenderen Kontext stellen. • Beziehungen: Die bejahende Führungspersönlichkeit schaut nach den Potenzialen ihrer Mitarbeiter und nach sinnvollen Ergänzungen von Fähigkeiten in Teams. • Kommunikation: Speziell in sehr fordernden Arbeitsumfeldern, wie in der Klinik, dominiert rasch eine Kommunikation der Schuldzuweisung, der Ungeduld, der Aggression. Positive Kommunikation sendet Botschaften an Mitarbeiter und Peers in einer öffnenden Weise, im Sinne der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (Rosenberg 2012): Sachlich-konstruktiv und selbstreflexiv. Der Aussender der Botschaft schildert, noch vollkommen ohne Wertung, die Situation, die ihn stört, verbalisiert dann seine Gefühle, wie Wut oder Enttäuschung; um im dritten Schritt dem Adressaten der Botschaft die Gründe für seine Verärgerung zu nennen und ihn abschließend darum zu bitten, sein Verhalten künftig so auszurichten. Sollten in diesem abschließenden Schritt Wertvorstellungen aufeinanderprallen, ist eine Führungspersönlichkeit in der Lage, gemeinsam mit dem Mitarbeiter individuelle, und dennoch dem organisationalen Ablauf zuträgliche, Lösungen zu konzipieren. https://www.amazon.de/Gewaltfreie-Kommunikation-Eine-Sprache-Lebens/ dp/3873874547 Die vier Strategien sind leitbildtauglich. Unser abschließendes Beispiel schildert, wie es gelingen kann, ein Leitbild konsensbasiert und identitätsstiftend zu gestalten. Partizipativ-iterative Leitbildentwicklung in einem kommunalen Klinikum in Bayern

Nach einer Neustrukturierung der Geschäftsleitung mit Kaufmännischer Geschäftsführerin und Medizinischem Geschäftsführer, findet die gesamte Mitarbeiterschaft sukzessive zu einem neuen Selbstverständnis. Unter der neuen Geschäftsführung fällt im Frühjahr 2019 die Entscheidung: 2019/2020 entwickelt das Klinikum gemeinsam mit allen Mitarbeitern, über Abteilungsgrenzen und Hierarchieebenen hinweg, sein neues Leitbild. In einem, unserer Zeit angemessenen, iterativen Prozess, der, in Phasen unterteilt, immer wieder von Feedbackschleifen durchzogen ist. In einem Mitarbeiterbrief beschreibt die Geschäftsführung ihr Verständnis eines Leitbildes: „Was macht uns aus? Was ist uns wichtig? Wo wollen wir hin?“. Es geht „um das große Ganze, um die Identität des Unternehmens“. Um das, was die Menschen, die dort arbeiten, zusammenhält, um eine Zukunft, in der Menschen „gemeinsam lernen, wachsen und sich entwickeln können“. Das „Gemeinsame“ bedeutet in diesem Klinikum ein wahrlich konkret gelebtes Projekt über einige Monate hinweg, in dessen Mittelpunkt das tiefe Verständnis der Mitarbeiterschaft als Inspirationsquelle steht. Es wird viele Einzel- als auch Gruppengespräche geben, gefolgt von diversen Formaten zum lebendigen Austausch; darunter Interviews, Gesprächsrunden, moderierte Gespräche und das Format des World Café, in dem verschiedene Aspekte des Leitbilds in Gruppen, jeweils unter Leitung eines Moderators, bearbeitet werden.

2  Think-Tank-Klinik: Wie zukunftsfähige …

27

Jede Gruppe durchwandert im Verlauf des World Café die einzelnen Stationen von Fragestellungen. Alle Ergebnisse werden dokumentiert, um so die vielen Facetten von Ideen, Meinungen und Wünschen zu entdecken und daraus gemeinsame Visionen und Ziele abzuleiten. Ein World Café kann einen oder auch mehrere Tage umfassen. Im Spätherbst 2019 soll ein erster Entwurf des neuen, im wahren Sinne gemeinschaftlich entwickelten, Leitbildes stehen und nun, wieder in der gesamten Mitarbeiterschaft, auf Herz und Nieren im Alltagsgeschehen überprüft werden: Passt der Entwurf zu uns? Wie setzen wir ihn konkret in unserem Bereich um? ◄

Literatur Albrecht, M., & Töpfer, A. (2017). Handbuch Change Management im Krankenhaus: 20 Punkte Sofortprogramm für Kliniken (2. Aufl., S. 529). (Erstauflage 2006). Berlin: Springer. Busse, G. (2014). Skill-Datenbanken. Hans-Böckler-Stiftung. https://www.boeckler.de/pdf/mbf_ bvd_hintergrund_skilldatenbanken.pdf. Cameron, K. S. (2010) Positive Leadership: Strategies for Extraordinary Performance (2. Aufl.). San Franciso: Berrett-Koehler Publishers. Enste, D. H., et. al. (2013). Führung und gesellschaftliche Megatrends im 21. Jahrhundert: Führung im Wandel. München: Roman Herzog Institut. file:///C:/Users/konta/Downloads/ fuehrungsstile_und_gesellschaftliche_megatrends-Diskussion-Nr.22.pdf. Fink, F., & Moeller, M., (2018). Purpose Driven Organizations: Sinn – Selbstorganisation-Agilität (1. Aufl.). Stuttgart: Schaeffer Poeschel. Hollmann, J. (2010, 2013). Führungskompetenz für Leitende Ärzte: Motivation, Teamführung, Konfliktmanagement im Krankenhaus (2. Aufl.). Berlin: Springer. Hollmann, J., & Sobanski, A. (2015). Strategie- und Change-Kompetenz für Leitende Ärzte: Krisen meistern, Chancen erkennen, Zukunft gestalten. Berlin: Springer. Laloux, F. (2014). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zu Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen. Müngersdorff, J., & Müngersdorff, R. (2017). Urban Gardening im Unternehmen. In J. Hollmann & K. Daniels. (2012, 2017). Anders wirtschaften: Integrale Impulse für plurale Ökonomie (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler. Oesterreich, B., & Schröder, C. (2017). Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen. Patientenzufriedenheit und Klinikkultur. https://docplayer.org/47269257-Die-bedeutung-voninterprofessioneller-teamarbeit-fuer-die-patientenzufriedenheit-in-der-behandlung-chronischererkrankungen.html. Positive Leadership. https://www.wissensdialoge.de/positive-leadership/; plus: https://www. amazon.de/Positive-Leadership-Strategies-Extraordinary-Performance/dp/1609945662; https:// www.amazon.de/Positive-Leadership-Revolution-Systemisches-Management/dp/3791032674. Rosenberg, M. B. (2012). Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (10. Aufl.). Paderborn: Junfermann Verlag. Winter, W. (o. J.). Wolfgang Winter Unternehmensberatung: https://winter-mc.com/de/unternehmen/gr%C3%BCnder.

28

K. Daniels und K. Burtscher

Katharina Daniels ist Kommunikationsberaterin, Buchautorin und Gründerin der Verbundinitiative „authentisch anders: Kulturwandel in Unternehmen und Gesellschaft“. In der Begleitung von Unternehmen liegt ihr Schwerpunkt im Mentoring interner Kommunikationsprozesse. Speziell Veränderungsprozesse zeigen oft, dass Führungsebenen und Mitarbeiter nicht dieselbe Sprache sprechen. Mitarbeiter verstehen den Sinn der Veränderung nicht, Führungsebenen stoßen auf Widerstand oder Resignation. Katharina Daniels hat für die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses das „Unternehmenstagebuch“ fürs Intranet des Unternehmens entwickelt. Aus der nun verbindenden Sprache kann eine authentische Kommunikation nach außen erwachsen. Im Rahmen der Verbundinitiative „authentisch anders“ – einem Netzwerk aus Beratern, Akademien und Think Tanks – arbeitet sie in Gestalt von Vorträgen und Workshops an einem wachsenden Verständnis für eine partizipative, wertschätzende Unternehmenskultur: www.daniels-kommunikation.de. Karin Burtscher  ist seit April 2019 Personal- und Akademieleiterin am kommunalen Klinikum Ingolstadt. Ihre Karriere im Personalwesen hat sie konsequent verfolgt und vorangetrieben: am Olgahospital in Stuttgart, bei den SLK-Kliniken Heilbronn, an den Kreiskliniken Reutlingen und vor dem Wechsel nach Ingolstadt knapp neun Jahre als Personaldirektorin am Schwarzwald-Baar Klinikum Villingen-Schwenningen. An allen Wirkungsstätten hat Karin Burtscher maßgeblich an der Entwicklung eines zukunftsfähigen Personalmanagements mitgewirkt sowie etliche Modellprojekte angestoßen und umgesetzt. Ein Schwerpunkt ihres Wirkens sind arbeitnehmerfreundliche, transparente Arbeitszeit- und Ausfallmanagementkonzepte. Weiter das Initiieren und Entwickeln einheitlicher Prozesse, Strukturen und Systeme unter Berücksichtigung der Digitalisierung sowie die aktive Gestaltung von Veränderungsprozessen und strategischen Personalkonzepten. Karin Burtscher publiziert in namhaften Fachmagazinen und ist gefragte Referentin bei Kongressen, Konferenzen und Symposien der Gesundheitswirtschaft, der Klinikbranche und des Personalmanagements. https://www.klinikum-ingolstadt.de/ URL www.karin-burtscher.de.

3

Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen Medizin im deutschen Gesundheitssystem aus ärztlicher Sicht Wolf-D. Beecken

Inhaltsverzeichnis 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.2 Analyse innerhalb der unterschiedlichen Bereiche des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . 31 3.3 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

3.1 Einleitung Ausgangspunkt der Überlegungen war, in welchem Maße die Digitale Medizin in der Lage ist (oder sein wird) eine gesteigertes Patientenwohl in der Gesundheitsversorgung zu schaffen. Kann die tägliche Arbeit des Arztes sinnstiftend unterstützt und ergänzt werden. Die Analyse basiert auf einer umfassenden Recherche der Literatur zum Thema insbesondere der letzten 20 Jahre. Die Errungenschaften der medizinischen Forschung erscheinen immens. Kleinste Unregelmäßigkeiten des Stoffwechsels und der Organfunktionen können mit höchst sensiblen Markern und Messgeräten nachgewiesen werden. Komplexe Operationen, wie beispielsweise am offenen Herzen oder tief im Gehirn, können mit großer Sicherheit durchgeführt werden. Prognostische Aussagen können getätigt und Überlebenszeiten verlängert werden. Leiden können gemindert und kompromittierte Körperfunktionen verbessert werden. Dies alles insbesondere durch biologische, pharmakologische und technische Entwicklungen der letzten 100 Jahre.

W.-D. Beecken (*)  UroGate, Frankfurt, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_3

29

30

W.-D. Beecken

Auf der anderen Seite sehen wir uns konfrontiert mit erheblicher Morbidität verursacht durch medizinische Behandlungen (verstümmelnde Operationen, erhebliche Nebenwirkungsprofile der medikamentösen Therapien), marginalen Therapieerfolgen (Überlebenszeitverlängerung um wenige Monate), wiederkehrenden Epidemien (zunehmende Impfmüdigkeit, Ignoranz viraler Wirtswechsel), Antibiotikaresistenzen (Massentierhaltung und Fehlanwendung), zunehmenden Krankheitshäufigkeiten (Demenz, Krebs), fehlendes Personal und fehlender Nachwuchs (Ärzte, Krankenschwestern, Arzthelferinnen), langen Terminwartezeiten und ausufernden Kosten in den Gesundheitssystemen der industrialisierten Welt. Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der leistungsstärksten der Welt. Für die medizinische Versorgung der etwa 82 Mio. Bundesbürger (hiervon etwa 90 % gesetzlich versichert und etwa 10 % privat versichert) stehen mehr als 390.000 Ärztinnen und Ärzte bereit. Im ambulanten Bereich werden jährlich etwa eine Mrd. Patientenkontakte durch etwas mehr als 150.000 Praxisärzte/-innen bzw. etwa 90.000 Praxen (durchschnittlich etwa 6600 Behandlungen pro Arzt pro Jahr) durchgeführt. In den Kliniken werden knapp 20 Mio. Behandlungsfälle von etwa 200.000 Klinikärzten/-innen in knapp 2000 Kliniken (durchschnittlich etwa 10.000 Patientenfälle pro Klinik pro Jahr) geleistet. Etwas über 30.000 ausgebildete Ärzte/-innen sind nicht medizinisch tätig (KBV 2018). Im deutschen Gesundheitssystem arbeiten 5,6 Mio. Menschen (BMG 2019). Im ambulanten Bereich gehen die Deutschen durchschnittlich 12 bis 18 Mal pro Jahr zum Arzt. In erster Linie zum Hausarzt, jedoch auch häufig zum Facharzt. Über 80 % der Patienten bekommen ihren Termin in der Facharztpraxis innerhalb von vier Wochen. Der Großteil der Patienten wird in der Praxis nach einer Wartezeit von 15 bis 30 min ärztlich versorgt (KBV 2018). Gelegentlich kommt es jedoch auch zu deutlich längeren Wartezeiten (Stunden), was zum einen am hohen Patientenaufkommen (zusätzliche Notfallpatienten), sicherlich (zum Teil) aber auch an schlechtem Terminmanagement und veralteter Praxisorganisation liegt. Über 90 % der Patienten/-innen bewerten das Vertrauensverhältnis zu ihrem Haus-/Facharzt als gut und sehr gut und beschreiben eine hohe Versorgungsqualität (KBV 2015). Diese Gesundheitsversorgung lassen die Deutschen sich 370 Mrd. EUR pro Jahr kosten (etwa 4500 EUR pro Einwohner oder eine Mrd. Euro pro Tag). Dies sind etwa 11,5 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt). Hierbei verschlingen die 20 Mio. stationären Behandlungsfälle in der Klinik etwa 100 Mrd. EUR pro Jahr, die Honorare für eine Mrd. ambulanter Behandlungen belaufen sich auf etwa 35 Mrd. EUR pro Jahr. Ein weiterer großer Posten sind die Arzneimittelbehandlungen, die pro Jahr mit etwa 36 Mrd. EUR zu Buche schlagen. Die restlichen Ausgaben verteilen sich auf Leistungen, wie Heil- und Hilfsmittel, Krankengeld, zahnärztliche Behandlungen, Verwaltung, Krankenfahrten etc. (Destatis 2017). An der Verteilung der Gesundheitsausgaben zeigt sich eindeutig, dass das deutsche Gesundheitssystem auf die Behandlung von eingetretener Erkrankung ausgerichtet ist. So geben die gesetzlichen Krankenkassen (verantwortlich für 90 % der Bevölkerung) nur gerade eben 2.3 Mrd. EUR pro Jahr für die Früherkennungsuntersuchungen (insbesondere Krebsfrüherkennung) ihrer Versicherten aus. Das ist weniger

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

31

als ein Prozent der Gesamtausgaben eines Jahres. Krankheitsprävention wird allenfalls in Form von Informationsvermittlung betrieben (Destatis 2017). Sehr problematisch steht es um den medizinischen Nachwuchs. Viele Praxen von aus Altersgründen ausscheidenden Ärzten-/innen werden nicht von jungen Ärzten/-innen übernommen und freiwerdende Stellen in Krankenhäusern werden nicht nachbesetzt. Hinzu kommt der demografische Wandel unserer Gesellschaft – wir werden immer älter und benötigen daher (naturgemäß?!) mehr medizinische Versorgung. So kommt es zu immer mehr Versorgungstätigkeit, die sich auf immer weniger Schultern verteilt. Der zurzeit auf etwa 10.000 fehlende Ärzte/-innen bezifferte Ärztemangel führt dazu, dass Praxisärzte-/innen durchschnittlich 50 h und Klinikärzte/-innen sogar bis zu 60 h (und in der Spitze 80 h) pro Woche arbeiten (PraktischArzt 2018).

3.2 Analyse innerhalb der unterschiedlichen Bereiche des Gesundheitssystems Unter Digitale Medizin versteht man sämtliche Erweiterungen und Neuerungen der diagnostischen und therapeutischen Tätigkeiten durch Rechenleistung, Robotik, Big Data, Nanomedizin, Künstliche Intelligenz etc. etc. Wir machen hier keine qualitativen und/oder quantitativen Unterschiede, sondern versuchen eine Einschätzung, wie und in welcher Form die Digitale Medizin die Aufgaben der Ärzte und des Assistenzpersonals erleichtern, verbessern, präzisieren, integrieren, vergünstigen und/oder übernehmen kann. Hierbei soll ausdrücklich klargestellt werden, dass der Autor über keinerlei Ausbildung als Informatiker oder Medizintechniker verfügt, sondern die Betrachtung aus rein ärztlicher Sicht vornimmt. Hierbei fließen Betrachtungen aus klinischer Versorgung, wissenschaftlicher Forschung und ambulanter Medizin in die Analyse ein. Wenn man in den Bereich Digitale Medizin einsteigt, bemerkt man unmittelbar die Umtriebigkeit sämtlicher Akteure. Ob es sich um die Politik, die Verbände oder die Industrie handelt, alle sind in einer gefühlt hektischen Betriebsamkeit. Schnell wird man mit Szenarien wie „Deutschland hat den Anschluss verpasst“, „KI wird unser Leben verändern“ und „In einigen Jahren werden Ärzte durch Roboter und KI ersetzt“ konfrontiert. Auf der aktuellen Megatrendmap des Zukunftsinstitutes (Zukunftsinstitut 2019) treffen sich die beiden aktuellen Megatrends Gesundheit und Konnektivität in den Bereichen Digital Health und Big Data. In diesen Bereichen überlappen also zwei aktuelle Megatrends, was die hohe Betriebsamkeit ein Stück weit erklärt. Die Menschen wollen Vernetzung und die Menschen wollen Gesundheit. Was liegt da näher, als die Bereiche, in denen sich die Megatrends überlappen, zu bespielen. Das ist zum einen Geschäft und zum anderen aber auch eine riesige Chance, die Gesunderhaltung der Gesellschaft weiter zu verbessern und aktuell aufkommende Probleme in den Griff zu bekommen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17.07.2014 erschien ein Artikel von Melanie Rühl mit dem Titel „Die Vermessung des Körpers“ (Rühl 2014). Kein

32

W.-D. Beecken

geringerer als Larry Page, einer der Gründerväter von Google, wurde in diesem Artikel mit der Aussage „Im Moment analysieren wir keine Daten aus dem Gesundheitswesen. Täten wir das, könnten wir jedes Jahr 100.000 Leben retten“ zitiert. Im Weiteren ging es in diesem Bericht allerdings in erster Linie um Datenhandel und Sicherheitsrisiken (Ärzte die für 432 EUR/Jahr die Daten ihrer Patienten verkaufen sollen und der Arbeitgeber, der einen Blick in die elektronische Patientenakte seiner Angestellten werfen könnte). Wir Deutschen neigen halt dazu, das Haar in der Suppe zu suchen und daher ist es nur allzu nachvollziehbar, dass wir uns zunächst mit der Sicherheit dieser großen Umwälzung beschäftigen. Es hat auch etwas Richtiges, die Risiken für das Individuum (in diesem Falle den einzelnen Patienten und wir alle) im Auge zu behalten und sogar vorrangig zu behandeln. Albert Einstein wollte mit seinen wissenschaftlichen Errungenschaften sicher kein Kriegsinstrument wie die Atombombe erfinden, legte jedoch die Grundlagen für ihre Erschaffung. Wenn es gefährliche oder negative Anwendungsbereiche einer Technologie gibt, dann muss man davon ausgehen, dass diese auch Anwendung finden. Insofern ist es richtig, sich mit den Risiken dieser neuen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, diese einzuschätzen und Regeln zu definieren und zu überwachen. Dann ist es aber auch gut und man sollte sich den Möglichkeiten und Chancen der neuen Technologien zuwenden. Die Möglichkeiten der Digitalen Medizin scheinen (so wird es postuliert) schier grenzenlos. Körperfunktionen können wieder hergestellt werden, Krankheiten können frühzeitig erkannt und daher besser behandelt werden. Die Mutmaßungen reichen bis zur Überwindung des Todes durch Transportation und Konservierung der in unserem Gehirn gespeicherten Daten inklusive des uns eigenen Bewusstseins. Einen guten Zugang zu den realistischen Möglichkeiten der Digitalen Medizin und den aktuellen Bestrebungen bekommt man wahrscheinlich, wenn man analysiert, was die einzelnen Player im Gesundheitswesen mit diesen Technologien planen bzw. umsetzen. Hier gibt es im Wesentlichen die folgenden Akteure und Interessengruppen: • • • •

Politik (Bundesministerium für Gesundheit) Ärzteschaft (Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung) Kostenträger (gesetzliche und private Krankenkassen) Industrie (vom Start-up bis zum Großkonzern)

3.2.1 Politik Die Politik hat das Thema Digitalisierung der Medizin bereits seit 2004 auf der Agenda. Damals wurden im Rahmen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes die Grundlagen zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), sowie der Telematikinfrastruktur gelegt. Allerdings mahlen die Mühlen der Politik bekanntlich sehr langsam, so wurden zunächst lediglich die eGK (nennen wir es besser e-fähige-GK) eingeführt. Die weiteren Schritte der Digitalisierung (und tatsächliche Nutzung der eGK als solche)

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

33

wurden erst über zehn Jahre später, nämlich zum 01.01.2016 in Form des „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen (E-HealthGesetz)“ konkretisiert. Hierbei sollten der Patientennutzen und (natürlich) der Datenschutz im Mittelpunkt stehen. Ärzte, Kassen und Industrie sollten gleichermaßen in die Pflicht genommen werden, die gesetzlichen Vorgaben (innerhalb der gesetzten Fristen) umzusetzen. Anscheinend erkannte die Politik Versäumnisse, denn jetzt wurde der Gesetzesinitiative durch Androhung erheblicher Sanktionen (Haushaltskürzungen für die Ärzte von 10 bis 15 %, E-Health-Gesetz § 291, Abs. 2b) deutlich Nachdruck verliehen. Die vom E-Health-Gesetz im Einzelnen vorgesehenen Maßnahmen waren: • Elektronischer Medikamentenplan • Elektronischer Arztbrief • Elektronisches Versicherungsstammdatenmanagement auf der eGK (VSDM) • Videosprechstunde • Notfalldaten auf der eGK • Elektronische Patientenakte • Elektronisches Patientenfach Mit der Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der einzelnen Maßnahmen wurde die von den Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens in 2005 gegründete gematik GmbH beauftragt. Insbesondere die Erstellung und Einführung der Telematikinfrastruktur (die ja bereits seit 2004 auf der Agenda der Gesellschaft steht – Zieltermin war damals der 01.01.2006) war dabei von zentraler Bedeutung. Basierend auf dem E-Health-Gesetz sollte die Einführung der Telematikinfrastruktur in den 90.000 Praxen, 2000 Krankenhäusern, 21.000 Apotheken, über zwei Mio. weiteren Dienstleistern im Gesundheitswesen und 70 Mio. gesetzlich Versicherten zum 01.07.2018 vollzogen sein. Der Zeitpunkt war denkbar schlecht gewählt, denn ab dem 25.05.2018 fand die DSGVO (Datenschutzgrundverordnung) europaweit Anwendung. Diese Datenschutzrichtlinie setzte das Strafmaß für Datenschutzvergehen deutlich hoch (bis zu 20 Mio. EUR), was zu einer erheblichen Verunsicherung und Aktionismus der Ärzteschaft und Industrie führte. Keiner beschäftigte sich mehr mit Vernetzung. Ganz im Gegenteil wurden nun auf Eigeninitiative fußende, individuelle digitale Lösungen für bestimmte Aspekte der Gesundheitsversorgung der Patienten in den ärztlichen Praxen und Gesundheitsunternehmen wieder deutlich zurückgefahren. Unglaubliche Summen (und viel Zeit) wurden von den Ärzten und Unternehmen in Beratung und Rechtsbeistand investiert und so verblieben keinerlei Valenzen und Bereitschaft, sich der Telematikinfrastruktur zu widmen. Außerdem bestanden (zum Teil fußend auf der DSGVO) massive datenschutzrechtliche Bedenken gegen die eGK und Telematik. Parallel dazu hatte die gematik GmbH deutlich zu spät (erst im November 2017) Aufträge für die Herstellung der benötigten Hardware-Komponenten (Konnektor, Kartenterminal, Zugangsdienst und elektronischer Praxisausweis) vergeben, sodass der Termin abermals nicht gehalten werden konnte.

34

W.-D. Beecken

Im Rahmen des ­ Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes hat der Gesetzgeber jetzt den 30.06.2019 als verbindlichen Termin (und Sanktionierungsstichtag) für die Einführung der Telematikinfrastruktur festgelegt. Allerdings soll zunächst lediglich das sogenannte Versicherungsstammdatenmanagement (VSDM) über die eGK und Infrastruktur durchgeführt werden können. Sämtliche weiteren Nutzungsmöglichkeiten der eGK und Telematikinfrastruktur werden zum aktuellen Zeitpunkt (06/2019) zumeist ohne weitere Terminnennung in Aussicht gestellt (Gematik 2019). Ein extrem wichtiger Punkt der Telematikinfrastruktur, sowie der gesamten Digitalisierung der Medizin (und anderer Bereiche), betrifft die verwendeten Standards der Datenverarbeitung, welche nur marginal erwähnt werden. Standards, das bedeutet, dass belastbare normative Festlegungen getroffen werden, welche die Funktionalität, Interoperabilität, Betriebsstabilität und Datensicherheit der notwendigen Komponenten und Dienste der Telematikinfrastruktur sicherstellen. Auf Deutsch bedeutet das, dass der Sender einer Information (beispielsweise der Befund aus einem Gerät, oder der vom Arzt digital erstellte und versendete Arztbrief) sicher sein kann, dass der Empfänger die Information auch lesen und digital verwenden kann. Dies ist notwendig, damit die Hersteller und Anbieter ihre Komponenten und Dienste entsprechend dieser Normen aufsetzen können. In einer Veröffentlichung der gematik GmbH vom 19.03.2019 (Pressemitteilung) wird festgestellt, dass die elektronische Patientenakte sogenannte IHE-Profile und IHE-Value-Sets als grundlegende Basis der Standards verwendet. Dies erscheint sinnvoll, da die IHE-Profile (Integrating the Healthcare Enterprise) eine seit Langem und weltweit aktive Initiative zur Interoperabilität von Geräten und Diensten, die von Herstellern und Anwendern unterstützt wird, darstellt. Es wird hier also zum Glück nicht versucht, das Rad neu zu erfinden. Sinnvollerweise gibt es über die Webpage vesta-gematik.de (Vesta ist das zentrale Interoperabilitätsverzeichnis des deutschen Gesundheitswesens) für Hersteller und Anbieter die Möglichkeit, die von der Telematikinfrastruktur verwendeten Standards einzusehen und gegebenenfalls sogar Ergänzungsvorschläge zu machen (Vesta-Gematik 2019). Im April 2019 hat das Bundesgesundheitsministerium den sogenannten „Health Innovation Hub“ – ein zwölfköpfiges Expertenteam – auf den Weg gebracht. Dieser Think Tank soll die Chancen der Digitalen Medizin für die Patientenversorgung ausloten und neue Wege aufzeigen. In dem Onlineinterview zum Start der Ideenfabrik räumt Gesundheitsminister Jens Spahn ein, „dass wir einige Jahre hinterherhinken, jetzt jedoch zügig, zügig, zügig aufholen wollen“ (BMG 2019/2). Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Politik im Rahmen von Digitalisierung insbesondere auf die digitale Kommunikation unter den Akteuren im Gesundheitswesen fokussiert. Andere Bereiche bleiben nahezu komplett unerwähnt. Es ist zu hoffen, dass hier der „Health Innovation Hub“ neue Akzente setzt. Die Umsetzung der niedrig gesteckten Ziele erscheint bisher extrem schleppend. Zum aktuellen Zeitpunkt wurde lediglich die e-fähige-GK umgesetzt und der Anschluss der Telematikinfrastruktur steht zum 30.06.2019 an. Die Verfügbarkeit der funktionsfähigen elektronischen Patientenakte wird in der bereits erwähnten Pressemitteilung der gematik GmbH für den 01.01.2021 angekündigt.

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

35

3.2.2 Ärzteschaft Die Ärzteschaft wird im Wesentlichen repräsentiert durch ihre Standesvertretung (Bundesärztekammer, BÄK) und ihre Selbstverwaltung im gesetzlichen Kassenversicherungsbereich (Kassenärztliche Bundesvereinigung, KBV). Der Arzt (mit seinem Assistenzpersonal) ist der zentrale Akteur im Gesundheitswesen, welcher die Sinnhaftigkeit, die Funktionsweisen und den qualitativen Zugewinn für seine Patienten der Digitalen Medizin nachvollziehen und verstehen muss. Denn er ist der Akteur, der die ganze Sache (mit seinen Patienten) umsetzen und „leben“ muss. Der Arzt ist ein zögernder Charakter, wenn es um Veränderungen in althergebrachten Strukturen geht. Die Verantwortung gegenüber seinen Patienten macht den Arzt prinzipiell kritisch gegenüber Neuerungen in Diagnostik, Behandlung und Abläufen. So dauert es häufig Jahre, bis neue Therapieverfahren von der Ärzteschaft akzeptiert und flächendecken angewandt werden. Insbesondere in diesen Zeiten des schnellen Wandels und der rasanten Zunahme des medizinischen Wissens verlangt die Dynamik der Neuerungen dem Arzt eine Menge ab. Nicht, dass er sich dem Fortschritt in den Weg stellen möchte, aber die Sicherheit des Patienten ist sein oberstes Gebot und zu viele Maßnahmen wurden schnell und unbedacht eingeführt und haben dem Schutzbefohlenen Patienten mehr geschadet als genutzt. Auf dem 122. Ärztetag, der zwischen dem 28. und 31. Mai 2019 in Münster stattgefunden hat, haben die 250 Delegierten der 17 Landesärztekammern das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen diskutiert und richtungsweisende Beschlüsse gefasst. In einem am 31.05.2019 auf der Webpage der BÄK veröffentlichen Papier und dem Beschlussprotokoll werden im Wesentlichen folgende Punkte (Deutscher Ärztetag 2019) genannt: • Differenziertes Berechtigungsmanagement in der elektronischen Patientenakte. Es wird gefordert, dass der Patient in die Lage versetzt wird, einzelne Inhalte explizit berechtigten Personen zugänglich zu machen. Kein insgesamter Zugriff. • Ein positiv formulierter Ordnungsrahmen (Framework) für die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird von der Politik gefordert. • Freiwilligkeit der Nutzung digitaler Anwendungen durch den Patienten. • Warnung vor der Ausgabe von Gesundheits-Apps durch die Kassen ohne Einbindung des Arztes. • Forderung an den Gesetzgeber zur Klarstellung, dass die Datenverantwortlichkeit des Arztes hinsichtlich der Vertraulichkeit patientenbezogener Daten am Konnektor (Anschluss an die Telematikinfrastruktur in der Praxis) endet. • Forderung der zügigen Einführung des eMedikationsplanes und des Notfalldatenfaches auf der eGK. • Ablehnung von Sanktionen (gegenüber den Ärzten) als geeignetes Mittel, Akzeptanz für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu schaffen.

36

W.-D. Beecken

• Forderung der Akzeptanz der Digitalisierung im Gesundheitswesen als Schwerpunktthema der Landesärztekammern und Ausbildung entsprechender Kompetenzen. • Forderung nach Mitgestaltung der Anwendung Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen. Leider findet sich hier wenig Innovatives. Es wird sich insbesondere mit Rahmenbedingungen, Spezifizierungen, Ausfertigungen, Bestandswahrungen, Absicherungen und Ablehnungen befasst. Allerdings kann eine Delegiertenversammlung ja auch nur Rahmenbedingungen festlegen und Richtungen weisen. Die Arbeit muss in den Gremien und Arbeitsgruppen (entsprechend dem neu gegründeten Health Innovation Hub des Bundesgesundheitsministeriums) stattfinden. Trotzdem wären einige Anstöße in dieser Richtung wünschenswert gewesen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV, als Dachorganisation der 17 Landeskassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland) als Selbstverwaltungsinstrument der Ärzteschaft, stellt das Bindeglied zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern für den gesetzlich versicherten Bereich (gut 90 % der Versicherten oder 72 Mio. Bundesbürger) dar. Insofern sollten sich hier die Bemühungen und Akzente von Ärzteschaft und Krankenkassen treffen und idealerweise auf dieser Ebene diskutiert und abgestimmt werden. Ende 2013 hat die KBV die KV Telematik GmbH als 100 %ige Tochter gegründet. Diese Gesellschaft stellt über den KV-Connect Dienst die sichere Datenübertragung im sicheren Netz der KVen (SNK, KV-Safenet), sowie der Telematikinfrastruktur bereit. Weitere Funktionen, wie beispielsweise der eArztbrief, eAbrechnung und direkte Patientenkommunikation über eine entsprechende App werden ebenfalls angeboten. Weiterhin versteht sich die KBV in Form der KV Digital als Digitale Innovationsplattform für Digitalangebote und Apps im Gesundheitswesen. Sehr innovativ wirken die KV Digital Pitching Days, wo Firmen und Start-ups die Möglichkeit haben, ihre Digitalangebote für das Gesundheitswesen einer Fachjury zu präsentieren. Wird ein präsentiertes Digitalangebot als zielführend und als für die Versorgung der Patienten vorteilhaft bewertet, besteht die Möglichkeit, in ausgewählten Arztpraxen Probeläufe zu absolvieren (Projekt Zukunftspraxis der KBV) und damit Verbesserungshinweise und einen Markteintritt zu erhalten. Für den außenstehenden Betrachter ergibt sich hier der Eindruck einer sinnvollen und durchdachten Innovationsförderung. Die Kommunikation in die Ärzteschaft durch entsprechende Veröffentlichungen und Aussendungen bezüglich der in der Zukunftspraxis untersuchten Digitallösungen funktioniert ebenfalls. Die KBV hat im Mai 2018 eine bundesweite Befragung von Ärzten hinsichtlich der Digitalisierung im Gesundheitswesen durchgeführt und die Ergebnisse als Praxisbarometer Digitalisierung veröffentlicht. Ziel war es erstmalig, den aktuellen Stand und die Perspektiven der Digitalisierung in der vertragsärztlichen Versorgung zu erfassen. Über 1700 Praxen haben Angaben zu ihrer digitalen Ausstattung und Perspektive gemacht. Insgesamt konnte gezeigt werden, dass die Ärzteschaft der Digitalisierung gegenüber positiv eingestellt ist und insbesondere einfachere Digitalkomponenten, wie

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

37

­atientendokumentation, Terminplanung und Wartezeitenmanagement zu fast 60 % P bereits in 2018 digital in den Praxen umgesetzt wurden. Allerdings bestätigt auch diese Studie die bereits zuvor erwähnte Befürchtung der Ärzte um die Datensicherheit und die Fehleranfälligkeit der IT-Systeme. Diese Punkte wurden von der Ärzteschaft als größtes Hemmnis der Digitalisierung in den Arztpraxen angesehen (KBV 2019). Neben der Kassenärztlichen Vereinigung und dem GKV Spitzenverband gehört noch die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG) zur Selbstverwaltung der deutschen Ärzteschaft. Diese Gesellschaft vertritt als Dachverband (insgesamt 28 Mitglieder, 12 Spitzenverbände und 16 Landeskrankenhausgesellschaften) die Belange der Krankenhäuser in der Bundespolitik. Bearbeitet werden Themen wie Krankenhausfinanzierung, Personalwesen, EDV, Qualitätsmanagement sowie juristische und medizinische Fragen. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird auf der Webpage des Vereins nur auf einer Seite behandelt. Hier werden besonders die Chancen der Digitalisierung hinsichtlich der Entlastung des Personals von Verwaltungsaufgaben und der Vernetzung und Kommunikation mit untereinander, sowie mit niedergelassenen Kollegen und Krankenkassen beschrieben. Allerdings scheint auch bei diesem Dachverband das Thema Digitalisierung angekommen zu sein. Unter dem Titel „Digitalisierungsimpuls Krankenhaus“ wurde am 05.06.2019 eine Plattform zum Wissensaustausch rund um das Thema Digitalisierung im Krankenhaus angeboten. Durch Vorträge aus Gesundheitswirtschaft, Wissenschaft und Industrie sollte das Thema Digitalisierung so aufgearbeitet werden, dass die notwendigen Handlungsfelder deutlich und Handlungsoptionen erkennbar werden (DKGEV 2019). Aus vielen Erhebungen und Befragungen geht hervor, dass die Ärzteschaft dem Thema Digitale Medizin durchaus positiv gegenübersteht. Allerdings besteht insbesondere bei den älteren Kollegen (keine Digital Natives!) eine gewisse Sorge in der sicheren Handhabung und Nachhaltigkeit der Lösungen und Angebote. Virtuell ist halt etwas anderes als eine auf dem eigenen Desktop abgespeicherte Datei oder (im Extremfall) ein Stück Papier. Das Aufwand-Nutzen-Verhältnis wird sehr kritisch gesehen. Unbedingt braucht es hier insbesondere Weiterbildungsangebote, welche mit der Einführung der jeweiligen Komponenten und Lösungen der Digitalen Medizin Hand in Hand gehen. Hierfür ist beispielsweise der am UKE (Universitäts-Klinikum HamburgEppendorf) neu eingeführte 2nd Track „Digitale Medizin“ als Wahlpflichtveranstaltung im Modellstudiengang iMED richtungsweisend. Weiterhin wäre eine eLearningPlattform zur Weiterbildung für bereits etablierte Praxen/Ärzte/MFA sicherlich sinnvoll. Eine sanktionierte Top-down-Einführung der Digitalen Medizin über die Köpfe der zentralen Akteure hinweg wird nicht funktionieren. Insofern stimmt die Aufforderung, welches Gesundheitsminister Jens Spahn in seiner Eröffnungsrede des 122. Ärztetages in Bezug auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen den Ärzten zugerufen hat: „Gestalten Sie das mit“ (wenn auch deutlich verspätet) durchaus hoffnungsvoll. Zusammenfassend bezüglich der Ärzteschaft, empfinde ich (als Außenstehender) die Kassenärztliche Bundesvereinigung noch als den innovativsten Player. Insgesamt

38

W.-D. Beecken

erscheinen mir die Bemühungen jedoch als deutlich verspätet und mit wenigen Ausnahmen nur auf das Thema Kommunikation und Vernetzung fokussiert. Dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft in 2019 beginnt, Handlungsfelder und Handlungsoptionen für diesen Bereich zu identifizieren, verstärkt  diese Empfindung.

3.2.3 Kostenträger Die Kostenträger, repräsentiert durch die gesetzlichen (GKV) und die privaten Krankenkassen (PKV). Den wesentlichen Teil des deutschen Gesundheitssystems stellen die gesetzlichen Krankenkassen mit über 70 Mio. Versicherten, die sich aktuell auf insgesamt 109 (Stand 01/2019) Krankenkassen verteilen. Die Krankenkassenlandschaft der vergangenen Jahrzehnte ist durch einen kontinuierlichen Verdrängungs- und Fusionsprozess von Krankenkassen geprägt. Gab es 1970 in Deutschland noch über 1800 Krankenkassen ist deren Anzahl auf die aktuell 109 Kassen zusammengeschrumpft. Organisiert sind die Krankenkassen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts und unterliegen somit der staatlichen Rechtsaufsicht. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist es (nach SGB V § 1), die Gesundheit des Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder zu verbessern bzw. Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Leistungsanspruch der Versicherten regelt sich nach den sogenannten WANZ-Kriterien – wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig (SGB V § 12). Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Regelungen, darf eine Krankenkasse auch Mehrleistungen im Wege einer jeweiligen Satzungsregelung erbringen, soweit sie auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruht. Beispielhaft seien hier Präventionsuntersuchungen (eigentlich sind Früherkennungsuntersuchungen gemeint) und die häusliche Pflege genannt. Das Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung beruht auf dem Solidarprinzip – viele Bürger zahlen ein, um bei den (im Idealfall) wenigen Patienten, bei denen hohe Kosten entstehen, diese gemeinschaftlich zu tragen. Die Krankenversicherung stellt eine Pflichtversicherung dar (Versicherung per Gesetz), deren Kosten zu etwa gleichen Anteilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert werden. Den Gegenpol zu der gesetzlichen Krankenversicherung bildet im deutschen Gesundheitssystem die private Krankenversicherung. Die private Krankenversicherung wird von privatwirtschaftlichen Versicherungskonzernen angeboten und das Versicherungsverhältnis entsteht nicht durch Gesetz, sondern auf Basis eines individuellen privatrechtlichen Versicherungsvertrages, der basierend auf den Gesundheitsrisken des einzelnen Versicherten zustande kommt. Der Leistungsanspruch des einzelnen Versicherten wird in dem Vertrag festgelegt. Gut 8,5 Mio. Bundesbürger sind voll umfänglich privat krankenversichert (anstatt der gesetzlichen Krankenversicherung) und weitere etwa 25 Mio. Bundesbürger haben eine private Zusatzversicherung (zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Krankenversicherung), um zusätzliche Leistungen zu erhalten. In Deutschland wird die private Krankenversicherung von etwas mehr als 40 Unternehmen angeboten. Die

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

39

a­ llgemeinen Interessen der privaten Krankenversicherer werden im Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. vertreten. Die Funktion der Krankenkassen ist es im Wesentlichen, die Prämien und Beiträge der Versicherten einzusammeln und, entsprechend den gesetzlichen oder vertraglichen Vorgaben, die Kosten, welche bei den Leistungserbringern entstehen, zu begleichen. Unterschiedliche Instanzen sind insbesondere bei der gesetzlichen Krankenversicherung dazwischengeschaltet (Gesundheitsfond, Kassenärztliche Vereinigung). Da auch die Gesunderhaltung der Versicherten für die Krankenkassen ein wichtiges Thema ist, bieten viele Versicherer Gesundheitsinformationen vorwiegend im Internet an. Beispielhaft sei hier der Gesundheitscampus der gesetzlichen Barmer Ersatzkasse oder „Gesund sein und bleiben“ von der privaten DKV genannt. In diesem Kontext besteht auch besonderes Interesse an Gesundheitsdaten, die zunehmend durch entsprechende Gesundheits-Apps gegebenenfalls in Verbindung mit Wearables generiert werden. Einige Versicherer bieten sogar Rabattprogramme im Tausch gegen persönliche Gesundheitsdaten ihrer Versicherten an. Insofern fokussiert das Interesse der Kostenträger zum einen sehr stark auf die Erlangung neuer Daten für die Krankheitsprävention und effektiveren Behandlungen im Falle eingetretener Erkrankung. Die Anwendung von Big Data und KI werden dabei vom GKV-Spitzenverband als auch vom Verband der Privaten Krankenversicherer als sehr geeignete Tools zur Verbesserung der Versorgungssituation und Optimierung der Versorgungsstruktur benannt. Ein weiteres zentrales Interesse der Kostenträger ist das durch Digitalisierung zu ermöglichende Einsparpotenzial bei den Verwaltungskosten. So kann bei vielen Versicherern bereits heute die Kommunikation mit den Mitgliedern über Internetplattformen und Apps abgewickelt werden. Zusammenfassend kann hinsichtlich der Kostenträger gesagt werden, dass neben der (von allen Akteuren) ins Zentrum gerückten Kommunikation und Vernetzung insbesondere das Sammeln und Verwerten von Gesundheits- und Krankheitsdaten angestrebt ist. Unbedingt sicherzustellen ist, dass diese Daten tatsächlich der Gesunderhaltung und Krankheitsprävention und nicht der Individualisierung der Prämien und Beiträge des Einzelnen bzw. der versicherungsmathematischen Risikoeinschätzung des Einzelnen dienen. Hoffnungsvoll stimmt dabei, dass sich der Verband der Privaten Krankenversicherer (hier sind die Möglichkeiten in den privatrechtlichen Versicherungsverträgen deutlich größer) dieser Problematik sehr deutlich bewusst ist und dies in mehreren Veröffentlichungen kommuniziert.

3.2.4 Industrie Die Industrie als Ideengeber, Entwickler, Dienstleister und Produzent hat ein profitgetriebenes Interesse an der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Der Gesundheitsmarkt ist groß und lukrativ. Viele Strukturen sind angesichts der enormen digitalen Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, extrem veraltet und bieten viel Platz für Neuerungen und Geschäftsmodelle. Auf der anderen Seite ist der

40

W.-D. Beecken

­ esundheitsmarkt in weiten Teilen sehr stark reglementiert und durch gesetzliche VorG gaben kompliziert. Nichtsdestotrotz finden sich enorme Bemühungen seitens der Industrie in sämtlichen Bereichen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Sowohl kleine Start-ups als auch die großen Player haben die Chancen der aktuellen Entwicklungen für das Gesundheitswesen und die Menschen erkannt und arbeiten intensiv an deren Umsetzung. Es ist besonders auffällig, dass nicht nur Medizintechnik- und Pharmaunternehmen große Aktivitäten in dem Bereich zeigen, sondern insbesondere die großen Technologieunternehmen wie Google, Amazon, Apple und Microsoft (um nur die sehr Großen zu nennen) haben große Gesundheitsabteilungen und/oder Tochterfirmen, welche die unterschiedlichsten Gesundheitsthemen bearbeiten. Die Vielfalt dabei ist schier grenzenlos. Exemplarisch (um den Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu sprengen) ist hier das Gesundheitsunternehmen Verily (unabhängige Tochter der Alphabet Inc.) zu erwähnen. Verily (www.verily.com) wurde im Dezember aus einer Abteilung von Google X gegründet und mit einer Mrd. US-Dollar-Budget ausgestattet. Verily denkt Medizin nicht als Behandlung von Krankheit, sondern als Daten basierte Prävention von Krankheit. Das Ziel von Verily ist es, frühzeitig Krankheitsentstehung zu verstehen und dadurch effektiver zu verhindern oder früher zu behandeln. Dies sind Ansätze, die weit über das Verständnis von Medizin beispielsweise im deutschen Gesundheitswesen hinausgehen. Das deutsche Gesundheitswesen ist im Wesentlichen auf die Behandlung von Krankheit fokussiert und verwendet, wie zuvor bereits beschrieben, allenfalls kleine finanzielle Mittel und einfachste Untersuchungsmethoden für die Früherkennung von Krankheit. Die Projekte von Verily reichen von intelligenten Schuhen zur Sturzprävention über Krankheitsmanagement für Menschen mit Diabetes bis zur Chirurgie-Robotik. Für unterschiedliche Projekte arbeitet Verily häufig mit großen und erfahrenen Pharmaunternehmen, wie beispielsweise Sanofi, Johnson&Johnson und GlaxoSmithKline, zusammen. Eine Vokabel, die bei Verily immer und immer wieder auftaucht, ist „kontinuierlich“. Man glaubt hier insbesondere an die kontinuierliche Messung und Auswertung von Gesundheits- und Krankheitsdaten als Grundlage einer besseren und effektiveren Medizin. Daher steht die Miniaturisierung von Messgeräten (Nano) bei vielen Projekten im Zentrum der Bemühungen. Die sogenannte „Baseline Study“ soll über genetische, molekulare und tragebare Geräteinformationen von vielen Menschen ein neues Bild davon geben, was ein normaler, gesunder Mensch überhaupt ist. Verily ist nur ein Beispiel, es gibt Tausende Beispiele aus der Technologiebranche, die mich als Arzt beeindrucken und sofort neue Perspektiven schaffen. Jedoch zeigen auch die üblichen Player im Bereich der Gesundheitsforschung, ­nämlich die Medizintechnik- und Pharmaunternehmen, beachtliche Aktivitäten in der Digitalen Medizin. Die Pharmaindustrie hat begriffen, dass die Zeiten der großen Blockbuster-Wirkstoffe, welche jährlich Milliarden in die Kassen der Unternehmen spülen, vorbei sind. In Zeiten von Genomics und Precision Medicine wird es keine großen Patientengruppen mehr geben, die alle den gleichen Wirkstoff regelmäßig einnehmen. Präzise designte Wirkstoffe für individuelle Patienten zur Behandlung individueller Erkrankungen für definierte Zeiträume mit dem Anspruch auf wirkliche Heilung,

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

41

nicht die Behandlung von Symptomen, oder die Therapie zur Vermeidung von Spätkomplikationen, das sind die Konzepte, die in Zukunft von der Gesellschaft gefordert werden. Genauso, wie die großen Technologiekonzerne sich für ihre neuen Aufgaben mit der Pharma- und Medizintechnikindustrie assoziieren, suchen auch umgekehrt die großen Pharmakonzerne den Schulterschluss mit den Technologiekonzernen, um den für sie ebenfalls neuen Herausforderungen zu begegnen. So hat beispielsweise Janssen Cilag in 2018 das „Janssen Open House“ als Diskussionsplattform für technologische Ansätze in der Pharmaindustrie gegründet (Janssen 2018). Hier treffen sich Referenten und Gäste aus Medizin, Pharma, Technik, Politik und Gesellschaft, um zu diskutieren, wie man das hochgesteckte Ziel von Janssen Cilag (Eine Welt ohne Krankheit) durch Verbindung der neuen Möglichkeiten, welche uns die Digitalisierung der Medizin und Forschung ermöglichen, verwirklichen kann. Kürzlich veröffentlichte Sebastian Guth (President of Pharmaceuticals, Bayer USA) einen Artikel zur Künstlichen Intelligenz in der Pharmaindustrie. Guth postuliert in diesem Artikel, Zitat: „Künstliche Intelligenz hat das Potential Forscher und Ärzte aus dem analogen Zeitalter herauszuführen und besser zu machen und im Endeffekt Behandlungsergebnisse durch die Unterstützung klinischer Entscheidungsprozesse zu verbessern“. Eine von Guth in diesem Artikel benutzte Vokabel war dabei jedoch wesentlich aussageintensiver als der ganze Rest. Guth verwendet den Begriff „Key Inflection Point“ (Guth 2019). Diese Begrifflichkeit wurde (als Strategic Inflection Point, SIP) von der Managerlegende Andy Grove (Intel) geprägt und beschreibt den Punkt im Lebenszyklus eines Unternehmens, an dem aufgrund von Veränderungen anderer Industrien das Geschäftsmodell des eigenen Unternehmens aufs Schwerste gefährdet ist (Grove 1997). Wer diesen Ausdruck benutzt, der ist sich im Klaren darüber, dass massive Veränderungen im eigenen Unternehmen (bzw. in der Branche) stattfinden müssen, um nicht auf nimmer Wiedersehen vom Markt zu verschwinden. Zusammenfassend zur Industrie empfinde ich diese als den treibenden Motor für jegliche Innovationen bezüglich der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das naturgemäß profitgetriebene Interesse dieses Akteurs verbunden mit den unglaublichen Möglichkeiten (Megatrends) aber auch Risiken (Key Inflection Point) ist Grundlage dieser enormen Aktivitäten. Eine enge Verzahnung von Industrie und insbesondere Ärzten (als Hauptakteur im Gesundheitswesen) empfinde ich als unbedingt notwendig für die zielgerichtete und lösungsorientierte Anwendung von Digitalisierung im Gesundheitswesen.

3.2.5 Gesamtbetrachtung der Akteure und deren Aktivitäten Die Untersuchung der einzelnen Akteure im Gesundheitswesen zeigt Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Bereiche der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf. Ein übergeordnetes Problem wird dabei jedoch nicht erfasst. Die unbedingt notwendige Interaktion der verschiedenen Akteure. Alle müssen an einen Tisch und ihre Expertise zum Nutzen der Patienten einbringen. Die Integration von Leistungen aller

42

W.-D. Beecken

Akteure wird insbesondere bei der Behandlung chronischer Erkrankungen gefordert sein. Chronische Erkrankungen, wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, COPD und Herzinsuffizienz, sowie insbesondere deren Folgeerkrankungen verschlechtern die Lebensqualität und Lebenserwartung der Betroffenen und verursachen immense Kosten für das Gesundheitssystem (zu Putlitz 2019). Die zuvor aufgezeigten chronischen Erkrankungen, welche häufig groteskerweise auch als Zivilisationserkrankungen bezeichnet werden, gründen zumeist auf unserem Lebensstil. Hochkalorische Diät, Bewegungsmangel und Arbeitsverdichtung sind hier die Verursacher. Die Industrie gibt uns heute deutlich verbesserte und wahrscheinlich effektivere Möglichkeiten für das kontinuierliche Monitoring und die Unterstützung der Therapien chronisch kranker Menschen an die Hand. Das Ziel muss es allerdings sein, nicht die chronische Erkrankung mehr oder weniger frühzeitig zu finden, sondern das Erkrankungsrisiko zu diagnostizieren und entsprechende Präventionsmaßnahmen technikunterstützt zur Vermeidung von chronischer Krankheit einzusetzen. Letztendlich müssen sich insbesondere die Politik und die Kostenträger weg von der Akut- und Reparaturmedizin hin zu einer wirklichen Präventivmedizin bewegen. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung muss individueller werden. Individualisierte Versorgung meint dabei nicht ausschließlich die individuellen Krankheitsmuster eines Individuums, sondern auch eine Anpassung der Mittel und Vorgehensweisen auf die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Individuums. Hierbei muss man unbedingt die intellektuellen Fähigkeiten und Bildungsstände der Menschen berücksichtigen. Die Bildung der deutschen Bevölkerung hinsichtlich Gesundheits- und Krankheitsdaten ist zumeist ungenügend bis schlecht. Häufig erleben Ärzte in der täglichen Praxis ein hohes Vertrauen der Patienten in selbst recherchierte Behandlungsoptionen bezüglich (häufig schwerer) Krankheit aus dem Internet. Dieses hohe Vertrauen in die selbst recherchierten Daten und Behandlungen ist häufig nicht gerechtfertigt. Dem Patienten muss klar sein, dass das Internet und insbesondere Google auch eine riesige Marketingplattform darstellt. Wer die ersten Plätze bei Google belegt ist keineswegs immer der Anbieter der besten (Behandlungs-)Option, sondern derjenige, der die meiste Energie und die meisten Mittel in diese Platzierung investiert. Medizinisches Wissen (insbesondere im Angesicht schwerer Krankheit) muss interessenneutral vermittelt werden, um dem Patienten die Möglichkeit zu geben, selbstbestimmte, wissensbasierte Entscheidungen hinsichtlich seiner individuellen Behandlung zu treffen (Beecken 2013). So weit die Recherche zu den Aktivitäten, Bemühungen und Integrationen der Akteure im Gesundheitswesen, die natürlich keine vollständige Beschreibung liefern kann. Auch fließen an vielen Stellen Meinungen und Interpretationen des Autors als Arzt in die Betrachtung ein. Wahrscheinlich wird man viele Punkte dieses Aufsatzes anders sehen und/oder diskutieren können, aber dieser Umstand ist als durchaus positiv zu bewerten, denn insbesondere durch die kontroverse Diskussion lassen sich Schwachstellen identifizieren und gute Lösungen aufzeigen.

3  Changes – Analyse der Entwicklung der Digitalen …

43

3.3 Fazit und Ausblick Unglaublich viel Zeit ist vergangen und in Händen halten wir zum heutigen Tage – praktisch nichts! Der 30.06.2019 soll mit der endgültigen Einführung der Telematikinfrastruktur den Anfang des digitalen Zeitalters in der deutschen Medizinlandschaft setzen. Spricht man mit Technikern, Entwicklern und Managern aus der Digitalbranche, dann wird am 30.06. eine technisch gesehen völlig veraltete Telematikinfrastruktur aktiviert. Ursächlich ist hier – so sagen die Experten – die falsche Vorgehensweise. In Deutschland wurde zunächst diskutiert und reglementiert. Hierdurch gelangte man vom Hundertsten ins Tausendste und wurde letztendlich nie fertig. In anderen Gesundheitssystemen wurde geplant und eingeführt – eingeführt mit dem Wissen, dass die Strukturen und Komponenten nicht perfekt sind und Nachbearbeitung benötigen. So arbeiten beispielsweise Länder wie Estland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Großbritannien seit Langem mit elektronischen Patientenakten und einer Telematikinfrastruktur. Wir sollten uns unsere innovativen Kompetenzen und Stärken (Made in Germany) wieder bewusster werden. Um es ausdrücklich klar zu stellen, die eingetretene zeitliche Verzögerung des großen Projektes können wir nicht zurückdrehen. Keinesfalls dürfen wir den Fehler begehen und jetzt (durch einen überhasteten und gefährlichen Aktionismus) unsere deutschen und europäischen Werte, wie Demokratie und Schutz des Individuums, über Bord werfen, um schnell, schnell wieder auf Augenhöhe mit den USA und China zu kommen (die diese Werte nicht so voranstellen oder teilen). Im Endeffekt kann die sichere Variante eines digitalen Gesundheitssystems ein enormer Wettbewerbsvorteil sein. Bei vielen Texten zum Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen dreht es sich um das enorme Einsparpotenzial, das die Technologie mit sich bringt. Das darf ein zusätzlicher Faktor der Bemühungen um digitale Lösungen sein, aber auf keinen Fall der Kern der Bemühungen. Wir müssen mit vereinten Kräften aller Akteure daran arbeiten, Deutschland zu einem sicheren, sinnstiftenden und kompetenten Innovationsstandort der Digitalen Medizin zu machen. Zu guter Letzt muss das Gesundheitsbewusstsein und das Wissen um medizinische Themen in der Gesellschaft tiefer und besser verankert werden, um dem Ziel der wirklichen Prävention von Erkrankung näher zu kommen.

Literatur Beecken, W.-D. (2013). Das kleine Buch vom Krebs. Bad Vilbel: Scoventa Verlag. BMG. (2019). Gesundheitswirtschaft als Jobmotor. https://www.bundesgesundheitsministerium. de/themen/gesundheitswesen/gesundheitswirtschaft/gesundheitswirtschaft-als-jobmotor.html. Stand 2019, Abfrage 2019. BMG. (2019/2). Health Innovation Hub startet, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ ministerium/meldungen/2019/health-innovation-hub.html. Stand 2019, Abfrage 2019.

44

W.-D. Beecken

Destatis. (2017). Gesundheitsausgeben. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Gesundheit/Gesundheitsausgaben/_inhalt.html. Stand 2017, Anfrage 2019. DKGEV. (2019). Digitalisierungsimpuls. https://www.dkgev.de/service/veranstaltungen/digi­tal­i­ sierungsimpuls-am-5-juni-2019/. Stand 2019, Abfrage 2019. Deutscher Ärztetag. (2019). Ärztetag formuliert Eckpunkte für Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen. https://www.bundesaerztekammer.de/presse/pressemitteilungen/news-detail/­ aerztetag-formuliert-eckpunkte-fuer-ausbau-der-digitalisierung-im-gesundheitswesen-1/. 2019, Abfrage 2019. Gematik. (2019). Roadmap. https://www.gematik.de/aktuelles/roadmap/. Stand 2019, Abfrage 2019. Grove, A. (1997). Only the paranoid survive. Profile Books, 1997, 32. Guth, S. (2019). Can AI improve cardiovascular disease outcomes? http://pharma.bayer.com/en/ innovation-partnering/can-ai-improve-cardiovascular-disease-outcomes/. Stand 2019, Abfrage 2019. Janssen. (2018). 2. Janssen Open House. https://www.janssen.com/germany/openhouse. Stand 2019, Abfrage 2019. KBV. (2015). Klarer Vertrauensbeweis von über 6.600 Patienten. https://www.kbv.de/ html/300_16620.php. Stand 2015, Abfrage 2019. KBV. (2018). Gesundheitsdaten. http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17019.php. Stand 2018, Abfrage 2019. KBV. (2019). Praxisbarometer Digitalisierung. https://www.kbv.de/html/praxisbarometer.php. Stand 2018, Abfrage 2019. PraktischArzt. (2018). Vergleich Arbeitszeit Arzt in Praxis und Klinik, Online: https://www. destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/_inhalt.html. Stand 2018, Abfrage 2019. Rühl, M. (2017). Die Vermessung des Körpers, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online: https:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/sensible-gesundheitsdaten-dievermessung-des-koerpers-13047158.html. Stand 2014, Abfrage 2019. Vesta-Gematik. (2019). https://www.vesta-gematik.de Stand 2019, Abfrage 2019. Zu Putlitz, J. (2019). Netflix, Nudging, Netzwerke – Die Zukunft der Versorgung chronisch kranker Menschen. In E. Böttinger & J. zu Putlitz (Hrsg.) Die Zukunft der Medizin (S. 19–36). Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Zukunftsinstitut. (2019). Megatrendmap. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-megatrendmap/. Stand 2019, Abfrage 2019.

Wolf-D. Beecken wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Medizin an der Universität Hamburg und absolvierte währenddessen Auslandssemester in Zürich und San Francisco. Seine Facharztausbildung zum Urologen absolvierte er an den Universitätskliniken Marburg und Frankfurt. In den Jahren 1997–2000 führte Beecken ein Forschungsprojekt zur Gefäßneubildung bei bösartigen Tumoren an der Harvard University in Boston, USA, durch. Am Ende seiner Kliniklaufbahn arbeitet er als Oberarzt in der Universitätsklinik Frankfurt und ließ sich 2005 in eigener Praxis nieder. Im Jahr 2009 wurde er zum außerplanmäßigen Professor der medizinischen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt ernannt. Er ist heute Partner des Urologen-Netzwerks UroGate, hält einen Lehrauftrag an der Goethe-Universität Frankfurt und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt.

Teil II Etablierte Think Tanks im Gesundheitswesen

4

Stiftung Münch – Think Tank zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung Boris Augurzky und Annette Kennel

Inhaltsverzeichnis 4.1 Hintergrund der Stiftung und Stifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.2 Stiftungszweck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.3 Studien und Bücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.4 Think Camps. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4.5 Eugen Münch-Preis für innovative Gesundheitsversorgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

4.1 Hintergrund der Stiftung und Stifter Die Stiftung Münch wurde im Juni 2014 vom Gründer der RHÖN-KLINIKUM AG und Pionier der deutschen Krankenhauslandschaft, Eugen Münch, errichtet. Von der Regierung von Unterfranken wurde sie als gemeinnützige Stiftung anerkannt. Der Vorstand ist 2019 mit Professor Dr. Boris Augurzky (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stellvertretender Vorstandsvorsitzender) und Professor Dr. med. Bernd Griewing besetzt. Geschäftsführer der Stiftung sind Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer, Syndikus) und Annette Kennel (Operative Geschäftsführerin). Die Stiftung

B. Augurzky · A. Kennel (*)  Stiftung Münch, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_4

47

48

B. Augurzky und A. Kennel

Münch steht in der auf Tatkraft und unbedingten Gestaltungswillen ausgerichteten Tradition ihres Stifters und versteht sich als mutiger Ideengeber und Innovationsmotor zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Der Stifter hat im Laufe seiner Karriere zahlreiche innovative Konzepte entwickelt und umgesetzt, die die Krankenhausbranche in Deutschland grundlegend verändert und geprägt haben. Er hat als erster Krankenhausmanager schon in der 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erkannt, dass Krankenhäuser in Deutschland auch ohne staatliche Fördermittel betrieben werden können und durch eine Rationalisierung von Abläufen in Krankenhäusern eine wirtschaftliche Unternehmensführung möglich ist, wodurch eine Rationierung medizinischer Leistungen vermieden werden kann. Das Konzept der medizinischen Vollversorgung und der Netzwerkmedizin, das Eugen Münch entwickelt hat (Münch und Scheytt 2014; Holzinger und Augurzky 2015) bildet eine wesentliche konzeptionelle Basis der Stiftungsarbeit. Neben einer sinnvollen Vernetzung der Medizin zur Schaffung einer patientenorientierten Versorgung in umfassenden Netzwerken von Anbietern sollen dabei Innovationen aktiv genutzt werden. Das heißt, die vielfältigen Vorteile durch neue Technologien, wie zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Robotik, gilt es zu nutzen. Der Stiftungszweck wird unter anderem durch die Förderung von Wissenschaft und Forschung erreicht. Alle Arbeiten der Stiftung werden öffentlich zugänglich gemacht. Sie sollen die Diskussion mit Inhalten voranbringen und Lösungsvorschläge bieten. Als unabhängige und gemeinnützige Einrichtung spielt die Stiftung Münch dabei in dem durch Partikularinteressen geprägten Gesundheitssystem eine wichtige Rolle. Die Stiftung bietet verschiedene Formate an, mit denen sie ihre Arbeiten veröffentlicht und überdies Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen vernetzt. Eines der Formate sind die „Think Camps“. Sie bringen an einem Wochenende die „junge Generation im Gesundheitswesen“ mit anerkannten Experten zusammen und lassen sie zu einem Thema gemeinsam innovative Ansätze und Lösungswege „out of the box“ erarbeiten. Die jungen Teilnehmer profitieren vom Wissen und der Erfahrung der Experten, die Experten wiederum von den kreativen Ideen der „Next Generation“. Durch die kleine Teilnehmerzahl kann ein intensiver Austausch stattfinden, die Auswahl der Teilnehmer fördert zudem den professionsübergreifenden Dialog und legt damit den Grundstein zu einem patienten- und gemeinwohlorientierten Herangehen. Die Stiftung Münch bietet drei Think Camps im Jahr mit variierenden Themen an. Für die Teilnahme ist eine Bewerbung erforderlich, um zu gewährleisten, dass verschiedene Berufsgruppen beteiligt sind. Die Vernetzung verschiedener Berufsgruppen, Patienten und sonstiger relevanter Akteure wird bei den Veranstaltungen der Stiftung Münch vorangetrieben, so etwa bei den Expertengesprächen der „Luncheon Roundtables“, den Think Camps, aber auch bei der Besetzung der Jury, die die Preisträger des Eugen Münch-Preis für innovative Gesundheitsversorgung in jedem Jahr auswählt; einem Preis mit dem die Stiftung herausragende wissenschaftliche Leistungen und vielversprechende praktische Gesundheitsanwendungen prämiert. Zudem tritt die Stiftung mit allen Akteuren über ihre

4  Stiftung Münch – Think Tank …

49

Publikationen in Kontakt und informiert über aktuelle Themen und Trends. Zu nennen sind Projektberichte, Bücher, das Videoformat „BrainSnack“, die Internetpräsenz, das elektronische Magazin und die sozialen Medien.

4.2 Stiftungszweck Die Stiftung verfolgt den Zweck, Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens auf Grundlage des von Eugen Münch entwickelten Konzepts der Netzwerkmedizin zu unterstützen. Zur Verwirklichung des Stiftungszwecks werden beispielsweise folgende Maßnahmen vorgenommen: • Erarbeitung von Konzepten, um einen nicht-rationierten Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle sozialen Schichten zu erhalten. • Förderung des Austausches von Konzepten beispielsweise durch Symposien, Gesprächskreisen, Konferenzen, Publikationen. • Unterstützung der Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten in Form von Forschungsprojekten, Forschungsstipendien, Auslobung und Beauftragung von wissenschaftlichen Arbeiten, Seminaren und Preisverleihungen. • Förderung von praxisnahem Arbeiten, zum Beispiel durch Veranstaltungen wie Young Leader Symposien, Seminare, Case Studies, Stipendien und Preisverleihungen. • Förderung von Nachwuchskräften durch (Studien-/Doktoranden-/Forschungs-) Stipendien, Seminare, ideelle Förderung, Mentoring und Preisverleihungen. • Internationaler Austausch, um von bereits vorhandenen Erfahrungen zu profitieren und in einer globalen Entwicklung nicht auf isolierte Maßnahmen zu setzen. • Unterstützung und Weiterentwicklung von Einrichtungen durch beispielsweise der Förderung von Zweckbetrieben im Sinne von § 68 AO 1977 oder durch die Beteiligung an Organisationen und Unternehmen, um dem Stiftungsgedanken in der Praxis zur Anwendung und Durchbruch zu verhelfen. Es werden dabei ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung der Stiftung verfolgt.

4.3 Studien und Bücher Die Stiftung Münch beauftragt Studien, in denen gezielt Fragestellungen untersucht und anschließend veröffentlicht werden. Mit diesen Studien sollen Probleme identifiziert, analysiert und Lösungsoptionen aufgezeigt werden. Bis zum Jahr 2019 wurden folgende Themen in Studien näher beleuchtet:

50

B. Augurzky und A. Kennel

• Datenschutz – repräsentative Bevölkerungsbefragung zu Datenschutzaspekten im Gesundheitssektor (2015), https://www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/­ 2016/06/DatenschutzWEB.pdf • Impulse für das deutsche Gesundheitswesen aus den USA? (2015), Andreas Schmid, Sebastian Himmler, https://www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2016/06/ StudieUSA.pdf • Bestandsaufnahme G-BA (2016), Justus Haucap, Michael Coenen und Dr. Ina Loebert, https://www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2016/09/G-BA-web.pdf • Reformkommission G-BA (2017), https://www.stiftung-muench.org/wp-content/ uploads/2017/05/16.pdf • Elektronische Patientenakte (ePA) – Fundament einer effektiven und effizienten Gesundheitsversorgung (2016), Amelung, Binder, Bertram, Chase, Urbanski; medhochzwei-Verlag, Heidelberg • Robotik in der Gesundheitswirtschaft – Einsatzfelder und Potenziale (2018), Klein, Graf, Schlömer, Rossberg, Röhricht, Baumgarten; medhochzwei Verlag, Heidelberg • Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in ländlich geprägten Regionen – neue Modelle und Maßnahmen (2018), Auschra, Jana Deisner, Anne Berghöfer, Jörg Sydow, https://www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2019/05/Projektbericht_Sicherstellung-Gesundheitsversorgung-Land_Nov.pdf • European Scorecard zum Stand der Implementierung der elektronischen Patientenakte auf nationaler Ebene – erstes Update 2018, Volker Amelung, Ana Sofia Oliveira Gonçalves, Nick Bertram https://www.stiftung-muench.org/wp-content/ uploads/2018/09/Scorecard-final.pdf • Pflege in anderen Ländern (2019), Lehmann, Schaepe, Wulff, Ewers; MedhochzweiVerlag HeidelbergCapitation-Modelle in anderen Ländern (laufend) • Reformkommission „Neue Berufe im Gesundheitswesen“ (laufend) Die Studien werden öffentlich zur Verfügung gestellt. Die Art der Publikation reicht von der Broschüre bis zum Buch oder einer reinen Veröffentlichung auf der Internetseite. Die Interessenten werden mit dem Newsletter, dem elektronischen Magazin „Stiftung. Münch Themen“ informiert. Außerdem werden die Ergebnisse in verschiedenen Formaten, wie zum Beispiel den Luncheon Roundtables, den Think Camps oder dem BrainSnack, aufgegriffen.

4.4 Think Camps Aus Erfahrung wird man klug – aber für Veränderungen muss man alte Denkmuster über Bord werfen. Beim Think Camp der Stiftung Münch treffen deshalb die Erfahrung und das Wissen renommierter Experten von heute auf die frischen Ideen und den Tatendrang der Experten von morgen. Das Think Camp versammelt 15 Nachwuchskräfte an einem Wochenende, um sich zu einer bestimmten Fragestellung neue Lösungsansätze

4  Stiftung Münch – Think Tank …

51

zu überlegen. Sie erhalten wichtige theoretische Kenntnisse von erfahrenen Experten und setzen dann ihr Wissen in kreative Konzepte um, die sie abschließend präsentieren und die veröffentlicht werden. Die Think Camps richten sich an Studierende ab dem 5. Semester, Doktoranden und Postdoktoranden sowie Berufsanfänger aus unterschiedlichen Branchen, die das Gesundheitswesen der Zukunft aktiv gestalten wollen. Es findet drei Mal pro Jahr mit wechselnden Themen und Dozenten statt. „Wer den Teich austrocken will, darf nicht die Frösche fragen.“ Dieses Zitat gilt ganz besonders für das selbstverwaltete Gesundheitssystem. Kaum eine Branche ist so geprägt durch Silodenken und dem Bestreben, die eigenen Besitzstände zu wahren. Berufsanfänger haben oft noch großen Enthusiasmus, Dinge zum Besseren zu bewegen und sehen viele Dinge kritisch. Doch beides verliert sich im Laufe des Berufslebens, die Akteure finden sich mit den vorgegebenen Strukturen zurecht und beginnen, sich darin zu bewegen und hören auf, sie weiter zu hinterfragen oder ändern zu wollen. Diesen anfänglich kritischen Blick möchte die Stiftung Münch nutzen, um einen neuen Blick auf das Gesundheitssystem zu werfen. Die „nächste Generation“ im Gesundheitswesen, ihre Vorstellungen und Ideen sollen ernst genommen werden; nicht zuletzt, da sie selbst von der Entwicklung betroffen sind und das Gesundheitssystem in Zukunft nutzen und auch finanzieren müssen. Ernst zu nehmen sind ihre Meinungen allemal, weil sie, um am Think Camp teilnehmen zu können, auch eine Ausbildung abgeschlossen und/oder erste Berufserfahrungen gesammelt haben, also über grundlegende Kenntnisse verfügen. Damit die nächste Generation auch Einblicke in und Verständnis für die Arbeitsweise anderer Berufsgruppen entwickelt, setzen sich die Teilnehmer eines Think Camps aus unterschiedlichen Professionen zusammen, die relevant für das Gesundheitssystem sind. Angestrebt wird stets ein Mix aus Gesundheitsökonomen, Gesundheits- und Krankenpfleger und Pflegewissenschaftlern, Medizinern, Informatikern, aber auch anderen Berufen, die Kompetenzen einbringen können, die bei der Gestaltung des Gesundheitssystems bisher zu wenig Beachtung gefunden haben. Um dies zu gewährleisten, ist eine Bewerbung erforderlich. Die Teilnehmerzahl ist auf 15 beschränkt, damit ein persönlicher Austausch und Diskussionen möglich sind, an denen sich alle beteiligen können. Doch so wichtig der kreative und innovative Blick der „jungen Generation“ auch ist – damit ihre Ideen das Potenzial haben, in die Realität umgesetzt zu werden, ist die Einbindung von Erfahrung und langjährigem Wissen unerlässlich. Deshalb sind bei den Think Camps jeweils vier Experten eingebunden, die ihr Wissen zunächst vermitteln und sich in intensiven Diskussionen mit den Teilnehmern und untereinander austauschen. Das Think Camp beginnt stets an einem Freitagnachmittag mit zwei Vorträgen und Diskussionsrunden, die jeweils knapp zwei Stunden dauern. Dabei sollen viele Fragen gestellt und Meinungen diskutiert werden. Am Abend treffen sich Teilnehmer und Dozenten zu einem Get-Together, wo bei Essen und in ungezwungener Atmosphäre gesprochen und Kontakte geknüpft werden können. Nach zwei weiteren Vorträgen und Diskussionsrunden am Samstagvormittag werden schließlich die Teilnehmer in drei Gruppen aufgeteilt und erhalten ihre Aufgabe, nämlich ein eigenes Konzept zum Thema des Think Camps zu erarbeiten. Dieses präsentieren sie am Sonntagvormittag. Dabei

52

B. Augurzky und A. Kennel

wird dem Austausch zu den Ideen der einzelnen Gruppen großer Raum eingeräumt. Mit einem gemeinsamen Mittagessen endet das Think Camp am Sonntagmittag. Letztlich profitieren die Teilnehmer ebenso wie die Dozenten vom Austausch untereinander. Rückblickend zeigt sich, dass aus den Think Camps bereits zahlreiche Netzwerke entstanden sind, die von den Teilnehmern als wertvoll erachtet werden. Um zu unterstützen, dass die Kontakte erhalten bleiben, organisiert die Stiftung Münch einmal im Jahr ein Alumni-Treffen. So trafen sich 2019 die ehemaligen Teilnehmer und Dozenten am neuen Campus in Bad Neustadt an der Saale, wo sie nach einer Führung und fachlichem Austausch die Gelegenheit haben, beim informellen Abendprogramm ihr Netzwerk zu pflegen. Seit 2016 sind folgende Themen in einem Think Camp angegangen worden: • Pflege in anderen Ländern – Vorbild für Deutschland? (2019) • Aus Erfahrung lernen oder das Rad neu erfinden – andere Gesundheitssysteme als Vorbild? (2018) • Baustelle Notfallversorgung – mehr Effizienz und Patientenorientierung (2018) • Welche Elemente müsste ein Koalitionsvertrag einhalten? (2017) • Welche neuen Berufe braucht die Gesundheitsversorgung von morgen? (2017) • Einsatz von Robotern in der Netzwerkmedizin (2017) • Vergütungsmodelle in Netzwerken (2016) Die bisherigen Themen und Ergebnisse der Think Camps sind auf der Internetseite der Stiftung unter www.stiftung-muench.org/netz-werk-macher veröffentlicht.

4.5 Eugen Münch-Preis für innovative Gesundheitsversorgung Die Stiftung Münch verleiht jährlich den Eugen Münch-Preis für innovative Ideen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in den beiden Kategorien „Versorgungsforschung“ und „Praktische Anwendungen“ – mutige Ideen, die das Potenzial haben, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und das System effizienter zu gestalten. Im Fokus steht dabei besonders der kreative Einsatz neuer Technologien und die Nutzung der Potenziale, die sich durch Digitalisierung und Robotik ergeben. Gefragt sind auch neue Versorgungs- und Behandlungsmodelle, Vergütungssysteme oder eine Anpassung der Berufsbilder an die Gesundheitsversorgung der Zukunft. In der Kategorie Versorgungsforschung (2019 dotiert mit 20.000 EUR) werden wissenschaftliche Forschungsarbeiten im Bereich der Gesundheitsversorgung ausgezeichnet, die sich damit beschäftigen, den Zugang zur Versorgung zu sichern und/oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Leistungserbringung zu verbessern. Die Wissenschaft, insbesondere die Versorgungsforschung, kann einen wichtigen Beitrag dabei leisten, die Gesundheitsversorgung zukunftsfähig zu machen: Welche

4  Stiftung Münch – Think Tank …

53

Versorgungsmodelle und welche Behandlungsmethoden haben das Potenzial zur Effizienzverbesserung? Bei welchen konnten hierfür empirische Belege gefunden werden? Welche Vergütungsmodelle sind nötig, um Implementierungs- und Effizienzpotenziale zu heben, und wie müssen sich dafür Berufsbilder entwickeln? Die Stiftung Münch prämiert Arbeiten, die sich Themengebieten aus den folgenden Bereichen mit hohem wissenschaftlichem Anspruch widmen. Versorgungsmodelle • Innovative Versorgungsformen oder Produkte zum Beispiel aus den Bereichen E-Health, Digitalisierung der Medizin, Telemedizin, Gesundheits-Apps, Robotics • Gesundheitsnetzwerke mit interdisziplinären, sektorenübergreifenden und/oder populationsorientierten Elementen • Konzepte zur Gestaltung der ländlichen medizinischen Versorgung • Konzepte zur Arzneimittelversorgung (Apotheken, elektronisches Rezept, Medikation) Gesundheitsnetzwerke • Analysen von Gesundheitsnetzwerken im Hinblick auf Kosten-Nutzen-Effekte, klinische Effekte und Prozesse (national oder international) • Vergütungssysteme, darunter qualitätsorientierte Vergütung • Versicherungsangebote für Gesundheitsnetzwerke Berufsbilder in Medizin und Pflege • Anpassung an veränderte Versorgungsmodelle • Vernetzung von Professionen (multiprofessionelle bzw. Teamansätze der Versorgung) • Neue Professionen im Gesundheitswesen (zum Beispiel klinische Case Manager, Versorgungsassistenten, Hospitalist, IT-Ärzte) Steigerung der Effizienz der Gesundheitsversorgung (Kosten-Nutzen-Verhältnis) • Geringere Kosten • Höherer Nutzen für Patienten In der Kategorie Praktische Anwendungen (2019 dotiert mit 20.000 EUR) werden innovative praktische Anwendungen neuer Technologien und Prozesse ausgezeichnet, die sich damit beschäftigen, den Zugang zur Versorgung zu sichern und/oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Leistungserbringung zu verbessern. Die Anwendungen können sich in der Planungs- oder Umsetzungsphase befinden – oder bereits am Markt etabliert sein. Ein besonderer Fokus liegt auf den Bereichen Digitalisierung, eHealth und Robotik. Die Gewinner werden von einer Jury ausgewählt, der renommierte Experten angehören. Bei der Besetzung achtet die Stiftung Münch darauf, dass alle Akteure des

54

B. Augurzky und A. Kennel

Gesundheitssystems vertreten sind (Krankenkasse, Leistungserbringer, Wissenschaftler, Patientenvertreter, Presse). Damit soll ein ausgewogenes Urteil getroffen werden und der Eugen Münch-Preis für die Bewerber zusätzlich attraktiv sein.

4.6 Ausblick Das Handeln der Stiftung involviert und basiert auf fünf Kerngedanken: Wandel, Mut, Zukunft, Dialog und Weitblick. Als unabhängige Stimme sieht es die Stiftung als ihre Aufgabe an, das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen und sowohl die Versorgungsqualität als auch die Effizienz zu erhöhen. Sie wird dafür die entscheidenden Themen weiterhin mutig angehen, aufarbeiten und vordenken sowie erforderliche Veränderungen unbeeinflusst von Partikularinteressen vorantreiben, in dem sie Wissen generiert, Lösungsoptionen anbietet, unterschiedliche Akteure und Generationen vernetzt und den Austausch untereinander fördert.

Literatur Holzinger, S., & Augurzky, B. (2015). Netzwerkmedizin: Fakten. Diskurs. Perspektiven für die praktische Umsetzung. Heidelberg: medhochzwei-Verlag. Münch, E., & Scheytt, S. (2014). Netzwerkmedizin: Ein unternehmerisches Konzept für die altersdominierte Gesundheitsversorgung. Wiesbaden: Springer Gabler.

Prof. Dr. Boris Augurzky  ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Mathematik und promovierte in Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. Von 2001 bis 2003 war er Berater bei The Boston Consulting Group mit Schwerpunkt Financial Services.  Anschließend wechselte  Augurzky an das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), wo er den Bereich Gesundheit aufbaute. Er ist Autor mehrerer Bücher, Buchbeiträge und Fachartikel, insbesondere des Krankenhaus Rating Report. Seit 2007 ist er darüber hinaus geschäftsführender Gesellschafter der Institute for Health Care Business GmbH (hcb), für die er Investoren und Leistungserbringer im Gesundheitswesen berät. Seit 2013 ist er Mitglied des Fachausschusses „Versorgungsmaßnahmen und -forschung“ der Deutschen Krebshilfe. Annette Kennel ist operative Geschäftsführerin der Stiftung Münch. Nach ihrem Studium der Biologie war sie zunächst in der medizinischen Grundlagenforschung und als Geschäftsführerin eines Anbieters für genetische Analysen tätig. Sie wechselte in die Unternehmenskommunikation, die sie an verschiedenen Kliniken aufbaute und führte. Zuletzt war sie als Regionalleiterin für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eines großen Klinikunternehmens verantwortlich.

5

Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“ Ingo Horak

Inhaltsverzeichnis 5.1 Einleitung – Think Tanks im Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 5.2 Zielsetzung und Struktur der Bertelsmann Stiftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.3 Bertelsmann Stiftung im internationalen Ranking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5.4 Gesundheitspolitische Zielsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.5 Weitere Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

5.1 Einleitung – Think Tanks im Gesundheitswesen Die Universität von Pennsylvania gibt in ihrem „Think Tanks & Civil Societies Program“ eine Definition von Think Tanks, auch Denkfabriken oder Vordenker genannt: „Think tanks are public-policy research analysis and engagement organizations that generate policy-oriented research, analysis, and advice on domestic and international issues, thereby enabling policy makers and the public to make informed decisions about public policy“ (McGann 2018). Sie unterscheidet sieben Kategorien von Think Tanks in Abhängigkeit von Finanzierung, Trägerschaft und Zielsetzungen (Abb. 5.1).

I. Horak (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_5

55

56

I. Horak

Abb. 5.1   Kategorien von Think Tanks (McGann 2018)

In der Regel verfolgen Think Tanks das Ziel, Politiker und Verwaltungen sachkundig zu informieren und in ihren politischen Entscheidungen zu beraten. Denkfabriken schlagen eine Brücke zwischen Wissenschaft und praktischer Politik, sie dienen damit dem öffentlichen Interesse. Sie können das politische System beeinflussen, um scheinbar unlösbare Aufgaben zu ermöglichen. Sie sind dabei Teil eines breiteren sozialen Raums, der Menschen, Wissen, Ideen, Institutionen und Netzwerke zur Politikgestaltung zusammenbringt (Abb. 5.2). Die Bedeutung von Think Tanks gilt – aufgrund der großen Relevanz von Gesundheit für die Menschen, den komplexen Fragestellungen sowie der großen Anzahl an Interessensvertretern – insbesondere für den Gesundheitsbereich. Der vorliegende Beitrag möchte einen Einblick in einem der wichtigsten Think Tanks für das deutsche Gesundheitssystem geben, der Bertelsmann Stiftung.

5  Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“

57

Abb. 5.2   Gesundheits-Think Tanks im öffentlichen Raum

5.2 Zielsetzung und Struktur der Bertelsmann Stiftung Die Bertelsmann Stiftung ist eine selbstständige Stiftung des privaten Rechts mit Sitz in Gütersloh. Sie wurde 1977 gegründet und soll das gesellschaftspolitische, kulturelle und soziale Engagement der Inhaberfamilien Bertelsmann und Mohn in institutionalisierter Form fortsetzen. Zugleich soll sie die Unternehmenskontinuität sichern. Die Bertelsmann Stiftung versteht sich als gemeinnützige Organisation, die sich nach eigenen Aussagen „in der Tradition ihres Gründers Reinhard Mohn für eine zukunftsfähige Gesellschaft engagiert“. Mohn selbst beschrieb die Bertelsmann Stiftung als „ein Ort, an dem wir ohne parteipolitische Grenzen in die Zukunft schauen und Impulse für Veränderungen erarbeiten“. Die Bertelsmann Stiftung fördert nach eigener Aussage Reformprozesse und Prinzipien unternehmerischen Handelns, um eine „zukunftsfähige Gesellschaft“ aufzubauen. Mohn wollte seine unternehmerischen Prinzipien wie Leistungsorientierung, Wettbewerb und Eigenverantwortung auf Staat und Gesellschaft übertragen. Und dies auf Basis von objektiven Zahlen, oder wie es die Süddeutsche Zeitung formulierte: einer „Vermessung der Welt“. Den Vorstand bilden momentan Aart de Geus als Vorstandsvorsitzender (er war stellvertretender Generalsekretär der OECD von 2007 bis 2011 und Minister für Arbeit und Soziales der Niederlande von 2002 bis 2007), Liz Mohn als stellvertretende Vorsitzende,

58

I. Horak

Jörg Dräger (ehemaliger parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg zwischen 2001 und 2008) sowie Dr. Brigitte Mohn, wie Liz Mohn als Vertreterin der Eigentümerfamilie. Der derzeitige Leitgedanke soll die Arbeit der Bertelsmann Stiftung zusammenfassen: „Menschen bewegen. Zukunft gestalten. Teilhabe in einer globalisierten Welt“. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung bezeichnet Aart de Geus die Stiftung als ­„‚Think-and-do-Tank’: Wir denken nicht nur, wir machen auch. Neben den Studien gibt es zahlreiche Modellversuche, in denen die eigenen Ideen erprobt werden“. Thematische Schwerpunkte der Bertelsmann Stiftung sind die drei identifizierten Haupttreiber des Wandels: Digitalisierung, demografischer Wandel, Globalisierung. Sie bilden die inhaltliche Klammer um sieben weitere Themengebiete wie beispielsweise die Aktivierung von Gesundheit. Im vergangenen Jahr hat sich die Bertelsmann Stiftung mit 70 Projekten beschäftigt. Anders als viele andere Stiftungen fördert sie allerdings keine Ideen Dritter, sondern nur die eigenen. Die Projekte werden sehr häufig in Kooperation

Abb. 5.3   Themen der Bertelsmann Stiftung (Bertelsmann Stiftung 2019)

5  Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“

59

mit Partnern aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder wissenschaftlichen Institutionen umgesetzt (Abb. 5.3). In den 42 Jahren ihres Bestehens hat die Bertelsmann Stiftung rund 1,5 Mrd. EUR für gemeinnützige Arbeit ausgegeben. 2018 waren es 86,2 Mio. EUR, davon 49 Mio. für ihre Programme und Sonderprojekte. Zudem tätigte die Bertelsmann Stiftung 2018 Zuwendungen an verbundene gemeinnützige Organisationen in Höhe von 14,2 Mio. EUR. Die Stiftung beschäftigt aktuell 384 Mitarbeiter in Voll- und 121 in Teilzeit am Hauptsitz in Gütersloh sowie weiteren Standorten in Barcelona, Washington und Brüssel. Die Bertelsmann Stiftung hält seit 1993 die Mehrheit der Anteile des ­Bertelsmann-Konzerns, Europas größtem Medienunternehmen. Sie kommt zusammen mit der Reinhard Mohn Stiftung und der BVG Stiftung auf 80,9 % der Unternehmensanteile. Das Eigenkapital der Bertelsmann Stiftung beläuft sich laut Bundesverband Deutscher Stiftungen auf 1,24 Mrd. EUR. Damit liegt sie auf dem 10. Platz der deutschen Stiftungen privaten Rechts. Die Stiftung finanziert ihre Tätigkeit zu großen Teilen aus den Gewinnen der Bertelsmann SE & Co. KGaA (Bundesverband Deutscher Stiftungen 2018).

5.3 Bertelsmann Stiftung im internationalen Ranking Die Universität von Pennsylvania veröffentlicht seit zwölf Jahren im Rahmen seines „Think Tanks & Civil Societies Programs“ den „Global Go To Think Tank Index“ (McGann 2018). Von über 6600 Denkfabriken weltweit wurden 173 als ­Top-Think-Tanks in einem mehrstufigen Nominierungsverfahren ausgewählt. Das Ranking basiert auf einer Bewertung durch mehr als 7500 Wissenschaftlern, öffentlichen und privaten Stiftern, politischen Entscheidungsträgern und Journalisten anhand ihrer 28 Kriterien. Die Befragten legten in ihrer Wahl vor allem qualitative Kriterien zugrunde: Qualität und Ansehen der Beschäftigten in den Denkfabriken sowie die Qualität ihrer Forschungsergebnisse spielten in den Urteilen der Befragten die größte Rolle. Auch ihr Einfluss auf die Politik sowie ihre Bekanntheit unter Entscheidern waren wichtige Kriterien. Deutschland verzeichnet mit 218 Think Tanks den 6. Platz gemessen an der Anzahl von Think Tanks. Platz 1 belegen die US mit 1871 Think Tanks. Die Bertelsmann Stiftung wird im Ranking der wichtigsten Think Tanks in Westeuropa auf dem 44. Platz geführt. Bester Think Tank aus Deutschland ist die Konrad Adenauer Stiftung mit Platz 6. Im Ranking „Think Tank to Watch in 2019“ belegt die Bertelsmann Stiftung aktuell den 5. Platz. Bezogen auf die weltweit wichtigsten Think Tanks der globalen Gesundheitspolitik befindet sich jedoch weder die Bertelsmann Stiftung oder sonst ein Think Tank aus Deutschland im Ranking.

60

I. Horak

5.4 Gesundheitspolitische Zielsetzung Die Anfänge Reinhard Mohn hat früher als andere die besondere Bedeutung des Gesundheitssystems mit seinem gesamtwirtschaftlichen Gewicht erkannt. Einer der ersten nach ihm benannten Preise wurde im Jahr 2000 zu gleichen Teilen an die Niederlande und an die Schweiz verliehen; an die Niederlande für ihr Primärarzt-System, und an die Schweiz für die Krankenversicherungsreform von 1997. Mit der Verleihung dieses Preises betrat die Bertelsmann Stiftung die gesundheitspolitische Bühne in Deutschland. Die Publikation dazu galt vielen zunächst als Eintagsfliege. Jedoch resultierten daraus langjährige Projekte. Vergleichende Forschung und internationale Benchmarks zu Gesundheitssystemen und Gesundheitspolitik sind nicht neu. Eine Vielzahl internationaler Organisationen wie OECD, WHO, Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme und akademische Institutionen in diesem Feld aktiv. Typischerweise konzentriert sich die Forschung auf Analyse und Vergleich quantitativer Daten, strukturellen Eigenheiten und Ergebnisse der unterschiedlichen Systeme. Auch sind die Agenden für gesundheitspolitische Reformen ähnlich: „Demografische Entwicklung, Alterung und längere Lebensdauer, Fortschritte in Medizin und Technologie, Koordination, Transparenz und Effizienz, Qualität und Kosten, Zugang zum System sowie dessen Finanzierung – all dies sind zentrale Herausforderungen, denen sich Gesundheitspolitiker stellen müssen. Dennoch funktioniert der Transfer von Wissen aus Forschung und empirischer Erfahrung in die Gesundheitspolitik bestenfalls schleppend, hinken innovative Reformansätze den vergleichenden Analysen von Gesundheitspolitik erheblich hinterher“ (Busse und Schlette 2004). In der Verstärkung der Themen und der breiten Kommunikation liegt die zentrale Rolle der Bertelsmann Stiftung in Deutschland. Ausgewählte abgeschlossene Projekte (Bertelsmann Stiftung a) Internationale Netzwerk Gesundheitspolitik Von 2002 bis 2013 arbeiteten in dem Netzwerk gesundheitspolitische Experten aus weltweit 15 Ländern zusammen. Sie berichteten seismografisch über aktuelle Themen und Entwicklungen der Gesundheitspolitik und informierten Politik und Wissenschaft über gesundheitspolitisch bewährte Maßnahmen und Rahmenbedingungen. Die halbjährlichen Analysen und Berichte über gesundheitspolitische Innovationen wurden publiziert (Buchreihe: „Gesundheitspolitik in Industrieländern“) und in die gesundheitspolitische Debatte in Deutschland getragen. Das bis heute einmalige Projekt wird heute von der WHO (European Observatory) als Health Systems and Policy Monitor fortgeführt.

5  Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“

61

Gesundheitsmonitor 15 Jahre hat die Bertelsmann Stiftung den Gesundheitsmonitor insgesamt herausgegeben. 2002 erschien die erste Jahrespublikation, ab 2011 weitere in Zusammenarbeit mit der Barmer GEK. In der Zeit wurden rund 200 Studien publiziert. Sie basierten auf repräsentativen Befragungen von mehr als 80.000 Bürgern sowie auf Sonderbefragungen von über 12.000 Versicherten der Barmer GEK. Der Gesundheitsmonitor dokumentierte und analysierte, wie die Menschen das Gesundheitssystem in Deutschland erleben und bewerten. Er lieferte Antworten auf die „vier großen Fragen der Gesundheitspolitik“: • • • •

Was wissen die Deutschen zu Gesundheitsfragen, woher kommt dieses Wissen? Wie gut ist die Gesundheitsversorgung aus Patientensicht? Wie werden Gesundheitsreformen von den Bürgern beurteilt? Wie soll das Gesundheitssystem der Zukunft aussehen?

Webseite: www.gesundheitsmonitor.de Europäisches Praxisassessment (EPA) Das zweite Projekt, das aus dem Bertelsmann Preis hervorgegangen ist, war das European Practice Assessment, das sich aus Erfahrungen aus den Niederlanden, der Schweiz und aus England speiste. Es ging um systematisches Qualitätsmanagement in der Allgemeinmedizin, was damals als innovativer Ansatz galt. Webseite: www.epa-qm.de Faktencheck Gesundheit Der Faktencheck Gesundheit analysierte im Zeitraum 2011–2017 insgesamt zwölf Versorgungsthemen. Er zeigt beispielhaft strukturelle Defizite des deutschen Gesundheitswesens auf, wie Planungsdefizite, Fehlanreize und mangelhafte Einbindung der Patienten. Zu den behandelten Themen gehörten die Faktenchecks zu Antibiotika, Ärztedichte, Depression, Kaiserschnitt, Knieoperation, Krankenhausstruktur, Mandeloperation, Palliativversorgung, Psychotherapeuten, Rücken. Webseite: faktencheck-gesundheit.de Eine Übersicht sämtlicher abgeschlossener Projekte befindet sich auf der Webseite der Bertelsmann Stiftung. Aktuelle Projekte Drei Haupttreiber des gesellschaftlichen Wandels beschäftigen heute schwerpunktmäßig die gesundheitspolitische Arbeit der Bertelsmann Stiftung: Digitalisierung, demografischer Wandel und Globalisierung. Unter dem programmatischen Titel „Gesundheit aktivieren“ befinden sich eine ganze Reihe von Aktivitäten zu diesen Haupttreibern. Zielsetzung hierbei ist nach eigenen Aussagen, „den Wandel mit seinen neuen Anforderungen zu begleiten, die Gesundheitskompetenz der

62

I. Horak

Menschen zu verbessern und eine stabil finanzierte, am Bedarf ausgerichtete Versorgung zu bieten“. Ökonomische Fragestellungen zur Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme in alternden Gesellschaften und technologischem Fortschritt bilden die Leitmotive. Bei ihrer Arbeit fällt der Bertelsmann Stiftung vor allem durch ihre Resonanzfähigkeit in der Politik und in den Medien große Bedeutung zu. Gesundheitspolitische Trendthemen wie Digitalisierung, Pflege oder Reformbedarf der Krankenhäuser werden geschickt aufgegriffen und verstärkt. Auch hier ist der rote Faden der Bertelsmann Stiftung erkennbar: andere Gesundheitssysteme in der Welt als Vorbilder und Benchmarks für gesundheitspolitische Reformen in Deutschland nutzen sowie und in ein Monitoring zur Ermittlung der langfristigen Leistungsfähigkeit überführen. Ausgewählte laufende Projekte Der digitale Patient Die Digitalisierung hat enorme Auswirkungen auf das gesamte Gesundheitswesen und die zukünftige Versorgung. Neue Technologien revolutionieren Medizin und Therapien, neue Anbieter aus dem Technologiebereich drängen in die Gesundheitssysteme, digitale Gesundheitsanwendungen gelangen in die reguläre Versorgung und die Rolle der Akteure verändert sich – in nahezu allen Bereichen gibt es massive Veränderungen. Das Projekt „Der digitale Patient“ untersucht nach eigenen Angaben „die gesellschaftspolitischen (Aus-)Wirkungen und geht der Frage nach, welche Technologien und Entwicklungen echten Nutzen für Patienten und die Versorgung entfalten“. Bei dem Projekt stehen derzeit vier essentielle Themen inhaltlich im Vordergrund: • • • •

Telematikinfrastruktur und elektronische Gesundheitskarte – die Rolle der Bürger Gesundheitskompetenz im digitalen Zeitalter Transfer von Innovationen in die Regelversorgung Big Data und Prädiktive Medizin

Unter der Projektführung von Timo Thranberend erstellt ein Team aus Mitarbeitern und Gastautoren Studien, Analysen und Beiträge für den Projektblog ­blog.der-digitalepatient.de, auf dem regelmäßig Beiträge veröffentlicht werden. Außerdem steht das Expertennetzwerk, „30 unter 40“ mit zahlreichen Gründern von namhaften Start-ups beratend zur Seite. Das Expertennetzwerk gab konkrete Handlungsempfehlungen für die Akteuren des Gesundheitssystems im Rahmen einer „Roadmap Digitale Gesundheit“ (Roadmap o. J.). Das Projekt hat richtungsweisende Analysen wie die internationale Vergleichsstudie #SmartHealthSystems hervorgebracht (s. Abschn. 5.5 „Weitere Publikationen“). Außerdem beschäftigt sich „Der digitale Patient“ mit der Definition von Gütekriterien für Gesundheits-Apps unter dem Titel „AppQ – Definition eines Gütekriterien-Kernsets

5  Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“

63

für eine strukturierte Qualitätsberichterstattung durch Anbieter von Gesundheits-Apps“ (Kernsets o. J.). Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt möchte Qualitätskriterien für digitale Gesundheitsanwendungen entwickeln und sie für Anbieter zur Selbstauskunft und zur anschließenden Veröffentlichung der Qualitätsdaten nutzbar machen. Webseite: blog.der-digitale-patient.de Die Weisse Liste Die Weisse Liste ist eine gemeinnützige GmbH mit rund 13 Mitarbeitern im Berliner Büro um Geschäftsführer Roland Rischer. Sie wurde 2008 gegründet. Die Dachverbände der größten Patienten- und Verbraucherorganisationen (BAG Selbsthilfe, SoVD Sozialverband Deutschland, VdK Sozialverband Deutschland, vzbv Verbraucherzentrale Bundesverband) begleiten die Weisse Liste als Co-Initiatoren und Kuratoriumsmitglieder mit Blick auf die Interessen von Patienten und Verbrauchern. Schirmherrin der Weissen Liste ist seit Mai 2019 die Patientenbeauftrage der Bundesregierung, Prof. Dr. Claudia Schmidtke. Die Weisse Liste ist im Kern eine Arzt- und Krankenhaussuche (Krankenhaussuche o. J.). Sie bietet Patienten und Angehörigen Orientierung bei der Suche nach einem geeigneten Hausarzt, Facharzt oder Zahnarzt und hilft dabei, ein passendes Krankenhaus zu finden. Neben Patientenfragebögen werden weitere Daten wie beispielsweise die Qualitätsberichte der Krankenhäuser verwendet. In der Krankenhaussuche gibt es nach eigenen Angaben 900.000 Patientenbewertungen für die rund 2000 Krankenhäuser in Deutschland. Weitere Informationen fließen dort von den Qualitätsdaten der Krankenhäuser ein: Zahlen für Operationen und Personal, Betten und Apparate oder zum ­Entlassund Qualitätsmanagement. Außerdem Informationen zu 30 Leistungsbereichen zur medizinischen Qualität auf Basis von den Routinedaten von der AOK und Barmer. Die Weisse Liste bietet ihre Suche auch allen Krankenkassen zur Einbindung in ihre Portale an. Der AOK Bundesverband, die Barmer GEK, KKH und AXA nutzen derzeit die Inhalte der Weissen Liste in ihren Webportalen. Sie steht dabei im Wettbewerb mit kommerziellen Anbietern wie beispielsweise Jameda, bietet allerdings keine weiteren modernen Services wie Terminvereinbarung oder Videosprechstunde an. Webseite: www.weisse-liste.de Weitere Projekte Des Weiteren beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung mit diesen gesundheitspolitischen Themen: • Neuordnung Krankenhaus-Landschaft Das Projekt soll aufzeigen, wie man mit weniger Kliniken eine bessere Versorgungsqualität bekommt. Es skizziert mit führenden Krankenhausexperten ein Zielbild und einen Benchmark für die politisch eingeleitete Neuordnung.

64

I. Horak

• Demografieresilienz und Teilhabe Lösungskonzepte, die dem multiplen Handlungsdruck im demografischen Wandel Rechnung tragen und auf mehrere Versorgungssysteme stabilisierend wirken. • Integrierte Krankenversicherung Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung steht in der Kritik. Perspektiven für eine nachhaltige und solidarische Krankenversicherung. • Kommunale Entwicklung – Chance zur Kooperation Monitoring von relevanten Daten zur Lebenswelt von Kindern – damit alle Kinder die Chance auf ein gutes Aufwachsen haben. • Kein Kind zurücklassen! Kommunen schaffen Chancen „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“ Lebenswege von Kindern in Deutschland werden durch die soziale Herkunft bestimmt… • Patient mit Wirkung Arzt und Patient sollen auf Augenhöhe kommunizieren und das Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung im Versorgungsalltag umsetzen. • Zukunft Pflege Das Projekt „Zukunft Pflege“ setzt sich dafür ein, dass die Arbeitsbedingungen für professionelle Pflege sich spürbar verbessern, um die benötigten Fachkräfte gewinnen und halten zu können.

5.5 Weitere Publikationen • Unter dem Motto „Wir machen gute Ideen öffentlich“ publiziert der Verlag der Bertelsmann Stiftung aktuell rund 3000 Titel, davon 210 zum Thema Gesundheit. Außerdem umfasst das Verlagsprogramm rund 145 Print-Titel und 320 E-Books. Jährlich erscheinen etwa 20 neue Buchveröffentlichungen. Viele der Autoren sind namhafte Wissenschaftler oder Experten renommierter Einrichtungen. Damit sollen die Projektergebnisse sowie die Themen der Bertelsmann Stiftung einer breiten Öffentlichkeit sowie Journalisten, Experten und Politikern vermitteln werden. Zwei Publikationen sollen aufgrund der aktuellen politischen Diskussionen und Gesetzgebungen wie beispielsweise das Digitale Versorgung Gesetz (DVG) erwähnt werden. • Transfer von Digital-Health-Anwendungen in den Versorgungsalltag • Im Rahmen des Projekts „Der digitale Patient“ hat die Bertelsmann Stiftung in einer sechsteiligen Serie von 2016 bis 2019 sechs Studienergebnisse veröffentlicht. Die Serie behandelt digitale Gesundheitsanwendungen und deren Transfer in die Regelversorgung in Deutschland. Bausteine der Reihe sind das zugrunde liegende Trans-

5  Die Bertelsmann Stiftung als „Think and Do Tank“

65

fermodell, Innovations- und Forschungsförderung, Medizinproduktezertifizierung, Wirksamkeitsnachweis & Nutzenbewertung, Kostenerstattung & Vergütung sowie Markt- und Qualitätstransparenz. • Die Themenkomplexe erfahren derzeit eine hohe Relevanz, da das im Gesetzgebungsverfahren befindliche Digitale Versorgung Gesetz einen Zugang in die Regelversorgung und damit einen Anspruch der Versicherten auf die Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen vorsieht. • #SmartHealthSystems • Die Bertelsmann Stiftung hat in einer zweijährigen, internationalen Vergleichsstudie 17 verschiedene Gesundheitssysteme anhand ihres Digitalisierungsgrades analysiert. Das Ergebnis: Deutschland hinkt bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen weit hinterher und liegt abgeschlagen auf dem vorletzten Platz, während Estland, Kanada und Dänemark die Spitzenplätze einnehmen. Seit Veröffentlichung Ende 2018 erhielt die Studie seitdem große Aufmerksamkeit in der politischen Diskussion im Gesundheitswesen – auch um die Reformgeschwindigkeit in Deutschland zu beschleunigen. • Die Studie bietet eine hervorragende Projektionsfläche für die Forderungen einer stärkeren politischen Führung und Regulation im bisherigen System der Selbstverwaltung, der Errichtung koordinierender Instanzen und Standardisierung. So übernahm das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Sommer 2019 die Mehrheit an der Gematik, um die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und -Patientenakten samt Telematikinfrastruktur zu beschleunigen. Außerdem wurde im April der „Health Innovation Hub“ gegründet, eine Ideenfabrik des BMG. So fanden einige der Empfehlungen Eingang in die politische Umsetzung.

5.6 Fazit Die Bertelsmann Stiftung zählt zu den wichtigsten „Think and Do Tanks“ auch im Gesundheitswesen in Deutschland. Einen direkten politischen Einfluss versucht die Stiftung zu vermeiden und stellt ihre wissenschaftliche Arbeitsweise hervor. Die Bertelsmann Stiftung pflegt dabei ihre Tradition, internationale, vergleichende Analysen und Benchmarking für gesundheitspolitische Reformen in Deutschland zurate zu ziehen. Ihre Arbeit sorgt regelmäßig für öffentliche Diskussion. Politik und Medien greifen gerne die Vorschläge aus Gütersloh auf und ihre Experten sind in maßgeblichen Gremien auf deutscher und europäischer Ebene präsent und eng verzahnt mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Auch in den aktuellen politischen Diskussionen um die richtigen politischen Rahmenbedingungen, insbesondere bei dem Thema Digitalisierung, finden viele Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung Eingang.

66

I. Horak

Literatur Bertelsmann Stiftung a. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/abgeschlosseneprojekte/#. Bundesverband Deutscher Stiftungen. (2018). Liste der größten Stiftungen. https://www. stiftungen.org/de/stiftungen/zahlen-und-daten/liste-der-groessten-stiftungen.html. Busse, R., & Schlette, S. (2004). Gesundheitspolitik in Industrieländern. Verlag Bertelsmann Stiftung. Kernsets. (o. J.). https://blog.der-digitale-patient.de/appq-guetekriterien-kernset-gesundheits-apps/. Krankenhaussuche. (o. J.). https://www.weisse-liste.de/de/krankenhaus/krankenhaussuche/. McGann, J. (2019). 2018 Global go to think tank index report. Think tanks and civil societies program. The Lauder Institute University of Pennsylvania. Roadmap. (o. J.). https://blog.der-digitale-patient.de/roadmap/.

Weiterführende Literatur Bertelsmann Stiftung. (2019). https://www.bertelsmann-stiftung.de. Shaw, S., Russell, J., Greenhalgh, T., & Korica, M. (2014). Thinking about think tanks in health care: A call for a new research agenda. Sociology of Health & Illness, 36(3), 447–461. Slay, J. (2017). Impact: An enquiry into how think tanks create change. Core social leadership. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/infomaterial/jahresbericht-2018/. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/weisse-liste/unser-hintergrund/. https://www.horizont.net/medien/nachrichten/Die-groessten-Medienkonzerne-Facebook-springtunter-die-Top-10-weltweit-134320. https://www.sueddeutsche.de/bildung/gesellschaft-und-politik-das-glashaus-1.3899280-0. https://repository.upenn.edu/think_tanks/16/. https://repository.upenn.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1017&context=think_tanks. https://www.cloresocialleadership.org.uk/assets/resources/Research-docs/Julia_Slay_Impact_how_ think_tanks_create_change-FINAL.pdf. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/1467-9566.12071. https://repository.upenn.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1017&context=think_tanks.

Ingo Horak  hat 25 Jahre Berufserfahrung mit Digitalisierung, davon 14 Jahre im Gesundheitsmarkt. Er ist mehrfacher Unternehmensgründer und war leitende Führungskraft bei renommieren deutschen und internationalen Unternehmen aus der Digital- und Gesundheitsbranche u. a. AOL Time Warner, Bertelsmann, DocInsider, Vivy und Ada Health. Derzeit ist Ingo Horak Unternehmer im Bereich der digitalen Gesundheit und strategischer Unternehmensberater.

6

Ayinger Gesprächskreis Alois G. Steidel

Inhaltsverzeichnis 6.1 Hintergrund – Ayinger Gespräche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 6.2 Verfolgte Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6.3 Ausblick – Wo wollen wir hin?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

6.1 Hintergrund – Ayinger Gespräche Gemeinsam für Europa Unter diesem Motto trifft sich seit 2013 ein Gesprächskreis von Experten aus der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Die Ayinger Gespräche befassen sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen – national wie international. Die Ayinger Gespräche sind 2013 als unabhängiger und parteiübergreifender Gesprächskreis gegründet worden. Sie finden jährlich in Aying bei München statt. Das Konzept der Ayinger Gespräche folgt der Idee, dass ein fester Teilnehmerkern kontinuierlich die Inhalte des Gesprächskreises weiterträgt. Zu jedem Gesprächskreis wird ein Gast eingeladen, der einen Vortrag zu einem aktuellen internationalen Thema hält. Der feste Teilnehmerkreis bildet die Basis des Gesprächskreises, definiert die Themen und wählt die Gäste aus. Die geladenen Gäste sind Experten/-innen aus den jeweils gesetzten Diskussionsthemen und geben Impulse.

A. G. Steidel (*)  K|M|S Vertrieb und Services AG, Unterhaching, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_6

67

68

A. G. Steidel

Die Ayinger Gespräche suchen nach gesellschaftlichen Antworten und stärken den Blick auf das europäische Ganze. Die Ayinger Gespräche haben das Ziel, Erkenntnisse und Expertise in die aktuelle politische Kultur und Debatte einzuspeisen. Nachfolgend werden einige der Gesprächsthemen der letzten Jahre vorgestellt sowie die daraus entstandenen Empfehlungen. Der Ayinger Gesprächskreis veröffentlicht die Inhalte der Gespräche in den Ayinger Newslettern.

6.2 Verfolgte Ziele Für eine neue Balance von Souveränität, Solidarität und Subsidiarität Heute werden 50 % aller in der Welt gezahlten Sozialleistungen von den EU-Ländern geleistet. Bislang ist vor allem der Binnenmarkt die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung in Europa. Die Mitgliedschaft in der EU bedeutet eine Steigerung des Wohlstandes. Das Wohlstandsversprechen hat jedoch nicht alle Bürgerinnen und Bürger erreicht. Wie kann Europa souveräner und solidarischer, demokratischer und subsidiärer gestaltet werden? Und welches Europa wollen wir? Die europäische Säule sozialer Rechte, welche die Kommission 2017 vorgestellt hat, weist den Weg. Ziel ist eine Aufwärtskonvergenz in Richtung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen in Europa, um das europäische Versprechen einer globalen wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft einzulösen, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt zielt. Es geht um Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen Sozialschutz und soziale Inklusion. Es geht um eine neue Balance von Souveränität, Solidarität und Subsidiarität – einen sozialen Stabilitätspakt. Europa 4.0: Ein Upgrade für die Zukunft Der digitale Wandel fordert Europa heraus. Viele sprechen von einer vierten industriellen Revolution. Bisher führte jeder technologische Fortschritt zu sozialen Vorteilen für die Arbeitnehmer. Doch so wie sich Unternehmen auf neue Kunden und Geschäftsmodelle einstellen und Fantasie entwickeln, muss die Gesellschaft neue Lösungen für jene finden, die zu den Verlierern gehören werden. Für den Ayinger Gesprächskreis ist die Digitalisierung ein Chancenthema. Es gilt, den digitalen Wandel auch sozial zu gestalten und Europa entsprechend weiterzuentwickeln. Eine Digitale Agenda für Europa Der weltweite Gesundheitsmarkt wird sich in den kommenden 15 Jahren stärker verändern als in den vergangenen 150  Jahren. Insbesondere die fortschreitende Digitalisierung stellt die Herausforderung datenschutzrechtlicher und sicherheitspolitischer Regelungen auf die europäische Agenda. Digitalisierung macht nicht an nationalen Landesgrenzen halt. Europa muss als einheitlicher Regelungsraum gesehen werden. Länder wie USA und China verfolgen die Themen Automatisierung und Künstliche Intelligenz mit einer hohen forschungs- und industriepolitischen Priorität. Nach

6  Ayinger Gesprächskreis

69

Schätzung der Europäischen Kommission könnte die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes das europäische Bruttoinlandprodukt um jährlich 415 Mrd. EUR steigern und mehrere Hunderttausend neue Jobs bringen. Es ist daher richtig, dass die EU auf den Feldern der integrierten Gesundheitsversorgung und E-Health aktiver wird. Es braucht aber für die Zukunft einen integrierten Aktionsplan für die digitale Transformation der Gesundheitswirtschaft. Vor allem die mangelnde Interoperabilität. Das heißt, die unzureichende Fähigkeit der Systeme, Daten auszutauschen, ist ein Hemmnis. Viele Bürger sind um den Schutz ihrer Gesundheitsdaten besorgt. Um sie in ihrer „digitalen Mündigkeit“ zu stärken, müssen wir digitale Verantwortung, Vertrauen und Transparenz zusammen denken. Die Digitalisierung lässt eine neue „Open Health Society“ entstehen. Über offene und partizipative Plattformen und Netzwerke lassen sich die Daten und das Wissen für Patienten bündeln und die medizinische Forschung voranbringen. Voraussetzung ist, dass die Patienten über ein Mindestmaß an Gesundheitskompetenz verfügen.

6.3 Ausblick – Wo wollen wir hin? Europa stärken! – Die Empfehlung des Ayinger Kreises Die EU hat in den letzten Jahren an Handlungsfähigkeit und Vertrauen eingebüßt. Notwendig ist ein Mix aus politischen und ökonomischen Maßnahmen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen erfahren, dass sie von offenen Gesellschaften und Märkten profitieren. Es ist an der Zeit, den nächsten qualitativen Schritt zu gehen und die bisherigen vier Kapitel der Union (Frieden, Binnenmarkt, Erweiterung, Währungsunion) um ein fünftes Kapitel zu vervollständigen, hin zu einer politischen und soziale Union. Der Ayinger Kreis ist überzeugt: Was Europa jetzt braucht, sind Mut und die Vision echter Reformen. Europa wird sich im 21. Jahrhundert dann behaupten, wenn es zusammenhält und sich als Union weiter vertieft. 1. Reform der europäischen Institutionen Der Ayinger Kreis spricht sich für eine Fortentwicklung der Europäischen Kommission zu einer europäischen Regierung aus, die vom Europäischen Parlament eingesetzt und kontrolliert wird. Der heutige Rat würde (analog zum deutschen Bundesrat) zur zweiten Kammer, die bei konkurrierenden Gesetzgebungen mitbestimmt. Europawahlen sollen künftig echte europäische Wahlen sein. 2. Sozialunion als neue Säule Der Ayinger Kreis spricht sich für eine echte europäischen Sozialpolitik aus. Die Einigung und Integration Europas hat als ökonomisches Projekt, als Wirtschaftsgemeinschaft begonnen und muss als soziales Projekt mit einer fünften Säule weiterentwickelt werden. Begonnen werden könnte mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung der Eurostaaten, wie sie die Kommission vorgeschlagen hat. Die Frage einer sozialen Mindestsicherung bzw. eines europäischen Mindestlohns gehört ebenso auf die Agenda wie die Entwicklung eines europäischen Standards für die sozialen Sicherungssysteme.

70

A. G. Steidel

3. Eine Garantie für die nächste Generation Millionen Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren sind in der EU ohne Ausbildung oder Arbeit. Längst ist die Rede von einer „verlorenen Generation“. Die Jugendlichen brauchen eine Ausbildungs- und Zukunftsgarantie in einem transparenten europäischen Bildungssystem, wie im europäischen Qualifizierungsrahmen diskutiert. Jede Art der Beschäftigung oder Qualifizierung ist besser als Untätigkeit und Apathie. 4. Mehr Flexibilität und Tempo Da nicht alle EU-Mitgliedstaaten über die gleiche Wirtschaftskraft verfügen, sollten Maßnahmen einer Angleichung der Sozial- und Gesundheitspolitik zunächst innerhalb einer homogenen Gruppe – etwa der ursprünglichen Gründerstaaten – als Avantgarde (analog Schengen und Euro) beginnen. 5. Souveräner und solidarischer Europa wird größer und weiter denken müssen, wenn sich die USA aus dem Kontinent zurückzieht und Mächte wie China und Indien global stärker werden. Es geht um politische und digitale Souveränität. Angesichts der neuen globalen Sicherheitslage gehört auch die Verteidigungs- und Energieunion sowie eine europäische Entwicklungspolitik und Partnerschaft mit Afrika auf die Agenda. Die jungen Europäer sind die besten Botschafter eines neu begründeten Europas. Drei Vorschläge: Jeder Europäer sollte in seiner Schulzeit ein halbes Jahr im europäischen Ausland gelebt haben. Zum 18. Geburtstag bekommt jeder EU-Bürger einen Interrail-Pass. Jede junge Frau und jeder junge Mann leistet vor seinem 25. Lebensjahr einen flexiblen Zivil- oder Militärdienst in einem europäischen Mitgliedsland. 6. Ein Aktionsplan für die digitale Transformation der Gesundheitswirtschaft Die Europäische Union muss eine eigene Digitale Agenda entwickeln, wenn sie das Spiel nicht den USA oder Asien überlassen will. Auf EU-Ebene stehen drei Schwerpunkte im Fokus: 1) Grenzüberschreitender Zugang zu und Austausch von elektronischen Patientenakten und elektronischen Verschreibungen. 2) Sammlung und bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke. 3) Interaktion und Nutzung digitaler Innovationen zwischen Patienten und Gesundheitsdienstleistern.

Weiterführende Literatur Alle Nachfolgenden Links, beziehen sich auf die Veröffentlichungen der Ayinger Gespräche. www. ayinger-gespraeche.de. Soziales Europa. https://t1p.de/xzp2. Eine Digitale Agenda für Europa. https://t1p.de/ksh5. Europa 4.0. https://t1p.de/cvaw.

6  Ayinger Gesprächskreis

71

Alois G. Steidel Gründer, Eigentümer und CEO der K|M|S Vertrieb und Services AG, Unterhaching, Schwerpunkte: Wissensmanagement und Consulting in der Gesundheitswirtschaft, Entwicklung von Managementinformationssystemen. Ferner: Leiter des Ayinger Gesprächskreis, Mitglied des Präsidiums des Clubs der Gesundheitswirtschaft (cdgw), Präsident des Club Corbeau, Generaldirektor der BMB SA, Co-Founder und Investor XPOMET©, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts Gesundheitswirtschaft, Geschäftsführer der mednet Consult GmbH.

7

Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw) Alois G. Steidel

Inhaltsverzeichnis 7.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7.2 Der Club. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 7.3 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

7.1 Hintergrund Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw) Aus einer Vision ist Wirklichkeit geworden: Der Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw) hat sich als starkes und anerkanntes Forum der deutschen Gesundheitswirtschaft etabliert. Gegründet wurde er 2007. Als attraktiver und hochkarätiger Business Club bietet er seinen Mitgliedern eine Plattform des Kennenlernens und des fachlichen Austauschs über die Sektorengrenzen der Branche hinweg. Netzwerk für Führungskräfte Der Club der Gesundheitswirtschaft versteht sich als Netzwerk für Führungskräfte der immer stärker zusammenwachsenden Gesundheitswirtschaft. Der cdgw will außerdem die Belange der Gesundheitswirtschaft mit einer starken Stimme zu Gehör bringen. Dem Club gehören zurzeit mehr als 80 Kliniken, Klinikgruppen und Unternehmen mit insgesamt rund 150 Personen an. Der Club ist überparteilich und unabhängig. Seine Aktivitäten werden ausschließlich aus den Beiträgen der Mitglieder finanziert. A. G. Steidel (*)  K|M|S Vertrieb und Services AG, Unterhaching, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_7

73

74

A. G. Steidel

Clubmitglieder repräsentieren die Breite der Gesundheitswirtschaft Der cdgw ist ein Business Club. Er bildet die ganze Breite der Gesundheitswirtschaft ab. Das cdgw-Präsidium achtet bei Neuberufungen in den Club deshalb streng auf eine ausgewogene Vertretung der unterschiedlichen Sektoren der Gesundheitswirtschaft. Die größte Gruppe im cdgw bilden Universitätskliniken und Krankenhäuser. Sie machen rund ein Drittel der Mitglieder aus (Abb. 7.1).

7.2 Der Club Club-Leben Mit fünf ganz unterschiedlich ausgerichteten Veranstaltungen im Jahr wird das Clubleben gepflegt. Dazu zählen ein europapolitischer Fach-Workshop in Brüssel, ein großes nationales Netzwerktreffen, ein Seminarwochenende, der Wettbewerb und die Verleihung des renommierten Zukunftspreises Gesundheitswirtschaft sowie die traditionelle Kooperationsveranstaltung mit der Thieme Gruppe zur Verleihung des jährlichen Management-Awards. Dabei werden der Manager des Jahres und der Senkrechtstarter des Jahres in der Gesundheitswirtschaft ausgezeichnet. Zu ausgesuchten Treffen des cdgw können Mitglieder zudem Geschäftspartner einladen. Auch das Präsidium interessiert gezielt externe Experten für den Club, um den Austausch zu fördern. Ständige Kooperationspartner des cdgw sind:

Abb. 7.1   cdgw-Mitglieder nach Branchen in Prozent

7  Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw)

• • • • • • •

75

Ayinger Gesprächskreis, Aying bei München Club Corbeau, Brüssel Thieme Gruppe, Berlin/Stuttgart XPOMET Medicinale© Berlin Senat der Wirtschaft, Bonn/Berlin Zukunftsinstitut Gesundheitswirtschaft, Bonn/Berlin Sünjhaid – die Gesundheitskapitäne, Föhr/Berlin

Die aktuelle Veranstaltungsarchitektur sieht wie folgt aus: cdgw-Gala in Berlin (Januar) Im Rahmen der cdgw-Gala: Auszeichnungen Manager und Senkrechtstarter des Jahres (Thieme Management Award). Traditionell beginnt der cdgw das Club-Jahr im Januar in Berlin. Dabei kooperiert er seit vielen Jahren mit der Stuttgarter Thieme Gruppe, diese vergibt jährlich einen Preis für die oder den Manager/-in des Jahres und die oder den Senkrechtstarter des Jahres in der Gesundheitswirtschaft. Die Preisübergabe, die Laudatio und Ehrung der Preisträgerin oder des Preisträgers finden im Rahmen einer festlichen cdgw-Gala in Berlin statt. Es handelt sich um eine geschlossene Veranstaltung für cdgw-Mitglieder, für Repräsentanten der Thieme Gruppe sowie für ausgewählte Gäste. „cdgw-Workshop“ in Brüssel (März) Einmal im Jahr veranstaltet der cdgw einen Workshop in Brüssel. Er bietet Raum für fachliche Diskussionen zu aktuellen bzw. relevanten Thema. Mitglieder erfahren dort exklusiv und früh mehr zu wichtigen EU-Themen. Die Gesundheitswirtschaft ist einem dynamischen Veränderungsprozess unterworfen. Gesetzliche Regelungen, technische Innovationen, Kostendruck und neue Konzepte prägen die Branche. Als Business Club will der cdgw auch die Debatte und den internen Austausch zu wichtigen Zukunftsfragen der Branche fördern. In die Workshops fließen sowohl die Expertise aus der Mitgliedschaft als auch der externen Experten ein. Die Workshops finden in Brüssel statt, da die Europäische Union auch in der Gesundheitswirtschaft immer mehr Entscheidungen trifft und Vorgaben macht, die die Nationalstaaten betreffen und binden. In der Vergangenheit hat der cdgw bei solchen Anlässen Positionspapiere zu gesundheitswirtschaftlichen Themen erarbeitet, die dann in die öffentliche Debatte (Politik und Wirtschaft) eingespeist wurden. Zum Workshop können Mitglieder je einen Geschäftspartner kostenfrei einladen.

76

A. G. Steidel

„cdgw trifft Hauptstadtkongress“ in Berlin (Frühjahr/Sommer) Großes Netzwerktreffen am Vorabend des Hauptstadtkongresses. Der Hauptstadtkongress in Berlin im (Früh)Sommer ist der Treffpunkt der Branche. Traditionell lädt der cdgw seine Mitglieder am Abend vorher zu einer festlichen Zusammenkunft ein. Dazu können die Mitglieder jeweils einen Geschäftspartner als Gast mitbringen. Der Club der Gesundheitswirtschaft präsentiert sich damit als zentrale Plattform des Austauschs von Führungskräften und wichtigen Multiplikatoren der Branche. Die Gala bietet ihren Gästen ein hochwertiges und spannendes Kontaktnetz und interessante inhaltliche Impulse in einem attraktiven Rahmen. Die Veranstaltung ist in den vergangenen Jahren zu einem beliebten und stark frequentierten Treffpunkt geworden, denn dort trifft sich „die“ Gesundheitswirtschaft. Der cdgw richtet die Gala entweder alleine oder mit einem oder mehreren Partnern aus. „cdgw Wochenend-Workshop“ (September) Workshop-Wochenend-Workshop an wechselnden Orten. Einmal im Jahr treffen sich Mitglieder des cdgw zu einem Workshop-Wochenende. Es dient dem noch besseren Kennenlernen. Anzug und Kostüm bleiben in diesem Falle zuhause. Das „cdgw Wochenende“ findet jeweils im September an einem Donnerstag bis Samstag statt und dient vor allem dazu, dass die Mitglieder abseits ihrer beruflichen Verpflichtungen und ihres engen Terminkalenders Zeit für inhaltliche Debatten zur Gesundheitswirtschaft miteinander verbringen können. Die Reiseziele des „cdgw Wochenendes“ liegen sowohl im Inland wie auch im benachbarten Ausland – zum Beispiel, um sich bei einem Clubmitglied vor Ort zu informieren und dort das Gespräch zu führen und den Austausch zu fördern. Wettbewerb „cdgw-Zukunftspreis“ in Berlin (Oktober) Zukunftspreis Gesundheitswirtschaft. Seit 2008 vergibt der cdgw seinen „Zukunftspreis Gesundheitswirtschaft“. Er ist mit einem Preisgeld in Höhe von 5000 EUR und einer Veröffentlichung in den ­kma-Medien (Gesundheitswirtschaftsmagazin und Onlineportal) dotiert. Zusätzlich erhält die Gewinnerin/der Gewinner die Möglichkeit, sich am 10. Oktober 2019, um 18 Uhr, auf der Main-Stage der XPOMET© Medicinale zu präsentieren. Der Preis wird in Kooperation mit der XPOMET Medicinale© vergeben. Der Zukunftspreis hat das Ziel, Innovationen in der Gesundheitswirtschaft ein Forum zu geben und sie einem hochkarätigen Expertenkreis aus Krankenhaus, Industrie, Medien und Dienstleistung bekannt zu machen. Am Wettbewerb können Unternehmen und Personen aus der internationalen Gesundheitswirtschaft teilnehmen. Bewerbung und Teilnahme sind gebühren- und kostenfrei. Der Gedanke dahinter lautet: Die Gesundheitswirtschaft braucht kreative Ideen. Und sie braucht Menschen, die diese Visionen, Therapien, Projekte etc. in die Praxis umsetzt.

7  Club der Gesundheitswirtschaft (cdgw)

77

Der cdgw bringt deshalb kreative Köpfe und Entscheider zusammen. Und das bereits seit vielen Jahren. Kriterien für die Vergabe des Preises sind insbesondere Originalität, Kreativität, Netzwerkcharakter, Praktikabilität, Patienten- resp. Kundennutzen, gesellschaftliche Relevanz und Kosteneffizienz von Projekten oder Produkten aus allen Bereichen der Gesundheitswirtschaft. Eine Jury aus cdgw-Präsidium und cdgw-Geschäftsführung, der kooperierenden XPOMET© Medicinale und dem Medienpartners kma wählt aus den Einsendungen maximal sechs Teilnehmer für den Preiswettbewerb aus.

7.3 Ausblick Der cdgw lebt vom Engagement und der Teilnahme seiner Mitglieder am Club-Leben. Die Fünf Veranstaltungen im Jahr geben den cdgw-Aktivitäten einen festen Rahmen. Sie sind sehr unterschiedlich ausgerichtet und spiegeln damit eine gewollte Vielfalt. Die Veranstaltungen sind evolutionär gewachsen und haben ihre Ausgestaltung und Ausrichtung vielfach dem Wunsch und den Anregungen der Mitglieder zu verdanken. Der Club ist deshalb stets für Ideen offen, um das Angebot im Interesse der Mitglieder weiterzuentwickeln.

Weiterführende Literatur www.cdgw.de

Alois G. Steidel Gründer, Eigentümer und CEO der K|M|S Vertrieb und Services AG, Unterhaching, Schwerpunkte: Wissensmanagement und Consulting in der Gesundheitswirtschaft, Entwicklung von Managementinformationssystemen. Ferner: Leiter des Ayinger Gesprächskreis, Mitglied des Präsidiums des Clubs der Gesundheitswirtschaft (cdgw), Präsident des Club Corbeau, Generaldirektor der BMB SA, Co-Founder und Investor XPOMET©, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts Gesundheitswirtschaft, Geschäftsführer der mednet Consult GmbH.

8

Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life Thomas Breisach

Inhaltsverzeichnis 8.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 8.2 Vom Arbeitskreis „Sehen und Leben“ zur Denkfabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 8.3 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

8.1 Hintergrund Im Jahr 2000 wurden auf dem Millennium Gipfel von den Vereinten Nationen (UNO) die Millennium Development Goals (MDG) verabschiedet. Man hatte sich unter anderem folgende Ziele gesetzt: Die Halbierung der Anzahl Menschen, die weniger als einen Dollar pro Tag zum Leben zur Verfügung haben, eine schulische Grundversorgung für alle Buben und Mädchen, die Gleichberechtigung für Frauen, die Verringerung der Kindersterblichkeit (unter fünf Jahren) um zwei Drittel, die Verringerung der Müttersterblichkeit um 75 %, die Bekämpfung von HIV/AIDS sowie Malaria und anderen Krankheiten, eine deutliche Verbesserung der Umweltbedingungen (beispielsweise sauberes Trinkwasser betreffend) und die Entwicklung einer globalen Partnerschaft für Entwicklung. Von UNICEF wurde jedoch bereits vor 20 Jahren betont, dass Millionen Kinder mit den vorhandenen Strategien nicht erreicht werden können (UNICEF 2006). Am 1. April 2016 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen

T. Breisach (*)  FOM Hochschule für Management & Oekonomie, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_8

79

80

T. Breisach

eine strategische Resolution zur Ausrufung einer UN-Ernährungsdekade von 2016 bis 2025. Ziel dieser Dekade sollen intensivierte Maßnahmen zur globalen Beendigung des Hungers und zur Beseitigung aller Formen der Unterernährung sowie die Gewährsleistung des weltweiten Zugangs zu gesünderen und nachhaltigeren Ernährungsweisen sein (WHO 2017). Um dies zu erreichen, bedarf es neuer, praxisorientierter Ansätze, die die Probleme im Bereich Nutrition und Health pragmatisch lösen können. Dieser Aufgabe fühlen sich neben staatlichen Institutionen und NGOS auch Konzerne wie beispielsweise DSM verpflichtet, sei es aus humanitären oder aus strategischen Gründen. Obwohl man derartige Aktivitäten im Bereich Corporate Responsibility, wenn man sie nicht genauer betrachtet, durchaus auch kritisch hinterfragen kann, spielen Unternehmen mit ihren humanitären Initiativen oder ihren eigens gegründeten Stiftungen eine wichtige Rolle, um diese Ziele zu erreichen.

8.2 Vom Arbeitskreis „Sehen und Leben“ zur Denkfabrik 8.2.1 Sehen und Leben – ein multidisziplinärer Arbeitskreis Bereits lange vor den Millennium Goals der UNO gründete der Basler Pharmakonzern Roche (1986) den Arbeitskreis „Sehen und Leben“, um Kinder in Entwicklungsländern zu helfen. Er sollte gezielt Hilfe in Fällen von gravierendem Vitamin-A-Mangel leisten und Xerophthalmie bekämpfen. Vitamin A war das erste von der Wissenschaft bereits 1913 entdeckte Vitamin (McLaren und Frigg 1997). Der ursprünglich auf drei Jahre ausgelegte Arbeitskreis setzte sich aus konzernangehörigen Medizinern, Ernährungsspezialisten, Forschern und „Informationsfachleuten“ zusammen (Sehen und Leben 1986). „Sehen und Leben“ wurde unter den Vorsitz von Werner Hausheer als Präsidenten gestellt, erster Geschäftsführer wurde John Gmünder (Roche 1986). Ein Anliegen des Roche-Arbeitskreises war es, die Bevölkerung in den Industriestaaten für das Problem der Vitamin-A-Unterversorgung in den Entwicklungsländern zu sensibilisieren und so weitere Organisationen und Unternehmen zu ermuntern, konkrete Maßnahmen im Kampf gegen die Erblindung unzähliger Kinder in der Dritten Welt zu unterstützen (Sehen und Leben 1986). Das formulierte Ziel von „Sehen und Leben“ war die Anzahl der aufgrund VitaminA-Mangel erblindeten Kinder mit „umfassenden, gezielten Aktionen“ rasch zu senken (Sehen und Leben 1986). Die Aufgaben wurden damals wie folgt definiert: Leistung von wissenschaftlich-technischer Unterstützung, kostenlose Abgabe geeigneter Darreichungsformen von Vitamin A für öffentliche Programme und in Notsituationen sowie finanzielle Beiträge für Forschungs-, Entwicklungs- und Ausbildungsprogramme (Roche 1986). Als Partner für eine mögliche Zusammenarbeit sah man unter anderem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf und die Helen Keller International Foundation (HKI) in New York (Roche Nachrichten 1986).

8  Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life

81

Ausschlaggebend für das Engagement von Roche war die 37. Weltgesundheitskonferenz 1984, die ein Zehnpunkteprogramm zur Bekämpfung der Xerophthalmie beschlossen hatte (Sight und Life 1993). Als kurzfristige Maßnahme hatten die Konferenzteilnehmer beschlossen, periodisch oder spontan hochdosierte Vitamin-APräparate an besonders gefährdete Populationen abzugeben. Durch diese Maßnahme versprach man sich die unmittelbare Verbesserung einer kritischen Situation. Mittelfristig hatte man sich die Anreicherung von Grundnahrungsmitteln zum Ziel gesetzt und langfristig die Förderung des Anbaus und Konsums Vitamin-A-reicher Nahrungsmittel sowie die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten in den betroffenen Ländern (Sehen und Leben o. J.). Von Beginn an unterstützten die Verantwortlichen möglichst unbürokratisch zahlreiche Projekte. Eines der ersten dieser Programme waren Feldversuche in Indonesien und auf den Philippinen. Im Rahmen von „Massivdosenprogrammen“ kam eine von Roche entwickelte Dispensiermethode für ölige Vitamin-A-Lösungen zum Einsatz. Des Weiteren wurde eine Feldstudie unterstützt, deren Ziel es war, den „Effekt von Impfungen bei Kleinkindern durch gleichzeitige Gabe von Vitamin A zu erhöhen“ (Roche Nachrichten 1986). Zudem wurden noch eine groß angelegte Studie mit 30.000 Kindern über den Zusammenhang von Vitamin-A-Unterversorgung und Sterblichkeit sowie eine weitere Studie zur Bekämpfung der Diarrhöe unterstützt. Objektiv betrachtet, fällt dabei auf, dass bei all diesen Aktivitäten stets die pragmatische Problemlösung im Vordergrund stand. Das Grundproblem, das „Sehen und Leben“ mit seinen Aktivitäten zu lösen versuchte, war die ernährungsbedingte Blindheit bei Kleinkindern in der dritten Welt. So betonte Gmünder, dass mehr als drei Viertel aller Blinden in der Dritten Welt leben würden und fast ein Prozent der dortigen Gesamtbevölkerung von Blindheit betroffen wäre. Dort war zum damaligen Zeitpunkt die Gefahr einer Erblindung um bis zu 40 % höher als in den Industrienationen (Roche Nachrichten 1986). Ein Grund hierfür war der hochgradige Vitamin-A-Mangel, der die Ursache für Xerophthalmie ist, von der damals zehn Millionen Kinder betroffen waren. Jedes Jahr kamen eine halbe Million Neuerkrankungen hinzu. Etwa zwei Drittel der betroffenen Kinder starben innerhalb weniger Wochen nach der Erblindung an Mangelernährung. Erschwerend für die betroffenen Kinder kam noch hinzu, dass diese häufig von ihren Familien verstoßen wurden (Roche Nachrichten 1986). Auslöser für Vitamin-A-Mangel ist häufig ein unzureichendes Nahrungsangebot für weite Teile der Bevölkerung in Drittweltländern. Oft fehlen hier wichtige Vitamin-A-Quellen wie Milchprodukte, Eier und Früchte. Xerophthalmie äußert sich zunächst mit rauen Stellen auf der Haut, einer Blendeempfindlichkeit sowie Nachtblindheit. Später kommt es dann zur Austrocknung der Bindehaut. Ohne Zuführung von hochdosiertem Vitamin A kommt es zu einer irreparablen Erweichung der Hornhaut und schließlich zur Einschmelzung des Augapfels. John Gmünder beschrieb die Auswahlkriterien, die in der Anfangszeit von „Sehen und Leben“ erfüllt sein mussten, um ein Projekt zu unterstützen, wie folgt: „Entscheidende Kriterien sind dabei die positive Beantwortung der Fragen, ob die praktischen Gegebenheiten eine erfolgreiche Durchführung eines Programms gestatten und ob die lokalen

82

T. Breisach

Gesundheitsbehörden das Projekt unterstützen. Die Rede ist von den Problemkreisen Verteilung, Aufklärung, Hygieneerziehung usw. Derartige Vorortprobleme kann Roche niemals lösen. Solche Programme müssen deshalb eingebettet sein in ein Netz von staatlich geförderten Gesundheitsmaßnahmen. Wichtig erschien es uns, unsere Aktivitäten geographisch breit zu streuen…“ (Roche Nachrichten 1986). Die ersten Maßnahmen und Projekte waren der Anfang eines Prozesses, in dessen Verlauf Roche die Aktivitäten des Arbeitskreises ohne groß darüber zu kommunizieren in allen Bereichen unterstützte. Während die offizielle Sprache des Arbeitskreises Englisch war, wurde zusätzlich auf Deutsch, Französisch und Spanisch kommuniziert. Der Präsident des Arbeitskreises war im Rahmen des von der Roche-Konzernleitung zur Verfügung gestellten Budgets für die Auswahl der zu unterstützenden Projekte und die Grundsätze der Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Der Geschäftsführer, der die Administration und die Buchhaltung des Arbeitskreises leitete, war für die Betreuung der Projekte zuständig und koordinierte mithilfe seines Sekretariats die Zusammenarbeit mit Behörden, Partnerorganisationen und unabhängigen Experten. Der Arbeitskreis informierte regelmäßig kostenlos mit einem einfachen Newsletter, dem Vorgänger des heutigen Sight and Life Magazine, der weltweit an interessierte Fachleute und Medien verteilt wurde (Sehen und Leben o. J.). In den ersten 20 Jahren wurden von Sight and Life bereits mehr als 2600 Projekte in über 80 Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas unterstützt (Sight und Life 2006b). Sight and Life wurde die ersten 17 Jahre sowohl finanziell als auch personell und logistisch vom Roche-Konzern getragen, wobei die hauptsächliche Unterstützung durch die damalige Division Vitamine und Feinchemikalien erfolgte. Als 2002 der Verkauf der Division kommuniziert wurde, musste auch die Zukunft von Sight and Life neu überdacht werden. So wurde der Sitz der Geschäftsleitung des Arbeitskreises von Basel an den Hauptsitz der Vitamindivision nach Kaiseraugst (Kanton Aargau, Schweiz) verlegt und Sehen und Leben direkt der Vitamindivision angegliedert, ohne zu diesem Zeitpunkt die weitere inhaltliche und politische Ausrichtung von Sight and Life festzulegen. Die Verantwortung ging vom Roche-Vorstand an den damaligen Leiter der VitaminForschung, Manfred Eggersdorfer, über. Das Tagesgeschäft wurde weiterhin vom Geschäftsführer Martin Frigg koordiniert. Zu diesem Zeitpunkt war anscheinend nicht klar, wie es mit dem Arbeitskreis weitergehen würde.

8.2.2 Beginn einer neuen Ära Die Projektarbeit von Sight and Life lief damals weiter, während sich die neuen Verantwortlichen Gedanken um die Zukunft respektive der Positionierung machten. Als das Vitamingeschäft zum 1. Oktober 2003 an den niederländischen Chemiekonzern DSM verkauft wurde, lässt sich anhand der zur Verfügung stehenden Quellen kein Nachweis finden, ob es damals entschieden war , wie es mit Sight and Life weitergehen würde. Seit der Übernahme des Vitamingeschäfts firmierte Sehen und Leben anscheinend nur noch

8  Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life

83

unter der englischen Bezeichnung Sight and Life. Aus dem Arbeitskreis war in einem ersten Schritt eine humanitäre Initiative geworden, wie man durch die neue offizielle Bezeichnung „SIGHT AND LIFE, a humanitarian Initiative of DSM“ ausdrückte. Auch ohne eine kommunizierte strategische Ausrichtung ging die Leitung der Initiative an den bis heute verantwortlichen Geschäftsführer Klaus Krämer über. Von der Gründung bis 2005 hatte Sight and Life insgesamt 30,5 Mio. US$ investiert, etwa 71 Mio. Vitamin-A-Kapseln verteilt und mehr als 2600 Projekte in über 80 Ländern unterstützt (Sight and Life 2006c). Budget für Verwaltung, Projekte und den Sight and Life Newsletter, der im Jahr 2005 an etwa 25.000 Empfänger versandt worden ist, sowie die Gehälter der Mitarbeiter wurden nun von DSM finanziert (Sight und Life 2006a). Im Jahr 2005 wurden etwa zwei Mio. Vitamin-A-Kapseln verteilt auf 178 Projekte in 39 Ländern verteilt, wobei die Schwerpunkte der Supplementierung in Afrika und in Asien lagen (Sight and Life 2006a). Ein geringer Teil der Aktivitäten fand in Lateinamerika statt. Ein Grund hierfür war laut Sight and Life, dass Südamerika hauptsächlich von den USA aus versorgt wurde und dass bei Sight and Life kaum Anfragen zur Unterstützung aus Lateinamerika eingegangen waren. Insgesamt 60 % der von DSM zur Verfügung gestellten Summe wurden für operative Aktivitäten verwendet. Schwerpunkte waren die Zusammenarbeit mit kleinen Organisationen, die Zusammenarbeit mit großen Nichtregierungsorganisationen (NGO) und das Bereitstellen von (Aus-)Bildungsmaterial bzw. Fördergeldern (Krämer und Breisach 2006). Zu dem damaligen Zeitpunkt war Sight and Life in drei strategischen Geschäftsfeldern aktiv: Nutrition-Education, Nährstoff-Supplementierung, aus Sicht der Weltbank eine kosteneffizientegesundheitspolitische Maßnahme (World Bank 1993), und Nahrungsergänzungsmittel. Bei all diesen Aktivitäten spielten zwei Aspekte bei der Entscheidung für ein Engagement eine wichtige Rolle: Erstens die Zugangsmöglichkeiten zu den Zielgruppen und die verschiedenen Optionen, um diesen optimal helfen zu können. Hier spielten neben den geografischen Gegebenheiten auch die jeweilige Infrastruktur und die Tatsache, ob es sich bei der Zielgruppe um Stadt- oder Landbevölkerung handelt, sowie die politische Stabilität der jeweiligen Region eine entscheidende Rolle. Der zweite Aspekt basiert auf kulturellen Bedingungen, wie Religion, Tradition und Essgewohnheiten sowie den klimatischen Bedingungen des jeweiligen Landes (Krämer und Breisach 2006). Mit Nutrition-Education verband Sight and Life eine Bewusstseinsänderung hinsichtlich einer ausgewogenen Ernährung mit dem Ziel, eine Veränderung der Ernährungs- und Verhaltensgewohnheiten zu erzielen. Bei Lebensmittelanreicherung (Food Fortification) fokussierte man sich auf die Anreicherung täglicher Grundnahrungsmittel wie Reis, Zucker, Mehl mit lebenswichtigen Nährstoffen wie Eisen, B-Vitaminen, Jod usw. Mithilfe der Supplementierung versuchte Sight and Life durch die Vergabe von Tabletten, Kapseln oder Micronutrient Powder (Sprinkles), die vorhandenen Defizite an Mikronährstoffen, den sogenannten Hidden Hunger, zu bekämpfen. Die Sprinkles waren im Gegensatz zu den seit langem eingesetzten Vitamin-A-Kapseln ein neues Produkt mit Multimikronährstoffen, das relativ unkompliziert zur Bekämpfung von Mikronährstoff-

84

T. Breisach

mängel in selbst zubereitete Speisen gestreut werden konnte. Die Verwendungsmöglichkeit der in Zusammenarbeit mit dem World Food Programme (WFP) entwickelten Sprinkles reichte von einzeln verpacktem Pulver bis zu Tagesrationen für Kinder, die auch im Rahmen von Schulspeisungsprogrammen eingesetzt wurden. Die beratende Unterstützung durch Sight and Life erfolgte damals durch das Zurverfügungstellen von Literatur und Know-how, die Durchführung von Studien und dem Erstellen von Richtlinien. Fasst man die damalige Situation aus heutiger Sicht zusammen, so erscheint eher eine reaktive Herangehensweise vorgeherrscht zu haben. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Denkfabrik heute durch eine eher strategische Herangehensweise aus, die auf einer Förderung innovativer, sektorenübergreifender Ansätze beruht, „die zu einer besseren Ernährung führen, die Bekämpfung der Fehlernährung in all ihren Formen und Verbesserung der Ernährung und Gesundheit sowie der Lebensbedingungen der Empfindlichsten und Schwächsten dieser Welt, insbesondere Kinder und Frauen im reproduktiven Alter“ (Swissfoundations 2015). Unter Klaus Krämer gewann die humanitäre Initiative aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen sowie Kongressbeiträgen auf der ganzen Welt schnell weiter an internationalem Profil und die Positionierung weg von der Fokussierung auf Vitamin A hin zu Mikronährstoffen und deren Potenzial im Bereich Gesundheit und Ernährung wurde erkennbar. Während Sight and Life von Anfang an mit anderen multilateralen Organisationen zusammengearbeitet hatte, begann die Initiative als Türöffner und Bindeglied für Public Private Partnerships (PPP) zwischen DSM und humanitären Organisationen zu fungieren (Sight and Life Strategy 2019a). So gelang es DSM mithilfe der Expertise und der Reputation von Sight and Life im Jahr 2007 eine erste PPP mit dem UN-Welternährungsprogramm (WFP) zu initiieren, wobei SAL zum Zentrum der Nutrition-Forschung der Kooperation wurde. Schon ein Jahr später erhielt diese strategische Partnerschaft den britischen Chemical Industry News & Intelligence ICIS Award for Best Innovation für das von ihr entwickelte Micronutrient Powder Supplement. 2007 war Sight and Life bereits vom Micronutrient Forum für sein langjähriges Engagement bei der Bekämpfung von Mangelernährung gewürdigt worden (Sight and Life History 2019a). In den nächsten Jahren war neben einer regen Vortragsaktivität auf internationalen Kongressen und Publikationstätigkeit auch eine proaktive Beteiligung an der Gründung verschiedener Initiativen im Bereich Nutrition/Malnutrition zu verzeichnen, beispielsweise der Home Fortification Technical Advisory Group und des Scaling Up Nutrition Movement (SUN). Bis zu ihrem 25-jährigen Jubiläum hatte die Initiative insgesamt 3350 Projekte in über 80 Ländern unterstützt und 36 Mio. US-Dollar zur Verfügung gestellt (Sight and Life History 2019a). Seit 2012 zeichnete Sight and Life seinerseits hervorragende Wissenschaftler aus dem Bereich Ernährung und Gesundheit mit dem Nutrition Leadership Award aus. Zu den bisherigen Preisträgern zählten unter anderem der im Februar 2020 von der WHO zum  Covid-19-Pandemie-Sonderbeauftragten berufene  David Nabarro, damals Scaling Up Nutrition, Robert Black, Vorsitzender der Lancet Maternal and Child Nutrition Study

8  Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life

85

Group, Anna Lartey, Direktorin für Ernährung bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und Shawn Baker, Direktorin für Ernährung der Bill und Melinda Gates Foundation. Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Nutrition Think Tanks war 2014 die Gründung des Sight and Life Global Nutrition Research Institute an der Johns Hopkins University in Baltimore, einer der weltweit führenden Universitäten im Bereich Public Health (Johns Hopkins University 2014). Ziel der Kooperation war es, die Ernährungsqualität zu verbessern und Mikronährstoffmängel in den am stärksten benachteiligten Gesellschaften der Welt zu verhindern. Das Sight and Life Global Nutrition Research Institute des Center for Human Nutrition, das ein 1998 von Roche gegründetes Vorgängerinstitut ersetzte, „widmet sich der Förderung der Erforschung und Prävention von Mikronährstoffmangel durch die Förderung der Fakultät, des Promotionsstipendiums und der akademischen Arbeit sowie der Berufsaussichten für Studierende“ (Bloomberg School of Public Health 2018).

8.2.3 Stiftung Sight and Life Rechtlich bis 2015 abhängig von DSM änderte man diese Situation in jenem Jahr. Sight and Life wurde eine unabhängige Stiftung nach Schweizer Recht mit Hauptsitz in Kaiseraugst, Kanton Aargau, die sich nun auch offiziell als globaler Nutrition Think Tank bezeichnete (Sight and Life Strategy 2019). Von der Statusänderung erhoffte man sich mehr Freiräume, um die „Beziehungen zu anderen philanthropischen, nichtstaatlichen und staatlichen Partnern auszubauen und zu vertiefen“ (Sight and Life Strategic Plan 2019b). In den darauffolgenden Jahren wurden verschiedene Partnerschaften in Afrika und Asien weiterentwickelt, um eine ausreichende Versorgung der lokalen Bevölkerung mit lebenswichtigen Mikronährstoffen zu erreichen, den Hidden Hunger zu bekämpfen, aber auch um Hygienestandards zu verbessern. Zusammen mit Wissenschaftlern der Johns Hopkins University, der Washington University und des National Institutes of Health wurde zudem die Forschung auf dem Gebiet der Proteine und essenzieller Aminosäuren forciert, was dazu geführt hat, dass die Aufnahme von hochwertigem Protein wie tierischen Lebensmitteln wieder auf die globale Agenda gesetzt wurde. 2018 ging Sight and Life eine neue Partnerschaft mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, ein, um sich weltweit für eine Mikronährstoffergänzung einzusetzen. Einer der Schwerpunkte der Mikronährstoffversorgung liegt dabei auf den „ersten 1000 Tagen“, da die Zeit von der Empfängnis bis zum Alter von zwei Jahren eine sehr kritische Wachstums- und Entwicklungsphase des Kindes darstellt, in der die Exposition beispielsweise gegenüber diätetischen und ökologischen Stressfaktoren mit erhöhten gesundheitlichen, teilweise irreversiblen Risiken verbunden ist. Aus Sicht der Weltbank Gruppe sind Investitionen in die Ernährung im Gegensatz zu vielen anderen

86

T. Breisach

Investitionsvorhaben in der Entwicklungszusammenarbeit dauerhaft und nicht übertragbar (World Bank 1993); langfristig, weil Investitionen, die während des kritischen 1000-Tage-Fensters getätigt werden, sich ein Leben lang positiv auswirken und keiner Reinvestition bedürfen, nicht übertragbar, weil das jeweilige Kind ein Leben lang davon profitieren wird (Shekar et al. 2017). Heute positioniert sich die Stiftung deutlich präziser als in ihren Anfangsjahrzehnten, nämlich als Denkfabrik für Nutrition, die innovative Lösungen zur Beseitigung aller Formen der Unterernährung anbietet (Sight and Life About us. Vision) und dabei „die Denkweise der Welt in Bezug auf Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit prägt“ (Sight and Life Strategy 2019a). Ein zunehmend relevanter Aspekt, denn laut der EAT-Lancet-Studie stellen ungesunde und nicht nachhaltig produzierte Lebensmittel ein globales Risiko für Mensch und Umwelt dar (Willet et al. 2019). Sight and Life hat es sich zum Ziel gesetzt, durch die Verbindung von Ernährungsforschung und pragmatischer, skalierbarer Umsetzung einen einzigartigen Mehrwert im Ernährungsbereich zu schaffen. Die Stiftung will dies durch Forschungsförderung, den Austausch praxisbewährter Konzepte und die Mobilisierung der Unterstützung für von Malnutrition betroffene Menschen erreichen (Sight and Life Strategy 2019a). Sight and Life fokussiert sich dabei auf wissenschaftlich fundierte & wirtschaftlich tragfähige Innovationen zur Reduzierung der Mangelernährung. Der Thinktank unterstützt folgende drei UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG): 2 „Kein Hunger“, 3 „Gesundheit und Wohlergehen“ sowie 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“. Die thematischen Schwerpunkte der Denkfabrik liegen heute auf der Umsetzung der Ernährungswissenschaft in die Praxis und Politik, dem Aufbau und der Unterstützung von öffentlichprivaten Partnerschaften im Ernährungsbereich sowie der Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle (Sight and Life Strategy 2019a). Sight and Life erfüllt damit eine wichtige Funktion im Bereich der gesunden Ernährung. So hat beispielsweise der Global Nutrition Report 2018 bewusst auf die Rolle verwiesen, die die Privatwirtschaft bei der Bekämpfung der Unterernährung spielen kann bzw. muss (Development Initiatives 2018). Eine wichtige Rolle im Bereich der Effektivitätssteigerung werden in Zukunft auch kundenzentrierte Ansätze spielen, wofür der Punkt der Konsumentenforschung innerhalb der Stiftung stärker ausgebaut werden wird (Krämer 2019). Die wichtigste regelmäßig erscheinende Publikation der Stiftung ist das zwei Mal jährlich sowohl als Druck als auch digital erscheinende Sight and Life Magazine, das über eine breite internationale Leserschaft unter Gesundheitspersonal, Wissenschaftlern, Vertretern von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie Medienschaffenden verfügt. Die Nutrition-Denkfabrik, die Partnerschaften mit großen renommierten NGO, zum Beispiel GAIN Global Alliance for Improved Nutrition, und IGOs wie der WHO hat, arbeitet aktuell am engsten mit dem UN Welternährungsprogramm (WFP), UNICEF, World Vision, der Johns Hopkins University sowie der Children’s Investment Fund Foundation (CIFF), die über ein Vermögen von 2,5 Mrd. EUR verfügt, zusammen (Krämer 2019).

8  Vom Sehen zum Leben – die Stiftung Sight and Life

87

8.3 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sight and Life auf eine über 30-jährige positive Bilanz im internationalen Spannungsfeld Gesundheit und Ernährung zurückblicken kann. Es ist der Schweizer Denkfabrik durch ihre pragmatische Herangehensweise gelungen, die Forschung im Bereich der Mikronährstoffe weiterzuentwickeln, zahlreiche Innovationen im Ernährungsbereich zu fördern sowie die führenden Denker im Bereich Health and Nutrition zusammenzubringen, um die die ganze Welt betreffende gesundheits- und wirtschaftspolitische Herausforderung der Double Burden of Malnutrition (WHO 2017) zu bekämpfen. Sight and Life wird als Katalysator für positive Veränderungen gesehen und setzt dabei auf ein globales Netzwerk sowie strategische Partnerschaften. Diese erstrecken sich über Eliteuniversitäten, wie die ETH Zürich, die Johns Hopkins University in Baltimore, die University of California Davis, die University of British Columbia in Vancouver und die McGill University in Montreal, UN-Organisationen wie UNICEF, WFP, WHO, sowie Nichtregierungsorganisationen wie GAIN oder Micronutrient Forum und globalen Industrieunternehmen  (Sight and Life 2018). Der international sehr renommierte Public-Health-Professor sowie langjährige Wegbegleiter von Sight and Life, Alfred Sommer, beschreibt die strategische Weiterentwicklung der Denkfabrik mit folgenden Worten: „Die Initiative hat sich entwickelt, um den sich ändernden Bedürfnissen der Welt, in der sie tätig ist, gerecht zu werden, und zeigt dabei viel Kreativität und Flexibilität“ (Sight and Life Strategic Plan 2019b).

Literatur Arbeitskreis Sehen und Leben. (1986). Zielsetzung, Zusammensetzung und Arbeitsweise des Arbeitskreises „Sehen und leben“, Informationsblatt des Arbeitskreises „Sehen und Leben“, Basel. Arbeitskreis Sehen und Leben. (o. J.). Der Arbeitskreis Sehen und Leben, eine Kurzinformation, Basel. Bloomberg School of Public Health. (2018). partners in preventing micronutrient deficiencies. Kaiseraugst: Sight and Life, DSM and Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Development Initiatives. (2018). 2018 Global nutrition report: Shining a light to spur action on nutrition, Bristol. Johns Hopkins University. (2014). Pressemitteilung der Bloomberg School of Public Health der Johns Hopkins University vom 4.11.2014, Baltimore. Krämer, K. (2019). Interview mit dem Verfasser vom 24.5.2019. Krämer, K., & Breisach, T. (2006). Strategiegespräch zwischen Klaus Krämer und Thomas Breisach zu Sight and Life am 18.5.2006, Heerlen. McLaren, D., & Frigg, M. (1997). Sight and life manual on Vitamin A Deficiency Disorder (VADD). Basel. Roche. (1986). F. Hoffmann-La Roche „Sehen und leben“‘ – Ein Roche-Programm für Kinder von Entwicklungsländern, Pressemitteilung vom 2.4.1986, Basel.

88

T. Breisach

Roche Nachrichten. (2/1986). Separatdruck: Sehen und leben, Roche engagiert sich im Kampf gegen ernährungsbedingte Blindheit bei Kindern. Basel. Sehen und Leben. (1986). Informationsblatt des Arbeitskreises „Sehen und Leben“. Basel. Shekar, M. et al. (2017). An investment framework for nutrition reaching the global targets for stunting, anemia, breastfeeding, and wasting. Washington. Sight and Life. (1993). Annual Report 1993, Basel. Sight and Life. (2006a). Presentation on overview achievements, Kaiseraugst. Sight and Life. (2006b). Presentation on estimation of activities, Allocation to continents, Kaiseraugst. Sight and Life. (2006c). Presentation on donation of vitamin A, Kaiseraugst. Sight and Life. (2006d). Presentation on SIGHT AND LIFE supported projects (vitamin A capsule donations), Kaiseraugst. Sight and Life. (2018). Annual report 2018, Kaiseraugst. Sight and Life. (2019a). 2019–2021 Sight and life strategy, Kaiseraugst. Sight and Life. (2019b). Strategic plan 2019–2021, Kaiseraugst. Sight and Life About us. Vision. https://sightandlife.org/about-sight-and-life/#vision. Zugegriffen: 31. Dez. 2018. Sight and Life About us. History. https://sightandlife.org/about-sight-and-life/#history. Zugegriffen: 31. Dez. 2018. Swiss Foundations. (2015). Sight and life stiftung. https://www.swissfoundations.ch/de/sight-andlife-stiftung. Zugegriffen: 21. Febr. 2019. UNICEF. (2006). The state of the world’s children 2006, New York. WHO. (2017). The double burden of malnutrition. Policy brief, Genf. World Bank. (1993). World development report 1993: Investing in health. New York: Oxford. Willet, W. et al. (2019) Food in the anthropocene: The EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems, London.

Prof. Dr. Thomas Breisach  ist Professor für Gesundheits- und Sozialmanagement am Standort München der FOM Hochschule für Oekonomie und Management. Seine Forschungsschwerpunkte sind Strategie und Kommunikation sowie internationale Gesundheits- und Ernährungspolitik mit Fokus auf Inhaltsstoffe, z. B.  Mikronährstoffe, sowie auf Arzneimittel. Er ist u. a. ordentliches Mitglied der Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung und Mitglied des sozial- und gesundheitspolitischen Beirats der BARMER Bayern. Zudem arbeitet Thomas Breisach, der auf eine langjährige Führungstätigkeit auf internationaler Konzernebene sowie auf Beratungsseite zurückblicken kann, als strategischer Berater für internationale Unternehmen aus der Life-ScienceBranche.

9

Gesundheitsversorgung neu denken Der BMC als interessenübergeordnete Plattform und als Vermittler internationaler Impulse Volker Amelung, Patricia Ex, Valerie Stutenbecker, Susanne Eble, Helmut Hildebrandt, Cornelia Kittlick, Wolfgang Klitzsch, Ralph Lägel, Ralf Sjuts, Jürgen Wasem, Thomas Ballast und Franz Knieps

Inhaltsverzeichnis 9.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Der BMC als interessenübergreifende Plattform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Von der Vision in die Umsetzung – die Leitthemen des BMC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 93 97 102 102

9.1 Einführung Das Gesundheitswesen ist geprägt von sich widerstrebenden Interessen und partikularen Sichtweisen, die häufig aus systemischen Fehlanreizen resultieren. Dabei sind nicht nur die gewählten Themenschwerpunkte innerhalb des komplexen Systems unterschiedlich, auch die definierten Ziele und Strategien sowie das Verständnis einer „optimalen“ Versorgung gehen weit auseinander. Oft sind konstruktive Diskussionen auf einzelne Interessengruppen begrenzt, während konkrete Politikvorschläge und Forschungsergebnisse von Eigeninteressen dominiert sind.

V. Amelung · P. Ex (*) · V. Stutenbecker · S. Eble · H. Hildebrandt · C. Kittlick · W. Klitzsch · R. Lägel · R. Sjuts · J. Wasem · T. Ballast · F. Knieps  Bundesverband Managed Care e. V., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_9

89

90

V. Amelung et al.

Mit der Gründung des Bundesverbands Managed Care e. V. (BMC) im Jahre 1997 wurde erstmalig eine Vernetzungsplattform innerhalb des deutschen Gesundheitswesens etabliert mit dem Ziel, die Interessen der zahlreichen Akteur/-innen1 zu vereinen und den Wissens- und Kompetenzaustausch zu fördern. Anfangs bekannt für das Entwickeln von Checklisten der Integrierten Versorgung, später aktiv im Rahmen des Wissensmanagements über neue regulatorische Vorhaben und deren möglichen Auswirkungen bis hin zu Best Practices sowie der Umsetzung von innovativen Versorgungsprojekten: Der BMC setzt sich dafür ein, die starke Innenansicht der Akteure aufzubrechen und neue Ideen in das Gesundheitssystem zu tragen. Im Fokus steht nicht die eine, vermeintlich optimale Versorgung oder Steuerung, sondern das ständige Streben nach besseren, alternativen Ansätzen. Mit konkreten Handlungsansätzen und Wissensvermittlungen ebenso wie konsentierten Lösungen zu abstrakten Fragen hat der BMC immer wieder zentral auf die Gesundheitssystemgestaltung Einfluss genommen. Insgesamt konzentrieren sich die Kernaufgaben im Wesentlichen auf drei zentrale Arbeitsfelder: I. Die unterschiedlichen Akteure zusammenzubringen, sodass diese gemeinsam an Lösungen für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung arbeiten; II. eine inhaltlich anspruchsvolle und patientenorientierte Diskussion zu initiieren und III. internationale Impulse in das System hereinzutragen und dadurch die starke Innensicht des Systems aufzubrechen.

9.2 Hintergrund In der verkrusteten Gesundheitswelt der 1990er-Jahre galt die Gründung eines pluralistischen Verbands als unkonventionelles Ereignis: Während Technologien neue Möglichkeiten der medizinischen Versorgung eröffneten, überschattete der Mangel an Steuerung, Vernetzung, Kooperation und Kommunikation den Fortschritt des deutschen Gesundheitswesens. Ausprägungen von Über-, Unter- und Fehlversorgung wurden immer deutlicher. Im Jahr 1993 trat das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) in Kraft, das mit weitreichenden Umstrukturierungsmaßnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) darauf abzielte, eine solidarische Wettbewerbsordnung voranzutreiben. Aufgrund ausbleibender Folgereformen konnte jedoch wenig dauerhafter Strukturwandel erreicht werden (AOK 2016). Stattdessen definierte weiterhin das Gegenspiel von Partikularinteressen und globalen Vorgaben das System, sodass sich im Jahr 2001 der

1Aus

Gründen der besseren Lesbarkeit wird folgend für alle nicht-geschlechtsneutralen Bezeichnungen nur ein Geschlecht aufgeführt. Selbstverständlich sind immer Männer und Frauen in gleicher Weise gemeint.

9  Gesundheitsversorgung neu denken

91

Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens aktiv für eine „Schärfung des Zielbewusstseins“ (SVR Gesundheit 2001) aussprach. In diesem Kontext wurde der BMC gegründet. Mit ihm wurde eine Vernetzungsplattform im deutschen Gesundheitswesen aufgebaut, welche die Interoperabilität der Subsysteme fördert und die heterogenen Interessen der Akteure zur Geltung kommen lässt. Bis heute ist er damit unter den Verbänden des Gesundheitswesens einmalig. Zielsetzung war, den medizinisch geprägten Handlungshorizont des Gesundheitswesens mit konzeptionellen und systemischen Denkansätzen zu erweitern. Einer der Grundsätze des BMC ist die Annahme, dass es nichts Teureres gibt im Gesundheitswesen als schlechte Qualität. Im Gegensatz ist nichts günstiger als eine gute Versorgung. Selbst wenn kurzfristig Kostendämpfungsmaßnahmen notwendig sein mögen, ersetzt das nicht langfristige strategische Überlegungen darüber, mit welchen Versorgungslösungen unterschiedliche Patienten(-gruppen) gut versorgt werden können. Wir sind davon überzeugt, dass niemand sinnvoll alleine versorgen kann – eine gute Versorgung erfolgt immer als Teamspiel verschiedener Professionen, verschiedener Sektoren und Aufgabengebieten. Die Zusammenarbeit ist mehr als die Summe ihrer Teile. Als einer der ersten Akteure griff der BMC damit das Potenzial einer vernetzten und koordinierten Gesundheitsversorgung auf. Im Mittelpunkt steht dabei ein zukunftsweisendes Verständnis von Managed Care als Zielbild moderner Versorgungsstrukturen. Mit Managed Care verbindet sich ein starker Impuls für das Aufbrechen verkrusteter Strukturen – gleichzeitig hat der Begriff selbst nun bereits eine Historie von über 40 Jahren und kontroverse Debatten ausgelöst. Dabei hat sich der BMC seit jeher von dieser Historie gelöst und eigene Lösungen gesucht – zumal die tragenden Begriffe Management und Care sich jeweils weiterentwickelt haben. Das KommandoManagement der 1980er-Jahre ist Vergangenheit und agile, dialogische Managementmethoden sind en vogue. Gleichermaßen hat sich Care in den pflegerischen und sozialen Bereich erweitert und strebt die Aktivierung, Einbeziehung und Mitwirkung von Patienten an. Auf beiden Seiten, Management und Care, geht die Entwicklung von einer Fremd- zu einer Selbststeuerung hin, die aber nur auf einem hohen Niveau von Information und Kommunikation und Sinnstiftung gelingen kann. Damit verbunden ist ein Verständnis für die hohe Komplexität gelungener medizinischer Versorgung, die durch eine Vielzahl von Beteiligten, Perspektiven und Anforderungen gekennzeichnet ist. Lösungen sind daher nicht von vorneherein catch-all und verallgemeinerbar. Gefragt ist vielmehr ein ständiger Dialog und Lernbereitschaft, auch und gerade auf der Systemebene. Aktuell – vielleicht mehr denn je – ist die zentrale Herausforderung von Managed Care: Die Verbindung von Effizienz und Effektivität mit dem Ziel, knappe Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Die daraus resultierenden Schwerpunkte sind auch heute – zumindest im deutschen Gesundheitssystem – nicht zufriedenstellend gelöst unter anderem • eine vorbeugende und aktivierende Gesundheitsversorgung, die Prävention, Früherkennung und Verhaltensänderungen prämiert;

92

V. Amelung et al.

• eine professionelle Koordination der Versorgung, die die Potenziale interprofessioneller, interinstitutioneller und intersektoraler Zusammenarbeit ausreizt; • Managementinstrumente, die Transparenz schaffen, Qualität belohnen und Steuerungsinstrumente zur Verfügung stellen (Amelung et al. 2008). Eine Übersicht des Managed-Care-Konzepts gibt Abb. 9.1. Managed Care ist auch deshalb ein ergiebiger Bezugspunkt, weil er auf drei Ebenen argumentiert: • Auf der Systemebene propagiert er Wettbewerb und Innovationsfähigkeit; • auf der Mesoebene der Strukturen bietet er Organisationskonzepte für Versorgungswege an, zum Beispiel Gatekeeping oder Disease-Management, aktuell ergänzt um Möglichkeiten telemedizinischer und digitaler Angebote; • auf der Mikroebene von Managementtechniken subsumiert er ein ganzes Portfolio von Instrumenten, angefangen mit klassischem Controlling bis hin zu MachineLearning und KI. Im deutschen Kontext prägen Begriffe wie Kooperation, Koordination oder Integrierte Versorgung die gesundheitspolitischen Diskussionen zu dem Themenbereich, während Managed Care selten verwendet wird. Gerade innerhalb des von fehlender Vernetzung der verschiedenen Gesundheitssektoren geprägten deutschen Gesundheitssystems bedarf

Abb. 9.1   Das Managed-Care-Konzept (Amelung et al. 2008)

9  Gesundheitsversorgung neu denken

93

es jedoch umfangreicher Managed-Care-Maßnahmen, um das Zusammenspiel zwischen den Gesundheitsinstitutionen, Leistungserbringern und Patienten zu verbessern. Vor diesem Hintergrund engagiert sich der BMC für die Weiterentwicklung eines zukunftsfähigen und patientenorientierten Gesundheitssystems.

9.3 Der BMC als interessenübergreifende Plattform 9.3.1 Mitglieder Im Gesundheitswesen gibt es kaum einen Konflikt, der nicht in den BMC-Mitgliedern abgebildet ist. Die über 220 institutionellen Mitglieder des BMC repräsentieren die komplette Bandbreite der Akteure und Themen im Gesundheitswesen: von Ärzte(netzen), Krankenkassen, Krankenhäusern und Managementgesellschaften bis hin zu Arzneimittel- und Medizintechnikunternehmen, Dienstleistern, Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen. Diese Vielfalt bildet sich auch in der GovernanceStruktur ab. So repräsentiert der BMC-Vorstand stets unterschiedliche Themenfelder und Interessensgebiete des Gesundheitswesens. Abb. 9.2 gibt einen Überblick über die Arbeitsfelder der BMC-Mitglieder (Stand Sommer 2019). Mit ihrer Expertise bringen sich die Mitarbeiter der Mitgliedsorganisationen aktiv in die unterschiedlichen Handlungsfelder des BMC ein. Anders als viele andere Verbände sind beim BMC Organisationsvertreter aller Hierarchieebenen eingeladen sich einzubringen. So verkörpern die Teilnehmer meist eine bunte Mischung an Institutionen, Hintergründen, Erfahrungen und Ebenen – von C-Level bis Young Professionals sind alle dabei.

Abb. 9.2   Mitgliederstruktur des BMC

94

V. Amelung et al.

9.3.2 Arbeitsfelder 9.3.2.1 Austausch und Kooperation Jeder zweite Patient hat in Deutschland Koordinationsprobleme zwischen Leistungserbringern erlebt – Studien legen dar, dass dies in anderen Ländern deutlich seltener der Fall ist. Die mangelnde Kooperation gilt damit als eines der größten Defizite im deutschen Gesundheitswesen. Die zu überbrückenden Grenzen zwischen Krankenversorgung, Pflege und Reha, zwischen ambulant und stationär, zwischen haus- und fachärztlicher Versorgung, zwischen mehr als 80 anerkannten Facharztbezeichnungen, zwischen Erstattung und Selbstzahlerleistungen oder zwischen Berufsunfall und Privatunfall führen dazu, dass unser Gesundheitssystem für die meisten Patienten wie eine Black Box erscheint. Dies kann dadurch verdeutlicht werden, dass Patienten im Internet weniger nach Gesundheitsinformationen suchen als nach Unterstützung bei Behandlungsabläufen und Koordination. Die vorhandenen Silostrukturen des Gesundheitswesens sind auch auf die Mentalität und Haltung aller Beteiligten zurückzuführen. Krankenkassen agieren anders als Leistungserbringende oder Hersteller von Technologien oder Arzneimitteln. Auch auf politischer Ebene werden meist nur die Differenzen und Grabenkämpfe zwischen Institutionen bekannt. Für Managed Care ist jedoch eine Zusammenarbeit der Institutionen notwendig. Sichtbar wird das beispielsweise bei Projekten der Integrierten Versorgung, wo unterschiedliche Akteure aktiv zusammenkommen, um neue Versorgungskonzepte auszuprobieren und in die Praxis zu bringen. Eine zentrale Aufgabe des BMC ist es daher, die Akteure des Gesundheitswesens zusammenzuführen, zu vernetzen und dadurch die Grundlage zu schaffen, miteinander zu arbeiten. Mit zahlreichen Veranstaltungen bietet der BMC damit seinen Mitgliedern eine Vernetzungsplattform zur Förderung der fachübergreifenden Kooperation im Gesundheitswesen. Als Highlight wird alljährlich der zweitägige Kongress im Januar organisiert. Der erste BMC-Kongress fand bereits im Jahr 2011 statt und zog unter dem Thema „Neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand – Impulse für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“ rund 450 Teilnehmende in die Hauptstadt. Auch mit den darauffolgenden Themen der BMC-Kongresse, beispielsweise „Patientenorientierung durch Wettbewerb“ im Jahr 2012 oder „Wer traut sich an die Sektorengrenzen?“ im Jahr 2014 liegen die Themenschwerpunkte stets am Puls der Zeit. Mit jedem Jahr konnten mehr Teilnehmende und Referenten gewonnen, weitere Programmpunkte angeboten und mehr Sponsorengelder eingeworben werden. Im Laufe seiner Kongresshistorie durfte der BMC mehrfach den Bundesgesundheitsminister als Eröffnungsredner begrüßen. Darüber hinaus stehen internationale wie nationale Vordenker im Zentrum, die aktuelle Versorgungsherausforderungen des deutschen Gesundheitswesens aufgreifen und richtungsleitende Best-Practice-Ansätze vorstellen.

9  Gesundheitsversorgung neu denken

95

9.3.2.2 Wissensmanagement Ein weiteres Ziel des BMC ist die Stärkung des Wissensmanagements. Dies erlangt sowohl in den Bereichen von Versorgungskonzepten, wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch in der politischen Landschaft hohe Relevanz. Im Rahmen der Integrierten Versorgung wird seit rund 20 Jahren versucht, die Versorgungsstrukturen und -prozesse des Gesundheitswesens in Pilotprojekten auszutesten und dadurch innovativer zu gestalten. In Innovationsfondsprojekten, Satzungsleistungen, Disease-ManagementProgrammen oder der Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) versuchen einzelne Akteure und Regionen, neue Wege in der Gesundheitsversorgung zu gehen. Ziel dabei ist, durch Modellprojekte neue Wege der Zusammenarbeit auszutesten und neue Prozesse zu implementieren. Insgesamt findet im deutschen Gesundheitssystem eine bunte Vielfalt an neuen Versorgungsprojekten in den unterschiedlichen Regionen und Verbünden statt. Allerdings werden viel zu häufig Ansätze „neu“ entwickelt, die an anderer Stelle längst vielfach existieren. Das gilt neben den Pilotprojekten ebenso bei relevanten wissenschaftlichen Erhebungen und Studien, die oft in hohen internationalen Fachzeitschriften publiziert werden und deren Erkenntnisse nicht bei den relevanten Entscheidern und in der Praxis ankommen. Auch im politischen Kontext existieren so vielfältige Konzepte und Reformvorhaben, bei denen die Akteure kaum den Überblick behalten können. Sei es bei aktuellen Gesetzesvorhaben oder bei komplexen Regelungen der Strukturen des Gesundheitssystems. Bei all diesen Fällen bedarf es eines intelligenten Wissensmanagements. Im Rahmen von Hintergrundgesprächen und Capital Talks bündelt der BMC die Vielfalt der Akteure, verschiedenste politische Hintergründe sowie nationale und internationale Themenschwerpunkte – ganz im Sinne seiner pluralistischen Ausrichtung. Mit Hintergrundgesprächen reagiert der BMC auf aktuell brisante Themen des Gesundheitswesens. Vorgestellt werden aktuelle Gesetzesvorhaben, Versorgungsinnovationen durch Best Practices, relevante Studien etc. Die Hintergrundgespräche finden mehrmals im Jahr statt und zielen darauf ab, durch ausgewählte Referentenvorträge mit anschließender Diskussion tiefer die Thematiken zu reflektieren. Dabei agiert der BMC stets unparteiisch. Abb. 9.3 zeigt exemplarisch eine themengruppierte Auswahl der BMC-Hintergrundgespräche aus den Jahren 2017 bis 2018. Die Grassroots-Bewegung innerhalb des BMC sind die Arbeitsgruppen. Diese laden zur aktiven Mitarbeit an der Erarbeitung von Strategien und Konzepten für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens ein. Geführt von ein bis zwei AG-Leitern werden die Arbeitsgruppen je nach Interesse der Beteiligten ganz unterschiedlich ausgelebt: Während manche Arbeitsgruppen aktiv politische Prozesse begleiten, laden andere Experten zur Diskussion ein und wieder andere führen Marktanalyseprojekte durch.

96

V. Amelung et al.

Abb. 9.3   Auswahl der BMC-Hintergrundgespräche, thematisch gruppiert (2017–2018)

­ erzeit bestehen neun Arbeitsgruppen zu Themen wie Neue Versorgungsformen, Digital D Health, Intersektorale Versorgung oder Patienten-Empowerment. Die Arbeitsgruppen gestalten sich als offene Gremien, die zwei bis vier Mal im Jahr zu einem spezifischen Schwerpunktthema tagen und mit eingeladenen Experten eine Plattform intensiver Diskussionen ermöglichen. Der Verband bringt sich regelmäßig durch Stellungnahmen gegenüber Parlamenten, Regierungen, Behörden sowie weiteren Entscheidungsträgern und Akteuren in den öffentlichen Diskurs mit ein. Dies können auch Handlungsempfehlungen als Diskussionsgrundlage sein. Eine besonders intensive Auseinandersetzung mit spezifischen Themengebieten erfolgt über die eigene Schriftenreihe. Dabei sind seit 2006 sieben Sammelbänder erschienen. Aktuell wird an einer Veröffentlichung zum Thema „Die Zukunft der Arbeit in der Gesundheitsversorgung“ gearbeitet. Hierbei befasst sich der BMC mit Strategien zum effizienten Umgang mit den personellen Ressourcen des Gesundheitswesens. Zur Förderung der Gesundheitsversorgung auch über das deutsche System hinaus, pflegt der BMC Kontakt zu zahlreichen gemeinnützigen Institutionen und Verbänden. Mit diesen vielzähligen Aufgabenfeldern wird der BMC seiner Rolle als Vordenker in einem System aus tradierten Strukturen gerecht.

9.3.3 Nachwuchsarbeit Wie in vielen anderen Gesellschaftsbereichen, sind die Meinungsführerschaften im Gesundheitswesen häufig männlich und senior dominiert. Mit dem Nachwuchsführungsprogramm Brown Bag möchte der BMC junge High Potentials gezielt fördern und im Gesundheitswesen sichtbar machen. Ein besonderes Augenmerk liegt auch auf einer angemessenen Geschlechterausgeglichenheit. Seit mehreren Jahren hat der BMC das strategische Ziel, engagierte Nachwuchskräfte des Gesundheitswesens anzusprechen und

9  Gesundheitsversorgung neu denken

97

zusammenzubringen. Damit unterstützt der BMC beim Aufbau eines beruflichen Netzwerkes, generiert Wissen zu sowohl fachlichen Themen als auch Soft Skills und bietet Einblicke in bekannte Institutionen. Das Format hat sich in den vergangenen Jahren zu einem festen Bestandteil im BMC etabliert und ist im Gesundheitswesen bisher einzigartig. Die Brown-Bag-Veranstaltungen umfassen regelmäßige Stammtische, die einen idealen Rahmen bieten, um in ungezwungener Atmosphäre in Kontakt mit anderen Nachwuchskräften des Gesundheitswesens zusammenzukommen und sich zu vernetzen. Im Rahmen organisierter Workshops, beispielsweise zum Thema „agiles Projektmanagement“ haben junge Nachwuchskräfte die Möglichkeit, ihre persönlichen als auch fachlichen Kompetenzen praxisnah weiterzuentwickeln. Darüber hinaus organisiert der BMC regelmäßige Besuche bekannter Institutionen des Gesundheitswesens, wodurch die Nachwuchskräfte einen intensiven Einblick in die verschiedensten Unternehmensstrukturen gewinnen können. Ein Highlight der letzten Jahre stellte die BMC Brown Bag Tour nach Kalifornien dar. Hierbei besuchten die rund 15 Teilnehmenden verschiedene Gesundheitseinrichtungen wie das Highland Hospital oder die Hill Physical Medical Group und gewannen einen Einblick in digitale Institutionen wie Apple oder Google Health. Für den Herbst 2019 ist nun eine Tour nach Kopenhagen, exklusiv für die Nachwuchskräfte, geplant. Auch im Rahmen des alljährlichen BMC-Kongresses wird jungen Nachwuchskräften eine eigene Bühne geboten. Dazu wird seit dem Jahr 2015 das sogenannte NachwuchsSymposium organisiert. Dieses bietet zukünftigen Führungskräften eine niedrigschwellige Plattform, um sich in Diskussion und Moderation zu üben und sich mit Fragen zu Leadership im Gesundheitswesen auseinanderzusetzen. Des Weiteren besetzt der BMC seine Panels und Veranstaltungen gezielt mit jungen High Potentials, getreu dem Motto: „Nur, wenn die Zukunft sichtbar ist, kann sie auch die Gegenwart mitgestalten und Weichen stellen“. Unser Augenmerk liegt bei sämtlichen Veranstaltungen auf dem Ziel einer mengenmäßigen Ausgeglichenheit der Geschlechter. So wurde der BMC-Kongress 2019 erstmalig mit einem Frauenanteil von 44 % bei den Vorträgen und Moderationen gestaltet.

9.4 Von der Vision in die Umsetzung – die Leitthemen des BMC Die Leitthemen des BMC orientieren sich an dem Motto „every patient is the only patient“ von Donald M. Berwick (2002), Präsident Emeritus und Senior Fellow am Institute for Healthcare Improvement. So stehen insbesondere patientenorientierte, neue Versorgungsformen, der Innovationsfonds und die Digitalisierung des Gesundheitswesens im Aufmerksamkeitsfokus der täglichen Arbeit. Internationale Impulse schaffen die Möglichkeit zum Reflektieren nationaler Strukturen sowie des eigenen Handelns.

98

V. Amelung et al.

9.4.1 Patientenorientierte Versorgung Das deutsche Gesundheitssystem in seiner heutigen Form befindet sich in einem doppelten Spagat: Einerseits treffen relativ starre sektorale Strukturen auf moderne integrierende Lösungsansätze, andererseits wird die Rolle der Patienten von sehr traditionell und konservativ bis hin zum engagierten, informierten Selbstmanager der Gesundheitssituation gedacht. Dadurch entstehen zunehmend Konflikte, aber auch Möglichkeiten, alte Barrieren aufzubrechen und in innovative Strukturen und Prozesse umzuwandeln. Zunehmend viele Patienten wollen ihre Gesundheit nicht nur durch ihre Verhaltensentscheidungen steuern, sondern zusätzlich Gestalter und Verwalter ihrer Gesundheitsversorgung sein. Um dies angemessen wahrnehmen zu können, benötigen sie einen systematischen Zugang zu verständlichen Informationen und Hilfestellungen und müssen in der Lage sein, die für sie zielgerichteten Ressourcen des Gesundheitswesens zu nutzen. Diese Erwartungshaltung trifft heute meist an einigen Stellen auf ein System, das sich lieber um sich selbst organisiert als um die Nutzer. Diesem anstehenden Wandel sollten sich alle Stakeholder (behandelnde Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten, Apotheker etc.) des heutigen Gesundheitssystems stellen. Unterschiedliche Patienten und Patientengruppen haben einen Anspruch darauf, dass spezifische Bedürfnisse mit ihren sozialen und kulturellen Kontexten erkannt und reflektiert werden. Der BMC bietet die adäquate Struktur und Mitgliederzusammensetzung, um eine Plattform für integrierte Ansätze zu sein und nachhaltige Veränderungen zu initiieren. Der Grundgedanke einer patientenorientierten Versorgung wird selbstverständlich bei sämtlichen thematischen Ansätzen des BMC mitgedacht. Initiativen wie die Arbeitsgruppe Patienten-Empowerment und die ab Herbst 2019 tagende Arbeitsgruppe Patienten-Lotsen widmen sich aber dem Dreh- und Angelpunkt der Versorgung, den Patienten, noch einmal auf intensive Weise.

9.4.2 Förderung neuer Versorgungslösungen und Innovationsfonds In Zeiten zunehmender Multimorbidität in der Bevölkerung sieht sich das deutsche Gesundheitssystem mit zahlreichen Versorgungsherausforderungen konfrontiert. Dabei verursachen insbesondere die Versorgungsstrukturen in strukturschwachen Regionen einen stetigen Handlungs- und Anpassungsbedarf, um flächendeckend eine qualitative Gesundheitsversorgung zu realisieren. Als Reaktion hat der Gesetzgeber bereits vor vielen Jahren neben der kollektivvertraglichen Versorgung auch selektivvertragliche Möglichkeiten eingeführt, die zur Umsetzung neuer Versorgungsleistungen und -formen genutzt werden können. Auf Basis dessen sollte der Anreiz für die Krankenkassen, versorgungsverbessernde Wettbewerbselemente einzuführen, erhöht werden (Amelung et al. 2017).

9  Gesundheitsversorgung neu denken

99

Nach mehrjähriger Anschubfinanzierung der Integrierten Versorgung fielen die Evaluationsergebnisse der neu umgesetzten Versorgungsformen jedoch verhalten aus und ließen nur bedingt verallgemeinernde Rückschlüsse auf die Auswirkungen der selektivvertraglichen Versorgung zu. Zudem rückten digitale und telemedizinische Versorgungslösungen zunehmend in das Interesse gesundheitspolitischer Reformdiskussionen. Der anhaltenden Skepsis gegenüber neuen Versorgungsformen zum Trotz verbreitete sich der Wunsch nach einer übergeordneten Struktur, um innovative Versorgungskonzepte zu erproben und in die Regelversorgung überzuführen (Amelung et al. 2017). Bereits im Jahr 2009 veröffentlichte der BMC ein Positionspapier, das sich für eine stärkere Innovationsförderung im Gesundheitswesen ausspricht. Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2015 mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) der Innovationsfonds rechtlich verankert. Damit stellte der Gesetzgeber für den Förderungszeitraum 2016 bis 2019 300 Mio. EUR zur Verfügung, um sowohl neue Versorgungsformen als auch die Versorgungsforschung zu fördern. Für den ersten Förderzeitraum wurden insgesamt 290 Projekte ausgewählt (Bundesministerium für Gesundheit BMG 2019). Obwohl dieser einen neuen Standard für Kooperationsprojekte setzt, bürgt die langfristige Etablierung in einem hoch regulierten und tradierten Umfeld – neben der Überführung der Projekte in die Regelversorgung – viele Risiken. Den BMC treibt die Frage an, warum Projekte regelmäßig an ihre Grenzen geraten. Mit dem baldigen Ablauf des ersten Förderungszeitraums Ende 2019 steht die Weiterentwicklung des Innovationsfonds auf der gesundheitspolitischen Agenda. Bereits im Jahr 2018 veröffentlichte der BMC Handlungsempfehlungen als Diskussionsgrundlage. Mit einer weiteren Stellungnahme im Jahr 2019 wirbt der BMC für die Weiterführung der finanziellen Förderung. Gleichzeitig spricht sich der Verband für strukturelle Änderungen sowohl des Innovationsfonds als auch in dessen Geschäftsstelle sowie einheitliche Evaluationsstandards aus. Um die Überführung der innovativen Versorgungskonzepte in die Regelversorgung zu sichern, verlangt der BMC eine Überprüfung der Projektüberführung. Auch in Zukunft wird der BMC den Innovationsdiskurs mit dirigieren. Auch in der Veranstaltungsagenda hat sich in den letzten Jahren das Thema Innovationsfonds verstärkt durchsetzen können. Im Rahmen zahlreicher Arbeitsgruppensitzungen beschäftigt sich der BMC mit innovativen Versorgungsformen und -modellen. Neben den auf selektivvertraglicher Basis umgesetzten Modellvorhaben existieren Projekte mit E-Health-Ansätzen, Qualitätsinitiativen und Businessmodelle von Start-upUnternehmen im Bereich Healthcare. Allesamt verfolgen sie das Ziel, die Patientenversorgung durch effiziente Versorgungsprozesse nachhaltig zu verbessern. Dabei stehen sektorenübergreifende und interdisziplinäre Versorgungskonzepte im Vordergrund. Im Jahr 2019 veranstaltete der BMC zudem eine Fachtagung zum Innovationsfonds, die die Frage nach dessen zukünftiger Gestaltung verfolgte und personelle, digitale und ortsspezifische Projektlösungen thematisierte. Beteiligte Projektverantwortliche haben sich in einer Art Selbsthilfegruppe zusammengefunden. Im Rahmen der BMC-Arbeitsgruppe Geförderte Innovationsprojekte erhalten die an Innovationsfondsprojekten beteiligten Mitglieder die

100

V. Amelung et al.

­ elegenheit, sich auszutauschen und Lösungen zu auftretenden Problemen zu finden. G Das im Jahr 2017 im Rahmen der BMC-Schriftenreihe veröffentlichte Handbuch „Innovationsfonds – Impulse für das deutsche Gesundheitssystem“ gibt zudem einen exklusiven Einblick in die ersten Förderprojekte (Amelung et al. 2017).

9.4.3 Digitalisierung Die Tatsache, dass die Einführung digitaler Maßnahmen innerhalb des Gesundheitssystems zu vielerlei Nutzen und Prozessverbesserungen führen kann, wurde von zahlreichen Studien bestätigt. Während Länder wie Estland, Kanada oder Israel bereits vor einigen Jahren das Potenzial digitaler und telemedizinischer Versorgungslösungen entdeckt haben und diese erfolgreich in den Versorgungsalltag implementieren konnten, steht das deutsche Gesundheitssystem noch ganz am Anfang seiner digitalen Versorgungskarriere. Spätestens mit dem veröffentlichten Digital Health Ranking der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2018 wird deutlich, dass Deutschland im europäischen Vergleich von anderen Ländern stark abgehängt wurde: Von 17 in den Vergleich eingezogenen Ländern nimmt Deutschland den 16. Platz ein (Bertelsmann Stiftung 2018). Auch eine Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) kann das digitale Hinterherhinken des deutschen Gesundheitssystems nur bestätigen. Somit findet 94 % der Kommunikation zwischen den Arztpraxen und Krankenhäusern und 86 % der Kommunikation zwischen den niedergelassenen Leistungserbringern immer noch in Papierform statt. Lediglich beim Abruf von Laborwerten und bei der Kommunikation mit den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) leiten deutsche Arztpraxen erste digitale Handlungsschritte ein. Grundgebend für die fehlende Digitalisierungsstruktur des deutschen Gesundheitswesens ist zum einen die stets anhaltende Skepsis der zuständigen Akteure. Insbesondere die Angst vor mit der Einführung digitaler Versorgungslösungen verbundenen zunehmenden Dokumentationspflicht wirkt auf die Leistungserbringer abschreckend. Zum anderen unterliegt der Bereich der digitalen Gesundheitswelt einem massiven Marketingproblem, während sich die Diskussionen lediglich um Themen wie Datenschutz und sowohl technischen als auch finanziellen Fragestellungen drehen. Vor diesem Hintergrund setzt sich der BMC aktiv für eine nationale Digitalisierungsstrategie für das deutsche Gesundheitswesen ein. Während die Ressourcen und das notwendige Know-how bereits vorhanden sind, fehlt es insbesondere an zielführenden Strukturen und einer allein für die Digitalisierung des Gesundheitssystems verantwortlichen Institution. Hierbei sollte die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht als Ziel an sich, sondern Mittel zum Zweck der Implementierung einer vernetzten, patientenorientierten Gesundheitsversorgung verstanden werden. Mit zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen verfolgt der BMC das Ziel, auf die dem digitalen Wandel entgegenarbeitende Haltung zuständiger Akteure zu reagieren und den Austausch zu digitalen Versorgungslösungen zu fördern.

9  Gesundheitsversorgung neu denken

101

9.4.4 Internationale Impulse Der Transfer internationaler Erfahrungen in das deutsche Gesundheitssystem nimmt für den BMC einen hohen Stellenwert ein. Auf Basis dessen bemüht sich der Verband nicht nur darum, stets die Veranstaltungspodien mit Referenten aus dem Ausland zu bereichern. Auch besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Schweizer forum managed care (fmc), das im Jahr 1997 gegründet wurde. Das fmc verfolgt auf nationaler Ebene das Ziel, den Austausch von Wissen, Erkenntnissen und Erfahrungen zur Verbesserung der sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung zu fördern. Mit seinen vielfältigen Leistungsschwerpunkten, von Veranstaltungsplanung und -durchführung über Forschung und Veröffentlichung von Publikationen, hat sich der Verband als Think Tank der Schweizer Gesundheitslandschaft etabliert. Seit 1998 arbeitet der BMC fest mit seiner Schwesternorganisation fmc zusammen. Als einer der ersten gesundheitspolitischen Verbände ermöglichte der BMC seinen Mitgliedern zudem die Teilnahme an internationalen Studienreisen, um aus erster Hand Best-Practice-Modelle aus dem Ausland kennenzulernen. In Zusammenarbeit mit dem fmc organisiert der BMC pro Jahr ein bis zwei Studienreisen für eine pluralistische Delegation aus rund 20 Teilnehmenden. Tab. 9.1 gibt einen Überblick über die thematischen Schwerpunkte der bisherigen Studienreisen des Zeitraums 2011 bis 2019. Mit Besuchen von Ministerien, wissenschaftlichen Institutionen sowie Versorgungseinrichtungen wird den Teilnehmenden der Studienreise ein Einblick in die Strukturen fremder Gesundheitssysteme ermöglicht. Mit diesem Konzept fördert der BMC den internationalen Austausch über relevante Gesundheitsthemen und -systeme. Im Rahmen der bereits vergangenen Studienreisen nach Dänemark, Israel oder den USA konnte

Tab. 9.1  Thematische Schwerpunkte der BMC-Studienreisen 2011–2019 (chronologisch) 2011 Zürich Managed Care in der Schweiz

2015 Stockholm Regionen und Kommunen in der Verantwortung

2012 London Der NHS im Umbruch

2016 Tel Aviv It’s all about data

2013 Brüssel Gesundheitsreformen auf EU-Ebene

2017 Edinburgh Patientenorientierung konsequent gedacht

2013 Amsterdam Strukturreformen und ihre Auswirkungen

2018 Tallinn Estlands E-Health-Konzept

2014 New York Obamacare and Innovationen

2018 Kalifornien (Nachwuchsreise) Essen auf Rezept und HighTech-Medizin

2014 Koperhagen Ambulant vor Stationär

2019 Barcelona Die neue Role der Apotheker

2015 Paris Versorgungskonzept regional gedacht

2019 Kopenhagen (Nachwuchsreise) Krankenhausreform „alles neu“

102

V. Amelung et al.

b­eispielsweise ausführlich über die zunehmende Digitalisierung oder die mit dem ­demografischen Wandel verbundene ansteigende Anzahl chronisch kranker Menschen diskutiert werden.

9.5 Ausblick Die Gesellschaft und das Gesundheitssystem werden sich mehr als jede Generation zuvor auf immense strukturelle Veränderungen durch den demografischen Wandel und die Zunahme von chronischen und multimorbiden Krankheitsbildern einstellen müssen. Das ist leicht gesagt in einem System, das umfänglich nach Indikationen und Sektoren organisiert ist. Eine wesentliche Funktion des BMC ist da das Herausnehmen von Schärfe, die Orientierung an Sachthemen und dadurch das Nehmen von Ängsten der Beteiligten. Auf diesen Wegen möchten wir die Innovationsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens vorantreiben – orientiert an den Bedürfnissen der Patienten, Versicherten und Beschäftigten des Systems. Der BMC wird diesen Wandel nicht nur als überparteiischer Beobachter begleiten, sondern ihn auch in Zukunft durch Anregung, Aufklärung, Vernetzung und Diskurs aktiv gestalten. Eine konstruktive Plattform als Vereinigung und Ausbalancierung von Partikularinteressen zu bieten: Dies war der Gründungsgedanke des BMC vor über 20 Jahren. Aber gerade in der heutigen Zeit, in der gesundheitspolitische Leitbilder und Umsetzungsideen zu fehlen scheinen, ist ein Ort für Querdenker und Visionäre wichtiger denn je. Um etwas zu bewegen, brauchen wir den Dialog – zwischen den Sektoren, zwischen den Fach- und Berufsgruppen, zwischen den Bänken der Selbstverwaltung, zwischen Wissenschaft, Praxis und Industrie und nicht zuletzt mit den betroffenen Patienten und Versicherten.

Literatur Amelung, V. E., Meyer-Lutterloh, K., Schmid, E., Seiler, R., Lägel, R., & Weatherly, J. N. (2008). Integrierte Versorgung und Medizinische Versorgungszentren. Von der Idee zur Umsetzung (2. aktualisierte und erweiterte Aufl.). Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Amelung, V. E., Eble, S., Hildebrandt, H., Knieps, F., Lägel, R., Ozegowski, S., Schlenker, R. U., & Sjuts, R. (2017). Innovationsfonds. Impulse für das deutsche Gesundheitssystem. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. AOK (2016). 1993: Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). https://www.aok-bv.de/hintergrund/ gesetze/index_15084.html. Zugegriffen: 9. Mai 2019. Bertelsmann Stiftung. (2018). #SmartHealthSystems. Digitalisierung braucht effektive Strategie, politische Führung und eine koordinierende nationale Institution. Spotlight Gesundheit, Nr.  5, 2018. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/VV_SG_SHS_dt.pdf. Zugegriffen: 9. Mai 2019.

9  Gesundheitsversorgung neu denken

103

Berwick, D. M. (2002). Escape fire. Lessons for the future of health care. New York: The Commonwealth Fund. Bundesministerium für Gesundheit (BMG). (2019). Innovationsfonds. Der Motor für eine bessere Patientenversorgung. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/i/ innovationsfonds.html. Zugegriffen: 16. Mai 2019. SVR Gesundheit. (2001). Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) (2001): Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. https://www.svrgesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2000-2001/kurzf-de00.pdf. Zugegriffen: 22. Mai 2019.

Volker Amelung ist Professor für Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorstandsvorsitzender des BMC. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in St. Gallen und Paris. Nach der Promotion arbeitete er an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg und war Gastwissenschaftler an der Columbia University New York. Volker Amelung ist auch als Berater im Gesundheitswesen tätig. Seine Schwerpunkte sind Managed Care und Integrierte Versorgung. Patricia Ex  ist Geschäftsführerin des BMC. Sie studierte in Bremen, Pennsylvania, Göttingen und Bilbao Linguistik und internationale Politik. Im Bundestag arbeitete sie bei Gesundheitsministerin a. D. Ulla Schmidt. Als (Senior)Consultant beriet sie Gesundheitsinstitutionen und -unternehmen zu ihrer politischen Strategie, und leitete das Hauptstadtbüro eines Facharztverbandes. Für ihre Forschung zu Finanzierungsmechanismen von Innovationen im Gesundheitswesen an der TU Berlin und UC Berkeley wurde sie 2017 promoviert. Valerie Stutenbecker  ist seit Oktober 2015 beim BMC tätig, aktuell als Leitung der Geschäftsstelle und Vorstandsreferentin. Nach ihrem Masterstudium der Medienkommunikation an der Technischen Universität Berlin folgten Stationen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation verschiedener Institutionen und Verbände. Im Winter 2018 schloss sie zusätzlich ihr MBA-Studium „Health Care Management“ an der Universität Bayreuth ab. Susanne Eble ist seit 2004 Leiterin Gesundheitsmanagement bei der BERLIN-CHEMIE AG. Zuvor hatte sie verschiedene leitende Positionen bei der BAYER Vital inne. Susanne Eble hat in Köln Medizin-Ökonomie studiert, einen Master in Health Care Management und an der Deutschen Sporthochschule Köln im Bereich Prävention promoviert. Seit 2006 ist sie Vorstandsmitglied des BMC, sowie seit 2010 als stellvertretende Vorstandsvorsitzende aktiv. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG in Hamburg. Zuvor war er viele Jahre Berater im Bereich der Gesundheitswirtschaft, sowie Krankenhausgeschäftsführer. Der approbierte Apotheker und Gesundheitssystementwickler ist ebenfalls Executive Board Member der International Foundation for Integrated Care, sowie Vorstandsmitglied des BMC. Cornelia Kittlick ist Leiterin für strategische Projekte und Kooperationen sowie Mitglied der Geschäftsleitung bei Thieme TeleCare GmbH in Stuttgart. Nach ihrem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster war sie in verschiedenen Positionen bei AnyCare tätig. Die Diplom-Kauffrau ist kooptiertes Vorstandsmitglied beim BMC.

104

V. Amelung et al.

Wolfgang Klitzsch  ist Ehrenmitglied sowie kooptiertes Vorstandsmitglied beim BMC. Zuvor war er über ein Jahrzehnt Geschäftsführer der Ärztekammer Nordrhein. Er studierte an der Universität Bielefeld Wirtschaftswissenschaften, sowie promovierte an der Universität zu Köln in Volkswirtschaftslehre. Danach folgten weitere Positionen am Max-Planck-Institut, sowie bei der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Ralph Lägel  war seit 1987 in verschiedenen verantwortlichen Positionen im Gesundheitswesen beziehungsweise der Gesundheitswirtschaft tätig, so unter anderem an zwei Universitätskliniken, als Leiter eines Pilotprojektes der ambulanten medizinischen Versorgung, als Manager in der pharmazeutischen Industrie sowie als Lead eines Innovation Hub. Inzwischen ist er Mitinhaber und Geschäftsführer eines Versorgungsforschungsinstituts (inav) und betätigt sich als Business Angel (Cap4Health GmbH & Co. KG). Ralf Sjuts ist Geschäftsführer der patiodoc Service GmbH, sowie seit 2010 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des BMC. Angefangen beim AOK Bundesverband, hatte er verschiedene geschäftsführende und Vorstandsfunktionen inne, unter anderem bei der BKK Post, Volkswagen BKK sowie der Deutschen BKK. 2008 war er Leiter des ganzheitlichen Gesundheitsmanagements im Top-Management bei der Volkswagen AG und zusätzlich ab 2009 Leiter Gesundheitswirtschaft bei der Wolfsburg AG. Jürgen Wasem ist seit 2003 Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen. Von 2015 bis 2019 war er Vorsitzender der Schiedsstelle nach § 130b SGB V, zudem ist er seit 2007 Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses in der vertragsärztlichen Versorgung. Zuvor hatte er verschiedene Mitgliedschaften in Selbstverwaltungsgremien des Gesundheitswesens inne. Seit 2010 ist er Mitglied des erweiterten Vorstands des BMC. Thomas Ballast ist stellvertretende Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Bevor er seine Tätigkeit bei der TK antrat, war der Diplom-Volkswirt Vorstandsvorsitzender des Ersatzkassenverbandes vdek. Bis dahin war er bereits in verschiedenen verantwortlichen Positionen in der gesetzlichen Krankenversicherung tätig. Franz Knieps  ist seit Juli 2013 Vorstand des BKK Dachverbandes. Der gelernte Jurist, Politikund Literaturwissenschaftler war als Geschäftsführer Politik beim AOK Bundesverband tätig, bevor er als Leiter der Abteilung Gesundheitsversorgung, Gesetzliche Krankenversicherung, Pflegesicherung zum Bundesministerium für Gesundheit wechselte. Knieps arbeitete unter anderem als Berater für Gesundheitssystementwicklung für die WHO und die EU. Er ist Beisitzer im Vorstand des BMC.

Think Tanks in der Onkologie

10

Florian Kron, Jennifer Bonn, Ina Veith, Hannah Muranko, Anna Kron, Jürgen Wolf, Christian Reinhardt und Michael Hallek

Inhaltsverzeichnis 10.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Förderung von Forschung und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Patienten- und Selbsthilfeorganisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Klinische Krebsforschung: Netzwerke unumgänglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Krebsbehandler: zentral-dezentrale Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Krebsbehandlung in zertifizierten Zentren: eine Qualitätsmarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 106 107 107 109 113 116 116

10.1 Einführung Jährlich erkranken ca. 500.000 Menschen an Krebs in Deutschland (Inzidenz C00C96 o. C44) Frauen: 229.900, Männer: 252.600) (Robert Koch Institut 2016). Ungefähr die Hälfte der Patienten verstirbt an ihrer Erkrankung. Aufgrund des demografischen Wandels werden Krebserkrankungen, die aktuell die zweithäufigste Todesursache in Deutschland darstellen, in naher Zukunft hier den ersten Platz einnehmen. Somit gehören onkologische Erkrankungen zu den großen gesellschaftlichen HerausF. Kron (*) · J. Bonn · H. Muranko · A. Kron · J. Wolf · M. Hallek  Universitätsklinikum Köln (AöR), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] I. Veith  Universitätsklinikum Köln Management, Köln, Deutschland C. Reinhardt  Universitätsklinikum Essen (AöR), Essen, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_10

105

106

F. Kron et al.

forderungen unserer Zeit. Aktuelle Therapiestrategien erfordern ein interdisziplinäres und multisektorales Management. Darüber hinaus stehen aufgrund eines vertieften Verständnisses der molekularen Ursachen von Krebs vermehrt innovative Medikamente (Kinaseinhibitoren, Antikörper und andere) zur Verfügung, die in der Regel nicht zur Heilung, aber zu einem deutlich längeren Überleben bei teilweise exorbitant hohen Kosten führen. Um hier die Balance zwischen der Verfügbarkeit einer optimalen Therapie für jeden Patienten und der Finanzierbarkeit durch ein solidarisches Gesundheitssystem zu wahren, bedarf es eines offenen und konstruktiven Dialogs aller Beteiligten aus Versorgung, Forschung, Industrie und Politik. Nach dem US-amerikanischen Vorbild (Barack Obama Cancer Moonshot Task Force 2016) wurde 2018 die Initiative „Nationale Dekade gegen Krebs“ aus Wissenschaft, Gesundheitspolitik und Gesellschaft gegründet, um gemeinsam alle Kräfte im Kampf gegen den Krebs zu bündeln. Das Ziel dabei ist, die Krebsprävention und Früherkennung noch mehr voranzutreiben und den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu beschleunigen (Lowy und Collins 2016; Nationale Dekade gegen Krebs 2019). Auch die Initiative „Vision Zero“ greift diese Themen auf und fordert einen Paradigmenwechsel in der Onkologie mit Fokus auf Krebsvermeidung und der kompromisslosen Bekämpfung von Krebserkrankungen. Vision Zero zieht die Parallele zum Straßenverkehr, in welchem durch die Einführung bestimmter Maßnahmen, wie zum Beispiel Gurtpflicht, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Airbags, die Todesfälle seit den 1970er-Jahren um 90 % gesenkt wurden (Detert 2019; von Kalle 2019). Laut Professor Christof von Kalle (Chair für Klinisch-Translationale Wissenschaft an der Charité Berlin) sollte „jeder Krebstodesfall […] inakzeptabel sein, denn Krebs ist nicht die Schuld der Betroffenen“ (Netzwerk gegen Darmkrebs 2019). Think Tanks in der Onkologie haben die Aufgabe, die zuvor genannten Herausforderungen zu diskutieren und Lösungsstrategien zu erarbeiten. Um dies zu erreichen, ist es angesichts eines immer komplexer werdenden Feldes unumgänglich, alle Kräfte aus den verschiedenen Bereichen (von Akteuren aus der Krebsversorgung bis zur Politik, s. Abb. 10.1) zu bündeln.

10.2 Förderung von Forschung und Versorgung Krebsforschung und -Versorgung ist ressourcenintensiv und erfordert strukturierte Konzepte und Programme, die es ermöglichen, neueste Erkenntnisse für die Patientenbehandlung zu erzielen. Es gibt zahlreiche bundesweit agierende Forschungsgemeinschaften (Grundlagenforschung und Klinische Forschung) im onkologischen Kontext. Tab. 10.1 benennt Institutionen, die entweder spezifisch oder auch neben anderen Fachgebieten in der Onkologie als Forschungsverbund bzw. Förderer aktiv und somit wichtige Akteure im Think Tank sind. Neben den Forschungsinstitutionen gibt es in Deutschland zahlreiche Fachgesellschaften und Berufsverbände in der Onkologie. So sind beispielsweise folgende Organisationen wichtige Impulsgeber zur Unterstützung von qualitätsgesicherten Ver-

10  Think Tanks in der Onkologie

107

Versorger

Industrie

Forscher Think Tanks in der Onkologie

Paenten

Polik

Kostenträger Abb. 10.1   Dimensionen der Denkfabriken in der Onkologie

sorgungsstrukturen: Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO), Deutsche Krebsgesellschaft e. V. (DKG), Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland e. V. (BNHO), Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie e. V. (GPOH), Deutsche Gesellschaft für Senologie e. V. (DGS).

10.3 Patienten- und Selbsthilfeorganisationen Denkfabriken erfordern vor allem die Integration von Patienten, damit Patientenwünsche berücksichtigt werden und ein unmittelbarer Einfluss auf die Aufgaben in Denkfabriken entstehen kann. Selbsthilfe- und Patientenorganisationen dürfen daher in den offenen Dialogen der Denkfabriken nicht fehlen. Angesichts der Vielzahl und der Heterogenität von Patientenorganisationen besteht eine Herausforderung in der Auswahl und der praktischen Einbindung dieser Organisationen (s. Tab. 10.2).

10.4 Klinische Krebsforschung: Netzwerke unumgänglich Klinische Krebsforschung wird in Deutschland seit über 30 Jahren durch zahlreiche Studiengruppen in den jeweiligen Tumorentitäten gewährleistet und vorangetrieben. Allen voran sind die Lymphom-Studiengruppen, wie zum Beispiel die Deutsche CLL (Chronische Lymphatische Leukämie) Studiengruppe, die German Hodgkin Study

108

F. Kron et al.

Tab. 10.1  Forschungsinstitutionen (Auswahl) in der Onkologie Institution

Spezielle Themen

Gründungsjahr

Stiftung Deutsche Krebshilfe (DKH)

1974 Prävention, Früherkennung, Diagnose, Therapie, medizinische Nachsorge, psychosoziale Versorgung, Krebs-Selbsthilfe

Deutsches Krebsforschungszentrum – Stiftung des öffentlichen Rechts

Forschungsinstitution, Betreiber mit Uniklinik Heidelberg: Nationales Centrum für Tumorerkrankungen

1964

https://www.dkfz.de/

Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK)

Translationale Krebsforschung

2012

https://dktk.dkfz.de/

Hermann von HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.

1995 Krebsgenom, Epigenom, metabolische Dysfunktion, personalisierte Radioonkologie, Ionentherapie, molekulare Bildgebung, Neuroonkologie, individualisierte Krebsmedizin, Gesundheitsökonomie

www.helmholtz.de

Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V.

Grundlagenforschung

www.mpg.de/de

Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V.

Medizintechnik, Assistenz- 1949 systeme, Medikamentenentwicklung

www.fraunhofer.de

Deutsche Forschungsgemeinschaft e. V.

Projektförderung

www.dfg.de

1948

1920

Quelle: www.krebshilfe.de

Group (GHSG) oder das Kompetenznetz Maligne Lymphome (KML), (inter-)national wichtige Kompetenz- und Wissensvereinigungen mit dem Ziel, Synergien bei der klinischen Forschung zu fördern und Erkenntnisse in die Routineversorgung einzubetten. In der Onkologie sind jüngere Zusammenschlüsse wie das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs beispielhaft zu benennen (Büttner et al. 2019; Kron et al. 2017; Kron und Hallek 2018). Tab. 10.3 zeigt eine Auswahl über die aktuellen Kompetenznetzwerke in der Hämato-Onkologie.

10  Think Tanks in der Onkologie

109

Tab. 10.2  Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen (Auswahl) in der Onkologie Institution

Gründungsjahr/Hauptsitz

Quelle

Plasmozytom/Multiples Myelom Selbsthilfegruppe NRW e. V.

1998/Wuppertal

https://myelom-nrw.de

Deutsche Leukämie- & Lymphom-Hilfe e. V. (DLH)

1995/Bonn

www.leukaemie-hilfe.de

Myelom Deutschland e. V.

2013/Neustadt an der Weinstraße

www.myelom-deutschland.de

Das Haus der Krebs-Selbsthilfe 2015/Bonn – Bundesverband e. V.

www.hausderkrebsselbsthilfe. de

Arbeitskreis der Pankreatektomierten e. V. (AdP)

1976/Bonn

www.bauchspeicheldruesepankreas-selbsthilfe.de

Bundesverband der Kehlkopfoperierten e. V.

k. A./Bonn

http://kehlkopfoperiert-bv.de/

BRCA-Netzwerk e. V. – Hilfe bei fam. Brust- und Eierstockkrebs

2010/Bonn

www.brca-netzwerk.de

Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe e. V.

2000/Bonn

www.prostatakrebs-bps.de

Bundesverband Schilddrüsen- 1999/Berlin krebs – ohne Schilddrüse leben e. V.

www.sd-krebs.de

Deutsche ILCO e. V. – Selbst- 1972/Bonn hilfe bei Darmkrebs und Stoma

www.ilco.de

Frauenselbsthilfe nach Krebs – 1976/Bonn Bundesverband e. V. (FSH)

www.frauenselbsthilfe.de

Kopf-Hals-M.U.N.D-Krebs e. V.

2015/Bonn

www.kopf-hals-mund-krebs.de

Selbsthilfe-Bund Blasenkrebs e. V.

2004/Bonn

www.blasenkrebs-shb.de

Deutsche Hirntumorhilfe e. V.

1998/Leipzig

www.hirntumorhilfe.de

10.5 Krebsbehandler: zentral-dezentrale Versorgung Wer behandelt Krebspatienten und wie werden sie in Deutschland versorgt? Krebspatienten werden in unterschiedlichen Versorgungssektoren und Einrichtungen behandelt: von der ambulanten Versorgung in der Niederlassung (zum Beispiel beim Facharzt für Hämato-/Onkologie), bis hin zur vollstationären Behandlung in einem Krankenhaus der Regel-, Schwerpunkt- oder Maximalversorgung. Es gibt derzeit über

110

F. Kron et al.

Tab. 10.3  Überblick (Auswahl) über Studiengruppen und Kompetenznetzwerke in der Hämatologie und Onkologie (Kron und Hallek 2018) Name der Studiengruppe/des Kompetenzzentrums (Abkürzung)

Fachgebiet

Gründungsjahr

Deutsche CLL Studiengruppe (DCLLSG)

Chronische 1996 Lymphatische Leukämie (CLL)

Köln

Deutsche Hodgkin Studiengruppe (GHSG)

Hodgkin-Lymphom

1978

Köln

Kompetenznetz Maligne Maligne Lymphome Lymphome (KML)

2005

Köln

Sitz der Zentrale/ Geschäftsstelle

Deutsche Studiengruppe Multiples Myelom (DSMM)

Multiples Myelom (MM) 1994

Würzburg

German Speaking Myeloma Multicenter Group (GMMG)

Multiples Myelom (MM) 1996

Heidelberg

Kooperative Studiengruppe ZNS-Lymphome (KSG-PCNSL)

ZNS-Lymphome (ZNSL) 1998

Stuttgart

Deutsche Studiengruppe Primäre ZNS-Lymphome 2000 Primäre ZNS Lymphome (PZNSL) (G-PCNSL-SG)

Berlin

AML Cooperative Group Akute myeloische München (AML-CG Leukämie (AML) München)

2004

München

German Multicenter Study Group for Adult Acute Lymphoblastic Leukemia (GMALL)

Akute lymphatische Leukämie (ALL)

2003

Frankfurt/Main

Deutsche Studiengruppe chronische myeloische Leukämie (Dt. CML)

Chronische myeloische Leukämie (CML)

1982

Mannheim/Jena

1998

Leipzig/Erfurt

Akute myeloische Studiengruppe für Leukämie (AML) die akute myeloische Leukämie/Ostdeutsche Studiengruppe für Hämatologie und Onkologie e. V. (OSHO-AML)

(Fortsetzung)

10  Think Tanks in der Onkologie

111

Tab. 10.3   (Fortsetzung) Name der Studiengruppe/des Kompetenzzentrums (Abkürzung)

Fachgebiet

Gründungsjahr

Sitz der Zentrale/ Geschäftsstelle

Myeloproliferative German Study Group Neoplasien (MPN) für Myeloproliferative Neoplasien (GSG-MPN) (Zusammenschluss MPN-SAL und MPNSG)

2014

Aachen/Ulm

Netzwerk Genomische Lungenkrebs Medizin (NGM) Lungenkrebs

2010

Köln

Nationales Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs

Lungenkrebs

2018

Köln

Lung Cancer Group Cologne (LCGC)

Lungenkrebs

2005

Köln

Westdeutsche Studiengruppe/Women’s healthcare Study Group (WSG)

Mammakarzinom

1994

Mönchengladbach

Westdeutsche Studiengruppe GmbH (WSG)

Mammakarzinom

1994

Mönchengladbach

German Breast Group Forschungs GmbH

Mammakarzinom

2004

Neu-Isenburg

NOGGO Studiengruppe/ Nord-Ostdeutsche Gesellschaft für Gynäkologische Onkologie (NOGGO e. V.)

Mammakarzinom, Uterus- und Endometriumkarzinom, Zervixkarzinom, Ovarialkarzinom

1998

Berlin

1600 Krankenhäuser, ca. 900 Rehakliniken und ca. 1500 niedergelassene Fachärzte, die onkologische Patienten behandeln. Tab. 10.4 gibt einen Überblick über die Krebsbehandler in Deutschland. Ein Kennzeichen der onkologischen Behandlungsstruktur besteht in der sektoralen Trennung. Ein Baustein zur optimalen Patientenversorgung liegt jedoch in der Aufhebung dieser starren Sektorengrenzen, sodass kooperative Ansätze im Sinne der intersektoralen Verschmelzung vermehrt in den Blickpunkt der Akteure gelangen müssen (Kron und Hallek 2018). Durch die sehr heterogene Versorgungslandschaft in Deutschland kann die Versorgung von Krebspatienten entweder ambulant oder (teil-)stationär erfolgen. Da in der Onkologie in mittlerweile 90 % der Fälle die strahlentherapeutischen und

112

F. Kron et al.

Tab. 10.4  Krebsbehandler in Deutschland Krankenhäuser

Anzahl

Quelle

Onkologisch tätige Krankenhäuser

>1600 von insgesamt 1942 Krankenhäusern in Deutschland

(Deutsches Krankenhausverzeichnis o. J.) (Statistisches Bundesamt 2018)

Uniklinika in Deutschland (Versorgung und Forschung in der Onkologie)

33

(Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD) o. J.)

Niedergelassene Fachärzte (Gynäko-Onkologen)

325

(Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017) (Jahn 2012)

Anzahl Fachärzte Innere Hämatologie-Onkologie nach § 95 SGB V

~1200 HO

(Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017) (Jahn 2012)

Anzahl Fachärzte Gynäkologische Onkologie nach § 95 SGB V

~350 GO

(Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017) (Jahn 2012)

Onkologisch tätige Rehabilitationskliniken

903

(Kurklinikverzeichnis.de 2019)

medikamentösen Ansätze (zum Beispiel durch den Einsatz von oralen Medikamenten mit meist wenigen Nebenwirkungen) nicht mehr stationär, sondern von spezialisierten Fachärzten entweder in Krankenhausambulanzen oder in onkologischen Schwerpunktpraxen durchgeführt werden, gewinnt der ambulante Bereich immer mehr an Bedeutung (Ambulantisierung) (Hallek und Schmitz 2012). Eine Herausforderung besteht im effizienten Informations- und Wissensaustausch innerhalb der Versorgungsstrukturen, sodass Innovationen aus der Forschung in die Routineversorgung gelangen und aktuelle Behandlungsergebnisse zwischen Krankenhaus und Niederlassung im Sinne der bestmöglichen Patientenversorgung zirkulieren können. Der zentral-dezentrale Austausch von Daten aus klinischen Studien, Therapieverläufen und Ergebnissen aus der Krebsgenomik ist hierbei essenziell, vor allem für die Evaluation bzw. zeitnahe Validierung zukünftiger Therapie- und Behandlungsmethoden (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. & Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie 2018). Zur Förderung sieht unter anderem der nationale Krebsplan in Deutschland die Bildung von spezialisierten, interdisziplinären und intersektoralen Behandlungs- und Therapieplattformen („Krebszentren“) vor, die nicht nur die gesamte Versorgungskette für Patienten abbildet, sondern auch dem Ausbau einer flächendeckenden Vernetzung der Akteure dient. Neben onkologisch tätigen Kliniken sind Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ebenso wichtige Leistungserbringer in der ambulanten Ver-

10  Think Tanks in der Onkologie

113

sorgung an Krebs erkrankter Patienten. Es ist davon auszugehen, dass zukünftig immer mehr stationär-ambulante Netzwerke, wie zum Beispiel das nNGM Lungenkrebs, aufgrund der starken Verknüpfung und Interaktion verschiedener Versorgungsstrukturen im Rahmen der besonderen Versorgung (§ 140a SGB V), an immer größerer Bedeutung für die Krebsdiagnostik und -therapie gewinnen werden (Bundesministerium für Gesundheit 2011; Büttner et al. 2019; Kron und Hallek 2018).

10.6 Krebsbehandlung in zertifizierten Zentren: eine Qualitätsmarke Die Zertifizierungsprogramme der DKG und des DGHO e. V. sowie das Förderprogramm der DKH bilden eine qualitätsgesicherte Kategorisierung im Sinne des „DreiStufen-Konzepts der onkologischen Versorgung“ in Deutschland (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. 2018; Deutsche Krebsgesellschaft e. V. 2018b; Stiftung Deutsche Krebshilfe 2019a, b). Tab. 10.5 gibt einen Überblick über die Anzahl der Zentren in Deutschland. Alle an der Behandlung des Patienten Beteiligten stehen unter dem Einfluss vielfältiger Veränderungen im Zuge des medizinisch-technischen Fortschritts. Von den Versorgern wird erwartet, dass Prozesse und Strukturen entsprechend angepasst werden. Um dem permanenten Innovationsschub und den Qualitätsanforderungen gerecht zu werden, ist ein stetiger Experten-Diskurs und Austausch a) in kurzen Zeitabständen, b) mit einer Vielzahl an Experten und c) im (inter-)nationalen Kontext unumgänglich. Die Umsetzung und Anwendung findet in „Krebszentren“ statt, die wiederum eingebettet sind in das onkologische Tätigkeitsprofil der Kliniken und Departments in (gegebenenfalls mehreren kooperierenden) Krankenhäusern. In Deutschland bildet das Förderschwerpunktprogramm „Onkologische Spitzenzentren“ der DKH sowie des Zertifizierungsprogramm für „Onkologische Zentren“ und „Organkrebszentren“ der DKG eine wichtige strukturelle Grundlage zur Förderung der spezialisierten Behandlung in Zentren (Anders et al. 2017).

Tab. 10.5  (Zertifizierte) Krebszentren in Deutschland (DKG, DKH, DGHO) Krebszentren

Anzahl

Zertifizierte Zentren (Center, Organisationen) nach Deutsche Krebsgesellschaft (DKG)

1380

Onkologische Zentren (Cancer Center) nach DKG

109

Zertifizierte Zentren nach Deutsche Gesellschaft für Hämato- 59 logie/Onkologie (DGHO) Onkologische Spitzenzentren nach DKH (Comprehensive Cancer Center, CCC)

14 universitäre Maximalversorger

114

F. Kron et al.

„Ein Zentrum bildet […] ein Netz von qualifizierten und gemeinsam zertifizierten, multi- und interdisziplinären, transsektoralen und gegebenenfalls standortübergreifenden Einrichtungen, die, sofern fachlich geboten, möglichst die gesamte Versorgungskette für Betroffene abbilden“ (Bundesministerium für Gesundheit 2011). Aus der Einteilung in die vorgenannten Zentren leitet sich das Dreistufenmodell der Onkologie ab (s. Abb. 10.2). Organkrebszentren (Center = C) sind auf ein Organ oder ein Fachgebiet spezialisierte Zentren (Tumorentitäten mit hoher Inzidenz) oder Netzwerke. Das Behandlungsspektrum der Onkologischen Zentren erstreckt sich hingegen auf mehrere Organe oder Fachgebiete bzw. seltener auftretende Krebserkrankungen. Sie können sich seit 2008 als Onkologische Zentren (Cancer Center = CC) zertifizieren lassen (Deutsche Krebsgesellschaft e. V. 2018a). Organkrebszentren und onkologische Zentren werden seit 2003 von der DKG zertifiziert (Anders et al. 2017). Hierzu wurden Zertifizierungsanforderungen und Auditverfahren entwickelt, denen sich die Zentren freiwillig zur Qualitätskontrolle unterziehen (Deutsche Krebsgesellschaft e. V. 2018a). Die Anzahl der eigenständigen Organkrebszentren beläuft sich auf 506. Weitere 537 Organkrebszentren bzw. Module sind Teil von insgesamt 109 onkologischen Zentren. Darunter subsummieren sich wiederum 129 Organkrebszentren bzw. Module unter dem Dach der Onkologischen Spitzenzentren (Anders et al. 2017). Speziell das Austauschprogramm der DKH über alle in Deutschland etablierten Onkologischen Spitzenzentren (Comprehensive Cancer Center  =  CCC) bietet einen Nährboden für den Innovationsaustausch zur Förderung der Standorte. Folgende Themen

CCC

CC

Deutsche Krebshilfe (DKH) Deutsche Krebsgesellscha (DKG)

(Onkologische Zentren)

C (Organkrebszentren)

Abb. 10.2   Dreistufen-Modell der onkologischen Versorgung (Beckmann et al. 2009; Deutsche Krebsgesellschaft e. V. o. J.)

10  Think Tanks in der Onkologie

115

werden hierbei in Expertengruppen bzw. Arbeitsgruppen regelmäßig durch entsandte Teilnehmer der jeweiligen Standorte bearbeitet: Aufgaben der Arbeitsgruppen des CCC-Netzwerks: • Translationale Studien/Forschung • Tumordokumentation/Krebsregister • Standard Operating Procedures (SOP) • Finanzierung von Onkologischen Spitzenzentren • Palliativmedizin • Psychoonkologie • Patientenvertretung/Selbsthilfegruppen Die Onkologischen Spitzenzentren verpflichten sich neben einer qualitätsgesicherten und hochwertigen Patientenversorgung zur Weiterentwicklung der onkologischen Versorgung im Rahmen von Forschungsschwerpunkten durch Grundlagenforschung und klinische Studien (Bundesministerium für Gesundheit 2011). Die Entwicklung innovativer Verfahren zur Prävention, Therapie und Nachsorge entlang des gesamten Patientenpfades stehen hierbei im Fokus. Translationale Forschung, also die möglichst schnelle und effiziente Umsetzung (prä-)klinischer Forschung in die klinische Routine, stellt dabei ein wichtiges Ziel dar. Bei der Versorgung von Patienten gilt es, interdisziplinäre Ansätze zu verfolgen und die Netzwerkarbeit voranzutreiben (Anders et al. 2017). Die Förderung der Onkologischen Spitzenzentren erfolgt durch die DKH, vor allem durch jährliche Förderbeträge an die jeweiligen Standorte. Um als Onkologisches Spitzenzentrum anerkannt bzw. gefördert zu werden, sollte bereits eine DKG-Zertifizierung als Onkologisches Zentrum vorliegen. In Deutschland fördert die DKH aktuell insgesamt 14 Onkologische Spitzenzentren. Das größte Onkologische Spitzenzentrum „Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) Aachen Bonn Köln Düsseldorf“ entsteht in diesem Jahr (2019) im Zusammenschluss der vier Universitätskliniken Aachen, Bonn, Köln und Düsseldorf (Anders et al. 2017; Stiftung Deutsche Krebshilfe 2017, 2019c). Seit 2013 haben die DKG und die DKH ihre Qualitätsanforderungen und Anforderungskataloge harmonisiert. Der vereinheitlichte Erhebungsbogen beruht auf evidenzbasierten Leitlinien und ist ein Bestandteil des Nationalen Zertifizierungsprogramms Krebs. So soll die Einheitlichkeit bei der Behandlung von Krebspatienten sowie die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sichergestellt werden (Deutsche Krebsgesellschaft e. V. 2013). Die Onkologischen Spitzenzentren haben sich im CCC-Netzwerk zusammengeschlossen. Ziel ist die Bündelung der Expertise sowie der Außendarstellung der Zentren, um Synergien zu schaffen und die kliniknahe Krebsforschung zu verbessern. Die Onkologischen Spitzenzentren werden regelmäßig durch eine internationale Expertenkommission (Scientific Advisory Board – SAB) begutachtet (Deutsche Krebshilfe 2019a, b).

116

F. Kron et al.

10.7 Fazit In der Onkologie gibt es keine klare Definition für „Denkfabriken“. Think Tanks in der Onkologie lassen sich beschreiben als offene Kommunikations- und Netzwerksysteme mit einer klaren Zielvorstellung bzw. Auftrag zur kontinuierlichen Verbesserung der Patientenbehandlung. Das Ziel richtet sich branchenübergreifend unter Beteiligung von Akteuren aus der Versorgung, Forschung, Industrie und Politik am Patientenwohl aus, was die direkte Einbindung von Betroffenen und Angehörigen in die Think Tanks unerlässlich werden lässt. Die Bündelung und Konzentration von Kräften für ein gemeinsames Ziel wird durch vielfältige Organisationsformen wie Onkologische Zentren, Studiengruppen oder Selbsthilfegruppen (formell oder informell) gewährleistet. Dabei ist der Expertenaustausch über Sektoren, Fachdisziplinen und Branchen ein wichtiger Erfolgsfaktor. Ein entscheidendes Erfolgskriterium ist ebenso der offene und transparente Dialog mit der Industrie und Wirtschaft.

Literatur Anders, M., Henkel, M., Resnischek, C., Riedel, W., & Vollmer, J. (2017). Endbericht - Nutzen, Mehraufwand und Finanzierung von Onkologischen Spitzenzentren, Onkologischen Zentren und Organkrebszentren. from Prognos AG. https://www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/ PDFs/Stellungnahmen/Prognos_Endbericht_Deutsche_Krebshilfe.pdf. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V., & Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. (2018). Ad-hoc-Kommission Nutzenbewertung – Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland 2011–2017. Status und Tendenzen. Retrieved 14.06.2019, from Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. Beckmann, M. W., Thiel, F., Hildebrandt, T., Wagner, S., & Lux, M. P. (2009). Zukunftsperspektiven und Kompetenzzentren. Management des Ovarialkarzinoms: Interdisziplinäres Vorgehen (S. 363–375). Springer: Berlin. Bundesministerium für Gesundheit. (2011). Nationaler Krebsplan Handlungsfeld 2: Weiterentwicklung der onkologischen Versorgungsstrukturen und der Qualitätssicherung. https:// www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/nationaler-krebsplan/was-habenwir-bisher-erreicht/ziel-5.html. Büttner, R., Wolf, J., & Kron, A. (2019). Das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM). 40(3), 276–280. https://doi.org/10.1007/s00292-019-0605-4. Detert, S. (2019). Kampf gegen Krebs Verhindern vor heilen – Forscher fordern bessere Prävention. https://www.tagesspiegel.de/wissen/kampf-gegen-krebs-verhindern-vor-heilenforscher-fordern-bessere-praevention/24492214.html. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. https://www.awmf.org/ fileadmin/user_upload/Service/Publikationen/AWMF_AMNOG_210x297_36S_f_web_ok.pdf. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.  V. (2018). Zertifizierungen. https://www.dgho.de/. Deutsche Krebsgesellschaft e. V. (2013). Pressearchiv 2013. Deutsche Krebsgesellschaft und Deutsche Krebshilfe vereinheitlichen Qualitätsanforderungen an Zentren der onkologischen Versorgung. https://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deutsche-krebsgesellschaft/presse/pressearchiv2013/deutsche-krebsgesellschaft-und-deutsche-krebs.html.

10  Think Tanks in der Onkologie

117

Deutsche Krebsgesellschaft e. V. (2018a). Das Zentrenmodell. https://www.krebsgesellschaft.de/ deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deutsche-krebsgesellschaft/zertifizierung/das-zentrenmodelder-dkg.html. Zugegriffen: 14. Juni 2019. Deutsche Krebsgesellschaft e.  V. (2018b). Zertifizierung. https://www.krebsgesellschaft.de/ deutsche-krebsgesellschaft/zertifizierung.html. Deutsche Krebsgesellschaft e. V. (o. J.). Präsentationsmaterial für Zentren. http://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft/zertifizierung/material_zentren.html. Deutsche Krebshilfe. (2019a). Das Netzwerk. http://www.ccc-netzwerk.de/das-netzwerk.html. Deutsche Krebshilfe. (2019b). Netzwerk onkologische Spitzenzentren. Der Patient im Mittelpunkt. http://www.ccc-netzwerk.de/fileadmin/Inhalte/Downloads/PDF/Ansicht_RZ_CCC_Flyer_Allgemein_2018_131118_FINAL.pdf. Zugegriffen: 16. Juni 2019. Deutsches Krankenhausverzeichnis. (o. J.). Suche nach Krankheitsbild und Behandlung. https:// www.deutsches-krankenhaus-verzeichnis.de/suche/Behandlung.html. Hallek, M., & Schmitz, S. (2012). Zukunft Der Onkologischen Versorgung Kooperation ist der Schlüssel. Deutsches Ärzteblatt, 109(29–30), 1478–1480. Jahn, R. (2012). Neuordnung der ambulanten Onkologie. Kassenärztliche Bundesvereinigung. (2017). Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister. https://www.kbv.de/media/sp/2017_12_31_BAR_Statistik.pdf. Zugegriffen: 14. Juni 2019. Kron, A., Quaas, A., & Zander, T. J. D. O. (2017). Versorgungsrealität der molekularen Diagnostik maligner Erkrankungen. 23(11), 900-910. https://doi.org/10.1007/s00761-017-0283-x. Kron, F., & Hallek, M. (2018). Wissen generierende Versorgung in der Onkologie. FORUM, Springer Medizin Verlag GmbH, 33(5), 345–350. Kurklinikverzeichnis.de. (2019). Onkologie. https://www.kurklinikverzeichnis.de/indikationen/ onkologie?page=12. Lowy, D. R., & Collins, F. S. (2016). Aiming High-Changing the Trajectory for Cancer. New England Journal of Medicine, 374(20), 1901–1904. https://doi.org/10.1056/nejmp1600894. Nationale Dekade gegen Krebs. (2019). Mission, Ziele Aufgaben – Gemeinsam forschen gegen den Krebs. Retrieved from https://www.dekade-gegen-krebs.de/de/mission-ziele-aufgaben— gemeinsam-forschen-gegen-krebs-1700.html. Netzwerk gegen Darmkrebs. (2019). Immer mehr Krebs: Was gegen steigende Neuerkrankungen zu tun ist. Mit einer Neuvermessung der Onkologie zur Realisierung der Vision Zero. http:// www.mynewsdesk.com/de/netzwerk-gegen-darmkrebs-e-v/pressreleases/immer-mehr-krebswas-gegen-steigende-neuerkrankungen-zu-tun-ist-2894265. Robert Koch Institut. (2016). Epidemiologie von Krebserkrankungen 2. https://www.krebsdaten. de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebsgeschehen/Epidemiologie/Kapitel2_Epidemiologie. pdf?__blob=publicationFile. Statistisches Bundesamt. (2018). Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2017. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2617/umfrage/anzahl-der-krankenhaeuser-indeutschland-seit-2000/. Stiftung Deutsche Krebshilfe. (2017). Geschäftsbericht 2017. Unser Einsatz gegen Krebs. https:// www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/PDFs/Geschaeftsbericht/Deutsche_Krebshilfe_-_ Geschaeftsbericht-2017.pdf. Zugegriffen: 14. Juni 2019. Stiftung Deutsche Krebshilfe. (2019a). Förderung. https://www.krebshilfe.de/forschen/foerderung/. Stiftung Deutsche Krebshilfe. (2019b). Kompetenz in drei Stufen. http://www.ccc-netzwerk.de/ spitzenzentren/kompetenz-in-drei-stufen.html. Stiftung Deutsche Krebshilfe. (2019c). Meilenstein für die Versorgung von Krebspatienten in NRW. https://www.krebshilfe.de/informieren/presse/pressemitteilungen/archiv/meilensteinfuer-die-versorgung-von-krebspatienten-in-nrw/. Verband der Universitätsklinika Deutschlands e. V. (VUD). (o. J.). Verbindung von Forschung, Lehre und Krankenversorgung, Die 33 deutschen Universitätsklinika gemeinsam mit den

118

F. Kron et al.

Medizinischen Fakultäten übernehmen im Gesundheitswesen eine besondere Funktion. https:// www.uniklinika.de/die-deutschen-universitaetsklinika/. von Kalle, C. (2019). Vision Zero in der Onkologie Wir müssen jeden Stein umdrehen!/Interviewer: G. Löffelmann. Ärztezeitung online.

Prof. Dr. Florian Kron ist Professor für Gesundheits- und Sozialmanagement an der FOM Hochschule in Köln. Von 2012–2019 war er als Kaufmännischer Leiter in der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln tätig. Jennifer Bonn B.A. studierte Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fresenius in Köln und absolviert derzeit ihr Masterstudium im Fach Präventions- und Gesundheitspsychologie an der SRH-Fernhochschule. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Bachelorstudiums arbeitete sie zunächst als Projektmanagerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im gewi-Institut für Gesundheitswirtschaft e. V. Aktuell ist sie als Consultant bei der Healthcare Consulting Cologne – Universitätsklinikum Köln Management GmbH, einem 100%-igen Tochterunternehmen der Uniklinik Köln beschäftigt. Ina Veith M.A.  studierte Soziologie, Politische Wissenschaft und Psychologie an der Universität Bonn. Im Anschluss war sie in verschiedenen Verlagen im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig und arbeitete ca. zehn Jahre als Projektleitung und Assistentin der Geschäftsführung in der Geschäftsstelle des Berufsverbandes der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland (BNHO e. V.). Seit Mai 2018 ist sie als Projektmanagerin bei der Healthcare Consulting Cologne – Universitätsklinikum Köln Management GmbH, einem Tochterunternehmen der Uniklinik Köln tätig. Hannah Muranko M.Sc. studierte Gesundheitsökonomie an der Universität zu Köln und schloss ihren Master of Science in Health Economics & Health Care Management 2016 nach dem Studium an der Universität Hamburg und der Universität Oslo ab. Im Anschluss arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin am gewi-Institut für Gesundheitswirtschaft e. V. Köln. Seit Anfang 2019 ist sie im Controlling der Universitätsklinik Köln tätig. Dr. Anna Kron  ist Diplom-Gesundheitsökonomin und arbeitet seit 2012 als Kaufmännische Leitung im Studienzentrum der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln. Sie promovierte im Bereich Lungenkrebs und ist zudem die Leitung der nNGM-Geschäftsstelle. Prof. Dr. med. Jürgen Wolf ist Professor für Interdisziplinäre translationale Onkologie und Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie der Uniklinik Köln. Zudem ist er Mitbegründer und Sprecher des Netzwerks genomische Medizin (NGM) und Mitglied des Koordinationsteams des nationalen Netzwerks genomische Medizin Lungenkrebs (nNGM). Prof. Dr. med. Hans Christian Reinhardt ist Direktor der Klinik für Hämatologie des Universitätsklinikums Essen. Von 2012 bis April 2020 war er als Professor für Klinische und Molekulare Onkologie an der Uniklinik Köln tätig. Dort arbeitete er als Finanzoberarzt, geschäftsführender Oberarzt in der Klinik I für Innere Medizin und als Wissenschaftlicher Leiter des Bereichs „DNA damage response“ im Exzellenzcluster CECAD. Prof. Dr. med. Michael Hallek  ist seit 2003 Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Uniklinik Köln. Seit 2007 ist er Vorsitzender des Centrums für Integrierte Onkologie, das seit 2018 das gemeinsame Onkologische Spitzenzentrum der Standorte Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf ist.

Initiative Gesundheitswirtschaft e. V. (IGW) – Gesundheitswirtschaft gehört zur Wirtschaft

11

Heinz Lohmann, Jörg F. Debatin und Dietmar Reese

Inhaltsverzeichnis 11.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 11.2 Medizin 4.0 ermöglicht Markenmedizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 11.3 Ausblick: Modernisierung vor Regulierung – Thesen zur Zukunft der Gesundheitswirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

11.1 Hintergrund Die Gesundheitswirtschaft hat für unsere Volkswirtschaft eine große Bedeutung. Diese Aussage ist heute fast Allgemeingut. Doch vor gut 20 Jahren war das noch völlig anders. Damals standen die steigenden Kosten des Sozialsystems im Vordergrund der öffentlichen Debatte. Das Gesundheitssystem wurde daher ausschließlich als Kostenfaktor betrachtet. Die Korrektur dieses Zerrbildes war ein wesentlicher Grund, die Initiative Gesundheitswirtschaft (IGW) zu gründen, zunächst als lockere Verbindung von innovativen Managern und Unternehmern, schließlich als Verein. Inzwischen ist die wirtschaftliche Relevanz der Gesundheitsindustrie erkannt. Die Menschen bekennen sich zur Gesundheitswirtschaft und auch die Politik hat ihre Arbeitsmarktrelevanz erkannt. So konnte die Initiative Gesundheitswirtschaft ihre Mission präzisieren. Heute geht es in der IGW vornehmlich um die Frage, wie die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdienstleistungen optimiert werden kann. Es geht um „gute Medizin zu bezahlbaren Preisen“. Dabei spielt die Anwendung der Grundsätze des Wettbewerbs um Qualität und Effizienz die entscheidende Rolle. H. Lohmann · J. F. Debatin (*) · D. Reese  Initiative Gesundheitswirtschaft e. V., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_11

119

120

H. Lohmann et al.

Anstatt sich auf die Einrichtung eines Rahmens für Wettbewerb um die beste Medizin zu den besten Preisen zu fokussieren, verfällt die Politik leider immer häufiger der Versuchung, anstehenden Herausforderungen mit direkten staatlichen Eingriffen zu begegnen. Die vorgesehenen Personalquotierungen in der Pflege sind diesbezüglich ein aktuelles Beispiel. Hier wird versucht, mit den Antworten der Vergangenheit auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren. Nach dem Motto „viel hilft viel“ werden durch die Einführung eines verkappten Selbstkostendeckungsprinzips überkommene Strukturen in der Pflege zementiert. Selbst wenn es zu kurzfristigen Erfolgen kommen sollte, rechtfertigt der Mitteleinsatz nicht den potenziellen Nutzen. Im Gegenteil: Die Umsetzung innovativer Arbeitsprozesse und moderner Strukturen wird durch diese Maßnahme eher behindert und damit das Problem mittel- und langfristig weiter verschärft. Bereits heute fehlen Pflegekräfte in großer Zahl, was bei vielen Kliniken dazu geführt hat, dass Stationen geschlossen werden müssen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird sich in Zukunft weiter verschärfen, und das nicht nur in Deutschland. Am Ende werden alle Beteiligten frustriert sein, die Pflegenden, und auch die Patienten. Benötigt wird unternehmerisches Management, Kreativität und Innovation. Der Pflegeberuf muss interessanter werden, Pflegekräfte müssen in ihrem Alltag von berufsfremden Tätigkeiten wie monotone Dokumentation oder Essen-Austragen entlastet werden. Die Arbeit am Patienten muss digital unterstützt werden, damit Pflegekräfte mehr Zeit bekommen, um die Patienten zu betreuen. Das Motto muss lauten, „pflegen statt faxen“. Alle Arbeitsprozesse müssen überprüft und konsequent strukturiert werden. Nur so können moderne Methoden und Technologien genutzt werden, die in anderen Branchen längst zum Einsatz kommen. Die Politik ist dabei gefordert, die innovativen Akteure der Gesundheitswirtschaft durch mehr Wettbewerb unter dem Motto „Modernisierung statt Regulierung“ nachhaltig zu befördern. Die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen können nur gelöst werden, wenn die Gesundheitsbetriebe von unternehmerisch geprägten Managern geführt werden, die in einer staatlich bestimmten, den wirtschaftlichen Rahmen für alle Akteure gleichermaßen vorgebenden, Marktordnung agieren. Soziale Marktwirtschaft fördert Innovationen Die Gesundheitswirtschaft ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel unserer Volkswirtschaft. Sie repräsentiert die Innovationskraft, die unter dem Label „Made in Germany“ zu Weltruhm gelangt ist. Das hiesige Sozialstaatsmodell, das sich nicht zuletzt in der Versorgung von Kranken- und Pflegebedürftigen zeigt, erntet von unseren Nachbarländern höchstes Lob. Unser System der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung produziert zuverlässig Fachkräfte von internationalem Format. Und im Grunde hat auch die deutsche Wachstumsstory der vergangenen Jahre ihren Nukleus in der Gesundheitswirtschaft. In diesem Sektor erzielen 6,5 Mio. Beschäftigte mehr als 400 Mrd. Euro Umsatz per anno. Gesundheitswirtschaft ist der große Standortfaktor.

11  Initiative Gesundheitswirtschaft …

121

Doch schöpft die Gesundheitswirtschaft ihr Potenzial nur bedingt aus. Allzu oft behindern bürokratische Fesseln den Wettbewerb. So sind die Grenzen zwischen ambulantem, stationärem und rehabilitativem Sektor aufgrund unterschiedlicher Abrechnungssysteme und regulativer Vorgaben nahezu unüberwindbar. Privates Kapital und gewinnorientiertes Wirtschaften wird oft fälschlicher Weise verbunden mit sozialer Kälte. Und in Zeiten von Social Media und Big Data verweigern noch ganze Standesgruppen transparente Informationen über Qualität und Wirtschaftlichkeit ihrer Dienstleistungen. Ein solcher Ordnungsrahmen beeinträchtigt zwangsläufig die Patientenversorgung. Die Patienten und Patientinnen sind verunsichert und viele Beschäftigte in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Pflegeeinrichtungen sind frustriert. In dem Bemühen, den steigenden Bedarf nach Gesundheitsleistungen in einer immer älter werdenden Bevölkerung zu befriedigen und gleichzeitig die soziale Krankenversicherung nicht zu überfordern, hat der Druck auf die Kosten ständig zugenommen. Einer Lösung dieser Problemstellung ist die Politik bislang nicht nähergekommen. So wurden Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte in den letzten Reformschritten mit Finanzierungsbeiträgen belastet, ohne dass von einer Problemlösung gesprochen werden kann. Derweil „normalisiert“ sich der Gesundheitsmarkt aufgrund der Demografie und des medizinischen Fortschritts. Die zunehmende Transparenz erfordert den Einsatz moderner Technik und fortschrittlichem Management. Die veraltete Organisation der Medizin kann die berechtigten Ansprüche an Qualität und Produktivität nicht mehr gewährleisten. Der durch das Internet begünstigte aufkommende Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt zwingt die Anbieter von Gesundheitsleistungen zur Optimierung der Gesundheitslösungen. Die Modernisierung des Medizinmanagements rückt dabei ins Zentrum des Interesses. Die moderne Technologie ermöglicht durch individuelle Standardisierung die Realisierung patientenzentrierter Behandlungskonzepte. All diese Veränderungen dürfen nicht durch eine staatliche Regulierungswut behindert werden, sondern müssen durch die Schaffung eines modernen Ordnungsrahmens gefördert werden. Die soziale Marktwirtschaft hat sich als Ordnungsrahmen für einzelwirtschaftlich agierende Unternehmer gesellschaftlich bewährt und eignet sich auch für eine soziale Gesundheitswirtschaft. Moderne Methoden und Technologien stiften Nutzen Technik und Humanität sind keine Gegensätze. Vielmehr ermöglicht die Nutzung moderner Technologien in der Medizin eine stärkere Hinwendung zum Patienten. Studien haben ergeben, dass Ärzte täglich vier Stunden und Krankenpflegekräfte täglich drei Stunden mit berufsfremden Tätigkeiten verbringen. Ein Verzicht auf den Einsatz von in anderen Branchen längst erprobten Methoden und Technologien der Prozessoptimierung wäre deshalb fahrlässig. Wer will, dass auch in Zukunft der Zugang zu guter Medizin offensteht, muss an der Verbesserung der Arbeitsprozesse mitwirken. Das erfordert von allen Beteiligten die Bereitschaft zum Umdenken. Das gilt für Manager genauso wie für Ärzte, Krankenpflegekräfte und alle anderen Akteure. Die IGW hat

122

H. Lohmann et al.

detaillierte Vorschläge zur Reform der Ärzteausbildung gemacht, die die künftigen Akteure zur gemeinsamen Aufgabenbewältigung befähigen sollen. Die Duldung von Unwirtschaftlichkeit ist unethisch. Moderne Technologien, die in anderen Branchen längst erfolgreich zum Einsatz kommen, müssen mehr und mehr auf die Gesundheitsbetriebe übertragen werden, um in Zukunft die rarer werdenden Experten von berufsfernen Tätigkeiten zu entlasten. Tradierte Regeln bremsen Entwicklung Die „Normalisierung“ der Gesundheitsbranche muss von der Politik durch Beseitigung von Innovationshemmnissen befördert werden – dazu zählen ganz zentral die Einführung der Monistik in der Krankenhausfinanzierung sowie die Ermöglichung der Vorsteuerabzugsfähigkeit. Sonderregelungen wie die Mehrwertsteuerbefreiung und die staatliche Investitionsförderung bewirken heute zunehmend Fehlsteuerungen. So verhindert die Mehrwertsteuerbefreiung für Gesundheitsleistungen den Vorsteuerabzug für Leistungserbringer. Dadurch werden die Vorleistungen etwa für Krankenhäuser mit durchschnittlich 14 % belastet. Diese Zahl ergibt sich aus dem Mix unterschiedlich besteuerter Produkte und Dienstleistungen. In der Folge liegt die Vorleistungsquote deutscher Krankenhäuser bei erschreckend niedrigen 30–35 % und damit deutlich unter derjenigen in anderen Wirtschaftszweigen und in den Krankenhäusern europäischer Nachbarländer. Die Mehrwertsteuerbefreiung verbunden mit dem fehlenden Vorsteuerabzug erweist sich als Hürde zur arbeitsteiligen, effektiven „Produktion“ und wird dadurch zur entschiedenen Innovationsbremse im Gesundheitssystem. Deshalb sollte der Vorschlag, eine reduzierte Mehrwertsteuerpflicht von sieben Prozent auf alle Gesundheitsleistungen einzuführen und dafür das Recht auf Vorsteuerabzug zu gewähren, zumindest ergebnisoffen geprüft werden. Viele weitere überkommene Regelungen blockieren die Modernität im Gesundheitssystem. Das gilt für das Berufsrecht ebenso wie für das Straf-, Zivil-, Haftungs-, Versicherungs- und Datenschutzrecht und viele weitere Gesetze und Verordnungen. So wurde beispielsweise die schnelle Einführung der Telemedizin durch die Bestimmung des ausschließlichen Fernbehandlungsverbots und weiterer bürokratischer Einschränkungen bisher massiv behindert. Der Wegfall dieses innovationsfeindlichen Verbots lässt hoffen, dass sogar die ärztliche Selbstverwaltung die Zeichen der Zeit richtig deutet. Ein weiteres Beispiel ist das nur unzureichend gelockerte Mehrbesitzverbot von Apotheken. Die zu detaillierten und nicht mehr zeitgemäß geregelten Vorbehaltsaufgaben bestimmter Berufsgruppen im Gesundheitssystem behindern moderne und zukunftsorientierte Formen der Zusammenarbeit der Akteure der Gesundheitswirtschaft. Die Regulierungen vergangener Perioden sind auf ihre Wirkungsweise zu überprüfen und an moderne Erfordernisse anzupassen Tradierte Regeln gehören auf den Prüfstand, damit sie nicht angesichts veränderter Rahmenbedingungen die Einführung sinnvoller Weiterentwicklungen behindern.

11  Initiative Gesundheitswirtschaft …

123

Patienten wollen mehr Souveränität Ist der Nutzer von Gesundheitsleistungen eigentlich Patient oder Konsument? Diese Frage wird aktuell diskutiert. Doch im realen Leben spielt sie keine Rolle. Denn im OP ist der Patient natürlich von der Kompetenz der Experten abhängig. Gleiches gilt übrigens auch im Flugzeug, wenn man es betreten hat. Dann ist der Reisende dem Piloten und der Technik ausgeliefert. Wenn er das Ticket erwirbt, ist das allerdings ganz anders. Hier agiert er als Konsument, vergleicht Angebote und Leistungen, aber auch die Qualität. Ermöglicht wird dies durch einen transparenten Markt. Auf dem Gesundheitsmarkt ist die Situation ähnlich, weil auch hier die Transparenz, wenn auch zu zögerlich, Einzug hält. Die Medien haben die Auflagen stärkende Funktion von Gesundheitsthemen längst entdeckt. Medizinrankings werden wahrgenommen und im Internet boomen Bewertungsportale. Allerdings ist der Patient angesichts der Vielfalt der teilweise widersprüchlichen Informationen immer noch häufig auf sich allein gestellt. Patienten können ihre Rolle als Konsumenten aber nur dann aktiv wahrnehmen, wenn ihnen Hilfe zur Erlangung der Transparenz zuteilwird. Deswegen brauchen wir eine „Stiftung Gesundheitstest“, die als unabhängige Institution in Analogie zur „Stiftung Warentest“, gegebenenfalls auch als Erweiterung Letzterer, die Rolle des Patienten als Konsument stärkt. Nach Auffassung der IGW wird der Patient auf dem Gesundheitsmarkt zum zentralen Treiber. Diese Entwicklung ist zwar noch am Anfang, wird sich aber in den kommenden Jahren verstärken. Wenn relevante Anteile der Konsumenten ihre Präferenzen verändern, hat das für die Anbieter gravierende Konsequenzen. Deswegen sollte diese Entwicklung von der Politik unterstützt und gefördert werden. Die Rolle der Patienten verändert sich in der Gesundheitswirtschaft, weil mehr allgemein zugängliche Informationen, auch aus dem Internet, dafür sorgen, dass die bisherige Wissensasymmetrie zwischen den Experten und den Betroffenen schon ein wenig aufgehoben wird und die Letzteren mehr Souveränität erlangen. Digitalisierung erfordert strukturelle Prozesse Das deutsche Gesundheitssystem ist nach wie vor durch eine starke Segmentierung gekennzeichnet. Dazu tragen ganz erheblich die sehr unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen bei, die eine Überwindung der tradierten Grenzen zwischen den Systemteilen verhindern. Ambulante und stationäre Angebote sind deshalb nur sehr unzulänglich vernetzt. Die veraltete Trennung zwischen den in den Praxen behandelten Leichtkranken und den in den Krankenhäusern versorgten Schwerkranken lebt organisatorisch fort, obwohl die Entwicklung der modernen Medizin inhaltlich längst die Behandlung von komplexen Erkrankungen auch ambulant ermöglicht. Der Gesundheitsmarkt wird dieser Entwicklung immer noch nicht gerecht. Praxen und Krankenhäuser repräsentieren nach wie vor genauso stark abgeschottete eigene Welten wie die Rehabilitationskliniken, Apotheken und die vielen anderen Gesundheitsanbieter. Es ist ausgesprochen schwierig, sich in diesem „Dickicht“ zurechtzufinden.

124

H. Lohmann et al.

Zeitgemäß ist das schon lange nicht mehr. Der mit vielen Informationen über Gesundheitsangebote ausgestattete Konsument erwartet Komplettlösungen, er ist interessiert an umfassenden Produkten und Dienstleistungen, wie in anderen Branchen auch. Das erfordert, ambulante, stationäre und rehabilitative sowie pflegerische Angebote zu „Strukturierter Medizin“ zu verknüpfen. Es bedarf eines durchgängigen Prozesses, in den die Zulieferung von Medizinprodukten, individuelle Pharmaversorgung, Laborleistungen, Heil- und Hilfsmittel und vieles andere mehr eingesteuert wird. Die Zukunft der Medizin liegt in ganzheitlichen Angeboten über die Institutionen hinweg. Die Bedeutung von Prozessen wird erheblich zunehmen. Hohe Qualität wird nicht mehr von den Formalqualifikationen der Experten garantiert, sondern von den objektiven Ergebnissen der Behandlungslösungen. Um die Chancen der Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft voll nutzen zu können, ist es erforderlich, unter Beteiligung aller Akteure aus Medizin und Pflege sowie Ökonomie und Technik, die primären Behandlungs- und die sekundären Administrations- und Logistikprozesse zu strukturieren und zu harmonisieren.

11.2 Medizin 4.0 ermöglicht Markenmedizin Die rasanten Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, sorgen für eine enorme Dynamik der Entwicklung. Medizin 4.0 stellt jetzt den Behandlungsprozess auf einen indikationsbezogenen digitalen Workflow. Alle notwendigen diagnostischen und therapeutischen sowie alle administrativen und technischen Einzelschritte werden dazu umfassend analysiert und in eine Struktur gebracht, die digital abgebildet werden kann. Die Akteure arbeiten auf dieser Basis und werden durch den hinterlegten Workflow nachhaltig unterstützt. Das gilt für den Primärprozess, in dem die einzelnen Arbeitsschritte systematisch abgefordert, die Dokumentation und die Abrechnung integriert sowie die notwendigen logistischen Maßnahmen automatisch abgerufen werden. Medizin 4.0 passt den realen Behandlungsablauf ständig an den geplanten an und schafft damit die Voraussetzung, die Ablauforganisation insgesamt zu stabilisieren sowie mittels Internetmedizin und „Big Data“ zu optimieren. Die Anwendung solcher Methoden und Technologien steckt noch in den Kinderschuhen, wird aber in den nächsten Jahren zum Standard bei den Gesundheitsanbietern werden. Diese Form der Digitalisierung sichert eine gleichbleibende Qualität und damit die Abgabe eines Leistungsversprechens. Diese Behandlungslösung ermöglicht auch einen Konsens aller Beteiligten, da die Optimierung der Behandlung der Patienten die gemeinsame Verständigungsebene bildet. Nur wenn Ärzte und Pflegekräfte gemeinsam mit dem Management die Zukunft gestalten, wird sich der Erfolg von Medizin 4.0 einstellen. Die künftigen Konsumenten erwarten zunehmend ganzheitliche Gesundheitsangebote, die auf strukturierten Prozessen beruhen. In Zukunft steht dann nicht mehr die Institution im Zentrum, sondern die Behandlungslösung bzw. der Patient selber. Das bedeutet, dass der Medizinprozess in das Zentrum des Gesundheitsmarktes rückt.

11  Initiative Gesundheitswirtschaft …

125

Der Medizinprozess hat das Ziel, zu einer geplanten und strukturierten Behandlung zu kommen. Diese Entwicklung ist die Voraussetzung für „Markenmedizin“. In dem Maße, in dem Patienten auch Konsumenten werden, erwarten sie von den Gesundheitsanbietern gezielte Leistungsversprechen, die auf der Basis von strukturierten Prozessen mittels digitaler Workflows sichergestellt werden. Pflege versteht Patienten Ein zentrales Element der Markenmedizin ist die Pflege. Bei der Bewertung der Versorgungs- und Behandlungsqualität nehmen Patienten und ihre Angehörigen die pflegerischen Leistungen als immer bedeutsamer wahr. Für die Pflegenden bedeutet das eine konsequente Fokussierung auf die Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehörigen, ohne den Druck auf die Kosten aus den Augen zu verlieren. In dieser Situation gilt es, nicht schneller, sondern anders zu arbeiten. Das wird aber nur möglich sein, wenn man die neuen Methoden und Technologien konsequent nutzt wie das in anderen Branchen üblich ist. Nur innovative Prozesse machen es in Zukunft möglich, die aufgrund der demografischen Entwicklung weniger werdenden gut ausgebildeten Pflegekräfte bei der Betreuung der Patienten einzusetzen. Der Schlüssel liegt deshalb in einem wirksamen Workflow-Management auf der Basis strukturierter und patientenorientierter Behandlungsprozesse. Wegen ihrer umfassenden Kompetenz und der besonderen Nähe zu den Patienten und deren Angehörigen, sind die Pflegenden bei dieser Entwicklung besonders gefordert. Die IGW hat sich deshalb des Themas Pflege in besonderer Weise angenommen und innovative Positionspapiere in die öffentliche Diskussion eingebracht. Der Umbau in Richtung Markenmedizin kann nur erfolgreich sein, wenn Patienteninteressen bei der Strukturierung der Behandlungsprozesse in Vorbereitung der Nutzung digitaler Workflows an oberster Stelle stehen. Deshalb ist hierbei die verantwortliche Mitwirkung der Pflegenden als die Berufsgruppe, die die Patienten am engsten begleitet, zentral wichtig. Leistungsbezogene Entgelte ausbauen Die durch Medien und Internet begünstigte zunehmende Transparenz des Gesundheitsmarktes macht es einer immer größer werdenden Gruppe von Patienten einfacher, Konsumentensouveränität zu entwickeln, indem Angebote verglichen werden. Gesundheitsanbieter stellen sich darauf ein und tragen zunehmend diesen Veränderungen Rechnung. Wer hier digitale Intelligenz zur Bewältigung komplexer Diagnostik für digitalen Workflow einsetzt, wird sehr schnell Vorteile im Wettbewerb erlangen. Modernität sichert Zukunft. Die Digitalisierung wird in einer disruptiven Entwicklung die Gesellschaft radikal umkrempeln und auch die Medizin „vom Kopf auf die Füße“ stellen. Damit verbunden sind enorme Chancen für die Zukunft. Denn diese neuen technischen Möglichkeiten werden dringend benötigt, um die personalen Engpässe in Medizin und Pflege zu kompensieren.

126

H. Lohmann et al.

Diese tiefgreifenden Veränderungen bringen für die Anbieter von Gesundheitsleistungen die Verpflichtung mit, sich positiv auf die neuen Herausforderungen einzustellen. Deshalb ist es wichtig, das leistungsbezogene Entgeltsystem weiter zu entwickeln und zu modernisieren und nicht, einzelne Bereich, wie die Pflege, aus dem System zu nehmen. Da kein Zusammenhang zwischen eingesetzten Ressourcen und qualitativem Ergebnis der Behandlung besteht, ist die Weiterentwicklung des leistungsbezogenen Entgeltsystems im Interesse der notwendigen Patientenzentrierung alternativlos. Die DRG-Systematik der Krankenhausfinanzierung sollte auf die ambulanten und Reha-Sektoren übertragen werden. Darüber hinaus sollten Behandlungserfolg und Patientenbewertung über Zu- und Abschläge verstärkt Einfluss auf die Bezahlung von Gesundheitsleistungen haben.

11.3 Ausblick: Modernisierung vor Regulierung – Thesen zur Zukunft der Gesundheitswirtschaft These 1: Soziale Gesundheitswirtschaft als Ordnungsrahmen Die soziale Marktwirtschaft hat sich als Ordnungsrahmen für einzelwirtschaftlich agierende Unternehmer und Manager gesellschaftlich bewährt und eignet sich auch hervorragend als Grundlage für eine soziale Gesundheitswirtschaft. These 2: Staat schafft Marktordnung für Unternehmen Wie in anderen Wirtschaftsbereichen ist der Staat auch in der Gesundheitswirtschaft verantwortlich für die Festlegung einer einheitlichen Marktordnung, während Gesundheitsbetriebe innerhalb dieses wirtschaftlichen Rahmens agieren. Dabei sollten sie von unternehmerisch geprägten Managern geführt werden. These 3: Transparente und einheitliche Strukturen erforderlich Die primären Behandlungs- sowie sekundären Administrations- und Logistikprozesse sind über die bestehenden drei Sektoren unter Beteiligung aller Akteure aus Medizin, Pharmazie und Pflege sowie Ökonomie und Technik zu strukturieren und zu harmonisieren. Dabei müssen Patienteninteressen an oberster Stelle stehen. Es bedarf einheitlicher Strukturen für Dokumentation, Datenspeicherung und Renumeration. Nur auf Basis strukturierter Prozesse können Gesundheitsanbieter gezielte Leistungsversprechen mittels digitaler Workflows im Sinne einer Markenmedizin sicherstellen. These 4: Einsatz digitaler Technologien ermöglichen Die steigende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen erfordert bei einem Rückgang qualifizierter Gesundheitsmitarbeiter den verstärkten Einsatz moderner digitaler Technologien, wie sie in anderen Branchen längst erfolgreich zum Einsatz kommen.

11  Initiative Gesundheitswirtschaft …

127

Tradierte, oftmals standespolitisch motivierte Regulierungen müssen auf den Prüfstand, um sicherzustellen, dass sie angesichts veränderter Rahmenbedingungen die Einführung sinnvoller Weiterentwicklungen nicht verzögern. These 5: Patientensouveränität stärken Die bisherige Wissensasymmetrie zwischen Behandlern und Behandelten muss weiter reduziert werden. Als Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen muss die Souveränität der Patienten gestärkt werden, indem im Internet mehr qualitätsgesicherte medizinische Informationen allgemein zugänglich gemacht werden, und eine staatlich geförderte „Stiftung Gesundheitstest“ einen transparenten und neutralen Überblick über Leistungsfähigkeit und Qualität der Gesundheitsangebote bietet. These 6: Leistungsbezogenes Entgeltsystem ausbauen Da kein Zusammenhang zwischen eingesetzten Ressourcen und qualitativem Ergebnis der Behandlung besteht, ist die Weiterentwicklung des leistungsbezogenen Entgeltsystems gerade im Interesse der notwendigen Patientenzentrierung alternativlos. Die DRG-Systematik der Krankenhausfinanzierung sollte auf die ambulanten und Reha-Sektoren übertragen werden. Darüber hinaus sollten Behandlungserfolg und Patientenbewertungen über Zu- und Abschläge verstärkt Einfluss auf die Bezahlung von Gesundheitsdienstleistungen haben. Prof. Heinz Lohmann Gesundheitsunternehmer, Ehrenvorsitzender der Initiative Gesundheitswirtschaft e. V. Prof. Dr. med. Jörg F. Debatin, MBA  Vorsitzender der Initiative Gesundheitswirtschaft e. V. Dietmar Reese  Geschäftsführer der Initiative Gesundheitswirtschaft e. V.

Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf – Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihre Ursachen im Fokus aller Lebenswelten.

12

Mark Dankhoff, Elisabeth Steinhagen-Thiessen und Michael Wirtz

Inhaltsverzeichnis 12.1 Im Porträt – Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Arbeitsweise – Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Der Think Tank als Ideengeber und Debattentreiber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Fazit: Das tödliche Quintett effektiv angehen (Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129 130 132 139 141

12.1 Im Porträt – Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit Todesursache Nummer eins und verursachen etwa 40 % aller Sterbefälle in Deutschland. Gleichzeitig steht diese hohe Prävalenz nicht im Verhältnis zur öffentlichen Wahrnehmung, die das Themenfeld ­Herz-Kreislauf-Erkrankungen bisher erfährt.

M. Dankhoff (*)  DAK-Gesundheit, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Steinhagen-Thiessen  Charité Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Wirtz  AdipositasHilfe Deutschland e. V., Winsen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_12

129

130

M. Dankhoff et al.

Vor diesem Hintergrund wurde IM PULS. THINK TANK HERZ-KREISLAUF gegründet, um in allen Lebensbereichen die Öffentlichkeit für kardiovaskuläre Erkrankungen zu sensibilisieren.1 Der Think Tank Herz-Kreislauf versteht sich als Forum, Treiber und Moderator eines wissenschaftlich fundierten, ergebnisorientierten Dialoges über die Forschung, Prävention und Versorgung im Bereich der kardiovaskulären Gesundheit in Deutschland. Als aktive Plattform für den Austausch und durch die Vernetzung von Expertenwissen schafft der Think Tank die Grundlagen für neue Informations- und Aufklärungsformate, die informieren, sensibilisieren und aktivieren sollen. Gemeinsam mit Akteuren aus den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Bewegung, Arbeit und Soziales entwickelt der Think Tank die Rahmenbedingungen für bedarfsgerechte Aufklärungs-, Präventions- und Therapiemaßnahmen. Der Think Tank Herz-Kreislauf vereint ausgewiesene Experten aus Politik, Wissenschaft, Ärzteschaft, Krankenkassen, Patientenorganisationen und Gesundheitswirtschaft. Gemeinsam erarbeiten sie Lösungsansätze, um das Bewusstsein für Herz-KreislaufErkrankungen in allen Lebensphasen zu stärken. Initiiert wurde der Think Tank von den Unternehmen AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Johnson und Johnson, Novartis und Sanofi. Abb. 12.1 veranschaulicht den übergreifenden Ansatz des Think Tanks hinsichtlich der beteiligten Expertenbereiche, der betroffenen Lebensphasen und des „tödlichen Quintetts“ der Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

12.2 Die Arbeitsweise – Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf Der Think Tank hebt sich durch seine offene, systemisch ausgerichtete Arbeitsweise hervor. Der ergebnisorientierte Dialog mit spezialisierten Experten und die systematische Vernetzung unterschiedlicher Fachbereiche schaffen inhaltliche Tiefe für den öffentlichen Diskurs. Der Kreis der Aktiven ist bewusst breit gehalten: Hierdurch wird die notwendige Relevanz für die Einbettung des Themenfeldes in größere Kontexte sowie konkrete Lebenswelten erzeugt. Der Think Tank dient dabei als aktives und nachhaltiges Netzwerk und ist auf einen längeren Zeitraum ausgerichtet. Er strebt keine kurzfristigen Effekte an, sondern baut den für die Wirksamkeit essenziellen Teilnehmerkreis und die Inhalte nachhaltig auf. Es ist beabsichtigt, eine wachsende Gruppe von Teilnehmern zu gewinnen. Gleichzeitig sind verschiedene Optionen der Mitwirkung möglich, das heißt, auch zeit- und ressourcensparende Beteiligungen sind denkbar.

1An

diesem Beitrag ferner mitgewirkt haben: Mathias Arnold, Martina Kloepfer, Andrea Lambeck, Volker G. Leonhardt, Hermann von Lilienfeld-Toal.

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

131

Abb. 12.1   Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf: Gesundheit in allen Lebensphasen

Der Think Tank wird durch ein Projektbüro unterstützt, das Sitzungen, Arbeitspapiere und sonstige Informationsmaterialien vorbereitet und somit durch eine funktionierende Infrastruktur für die Fortentwicklung der Aktivitäten sorgt. Im ersten Schritt wurde bei der Gründungssitzung im Dezember 2017 der Think Tank als strategische Innovationsplattform etabliert. Hier einigten sich die Teilnehmer auf eine gemeinsame Vision und Zieldefinition für „Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf“:  Vision: 

Gesundheit in allen Lebenswelten Zieldefinition:   Der Think Tank führt unterschiedliche Akteure zusammen, um die Aufmerksamkeit für Herz-/Kreislauf-Erkrankungen in einem integrierten Ansatz auf unterschiedlichen Ebenen zu verbessern. Der Think Tank setzt sich dafür ein, Potenziale für eine bessere Forschung, Prävention und Versorgung zu heben.

132

M. Dankhoff et al.

Von dieser Basis aus wurden in 2018 die inhaltlichen und organisatorischen Prinzipien der gemeinsamen Arbeit im Think Tank gesetzt. In Arbeitssitzungen haben die Mitglieder die Umsetzungsansätze zur Vision und Zielsetzung in ersten Handlungsempfehlungen und Botschaften konkretisiert, sowie die Governance des Think Tanks in einem Letter of Intent niedergeschrieben und verabschiedet. Die Aktivitäten des Think Tanks werden durch eine digitale Präsenz in Form von Website und Social-Media-Begleitung dokumentiert und aktiv an die Zielgruppen in Medien, Gesellschaft und Politik herangetragen. Für den sichtbaren digitalen Auftritt des Think Tanks wurden Design Basics, Typografie, Bildwelt, Website und Flyer entwickelt. Parallel dazu wird die Arbeit des Think Tanks durch eigene öffentliche Auftritte bekannter gemacht. So wurde im Frühjahr 2018 im Rahmen eines parlamentarischen Frühstücks das Thema Herz-Kreislauf ins Zentrum des politischen Diskurses getragen und mit einem medienwirksamen Event zur Publikation eines Whitepapers am 11. Dezember 2018 der Think Tank erstmals der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Der Think Tank erarbeitet seine eigenen Schwerpunkte, um Aufmerksamkeit in allen Lebenswelten zu schaffen. In 2019 steht der Fokus auf die Lebenswelt Arbeit. Ziel ist die Erarbeitung einer legislativen Herz-Kreislauf-Agenda 2020 + . Hierzu hat sich eine interdisziplinäre Gruppe von 26 Experten zusammengefunden, um im nächsten Schritt Maßnahmen und Handlungsempfehlungen für Politik, Multiplikatoren und die Öffentlichkeit zu entwickeln. Darüber hinaus sollen die Netzwerkergebnisse medial verbreitet und gesundheitspolitische Anlässe genutzt werden, um innovative Ansätze aus dem interdisziplinären Expertenkreis in das Debattenumfeld einzubringen.

12.3 Der Think Tank als Ideengeber und Debattentreiber Die Dialogplattform Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf möchte die gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit für das Thema „Herz-Kreislauf-Erkrankungen“ schärfen, die Bedeutung dieser Erkrankungen hervorheben, deren Zusammenhänge aufzeigen sowie Handlungsfelder identifizieren und Lösungsansätze herausarbeiten. Zugleich geht es auch darum, Reputation und Sichtbarkeit der Dialogplattform bei politischen Stakeholdern, Fachverbänden, Wissenschaft und Selbstverwaltung zu erzeugen sowie eine interdisziplinäre „Herz-Kreislauf-Community“ aufzubauen. Ein wesentliches Merkmal dieser Arbeit ist der gesamtgesellschaftliche Ansatz: Experten aus Politik, Wissenschaft, Ärzteschaft, Krankenkassen, Verbänden, Patientenorganisationen, Ethik und Gesundheitswirtschaft betrachten das Thema Herz-KreislaufErkrankungen erstmals krankheitsbilderübergreifend. Im Zentrum der Diskussion steht das „tödliche Quintett“, bestehend aus Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Diabetes und Adipositas. Hierfür bündelt der Think Tank Betrachtungsweisen und neue Ideen aus den unterschiedlichen Lebenswelten, um frische Ansätze und Innovationen aus verschiedenen Bereichen zusammenzuführen.

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

133

12.3.1 Das metabolische Syndrom – der Einstieg in das tödliche Quintett (Kardionetzwerk e. V.) Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie die koronare Herzkrankheit (KHK) oder der Schlaganfall gehören zu den häufigsten Todesursachen deutschlandweit. Dabei spielen als Risikofaktoren ein erhöhter Blutdruck, Störungen des Fettstoffwechsels, Insulinresistenz und Übergewicht eine große Rolle. Treten diese Störungen zusammen auf, spricht man von einem metabolischen Syndrom. Rund jeder vierte Deutsche leidet mittlerweile daran und besitzt somit ein besonders hohes Risiko, eine KHK oder einen Schlaganfall zu erleiden. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es bei dem Zusammentreffen dieser Risikofaktoren zu entzündlichen Reaktionen im Körper kommt. Diese wirken sich negativ auf die Blutgerinnung, die Immunantwort und den Stresshormonhaushalt aus. Langanhaltende Entzündungsprozesse begünstigen Studienergebnissen zufolge die Entstehung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen (vgl. Mohadjer et al. 1994).  Tödliches Quintett nach Definition von „Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf“: Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Fettstoffwechsel, Diabetes und Adipositas. Die gute Nachricht ist jedoch, dass alle Risikofaktoren des „tödlichen Quintetts“ aus Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes und Adipositas durch eigene Kraft oder mit ärztlicher Unterstützung beeinflusst werden können. Bereits durch konsequente lebensstiländernde Maßnahmen wie einer Ernährungsumstellung und ausreichender Bewegung kann das Übergewicht reduziert werden. Mittels Medikamente lässt sich darüber hinaus der Cholesterinspiegel senken und der Blutzuckerspiegel einstellen. Die Zahl der Herz-Kreislauf-Todesfälle ließe sich nach Studienangaben durch Anpassungen im Lebensstil und den Abbau bzw. Behandlung von Risikofaktoren wahrscheinlich halbieren (vgl. Patel et al. 2015). Die Herausforderung liegt zunächst darin, die Bevölkerung besser über bestehende Herz-Kreislauf-Risiken zu informieren und erkrankte Patienten unbürokratisch, ganzheitlich und strukturiert auf ihrem Therapieweg zu begleiten.  Risikofaktoren des „tödlichen Quintetts“ erfolgreich abbauen – durch

Anpassung im Lebensstil strukturierte Therapiewege.

und

unbürokratische,

ganzheitliche

und

12.3.2 Das tödliche Quintett unter Gender-Gesichtspunkten (Gender-Gesundheit e. V.) In der öffentlichen Wahrnehmung stehen Krebserkrankungen an erster Stelle, während die Furcht vor einem Herzinfarkt den fünften Platz einnimmt und, die einen Diabetes

134

M. Dankhoff et al.

zu entwickeln, kaum ausgeprägt an vorletzter Stelle genannt wird. Herz-KreislaufErkrankungen (HKE) zählen in Deutschland zur Todesursache Nummer eins und mit jährlich 47 Mrd. EUR auch zu den teuersten Erkrankungen. Möglicherweise lässt sich diese Unterschätzung von HKE auf ein für Laien unklares Krankheitsbild und seine Ursachen zurückführen. Welcher Verlust an Lebensqualität und Arbeitskraft sich z. B. hinter dem Begriff Herzinsuffizienz tatsächlich verbirgt, können wahrscheinlich nur die – meist weiblichen – Betroffenen ganz ermessen. HKE treten in der Regel als Folge des sogenannten metabolischen Syndroms auf, einer Kombination aus starkem Übergewicht, Bluthochdruck, einem gestörten Fettstoffwechsel und schließlich Diabetes Typ 2. Diese Kombination ist häufig das Resultat einer bereits in der Kindheit verankerten Lebens- und Ernährungsweise und erhöht das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, um das 40-fache. Kommen Bewegungsmangel, Stress, Rauchen und Alkohol hinzu, steigt der Faktor auf 600 an. Damit haben HKE eine lange Vorgeschichte, die in der Schwangerschaft beginnt und über geschlechtsspezifische Mechanismen in der Kindheit weitergegeben wird. Angesichts der prognostizierten Entwicklung, nach der Deutschland im weltweiten Vergleich im oberen Drittel der künftig mit Diabetes ringenden Länder rangiert, sind Aufklärungskampagnen, zum Beispiel nach dem Vorbild der Brustkrebsprävention, und gezielte Prävention bereits im Kindes- und Jugendalter dringend geboten.  Herz-Kreislauf-Erkrankungen

effektiv angehen – das Krankheitsbild schärfen und gezielte Prävention bereits im Kindes- und Jugendalter.

12.3.3 Versorgungsforschung: Wegbereiter und Wegbegleiter (DAK-Gesundheit) Das übergeordnete Ziel der Versorgungsforschung ist es, durch Informationen aus Studien von der Erkenntnis bis zur Anwendung in der Praxis zu gelangen. Dabei wird die Routineversorgung im medizinischen Alltag untersucht. Hierzu gehören zum Beispiel Über-, Unter- und Fehlversorgung bei unterschiedlichen Indikationen oder Versorgungsbereichen. Sie wird zur wissenschaftlichen Evaluation von Versorgungskonzepten unter realen Bedingungen genutzt, und es können unerwünschte Effekte und Risiken aufgezeigt werden. Weiterhin ist es möglich, neue Versorgungskonzepte zu entwickeln und wissenschaftlich zu begleiten. Die Versorgungsforschung der DAK-Gesundheit kann bereits in der Planungsphase bei der Bedarfsermittlung unterstützen, mögliche Risiken aufdecken und Chancen im Hinblick auf die Versorgungsqualität und Wirtschaftlichkeit valide ermitteln. Die anschließende Evaluation der Versorgungskonzepte zeigt, ob die angestrebten Ziele erreicht wurden, das heißt die Zufriedenheit der Patienten gestiegen, die Qualität der

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

135

Versorgung verbessert, die Nutzen-Kosten-Relation erhöht werden konnte. Zeitgleich werden wertvolle Erfahrungen für künftige Projekte generiert. Besonderer Fokus liegt unter anderem bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese, insbesondere Schlaganfall, Myokardinfarkt und periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), entstehen nie aus sich selbst heraus, sondern sind Folge eines Zusammenspiels verschiedenster Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen, Adipositas, Bewegungsmangel, Stress, Erbanlagen, hormonelle Dysregulation und andere. Hier gilt es mehr denn je, durch holistische Betrachtung der multifaktoriell hervorgerufenen Krankheitsbilder innovative Methoden und Therapieformen zu evaluieren und daraus praktikable Umsetzungen zu entwickeln.  Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Fokus: Holistische Betrachtung in der

Forschung fördern, innovative Methoden praktikabel umsetzen.

12.3.4 Präventive und partizipatorische Gedanken in die Präzisionsmedizin aufnehmen (Charité – Universitätsmedizin Berlin) Menschen über 65 Jahren gehören in unserem Land immer noch zu der Bevölkerungsgruppe, bei der Herz-Kreislauf-Erkrankungen am häufigsten vorkommen. Auch „verschlingen“ die Erkrankungen in dieser Altersgruppe die meisten Kosten in unserem Gesundheitssystem. Wir kennen heute die Ursachen und Entstehungsmechanismen der Herz-KreislaufErkrankungen. Zu deren Behandlung werden viele verschiedene invasive und nicht invasive Methoden erfolgreich eingesetzt, die wir alle nicht mehr missen möchten. Einem sehr großen Teil dieser Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegen die klassischen, uns gut bekannten Risikofaktoren hoher Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Zuckerkrankheit, Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht zugrunde, die wiederum zu einem großen Teil sogenannter extrinsische Faktoren sind, das heißt, sie werden durch lebensstilbedingte Umstände verursacht. Außerdem addieren sich die Risikofaktoren in Wirkung nicht, sondern sie potenzieren sich in ihrer bösartigen Wirkung. In den meisten Fällen werden die Endpunkte der Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht kurativ behandelt. Somit produzieren wir mit unseren medizinischen Maßnahmen chronische Erkrankungen, die bis ans Lebensende behandelt werden müssen. Auch führen diese chronischen Erkrankungen oft zu Behinderungen und Einschränkungen der Lebensqualität. Wenn man sich die Verläufe und Entstehungsmechanismen dieser Herz-KreislaufErkrankungen vor Augen führt, muss der Gedanke erlaubt sein, ob es nicht ethisch geboten ist, diese Erkrankungen erst gar nicht entstehen zu lassen. Wir sollten alle

136

M. Dankhoff et al.

Anstrengungen unternehmen, um dieses große Ziel zu erreichen: Die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern. Das zukünftige Gesundheitssystem, welches sich mehr und mehr zu einer hoch individuellen Medizin (Präzisionsmedizin) entwickelt, muss den präventiven und partizipatorischen Gedanken deutlich mehr in seine Ausrichtung aufnehmen. Der Think Tank Herz-Kreislauf hat hierzu verschiedene Zwischenziele formuliert und Schritte der Umsetzung auf unterschiedlichen Sektoren vorgeschlagen. 

Prävention und Versorgung verbessern – über Partizipation und Präzisionsmedizin.

12.3.5 Niederschwellige Aufklärung über Herz-KreislaufErkrankungen und Risikofaktoren (ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V.) Apothekerinnen und Apotheker arbeiten nicht nur in der Krankheitsversorgung. Sie haben eine wichtige, gesellschaftlich und politisch anerkannte und legitimierte Rolle in der Prävention und bieten qualitätsgesicherte Beratungs- und Serviceleistungen an. Sie stärken damit die Gesundheitskompetenz und Selbststeuerung sowie die partizipative Entscheidungsfindung der Menschen bei gesundheitsrelevanten Fragen. Dies gilt selbstverständlich auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deren Risikofaktoren. Aufgrund ihrer Ausbildung, aber auch Fort- und Weiterbildung sind Apothekerinnen und Apotheker dafür bestens qualifiziert. Und als Angehörige eines Heilberufs genießen sie großes Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Ganz wichtig ist der unkomplizierte Zugang zu Gesundheitsinformationen und -leistungen. Apotheken bieten ‒ auch im Nacht- und Notdienst ‒ niedrigschwellige, wohnortnahe Beratung und Dienstleistungen an, die ohne Terminvereinbarung und ohne Krankenversicherungsnachweis in Anspruch genommen werden können. Viele Menschen suchen Apotheken auf, bevor sie krank sind. Und viele Menschen haben eine starke Bindung zu „ihrer“ Apotheke. 3,6 Mio. Patientenkontakte täglich, das heißt mehr als eine Mrd. pro Jahr, belegen das enorme Potenzial der öffentlichen Apotheken bei der Prävention von Krankheiten. So können Apothekerinnen und Apotheker entscheidend zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung und zu einer Entlastung der Sozialsysteme beitragen.  Gesundheitskompetenz

und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – über unkomplizierten Informationszugang und niederschwellige Beratung und Dienstleistungen.

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

137

12.3.6 Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in verschiedenen Settings (VDOE – BerufsVerband Oecotrophologie e. V.) Das gestiegene Interesse an Ernährungs- und Gesundheitsthemen in der Bevölkerung bietet gute Chancen, auf das Potenzial eines gesundheitsfördernden Lebensstils mit ausgewogener Ernährung und regelmäßiger ausreichender Bewegung aufmerksam zu machen, und zwar besonders im Hinblick auf das Herz-Kreislauf-Risiko. Niederschwellige Zugangswege zu den Zielgruppen bieten die Medien. Insbesondere solche, die in der direkten Interaktion mit den Adressaten treten – soziale Medien, Internet, Apps. Sie können das Bewusstsein für die persönliche Vulnerabilität stärken und besondere Aufmerksamkeit für das Thema und individuellen Chancen zur Prävention schaffen. Ein weiterer sehr erfolgversprechender Zugangsweg ist die Betriebliche Gesundheitsförderung, nicht zuletzt, weil Betriebe ideale Settings für die Gesundheitsförderung sind. Etwa 40 Mio. Menschen in Deutschland sind erwerbstätig und hätten somit prinzipiell Zugang zu Angeboten der Betrieblichen Gesundheitsförderung. Im Betrieb können auch Menschen erreicht werden, die Angebote zur individuellen Gesundheitsförderung, wie zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen, eher weniger nutzen. Angebote zur Verhaltensprävention, wie Kurse zur Gesundheits- und Ernährungsbildung, können im Betrieb verzahnt werden mit Maßnahmen, die auf die Gestaltung wichtiger gesundheitlicher Rahmenbedingungen abzielen. Hierzu zählt die Verhältnisprävention, wie zum Beispiel die Optimierung des Verpflegungsangebots im Betrieb oder der Förderung von Bewegungsaktivtäten mit betriebseigenen Angeboten oder Kooperationen mit Sportvereinen. Wichtig ist, dass Gesundheitsförderung und Prävention von qualifizierten Berufsgruppen angeboten werden. Von der niederschwelligen Erreichbarkeit und dem Interesse der Bevölkerung an Gesundheitsthemen profitieren auch Informationsanbieter, die der Senkung des Herz-Kreislauf-Risikos nicht dienen. So ist das Internet nicht nur ein idealer Vermittler von Gesundheitskompetenz, sondern zugleich auch ein Verbreiter von Fehlinformationen, die im ungünstigen Fall zu individuellem Fehlverhalten führen. 

Betriebliche Gesundheitsförderung – ein erfolgsversprechender Zugangsweg zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

12.3.7 Diabetes und das kardiovaskuläre Risiko (Deutsche Diabetes Föderation e. V.) Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ein gefährlicher Doppelpack. Jeder zweite Patient mit Diabetes mellitus stirbt an einer kardiovaskulären Erkrankung. Eine

138

M. Dankhoff et al.

Fülle an Maßnahmen sind zur Betreuung des Diabetes mellitus eingeführt, die zu einer sehr häufig erfolgreichen Beherrschung dieser Krankheit führen. Trotzdem müssen Diabetiker mit einer Einschränkung der Lebenserwartung rechnen. Diese geht im Wesentlichen auf die Auswirkung von weiteren Risikofaktoren auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurück. Noch heute ist ein Diabetiker, der diese Krankheiten noch gar nicht bekommen hat, genauso durch sie bedroht, wie jemand der keinen Diabetes hat, aber bereits das Erlebnis hatte, einen Herzinfarkt durchgemacht zu haben. Für Diabetiker ist es daher ganz besonders wichtig, nicht nur die Zuckerstoffwechsellage in den Griff zu bekommen, sondern auch die bekannten Risikofaktoren wie Rauchen, Blutdruckerhöhung, Erhöhung der Fette im Blut sowie Bewegungsmangel. Daher machen wir uns Sorgen um eine flächendeckende Umsetzung der Kenntnisse über die positive Wirkung einer Reduktion der Risikofaktoren. Ein Gefäßrisiko kann sehr gut und leicht über Score-Rechner ermittelt werden. Die Deutsche Diabetes Föderation drängt darauf, dass der betreuende Arzt (Hausarzt, Internist, Kardiologe, Diabetologe und andere) verpflichtet wird, einen solchen Risikoscore kontinuierlich zu dokumentieren und die Maßnahmen, die er zur Verbesserung der Scores ergriffen hat, aufzuführen. Dieses Vorgehen würde zu einer flächendeckenden Verbesserung bei der Erkennung und Behandlung von Risikofaktoren führen. 

Die positive Wirkung einer Reduktion der Risikofaktoren in den Vordergrund stellen, Dokumentation in der Betreuung verbessern.

12.3.8 Stärkung der Gesundheitskompetenz und der digitalen Patientenbetreuung im Bereich Herz-Kreislauf (AdipositasHilfe Deutschland e. V.) Die Debatte um die Gesundheitskompetenz von Patienten tritt in den letzten Jahren vermehrt gesellschaftlich und politisch in den Vordergrund. Ebenso die Frage, wie Patienten mit digitalen Angeboten bestmöglich unterstützt und betreut werden können. Die Vielzahl an ursächlichen Faktoren, die zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen, macht es aktuell schwierig, gezielt Informationen zu finden, die den gesamten Bereich abdecken. Es stellt sich also die Frage, wie man die Menschen möglichst umfassend über die Risiken von Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufklären und das Bewusstsein hierfür stärken kann. Es gibt im Internet bereits zahlreiche Angebote zu dem Thema. Die Qualität und Herkunft der Inhalte sind allerdings entweder zweifelhaft oder lediglich auf einen Teilbereich ausgelegt. Wie kann man die Gesundheitskompetenz gezielt stärken? Hier sollte man einerseits auf eine frühzeitige Prävention und andererseits auf eine umfassende Onlineplattform setzen, die auf die Risikoreduzierung abzielen. Ein aufgeklärter Patient

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

139

ist in der Lage, mit einem gesunden Lebensstil vielen Erkrankungen vorzubeugen. Präventionsmaßnahmen sollten aber bereits in jungen Jahren ergriffen werden. In Schulen könnte dies zum Beispiel durch unterrichtsbegleitende Gesundheitsthemen geschehen. Der Einsatz digitaler Medien ist hierfür geradezu prädestiniert. Zielgruppengerechte Plattformen mit umfassenden Angeboten – idealerweise mehrsprachig – sowie Videos können unterstützend eingesetzt werden, um das Bewusstsein zu stärken. Wichtig ist: Nur gemeinsam können alle Beteiligten des Gesundheitswesens die Problematik stärker ins Bewusstsein der Menschen bringen. 

Gesundheitskompetenz gezielt fördern – über zielgruppengerechte Formate, digitale Plattformen und unterrichtsbegleitende Gesundheitsthemen.

12.4 Fazit: Das tödliche Quintett effektiv angehen (Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf) Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf führt unterschiedliche Akteure zusammen, um in einem integrierten Ansatz Maßnahmenvorschläge auf unterschiedlichen Ebenen zu entwickeln. Ziel ist es, Herz-Kreislauf-Erkrankungen als die weltweite Todesursache Nummer eins wirksam zu adressieren und den betroffenen Menschen zu einer realen Verbesserung ihrer Gesundheitssituation zu verhelfen. Wir sind überzeugt: Wenn es um die Bereitstellung guter Vorsorge- und Behandlungslösungen geht, dürfen Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr müssen die zugrundeliegenden Risikofaktoren des „tödlichen Quintetts“ aus Herzerkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Adipositas, aber auch die sogenannten indirekten Risikofaktoren wie Stress, Alkohol, Nikotin, Fehlernährung und Bewegungsmangel eine gemeinsame Berücksichtigung finden. Und auch Entwicklungen wie der demografische Wandel, die veränderte Lebensgestaltung, der zunehmende Fachkräftemangel oder die Flexibilisierung der Arbeitsrealität zeigen: Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse verändern sich heute immer rasanter, viele Angebote in Prävention und Therapie erscheinen unzeitgemäß und entfalten nicht die beabsichtigte Wirkung. Um das Ziel einer besseren Versorgung zu erreichen, bedarf es daher zunächst einer Bestandsaufnahme zu dem tatsächlichen Bedarf an Gesundheitsleistungen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir begreifen den Think Tank als Chance, im Austausch mit relevanten Beteiligten und Betroffenen unsere Expertise in den Krankheitsgebieten zur Verfügung zu stellen und neue Ansätze für Prävention, Forschung und Behandlung zu entwickeln. Denn letztlich geht es um die Gestaltung einer konkreten Vorstellung der Gesundheitsversorgung von morgen, die Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinnvoll unterstützt und bereits bekannte Forderungen nach Veränderungen umsetzt. Gemeinsam wollen wir Dis-

140

M. Dankhoff et al.

Abb. 12.2   Das tödliche Quintett effektiv angehen: Zentrale Handlungsbereiche

kussionen und Arbeitsprozesse anstoßen, die in neue, konkrete Versorgungsangebote münden. Letztendlich müssen aus unserer Sicht auch die aktuellen Steuerungs- und Regulationsmechanismen bezogen auf die Versorgungsangebote im deutschen Gesundheitswesen überprüft werden. Es geht insbesondere um die Schaffung von Rahmenbedingungen, die niedrigschwellige Angebote in der Lebens- und Arbeitswelt der Menschen ohne hohen zeitlichen oder materiellen Aufwand ermöglichen. 

Herz-Kreislauf-Erkrankungen ganzheitlich betrachten – die Gesundheitsversorgung von morgen für alle Lebens- und Arbeitsrealitäten gestalten.

12  Im Puls. Think Tank Herz-Kreislauf ···

141

Abb. 12.2 zeigt, welche wesentlichen Handlungsbereiche berücksichtigt werden müssen, um erfolgreich in einem integrierten Ansatz Maßnahmenvorschläge auf unterschiedlichen Ebenen entwickeln zu können, die zu einer verbesserten Situation von HerzKreislauf-Erkrankungen in Deutschland beitragen.

Literatur Mohadjer, L, Bell, B, & Waksberg, J. (1994). National Health and Nutrition Examination Survey III, Accounting for Item Nonresponse Bias. https://www.cdc.gov/nchs/data/nhanes/nhanes3/ cdrom/nchs/manuals/nr_bias.pdf. Abfrage 2019. Patel, S. A., & Winkel, M. (2015). Cardiovascular mortality associated with 5 leading risk factors: National and state preventable fractions estimated from survey data. Publisher: The American College of Physicians.

Mark Dankhoff,  Facharzt für Allgemeinmedizin, ist bereits seit 1994 für die DAK-Gesundheit tätig, unter anderem von 2005 bis 2015 als Leitender Arzt einer Fachklinik für Kinder und Jugendliche mit Adipositas und begleitenden Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, sowie später als beratender Arzt für den Geschäftsbereich Gesundheits- und Versorgungsmanagement. Seit 2017 ist Dr. Dankhoff beratender Arzt im Vorstandsreferat Versorgungsforschung der DAKGesundheit in Hamburg. Dr. Dankhoff absolvierte 1991 das medizinische Staatsexamen an der Georg-August-Universität Göttingen. Ein Jahr später promovierte er an derselben Universität. Hervorzuheben sind Dr. Dankhoffs Zusatzqualifikationen im Bereich der Ernährungsmedizin, der Diabetologischen Grundversorgung sowie als Adipositas-Trainer. 1993 erhielt Dr. Dankhoff den PRO CORDE Förderpreis KHK und 2013 den Präventionspreis der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) e. V. und der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA). Elisabeth Steinhagen-Thiessen, ist Seniorprofessorin in der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Über 30 Jahre leitete sie das Stoffwechsel Centrum der Charité und hatte den Lehrstuhl für Altersmedizin. Frau Prof. Dr. Steinhagen-Thiessen hat sich 1985 für das Fach „Innere Medizin“ habilitiert. Sie engagiert sich in zahlreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften, beispielsweise seit 1979 in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und seit 1984 im Berufsverband Deutscher Internisten, und ist dabei oft im Vorstand oder Wissenschaftlichen Beirat tätig. 2012 wurde sie zum ersten Mal und 2016 zum wiederholten Mal in den Deutschen Ethikrat berufen. 2016 wurde Frau Prof. Dr. SteinhagenThiessen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Michael Wirtz,  Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland e. V., ist bereits seit mehr als zwölf Jahren in der Selbsthilfe aktiv. Seit 2012 leitet er eine Selbsthilfegruppe in Hamburg. Seit 2013 ist Herr Wirtz Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland e. V. und betreut dort vorrangig die Themen Politik, Projekte, Internationale Kooperationen und Finanzen. Als Betroffener von der Adipositas ist es Herrn Wirtz ein großes Anliegen, politisches Gehör für die Krankheit Adipositas zu finden und die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Er engagiert sich daher in vielen Projekten ehrenamtlich.

Informationsnetzwerk Homöopathie – Ein homöopathiekritischer Think Tank

13

Natalie Grams, Christian W. Lübbers, Bettina Frank und Udo Endruscheit

Inhaltsverzeichnis 13.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Das Informationsnetzwerk Homöopathie – Motivation, Ziele, Aufbau, Perspektiven. . . . 13.3 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 144 151 153

13.1 Einleitung Die Homöopathie beruht auf einem detaillierten Gedankengebäude, das der deutsche Arzt Samuel Hahnemann ab 1810 in seinen Grundlagenwerken „Organon der Heilkunde“ und „Chronische Krankheiten“ dargelegt hat (Netzwerk Homöopathie 2016a). Sie genießt als einzige aus der vorwissenschaftlichen Zeit überkommene Heilmethode ungeachtet aller Entwicklungen der modernen Medizin Ansehen in der Öffentlichkeit, verfügt über eine starke Lobby, wirtschaftliche Macht sowie politisch-gesellschaftlichen Einfluss. Dies hat dazu geführt, dass die homöopathische Methode vielfach fälschlich als der evidenzbasierten Medizin gleichwertig oder gar überlegen angesehen und auch propagiert wird. Selbst der Gesetzgeber, dessen Aufgabe neben dem Patienten- und Verbraucherschutz auch die Gewährleistung einer „wirtschaftlichen, zweckmäßigen und notwendigen“ Gesundheitsversorgung (§ 12 Sozialgesetzbuch V) ist, privilegiert die Homöopathie durch den Verzicht auf einen validen Wirkungsnachweis ihrer Arzneimittel durch den sogenannten Binnenkonsens (Netzwerk Homöopathie 2019) (§ 135 SGB V, § 25 Abs. 2, § 38 und § 105 Abs. 4f Arzneimittelgesetz). Hinzu kommt die den N. Grams · C. W. Lübbers (*) · B. Frank · U. Endruscheit  Weilheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_13

143

144

N. Grams et al.

gesetzlichen Krankenkassen seit 2012 durch das 3. GKV-Versorgungsstrukturgesetz eingeräumte Möglichkeit, Erstattungen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, damit auch Homöopathie, nach eigener Entscheidung in ihre Satzungsleistungen aufzunehmen. Die Homöopathie und ihr „guter Ruf“ befördern aber noch weitere unakzeptable Effekte. Für besonders bedenklich wird man zum Beispiel die Konditionierung auf die Einnahme von Mitteln bei banalen, allenfalls geringfügigen Beschwerden schon im Kindesalter halten dürfen, die mit der unkritischen Verwendung von homöopathischen Mitteln leicht einhergeht. Zudem liegt nahe, dass die Homöopathie ein Einfallstor für die Neigung zu noch gefährlicheren, teils esoterisch-irrationalen Heilsversprechen und emotional gefärbten Fehlvorstellungen sein kann, was sich unter anderem darin zeigt, dass viele Anhänger der Homöopathie Impfungen ablehnend oder kritisch gegenüberstehen. Die Homöopathie selbst erhebt ihrerseits durchaus den Anspruch, eine wissenschaftliche Methode zu sein und wissenschaftliche Nachweise zu erbringen, ist aber nicht bereit, ihr nicht genehme Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten – geschweige denn den insgesamt bestehenden Konsens ihrer Beurteilung als Scheinmethode – zu akzeptieren. Ihre Vertreter stellen die Eignung der etablierten wissenschaftlichen Methodik für die Untersuchung ihrer Wirksamkeit immer dann infrage, wenn es ihnen opportun erscheint. Diese Situation ist über Jahrzehnte ohne nennenswerten Widerspruch gewachsen und hat sich etabliert. Die Folgen sind nicht nur negative Auswirkungen auf die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und eine Verschwendung von Ressourcen, auch wegen der (teilweisen) Erstattungsfähigkeit durch Krankenkassen. Von größter Bedeutung ist, dass das verbreitete Vertrauen in die Homöopathie eine konkrete Gefährdung der Gesundheit von Menschen durch das Verzögern und/oder Unterlassen notwendiger wirksamer Behandlungen in sich birgt. Zudem ist die Verankerung der Methode im allgemeinen Bewusstsein mit einem positiven Image zugleich Ursache und Symptom für ein mangelndes Wissenschaftsverständnis und damit eines Vertrauensverlustes in Wissenschaft und wissenschaftliche Medizin. Dies sind in Zeiten zunehmend komplexer werdender Probleme und vielfacher Geringschätzung rational fundierter Maßnahmen und Entscheidungen Tendenzen, denen auch und vordringlich auf dem Gesundheitssektor entgegengewirkt werden muss.

13.2 Das Informationsnetzwerk Homöopathie – Motivation, Ziele, Aufbau, Perspektiven 13.2.1 Das INH – Ein freier Interessenverbund zur Aufklärung über Homöopathie Das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) stellt sich seit 2016 als homöopathiekritischer Think Tank der Herausforderung, durch Aufklärung und Information von Verbrauchern, Verbänden und Entscheidungsträgern auf unterschiedlichen Wegen und

13  Informationsnetzwerk Homöopathie ···

145

mit verschiedenen Methoden auf eine Änderung der vorstehend beschriebenen Grundsituation hinzuwirken. Das Grundsatzprogramm des INH findet sich in der „Freiburger Erklärung“ vom Februar 2016 (Netzwerk Homöopathie 2016b). Das INH ist eine themenbezogene Interessenvereinigung ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die Mitglieder und Unterstützer mit medizinischer, anderer wissenschaftlicher sowie weiterer fachlicher Kompetenz und einem pluralistischen Spektrum persönlicher Anschauungen vereint. Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) unterstützt die Initiative organisatorisch. Notwendige Sachkosten werden aus Spenden von Privatpersonen und mit Unterstützung der GWUP und des Deutschen Konsumentenbundes getragen. Die Mitwirkenden des INH stellen Arbeitszeit und Ressourcen unentgeltlich zur Verfügung. Darüber hinaus erhält das Netzwerk keinerlei Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln, von Organisationen, Interessengruppen, Firmen oder Personen. Keine Person erhält irgendeine Vergütung für ihre persönliche Arbeitsleistung. Das Alleinstellungsmerkmal des Netzwerks ist die gebündelte Expertise seiner Mitglieder und Unterstützer, die die Facetten des Themenkreises Homöopathie umfassend abzudecken in der Lage ist. Dies findet inzwischen zunehmend Anerkennung, indem nicht nur Medien, sondern auch Vereinigungen, Institutionen und Einzelpersonen aus dem Bereich des Gesundheitswesens die Expertise des Netzwerks anfragen.

13.2.2 Homöopathie und der Antagonismus zwischen wissenschaftlichen Fakten und öffentlicher Wahrnehmung Die Homöopathie ist fraglos eine der beliebtesten, wenn nicht die beliebteste der sogenannten alternativen Heilmethoden. Beliebt bei Patienten, praktiziert auch von Ärzten/-innen – mit dem „Gütesiegel“ der ärztlichen Zusatzbezeichnung Homöopathie – und bei sehr vielen Heilpraktikern (nichtärztliche Ausübende der Heilkunde) geradezu ein „Aushängeschild“ ihrer Tätigkeit, die sich damit die breite öffentliche Reputation der Methode zunutze machen. Mit eben dieser Beliebtheit renommiert die homöopathische Lobby auch massiv insbesondere auf der politischen Ebene. Zwar ist Beliebtheit weder Argument noch Kriterium für die Validität einer medizinischen Methode, eher ein Zeichen für ein bemerkenswert erfolgreiches Marketing, jedoch kann dieser Form der Akquise der Erfolg durchaus nicht abgesprochen werden (CSU-Landtag 2018). Homöopathie genießt aufgrund jahrzehntelang unwidersprochener Imagepflege seitens der homöopathischen Interessenvereinigungen den Ruf einer sanften und natürlichen Heilmethode, die zudem keine Nebenwirkungen hat – und das nahezu mit der Wirkungsmacht eines soziokulturellen „Memes“. Dabei wird sie stets in die Nähe von Naturheilkunde gerückt, meist mit dieser fälschlich sogar gleichgesetzt, obwohl sie ein denkbar künstliches Konstrukt ist. Diskussionen über diese Falschannahmen mit überzeugten Anhängern scheinen nahezu unmöglich, ein Abgleiten in Emotionalität und Unsachlichkeit ist fast nicht zu vermeiden. Man wird dies als Indiz dafür werten können,

146

N. Grams et al.

dass sich die Homöopathie längst als ein Glaubenssystem mit den damit verbundenen kognitiven Dispositionen etabliert hat, dessen überzeugte Anhänger mit rationalen Argumenten kaum noch zu erreichen sind. Dabei ist die wissenschaftliche Position längst eindeutig – Homöopathie wirkt nicht besser als jede andere Scheinbehandlung. Psychologische und psychosoziale Faktoren können sicher zu subjektiv empfundener Besserung beitragen (Stichwort PlaceboEffekt), den Großteil der scheinbaren „Wirkung“ von Homöopathie dürften jedoch andere Faktoren wie der natürliche Verlauf einer Krankheit, Regression zur Mitte (insbesondere beim Verlauf chronischer Erkrankungen) und anderes bestreiten. Es gibt hinlänglich rationale Erklärungen der beobachteten „Wirkungen“, die einen Rückgriff auf die esoterisch-vitalistisch geprägte Annahme, die Homöopathie wirke durch die Korrektur einer „verstimmten geistigen Lebenskraft“ mittels einer „geistigen Arzneikraft“, logisch, einfach und zwanglos ersetzen. Dies macht die von Homöopathen oft in werbender Absicht vorgebrachte Sentenz, man wisse nicht, „wie“ Homöopathie wirke, wisse aber, „dass“ sie wirke, obsolet. Schließlich ist es ein gänzlich unspektakulärer Vorgang im Rahmen wissenschaftlichen Fortschritts, dass bisherige Vermutungen oder spekulative Deutungen durch bessere, einfachere und belegbare Erklärungen überflüssig werden – bei der Homöopathie fehlt es auf breiter Front an Einsicht in diese Trivialität. Wie kann es gelingen, hier zu mehr Aufklärung und einer gesellschaftlichen, politischen und medizinischen Neuorientierung beizutragen? Die homöopathiekritische Position des INH knüpft an die Kritik an, die der Homöopathie in ihrem Anspruch, eine spezifische Arzneimitteltherapie zu sein, seitens der internationalen Wissenschaftsgemeinde begegnet. Die Kritik des Netzwerks versteht sich ausdrücklich als wissenschaftsbasiert und ideologiefrei. Die Diskussion über den wissenschaftlichen Wert der Homöopathie gilt an sich längst als abgeschlossen (Ernst 2017), da ihre Grundpositionen mit naturwissenschaftlichen Grundtatsachen unvereinbar sind und auch bei einer hohen dreistelligen Zahl wissenschaftlicher Arbeiten (auch randomisierter kontrollierter Studien) und deren Analyse in Metaarbeiten bei kritisch-rationaler Betrachtung kein belastbarer Nachweis dafür gefunden werden konnte, dass die Homöopathie bei irgendeinem Krankheitsbild eine spezifische Wirksamkeit zeigt (NHMRC 2015). Vielfach wird deshalb in wissenschaftlich orientierten Kreisen gefordert, keine weitere Forschung zur Homöopathie mehr anzustellen (Windeler 2019). Gleichwohl erscheinen immer wieder neue Arbeiten zur Homöopathie, die bislang in keinem Fall einer methodischkritischen Betrachtung standgehalten haben. Dadurch wird allerdings auch – im Sinne interessierter Kreise – eine Diskussion über die Wirksamkeit der Homöopathie stets neu befeuert und in der Öffentlichkeit als wissenschaftlicher Streit um gleichwertige Positionen wahrgenommen. Dies kann sich als besonderes Problem der Kritik darstellen, da einerseits diese vorgeblichen Belege pro Homöopathie nicht einfach ignoriert werden können, andererseits durch die Gegenvorstellungen seitens der Kritik dem erwähnten Eindruck einer „Debatte auf Augenhöhe“ ungewollt auch ein gewisser Anschein von Glaubwürdigkeit verliehen wird. Die Russische Akademie der Wissenschaften führt insofern zutreffend in ihrem „Memorandum Homöopathie“ (Kommission für Pseudowissenschaft bei der Russischen Akademie der Wissenschaften 2017) aus:

13  Informationsnetzwerk Homöopathie ···

147

„In dem Bemühen, das Vertrauen der Patienten zu gewinnen, erhebt die Homöopathie regelmäßig einen ‚alternativen‘ wissenschaftlichen Anspruch für ihre eigenen Prinzipien und Methoden. Die Fortexistenz der Homöopathie trotz des Fehlens von zuverlässigen wissenschaftlichen Beweisen für ihre Wirksamkeit über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg wird auch durch die Tatsache erklärbar, dass ständig der Anspruch erhoben wurde, es gebe angeblich anwendbare wissenschaftliche Ansätze zu erkunden. Der Abgleich des ‚externen Szientismus‘ der Homöopathie auf der einen Seite mit dem gemeinsamen System der heutigen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis auf der anderen Seite ermöglicht es uns aber, die Homöopathie als eine pseudo-wissenschaftliche Disziplin zu qualifizieren.“

Diese auf eine ständige kritische Diskussion mit den Proponenten der Homöopathie – auch auf internationaler Ebene – gerichtete Arbeit des Netzwerks muss daher von einer möglichst breit gestreuten Information der Öffentlichkeit über die Positionen der Homöopathiekritik begleitet werden, um keinen falschen Eindruck zu erwecken, der der homöopathischen Fraktion zugutekäme.

13.2.3 Struktur und Methoden der homöopathiekritischen Aufklärungs- und Informationsarbeit Dies wird durch die Informationsarbeit – die Verbraucheraufklärung – des INH gewährleistet, die sich wesentlich auf die Möglichkeiten des World Wide Web und die sozialen Medien stützt. Ohne diese technischen Voraussetzungen wäre letztlich eine reichweitenstarke, differenzierte, sowohl in die Breite wie in die Tiefe gehende Informationsarbeit nicht möglich. Initial für das Zustandekommen des INH war die Veröffentlichung des Buches „Homöopathie neu gedacht – was Patienten wirklich hilft“ der Ärztin und früheren Homöopathin Dr. Natalie Grams und die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit. Ein Zusammenschluss von Homöopathiekritikern lag nahe, zumal dafür schon durch frühere Veröffentlichungen (zum Beispiel „Beweisaufnahme in Sachen Homöopathie“ des INH-Mitgründers und Initiators Dr. Norbert Aust) der Boden bereitet war. Mit Dr. Grams trat eine Persönlichkeit in die kritische Szene ein, der aufgrund ihrer vorherigen beruflichen Laufbahn als praktizierende homöopathische Ärztin auch nicht mit der üblichen Zurückweisungsstrategie der mangelnden Kompetenz begegnet werden konnte. Sie leitete bis zum April 2020 das Informationsnetzwerk Homöopathie, ihr ist ab diesem Zeitpunkt Prof. Dr. Jutta Hübner (Universität Jena) nachgefolgt. Homöopathiekritik gibt es, seit es die Homöopathie gibt. Das INH ist aber der erste überindividuelle Zusammenschluss im Sinne eines Think Tanks mit umfassender Expertise, der aus kritischer Perspektive die wichtigsten Konzepte und Begriffe der homöopathischen Lehre ebenso wie deren heute geübte Praxis und die Unvereinbarkeit dessen mit moderner wissenschaftlicher Erkenntnis erläutert und dies in allgemeinverständlicher Form als leicht zugängliche Informationen anbietet.

148

N. Grams et al.

Auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichen medialen Kanälen trägt das INH täglich zur Aufklärung über Homöopathie bei. Ein Team, in dem verschiedenste Fähigkeiten und Kompetenzen vertreten sind, betreibt in einem Real-Time-Networking die Koordination und Modulation der verschiedenen Kanäle. Schon kurz nach der Gründung im Januar 2016 verfügte das Netzwerk (ab April 2016) über eine eigene Webseite mit einem Grundbestand an Informationen, der in der Folgezeit beständig ausgebaut wurde. Die Facebook- und Twitter-Accounts werden genutzt, um das Informationsangebot der Webseite in den sozialen Netzwerken bekannt zu machen. Die wachsenden Follower-Gemeinden auf Facebook und Twitter bilden das „Rückgrat“ der Informationsverbreitung, das Multiplikatorenpotenzial. Die Accounts des INH berichten laufend über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse und verflechten diese Berichterstattungen mit den Informationsartikeln der Webseite. Die Zahl der persönlichen Nachrichten und Anfragen an das Netzwerk hat stetig zugenommen. Man darf inzwischen durchaus von einer immer weiterwachsenden homöopathiekritischen Community sprechen, die Zweifel daran aufkommen lässt, ob die Beliebtheit der Homöopathie tatsächlich so tief verankert ist, wie es deren Interessenvertreter glauben machen wollen, wofür auch einige empirische Ergebnisse sprechen (Peterle 2018). Ein grundlegendes Projekt des Netzwerks ist die „Homöopedia“, ein Onlinelexikon mit wissenschaftlichem Anspruch, dessen quellenbasierte Fachartikel die für ein breiteres Publikum konzipierten Informationen des INH flankieren und untermauern. Die Homöopedia (in Anlehnung an die Wissensplattform Wikipedia) ist auch ausdrücklich als Informationsmedium für fachlich Interessierte, zum Beispiel Journalisten oder auch Politiker, gedacht, die quellenbasierte Detailinformationen benötigen. An der Erweiterung und Fortschreibung der Homöopedia arbeitet ein qualifiziertes Autoren- und Lektorenteam aus INH-Mitgliedern und Unterstützern, das die Validität der dort veröffentlichten Informationen auch durch ein gegenseitiges „Peer Review“ garantiert. Frühzeitig entwickelte sich die Idee einer einerseits niederschwelligen und andererseits thematisch breiter aufgestellten „Familieninformation“, da Familien mit Kindern eine spezielle – und speziell von der Homöopathiewerbung fokussierte – Zielgruppe sind. Dem hierzu eingerichteten Facebook-Account unter dem Namen „Susannchen braucht keine Globuli“ wurde wegen des regen Zuspruchs und des offensichtlichen Informationsbedürfnisses Mitte 2017 eine weitere Webseite an die Seite gestellt. Diese Seite ist mit ihrem Informationsangebot, das auch die Brücke zu anderen Themen der Pseudomedizin und vor allem zum Impfthema schlägt, inzwischen ein wichtiges Standbein des Informationsnetzwerks. Das INH verfügt damit über drei zielgruppengerecht abgestufte Informationsebenen, von der wissenschaftlich aufbereiteten Fachinformation über das zentrale Basisangebot mit sachlicher Fundierung bei gleichzeitiger Allgemeinverständlichkeit bis hin zur auf Familien hin orientierten Informationspräsentation des Projektes „Susannchen braucht keine Globuli“.

13  Informationsnetzwerk Homöopathie ···

149

13.2.4 Handlungsfeld „Entscheidungsträger und Multiplikatoren“ Die Schaffung einer interessierten und aufgeklärten Öffentlichkeit stellt ein Ziel an sich dar, verfolgt aber auch einen Zweck im Hinblick auf die politische Lobbyarbeit des Informationsnetzwerks. Wie einleitend bereits erwähnt, ist ein Hemmschuh für ein Tätigwerden der Politik die von der homöopathischen Lobby immer wieder ins Feld geführte „Beliebtheit“ der Methode. Dies wird bei der Politik so lange der Fall sein, wie nicht sichtbar wird, dass es mit der Beliebtheit nicht (mehr) so weit her ist, wie man glauben machen will. Das Informationsnetzwerk verfolgt als klassische Zielsetzung eines Think Tanks konkret die Revision der gesetzlichen Privilegierung der Homöopathie und der damit verbundenen Folgen arzneimittelrechtlicher und sozialrechtlicher Art und zentriert hierauf seine Überzeugungsarbeit im gesellschaftlich-politischen Bereich. Die Konsumenten- bzw. Verbraucheraufklärung soll – wie erwähnt – dafür die notwendige Basis durch einen möglichst breiten Bewusstseinswechsel schaffen, die Zielsetzung erfordert aber auch direkte politische Lobbyarbeit und das Anknüpfen von Dialogen mit den Institutionen des Gesundheitswesens einschließlich der Krankenkassen. Zudem musste der bei Gründung des INH der verfestigte Status quo in der Medienberichterstattung, nämlich eine durchgängig unkritisch-wohlwollende, nur von seltenen Ausnahmen durchbrochene Sicht auf die Homöopathie, verändert werden. Es gilt also, darauf hinzuwirken, dass die Mitwirkenden im öffentlichen Gesundheitswesen und auch die Verantwortlichen für die medizinische Nachwuchsausbildung zu einer der wissenschaftlichen Beleglage adäquaten Einordnung der Homöopathie gelangen und daraus auch Folgerungen ziehen. Dies ist in der Regel nur durch unmittelbare Gesprächskontakte realisierbar, die das INH ebenso offeriert wie annimmt. Die Verbindung der Homöopathie mit dem öffentlichen Gesundheitssystem birgt nach Ansicht des INH die Gefahr einer Abwertung der Institutionen und Errungenschaften des öffentlichen Gesundheitswesens sowie einer Aushöhlung des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenversicherung und leistet einem Vertrauensverlust gegenüber der evidenzbasierten Medizin in der Bevölkerung Vorschub. Die falsche Konfrontation „Homöopathie versus Schulmedizin“ ist allgegenwärtig. In besonderer Rolle trat hier Dr. Natalie Grams öffentlich mit vielen Interviews, Rundfunk- und TVBeiträgen sowie in Vorträgen vor unterschiedlichen Auditorien in Erscheinung und schuf damit erstmals ein in der Öffentlichkeit breit wahrnehmbares Gegengewicht zu den lange Zeit unhinterfragt positiven Medienberichten über die Homöopathie. Grams’ Medienpräsenz hat zur nachhaltigen Belebung eines längst verschüttet geglaubten Diskurses, einer erneuten Reflexion über die Homöopathie geführt. Dies manifestiert sich inzwischen auch in einem deutlich sichtbaren Wandel der Medienberichterstattung. Der Anteil kritischer Berichterstattung nimmt zu, deren fachliche Qualität ist ebenso wie ihr Informationsgehalt erheblich gestiegen, die Medien reagieren – kaum vorstellbar noch vor wenigen Jahren – von sich aus kritisch auf homöopathiefreundliche Publikationen, Veranstaltungen oder Medienereignisse. Das Informationsnetzwerk unterstützt die

150

N. Grams et al.

Pressearbeit, berichtet über relevante Presseveröffentlichungen und stellt auf den SocialMedia-Kanälen die jeweils passenden Basisinformationen bereit. Eine Präsenz von Homöopathie in den medizinischen Fakultäten – ausgenommen natürlich eine wissenschaftlich und medizinhistorisch zutreffende Einordnung – sieht das INH als unvertretbar an, weil sie möglicherweise Ärzte hervorbringt, die selbst keine klare Vorstellung von der medizinischen Wertlosigkeit der Methode haben. Nach Ansicht des INH ist die Homöopathie als Gegenstand praxisbezogener Lehre, womöglich klausur- und prüfungsrelevant, letztlich eine Abwertung des wissenschaftlich ausgerichteten Medizinstudiums und eine Verschwendung von Ressourcen aufseiten der Hochschulen wie aufseiten der Studierenden. An derzeit 13 medizinischen Fakultäten in Deutschland gibt es ein Wahlpflichtfach „Homöopathie“, dazu studentische Arbeitskreise und auch Doktoratsprogramme, die von der homöopathischen Lobby gefördert werden. Hier zeigen sich in jüngster Zeit jedoch gegenläufige Tendenzen, die erfreulicherweise vielfach von den Studierenden selbst ausgehen, an denen die neuere öffentliche Debatte zur Homöopathie, nicht zuletzt geführt vom INH, offensichtlich nicht vorbeigegangen ist. Eine große deutsche Universität ließ von einem ihrer Institute Vorlesungsreihen zur Homöopathie unter ihrem Namen durchführen, die aber nicht etwa die Methode kritisch reflektierten. Stattdessen handelte es sich um eine Abfolge von Veranstaltungen, in denen die „homöopathischen Ansätze“ bei unterschiedlichsten Krankheitsbildern, zum Teil von nichtärztlichen Therapeuten, „praxisbezogen“ präsentiert wurden. Den Nutzwert derartiger Veranstaltungen im Sinne von unreflektierten „Gebrauchsanweisungen“ auf Fallbasis im akademischen Umfeld konnte und kann das INH nicht erkennen. In dieser Sache hat das INH bei der Universität interveniert und auch Gelegenheit zu einem direkten Austausch gehabt. Die betreffende Hochschule hat sich inzwischen zur Homöopathie in Klinik und Lehre insgesamt neu positioniert.

13.2.5 Handlungsfeld „Verbraucher und Patienten“ Das INH ist sich bewusst, dass der individuelle Konsument von Homöopathie nicht Adressat von Kritik, sondern nur von Information und Aufklärung sein kann. Eben aus diesem Grunde unterscheidet das INH auch deutlich zwischen Kritik einerseits und Aufklärung/Information andererseits bei seiner Arbeit. Auch wenn die Grenzziehung in der Praxis gelegentlich schwierig ist, bleibt die Unterscheidung von aufklärender und explizit kritisierender Tätigkeit elementar. Immer wieder muss auch dem Missverständnis widersprochen werden, das INH beabsichtige, ein „Verbot“ der Homöopathie zu erreichen. Selbstverständlich trifft dies nicht zu. Eine Bevormundung oder gar Gängelung der Öffentlichkeit ist nicht Ziel und nicht Selbstverständnis der homöopathiekritischen „Denkfabrik“ INH. Patientenautonomie und persönliche Entscheidungsfreiheit werden nicht nur respektiert, sondern ausdrücklich gefördert. Ziel der Arbeit des Netzwerkes ist nicht, den Menschen etwas zu nehmen, sondern etwas

13  Informationsnetzwerk Homöopathie ···

151

zu geben: ehrliche, redliche und sachliche Information für die persönliche verantwortliche Entscheidung pro oder contra Homöopathie. Das aktuelle Motto des Think Tanks lautet daher: „Wir klären auf – Sie haben die Wahl!“. Es ist aber eben auch für ein solches Ziel elementar, dass die Scheidegrenze zur Medizin als der Summe nachweislich wirksamer Mittel und Methoden deutlich gezogen wird. Dabei geht es auch darum, dass weder die Gesetzeslage noch die politischen und gesellschaftlichen Multiplikatoren weiterhin zu dem Missverständnis beitragen, Homöopathie sei spezifisch wirksame Medizin. Eine „Therapie“, die nicht mehr vorzuweisen hat als die Kontexteffekte (zum Beispiel Placebo), die bei jeder Art von – auch nichtmedizinischer – Zuwendung auftreten, kann nicht als medizinische Therapierichtung gerechtfertigt werden. Medizin definiert sich heute als das, was über die bei jeder Behandlung auftretenden Placebo- und sonstigen Kontexteffekte hinausgehende spezifische Wirkungen nach wissenschaftlichen Standards nachweisen kann. Insofern sieht sich das INH auch dem Konzept der evidenzbasierten Medizin verpflichtet, die in der ärztlichen Praxis mit einer Synthese aus der jeweils aktuellsten verfügbaren klinischen Evidenz, der persönlichen ärztlichen Befähigung und Erfahrung sowie den berechtigten Belangen des Patienten die bestmögliche Therapieentscheidung zu treffen sucht (EbM o. J.). Homöopathie hat darin keinen Platz, auch und erst recht nicht in ärztlicher Hand. In der Freiburger Erklärung zur Homöopathie ist die grundsätzliche Zielvorstellung des Informationsnetzwerks Homöopathie wie folgt beschrieben (Netzwerk Homöopathie 2016a): „Ziele unserer Kritik sind nicht der heilsuchende Patient und der einzelne homöopathisch arbeitende Therapeut, sondern die aufgebaute Lehre und die Institutionen des Gesundheitswesens, welche die Widersinnigkeit der Homöopathie längst erkennen könnten, aber dennoch nicht einschreiten. Wir fordern die Akteure des wissenschaftlich begründeten Gesundheitswesens auf, sich endlich von der Homöopathie und anderen pseudomedizinischen Verfahren abzuwenden und zurückzukehren zu dem, was selbstverständlich sein sollte: Wissenschaftlich validierte, faire und allgemein nachvollziehbare Regeln für eine hochwertige Medizin, ausgerichtet am Wohlergehen der Patienten.“

13.3 Fazit und Ausblick Es darf als Erfolg gelten, dass das INH in den bisher vier Jahren seiner Tätigkeit einen Diskurs über die Homöopathie nicht nur angestoßen, sondern aufrechterhalten und weiter intensiviert hat und dabei viele Menschen mit aufklärenden Informationen erreichen konnte. Hoch zu bewerten ist auch die inzwischen gefestigte fachliche Reputation des INH, die sich in einer aktiven Nachfrage nach seiner Expertise von verschiedenen Seiten zeigt. Ein wesentlicher Aspekt der Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des INH ist die im Grundsatzprogramm, der „Freiburger Erklärung“ von 2016, niedergelegte Selbstverpflichtung zu einer sachbezogenen und stets wertschätzenden Diskussionskultur.

152

N. Grams et al.

Gerade bei kontroversen Themen mit gesellschaftlicher Relevanz, erst recht bei einem so emotionsbesetzten Thema wie der Homöopathie, ist es unabdingbar, im öffentlichen Diskurs einen angemessen sachlichen und emphatischen Ton zu wahren und auch bei Emotionalisierung der Debatte immer wieder zur Sachebene zurückzukehren. Dies ist ein Kernanliegen des INH, das täglich gelebt wird. Das INH verfügt über keine materiellen Ressourcen, arbeitet vollständig ehrenamtlich und stützt sich nahezu ausschließlich auf persönliches Engagement und fachliche Expertise. Die Mitwirkenden sehen sich dadurch motiviert, dass sie die wirkmächtig beförderte Fortexistenz einer vorwissenschaftlichen Heilmethode, um deren therapeutische Wertlosigkeit und Risikopotenzial sie wissen, als Teil von Medizin und Gesundheitswesen nicht akzeptieren wollen. Das Netzwerk steht dabei einer wohlorganisierten, konzertiert operierenden und finanziell gut ausgestatteten Homöopathielobby von Vereinen und Verbänden gegenüber, die professionelle Lobbyarbeit betreiben (bis hin zum Hauszugang zu Fraktionen im Deutschen Bundestag). Zu einem Dialog mit dem INH hat sich diese Szene leider zu keinem Zeitpunkt bereitgefunden. Gleichwohl belegt die erfolgreiche Arbeit des INH, dass faktenbasierte Öffentlichkeitsarbeit eines Think Tanks mit Expertise und Engagement auch unter solchen Voraussetzungen lohnend und erfolgreich sein kann. Im Sinne eines Ausblicks wird man feststellen dürfen, dass die homöopathische Szene auf die – wohl unerwartete – Kritik und ihre öffentliche Wahrnehmung ihrerseits mit unterschiedlichen Bemühungen reagiert, um die kritischen Positionen vor dem noch geneigten Publikum abzuschirmen und die Methode gegen Reputationsverlust abzusichern. Dabei greift die Homöopathielobby weit aus, unterstellt sie doch zum Beispiel der Kritik, diese wolle die Wahlfreiheit der Patienten und die Therapiefreiheit der Therapeuten beeinträchtigen (DHU 2018). Wie dargelegt, ist dieses Argument genau im umgekehrten Sinne zutreffend. In diesen verstärkten Gegenbemühungen liegt eine aktuelle Herausforderung für das INH, aber auch eine Chance, dem Diskurs über Homöopathie noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Homöopathiekritik ist kein Selbstzweck. Sie ist ein Baustein auf dem Weg zu einer insgesamt besseren patientenorientierten Medizin, der vorwissenschaftliche Methoden mit ungerechtfertigter Reputation bis in akademische Kreise hinein massiv im Wege stehen. Die meisten Homöopathiekritiker sind ebenso Kritiker der Unzulänglichkeiten in der wissenschaftlichen Medizin und vor allem im Gesundheitswesen und der dort – in der Regel politisch – gesetzten Rahmenbedingungen. Sie sehen aber, dass der künftige Umgang mit der Homöopathie ein wesentlicher Prüfstein dafür ist, ob die Fortentwicklung zu einem sinnvollen, bezahlbaren und zukunftsträchtigen Gesundheitssystem gelingen wird. Die Homöopathie ist eine systemische Blockade dabei und deshalb ein „würdiger“ Gegenstand fundierter Kritik und faktenbasierter Aufklärung. In mehr als 200 Jahren ist es einer Vielzahl von Kritikern trotz guter Argumente und belegter Tatsachen nicht gelungen, die Homöopathie auf den ihr gebührenden Platz in der Medizinhistorie zu verweisen. Es ist an der Zeit, dies mit den Möglichkeiten des

13  Informationsnetzwerk Homöopathie ···

153

Kommunikations- und Medienzeitalters mit gebündelter Kompetenz anzugehen, wie sie sich im Informationsnetzwerk Homöopathie zu einer „Denkfabrik“ zusammengefunden hat.

Literatur CSU-Landtag (2018): „Homöopathie wird bei den Menschen immer beliebter“ – Homöopathielobby bei der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag. https://www.csu-landtag.de/index. php?ka=1&ska=1&idn=1034. Zugegriffen: 13. Aug. 2019. DHU. (2018). Kampagne der Deutsche Homöopathie Union (DHU): „Die Therapiefreiheit, die in unserem Slogan mit „Meine Entscheidung“ zum Ausdruck kommt, ist uns das wichtigste in dieser Initiative.“ https://www.dhu.de/presse/pressemeldung/dhunews/detail/homoeopathiedhu-startet-initiative.html. Zugegriffen: 17. Aug. 2019. EBM. (o. J.). Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin: Sackett-Artikel. https://www.ebmnetzwerk.de/was-ist-ebm/leitartikel-sackett. Zugegriffen: 11. Aug. 2019. Ernst, E. (2017). Prof. Edzard Ernst im Spectator Health: „The debate about homeopathy is over. These verdicts prove it.“ https://life.spectator.co.uk/articles/the-debate-about-homeopathy-isover-these-verdicts-prove-it/, https://health.spectator.co.uk/the-debate-about-homeopathy-isover-these-verdicts-prove-it/. Zugegriffen: 14. Aug. 2019. Kommission für Pseudowissenschaft bei der Russischen Akademie der Wissenschaften. (2017). Memorandum No. 2 „Homöopathie ist Pseudowissenschaft“. http://klnran.ru/en/2017/02/ memorandum02-homeopathy/. Zugegriffen: 12. Aug. 2019. Netzwerk Homöopathie. (2016a). Kurzer Überblick über das Leben Samuel Hahnemanns, des Begründers der Homöopathie. https://netzwerk-homoeopathie.info/leben-samuel-hahnemanns/. Zugegriffen: 14. Aug. 2019. Netzwerk Homöopathie. (2016b). Freiburger Erklärung zur Homöopathie (Grundsatzprogramm des Informationsnetzwerks Homöopathie - INH) vom Februar 2016. https://netzwerkhomoeopathie.info/freiburger-erklaerung-zur-homoeopathie/. Zugegriffen: 14. Aug. 2019. Netzwerk Homöopathie. (2019). Binnenkonsens – was ist das eigentlich? https://netzwerkhomoeopathie.info/binnenkonsens-was-ist-das-eigentlich/. Zugegriffen: 15. Aug. 2019. NHMRC National Health and Medical Research Council of Australia. (2015). „Es gibt keine zuverlässigen Nachweise dafür, dass die Homöopathie bei der Behandlung von Gesundheitsproblemen wirkungsvoll wäre.“, In: NHMRC Information Paper: Evidence on the effectiveness of homeopathy for treating health conditions. Canberra: NHMRC. https://www.nhmrc.gov.au/ about-us/publications/homeopathy. Zugegriffen: 14. Aug. 2019. Peterle, J. T. (2018). FOWID: Homöopathie – ein Überblick. „Problematischer ist die Sachlage bezüglich der Umfragen zum Nutzungsverhalten und Empfinden der Patienten. Auffallend sind hierbei die teils großen Unterschiede in den Befragungsergebnissen.“. https://fowid.de/ meldung/homoeopathie-ueberblick. Zugegriffen: 11. Aug. 2019. Windeler, J. (2019). Helmholtz.de: Wirkt Homöopathie wirklich? Prof. Dr. J. Windeler: „Homöopathie zu untersuchen, das ist vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens fast so, als wollte man sicherstellen, dass sich hinter dem Mond kein Pumuckl versteckt“. https://www.helmholtz. de/gesundheit/wirkt-homoeopathie-wirklich/. Zugegriffen: 14. Aug. 2019.

154

N. Grams et al.

Dr. med. Natalie Grams ist Ärztin und ehemalige Homöopathin. Sie war bis zum April 2020 Leiterin und Testimonial des Informationsnetzwerks Homöopathie sowie Kommunikationsmanagerin der GWUP. Dr. med. Christian Lübbers ist Hals-Nasen-Ohrenarzt in eigener Praxis und für seine Aufklärung über Homöopathie auf Twitter bundesweit bekannt geworden. Er ist einer der Sprecher des Informationsnetzwerks Homöopathie. Für eine ehrliche und bessere Medizin setzt er sich auch in dem 2019 gegründeten Think Tank „Twankenhaus“ ein, für den er als bis April 2020 als einer von drei Gründungsvorständen fungierte. Bettina Frank  ist Netzaktivistin im Bereich der Patienteninformation und -aufklärung zu Migräne und leitet die zu diesem Thema europaweit größten Selbsthilfegruppen Headbook.me und – auf Facebook -– Migräne Community. Dort kommt sie immer wieder mit Homöopathie und anderen Pseudoheilverfahren in Kontakt und klärt seit über einem Jahrzehnt darüber auf, dass darin keine Behandlungsalternative für die schwere neurologische Migräneerkrankung liegt. Für ihre Tätigkeit in der Patientenselbsthilfe wurde ihr das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Udo Endruscheit  ist pseudomedizinkritischer Autor und Blogger. Er ist einer der Sprecher des Informationsnetzwerks Homöopathie, verantwortet die Webauftritte des Informationsnetzwerks redaktionell und ist Autor zahlreicher Informationsartikel. Die Webauftritte des Informationsnetzwerks Homöopathie: www.netzwerk-homoeopathie.info www.susannchen.info www.homöopedia.eu

Teil III Next Generation Think Tanks im Gesundheitswesen

Flying Health – Think Tank und Ökosystem für Next Generation Healthcare

14

Markus Müschenich, Laura Wamprecht und Christiane Meyer

Inhaltsverzeichnis 14.1 Flying Health Historie – Pionier der digitalen Medizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Methodik des Flying Health Foresight . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Flying Health Trendhypothesen und Foresight. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 159 160 168 170

14.1 Flying Health Historie – Pionier der digitalen Medizin Der Grundstein für Flying Health wurde 2014 gelegt, mit der weltweit ersten App-aufRezept für eine digitale Therapie. Die App des Dresdner Start-ups Caterna Vision ist ein Online-Sehtraining für Kinder mit einer funktionalen Sehschwäche – der sogenannten Amblyopie. Bei der digitalen Therapie spielen Kinder Computerspiele, während im Hintergrund speziell programmierte Muster zu sehen sind. Diese Muster stimulieren das Sehzentrum und sollen so den Behandlungsprozess fördern, an dessen Ende die Wiedererlangung der normalen Sehkraft steht. Die Geschäftsführer von Flying Health sahen das Potenzial der App und ermöglichten den Markteintritt durch die enge Zusammenarbeit mit digital kompetenten Pionieren des Gesundheitswesens. Und so übernahm die M. Müschenich · L. Wamprecht (*) · C. Meyer  F.H. Incubator GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Müschenich E-Mail: [email protected] C. Meyer E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_14

157

158

M. Müschenich et al.

BARMER GEK ab April 2014 als erste gesetzliche Krankenkasse im Rahmen eines Vertrages zur Integrierten Versorgung die Kosten sowohl der digitalen Therapie als auch der augenärztlichen Begleitung. Vertragspartner war dabei die OcuNet-Gruppe, ein bundesweiter Zusammenschluss von augenmedizinischen Zentren und Praxen. Augenärzte, die Mitglied von OcuNet waren, konnten die App dank der Vereinbarung ihren Patienten verordnen. Damit wurde erstmals eine digitale Therapie regelhaft vergütet und schaffte es so in die Versorgung. Dies stellte nicht nur einen Meilenstein in der Welt der Digital Health Start-ups dar, sondern auch den Beginn von Flying Health. Mit dem Ziel des Marktzugangs für innovative, digitale Lösungen für die medizinische Versorgung der Zukunft folgte der Aufbau eines holistischen Gesundheitsnetzwerks – eines Ökosystems –, das Vertreter aller Akteure des Gesundheitswesens an einem Tisch zusammenbringt und Gespräche auf Augenhöhe ermöglicht. Das Gesundheitswesen wurde so „lean“ abgebildet und steht heute als Real-Labor zur Verfügung, in dem Ideen und Innovationen diskutiert, reflektiert und unter Einbezug aller Perspektiven durchleuchtet und zugleich direkt getestet, bewertet, validiert und umgesetzt werden können. Dieses Konzept wird sowohl den wirtschaftlich-strategischen Interessen des Einzelnen als auch dem verstärkten Bedarf an einem partnerschaftlichen Ansatz gerecht – denn eins ist klar: Für eine führende Rolle in der digitalen Welt ist keiner der bisherigen Akteure im Gesundheitswesen gerüstet. Zentrale Fähigkeiten, Wissen und Mindset fehlen. Nur durch kluge Partnerschaften können die jeweiligen Defizite in eine Chance umgemünzt werden. Flying Health ermöglicht diese Art der Zusammenarbeit durch Zukunftswissen. Denn, um innovative Lösungen und Neuausrichtungen von Strategien adäquat bewerten zu können, ist nicht nur der Status quo ausschlaggebend, sondern insbesondere die Betrachtung möglicher Zukunftsszenarien. Es gilt also, Trends und Veränderungen im Marktumfeld frühzeitig zu erkennen und Lösungen und Strategien entsprechend auszurichten. In einem Prozess der strategischen Frühaufklärung überführt Flying Health sein Zukunftswissen in die strategischen Strukturen der Stakeholder und hilft so Unternehmen bei der Positionierung in der Gesundheitsversorgung der nächsten Generation(en). Mit einer mittel- und langfristigen Perspektive arbeitet Flying Health gemeinsam mit führenden Akteuren aus dem Gesundheitswesen und herausragenden Start-ups an Strategien, Handlungsoptionen und den ersten Schritten hin zu einem zukunftsfähigen Unternehmen der globalen Gesundheitswirtschaft. Dieses digitale Ökosystem ermöglicht die schnelle Umsetzung von Konzepten und die zeitnahe Realisierung zukunftsgerichteter Projekte. Die schnelle Validierung ist dabei Dreh- und Angelpunkt. Denn während das Gesundheitswesen bislang von langwierigen Produktzyklen geprägt und die Akteure durch diese geschützt waren, findet die Neugestaltung in einer für den Markt untypisch schnellen Geschwindigkeit statt. Die Produktzyklen von digitalen Lösungen sind um einiges kürzer, und die Distribution von digitalen Lösungen ist um einiges einfacher und schneller als von traditionellen Gesundheitsprodukten.

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

159

Traditionelle Gesundheitsunternehmen dürfen sich von dieser Geschwindigkeit nicht überraschen, nicht überrollen und vor allem nicht überfordern lassen. Entscheidungsträger haben nur noch wenig Zeit für Entscheidungen und sehen sich mit vielen unbekannten Parametern konfrontiert. Unter diesen Konditionen gilt frühes Ausprobieren und Validieren. Dazu hat Flying Health eine Umgebung entwickelt, die Learning by Doing erlaubt. Denn es gilt die Gesundheitsversorgung aktiv mitzugestalten, selbst Dinge auszutesten und auf dem Weg Schritt für Schritt dazuzulernen, um nicht den Anschluss zu verlieren.

14.2 Methodik des Flying Health Foresight Um informierte und belastbare Handlungsempfehlungen auf Grundlage von Zukunftswissen aussprechen zu können, ist die Qualität der Vorausschau, also die präzise Vorhersage der Zukunft, von ausschlaggebender Bedeutung. Ausgehend von der Gegenwart gibt es eine Vielzahl an möglichen Zukunftsszenarien. Je weiter in die Zukunft geblickt wird, desto mehr mögliche Szenarien gibt es und desto unpräziser wird die Vorhersage. Um die Anzahl an möglichen Zukunftsszenarien einzugrenzen, nimmt sich Flying Health Signale und Trends zur Hand. Denn gegenwärtige Signale zeigen die Trends und Entwicklungen von Morgen an. Auf Grundlage der Signale zeichnet Flying Health das Bild eines neuen Ausgangspunkts zur Zukunftsvorhersage. Dieser neue Ausgangspunkt liegt bereits in der näheren Zukunft und ist geprägt von den sich in der Gegenwart durch Signale abzeichnenden Trends. Damit verkleinert sich die Anzahl an möglichen fernen Zukunftsszenarien. Die Vorhersage wird präziser (Reibnitz 1992; Müschenich 1998). Zur Identifizierung von Trends und Entwicklungen der Zukunft detektiert Flying Health fortwährend frühe Signale. Dazu erfolgt eine Umfeldbeobachtung, mit dem Ziel, neue Bereiche mit hohem Informationspotenzial hinsichtlich relevanter Themen zu identifizieren. Es werden naheliegende, aber auch entfernte Märkte und Branchen betrachtet, um ein ganzheitliches Bild zu skizzieren und eine sich abzeichnende Stimmung einzufangen. Das Scanning nach frühen Signalen, also ersten Anzeichen oder Anhaltspunkten eines einsetzenden Wandels, und die erfassten Informationen resultieren in einer von Flying Health aufgesetzten Trendhypothese. Diese gilt es im weiteren Verfahren zu überprüfen und über weiteres Monitoring zu validieren. Im Rahmen des Flying-Health-Pioneer-Programms werden die gewonnenen Erkenntnisse und identifizierten Trends mit Partnerunternehmen aus dem Gesundheitswesen eng in einem Sparring diskutiert und direkte und strategische Handlungen abgeleitet, um zukunftsträchtige Projekte auf den Weg zu bringen. Die gemeinsam angestoßenen Projekte nehmen gesundheitswirtschaftliche Konzepte und Strategien in den Fokus und erreichen in kürzester Zeit eine Bewertung und Evaluation der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Durch Aufzeigen der Möglichkeiten und wirtschaftlichen Faktoren sind die Projekte nicht selten wegweisend.

160

M. Müschenich et al.

14.3 Flying Health Trendhypothesen und Foresight Die Kernkompetenz von Flying Health ist das Überführen von Zukunftswissen in strategische Strukturen und die Nutzung des Flying-Health-Ökosystems, um zukunftsträchtige Ideen Realität werden zu lassen. Flying Health hat vier entscheidende Faktoren identifiziert, die die Neugestaltung der Gesundheitsversorgung determinieren. Zu diesen vier Determinanten zählen neue Technologien und Produkte, neue Akteure und Rollenverteilungen, neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle sowie eine neue Qualität der globalen Perspektive. Jede dieser Determinanten wird von einem treibenden Trend bestimmt, der ihren Einfluss auf die neue Generation der Gesundheitsversorgung kennzeichnet.

14.3.1 Neue Technologien und Produkte Trendhypothese: Digitale Medizin wird zum Standard of Care Digitale Medizin ist marktfähig. Ihre Marktfähigkeit beweisen digitale Produkte bereits heute durch Nutzennachweis in klinischen Studien, ihrem Einsatz in der medizinischen Leistungserbringung und der Erstattung ihrer Kosten durch Kostenträger. Digitale Medizin gelangt vom Experimentierstadium in die Regelversorgung und ist damit auf dem Weg zum neuen Standard of Care zu werden. Trendhypothese-stützende Signale Recherchen zu Publikationen auf PubMed, der Meta-Datenbank für medizinische Artikel, zeigen einen deutlichen Anstieg an Publikationen, die digitale Technologien in Rahmen von Studien, RCTs und Reviews behandeln. Wurden zunächst hauptsächlich webbasierte Interventionen, wie zum Beispiel Onlinekurse zur Unterstützung bei psychischen Belastungen in wissenschaftlichen Publikationen untersucht, rückt zunehmend die Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen in den Fokus der Studien. Sie untersuchen zum Beispiel die KI-basierte Bild- und Datenanalyse zur digitalen Diagnose und demonstrieren die Überlegenheit von Künstlicher Intelligenz und ihrer Teilbereiche Machine Learning und Deep Learning gegenüber Ärzten. Durch das Erkennen von Mustern, Gesetzes- und Regelmäßigkeiten können sie bei der Diagnosefindung unterstützen und zum Decision Support eingesetzt werden. Einsatzgebiete reichen dabei von Onkologie über Ophthalmologie bis hin zu Diabetes und Atemwegserkrankungen. Die meisten dieser Systeme befinden sich noch im Forschungsstadium, doch wurde 2018 das erste System zur autonomen Diagnose der Diabetischen Retinopathie ohne Zutun eines Arztes von der FDA zugelassen.1

1https://www.mobihealthnews.com/content/fda-permits-marketing-ai-software-autonomouslydetects-diabetic-retinopathy

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

161

Dass digitale Technologien ihren Schritt zu marktfähigen Produkten vollzogen haben, zeigen auch die zahlreichen Selektivverträge, die einzelne Start-ups mit verschiedenen Krankenkassen in Deutschland geschlossen haben. Über die Selektivverträge stehen die Lösungen der Start-ups den Versicherten der entsprechenden Krankenkasse als Kassenleistung zur Verfügung. Start-ups erhalten so Zugang zum Patienten und werden Teil des ersten Gesundheitsmarkts. Doch nicht nur die digitalen Produkte werden reif für den Markt, der Markt wird auch reif für digitale Produkte und hat Konzepte gefunden, ihnen den Markteintritt zu erleichtern. So besteht für Anwendungen zur Prävention die Möglichkeit über die Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP) zertifiziert zu werden. Die ZPP ist eine seit dem 1. Januar 2014 tätige Gemeinschaftseinrichtung gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland mit dem Ziel, Präventionskurse gemäß § 20 Abs. 4 Nr. 1 SGB V nach einheitlichen Kriterien zu prüfen. Teilnehmende Krankenkassen können ihren Versicherten zertifizierte Kursangebote erstatten. Die ZPP stellt einen Leitfaden für sogenannte IKT-Kurse, also Kurse, die Informations- und Kommunikationstechniken (IKT) verwenden, zur Verfügung, anhand dessen sich die Anbieter digitaler Präventionskurse zertifizieren können. Ende des zweiten Quartals 2019 verzeichneten die entsprechenden Kursdatenbanken großer deutscher Krankenkassen bereits über 150 zertifizierte IKT-Kurse. Davon waren mehr als 110 Kurse im Themenbereich Bewegung angesiedelt, etwa 30 im Stressmanagement, um die zehn in Ernährung und knappe fünf in Umgang mit Suchtmitteln.2 Beispiel

Der Kurs „Otemi“ des Start-ups Sympatient wurde Anfang 2018 als erste Lösung in das ZPP aufgenommen, die auf Virtual Reality basiert. Die App zur Bewältigung von Stress enthält geführte Meditationen, Atem- und Entspannungsübungen in virtuellen Umgebungen. Flying Health unterstützt das Start-up Sympatient seit 2017 im Rahmen des Agaplesion Gründerstipendiums. ◄ Zur Unterstützung von chronisch Erkrankten gibt es strukturierte Behandlungsprogramme, sogenannte Disease-Management-Programme (DMP), die von gesetzlichen Krankenkassen in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten angeboten werden. Seit dem Inkrafttreten des Terminservice- und Versorgungsgesetzes am 11. Mai 2019 ist es Krankenkassen erlaubt, in den DMPs auch digitale Anwendungen zu nutzen. Das Gesetz erkennt an, das Apps vor allem chronisch Kranken helfen können, ihren Patientenalltag zu organisieren. Derzeit gibt es in Deutschland Disease-Management-Programme für Patienten mit Asthma, COPD, Brustkrebs, Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2 und koronare Herzkrankheit mit einem Modul „chronische Herzinsuffizienz“.

2https://17351.zentrale-pruefstelle-praevention.de/kurse/

162

M. Müschenich et al.

Beispiel

Das österreichische Start-up mySugr bietet bereits seit 2012 eine App an, um Diabetikern das Disease Management und das Leben mit der Erkrankung zu vereinfachen. Die App ist als Medizinprodukt zertifiziert, der integrierte Bolusrechner ist ein Medizinprodukt der Klasse IIb. mySugr zeigte mit seiner App früh, dass Disease Management auch digital abgebildet werden kann. Flying Health begleitet mySugr seit 2016 und unterstützte beim Markteintritt in Deutschland. ◄ Ihren Reifegrad beweisen digitale Produkte auch durch Anwendung in der klinischen Praxis und der Erbringung medizinischer Leistung. Im ambulanten Bereich können digitale Lösungen unter anderem die Kommunikation zwischen Patient und Arzt, insbesondere zwischen Arztbesuchen unterstützen. Beispiel

Flying Health unterstützt medatixx, Anbieter eines Praxissoftwaresystems, seit 2016 dabei Gesundheits-Apps in die Praxissoftware des Arztes zu bringen. Der medatixxAppPoint ist dazu eine Plattform für therapiebegleitende Gesundheits-Apps, die eine sichere und strukturierte Datenübertragung aus den Apps in die Praxissoftware erlaubt. Die Plattform fungiert damit als Lotse und Qualitätsnachweis für Arzt und Patient, denn alle Apps, die auf dem medatixx-AppPoint zur Verfügung stehen, wurden zuvor evaluiert und nach bestimmten Kriterien ausgesucht. Ähnliches wird nun in Großbritannien verfolgt. Das Data-Science-Unternehmen IQVIA hat kürzlich eine Partnerschaft mit EMIS Health, Softwareanbieter für die britische Primärversorgung, verkündet, die es Allgemeinmedizinern in England ermöglichen soll, Apps aus einer App Library elektronisch zu verschreiben. ◄ Im stationären Bereich können digitale Lösungen zu Prozessoptimierungen führen und Triage-Funktionen übernehmen. Beispiel

Im Jahr 2016 schilderte Flying Health bei einem Symposium den potenziellen Fall eines Patienten, der in die Notaufnahme kommt und sich mit dem Chefarzt und dessen 30-jähriger Erfahrung und zugleich mit dem jungen Assistenzart im ersten Ausbildungsjahr und dem Wissen von 600 Chefarztjahren in dessen Kitteltasche konfrontiert sieht. Damals als Provokation gedacht, beginnt heute Realität zu werden. Der chatbot-basierte Symptom Checker GYANT des US-amerikanischen gleichnamigen Start-ups gibt anhand von geschilderten Symptomen eine Einschätzung zu möglichen Erkrankungen des Nutzers ab. Er greift dazu auf eine riesige Datenbank an Wissen aus wissenschaftlichen Publikationen, medizinischer Erfahrung und den eigenen erhobenen Daten zurück. In Deutschland wird der Chatbot GYANT in einem

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

163

aktuellen Pilotprojekt von einer großen deutschen Krankenhauskette zur Triage in der Notaufnahme eingesetzt. Das Projekt wurde im Rahmen des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit 2019 in Berlin vorgestellt. ◄

14.3.2 Neue Akteure und Rollenverteilung Trendhypothese: Große Technologiekonzerne übernehmen Gesundheitsversorgung Neue Akteure betreten das Gesundheitsfeld und möchten einen Teil der Versorgung übernehmen. Neben jungen Start-ups sind das auch die großen Tech-Unternehmen, wie Apple, Google und Amazon. Denn der Patient wird zum Konsumenten, ein Trend, der die Tech-Giganten auf den Gesundheitsschirm gerufen hat. Mit ihrer Erfahrung und dem nötigen Verständnis für das Verhalten von Konsumenten, ihrer Tech-Expertise und ihrem Zugang zu Millionen von Endverbrauchern möchten die Unternehmen das Gesundheitswesen erobern. Trendhypothese-stützende Signale Im September 2014 launchte Apple seine erste Health Application. Das Apple HealthKit, eine App mit der iPhone-Besitzer Gesundheitsinformationen, wie zum Beispiel Blutgruppe, Allergien und Medikamenteneinnahme dokumentieren und Vital- und Fitnessdaten automatisiert tracken können, gilt als Apples erster Vorstoß in das Gesundheitswesen. Etwa ein halbes Jahr später startete Apple ResearchKit, ein Framework zum Aufsetzen von Health-Apps für klinische Studien und ein erster Schritt Richtung Real-World-Evidence. Im März 2016 ging das Framework Apple CareKit an den Start und ermöglicht seitdem auch kommerziellen Anbietern die integrierte Entwicklung von spezialisierten Health-Apps. Neben Übernahmen von Start-ups im Bereich Daten und Gesundheit folgte der nächste Schritt erst Anfang 2018 mit dem Launch der Apple Health Records – ein Format der elektronischen Patientenakte, das den Datenaustausch mit Kliniken und anderen Healthcare Professionals ermöglichen soll. Zudem baut Apple seine unternehmenseigene Smartwatch, die Apple Watch, zum Kontrollzentrum der eigenen Gesundheit aus. Google (hier stellvertretend für alle Unternehmen der Holding-Dachgesellschaft Alphabet Inc.) vertraut auf seinem Weg in das Gesundheitswesen auf künstliche Intelligenz. Das Unternehmen fokussiert sich auf die digitale Diagnose unter Anwendung von Deep Learning in der medizinischen Bildgebung zur automatisierten Detektion von beispielsweise malignem Gewebe in der Onkologie (Liu et al. 2019) oder der Detektion von diabetischer Retinopathie (Gulshan et al. 2016). Die klinische Validierung seiner KI-basierten Analysetools brachte dem Unternehmen bereits zahlreiche Publikationen in renommierten Journals ein. In Indien erfolgte bereits ein erster klinischer Einsatz eines seiner KI-basierten Analyse-Tools. Google arbeitet zudem eng mit Pharmaunternehmen zusammen, um an Gesundheitslösungen zu arbeiten.

164

M. Müschenich et al.

Von Amazons Angriff auf das Gesundheitswesen wurde das erste Mal im August 2017 von den Medien berichtet, als Amazons Geheimprojekt „Amazon 1492“ bekannt wurde. Verstärkt beschreitet das Unternehmen seit Anfang 2018 seinen Weg in das Gesundheitswesen. Dies erfolgt unter anderem mit strategischen Kooperationen, wie dem gemeinsam mit JP Morgan Chase und Berkshire Hathaway gegründeten Gesundheitsunternehmen „Haven“. Im Jahr 2018 kaufte Amazon zudem die virtuelle Apotheke PillPack auf und begann im Juni 2019 damit, deren On-Demand-Dienst an Amazon Prime Kunden zu vermarkten. Das Unternehmen platziert zudem seinen unternehmenseigenen intelligenten Sprachassistenten „Alexa“ in den Mittelpunkt seiner Gesundheitsstrategie. Beispiel

Flying Health stellte 2016 die Frage, wer die Gesundheitsversorgung der Zukunft übernehmen wird und warf dabei die Namen Google, Amazon und Apple in die Waagschale (Müschenich 2016). Zu diesem Zeitpunkt hatte Apple lediglich sein Health, Care und Research Kit gelauncht, Google war grandios mit seiner eigenen elektronischen Patientenakte Google Health gescheitert. Und zu Amazon schwiegen die Medien. Flying Health erkannte jedoch richtig, dass Amazon die relevanten Voraussetzungen, wie technische Kompetenz, die Orientierung am Nutzer, die digitale Qualität und die globale Aktivität mitbringt, die für einen erfolgreichen Einstieg ins Gesundheitswesen vonnöten sind. ◄

14.3.3 Neue Wertschöpfungsketten Trendhypothese: Es entsteht ein digitaler Sektor der Gesundheitsversorgung. Dieser Sektor übernimmt die Steuerung der medizinischen Leistungen Durch digitale Produkte und der digitalen Vernetzung von alten und neuen Akteuren bildet sich ein „digitaler Sektor“, der dem ambulanten und stationären Sektor dauerhaft nicht nur vorgeschaltet sein wird, sondern diesen dreidimensional umschließt. Der digitale Sektor bildet sich ähnlich einer digitalen Wolke und verbindet die einzelnen Abschnitte eines Patientenpfades auf digitalem Wege. Er übernimmt damit die Patientensteuerung in die traditionellen und analogen Sektoren, angefangen bei der digitalen Arztsuche bzw. Arztempfehlung, der Online-Terminbuchung und der Plattform für digitale und analoge Medikamente und Medizinprodukte. Digitale Technologien werden so zum neuen Tor zur Gesundheitsversorgung. Im digitalen Sektor werden auch medizinische Leistungen erbracht und vergütet. Analoge Leistungen werden damit schrittweise digital substituiert und Budget wird in den digitalen Sektor abfließen. Flying Health erwartet, dass mindestens ein Drittel der physischen Arztkontakte digital abgebildet werden können und werden und schätzt, dass der digitale Sektor bis 2025 allein in Deutschland ein Marktvolumen von 100 Mrd. Euro umfasst und damit mehr als 25 % der nationalen Gesundheitsausgaben ausmachen wird.

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

165

Trendhypothese-stützende Signale Ein Beispiel für eine digital erbrachte medizinische Leistung ist die Online-Videosprechstunde. Im Mai 2018, auf dem 121. Ärztetag, wurde das Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung gelockert. Die neue Musterberufsordnung der Ärzte (MBO-Ä) sieht vor, dass Ärzte „im Einzelfall“ auch bei ihnen noch unbekannten Patienten eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien vornehmen dürfen. Eine erste persönliche Vorstellung des Patienten beim Arzt ist damit nicht mehr zwangsweise nötig. Die große Mehrheit der Landesärztekammern zog mit und sprach sich für eine Lockerung des Fernbehandlungsverbots und damit für die Möglichkeit der ausschließlichen Fernbehandlung im Einzelfall aus. So wurde der Weg geebnet für eine Vielzahl von telemedizinischen Anbietern, die auch aus dem Ausland auf den deutschen Markt drängen, darunter das schwedische Unternehmen KRY, Zava aus Großbritannien, ehem. bekannt unter dem Namen „Dr.Ed“ und das Schweizer Unternehmen Medgate in Kooperation mit den Rhön Kliniken. Beispiel

Flying Health setzte bereits 2014 mit dem Start-up Patientus auf die Videosprechstunde. Im Jahr 2015 erprobte das Start-up mit der Techniker Krankenkasse erstmals die Online-Videosprechstunde in einem Pilotprojekt, damals noch auf Termine zur Nachkontrolle limitiert aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Anfang 2016 folgte mit der AOK Nordost die nächste Krankenkasse. Die Kooperation mit Patientus ermöglichte Versicherten, eine am Institut für psychogene Erkrankungen im Centrum für Gesundheit (CfG) begonnene Psychotherapie zeitweise über eine Online-Videosprechstunde fortzusetzen. Nach erfolgreicher Übernahme des Start-ups integrierte das Unternehmen jameda Ende 2017 die Videosprechstunde von Patientus in seine Plattform für Arztempfehlung und Online-Arzttermine. Damit können Patienten, die auf jameda nach einem Arzt suchen, gezielt nach Ärzten filtern, die Videosprechstunden anbieten, und diese sofort buchen. Im Mai 2019 gaben auch der Praxissoftwareanbieter medatixx und Patientus ihre gemeinsame Kooperation zur Umsetzung der Videosprechstunde bekannt. Diese ermöglicht es künftig mehr als 35.000 Ärzten in Deutschland, ihre Patienten telemedizinisch zu betreuen. ◄ Im Juli 2019 wurde das neue Digitale Versorgungs-Gesetz verabschiedet, welches vorsieht, dass Patienten sich Gesundheits-Apps künftig wie Arzneimittel vom Arzt verschreiben lassen können, auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Ende Mai wurde das Antragsportal freigeschaltet, über das die Hersteller einer zukünftig erstattungsfähigen digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) ihren Antrag auf Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis stellen können. Beispiel

Caterna war die erste App-auf-Rezept, und das schon 2014. Sie konnte nicht nur von Ärzten verschrieben werden, sondern wurde auch von Krankenkassen erstattet. Flying Health unterstützte dabei. ◄

166

M. Müschenich et al.

In einer digitalen Gesundheitsversorgung kann die Videosprechstunde zukünftig das Rückgrat darstellen, das mit weiteren digitalen Lösungen und Services wie dem eRezept, der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und Gesundheits-Apps für eine umfassende Versorgung angereichert werden kann. Der gesamte Behandlungspfad kann rein digital abgebildet werden und verlagert sich vollständig in den digitalen Sektor. In dem digitalen Sektor ist der Point of Care daher nicht mehr die Arztpraxis oder das Krankenhaus, sondern der Alltag und das Zuhause der Patienten. Aus Point of Care wird Point of Patient. Patienten werden damit an den traditionellen Akteuren vorbeigesteuert und es entstehen neue Wertschöpfungsketten. So fließt auch Budget in den digitalen Sektor ab.

14.3.4 Neue Qualität der globalen Perspektive Trendhypothese: Gesundheitsversorgung wird flächendeckend und grenzüberschreitend erbracht Die nächste Generation der Gesundheitsversorgung wird flächendeckend und Ländergrenzen überschreitend erbracht. Digitale Medizin steht global zur Verfügung. Trendhypothese-stützende Signale Der zuvor erwähnte Chatbot GYANT wurde zunächst bekannt, weil er anhand von geschilderten Symptomen eine Einschätzung zu einer vorliegenden ZIKA-VirusInfektion abgab. Und das nicht in San Francisco, dem Sitz des Start-ups, sondern vor allem in Brasilien, wo der Chatbot per Facebook Messenger 2,5 % der weiblichen Bevölkerung im Alter von 16 bis 29 Jahren Auskunft gab.3 In kürzester Zeit konnte der Chatbot mehr als 350.000 Nutzer verzeichnen und verfügte nach eigenen Aussagen über den zweitgrößten ZIKA-Datensatz der Welt. Zusätzlich startete das Unternehmen ein Prä-Diabetes-Screening in Lateinamerika. Nun wird die weiterentwickelte Technologie in mehreren Ländern in Krankenhäusern zur Triage eingesetzt. Auch der chatbotbasierte Symptom Checker des Berliner Start-ups Ada hat sich über die deutschen Grenzen hinaus positioniert und gemeinsam mit der Melinda & Bill Gates Foundation eine Version für Afrika entwickelt. Das Münchner Start-up Smartpatient bietet währenddessen seine Lösung im Bereich Patient Engagement zur besseren Medikationsadhärenz bereits in über 30 Sprachen an und verzeichnet mehr als zwei Mio. Nutzer. Und der schwedische Telemedizinanbieter KRY expandierte in kürzester Zeit nach seiner Gründung in weitere nordische und andere europäische Länder, wie Spanien, Frankreich und Großbritannien. Zudem folge der Markteintritt in Deutschland und das Unternehmen gewann erste Kooperationspartner wie z. B. die Signal Iduna.

3https://medium.com/gyant-blog/ceo-pascal-zuta-presents-gyant-and-zika-check-results-at-vatorsplash-health-2017-a0ecc67b91e2

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

167

Damit werden ärztliche Leistungen über die eigenen Landesgrenzen hinweg angeboten. Das war bisher nicht unbedingt üblich, denn ärztliche Leistungen wurden hauptsächlich regional in Anspruch genommen. Mit der Etablierung der digitalen Medizin ändert sich das. Das liegt auch an den Distributions- und Vertriebswegen der digitalen Medizin. Diese ist im Internet, im Facebook Messenger oder im Playstore und somit global und rund um die Uhr mit nur einem Klick erhältlich. Die Qualität der Gesundheitsversorgung ist damit nicht mehr nur auf die Expertise im eigenen Land – bzw. bei dem Arzt um die Ecke – beschränkt. Für eine flächendeckende Versorgung etablieren sich derzeit auch sogenannte One-Stop-Shops, verstärkt in asiatischen Ländern mit einer hohen Bevölkerungsdichte wie China. Über die Gesundheitsplattformen der chinesischen Unternehmen WeDoctor, Tencent Trusted Doctor und Ping An Good Doctor erhalten Patienten Zugriff auf zahlreiche medizinische Leistungen, egal ob online oder offline. WeDoctor vernetzt mit seinem One-Stop-Shop monatlich 27 Mio. von 110 Mio. registrierten Patienten mit 2700 Krankenhäusern, 220.000 Ärzten und 15.000 Apotheken.4 Trusted Doctor verbindet 10 Mio. Patienten mit 440.000 zertifizierten Ärzten.5 Und Ping An Good Doctor hatte 2018 265 Mio. registrierte und knapp 55 Mio. monatlich aktive Nutzer, und vernetzte diese mit 3000 Krankenhäusern, 15.000 Apotheken, 6000 Ärzten und zahlreichen weiteren Gesundheitszentren.6 Das Unternehmen stellt zudem KI-unterstützte unbemannte One-Minute-Clinics in ländlichen Gegenden und zahlreichen öffentlichen Plätzen auf, die mit gängigen Medikamenten und Untersuchungsgeräten ausgestattet sind und über die sich Menschen online beraten lassen und medizinische Fragen klären können. Auch die Tech-Giganten in den USA treiben die neue Qualität der globalen Perspektive. Marke und Produkte sind bereits bei Konsumenten weltweit im Alltag etabliert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihre Gesundheitslösungen der ganzen Welt zur Verfügung stehen. Unternehmen aus dem Ausland werden also nach und nach Patienten steuern und abgreifen, und sich so auch im Inland etablieren. Der Blick in andere Länder, wie die USA und China, ist daher essenziell, um frühzeitig vielversprechende Unternehmen und Lösungen zu identifizieren, die für das eigene Land und die eigenen Patienten relevant werden könnten. Beispiel

Im Jahr 2017 unternahm Flying Health seine erste Delegationsreise in die USA. Das Ziel war es, relevante Innovationen und Unternehmen zu identifizieren, um sie ein

4https://ca.reuters.com/article/technologyNews/idCAKBN1IA08G-OCATC 5https://www.mobihealthnews.com/content/tencent-backed-online-healthcare-platform-trusteddoctor-secures-250m 6https://finance.yahoo.com/news/ping-good-doctors-revenue-78-124400953.html

168

M. Müschenich et al.

Jahr später, 2018, deutschen Akteuren aus dem Gesundheitswesen auf einer erneuten Delegationsreise vorzustellen. Besucht wurden dabei unter anderem Google, das Massachusetts Institute of Technology „MIT“, die Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde der Vereinigten Staaten „FDA“, das Real-World-Evidence Startup Flatiron Health, sowie die Digital Therapeutic Unternehmen Pear Therapeutics und Akili. ◄

14.4 Fazit und Ausblick Akteuren aus dem Gesundheitswesen stehen unruhige Zeiten bevor. Es wird ernst und der digitale Wettbewerb um Zugang zum Kunden – dem Patienten – wird anziehen. Umso wichtiger wird es für die Gesundheitswirtschaft, sich zu positionieren und Handlungsfähigkeit aufzubauen, um nicht von Unternehmen abgehängt zu werden, die es besser verstehen, den Menschen digital anzusprechen und zu begleiten. Während in den letzten Jahren vor allem neue Technologien, Produkte und Akteure die Bühne betreten haben, stehen in den nächsten Jahren die brutalen Änderungen der Wertschöpfungsketten im Gesundheitswesen im Vordergrund. Wer heute noch über Online-Terminbuchung oder Gesundheits-Apps lächelt wird überrollt von der Geschwindigkeit, in der aus solchen harmlos anmutenden Tools die zentralen Steuerungselemente der Zukunft werden. Und während sich diese erste neue Generation bereits im Gesundheitswesen etabliert, detektiert Flying Health bereits Signale für die zukünftigen Generationen, die weitere Zukunft: • Der Patient wird auch zum Konsumenten. Verhalten, Entscheidungsfindung und Charakteristika von Konsumenten werden dadurch zunehmend relevanter für das Gesundheitswesen. Die Ansprüche und Forderungen von Konsumenten nach einem großen Angebot, (Preis-)Transparenz, der freien Wahl und hoher Qualität sowie der On-Demand-Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen trifft damit auch das Gesundheitswesen. Durch den Einsatz innovativer Technologien verschiebt sich der Point of Care in den Alltag und das Zuhause des Patienten. Digitale Technologien können bei Screening, Diagnose, Monitoring und Behandlung unterstützen oder diese künftig vollständig übernehmen. • Intelligente Sprachassistenten, wie Amazons Alexa oder Apples Siri, entwickeln sich zum Gatekeeper des Gesundheitswesens und gelangen an die Pole-Position der medizinischen Wertschöpfungskette. Spannend wird dabei sein, welche Auskünfte der Sprachassistent gibt. Denn hier zeichnet sich ein vollkommen neues Gebiet der Suchmaschinenoptimierung ab, wobei damit zu rechnen ist, dass nur ein Ergebnis

14  Flying Health – Think Tank und Ökosystem ···

169

den Kunden erreicht – nicht viele, wie bei einer Google-Abfrage. Die intelligenten Sprachassistenten übernehmen damit auch einen nicht unerheblichen Teil der Patientensteuerung. • Digitale Biomarker werden zum Screening und zur Diagnose hinzugezogen. Die Erhebung der digitalen Biomarker kann passiv verlaufen, mithilfe von Sensoren und Smart Devices. • Ingestibles oder Digital Pills werden zum Monitoring der Medikationsadhärenz eingesetzt. Dazu sind die intelligenten Tabletten mit speziellen Sensoren ausgestattet, die bei Kontakt mit der Magensäure aktiviert werden und so den Einnahmezeitpunkt des Medikaments erfassen. • At-Home-Tests unterstützen bei Screening, Diagnose und Monitoring. Die oftmals online verfügbaren Labortests für den Heimgebrauch testen Blut-, Urin- und Speichelproben in den eigenen vier Wänden. • Vitalparameter werden remote und kontaktlos per Video(-kamera) erfasst und ausgewertet. • Behandlungen erfolgen rein digital, über Digital Therapeutics und Digital Drugs. Der gesamte Behandlungspfad kann demnach digital abgebildet werden. Damit werden entlang der gesamten Versorgung Daten erhoben – die Versorgung wird datenlastiger, und somit auch mess- und auswertbar. • One-Stop-Shops etablieren sich. Sämtliche medizinische Leistungen werden über eine Onlineplattform bezogen. • Es entstehen Data Marketplaces für Gesundheitsdaten, also virtuelle Marktplätze, auf denen Patienten ihre Daten sammeln, teilen und gezielt verkaufen können. • Die Versorgung wird wertebasiert, unter Nutzung von Pay-per-Performance-Modellen und Real-World-Evidence. Der Patient als Konsument und der Point of Care im Alltag laden auch weitere Industrien aus aller Welt ein, den Gesundheitsmarkt zu erobern. Darunter untere anderem die Einzelhandels- und Automobilindustrie. • Die Automobilindustrie interessiert sich schon länger für das Gesundheitswesen. Bereits 2017 entwickelte Flying Health mit dem großen Automobilkonzern Audi eine „Fit Driver“-Strategie, die die Gesundheit und Fitness von Autofahrern in den Fokus rückte. In den nächsten Jahren, auch getrieben durch autonomes Fahren, werden sich hier Lösungen etablieren. Die Gesundheitsversorgung von morgen ist also mehr als nur digital. Frühe Signale aus verschiedenen Bereichen, Industrien und Branchen gilt es zu beobachten, relevante Zeichen rechtzeitig zu identifizieren, die Allgemeinheit zu informieren, Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten, gemeinsam zu reflektieren und Zukunftsideen frühzeitig zu validieren und umzusetzen.

170

M. Müschenich et al.

Literatur Gulshan, V., Peng, L., Coram, M., et al. (2016). Development and validation of a deep learning algorithm for detection of diabetic retinopathy in retinal fundus photographs. JAMA, 316(22), 2402–2410. Liu, Y., Kohlberger, T., Norouzi, M., et al. (2019). Artificial intelligence-based breast cancer nodal metastasis detection: Insights into the black box for pathologists. Archives of Pathology and Laboratory Medicine, 143(7), 859–868. Müschenich, M. (1998). Die Trendgestützte Vorausschau als Methode der Strategischen Frühaufklärung für die Planung des Gesundheitswesens der Zukunft - Beispiele zu Trends und ihrer spezifischen Zukunftsrelevanz. Müschenich, M. (2016). Terra Incognita Digitalis. Digitale Revolution. Gesundheitswirtschaft. Ausgabe 5, S. 34–36. von Reibnitz, U. (1992). Szenario-Technik: Instrumente für die unternehmerische und persönliche Erfolgsplanung. Wiesbaden: Gabler Verlag.

Dr. Markus Müschenich ist Kinderarzt und war mehr als zehn Jahre Vorstand freigemeinnütziger und privater Krankenhauskonzerne. 2012 gründete er Flying Health: Das Unternehmen ist Pionier für next generation healthcare – made of bits and bytes. Flying Health entwickelt eine eigene Produkt-Pipeline für „Digital Drugs“ in verschiedenen medizinischen Fachbereichen und fokussiert sich zudem auf Corporate Foresight für Akteure aus der Gesundheitswirtschaft und Industrie. Dr. Markus Müschenich ist Gründungsmitglied und Vorstand des Bundesverbands Internetmedizin und gilt als Spezialist für die Zukunft der Medizin. Er ist Teil des Kuratoriums des Health Innovation Hubs vom Bundesministerium für Gesundheit. Laura Wamprecht  verantwortet als Geschäftsführerin bei Flying Health die Zusammenarbeit mit den Partnern aus der Gesundheitswirtschaft und Industrie. Die Biochemikerin stieß bereits 2015 als die erste Mitarbeiterin zum Team dazu und hat in dieser Zeit durch die enge Zusammenarbeit mit den Partnerunternehmen und den darin eingebundenen Start-ups einen signifikanten Marktüberblick über die noch junge Branche der digitalen Medizin im In- und Ausland sowie Markteintrittsstrategien für Digital-Health-Produkte gewonnen. Ihr Wissen hat Frau Wamprecht bereits in verschiedenen Veröffentlichungen beispielsweise im Bundesgesundheitsblatt sowie als Expertin im Rahmen von Keynote-Vorträgen und Paneldiskussionen eingebracht. Christiane Meyer verantwortetebei Flying Health den Bereich Trend Research und Corporate Foresight. Die Neurowissenschaftlerin war seit 2016 Teil von Flying Health. In dieser Zeit entwickelte sie ein treffsicheres Gespür für innovative Technologien, frühe Signale und sich abzeichnende Trends mit Relevanz für das Gesundheitswesen. Seit September 2019 ist Frau Meyer als Senior Analyst bei dem Marktforschungsunternehmen SKIM tätig.

Denkfabrik BKK Young Talents – „Aus alten Gewohnheiten ausbrechen! Wer, wenn nicht wir?!“

15

Sophie Dannenfeld, Sabrina Steffan, Julia Zink, Kathrin Wirler und Robert Ghukasyan

Inhaltsverzeichnis 15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Wer sind die BKK Young Talents?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Warum brauchen wir einen Think Tank mit jungen Stimmen aus der GKV?. . . . . . . . . . 15.4 Von der Idee zum Think Tank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Arbeiten in der GKV und New Work – geht das?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.6 Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172 172 173 173 179 183 184 184

S. Dannenfeld (*)  BKK Landesverband Nordwest, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Steffan  Stuttgart, Deutschland J. Zink  Hagen, Deutschland K. Wirler  Ingolstadt, Deutschland R. Ghukasyan  Wiesbaden, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_15

171

172

S. Dannenfeld et al.

„Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“ (Henry Ford).

15.1 Einleitung In diesem Artikel wollen wir Ihnen und Euch exklusive Einblicke in die Entstehung und die Arbeit der Denkfabrik BKK Young Talents (BKK YT) geben. BKK steht für den Begriff „Betriebskrankenkasse“. Wir Autorinnen1 sind Mitglieder der Denkfabrik und möchten insbesondere junge und motivierte Nachwuchskräfte ansprechen. Der Beitrag richtet sich aber auch an Arbeitgeber, Institute und andere Gremien, die mit dem Gedanken spielen, eine Denkfabrik zu gründen. Wir, die BKK YT, stehen exemplarisch für Think Tanks, die von etablierten Akteuren gegründet wurden, um jungen Menschen eine Stimme im Gesundheitswesen zu geben. Der Artikel teilt sich daher in drei Abschnitte: • Im ersten Abschnitt stellen wir unser Netzwerk vor. • Im zweiten Abschnitt machen wir einen Abriss der letzten drei Jahre seit unserer Gründung. Wir geben hier Tipps zu den verschiedenen Phasen und was unserer Ansicht nach elementare Erfolgsfaktoren für die Etablierung unserer Denkfabrik waren. • Im dritten Teil stellen wir einige inhaltlichen Themen unseres Think Tanks vor.

15.2 Wer sind die BKK Young Talents? Aktuell (Mitte Mai 2019), sind wir mehr als 50 junge Mitarbeiterinnen von 23 verschiedenen Betriebskrankenkassen sowie zwei Landesverbänden. Unsere primäre Aufgabe sehen wir als Impulsgeber und Querdenker. Unangepasst und mit neuer Perspektive, suchen wir den Dialog mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens. Hierzu bringen wir uns aktiv in Diskussionen ein, die sich mit der Zukunft des Gesundheitssystems beschäftigen. Zum Beispiel: Wie und wo können wir die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen nutzbar machen und wie wollen wir im Gesundheitswesen eigentlich zusammenarbeiten? In unseren Unternehmen arbeiten wird in den unterschiedlichsten Fachgebieten der Krankenkassenlandschaft. In der Denkfabrik bündeln wir so Expertise aus operativen sowie strategischen Bereichen (zum Beispiel aus den Bereichen Leistung, Krankengeld, Beiträge, Versorgung, Controlling, Prozessmanagement, Vertrieb, Recht, Auslands-

1Für

die einfache Lesbarkeit verwenden in diesem Artikel die weibliche Form, meinen aber selbstverständlich alle Geschlechter.

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

173

service, Produkt- und Unternehmensentwicklung, Kommunikation, Politik). Seit Beginn diskutieren wir auf Deutschlands Podien, wie beispielsweise den Gesundheitsforen Leipzig (Abb. 15.4) oder auf Kongressen, wie dem Hauptstadtkongress (Abb. 15.3), der DMEA und dem Gesundheitswirtschaftskongress, aber auch online (Twitter, LinkedIn und Instagram) zu gesundheitspolitischen Themen.

15.3 Warum brauchen wir einen Think Tank mit jungen Stimmen aus der GKV? In Deutschland sind 73 Mio. Menschen bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert. Die GKV ist ein Versicherungssystem, das auf jahrzehntealten Traditionen beruht, gleichzeitig aber durch permanente Reformen einer ständigen Veränderung unterliegt. Das Krankenversicherungssystem hat sich so mit der Zeit zu einem hochkomplexen Feld entwickelt, das täglich von Tausenden Experten aus verschiedensten Fachgebieten gemanagt wird. Die unmittelbare Gestaltung und administrative Steuerung obliegen den selbstverwalteten Körperschaften und deren Verbände. In den Gremien der GKV, wo Entscheidungen grundsätzlicher Bedeutung getroffen werden, sitzen jedoch ausschließlich Vertreterinnen der Babyboomer-Generation. Sie können auf der einen Seite bei Entscheidungen auf einen über Jahrzehnte gewachsenen Wissensschatz zugreifen, auf der anderen Seite können diese Erfahrungen aber zu bestimmten Vorstellungen und Denkmustern führen. Da es aber ratsam ist, Entscheidungen auf Grundlage vielfältiger Meinungen und Perspektiven zu treffen, können Think Tanks ein Instrument sein, a) junge Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Junge Mitarbeiterinnen haben noch keine Jahrzehnte an Erfahrungen. Sie haben Diskussionen noch nicht zum 20. Mal geführt und haben weniger ein „das-war-schon-immer-so-Gefühl“. b) Mitarbeiterinnen zu beteiligen. Sie kennen die Arbeitsabläufe und ihre Arbeitssituation am besten und wollen gehört sowie ernst genommen werden. Es ist daher nur konsequent, den hausinternen Innovatoren und Querdenkern eine Plattform zu bieten und ihnen so die Möglichkeit zur Weiterentwicklung zu geben.

15.4 Von der Idee zum Think Tank Im folgenden Abschnitt geht es zurück ins Jahr 2016: Wie kam es zu der Gründung der BKK Young Talents? Wer waren die relevanten Akteure und was die wichtigen Meilensteine auf dem Weg zur Konstituierung der Denkfabrik? Die BKK Young Talents gehen aus einer Initiative des BKK Dachverbandes (BKK DV) hervor. Der BKK DV ist die politische und fachliche Interessensvertretung der betrieblichen Krankenversicherungen in Deutschland. Im BKK DV sind aktuell 76 der

174

S. Dannenfeld et al.

insgesamt 88 Betriebskrankenkassen und vier BKK-Landesverbände organisiert. Die BKK YT haben ihren Ursprung in einer vom BKK DV organisierten Strategiesitzung der BKK- Vorständinnen im November 2016. Die Vorständinnen wünschten sich Impulse der jüngeren Generation, um die BKK Group im Vorfeld eines Workshops auf die Herausforderungen der Zukunft einzuschwören. Frei von alten Denkmustern sollte sich eine Gruppe von jungen Menschen der Frage widmen, welche Anforderungen sie an die Krankenkasse von morgen stellen. Der BKK DV griff diesen Impuls auf und die Idee der Denkfabrik war geboren. Es erfolgte eine deutschlandweite Ausschreibung, in der junge und motivierte Mitarbeiterinnen der Betriebskrankenkassen angesprochen wurden, sich für das Projekt „BKK Young Talents“ zu bewerben. Aus 23 Kassen erreichten den BKK DV über 85 Bewerbungen. Aus diesen wurden 28 Teilnehmerinnen ausgewählt und für ein zweitägiges Seminar im Mai 2017 nach Berlin eingeladen. Die übrigen Teilnehmerinnen wurden via virtuellen Beirat auf XING integriert. Zunächst als Moderator des Workshops und schon bald als Mentor und Ideengeber werden die BKK YT seit der Gründung von Prof. Dr. David Matusiewicz von der FOM Hochschule begleitet. Der Kick-off-Workshop stellte nach der Strategiesitzung in 2016 den zweiten, wichtigen Meilenstein in der Gründungsphase der BKK YT dar. Die schnelle Umsetzungsgeschwindigkeit zeigt, verglichen mit anderen Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen, dass der BKK DV mit der Idee eines jungen Think Tanks den Nerv der Zeit traf. Für die Leserinnen werden nach jedem Abschnitt die wichtigsten Punkte noch einmal kurz in Form einer Infobox zusammengefasst: Elementare Erfolgskriterien für die Gründung der BKK Young Talents

• Bedarf von bis dato fehlenden jungen Stimmen im Gesundheitswesen wurde entdeckt • Platzierung der Idee durch den übergeordneter Akteur BKK DV • Unterstützung der Idee durch relevante Stakeholder (Vorständinnen)

15.4.1 BKK Young Talents im ersten Jahr nach der Gründung In diesem Abschnitt geht es zurück in das erste Jahr BKK Young Talents: Was sind die Erfahrungen? Was funktionierte, was funktionierte weniger und wo/was musste überarbeitet werden? Im Mai 2017 startete das Projekt BKK YT mit einem Kick-off-Workshop in Berlin. Der Workshop brachte die Teilnehmerinnen das erste Mal physisch zusammen. Primär ging es um den Austausch untereinander und die Sammlung von Ideen und Themen. Eine erste Idee stellte die Kreierung eines BKK-weiten Slogans dar. Ein wesentliches Merkmal der BKK Group stellt – anders als bei anderen Kassenarten (zum Beispiel Ortskrankenkassen, Ersatzkassen) – die historisch gewachsene Anbindung an Unternehmen

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

175

Abb. 15.1   BKK YT beim Mitglieder-Workshop 2017. BKK Magazin für Politik, Recht und Gesundheit im Unternehmen (BKK Magazin 2017)

und Konzerne dar. Trotz dieser gemeinsamen Komponente sind BKK eigenständige und voneinander unabhängige Unternehmen. Der Vorschlag eines gemeinsamen Slogans sollte ein Zeichen an die BKK Group sein: Die BKK YT wurden von unterschiedlichen Betriebskrankenkassen entsandt, dem eigenen Selbstverständnis nach spielt dies aber bei der Arbeit der Denkfabrik keine Rolle. Bei der Arbeit in der Denkfabrik soll es darum gehen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Um zu erfahren, was junge Menschen aktuell von ihrer Krankenkasse denken und was sie sich für die Zukunft wünschen, starteten die BKK YT während des Kick-offs eine Straßenbefragung. Raus aus den Besprechungsräumen und in die Berliner Straßen zu den Kundinnen. Die Ergebnisse des Kick-offs inklusive der Straßenbefragung wurden anschließend auf dem Mitglieder-Workshop mit über 70 Vorständinnen diskutiert. Dieser Auftritt überzeugte, sodass sich der Aufsichtsrat und der erweiterte Vorstand schnell über eine Fortführung des Projekts „BKK Young Talents“ im Jahr 2018 einig waren. Genau nach so einem Format hatte die BKK Group gesucht. Jungen Menschen eine Stimme geben, die neue innovative und kreative Ideen in das System bringen ohne mit einem „ja, aber“, voreingenommen Themen zu bewerten.

176

S. Dannenfeld et al.

Nach dem ersten Workshop wurde es etwas ruhiger. Die BKK YT waren auf Veranstaltungen präsent. Allerdings fehlte es an klaren Themen und Aufgaben sowie der Vernetzung zu anderen Akteuren. Jahr 1: Elementare Erfolgsfaktoren für die Etablierung der BKK Young Talents

Neben viel Begeisterung der Teilnehmerinnen waren folgende Punkte in der Gründungsphase entscheidend: • Eine Kick-off-Veranstaltung zum Kennenlernen und zur Themenfindung • Eine Mentorin, die vor allem in der Gründungsphase unterstützt • Ein Format zur Präsentation von Ergebnissen

15.4.2 BKK Young Talents im zweiten Jahr nach der Gründung Im Frühjahr 2018 stand fest, dass das Projekt „BKK Young Talents“ fortgesetzt und weiterentwickelt werden soll. Hieraus ergaben sich folgende Fragen: Wie können sich die BKK YT über den Workshop hinaus organisieren? Wie und wo können die Themen und Ideen gesetzt werden? In der zweiten Bewerbungsphase – abermals initiiert vom BKK DV – gingen von 23 Betriebskrankenkassen 45 Bewerbungen ein. Für 28 Teilnehmerinnen ging es im Juni 2018 zum zweiten Mal zum Workshop nach Berlin. Unterstützung erhielten die BKK YT abermals von David Matusiewicz. Die geringere Bewerberinnenzahl sprach für sich: Im ersten Jahr waren die BKK YT ambitioniert, aber ziellos auseinandergegangen. Die Unsicherheiten – wofür stehen die BKK YT? Wie kann ich mich einbringen und wie soll es weitergehen? – haben sicherlich zu der geringeren Bewerberzahl geführt. Es war daher Zeit für ein selbstkritisches Fazit: Im ersten Jahr wurden wesentliche organisatorische Fehler gemacht, die nun angepackt werden sollten. Das zweite Jahr kann daher rückblickend unter dem Schlagwort „Selbstorganisation“ zusammengefasst werden. Um die Zusammenarbeit zu verbessern und die virtuellen Teilnehmerinnen mit einzubeziehen, bildeten die BKK YT Teams zu den Themen Gesundheitspolitik, Marke & Image, Medien, Markt und Wettbewerb sowie innovative Versorgungsformen. In einer Grundsatzentscheidung wurde festgelegt, dass jedes BKK YT nach der eigenen Fasson arbeiten solle. Der berufliche Hintergrund oder Tätigkeitsbereich spielte keine Rolle. So wurde zum Beispiel ein Krankengeldspezialist für den TwitterKanal (@bkkyoungtalents) verantwortlich. Die Teams wählten untereinander jeweils Sprecherinnen, deren Hauptaufgabe in der Organisation der Teams bestand. Begriffe wie „Hierarchie“ oder „Zuständigkeit“ werden von der Generation Y, denen die BKK YT angehören, kritisch gesehen. Dass die Teams sowie die dazugehörigen Titel auf den ersten Blick klassisch wirken, ist der Tatsache geschuldet, dass auf dem zweiten Workshop schlicht keine Zeit blieb. Die BKK YT sahen die Organisationsform in Teams als vorübergehende Lösung an, die nach einem Jahr bewertet werden sollte.

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

177

Ein Grundsatz bzw. Anliegen der BKK YT ist die Vernetzung mit unterschiedlichen Professionen sowie anderen Think-Camps im Gesundheitswesen. Für die Außenpräsentation und einer Themenkanalisierung wählten die BKK YT hierfür ein Präsidium – befristet auf ein Jahr. Das Präsidium sollte erste Ansprechpartnerin sein und die Gesamtkoordination der Denkfabrik übernehmen. Die Wahl der Teamsprecherinnen, Präsidentin sowie der Vizepräsidentinerfolgte in einem Pitch. Jede Bewerberin erhielt zwei Minuten Redezeit, was sie sich für die BKK YT vorstellt und wie sie diese Pläne zusammen mit der Denkfabrik umsetzen möchte. Danach folgte eine Abstimmung per Wahlschein. Das Ergebnis wurde auf dem alten Flughafengelände Tempelhof während eines gemeinsamen Picknicks mit Vertreterinnen der bvmd (Bundesverband der Medizinstudierenden) bekanntgegeben. Nach dem Workshop in Berlin gingen die einzelnen Teams mit konkreten Zielen und Aufgaben ans Werk. Die Arbeit an konkreten Fragestellungen förderte die Vernetzung innerhalb der Denkfabrik. Die Kommunikation in und zwischen den Teams wurde durch die Teamsprecherinnen und das Präsidium organisiert. Zusätzlich wurde die Kommunikation durch eine WhatsApp-Gruppe verstärkt. Wichtige Informationen konnten so schnell und unkompliziert an alle BKK YT weitergegeben werden. Regelmäßige Gruppenbesprechungen rundeten das Jahr ab. Externe Anfragen wurden durch das Präsidium gebündelt und an die richtigen Ansprechpartnerinnen innerhalb der BKK YT weitergegeben. Das Fazit des zweiten Jahres lautet daher: Ohne Organisation kann keine Denkfabrik funktionieren! Im zweiten Jahr führten die BKK YT daher eine Struktur mit Präsidium und Teams ein. Neben der Arbeit in bestehenden Teams kommen die BKK YT immer wieder in ad hoc gebildeten Taskforces zusammen, beispielsweise um Themen wie Mitarbeiterführung aus Sicht der Generation Y, New Work, „Ausbildung 2021“ und ServiceDesign zu bearbeiten. Jahr 2: Elementare Erfolgsfaktoren für die Etablierung der BKK Young Talents

Neben viel Begeisterung für ein Thema braucht ihr: • Eine interne Struktur • In Think Tanks kommen Menschen zusammen, die sich für ein Thema begeistern, aber nicht unbedingt freundschaftlich und/oder örtlich verbunden sind. Ihr müsst euch daher überlegen, wie Ihr Euch organisieren wollt: In Teams? In Netzwerken? Mit Sprecherinnen? Wer sind diejenigen, die die Strukturen organisieren? • Ein gemeinsames Leitbild und Selbstverständnis • Klar definierte Aufgaben und Ziele • Uns fehlten nach dem Kick-off Ziele, an denen wir unsere Projekte hätten ausrichten können. Erste Ziele können sein: Akzeptanz in der BKK Group oder auch den Bekanntheitsgrad (die Reichweite und Nachhaltigkeit) erhöhen.

178

S. Dannenfeld et al.

Elementare Erfolgsfaktoren für die Wahrnehmung der BKK Young Talents Wenn Ihr euch eine Struktur gegeben habt, dann ist es ratsam, Netzwerkarbeit zu betreiben: • nach innen: Beraterinnenfunktion. Das Angebot an die Kassen, auf Veranstaltungen zu sprechen, an Arbeitsgruppen teilzunehmen oder einfach nur als Ansprechpartnerin in der eigenen BKK zu fungieren, soll die Vernetzung innerhalb der BKK Group fördern. • nach außen: Wir sind auf Twitter aktiv und veröffentlichen sowohl online als auch offline Beiträge, außerdem nehmen wir an Kongressen teil, sitzen auf Podien und Diskussionsforen.

Auf der Agenda 2018/2019 stand – neben der internen Organisation – die Vernetzung mit anderen Think Tanks und Organisationen. Grundsatz hierbei war es, den Austausch und die Zusammenarbeit abseits von Gremien und Arbeitsgruppen zu organisieren, um diese individuell gestalten zu können. Hier setzen die BKK YT auf Social Media sowie dem persönlichen Kontakt.

15.4.3 BKK Young Talents im dritten Jahr nach der Gründung Neue Wege ausprobieren und reflektieren: Was war gut und was nicht so gut? Auch im dritten Jahr drehte sich alles um diese Fragen. Die Teamsprecherinnen wurden innerhalb der Teams schnell als „Vorgesetzte, Organisatorin und/oder Entscheiderin“ interpretiert. Dadurch kam innerhalb der Gruppen, aber auch teamübergreifend, nicht die gewünschte Dynamik auf. Um jedes einzelne BKK YT dazu zu inspirieren, neue Themen offen anzusprechen und dafür Mitstreiterinnen zu gewinnen, wurden die etablierten Teams bereits vor dem dritten Workshop aufgelöst und zu „Themen-Taskforces“ umorganisiert. Die bisherigen Teamsprecherinnen gibt es dennoch. Zwischenzeitlich nennen sie sich jedoch „Netzwerksprecherinnen“ – sie dienen als Ansprechpartnerinnen und bündeln die jeweiligen Themenschwerpunkte. Durch neue Taskforces kommt es so auch zu neuen Netzwerksprecherinnen. Die Mitglieder der BKK YT können dadurch leichter ein Thema in den Think Tank werfen und eigene Taskforces hierzu gründen. Um sicherstellen, dass nur diejenigen im Think Tank arbeiten, die tatsächlich die Zeit und das Interesse an den Aufgaben eines BKK YT haben, mussten sich im dritten Jahr alle jungen und interessierten Mitarbeiterinnen abermals bewerben (auch die bestehenden BKK YT). Thema und Form der Bewerbung konnten die Talents frei wählen. Anhand der Bewerbungsthemen wurden im Workshop im Rahmen eines Designsprints erste Ideen/ Umsetzungsmöglichkeiten für das kommende Jahr erarbeitet. Die Bewerbungsthemen gliederten sich grob in vier Kategorien: Digitale Chancen, Versorgungsstrukturen der

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

179

Zukunft, Krankenkasse der Zukunft aus Sicht der Kundinnen sowie neue Formate für die BKK YT und die BKKen. Einzelne Ideen werden nun nach dem Workshop in kleineren Taskforces ausgearbeitet. Das schnelle und spontane Zusammenkommen zu bestimmten Themen wird nun durch die Projektplattform (Slack) unterstützt. Dadurch hat jedes YT die Möglichkeit, sich über den aktuellen Stand der einzelnen Teams zu informieren und sich einzubringen. Durch die Plattform besteht zudem eine hohe Transparenz innerhalb der YT und die Schwarmintelligenz kann besser genutzt werden. Im dritten Workshop haben wir zudem versucht, neue Arbeitsmethoden wie zum Beispiel „Service-Design“ anzuwenden. Diese Arbeitsmethoden waren aufgrund des nur zweitägigen Treffens und der Vielfalt an Themen eine gute Möglichkeit, schnell und zielgenau an Kundinnen orientierte Lösungen zu kommen. BKK YT, die hierzu im Laufe des Jahres einen mehrtägigen Lehrgang absolviert hatten, fungieren als Multiplikatorinnen in den einzelnen Teams und stimmten die neuen Mitglieder auf die kreative Arbeitsform innerhalb des Think Tanks ein. Jahr 3: Elementare Erfolgsfaktoren für die Etablierung der BKK Young Talents

Aus den bisherigen Jahren lernen und die Denkfabrik festigen: • Netzwerksprecherinnen für die Außenkommunikation • Eigenständige Themenausarbeitung durch jedes YT • Kommunikationsplattform für eine gläserne Arbeit innerhalb des Think Tanks

Im letzten Abschnitt werden zwei Themenbereiche näher skizziert, die unter anderem von den BKK Young Talents bearbeitet werden: New Work in der GKV und Digitalisierung.

15.5 Arbeiten in der GKV und New Work – geht das? Was wissen wir eigentlich über den „Arbeitsplatz Krankenkasse“? Wie modern oder verstaubt wird aktuell in der GKV gearbeitet? Stimmen die Rahmenbedingungen noch mit dem überein, was die Generation Y von einem Arbeitsplatz erwartet? Das große Thema Arbeit 4.0 ist auch bei den BKK YT aktuell. Denn wie gearbeitet wird, hat maßgeblich Auswirkungen auf die Innovationsfähigkeit jeder einzelnen Angestellten, von Teams und ganzen Unternehmen sowie die Arbeitgeberattraktivität. Was damit gemeint ist, wird im Folgenden deutlich und basiert auf zwei BKK YT internen Umfragen. Die Umfragen wurden im Oktober 2018 und im März 2019 durch Taskforces erarbeitet und ausgewertet. Anschließend wurden die Ergebnisse auf Veranstaltungen der Gesundheitsforen Leipzig präsentiert.

180

S. Dannenfeld et al.

15.5.1 Wie wir aktuell in der GKV gearbeitet und wie in Zukunft? Aktuell besteht die Arbeit an den Arbeitsplätzen der BKK Young Talents zu großem Teil aus Einzel- und Sacharbeit (bei den Kundenberaterinnen und Sachbearbeiterinnen sogar zu 71 %). Während in anderen Tätigkeitsbereichen wie dem Personal, der IT oder dem Vertragswesen mehr Teamarbeit (50 %) und sogar agile Sprints (41 %) vorherrscht, sind es bei den Kundenberaterinnen und Sachbearbeiterinnen 36 % (Teamarbeit) und 14 % (agile Sprints). Nach Meinung der BKK YT wird sich dies zukünftig ändern: Sieben von zehn Kundenberaterinnen und Sachbearbeiterinnen sagen, dass Teamarbeit wichtiger wird und ihre Arbeit zukünftig zu zwei Dritteln aus agilen Sprints bestehen könnte. Insgesamt sehen die BKK YT in der Zukunft mehr bereichsübergreifende Arbeits- und Projektgruppen. Auch sprechen sich die BKK YT für flachere Hierarchien in ihren Unternehmen aus. Das Stimmungsbarometer ergab, dass die BKK YT Hierarchien nicht zwangsläufig als schlecht ansehen, sich aber flachere und flexiblere Strukturen wünschen. Dazu gehört beispielsweise die Teilung von Führungsaufgaben oder Ausführung in Teilzeit oder auch Jobsharing. Außerdem wurden die BKK YT zu ihrem aktuellen Arbeitsplatz befragt: Null Prozent arbeiten derzeit im Open Space (ein Konzept, dass unter anderem auf Kommunikationsflächen setzt) und mehr als 70 % in Großraumbüros, Einzel-, Zweier-, Dreier oder Viererbüros. Könnten sie ihren Arbeitsplatz selbst gestalten, würden nur 30 % die Option Großraumbüros, Einzel-, Zweier-, Dreier oder Viererbüros wählen.

15.5.2 Was ist den BKK YT wichtig? Exemplarisch greifen wir das Ergebnis einer Frage zu Wertesystemen heraus: „Welche drei Wertekategorien sind aus Sicht Deines Unternehmens und welche für Dich privat am wichtigsten?“ Die folgende Darstellung zeigt deutlich: Es gibt neben den Gemeinsamkeiten große Unterschiede zwischen den persönlichen Werten und jenen, die wir unseren Betrieben zuschreiben. Die Generationen Y und X stellen sich bei der Auswahl des Arbeitgebers zunehmend die Frage „wofür steht ein Unternehmen?“. Wir sind der Überzeugung, dass Werte bei der Wahl des Arbeitgebers für die kommenden Generationen einen noch größeren Stellenwert haben werden (Abb. 15.2).

15.5.3 Weiterentwicklungsmöglichkeiten als Schlüssel der Mitarbeiterinnenbindung Die persönliche Weiterentwicklung ist für unsere Generation der Schlüssel – wichtiger als das extra Geld oder die traditionelle Karriere. Auf die Frage, „ob sie sich vorstellen können, ihr Arbeitsleben bei derselben Arbeitgeberin zu verbringen“, antworteten knapp 50 % mit „Ja“. Das bedeutet gleichzeitig, dass die anderen 50 % sich dies nicht vor-

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

181

Abb. 15.2   Welche drei Wertekategorien sind aus Sicht Deines Unternehmens und welche für Dich privat am wichtigsten?

stellen können. Interessanterweise waren die Gründe, ob Pro oder Contra gewählt wurde, sehr identisch: Bestehen/Besteht • ein gutes Arbeitsklima, • Chancen, Ideen einzubringen, • Fortbildungsmöglichkeiten, • flexible Arbeitszeiten, • eine gute Work-Life Balance, • ein gutes Vertrauensverhältnis können sich die BKK YT vorstellen, ein Leben lang bei derselben Arbeitgeberin zu verbringen. Als Gründe gegen einen Verbleib wurden fehlende Weiterentwicklung (sehr häufig), fehlende Digitalisierung/Flexibilität (Homeoffice) sowie keine Aufstiegsmöglichkeiten genannt.

182

S. Dannenfeld et al.

Abb. 15.3   Die BKK YT beim Hauptstadtkongress

Abb. 15.4   Die BKK YT bei den Leipziger Gesundheitskongress

Zusammengefasst: Die Arbeit in der GKV wird sich ändern (müssen). Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Digitalisierung. Der nächste Abschnitt befasst sich daher mit dem Umgang mit der Digitalisierung, und zwar aus dem Blickwinkel „Digitalisierung als Chance begreifen“.

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

183

15.6 Digitalisierung Der unaufhaltsame Fortschritt hinterlässt auch im Gesundheitswesen seine Spuren. Die Fachgebiete werden immer komplexer und die Strukturen unübersichtlicher. Im Gesundheitswesen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die nur einer Neuumsetzung bedürfen. Ob Künstliche Intelligenz, Blockchain oder digitale Versorgungsangebote – die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Durch die Digitalisierungsmöglichkeiten können die Arbeitsabläufe bei den Krankenkassen optimiert, und Mitarbeiterinnen entlastet werden. Dadurch wird mehr Zeit für die wichtigen Dinge geschaffen – unsere Kundinnengespräche. Durch die Digitalisierung kann so ebenfalls die Kommunikation der Versicherten mit der Ärztin und die Behandlungsform/-zeit verbessert werden. Hier wird ersichtlich, warum wir – die YTs – diese Themen vorantreiben wollen! Die Kundenberaterinnen der Zukunft – Gesundheitsmanager – unterstützen zukünftig die Versicherten, indem sie ihnen mit den passenden Gesundheitsangeboten beratend zur Seite stehen. Den Versicherten wird zukünftig ermöglicht, ihre Anträge bequem online oder mobil zu stellen. Es existiert nicht nur ein physisches Beratungscenter, sondern auch ein digitales Servicecenter für unterwegs. Die Versicherte kann anschließend digital ihren Bearbeitungsauftrag einsehen. Durch die digitale Patientenakte kann die Patientin ihre Befunde und Termine über eine App einsehen und bearbeiten. Ein Beispiel wäre eine Erinnerungsfunktion der App, welche zeigt, wie die Tabletteneinnahmen zu erfolgen hat. Auch wären Änderungen von Arztterminen möglich, sowie eine fachärztlich übergreifende Möglichkeit des Befundabrufes. Die Patientin kann die Befunde schnell und sicher mit der gewünschten Ärztin austauschen. Über Wearables können zudem Blutdruck, Puls etc. gemessen werden und direkt übermittelt werden. Durch die Sprechstunde mit der Ärztin per Videoanruf und der Datenweitergabe der Wearables, kann die Ärztin eine Ferndiagnose abgeben und dadurch die Patientin behandeln. Ein persönliches Erscheinen der Patientin in der Praxis kann somit vermieden und den Wartezeiten vor Ort entgegengewirkt werden. Auch in Pflegeeinrichtungen gibt es zum Beispiel die elektronische Visite, bei der eine Ärztin zusammen mit dem Pflegepersonal die nächsten Schritte (Medikation, Therapievorschläge etc.) planen kann. Durch die sozialmedizinische Beratung soll die Patientin mehr Selbstbestimmung bei der Behandlung haben. Auch eine höhere Lebensqualität soll dadurch erzielt werden. Einzelne, kleine Behandlungen, können unterstützend „Pflegeroboter“ durchführen oder als dritter Arm das Pflegepersonal unterstützen. So kann der Roboter zum Beispiel die Temperatur/Puls/Blutdruck messen, die Patientinnen tragen/ umbetten, aber auch grundsätzliche Fragen mit der Patientin durchgehen. Dies kann in Form eines Bildschirmes erfolgen. Der Pflegeroboter kann zudem Betreuungsangebote wahrnehmen (Gesangsstunden, Tanzstunden etc.). Die Pflegekräfte werden dadurch bei der täglichen Arbeit entlastet.

184

S. Dannenfeld et al.

Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung können somit die Versicherten, Ärztinnen, Pflegekräfte, Krankenhäuser, die Krankenkassen und alle weiteren Akteure im Gesundheitswesen unterstützt werden.

15.7 Fazit Stellen Sie sich einmal vor: 76 untereinander konkurrierende Unternehmen rufen gemeinsam eine Initiative ins Leben, um das System insgesamt für die Zukunft aufzustellen. So könnte in Zukunft Zusammenarbeit aussehen! Diese Tatsache im Hinterkopf lässt die Gründung der Denkfabrik BKK Young Talents, zu der aktuell 53 junge Mitarbeiterinnen von 23 BKK und 2 Landesverbänden aus allen Regionen Deutschlands gehören, alles andere als banal erscheinen. Wir BKK YT haben im Grundsatz vereinbart, unserem Handeln nicht das Interesse unserer Einzelkasse oder unseres Verbandes zugrunde zu legen, sondern eine grundsätzliche Identifikation mit der BKK Group. Das macht die BKK Young Talents und unsere Arbeit in der GKV-Welt und auch im Gesundheitssystem bislang einzigartig. Denkfabriken sind bei Weitem kein Trend oder Modeerscheinung mehr. Sie treffen den Nerv der Zeit. Wir plädieren daher für mehr übergreifendende und vernetzte Zusammenarbeit. Dort, wo seit Jahrzehnten Strukturen zementiert sind und Akteure nicht mehr zusammen, sondern gegeneinander arbeiten, bieten Denkfabriken die Möglichkeit der Annäherung und der Identifikation gemeinsamer Themen. „Entweder wir finden einen Weg, oder wir machen einen.“ Hannibal (Feldherr der Antike)

Literatur BKK Magazin. (2017). BKK Magazin für Politik, Recht und Gesundheit im Unternehmen 5.

Sophie Dannenfeld  ist Referentin beim BKK-Landesverband NORDWEST. Sie hat ihren Masterabschluss an der Universität Bremen im Bereich Sozialpolitik absolviert und ist seit 2017 Mitglied der BKK Young Talents. Hier ist sie Netzwerksprecherin für Gesundheitspolitik. Sabrina Steffan ist gelernte Sozialversicherungsfachangestellte. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre (Betriebswirtin VWA) und absolvierte die Ausbildung der Ausbilder (AdA). Seit 2017 widmet sie sich bei der Bosch BKK dem Thema Prozessmanagement, Digitalisierung und Inputmanagement. Seit 2017 ist sie zudem Mitglied der BKK Young Talents und fungiert als Netzwerksprecherin für innovative Versorgungsprodukte.

15  Denkfabrik BKK Young Talents ···

185

Julia Zink ist gelernte Sozialversicherungsfachangestellte. Anschließend studierte sie Gesundheitsökonomie an der Bergischen Universität Wuppertal. Seit 2013 ist sie Referentin im Vertragsund Versorgungsmanagement der Siemens-Betriebskrankenkasse. Berufsbegleitend beendete sie im Jahr 2019 ihr Studium an der Universität Bielefeld mit dem Abschluss Master of Health Administration. Seit 2017 ist sie Mitglied der BKK Young Talents, seit 2018 Vizepräsidentin und seit 2019 Präsidentin der BKK Young Talents. Kathrin Wirler  ist gelernte Sozialversicherungsfachangestellte. Nach ihrer Ausbildung sammelte sie praktische Erfahrungen im Dienstleistungszentrum (DLZ Replacement) und Studenten-Vertriebsprojekt. Seit 2007 ist sie bei der Audi BKK tätig. Dort arbeitet sie im Kundenservice als Kundenberaterin und ist unter anderem Spezialistin im Präventionsbereich. 2017–2019 war sie Mitglied bei den BKK Young Talents. Robert Ghukasyan  ist Sachbearbeiter bei der R + V Betriebskrankenkassen im Bereich Hilfs- und Arzneimittel. Er studiert zur Zeit Gesundheitsökonomie und ist seit 2017 Mitglied der BKK Young Talents. Hier ist er im Netzwerk Marke & Image aktiv.

Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise für eine enkeltaugliche Politik

16

Luise Tavera

Inhaltsverzeichnis 16.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Hate the game, not the player . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Das Positionspapier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 188 194 200 201

16.1 Hintergrund Eine alte lateinische Rechtsregel lautet: „Qui tacet, consentire videtur“ – wer schweigt, dem wird unterstellt, dass er zustimmt (Papst Bonifatius VIII. 1298). Für die Mitglieder der DeGe war und ist dies gleichzeitig Mahnung und Appell, was sie antreibt, sich einzumischen und sich als aktiver Part des Systems zu etablieren. Jedes Mitglied stellt sich in der Bewerbung um die Mitgliedschaft mit einem kurzen Motivationstext vor, der bei Aufnahme auch auf der Internetseite veröffentlicht wird. Zudem erhält jede/r bestimmte Referententhemen seines Interessensbereichs, für die er/sie in der internen Arbeit und bei externen, themenbezogenen Anfragen oder Vernetzungsvorhaben zuständig ist. Wichtiger ist jedoch die Zusammenarbeit in selbstgewählten, themenbezogenen Arbeitsgruppen, die anhand der Referententhemen stets interdisziplinär besetzt werden. Sobald nach außen hin kommuniziert wird greift das gemeinsam vereinbarte Mindestens-Sechs-Augen-Prinzip (wobei die Realität im Schnitt sicher zwölf Augen sind). Steht eine Publikation oder ein öffentliches Dokument in L. Tavera (*)  Denkschmiede Gesundheit, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_16

187

188

L. Tavera

Planung, werden kleinere Arbeitsgruppen gebildet, die das jeweilige Vorhaben dann gemeinsam freigeben. Die DeGe ist von Hamburg bis München über ganz Deutschland verteilt und kommuniziert je nach Bedarf über spontane Einzeltelefonate und geplante Telefonkonferenzen. Neben den Treffen kleinerer Gruppen innerhalb der DeGe, die sich meist im beruflichen Kontext in der Hauptstadt ergeben, veranstalten sie mindestens zweimal jährlich ihre Jahreshauptversammlungen. Diese alternieren durch die deutschen Städte und beinhalten auch oft eine gesundheitsbezogene Führung oder den Besuch einer Institution. Der Aufwand von mindestens zwei statt nur einem festem Jahrestreffen, wie es oft üblich ist, lohnt sich. Bei diesen Treffen stellen sich neue Mitglieder vor, es werden Neuigkeiten beruflicher und auch privater Natur ausgetauscht, viele der Mitglieder kennen sich seit Jahren. Auch berufliche Veränderungen sind in so einem TalentPool immer überaus spannend. Die Jahrestreffen stellen einen der wichtigsten Aspekte der Zusammenarbeit dar, denn das Persönliche ist der Kern der DeGe und der Grund, warum sie gegründet wurde. Der persönliche Kontakt intensiviert die Zusammenarbeit jedes Mal, bringt viele neue Ideen, Projekte und Kooperationswünsche zutage und oft fühlen sich die jungen DeGe-ler/-innen im Anschluss wie elektrisiert. Es wird häufig erst im Beisammensein klar, wie gut sie vernetzt sind, dass sie jedes erdenkliche Projekt möglich machen können – wenn denn mehr Zeit da wäre. Und es erwächst auch ein gewisses Gefühl der Bestätigung daraus, denn als kreative Köpfe des Gesundheitswesens und Generationengerechtigkeitsvertreter/-innen stoßen sie mit den Anliegen und Projektideen im Netzwerk stets auf großes Interesse, auf viel Unterstützung und – in vielen Fällen – auf Zustimmung. Es gibt und wird auch zukünftig immer Themen geben, die die DeGe-ler/-innen bewegen: Neue Gesetze und Verordnungen, die Digitalisierung und ihre Auswirkungen, neue Versorgungsansätze. Es ist ihr Anspruch mitzugestalten, einen Platz an den Entscheidertischen zu gewinnen, ein Akteur unter vielen zu sein, der disruptiv denken kann, ohne Panik bei den Etablierten auszulösen, weil die disruptiven Vorschläge stets fachlich untermauert und multiperspektivisch durchdacht sind.

16.2 Hate the game, not the player Die Mitglieder der Denkschmiede Gesundheit haben nicht das Ziel, für möglichst viel Geld einen beliebigen Job zu machen. Sie möchten in ihren Berufen etwas erreichen, das den Patienten/-innen und der Gesellschaft zugutekommt. Ihr Ehrenamt verlangt von ihnen, über die beruflichen Verpflichtungen hinaus Zeit zu schaffen, die sie eigentlich gar nicht haben, um dieses Anliegen noch einmal vereint und übergeordnet in der Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung vertreten zu können. Dabei spiegeln sie ihre kollektive Meinung stets an allen Perspektiven, die sie aus den verschiedenen Fachrichtungen mitbringen. Dieser respektvolle, multidisziplinäre Ansatz ist der wichtigste Grundbaustein

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

189

ihrer Arbeit. Sie sind bislang Hinterhoflobbyisten, die in jeder Gesprächsrunde, auf Veranstaltungen und in Terminen immer die lästigen, schwierigen Fragen anhängen: „Aha. Und wie generationengerecht finden Sie das?“ „Super. Und wie zukunftssicher ist das neue Modell für das Gesundheitswesen?“ „Sagen Sie, funktioniert Ihr Gesetz auch noch für das Gesundheitssystem 2030?“ „Haben Sie denn auch die langfristigen Kostenfolgen Ihres Reformvorschlags kalkuliert?“ Und sie nehmen diese Fragen unweigerlich mit in ihre eigentlichen Berufe. Sie erreichen damit als vergleichsweise kleine Gruppierung von Gleichgesinnten, dass diese Fragen in Politik und Selbstverwaltung überhaupt gestellt werden. Sie erreichen schrittweise die Verbreitung eines neuen gedanklichen Prüfkriteriums in einer politischen Welt, in der der Denkhorizont selten über eine Legislaturperiode hinausreicht. Die Lobbyisten mit den Krokodillederschuhen und dem Aktenkoffer, die so klischeehaft sind, dass jeder denkt, es gäbe sie gar nicht wirklich, die gibt es wohl immer noch. Und sie setzen sich mit Politiker/-innen zusammen, die als Jurist/-innen oder Lehrer/-innen womöglich dankbar die scheinbar kostenfreie Nachhilfestunde in Sachen Reformbedarf des Gesundheitswesens annehmen und gut verpackte Pharma- und Industrieanliegen in ihren politischen Arbeitsalltag integrieren. „Hate the game, not the player“ – die Denkschmiede Gesundheit lobbyiert auch. Doch sind ihre Anliegen ein zukunftsfähiges, enkeltaugliches Gesundheitssystem, eine funktionierende, aktiv gestaltende Selbstverwaltung und eine Gesundheitspolitik, die die Interessen der jungen Berufstätigen angemessen berücksichtigt und eine Berufswelt schafft, die dauerhaft lebenswert ist. Was den Mitgliedern der Denkschmiede Gesundheit Rückenwind gibt, sind Generationengerechtigkeitsvertreter/-innen aus anderen Branchen. So verschieden diese Branchen auch sind, es kommt dabei zu Überschneidungen bei zum Beispiel ethischen oder Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. So geht es im Bereich der Sozialsysteme stets um die ambivalente Bestrebung, den Menschen heute viele Leistungen bereitzustellen, während die Systeme gleichzeitig wirtschaftlich bleiben müssen, um ihr Fortbestehen für die nächste Generation zu garantieren. Ob beim Thema Rente oder Gesundheit/Pflege, oft klingen die diesbezüglichen Forderungen wie eine Entscheidung für Jung oder Alt, die so gar nicht intendiert ist. Und wie die bekannten Generationengerechtigkeitsvertreter/-innen der anderen Branchen ist es auch für die DeGe das oberste Gebot, keinen Generationenkampf daraus werden zu lassen, sondern für die Interessen der Jungen so einzustehen, wie es die zahlenmäßig überlegenen Alten für sich tun, um am Ende gemeinsam Lösungen zu finden.

16.2.1 Greta, Rezo und Alex Ein großes Problem der etablierten Parteien, das jetzt zu einem drängendem wird, scheint zu sein, dass sie auf die relativ passive Haltung einer angeblich politikver-

190

L. Tavera

drossenen Generation Y gesetzt haben. Mit einer Politik für die (demografisch in der Mehrheit befindliche) ältere Generation, gewinnen sie eine große Wählergruppe für sich. Das zeigt sich, um sich einmal auf die Gesundheitspolitik zu beschränken, bei „jungen“ Themen, die so lange ignoriert wurden, wie beispielsweise Regelungen in der Psychotherapeutenausbildung, die schlechten Zustände in der Pflege, die mit einem Mangel an nachziehenden, jungen Pflegekräften einhergeht und die verpassten Chancen in der Digitalisierung des Gesundheitssystems. Die Parteien haben es gleichzeitig versäumt, junge Menschen insgesamt mitzunehmen, ihnen eine Stimme zu geben und ihre Themen auf den digitalen Plattformen anzusprechen, die doch eine so große Reichweite bieten. Nun, im Jahr 2019, sind die Parteien daher mit der Repolitisierung der Jugend sichtlich überfordert. Wer hätte auch ahnen können, dass die junge, schüchterne, aber klar und eindringlich mahnende Greta Thunberg global Massen mobilisiert? Die Antwort ist, man hätte es als politisch versierter Mensch sehr wohl erahnen können. Denn das Klimathema, das auch klar mit sozialen Gerechtigkeitsfragen einhergeht, brodelt seit Jahren, und dabei besonders in einer Generation, die global digital vernetzt ist. Die Generationen Y und Z sind in hochpolitischen Zeiten aufgewachsen: Sie bekämpfen einen offenen Rechtsdruck, sie fordern ihr Recht auf eine generationengerechte, nachhaltige Politik und einen Lebenswandel ein, der auch ihren Enkeln noch eine lebenswerte Welt hinterlässt. Was bemerkenswert ist, ist, dass die Politik der Jungen themengesteuert ist und sich damit gegen eine Politik sträubt, die rein auf ihren Machterhalt abzielt, und vor allem realpolitisch handelt. Die Politik der Jungen ist agil, wandelbar, orientiert sich an der Schnelligkeit der Smartphones und der unbegrenzten Informationen im Internet. Es mag viele Gründe geben, warum junge Menschen neben der parteipolitischen Partizipation auch andere Mittel zur Meinungsäußerung und dem Willen nach Gestaltung nutzen. Rezo erreichte mit seinem Video, „Die Zerstörung der CDU“, über YouTube mehr (junge) Menschen, als die Parteien es gekonnt hätten. Die Reaktion darauf bestärkte viele junge Menschen in ihrer Überzeugung, dass die große Koalition den Kontakt mit ihrer Lebensrealität verloren habe. Die „Fridays for Future“Bewegung wiederum nutzt das Mittel des Streiks und der Massendemonstration in globaler Koordination. Mit welchen Mitteln auch immer – von einer Politikverdrossenheit, einer Neo-Biedermeier-Generation, kann keine Rede sein. Und auch die „Parents for Future“, die „Scientists for Future“, also alles um die Babyboomer-Generation herum, springen nun den jungen Menschen bei. Das liegt wahrscheinlich daran, dass auch schon die Babyboomer, also die Eltern der Generation Y, für grüne Themen auf die Straße gegangen sind. Es ist diesmal kein Auflehnen der Generation Y gegen ihre Eltern, sondern ein wichtiges Thema von damals ist wieder aufgeblüht und auch die Elterngeneration findet sich dort wieder. Vielleicht sind die Babyboomer auch einfach erleichtert, dass ihre Kinder doch nicht so politikverdrossen und wohlstands-verwahrlost sind, wie alle behauptet haben. Eine Vereinigung der Generationen für eine lebenswerte Zukunft – genau das wünscht sich auch die Denkschmiede Gesundheit für den Gesundheits- und Pflegebereich. Der Rezo und die Greta der Denkschmiede Gesundheit heißt Alexander. Alexander Jorde

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

191

stellte im Jahr 2017 in der ARD-Wahlarena im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel Fragen zu den Vorhaben der Politik hinsichtlich der Missstände in der Pflege. Es ging ihm dabei nicht nur um die Arbeitsbedingung als junger, professionell Pflegender, sondern besonders auch um die wenige Zeit, die für die Versorgung der alten Menschen bleibt. Die Negativspirale, die ein entsprechend behaftetes Berufsbild auslöst, weil immer weniger junge Menschen sich aus Angst vor den Arbeitsbedingungen gegen diese soziale Berufung entscheiden und den Fachkräftemangel verstärken, hat bereits begonnen. Endlich rückte ein Thema ins Scheinwerferlicht der Bundestagswahl, das viele Menschen direkt oder indirekt betrifft, ob als Pflegende, Angehörige oder Pflegebedürftige. Alexander erreichte, dass das Thema verstärkt debattiert wurde. Die Politik muss verstehen, wie attraktiv eine Zusammenarbeit mit jungen, politisch engagierten Menschen ist und dass der gesellschaftliche Zusammenhalt langfristig davon abhängt. Die Themen Gesundheit und Klima, sie sind nicht nur zwei Seiten der Generationengerechtigkeits-Medaille, sie läuten mit ihrer neu erlangten Bedeutung auch einen Wandel ein, der längst stattfindet und den die Politik verschleppt hat. Die 31 % der 18- bis 29-Jährigen, die bei der Europawahl 2019 die Grünen gewählt haben (Forschungsgruppe Wahlen), sind die Zukunft.

16.2.2 Über das Wirken in der echten Politik Die jungen Menschen einzubeziehen sollte kein gnädiger Akt sein, sondern eine Verpflichtung der Politik, die die Zukunft eben dieser Menschen ausgestalten. Es ist das Mindeste, sie in diese Zukunftsplanung in irgendeiner Form einzubeziehen. Das funktioniert aber nur, wenn diese jungen Menschen gute, fachliche Vorschläge mitbringen, Likes und Follower durch mediale Präsenz können nur ein erster Schritt sein. Inhalte und im besten Fall konkrete Forderungen müssen folgen, um Visionen mit politischen Handlungen zu verbinden und so zu einem glaubwürdigen Teil der politischen Entscheidungsfindung zu werden. Auf einem öffentlichen Podium wurde der DeGe eine wichtige, vielleicht sogar eine entscheidende Frage als junger Think Tank gestellt. Gestellt hat sie ein älterer Herr, der damit freundlich-kritisch auf die Ankündigung des Positionspapiers der DeGe mit der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG) und weiteren jungen Organisationen reagierte. Er fragte nach dem Unterschied zwischen einem solchen und, im Kontext der Klimakrise, den zahllosen wissenschaftlichen Papieren zum Thema Klima, die in den Schreibtischschubladen der Politiker/-innen Staub ansetzen, und niemand in einer relevanten Position sie je gelesen habe. Seine Frage bezog sich also auf die Durchsetzungskraft junger Organisationen, und wie die DeGe mit dieser Problematik umgehen wolle. Das Beispiel des Fragestellers hätte nicht besser gewählt sein können, denn die Antwort lag auf der Hand – die erfolgreichste Lobbyistin unserer Zeit ist 16 Jahre alt. Greta Thunberg hat einen globalen Handlungsdruck auf den Klimaschutz geschaffen, der wohl einmalig ist. Bewegungen wie „Fridays for Future“ sind das, was

192

L. Tavera

Politiker/-innen zwingt, die metaphorische Schublade mit dem staubigen Klimaordner wieder zu öffnen. Außerdem wird mit den Freitagsdemonstrationen der Schüler/-innen nur das nachgeholt, was in unserem Bildungssystem ansonsten vielleicht unterschätzt wurde: Gelebte Demokratie, Partizipation und der persönliche Einsatz und das Bewusstsein für die wichtigsten Zukunftsthemen und politischen Handlungsfelder. Der Fragesteller auf dem Podium jedenfalls, war durch dieses Beispiel überzeugt. Was braucht es also für eine echte Wirkung, für echte Veränderung? Es braucht eine unabhängige Initiative mit einem legitimen, unabhängigen Anliegen, die erst Aufmerksamkeit, die Debatte und dann Handlungsdruck für ein bestimmtes Thema erzeugt. Ist der Handlungsdruck groß genug, sind möglichst konkrete, möglichst fachlich spezifische Vorschläge notwendig, die herangezogen und von den Akteuren umgesetzt werden können. Diese Vorschläge müssen multiperspektivisch beleuchtet sein und die Meinung von möglichst vielen Repräsentanten der Kohorte abbilden. Ein Musterbeispiel für eine solche Arbeit ist im folgenden Unterkapitel „Das Positionspapier“ beschrieben. Diesen konkreten Vorschlägen ist jedoch leider noch nicht auf den Weg geholfen, wenn die Organisation öffentlich mit dem Bundesgesundheitsminister interagiert, möge der auch jung und als Generationengerechtigkeitsvertreter bekannt geworden sein (Weiland 2008). Erreicht hat man erst dann etwas, wenn der/die Berichterstatter/-in einer Partei für beispielsweise das Thema Pflegeberufe im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages die Hand hebt und eine Debatte anregt. Erklärt, dass die Pflegeberufereform so nicht durchgeführt werden könne, er/sie habe mit den jungen Pfleger/-innen auf Bundesebene gesprochen, es gebe Anpassungsbedarfe, um die Berufsausbildung attraktiver und moderner zu gestalten. Erst wenn die jungen, fachlichen Organisationen an die Tische der Entscheider/-innen gesetzt und zu Gesetzesvorhaben befragt werden, hat die DeGe ihr Ziel erreicht. Die konkrete Rolle der Denkschmiede Gesundheit ist in diesem Kontext also die der strategischen Begleiterin, die interdisziplinäre Sammelstelle für die konstruktiven und zukunftsgerichteten Vorschläge der jungen Einzelorganisationen zu sein. Denn nur gebündelt hat diese Arbeit genug Schlagkraft für das, was sie als die „echte Politik“ bezeichnen. Die DeGe ist sozusagen, um es mit der Sprache des Systems ausdrücken, die kleine, junge Selbstverwaltung. Ob das Wirken der DeGe-Mitglieder ausreichend und ausschlaggebend für die „echte Gesundheitspolitik“ sein kann? Geben Sie ihr Zeit, dann werden wir sehen.

16.2.3 Junge Partner/-innen – Konzeption eines gemeinsamen Positionspapiers Die Mitglieder der Denkschmiede Gesundheit haben seit 2016 ein großes Netzwerk aufgebaut und sich eine gute Ausgangposition für das Wirken im Gesundheitssystem gesichert. Daraus folgte ein Positionspapier zur Gesundheitspolitik, das mit der Politik, den Medien und weiteren wichtigen Akteuren des Gesundheitswesens besprochen

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

193

wird. Es enthält sachliche, teils berufsgruppenspezifische Forderungen und Vorschläge, die dringend öffentliche Debatten verdienen, die man umsetzen und durchsetzen kann, wenn man es nur will. Für das Positionspapier hat die DeGe viele, aber nicht alle jungen Parteiorganisationen dazu geholt. Es hat sich nämlich nicht jede Ansprache potenzieller Partner als erfolgreich erwiesen, was durchaus an einigen Stellen ein Verlust war. Leider hat auch ein offenes Kommunikationsangebot nicht immer dazu geführt, dass sie sich einer größeren Initiative anschließen wollten – zu groß waren Vorbehalte gegen ein gemeinsames, so umfassendes Projekt. Für die DeGe war dies eine sehr aufschlussreiche und neue Erfahrung. Im Folgenden werden kurz die Begegnungen mit unterschiedlichen jungen Organisationen beschrieben und eingeordnet. In der fachlichen Diskussion kristallisierte sich bei insgesamt fünf jungen Organisationen heraus, dass eine Zusammenarbeit im Positionspapier nicht möglich werden würde. Denn anders als die Namen suggerierten, waren manche von ihnen als direkte Tochterorganisationen großer Lobbyverbände einzustufen. Entgegen der BKK Young Talents, die die DeGe trotz ihrer klaren und unverschleierten Zugehörigkeit als frei denkenden Think Tank kennen gelernt hat, waren viele andere, sich namentlich als unabhängig darstellende Organisationen, voreingenommen und nicht zu einer rein patientenorientierten oder generationengerechten Perspektive für fachliche Detaildiskussionen zu bewegen. Gerade im gesundheitspolitischen Bereich besteht die Gefahr, auf sogenanntes „Astroturfing“ (ein Begriff für gefälschte Grass Root Movements) zu stoßen, also industriegesteuerte und -finanzierte Initiativen (teils NGOs), die sich als Bottom-up-Bewegungen aus der Bevölkerung inszenieren (Wettach 2018), dabei aber klar den Interessen einer Branche verpflichtet sind. In umfangreichen Recherchen deckte ZEIT-Autor Christian Fuchs 2010 und 2016 dabei solche intransparenten Initiativen von Medizingeräte- (Fuchs 2010) und Pharmazieherstellern (Fuchs und Guinan-Bank 2016) auf. Das ist zwar ein Extremfall, aber es scheint auch Graubereiche zu geben, in denen solchen Tochterorganisationen nicht unbedingt bewusst ist, dass sie im Schachspiel aus Strategie und Machtkämpfen stets nur die Bauern sind. Für die DeGe ist hier klar: Solche Organisationen werden keine eigenen Ideen hervorbringen, die zur Entwicklung des Gesundheitswesens im Sinne des Gemeinwohls beitragen und so keine wertvollen Mitstreiter für andere Akteure sein. Das, was jungen Fachorganisationen im System Macht verleiht, ist nun mal ihre Legitimität durch Unabhängigkeit und die dadurch gegebene Offenheit und Kreativität. Anders ist dies im zuvor genannten Beispiel der BKK Young Talents, die ihre Zugehörigkeit klar nach außen tragen und intern die Funktion haben, den Alteingesessenen junge, akteursspezifische, im Inkubator entwickelte Ideen beizubringen, die bis zur Vorstands- und Verwaltungsratsebene getragen und diskutiert werden. Solche jungen Tochterorganisationen sind klar vom angeführten Negativbeispiel abzugrenzen, da sie bei den Akteuren des Systems selbst für Weiterentwicklung sorgen. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag und sind zusammen mit den jungen Organisationen mit vollständig unabhängigen und externen Hauptanliegen die Stützen eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems.

194

L. Tavera

Wieder andere junge Think Tanks der jungen Gesundheitsfachberufe-Vertretung präsentierten sich von vorne herein misstrauisch und verschlossen. Eine Einbindung in das Positionspapier, in dem sie ein eigenes Kapitel zugesprochen bekommen hätten, war aufgrund ihrer großen Skepsis undenkbar. Möglich ist, dass dieses Misstrauen aus der Unabhängigkeit der DeGe erwuchs, die durch ihre fehlende Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lobby- oder Berufsgruppe oft die Frage aufwirft, welche jungen Interessen sie denn nun vertritt. Diese Einstellung scheint aber auch den Vorbehalt zu beinhalten, dass die Interessen einer Berufsgruppe nicht mit denen einer anderen Berufsgruppe in Konsens zu bringen ist oder zumindest nicht in einem gemeinsamen Positionspapier stehen könnten. Sie beinhaltet aber sicherlich auch das Vorurteil, das im Gesundheitssystem immer besteht, nämlich, dass dieses System sich in Lobbys untergliedert und dass im Bereich der Selbstverwaltung immer Lobbyinteressen gegen Lobbyinteressen stehen. Dass dies faktisch keine Neuigkeit ist und in der Gremien- und Verbandsarbeit häufig zu schlechter Zusammenarbeit führt, ist den Mitgliedern der DeGe hinlänglich bekannt, da sie teils in solchen Gremien selbst vertreten sind und selbst Verbandsarbeit leisten. Doch dass solche Vorurteile, und das war eine der zuvor genannten neuen Erfahrungen, tatsächlich systemimmanent und altersunabhängig zu bestehen scheinen und nicht durch den Schulterschluss junger Menschen, die sich aktiv aus bestehenden Strukturen zugunsten neuer Ideen lösen, auslöschen lassen, war eine Ernüchterung. Diese Erkenntnisse brachten zwei Schlussfolgerungen mit sich. Erstens, eine gesteigerte Wertschätzung für die gleichgesinnten, wenn auch so verschieden aufgestellten und verorteten Mitglieder der DeGe untereinander, sowie den Mitgliedern der im Positionspapier partizipierenden Organisationen. Zweitens, ein neuer Blick für die Relevanz der sorgfältigen Auswahl von externen Partnern – ob jung oder alt. Denn das Alter oder die Branchen-, Lobby- oder Berufszugehörigkeit ist für die Konstellation und Außendarstellung der DeGe durchaus nebensächlich, es geht um eine Brüder- und Schwesterlichkeit im Geiste der Generationengerechtigkeit und Zukunftsperspektive, die sich nicht an bestehenden Grenzen des Status quo aufhängt.

16.3 Das Positionspapier Die Idee für ein gemeinsames Positionspapier kam vonseiten der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG). Die Stiftung hat schon häufig fachlich fundierte Positionspapiere für die Politik geschrieben und damit für die Themen Energie, Klima und viele weitere einen wichtigen Beitrag geleistet. Positionspapiere waren für die Mitglieder der DeGe jedoch initial ein vorbelastetes Thema. Grund ist, dass viele Gründungsmitglieder der DeGe ursprünglich dem Young Lions Health Parliament angehörten. Diese junge Organisation publizierte häufig Positionspapiere, hatte aber die Erfahrung gemacht, dass diese bei den Politikern nicht wie gewünscht platziert werden konnten. Als sich dann der Sponsor zurückzog, löste sich auch das junge Parlament auf und anderthalb Jahre später gründete sich die Denkschmiede Gesundheit – mit

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

195

der zentralen Forderung nach Unabhängigkeit und stärkerer Wirkkraft in der Politik, in Abgrenzung zum jungen Parlament. Mit dem Problem, dass Positionspapiere nicht an den gewünschten Stellen ankommen, sehen sich die Zukunftslobbyist/-innen der SRzG und der DeGe nicht mehr konfrontiert – das gemeinsame Netzwerk ist vielversprechend. Und so war auch die DeGe schnell wieder Feuer und Flamme für einen neuen Aufschlag. Aber damit nicht genug: Für die fachliche Legitimierung hatte der Vorstand der DeGe die Idee, bestimmte Kapitel, zum Beispiel über die Zukunft der Gesundheitsberufe, von den jeweiligen jungen Fachorganisationen selbst verfassen zu lassen. Die SRzG war sofort einverstanden und begrüßte den Vorschlag. So machte sich die DeGe ans Werk und sprach junge Partnerorganisationen an. Die jungen Ärzte/-innen der DeGe, als Referent/-innen für Medizin, medizinische Versorgung und die medizinischen Berufe, traten in Kontakt mit den Kollegen/-innen aus dem Bundesverband junger Medizinstudent/-innen. Der Bundesverband der jungen Pflege war ebenfalls schnell als Freund und Verbündeter zu gewinnen. Eine neue Gruppierung, die Blaupause Gesundheit, war eine neue Partnerin voller junger, motivierter Menschen zum Thema der psychischen Gesundheit in den Heilberufen. So fanden sich Mitstreiter/innen, mit denen sich in beinahe einem ganzen Jahr ehrenamtlicher Arbeit ein vollständiges Positionspapier entwickelte, auf das alle sehr stolz sind (Abb. 16.1). Um einen Einblick in die Themenvielfalt des Positionspapiers und die Anliegen der jungen Gesundheitssystemler/-innen zu geben, werden im Folgenden die Kernforderungen aufgezeigt. Im Positionspapier selbst sind diese Forderungen natürlich durch wissenschaftliche Quellen untermauert und aus der derzeitigen Debatte hergeleitet. Es ist jeweils gekennzeichnet, wer die Autoren/-innen der jeweiligen Kapitel sind. Die Stiftung Generationengerechtigkeit und die Denkschmiede Gesundheit sprechen sich für eine konstruktive und fachliche Zusammenarbeit der Generationen aus. Erfahrene Politiker und Selbstverwalter des Gesundheitssystems sollten enger mit jungen Menschen aller Fachrichtungen und Lebenssituationen in Organisationen zusammenarbeiten. Wir fordern eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den Generationen und eine Einbeziehung unserer Anliegen in gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse (Abb. 16.2).

16.3.1 Generationengerechtes Gesundheits- und Pflegesystem Wir fordern: • Eine bis ins letzte Detail ausgearbeitete Prognose der Kosten einer möglichen Rothgang-Pflegereform oder sonstiger Reformvorschläge seitens der Regierungsoder Oppositionsparteien, die uns langfristig erwarten werden. • Neue Steuern für Tabak, besonders zucker- oder salzhaltige Lebensmittel und Alkohol zugunsten der Vorsorgefonds des Gesundheitswesens.

196

L. Tavera

Abb. 16.1   Eine Gesundheitspolitik – Positionspapier

16.3.2 Eine Gesundheitspolitik für unsere Zukunft 1. Digitalisierung – nutzen statt verteufeln (Ein Kapitel der Denkschmiede Gesundheit). Wir fordern: – Eine übergeordnete Vision der Digitalisierung im Gesundheitswesen. – Maßnahmen zur Unterstützung der Digital- und Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und bei Fachkräften.

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

197

Abb. 16.2   Ausrichtung und Inhalte des Positionspapiers

– Maßnahmen zur Stärkung der digitalen Souveränität. – Rahmenbedingungen für einen zeitlich und örtlich unabhängigen Zugang zu allen persönlichen Behandlungsinformationen und Gesundheitsdaten. – Neue passende Rahmenbedingungen für einen Zugang innovativer digitaler Produkte in den ersten Gesundheitsmarkt und in die Regelversorgung unter Beachtung bestmöglicher Sicherheit und vorhabengerechter Schnelligkeit. – Transparenz über und Konsequenz bei der Schaffung von Interoperabilität der Vernetzung im Gesundheitswesen. – Auf europäischen Datenaustausch ausgerichtete Standards und Schnittstellen in der Vernetzung. – Ausbau der Rahmenbedingungen für Fernbehandlung und Fernverschreibung. – Bundeseinheitliche Aufsicht für Versorgungsforschung und zentrale Vertrauensstelle Versorgungsforschung auf Bundesebene.

198

L. Tavera

– Schaffung eines Zugangs zur Nutzung von Gesundheitsdaten für Prävention und Gesundheitsförderung. – Rahmenbedingungen zur Datenteilung schaffen. – Stärkung vulnerabler Personengruppen im Zugang zu digitalen Gesundheitstechnologien. 2. Mentale Gesundheit – Prävention und Akzeptanz (Ein Kapitel der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen) Wir fordern: – Arbeitswelt reformieren und Stressquellen beseitigen. Die zunehmend erwartete Flexibilität, Mobilität und ständige Verfügbarkeit im Beruf, gepaart mit unsicheren Zukunftsaussichten, haben verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von jungen Beschäftigten und Studierenden. Diese Auswirkungen müssen endlich ernst genommen und die Ursachen beseitigt werden. – Niedrigschwellige Angebote zur Gesundheitsförderung vor Ort bereitstellen. Damit Angebote wahrgenommen werden, müssen sie nah am Alltag der Menschen und verfügbar sein: zum Beispiel Bewegungskampagnen am Arbeitsplatz. Auch das Sportangebot an Schulen muss ausgebaut und effektiver gestaltet werden. – Digitalisierung nutzen und Onlineangebote zu Prävention und Bildung entwickeln. Apps und Spiele können gesundheitliches Wissen vermitteln und zum Beispiel zu Bewegung motivieren, die Entwicklung eben solcher Onlineangebote sollte stärker gefördert werden. – Gesundheitssystem gerechter gestalten. Die Arbeit im Gesundheitssektor soll attraktiver werden, um Fachkräftemangel und Überlastungen des Personals entgegenzuwirken. 3. Gesundheitskompetenz – über mündige Patienten (Ein Kapitel der Denkschmiede Gesundheit) Wir fordern: – Die Evidenzlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung muss aufgegriffen und darauf aufbauend ein detaillierter Ansatz erarbeitet werden, wie gesundheitliche Bildung kurz-, mittel- und langfristig verbessert werden kann. – Mittels Health Literacy bestehende Angebote zu optimieren und neue Angebote zu schaffen, um die Gesundheitskompetenz der heranwachsenden Generation bereits frühzeitig zu stärken. Zum Beispiel mit einem kostenlosen Angebot von HealthLiteracy-Kursen für werdende Eltern, Online-Ressourcen für Eltern, Kinder und Jugendliche, sowie Lehrer/-innen. – Die Kultusministerkonferenz hat das Thema „Gesundheit (und Ernährung) als Schulfach“ unzureichend behandelt und sollte dies, zum Beispiel auf der nächsten Zusammenkunft im Dezember 2018, endlich verbindlich behandeln. Sie soll beschließen, dass dieses Schulfach in allen Bundesländern für alle Schüler/-innen verpflichtend eingeführt wird. 4. Hausarztzentrierte Versorgung – sicherstellen und weiterdenken (Ein Kapitel der Denkschmiede Gesundheit)

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

199

Wir fordern: – Die Stärkung der Rolle der Hausärzte/-innen als erste Anlaufstelle der Patient-/ innen, auch für junge Menschen. – Attraktivere Arbeitsplatzbedingungen für Hausärzte/-innen in ländlichen Regionen statt „Landarzt-Quote für Medizinstudierende“.

16.3.3 Die Zukunft unserer Gesundheitsberufe 1. Hilfe für Helfende – Mentale Gesundheit im Gesundheitswesen (Ein Kapitel der Blaupause Gesundheit) Wir fordern: – Über einen Ausbau von Präventionsprogrammen und niederschwelligen Beratungs- und Hilfsangeboten das Thema der psychischen Gesundheit im Gesundheitswesen zu verankern und gerade dort die Akzeptanz psychischer Erkrankungen zu stärken. – Die Bearbeitung struktureller Ursachen von psychisch belastenden Faktoren in der Arbeit im Gesundheitswesen, darunter Personalmangel, unzumutbaren Arbeitsbedingungen und Bürokratisierung. 2. Mediziner/-innen (Ein Kapitel des Bundesverbandes der Medizinstudierenden (bvmd)) Wir fordern: – Neben interprofessionellem Unterricht, vor allem zu Kommunikation und Teamarbeit, auch für alle Studierende Ausbildungsabschnitte auf interprofessionellen Ausbildungsstationen (IPSTAs). – Das Erlernen von Kompetenzen für ein kritisches Risiko- und Fehlermanagement im Medizinstudium. – Mehr Lehre über die Grundlagen des deutschen Gesundheitssystems und der Gesundheitsökonomie, insbesondere auch deren ethische Implikationen. – Sowohl verpflichtende als auch darüberhinausgehende fakultative Möglichkeiten der Lehre digitaler Kompetenzen. 3. Pflegeberufe (Ein Kapitel des Bundesverbandes Junge Pflege) Wir fordern: – Die Neujustierung der gesellschaftlichen Rolle von Pflege- und Therapieberufen auf der Grundlage veränderter Arbeitsbedingungen, durch die die Qualität der Pflege wieder in den Fokus rückt und die Wertschätzung gegenüber den Pflegenden sichtbar wird. – Eine verbesserte Ausbildungsqualität durch wissenschaftlich fundierte Praxisanleitungen, mehr Gestaltungsräume für angehende Pflegekräfte; curricular verankerte interprofessionelle Lehrangebote sowie flächendeckende durchlässige

200

L. Tavera

Aufstiegschancen auch im Bereich der akademischen Entwicklung, um neue Handlungsfelder aktiv mit entwickeln und kompetent ausführen zu können. 4. Akademisierung Pflege und Gesundheitsberufe (Ein Kapitel der Denkschmiede Gesundheit) Wir fordern: – Die Schaffung von strukturellen Voraussetzungen zum Einsatz von Pflegenden mit einem Bachelor- und Masterabschluss sowie eine klare Definition von Aufgabenund Tätigkeitsfeldern in der akutklinischen, langzeitpflegerischen und ambulanten Pflege. – Finanzielle Förderung der Errichtung von flächendeckenden Pflegedepartments an deutschen Universitäten sowie die Stärkung und den Ausbau von pflegewissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. – Stärkung von Pflegeforschung und der Dissemination von Forschungsergebnissen in die Pflegepraxis.

16.4 Ausblick Die Denkschmiede tritt nicht besonders radikal und marktschreierisch in ihren Diskussionen und Forderungen auf. Es ist auch für die Zukunft wichtig, einem Generationenkampf vorzubeugen und die Zusammenarbeit mit einem respektvollen Umgang mit den Etablierten des Systems und den weiteren jungen Köpfen zu schaffen. Sie möchte auch weiterhin als ansprechbarer Akteur erkannt werden und in diversen Landes- und Bundesgremien mitwirken, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beschäftigen. Ein Teilziel haben die jungen Akteure damit bereits erreicht. Aber der Weg hin zu echter Einflussnahme ist jedes Mal, also für jedes Anliegen, wieder ein neuer Kampf. Was ihnen hilft, ist das Engagement einiger mächtiger Etablierten des Gesundheits- und Pflegesystems, die die Denkschmiede Gesundheit gezielt in die inoffiziellen Gesprächskreise laden und ihnen einen Platz am Tisch verschaffen – auch zukünftig wird diese Förderung durch Einzelpersonen ausschlaggebend sein für eine Initiative, die ihren Platz im System nicht durch einen Paragrafen im Sozialgesetzbuch, sondern nur durch ihre Unabhängigkeit und ihre wichtigen zukunftsfähigen Themen erstritten hat. Das wachsende Interesse an jungen Stimmen gibt der DeGe, die seit 2016 für ihre Anliegen einsteht, nun endlich zusätzlichen Rückenwind und eine gewisse Anerkennung in den sonst so unnachgiebigen Entscheidungsstrukturen im Gesundheitswesen. Nachdem die Gründerinnen und Gründer diese Meilensteine der Einflussnahme erreicht haben, kann die Initiative zeitnah größer werden und weitere Engagierte erlesen, die einen Mehrwert für die Anliegen der jungen Generation im Gesundheitswesen schaffen können.

16  Denkschmiede Gesundheit – junge Expertise ···

201

Literatur Fuchs, C. (2010). Fast echt betroffen. Medizinkonzerne benutzen für getarnte Lobbyaktionen leidende Patienten, um ihre Produkte geschickt zu vermarkten. Hg. v. Zeit Online. https://www. zeit.de/2010/19/Patienten-Lobbyismus. Zugegriffen: 2. Sept. 2019. Fuchs, C., & Guinan-Bank, V. (2016). Vitamin L. Künstliche Vitamine sind ein Milliardengeschäft. Ob gesunde Menschen sie wirklich brauchen, ist umstritten. Die Industrie steuert darum geschickt die öffentliche Meinung. Hg. v. Zeit Online. https://www.zeit.de/wirtschaft/2016-04/ vitamine-wirkung-gesundheit-risiko-pharmaindustrie-lobbyarbeit/komplettansicht. Papst Bonifazius VIII. (1298). Liber sextus decretalium 5,12,43. In: Corpus Iuris Canonici. Weiland, S. (2008). CDU-Rentenkritiker Spahn. “Das wird uns noch auf die Füße fallen”. Hg. v. Spiegel Online. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/cdurentenkritiker-spahn-das-wird-uns-noch-auf-die-fuesse-fallen-a-545864.html. Zugegriffen: 2. Sept. 2019. Wettach, S. (2018). Lobbyismus. Unternehmen gründen undurchsichtige Bürgerinitiativen – und die EU finanziert sie mit. Hg. v. WirtschaftsWoche. https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/ lobbyismus-unternehmen-gruenden-undurchsichtige-buergerinitiativen-und-die-eu-finanziertsie-mit/20989640.html. Zugegriffen: 2. Sept. 2019.

Luise Tavera ist Gesundheitsökonomin, seit mehreren Jahren im Gesundheitswesen tätig und derzeit zudem berufsbegleitende MBA-Studentin an der Universität Potsdam. Ihre beruflichen Stationen führten sie von der Strategieberatung von internationalen Großkonzernen sowie kleinen Start-ups im Gesundheitswesen über die Bearbeitung von Finanz- und Systemfragen im GKV-Spitzenverband und in die translationale Medizin des Berlin Institute of Health der Charité Berlin. Seit 2014 setzt sie sich ehrenamtlich für eine zukunftsorientierte Gesundheitspolitik ein. In der 2016 eigens gegründeten Initiative der jungen Generation im Gesundheitswesen, der „Denkschmiede Gesundheit“ arbeiten viele Young Professionals als Zukunftslobbyisten an diversen selbstgewählten Themen, die Luise als erste Vorsitzende übergeordnet vertritt. Große Visionen und kleine Projekte setzen an allen Ecken an und fordern mit langem Atem und ebenso langfristigem Strategiedenken den Status quo heraus. Luise hat ihr berufliches und auch einen Teil ihres privaten Lebens dem Gesundheitswesen verschrieben und ist auf der permanenten Suche nach Menschen und Organisationen, die diesen Enthusiasmus teilen und den Weg hin zu einem zukunftsfähigen Gesundheitswesen mitgehen möchten.

Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung der Medizinstudierenden als Stimme der zukünftigen Ärzteschaft

17

Julian Pascal Beier, Constanze Czimmeck und Sylvia Hartmann

Inhaltsverzeichnis 17.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 17.2 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

17.1 Hintergrund Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. (bvmd) ist die legitimierte Interessenvertretung aller ca. 96.000 Medizinstudierenden an deutschen Fakultäten. Ihr Ziel ist es, die Medizinstudierenden Deutschlands untereinander zu vernetzen, ihre Interessen zu vertreten und den internationalen Austausch zu fördern. Auf den dreimal im Jahr stattfindenden Mitgliederversammlungen werden sowohl der Geschäftsführende Vorstand wie auch der Erweiterte Vorstand gewählt, welcher sich in sieben Arbeitsgemeinschaften und zwei Sparten aufteilt: • • • • • •

AG Medizinische Ausbildung AG Gesundheitspolitik AG Public Health AG Medizin und Menschenrechte AG Sexualität und Prävention AG Europäische Integration

J. P. Beier (*) · C. Czimmeck · S. Hartmann  Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. (bvmd), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_17

203

204

J. P. Beier et al.

• AG Austausch (gefördert durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)) – AG Famulaturaustausch – AG Forschungsaustausch – AG Public-Health-Austausch • Trainingskoordination • Projektkoordination Dabei beschäftigen sich die Bundeskoordinatoren/-innen der verschiedenen AGs vor allem mit inhaltlichen und politischen Aspekten, zum Beispiel dem Masterplan Medizinstudium 2020, Digitalisierung, Medical Mobility, Health in all Policies, dem Klimawandel etc. Ebenso erarbeiten sie in Kooperation mit den Lokalvertretungen Positionspapiere, welche auf den Mitgliederversammlungen abgestimmt werden und als Basis der externen Arbeit dienen. Die AG Austausch organisiert bis zu 400 Studierendenaustausche jährlich weltweit im Rahmen der Mitgliedschaft bei der International Federation of Medical Students Association (IFMSA). Das Projektwesen umfasst 41 nationale Projekte (Stand Juni 19), die von Sexualaufklärungsprojekten in Schulen (Mit Sicherheit Verliebt) über Klimawandel und Gesundheit (Mensch und Umwelt) bis hin zum Teddybär-Krankenhaus reichen, welches das Arztgeschehen für Kinder greifbar machen will. Die Projekte arbeiten vorwiegend in Lokalgruppen an verschiedenen Hochschulstandorten und werden auf nationaler Ebene durch die bvmd koordiniert. Für den Kompetenzerwerb der Medizinstudierenden sowie deren Soft Skills ist die Trainingssparte verantwortlich. Diese vermittelt Trainings für die Mitgliederversammlungen, Fachschaften, Projekte und weitere. Als Trainer fungieren Medizinstudierende: Jährlich werden etwa 15 Medizinstudierende im Rahmen eines Training-New-TrainersSeminar im Peer-Teaching zu Soft-Skill-Trainern ausgebildet. Auf europäischer Ebene koordiniert die AG Europäische Integration die Mitarbeit in der European Medical Students Association (EMSA). International ist die bvmd Teil der weltweiten Dachorganisation der Medizinstudierenden, der International Federation of Medical Students Associations (IFMSA), welche zur weltweiten Vernetzung der Medizinstudierenden beiträgt, sich insbesondere in den Themen Public und Global Health einsetzt und die Plattform für die durch die AG Austausch organisierten Famulatur-, Public Health- und Forschungsaustausche bietet.

17.1.1 Die Struktur der bvmd Auf den mehrmals jährlich stattfindenden Mitgliederversammlung treffen sich Delegierte der Lokalvertretungen (meist der Fachschaften, lokalen AG-Austausch-Gruppen und Projekten), welche einmal jährlich den achtköpfigen Geschäftsführenden Vorstand und den ca. 30-köpfigen erweiterten Vorstand wählen. Zudem gibt es auf den Mitgliederversammlung Plena, aber auch inhaltliche Arbeitsphasen der AGs, Trainings, ein nationales

17  Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung ···

205

Fachschaftenforum und einen Markt der Möglichkeit, auf dem sich die verschiedenen Projekte vorstellen können. Die Mitgliederversammlung der bvmd ist darauf ausgelegt, durch interaktive Konzepte sicherzustellen, dass die Stimme eines jeden Medizinstudierenden gehört werden kann, jegliche Idee berücksichtigt wird und wir die Gemeinschaft fördern. Im Schnitt treffen sich auf einer Mitgliederversammlung ca. 150–200 Studierende. Weiterhin sind oft auch Gäste aus anderen (meist medizinnahen) Studiengängen und Ausbildungsberufen anwesend, welche durch die bvmd zur Stärkung interprofessioneller Zusammenarbeit eingebunden werden. Zusätzlich findet jeweils am ersten Dezemberwochenende der Bundeskongress der bvmd statt, welcher mit ca. 500 Teilnehmenden eine größere Zielgruppe erreicht. Dort gibt es keine Plena, im Vordergrund stehen Vernetzung und Kompetenzerwerb durch ein breites Spektrum an Workshops unterschiedlichster Art und Themen. Der Vorstand der bvmd arbeitet durch die deutschlandweite Verteilung ihrer Mitglieder hauptsächlich digital. Wöchentlich finden Video-/Telefonkonferenzen der AGs/Sparten statt, sowie monatlich ein Chat des erweiterten Vorstands. Für größere Projekte gibt es zudem drei bis acht Vorstandswochenenden. Um auch die Studierenden ohne Amt mit in die inhaltliche Arbeit außerhalb der Mitgliederversammlungen einzubeziehen, gibt es sogenannte AG-Wochenenden und oft werden auch projekt-/themenbezogene Taskforces gegründet. Beispiele der inhaltlichen Arbeit finden Sie weiter unten im Abschn. 17.1.3 „Die bvmd als Think Tank im Gesundheitswesen“.

17.1.2 Die Geschichte der bvmd Die bvmd besteht in ihrer jetzigen Form seit 2004: In diesem Jahr wurde sie durch den Zusammenschluss der Fachtagung Medizin e. V. (FTM) und dem Deutschen Famulantenaustausch (dfa) gegründet. Die Fachtagung Medizin entwickelte sich aus der 1947 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Deutscher Medizinfachschaften, welche als erste deutsche Medizinstudierendenorganisation legitimiert war, die Belange der Medizinstudierenden zu vertreten. 1950 wurde diese als Fachverband Medizin in den Verband deutscher Studentenschaften (VDS) aufgenommen. 1951 wurde die International Federation of Medical Student’s Associations (IFMSA) gegründet. Die Fachtagung Medizin war eines ihrer Gründungsmitglieder und konnte sich somit auch international für die Belange deutscher Medizinstudierender einsetzen. Schon früh wurden Famulantenaustausche, insbesondere mit den USA, organisiert. Anfangs gründete sich dafür der Verband der Freunde und Förderer des Medizinstudiums e. V. (FFM), um die zunehmenden organisatorischen Aufgaben zu übernehmen. 1971 entstand aus dem FFM der Westdeutsche Famulantenaustausch, welcher sich nach der Wiedervereinigung in Deutscher Famulantenaustausch (dfa) umbenannte. Mit der Zeit kam es zu zunehmenden Überschneidungen und Reibungen in der Arbeit der Fachtagung Medizin und dem deutschen Famulantenaustausch. Daher bildete sich vorerst der lockere Zusammenschluss der German Medical Student’s Association (GeMSA) für die inter-

206

J. P. Beier et al.

nationale Vertretung. Im Mai 2004 beschlossen die Mitglieder beider Organisationen auch offiziell zu einem Verein, der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland, zu fusionieren. 2008 wurde der Deutsche Famulantenaustausch aufgelöst, nachdem die Arbeitsbereiche beider Vorgängerorganisationen Schritt für Schritt in den neuen Gremien gemeinsam organisiert wurden.

17.1.3 Die bvmd als Think Tank im Gesundheitswesen – Das Berufsmonitoring Seit 2014 beteiligt sich die bvmd am Berufsmonitoring Medizinstudierende. Dies ist eine Befragung unter Medizinstudierenden, welche von der Uni Trier in Kooperation mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dem medizinischen Fakultätentag und der bvmd alle vier Jahre (2010, 2014, 2018) durchgeführt wird. In dieser werden die Fachpräferenzen der Studierenden und ihre Vorstellungen und Prioritäten für das spätere Berufsleben erfragt. Die bvmd fordert einen Paradigmenwechsel in der Arbeitskultur. Die Vorstellungen der Generation Y und Z sind andere als die, mit welchen die jetzigen Ärzte/-innen in ihr Berufsleben gestartet sind. Besonders in den Bereichen Feedbackkultur, Hierarchien und Work-Life Balance gibt es Differenzen. So zeigte der letzte Berufsmonitor von 2018, dass viele Studierende bei der späteren Fachwahl Wert auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sowie geregelte Arbeitszeiten als auch flexible Arbeitszeiten legen. Ebenso geht der Trend von der Einzelpraxis hin zur Gemeinschaftspraxis oder einer Anstellung in einem MVZ. Die bvmd tritt daher aktiv dafür ein, eine Veränderung in der Arbeitskultur herbeizuführen und sich für die Vorstellungen und Wünsche der Medizinstudierenden einzusetzen.

17.1.4 Der Masterplan Medizinstudium 2020 Seit dem Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD 2013 steht fest, dass das Medizinstudium zum Jahre 2020 reformiert werden soll, wofür ein „Masterplan Medizinstudium 2020“ durch eine Bund-Länder-Gruppe erarbeitet werden sollte. Bestandteile der Reform sollten vor allem die Stärkung der Allgemeinmedizin, die Förderung von Praxisnähe in der Ausbildung, Interprofessionalität und Wissenschaftlichkeit darstellen. Bis zur Veröffentlichung des fertigen Masterplans im März 2017 setzte sich die bvmd stark dafür ein, dass auch die Meinungen der Medizinstudierenden bei den Reformen gehört wurden. So besuchte sie verschiedene Treffen der Kultus- und Gesundheitsministerkonferenz, traf sich mit verschiedenen Politikern, wie auch dem letzten und aktuellen Gesundheitsminister, organisierte Umfragen, um die Meinungen der Medizinstudierenden einzuholen und nutzte diese Punkte für ihre Arbeit. Auch organisierte sie Aktionstage und Demonstrationen (zum Beispiel zum Thema „#RichtigGuteÄrzteWerden“ und fairem Praktischen Jahr) und versuchte, den

17  Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung ···

207

Prozess auf allen Ebenen zu erreichen. Begleitet wurde dieser Prozess vonseiten der bvmd aus verschiedenen Vorstandsperioden und Ämtern, mit dabei waren durchgängig vor allem der extern arbeitende Teil des geschäftsführenden Vorstandes (Präsident/-in, Vizepräsident/-in für Externes und Vizepräsident/-in für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit), sowie die Arbeitsgruppen für Medizinische Ausbildung und Gesundheitspolitik. Anfangs fanden regelmäßige Telefonkonferenzen des extern arbeitenden geschäftsführenden Vorstands statt, bei welchem damals vor allem die Entscheidungsgewalt lag. Die Arbeit wurde aber von allen zuvor genannten ausgeführt. 2016 gründete sich aus diesen Personen die Masterplangruppe, in welche auch die gemeinsame Entscheidungskompetenz gelegt wurde, wofür regelmäßige Absprachen und ein intensiver Austausch nötig waren. Zu diesem Zweck wurden auch die Übergabeprozesse der AGs fusioniert. Durch die positiven Erfahrungen in der Gruppe zu den Themen des Masterplans wurden auch andere politisch relevante Fragestellungen und Aufgaben aus dem Pressebereich in diese Gruppe gelegt. Seit 2017 öffnete sich die Gruppe, sodass auch andere ehemalige Vorstandsmitglieder und andere interessierte Medizinstudierende in der Gruppe mitwirken können. Durch die größer werdende Gruppe lassen sich mehr Themen behandeln, aber auch die Arbeitsweise musste sich dem anpassen. Mittlerweile übernimmt die Masterplangruppe auch über den Bereich des Masterplans Medizinstudium 2020 hinaus viele Punkte der externen Arbeit.

17.1.5 Palliativmedizin im Medizinstudium – eine Erfolgsgeschichte der bvmd „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ – Dame Cicely Saunders (1918 – 2005), englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin, Wegbereiterin der Hospizbewegung und der Palliativversorgung

Die Arbeitsgemeinschaft Palliativmedizin entstand im Jahre 2004 als Gruppe innerhalb der German Medical Students’ Association (GeMSA), einer Kooperation zwischen FTM und dfa. Sie stellte somit auch eine der ersten Arbeitsgemeinschaften der im selben Jahr gegründeten bvmd dar und war deren erste hochschul- bzw. studienpolitische Aktivität, geboren aus der Überzeugung, dass ein anderer, patientenzentrierter Umgang mit Tod und Sterben im Medizinstudium notwendig war, welches diese Thematik allenfalls am Rande und als negative Nebenerscheinung der ärztlichen Tätigkeit in den einzelnen Fachgebieten, jedoch nicht übergreifend behandelte. Das erklärte Ziel der AG Palliativmedizin war deshalb die „Verbesserung der Ausbildung im Umgang mit sterbenskranken und sterbenden Patienten“, mit den zentralen Fragestellungen „Wie kann an meiner Fakultät unterrichtet werden? Wer käme als Dozent infrage? Wie kann mir die AG Palliativmedizin dabei helfen?“ (GeMSA 2004a). Unterstützt wurden diese Bestrebungen unter anderem durch Anleitung von Workshops, die der Wissensver-

208

J. P. Beier et al.

mittlung dienen sollten, sowie durch Hospitationen in der Pionier-Palliativstation Köln (Körfgen 2019) durch Frau Dr. med. Ingeborg Jonen-Thielemann, die für ihre Verdienste um die Einführung der Palliativmedizin bereits 2007 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhielt (Klinkhammer 2007). Zum Zeitpunkt der Gründung der AG Palliativmedizin bestand nur an 28 von damals 36 Universitätsklinika eine Palliativstation, an den Universitäten gab es deutschlandweit nur zwei Professuren für Palliativmedizin, die überwiegend fakultative Lehre anboten (GeMSA 2004b). In den Folgejahren unterrichtete die AG nicht nur im Peer-Teaching-Verfahren, zum Beispiel im Rahmen von Workshop-Wochenenden oder auf Versammlungen der bvmd, zahlreiche Medizinstudierende in der Palliativmedizin, sondern sorgte durch die Etablierung von lokalen Projektstrukturen und kontinuierlicher hochschulpolitischer Arbeit für die Verbreitung des Faches in Deutschland und der daraus resultierenden Einrichtung von Lehrstühlen und Palliativstationen in der Fläche. Trotz Widerstand der Fakultäten, die sich vertreten durch den Medizinischen Fakultätentag geschlossen negativ positionierten, beschloss das Kabinett Merkel II 2009 auf politischen Druck der Studierenden, der Fachgesellschaften und des Deutschen Ärztetages hin die Einführung der Palliativmedizin als Pflichtfach in der Ärztlichen Approbationsordnung als 13. Querschnittsbereich des Medizinstudiums. Alle Fakultäten waren damit aufgefordert, in einer Übergangszeit bis zum Ende des Jahres 2012 dem Fach in der Lehre Raum zu geben, sodass der entsprechende Pflichtschein für den Übertritt in das Praktische Jahr erworben werden konnte. Um die Ausgangslage zu evaluieren, führte die AG Palliativmedizin der bvmd in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes ab Juni 2010 eine Lehrumfrage an den Fakultäten durch, die vor Ort durch Studierende als Ansprechpartner betreut wurde. Auf Grundlage der Erhebung sowie der Erfahrungen aus der Arbeit seit 2004 wurden von der Arbeitsgemeinschaft zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin in den Jahren 2010, 2011 und 2012 mehrere rege nachgefragte DozentenWorkshops angeboten, die der Einführung eines sinnvollen Curriculums und der Qualifizierung der Lehrenden – die oft aus verschiedenen Fächern stammten und vorher nicht spezifisch zum Thema lehrten – dienen sollten. Somit leistete die bvmd nicht nur bei der Einführung der Palliativmedizin als Pflichtstoff, sondern auch bei der Umsetzung an den Universitäten ihren Beitrag, um gute Lehre für die Medizinstudierenden sicherzustellen. Nach einer Transitionsphase, in der die AG noch die Umsetzung ab 2013 in der Praxis begleitete, ging diese zwecks Erfüllung ihrer Ziele in die allgemeine Arbeitsgemeinschaft Medizinische Ausbildung auf, welche bis heute kontinuierlich – aktuell beispielsweise bei der in diesem Jahre anstehenden Reform der Ärztlichen Approbationsordnung im Rahmen des Masterplans Medizinstudium 2020 – die Qualität der Lehre vor Ort evaluiert und gemeinsam mit den Fachschaften verbessern möchte; nicht zuletzt auch für den Teil der Medizin, der nicht mehr heilen kann, sondern den Tagen mehr Leben geben möchte.

17  Jung, studentisch, visionär: die Bundesvertretung ···

209

17.2 Ausblick Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V. (bvmd) ist aus verschiedenen, einzelnen Projekten und Vereinen der Studierendenschaft nunmehr seit 15 Jahren zu einer einzelnen Organisation zusammengewachsen. Sie setzt sich nachhaltig für die Belange und Interessen der Medizinstudierenden ein und betreibt beständig eine kritische Evaluation und konstruktive Weiterentwicklung des Studiums im Hinblick auf die sich verändernden Anforderungen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse.

Literatur GeMSA. (2004a). Präsentation zum GeMSA-Wochenende Palliativmedizin. Verfügbar beim Archiv Deutsche Medizinstudierendenschaft, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen. GeMSA. (2004b). Präsentation zur Lage der Palliativmedizin in Deutschland. Verfügbar beim Archiv Deutsche Medizinstudierendenschaft, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen. Klinkhammer, G. (2007). Ingeborg Jonen-Thielemann: Pionierin der Palliativmedizin. Dtsch Arztebl, 104(42), A-2896/B-2553/C-2477. Körfgen, E. (2019). Die Palliativ-Medizinerin Ingeborg Jonen-Thielemann. WDR 5 Erlebte Geschichten. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/erlebtegeschichten/ingeborg-jonenthielemann100.html. Zugegriffen: 15. Juni 2019. Julian Pascal Beier  wurde am 09.11.1994 im schwäbischen Göppingen geboren. Noch während seiner Zeit in der Oberstufe studierte er im Schülerstudium an der FernUniversität in Hagen Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaft und Soziologie (ohne Abschluss). Nach seinem Abitur am Sozial- und Gesundheitswissenschaftlichen Gymnasium 2017 begann er mit dem Studium der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Seit Oktober 2018 ist er Bundeskoordinator für Gesundheitspolitik bei der bvmd. Darüber hinaus ist er an der Überarbeitung der Gegenstandskataloge (GK) und des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) beim Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) beteiligt und bringt sich auf nationaler Ebene bei der Akkreditierung von medizinischen und medizinnahen Studiengängen ein. Constanze Czimmeck studiert Humanmedizin an der Charité Berlin und ist seit Oktober 2018 Bundeskoordinatorin für Gesundheitspolitik im Vorstand der bvmd. Schwerpunktmäßig beschäftigt sie sich vor allem mit dem Masterplan Medizinstudium 2020, Interprofessionalität und Digitalisierung. An ihrer Universität setzt sie sich in verschiedenen Gremien für eine bessere – medizinische aber auch interprofessionelle – Ausbildung ein. Sylvia Hartmann  studiert Humanmedizin an der Charité Berlin. Bei der bvmd ist sie seit 2015 aktiv unter anderem als Projektkoordinatorin für Mensch und Umwelt, ein Projekt welches vor allem Workshops, Aktionen und Veranstaltungen zum Thema Klimawandel und Gesundheit veranstaltet. In diesem Zusammenhang ist sie Vorstandsmitglied der Deutschen Allianz für Klimawandel und Gesundheit (KLUG). Seit Oktober 2018 ist sie Bundeskoordinatorin für Gesundheitspolitik bei der bvmd. Ihre Schwerpunkte sind hier der Berufsmonitor und Digitalisierung.

Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht – Der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0

18

Stefan Krojer

Inhaltsverzeichnis 18.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Was ist der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Ziele des Think Tanks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4 Der Think Tank als Innovation Accelerator. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.5 Die goldene Brücke zwischen Online- und Offlinewelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211 212 215 215 216 216 218

18.1 Einleitung Das Gesundheitswesen ist eine der größten und am schnellsten wachsenden Branchen der Welt. Die Gesundheitsbranche ist komplex und verändert sich stetig. Sie ist in viele Sektoren unterteilt und auf alle Arten von Fachleuten angewiesen, um die Gesundheitsbedürfnisse von Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen zu erfüllen. Die im Gesundheitswesen tätigen Personen suchen nach innovativen und kostengünstigen Möglichkeiten, eine intelligente Gesundheitsversorgung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern des Krankenhauses bereitzustellen. Ein Think Tank ist ein Institut, ein Unternehmen oder eine Gruppe, die organisiert ist, um ein bestimmtes Thema zu untersuchen und Informationen, Ideen und Ratschläge bereitzustellen. Das Label „Think Tank“ ist eng mit den Bemühungen verbunden, sehr spezifische Informations- und Wissenslücken für die Entscheidungsfindung zu schließen. S. Krojer (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_18

211

212

S. Krojer

Angesichts sich ständig weiterentwickelnder Richtlinien, Prozesse, Technologien, Fähigkeiten und Ideen und in Berücksichtigung der Größe und Komplexität, die sich auf den Gesundheitssektor auswirken, ist diese Kombination aus „Gesundheitswesen“, „Einkauf“ und „Denkfabrik“ sinnvoll und jetzt der perfekte Zeitpunkt für diese Vision. Die Atmosphäre, die wir in unserem Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0 pflegen, bietet die Möglichkeit, Führungspersönlichkeiten aus dem Einkauf, die im Gesundheitswesen tätig sind, zusammenzubringen. Was im März 2017 mit einem kleinen Blog zum Thema Klinikeinkauf begann, wurde bis heute eine Community der „Macher“, genannt Zukunft Krankenhaus-Einkauf. Der Innovationstreiber und Problemlöser der Community ist der Think Tank. Der Gründer der Initiative und Denkfabrik Stefan Krojer hat es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Einkäufer-Kollegen einen einzigartigen Service zu bieten, mit dem sie ihr Wissen und ihr Business durch die Kraft der smarten Vernetzung ausbauen können. Diese Verbindungen und Kommunikationsstrukturen, welche so erschaffen wurden, erweisen sich als äußerst wertvolles Konzept. Wir sind eine kleine Familie von 18 Experten, die sich versammelt haben, um unsere tägliche Arbeit und unser Mindset gegenseitig auf ein neues Level zu heben. Wir sind der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0 der Initiative Zukunft Krankenhaus-Einkauf.

18.2 Was ist der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0? Der Think Tank ist eine „co-kreative Gemeinschaft“ und eine Innovationsschmiede für Einkäufer. Diese exklusive Gemeinschaft besteht aus 18 Einkaufsleitern aus Deutschland, Schweiz und Norwegen. Die Gruppe ist kein Unternehmens-Think-Tank, sondern eine informelle, unternehmensübergreifende Denkfabrik. Ihr Ziel ist es, kreative Köpfe aus verschiedenen Kliniken Deutschlands und aus verschiedenen zugehörigen Einkaufsgemeinschaften zusammenzubringen, um neben dem hektischen Alltag neue Ideen denken zu dürfen. Um schnell, mobil und effizient zu kommunizieren, befinden sich alle in einer Chatgruppe und können sich zu jeder Tageszeit miteinander austauschen und somit in kürzester Zeit qualitativ wertvolles Feedback erhalten. Von der Uniklinik bis kirchlich freigemeinnützige Kliniken und aus kleinen sowie großen Einkaufsgemeinschaften. Der Think Tank ist eingebettet in die Initiative Zukunft Krankenhaus-Einkauf. Der Think Tank tauscht sich fast täglich aus und berät sich gegenseitig bei aktuellen Problemstellungen oder strategischen Fragestellungen. Ideen und Anregungen, die innerhalb dieser Expertengruppe entstehen, werden blitzschnell umgesetzt, so auch der Innovationsbeschleuniger. Der Ansatz: Einkäufer stärken ihre Rolle als Wertschöpfungspartner im Krankenhaus durch die Kreation eines eigenen Innovationsbeschleunigers. Die Mission ist es, Innovationen für den Einkauf und das Supply-Chain-Management zu identifizieren und schnell, einfach sowie bezahlbar in die Krankenhäuser zu bekommen.

18  Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht ···

213

Wenn Menschen mit Expertenwissen in verschiedenen Bereichen ihre Ideen einbringen, entsteht etwas, das niemals entstehen kann, wenn ein Einzelner allein seine Kreativität entfaltet. Außerhalb von Deadlines im eigenen Unternehmen sollen in entspannter und kollegialer Umgebung die optimalen Bedingungen für „Breakthrough Innovations“ geschaffen werden. Dem Fachgremium gehören Innovatoren und Digitalisierungsexperten aus dem Krankenhauseinkauf an. Der Expertenkreis wird die vorliegenden Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Studie „Zukunft Krankenhaus-Einkauf 2025“ überprüfen und weiterentwickeln (Zukunft Krankenhaus-Einkauf o. J. a). Darüber hinaus sollen innovative Lösungen, Ideen und Projekte im Rahmen von Machbarkeitsstudien getestet werden. Der englische Begriff Proof of Concept (PoC) bezeichnet die Evaluation eines kleinen Ausschnittes eines Großprojekts und die Anfertigung einer Machbarkeitsstudie. Fertige Lösungen, werden einem flächendeckenden Proof of Value (PoV) unterzogen. So erhält das Klinikum Transparenz über den Wert der Lösung und kann die Kosten gegenüberstellen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Co-Creation und Social Collaboration. Neue Ansätze werden im Think Tank eingeführt und getestet. Die Mitglieder des Think Tanks (Stand Juni 2019, Zukunft Krankenhaus Einkauf 2019): Die Experten des Europäischen Think Tanks (Abb. 18.1): • Sven Kleber (strategischer Einkäufer/Warengruppenmanager)/Team Lead „eCategory Management“ • Gerd Mälzer (Leiter Zentraler Einkauf, ATOS Kliniken) • Ralf Bannwarth (Leiter Wirtschaft und Versorgung, Alb Fils Kliniken)/Team Lead „Investitionsgüter & eRechnung“

Abb. 18.1   Die Experten des Europäischen Think Tanks

214

S. Krojer

• Karsten Rohn (Bereichsleiter Einkauf und Warenversorgung, Maria Hilf Klinik Mönchengladbach) • Stefan Krojer (Leiter strategischer Einkauf, Johanniter Competence Center)/Team Lead „Value Based Procurement & Co-Creation” • Tim Bauer (Abteilungsleitung Beschaffungsperformance, Prozessoptimierung, Einkaufscontrolling, Projektmanagement und QM, Klinikum Region Hannover)/Team Lead „Scanner & Software“ • Herbert Egle (Prozessmanager/Stellv. Abteilungsleiter, Uniklinikum Freiburg, GB3Dienstleistungen Abteilung Materialwirtschaft) • Patrick Müller (Leiter Einkauf & Logistik, Kantonsspital Winterthur)/Team Lead „Source to Contract“ • Thomas Willms (Abteilungsleiter Einkauf und Zentralversorgung, Klinikum Aschaffenburg-Alzenau) • Kerstin Groß (Strategisches Beschaffungsmanagement, Uniklinik Köln)/Team Lead „Webshop & Marktplätze Integration“ • Karsten Juchert (Leiter Zentraler Einkauf, Städtisches Klinikum Brandenburg) • Annika Hüttner (Abteilungsleiterin Materialwirtschaft, Kliniken Landkreis Heidenheim) • Silvio Schröder (Abteilungsleiter Materialwirtschaft und Apotheke, Klinikum Frankfurt/Oder)/Team Lead „Kanban, Konsilager“ • Nils Koch (Leiter Zentraleinkauf, SRH Kliniken GmbH)/Team Lead „Prozess Management“ • Marcus Wernicke (Bereichsleiter Materialversorgung, Universitätsklinikum Jena) • Boris Cvetkovic (Leiter Zentraler Einkauf, Artemis Augenkliniken und MVZs) • Thomas Bachmann (Leiter Einkauf, Universitätsspital Basel) • Bianca Cassens (Abteilungsleitung Data-Management, Geschäftsbereich Materialwirtschaft, Universitätsklinikum Münster (UKM)) • Marco Oliver Deutsch, Procurement Manager, Volvat Medical Group (part of Capio | Ramsay Générale de Santé) Der Think Tank spielt bei der digitalen Professionalisierung des Krankenhauseinkaufs eine wichtige Rolle. Er wird sich in Zukunft vor allem mit den Auswirkungen durch Industrie 4.0 auf den Einkauf beschäftigen. Relevante Themenfelder erstrecken sich von der Digitalisierung der eigenen Einkaufs- und Logistikprozesse bis zur Digitalisierung und Verschlankung von Dienstleistungsservices externer Partner. Im Fokus sind alle Unterstützungsprozesse im Klinikum. Ziel ist die Erhöhung des Wertbeitrags von Klinikeinkäufern über die reine Kostenbetrachtung hinaus.

18  Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht ···

215

18.3 Ziele des Think Tanks Wie will ich als Klinikeinkäufer zukünftig arbeiten? Welche Rolle als Klinikeinkäufer will ich heute und in Zukunft spielen? Wie nehme ich mir die Zeit, um innovativ zu sein und mich weiter zu entwickeln? Wie kann ich Neues lernen, geschützt in einer vertrauten Runde von meinesgleichen? Welche Probleme meiner Klinik, meiner Fachabteilungen, meiner eigenen Einkaufsabteilung oder in meiner persönlichen Karriere existieren? Haben andere Einkäufer dieselben Probleme? Welche Probleme sind die größten? Warum habe ich die Probleme bisher nicht angegangen? Das sind die Fragen, die sich Klinikeinkäufer in Zeiten der digitalen Transformation zunehmend stellen. Jeder Einkäufer kämpft im Alltag in seiner Klinik täglich aufs Neue für sich selbst. Geradezu eingesperrt in einem Umfeld aus Kollegen, Kontakten und Einkaufskooperationen agiert der Klinikeinkauf zwar vernetzt, jedoch bleibt kaum Zeit „über den Tellerrand“ hinaus zu denken und die eigenen Ideen und Potenziale zu entfalten. Der Think Tank soll diesem Raum Offenheit und Transparenz geben und bestehende Grenzen sprengen. Chefeinkäufer diskutieren Träger- und Einkaufsgemeinschaft übergreifend über die bestmöglichen digitalen Prozesse und Lösungen. Praxiserfahrungen werden ausgetauscht und der Öffentlichkeit bei Sinnhaftigkeit zu einem späteren Zeitpunkt zugänglich gemacht, damit auch andere davon profitieren. Wo gibt es schon integrierte Systeme ohne Medienbrüche? Was ist alles schon umgesetzt und welche Technologien und Anwendungsfelder kommen wann und wie relevant für mein Krankenhaus? Wie ist die Kosten-Nutzen-Rechnung? Welche Partnermöglichkeiten gibt es? Der Think Tank hat die Aufgabe, dem Einkauf entsprechende Impulse zu geben und den Beruf charakterlich reifen zu lassen, sodass dieser seiner wichtigen strategischen Rolle in Zukunft gerecht werden kann.

18.4 Der Think Tank als Innovation Accelerator Die Denkfabrik soll vor allem Innovation im Krankenhaus-Einkauf fördern. Deshalb ist der sogenannte Innovationsbeschleuniger das Herzstück des Think Tanks. Dieser funktioniert so: Innerhalb der Think-Tank-Mitglieder werden ausgewählte potenzielle Lieferpartner die Chance erhalten, ihre Produkte oder Lösungen bei einem unserer Mitgliedshäuser zu implementieren. Der Projektstand und Erfolgsfortschritt werden dabei jederzeit transparent innerhalb der Community offengelegt und geteilt. Ein Beispiel: Thema: Prozessmanagement, Lösung: Cloudbasiertes Prozess Mining, Klinik: Klinikverbund aus Süddeutschland, Projektphase: Proof of Value. Bei erfolgreichem Projektverlauf erhält der Anbieter die Möglichkeit, über die Plattform Zukunft Krankenhaus-Einkauf weitere Kliniken als Kunden zu gewinnen. Darüber hinaus wird der

216

S. Krojer

Anbieter automatisch für den Hospital Supplier Award nominiert (Zukunft KrankenhausEinkauf o. J. b). Der Hospital Supplier Award ist ebenfalls eine Idee des Think Tanks und wurde mit den Mitgliedern als Jury umgesetzt. So finden die spannendsten Innovationen auch über die Gruppe hinaus Medienpräsenz. Das Beispiel des Innovationsbeschleunigers zeigt die kreative Kraft und die Umsetzungsstärke, die entsteht, wenn alle Einkäufer gemeinsam Probleme identifizieren, die alle betreffen und dann gemeinsam an einem Strang ziehen, um Lösungen zu erarbeiten. Gemeinsame Probleme werden identifiziert und in einem kreativen Denkprozess werden Lösungsansätze konzipiert. In der Gemeinschaft werden Aufgaben und Projekte verteilt und über den Stand sowie Erfolg oder Misserfolg berichten. So entsteht eine Kultur des Ausprobierens, aber auch des Scheiterns. Missglückte Ansätze können durch die konstruktive Feedbackkultur der Gemeinschaft optimiert und neu ausprobiert werden. Frei nach dem Konzept „Baue, Messe, Lerne“. Dieser Prozess ist oftmals im eigenen Unternehmensumfeld nicht möglich oder gewünscht. Der Think Tank bietet den Einkäufern hier eine neue Plattform, die jeden Einzelnen, aber auch das Kollektiv weiterbringen (Abb. 18.2).

18.5 Die goldene Brücke zwischen Online- und Offlinewelt Onlinegruppen-Chats zwischen den Mitgliedern der Denkfabrik finden fast täglich per WhatsApp statt. Ist ein Chat ab einem gewissen Zeitpunkt aber nicht mehr für alle Mitglieder interessant, weil sich zum Beispiel zwei Mitglieder gefunden haben, die sich weiterführend helfen können, kann die Kommunikation auf eine bidirektionale Verbindung jederzeit umgestellt werden. Neben den virtuellen Chats interagieren die Mitglieder aber auch offline. Auf fünf jährlichen Branchenevents des Klinikeinkaufs haben die Mitglieder die Möglichkeit, sich vor Ort persönlich zu treffen. Die Treffen in der Offlinewelt sind ganz besonders wichtig und unterstützen die persönliche Beziehung der Mitglieder. In einem persönlichen Treffen werden zudem Brainstorming Workshops durchgeführt oder strategische Fragen zur Struktur und Weiterentwicklung des Think Tanks diskutiert und beschlossen. Eine optimale Mischung aus schneller und unkomplizierter Onlinekommunikation und regelmäßigen Offlinetreffen ist der entscheidende Erfolgsfaktor für unsere Gemeinschaft von Gleichgesinnten.

18.6 Fazit Der Think Tank Krankenhaus Einkauf 4.0 der Initiative Zukunft Krankenhaus-Einkauf ist eine neue, einzigartige Gemeinschaft und Plattform von und für Klinikeinkäufer. Im geschützten Umfeld ihrer Online- und Offlinegruppe können die Einkäufer aktuelle Probleme offen ansprechen, schnell und unkompliziert diskutieren und voneinander

18  Digitale Transformation im Klinikeinkauf gemeinsam neu gedacht ···

217

Abb. 18.2   Der Gesamtansatz der Initiative Zukunft Krankenhaus-Einkauf im Überblick (Zukunft Krankenhaus-Einkauf 2019)

lernen. Dabei werden sowohl ad hoc Problemstellungen im operativen Einkauf gelöst, aber auch strategische Themen diskutiert und konzipiert. Der Think Tank bietet den Mitgliedern die Chance, außerhalb der gewohnten Strukturen und Gewohnheitsmuster neue Ideen zu denken und ein schnelles Feedback der Kollegen zu erhalten. So entstehen dabei völlig neue Konzepte wie zum Beispiel der

218

S. Krojer

Innovationsbeschleuniger, der Hürden zur Einführung von Innovationen im Krankenhaus – seien sie Hürden des Verständnisses oder des Budgets – abbauen und so einen wichtigen Wertbeitrag zur Verbesserung des stationären Gesundheitswesens leistet.

Literatur Zukunft Krankenhaus-Einkauf. (o. J. a). Studien und Trendreports. https://www.zukunft-krankenhaus-einkauf.de/studie/. Zugegriffen: 17. Nov. 2019. Zukunft Krankenhaus-Einkauf. (o. J. b). Kliniken prämieren innovative Lieferantenkonzepte. https://www.zukunft-krankenhaus-einkauf.de/award/. Zugegriffen: 17. Nov. 2019. Zukunft Krankenhaus-Einkauf. (2019). Übersicht der Initiative und Think Tank Mitglieder. https:// www.zukunft-krankenhaus-einkauf.de/projekte/think-tank/. Stand 2019, Abfrage 2019.

Stefan Krojer  ist Gründer der Community „Zukunft Krankenhaus-Einauf“ und Leiter Innovation und Customer Engagement der Bredehorst Clinic Medical Management GmbH in Düsseldorf. Der Think Tank Krankenhauseinkauf 4.0 ist Teil dieser Initiative und Community.

Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

19

Mathias Krisam und Rebecca Janßen

Inhaltsverzeichnis 19.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Arbeitsinhalte von läuft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 221 229 230

19.1 Hintergrund Seit einigen Jahren wird Nudging als neuer Ansatz der Politikgestaltung diskutiert. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff so viel wie „(an)stupsen“. Grundprinzip des Nudgings ist es, „Entscheidungsprozesse durch die gezielte Gestaltung von entsprechenden Umgebungsfaktoren zu beeinflussen, ohne dabei verbindliche Verhaltensvorschriften oder entscheidungsrelevante ökonomische Anreize zu setzen“ (Krisam et al. 2017). Richard Thaler, Mitbegründer des Konzepts und Co-Autor des Bestsellers „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“, erhielt für seine Arbeiten in diesem Gebiet 2017 den Wirtschaftsnobelpreis. Grundlage von Nudging ist die Änderung der sogenannten Entscheidungsarchitektur, welche Menschen zu einer für sie besseren Entscheidung unterstützt (Thaler und Sunstein 2009).

M. Krisam (*)  Läuft GmbH, Berlin, Deutschland R. Janßen  ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_19

219

220

M. Krisam und R. Janßen

Das Konzept des Nudgings basiert auf einigen grundlegenden Prinzipien: Nudges … • • • • •

wirken in der Regel automatisch, vereinfachen Handlungen bzw. machen sie attraktiver, schränken die Wahlfreiheit nicht ein, wirken in der Regel an Ort und Stelle der Entscheidung, sind in der Regel einfach und ohne großen finanziellen oder materiellen Aufwand umzusetzen, • bauen auf wissenschaftlicher Evidenz auf und werden unter wissenschaftlichen Kriterien evaluiert. Weltweit gibt es bereits eine Vielzahl sogenannter Nudge-Units. Auch in Deutschland bemüht sich eine Gruppe im Bundeskanzleramt unter dem Namen „Wirksam regieren“ um den vermehrten Einsatz verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Politikgestaltung. In Bezug auf Gesundheit wurden bisher (Stand Juni 2019) die Themenfelder einer angemessenen Händedesinfektion im Krankenhaus sowie eine Verbesserung des Impfschutzes vor Masern-Erkrankungen bearbeitet. Trotz dieser Maßnahmen lässt sich – nicht nur in Deutschland – feststellen, dass das Thema Nudging im Gesundheitswesen noch großes Entwicklungspotenzial hat. Dr. med. Mathias Krisam veröffentlichte 2017 die erste deutschsprachige Publikation auf diesem Themengebiet in Bezug auf Gesundheitsförderung (Krisam et al. 2017). Weiterhin gründete Krisam im Sommer 2018 eine ehrenamtliche Initiative unter dem Namen „Nudge 2019“. Im Rahmen dieser Initiative engagierten sich Studierende und junge Nachwuchskräfte für den vermehrten Einsatz von Nudges in der Gesundheitsförderung. So entwickelten sie gemeinsam mit der Berliner Werbeagentur Peix einen Treppen-Nudge, der im September/Oktober 2019 am Berliner S-Bahnhof Zoologischer Garten Tausende von Passanten mit witzigen Sprüchen und ansprechenden Grafiken zur Benutzung der Treppe anstelle der Rolltreppe animierte (Abb. 19.1). Weiterhin organisierten sie im März 2019 an der Berliner Charité die erste mehrtägige Konferenz zu diesem Thema in Deutschland. Die Konferenz bot Teilnehmern aus dem In- und Ausland die Möglichkeit, sich auszutauschen und Ideen einzubringen. Die positive Resonanz und die Erkenntnis, dass dieses Thema bislang von noch keinem Akteur umfassend bedient wird, bewog Krisam, im Juni 2019 die „läuft GmbH“ zu gründen.

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

221

Abb. 19.1   #treppegehtimmer am S-Bahnhof Zoologischer Garten Berlin

19.2 Arbeitsinhalte von läuft 19.2.1 Arbeitsprinzipien läuft verfolgt drei Ziele, um das Thema Nudging voranzubringen: 1. Umsetzung in die Praxis: Zentral ist die tatsächliche Umsetzung von verhaltenswissenschaftlichen Maßnahmen mit den entsprechenden Projekt-partnern. 2. Wissenschaftliche Arbeitsweise und Studien: Hier folgt läuft den Ansprüchen vieler anderer Nudge-Units, die eigenen Interventionen kritisch zu evaluieren und auch negative Ergebnisse zu publizieren. Neben reinen Interventionen werden auch eigene Studien in Bezug auf Nudging durchgeführt.

222

M. Krisam und R. Janßen

3. Plattform für gegenseitigen Austausch: Die im März 2019 erstmalig durchgeführte Nudging-Konferenz wird nun jährlich weiter fortgesetzt und erweitert. So soll Wissenschaftlern, Praktikern, Studierenden und Interessierten des Gesundheitswesens sowie anderer Fachbereiche eine Möglichkeit zum Austausch und Netzwerken gegeben werden. Mögliche Anwendungsbereiche von Nudging in Gesundheitsförderung und -versorgung sollen im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.

19.2.2 Themenfelder 1. Stationäre Versorgung Vier Themenfelder stechen hier hervor: 1. Fehlervermeidung: Bisherige Studien zeigen, dass Checklisten im OP und für Notfallsituationen Fehler reduzieren; genauso, wie bewusst gewählte Default-Einstellungen von Medizintechnikgeräten Leben retten können. Die Verbesserung von Handhygiene ist ein Beispiel, welches bereits durch „Wirksam regieren“ angegangen wird. Eine verbesserte und übersichtlich standardisierte Übertragung von Medikamentationsplänen und Therapieanweisungen bei Aufnahme, Übergabe und Entlassung von Patienten sorgt zudem für weniger Fehler an Schnittstellen (Perry et al. 2015). 2. Implementierung leitliniengerechter Therapien: Checklisten sind hilfreich und ebenso die automatisch-standardisierte Verschreibung von bei bestimmten Krankheiten indizierten Medikamenten. Außerdem können unnötige Tests vermieden und Infektionen durch die standardmäßige Entfernung von Blasenkathetern nach 72 h – wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt – reduziert werden. Weiterhin kann ein stationärer Aufenthalt für die standardmäßige Impfung bei Risikogruppen vor der Krankenhausentlassung genutzt werden, und können standardisierte Verfahren für Einschreibung und Organisation einer Reha für Patienten mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall die Anschlussbehandlung gewährleisten (unter anderem Perry et al. 2015). 3. Entscheidungshilfen und -unterstützung: Gerade bei Entscheidungen zeigt sich, dass wir uns häufig nicht rational verhalten. Hier kann Framing die Entscheidung vor einer OP beeinflussen (so stimmen mehr einer OP zu, die 90 % Überlebenswahrscheinlichkeit verspricht als der gleichen OP mit 10 % Sterberisiko (McNeil et al. 1982)). Weitere Unterstützung bieten Entscheidungshilfen, die komplexe Entscheidungen und Informationen einfach verständlich aufbereiten und insbesondere bei terminalen Krebstherapien für Patienten und Ärzte gute Verwendung finden (Lee und Emanuel 1999). Weiterhin können durch Defaults mehr Menschen zu einer von ihnen präferierten Vermeidung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen geführt werden (Halpern et al. 2013). Ein weiteres erfolgreiches Konzept ist die sogenannte

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

223

„Enhanced active choice“, bei der Menschen mit Informationen versorgt und aktiv zu einer Entscheidung aufgefordert werden (Keller et al. 2011). 4. Kostenreduktionen: Kosten können dadurch gesenkt werden, dass die jeweiligen Kosten transparent angezeigt werden (wie zum Beispiel bei Laboraufträgen) oder bei bestimmten Aufträgen eine kurze informative Botschaft auf die entscheidenden Indikationen hinweist. Eine weitere einfache Möglichkeit ist das Default-Setzen von Generika an erster Stelle von Dropdown-Listen, wenn ein Präparat verordnet wird (Perry et al. 2015). 2. Ambulante Versorgung Auch hier lassen sich die Vorschläge und bisherigen Erkenntnisse in vier Gebiete klassifizieren: 1. Verbesserung der Versorgung/Implementierung von Leitlinien: Auch Ärzte verhalten sich nicht immer gleich und deren Entscheidungen variieren über den Tag verteilt. So konnte eine aktuelle Studie zeigen, dass die Überweisungen an Onkologen im Verlaufe des Tages sinken (Hsiang et al. 2019). Auch hier bieten sich einfache Entscheidungshilfen und Checklisten an. Weiterhin sehr erfolgreich sind FeedbackMechanismen an Ärzte, die sie im Vergleich zu anderen Ärzten zeigen (Perry et al. 2015). 2. Kostenreduktion: Auch wenn dieser Bereich bisher noch nicht tiefgründig untersucht ist, bietet sich auch hier eine Offenlegung von Kosten und Verordnungen an. So könnten insbesondere GKV-Versicherte über ihre Behandlungskosten informiert werden. Gleichzeitig könnten Ärzten gemeldet werden, wie sie im Vergleich zu Kollegen in Bezug auf Verschreibungen und Überweisungen einzuordnen sind. 3. Terminmanagement: In Gesundheitssystemen weltweit entstehen hohe Kosten durch die Abwesenheit von Patienten bei vereinbarten Terminen. Gerade im englischen NHS wurden daher einige erfolgreiche Maßnahmen zur Steigerung der Terminwahrnehmung erprobt, die auch auf Deutschland übertragen werden können (NHS 2017). So sind soziale Vergleiche sehr effektiv, die darauf hinweisen, wie viele Menschen zu ihrem Termin (pünktlich) erscheinen. Ebenfalls als effektiv zeigte sich die Darstellung der Kosten, die durch ein Fernbleiben entstehen (OECD 2017). Weitere simple zielführende Mechanismen sind SMS-Reminder (Gurol-Urganci et al. 2013). Hervorzuheben ist eine britische Initiative, die durch ein besseres Verständnis der Patienten und Familien das Besuchen der Notaufnahme bei nicht-kritischen Beschwerden der Kinder reduzierte (Holden et al. 2017). Da dies auch in Deutschland eine große Herausforderung darstellt, sollte dem dort vorgeschlagenen Ansatz mehr Beachtung geschenkt werden. 4. Einladungen zu Screenings und Impfungen: Trotz stärkerer Bemühungen erscheinen längst nicht alle Patienten zu Screening- oder Impfterminen. Als erfolg-

224

M. Krisam und R. Janßen

reich haben sich bisher persönlich unterschriebene Einladungen mit einem Terminvorschlag inklusive Zettel zum Notieren, sowie Reminder gezeigt (Camilloni et al. 2013). An dieser Stelle sollen auch die AOK-Faktenboxen hervorgehoben werden, die einfach verständlich über den statistischen Nutzen ausgewählter Maßnahmen informieren (AOK – Die Gesundheitskasse 2019). 3. Medikamenteneinnahme Etwa 50 % der Patienten mit chronischen Krankheiten weisen eine unzureichende Adhärenz auf (Brown und Bussell 2011). Dies ist nicht nur für Patienten nachteilhaft, sondern auch für das gesamte Gesundheitssystem, da dies vermeidbare erhöhte Kosten verursacht (CDC 2017). Abb. 19.2 aus einer US-amerikanischen Umfrage veranschaulicht sehr gut die vielfältigen Gründe für mangelhafte Einnahme (CDC 2017). Aus Abb. 19.2 geht hervor, dass ein Großteil der Gründe auf primär nicht-rationale zurückgeführt werden kann, und somit potenziell durch verhaltenswissenschaftliche Interventionen gemildert werden könnten (dunkelblau markiert). Interventionen zur Steigerung der Adhärenz sollten demnach patientenspezifisch ausgerichtet sein und durch verhaltenswissenschaftliche Maßnahmen ergänzt werden. Mit einer höheren Adhärenz gehen zum Beispiel Kombinationspräparate einher, da generell die Häufigkeit von Medikamenteneinnahmen verringert werden sollte. Lange Therapieziele sollten in kleine greifbare Schritte heruntergebrochen, Zwischenziele belohnt und die Patienten motiviert werden. Weiterhin hilft bereits ein klar strukturierter Plan, wann Medikamente eingenommen, bzw. was genau bei auffallenden

Abb. 19.2   Gründe für geringe Adhärenz

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

225

Werten oder sich leerenden Medikamentenpackungen getan werden sollte(n) (Mogler et al. 2012). Weiterhin können Hinweise, dass das jeweilige Medikament eine pflanzliche Basis hat, je nach Klientel, die Adhärenz verbessern. Teilweise bereits eingesetzte Maßnahmen sind digitale Reminder über Apps oder Hinweise, dass die Medikamentenpackung sich langsam leert (Perry et al. 2015; Nieuwlaat et al. 2014). Auch kleine Hilfen, wie zum Beispiel die Ablage des Asthma-Inhalators oder der Medikamentenpackungen neben dem Zahnputzbecher bei erforderlicher morgendlicher und abendlicher Einnahme zeigen Wirkung. Gerade hier sollte berücksichtigt werden, ob im Rahmen der Aut-Idem-Regel nicht doch fortlaufend das gleiche Präparat gegeben werden sollte, da ein PräparateWechsel bei vielen Patienten für Unsicherheit sorgt (Krisam 2018). Es wird deutlich, dass solche Interventionen mit wenig Aufwand einen Mehrwert für Patienten (bessere Outcomes), Ärzte (weniger Aufwand und Komplikationen), Krankenkassen (Senkung von Ausgaben der Leistungskosten) und Pharmafirmen (bessere Qualität und Verkaufsargumente über den reinen Wirkstoff hinaus, sowie Kundenbindung) bieten. Läuft hat in diesem Kontext auch bereits eine verhaltenswissenschaftlich basierte App konzipiert, die Patienten zum Erreichen einer besseren Medikamenten-Adhärenz spielerisch unterstützt. 4. Global Health Grundsätzlich können auch im Bereich der Globalen Gesundheit ähnliche Methoden eingesetzt werden, die bereits in den zuvor genannten Abschnitten dargelegt wurden. An dieser Stelle werden daher primär exemplarische Fallstudien genannt. Bekannt ist, dass ausgeteilte Malarianetze häufig zweckentfremdet, und zum Beispiel zum Fischen verwendet werden. Ein weiteres Beispiel ist, dass in Indien weitläufig konstruierte Toiletten, um offene Defäkation einzudämmen, unter anderem wegen besonderen sozialen Bedeutungen nicht angenommen wurden. Hierbei ist es elementar, über das Verstehen der jeweiligen Interpretations- und Entscheidungssysteme erfolgreiche Interventionen zu entwickeln. Weiterhin konnten bereits minimale finanzielle oder materielle Anreize für eine signifikante Steigerung von Impfraten oder HIV-Testungen sorgen (Thornton 2008; Banerjee et al. 2010). Um frühe ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, können per Default bei Arztbesuchen Kondome verteilt, Reminder zur korrekten Einnahme oraler Kontrazeptiva versendet oder Frauen als „Mütter“ angesprochen werden (Thornton 2008). Adhärenzen in der Tuberkulose-Therapie können durch Vereinfachung der Therapiekontrolle signifikant gesteigert werden (OECD 2017). Auch intelligentes Design von Umgebungen kann Leben retten: So wurde die Zahl von Toten durch Zugunfälle in Indien durch die farbliche Markierung der Gleise deutlich reduziert, weil so die Geschwindigkeit und Entfernung des Zuges leichter einzuschätzen war (Subramanian 2010).

226

M. Krisam und R. Janßen

läuft bringt sich auch in die intelligente Gestaltung von Initiativen der Globalen Gesundheit mit seiner Expertise ein, um diese in Zukunft noch effektiver zu gestalten, unter anderem im Rahmen des Global Health Hubs. 5. Gesundheitskommunikation Da Nudging nach Verständnis von läuft eine besondere Art von Kommunikation ist, gibt es eine große Schnittmenge zur Gesundheitskommunikation. läuft wird sich unter diesem Aspekt insbesondere mit einer innovativen Form der Kommunikation, einschließlich der digitalen Gesundheitskommunikation, einbringen. Grundlage ist, dass Gesundheitsbotschaften weniger inhalts-, sondern primär emotionsbasiert kommuniziert werden sollten und somit einen positiven („Gain-“) Frame erhalten als mit negativ assoziierten Gefahren zu drohen, wie es viele aktuelle Gesundheitskampagnen tun. Die Evidenz zeigt klar, dass Menschen negativ besetzte Informationen ausblenden (Hastall 2018). Erstes Beispiel einer Umsetzung durch läuft sind die humorvollen Sprüche im Rahmen von #treppegehtimmer (Abb. 19.1). Weiterhin sollte sich in diesen Bestrebungen eine stärkere Evaluation von Maßnahmen etablieren, die nicht nur die Wirkung verschiedener Inhalte vergleichen, sondern auch das „Wie“. Außerdem sollte ein vermehrter Fokus auf Einfachheit, Klarheit und Niedrigschwelligkeit von Gesundheitsbotschaften gelegt werden. An dieser Stelle widerspricht läuft auch der häufig genannten Assoziation, dass eine gesunde Lebensweise mit Verzicht und Langfristigkeit assoziiert ist. Vielmehr sollte die realistische und auch menschlich eher zugängliche Information vermittelt werden, dass eine gesunde Lebensweise sehr genussvoll sein kann (zum Beispiel durch ein vielfältiges frisches Speiseangebot), Freude bereitet (zum Beispiel durch Bewegung in der Gruppe und in der Natur), dem Geist und damit Mitmenschen gut tut durch regelmäßige Entspannung und dass all diese Effekte im Hier und Jetzt und nicht nur in einer ungewissen Zukunft spür- und greifbar sind. In Bezug auf digitale Gesundheitskommunikation wird es immer wichtiger, Informationen dauerhaft, kurz und prägnant sowie personalisiert und zum richtigen Zeitpunkt zu vermitteln. Nutzer wünschen eine Selektion an Informationen mit variierender Detailtiefe, sowie dass die Informationen multimedial angeboten werden (Altendorfer 2017). Da durch den vermehrten Einsatz von Wearables, Gesundheits-Apps und der elektronischen Patientenakte gerade eine große Dynamik in diesem Feld entsteht, wird läuft auch hier seine verhaltens- und kommunikationswissenschaftliche Expertise einbringen. 6. Förderung einer besseren Ernährung in Kantinen und Supermärkten Ernährung ist das Thema, zu welchem es bisher in der Wissenschaft am meisten Studien bezüglich Nudging gibt. Da täglich Millionen Deutsche in Kantinen essen, liegt hier ein enormes Potenzial vor. Nationales Vorbild ist hier die Initiative „Smarter Lunchrooms“, welche sich für bessere Ernährung in Schulen, Hochschulen und Betrieben einsetzt

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

227

(KErn 2019). Zahlreiche Vorschläge werden unterbreitet, um gesundes Essen attraktiver, prominenter und besser erreichbar zu machen. Die meisten unserer Kauf- und Essensentscheidungen werden tatsächlich im Supermarkt getroffen. Also bietet auch dieses Setting einen hervorragenden Ansatzpunkt, um Bürger zu einem gesünderen Leben zu verhelfen. Für läuft stehen hierbei Maßnahmen im Vordergrund, die sowohl die Gesundheit fördern, aber auch für Supermärkte nach Möglichkeit bessere oder zumindest keine verminderten Umsätze bedeuten. So zeigt sich, dass vorgeschnittenes Gemüse, welches in der Fleischtheke neben Hackfleisch positioniert wurde und damit die Assoziation für eine Bolognese-Sauce herstellte, nicht nur zum Verkauf von mehr Gemüse, sondern auch mehr Hackfleisch führt (OECD 2017). Zudem ist für Verbraucher der Gesundheitsaspekt nach dem Preis die wichtigste Information beim Lebensmittelkauf (Bird und Rogers 2013). Ziel sollte es daher sein, mit möglichst wenig Informationen auf gesundes Essen aufmerksam zu machen und dieses hervorzuheben. Weitere Möglichkeiten sind die Platzierung gesunder Produkte auf Augenhöhe und in Griffbereitschaft oder die Bereitstellung sogenannter „Familienkassen“, an denen weder Süßigkeiten, noch Alkohol oder Zigaretten, sondern Obst, Mineralwasser oder VollkornSnacks angeboten werden. läuft möchte gemeinsam mit Supermarkt-Ketten diese Interventionen planen und erproben. 7. Architektur von Städten Rund drei Viertel der deutschen Bevölkerung lebt in Städten. Aufgrund dieser Tatsache und der Vielzahl an zu erreichenden Personen bieten auch städtische Strukturen großes Potenzial zum Einsatz von Gesundheits-Nudges. Ein erstes Beispiel für eine entsprechende Nudging-Intervention von läuft ist die bereits vorgestellte Aktion #treppegehtimmer (Abb. 19.1), welche natürlich vielfältig im öffentlichen und privaten Raum ausgeweitet werden kann. Generell bieten Stationen des öffentlichen Nahverkehrs einen guten Ansatzpunkt für Nudging-Maßnahmen. Immerhin sind Menschen hier häufig zum Warten verdammt. Diese zeitlichen Zwischenräume können sinnvoll für zusätzliche Bewegung genutzt werden. Entsprechende Projekte könnten die Umgestaltung von Haltestellen hin zu bewegungsfördernden Orten umfassen. Flächendeckend übertragbar ist ein an der Universität Zürich durchgeführtes Projekt, welches im Rahmen einer App bei der Suche nach Reiseverbindungen Hinweise für Teilstrecken anzeigt, die ohne zeitliche Einbußen zu Fuß zurückgelegt werden könnten. 8. Gebäudearchitektur, Nudges und Gesundheit Hier zeigt sich im internationalen Kontext eine sich gerade erst entwickelnde Fachwissenschaft, die auf wissenschaftlicher Evidenz und Fallstudien aufbaut (Steemers 2015). Diese macht deutlich, dass sich die gezielte Änderung von Gebäude- und Stadtarchitektur positiv auf die Gesundheit aller sozialen Gruppen auswirkt (Haworth 2018).

228

M. Krisam und R. Janßen

Zur Steigerung der körperlichen Aktivität sollten Treppen prominent platziert, gut sichtbar und ästhetisch gestaltetet sein, gerne auch mit motivierenden Nachrichten, die zur Benutzung auffordern (New York 2009). Weitere Möglichkeiten umfassen die weniger prominente Platzierung von Fahrstühlen oder das Anzeigen der Dauer einer Fahrstuhlnutzung, die deutlich macht, dass die Treppenbenutzung die schnellere Variante ist (Haworth 2018). Darüber hinaus sollten Räume, die häufig frequentiert werden (Cafeteria, Meeting-Räume, Postfächer), auf verschiedenen Etagen liegen und über Treppen gut erreichbar sein (Steemers 2015; New York 2009). Überdies sollte die Attraktivität von Gehkorridoren mit angenehmem Licht, interessanter Wandgestaltung oder schönen Aussichten gesteigert und ein intuitiv verständliches Netzwerk aus Gehstraßen installiert werden (Steemers 2015; Haworth 2018). Sind Fitnessräume, Trimm-dich-Geräte oder Laufstrecken vorhanden oder in Planung, sollte die Sicht auf diese erhöht werden. Zudem steigern ausreichende Dusch- und Umkleidemöglichkeiten sowie sichere Abstellmöglichkeiten für Fahrräder die Rate an Pendlern, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen (New York 2009). 9. Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) Die Menschen in Deutschland verbringen sehr viel Zeit an ihrem Arbeitsplatz. Im Rahmen des BGM können Nudges gewinnbringend in den Bereichen Ernährung, Bewegung, Entspannung und Arbeitssicherheit eingesetzt werden. Dabei sollen Nudges keine neuen Angebote schaffen, sondern lediglich durch einfache Trigger oder Erinnerungen zum Beispiel zur Reduktion von Sitzzeiten, wenig Bewegung und unbewusster (schlechter) Ernährung beitragen und die Beschäftigten zu den bereits bestehenden Angeboten bewegen, indem sie diese attraktiver und niedrigschwelliger machen. Nudges erhalten im Kontext des BGM ein ganz besonderes Potenzial: Zum einen wirken sie primär automatisch und haben damit mehr Möglichkeiten, die häufig bekannte Selektion sozialer Gruppen im Rahmen von BGM-Maßnahmen abzumildern. Weiterhin sind sie häufig mit geringen finanziellen Aufwendungen verbunden, was die Implementierung insbesondere für KMUs einfacher macht. So können intelligente Anreize die Motivation steigern: Teilnehmende verfolgen Gesundheitsprogramme konsequenter, wenn das Risiko eines finanziellen Verlusts im Raum steht. Zudem erhöht sich die Motivation häufig, wenn Aktivitäten und Ziele in Teams verfolgt werden (Eichhorn und Ott 2019). Ein weiteres Beispiel sind bereits festgelegte Termine beim Gesundheitscheck, zu denen alle Beschäftigten standardmäßig eingeladen werden – eine Abmeldung ist nur aktiv im Zuge einer Opt-out-Einstellung möglich. Auch Self-Commitments – also Selbstbindungsversprechen – können dabei helfen, ursprüngliche gefasste Entschlüsse und Pläne vollständig zu verfolgen. Weiterhin sollte darauf geachtet werden, wer die Gesundheitsbotschaften kommuniziert: Besonders angesehene Mitarbeiter sind häufig die besten Mediatoren.

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

229

10. Schriftliche Kommunikation Gerade Versicherungen aller Art erledigen einen Großteil ihrer Kommunikation mit Versicherten, Leistungserbringern und Vertragspartnern schriftlich. Wo in der Regel nur eine Möglichkeit zum Austausch oder Beschaffen von Informationen gesehen wird, bieten verhaltenswissenschaftlich basierte Modifizierungen eine einfache und enorm effektive Möglichkeit zur Steuerung der jeweiligen Adressaten. Bestes und wohl bekanntestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist eine Intervention aus dem NHS zur Reduktion der Verschreibung von Antibiotika (AB): 20 % der Hausärzte mit den höchsten Verschreibungsraten von AB erhielten ein Schreiben mit einer Grafik, die ihre Verschreibungsraten im Vergleich zu allen Hausärzten veranschaulichte, sowie eine kurze Erläuterung der Indikationen. Der AB-Einsatz sank in dieser Gruppe um 3,3 % (Hallsworth et al. 2016). Weiterhin sind viele Studien bekannt, die in vergleichbaren Fällen durch den Verweis auf soziale Normen, den gewünschten Effekt erbringen. Diese beziehen sich vor allem auf Schreiben, die zur Erledigung der Steuererklärung aufrufen. Auch Formulierungen, die Steuern und deren Bedeutung für öffentliche Güter hervorheben, erweisen sich als wirksam, jedoch mit einem geringeren Effekt als soziale Normen (1,6 vs. 5,1 %) (Hallsworth et al. 2017). Überdies ist erfolgreich, ein Schreiben mit der Bitte um wahrheitsgemäße Angaben so aufzusetzen, dass man die Unterschrift zu Beginn des Dokuments ausführen muss. Über die Modifizierungen hinaus zeigte sich ebenfalls in anderen Studien, dass allein durch sogenannte „Reminder“ bereits deutlich erkennbare Veränderungen entstehen. So bewegen sich hier die Effekte zwischen drei und sieben Prozent (OECD 2017). Das Gesundheitswesen bietet vielfältige Möglichkeiten, sich diese Erkenntnisse zunutze zu machen: zum Beispiel bei Leistungserbringern mit besonders hohen oder teuren Raten an Verordnungen, Überweisungen und Operationen. Aber auch in der Kommunikation mit Versicherten, wenn wahrheitsgemäße Angaben für Leistungen wie beispielsweise Krankengeld, Hilfsmittel oder Pflegegrad gemacht werden sollen.

19.3 Fazit und Ausblick Nudges bzw. der Einsatz der Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften bieten ein enormes Potenzial zur Verbesserung der Gesundheitsförderung und -versorgung. Der Vorteil dieser Intervention ist der in der Regel geringe Aufwand in finanzieller und materieller Hinsicht, sowie zahlreiche Möglichkeiten dezentraler Anwendung. Nichtsdestotrotz muss man konstatieren, dass dieser Ansatz in Deutschland und auch international bisher nur rudimentär oder gar nicht umgesetzt wird. Gesundes Verhalten scheitert jedoch in der Regel nicht an zu wenig Wissen oder Information, sondern häufig an gewohnten Routinen, Trägheit und mitunter auch mangelnder Attraktivität. läuft ist vor diesem Hintergrund die weltweit erste Beratung, die sich primär auf das Thema Nudging/Verhaltenswissenschaften und das Gesundheitswesen fokussiert.

230

M. Krisam und R. Janßen

Auch wenn in Bezug auf Nudging und die breitenwirksame Verwendung im Gesundheitswesen noch ein weiter Weg zu gehen ist, erscheint es trotzdem notwendig, diesen Weg auch wirklich zu gehen, zum Wohle aller Akteure. Genau daran möchte läuft arbeiten. Streng nach dem Motto: „Make the healthy choice the easy choice.“

Literatur Altendorfer, L. M. (2017). Neue Formate der digitalen Gesundheitskommunikation. Baden-Baden: Nomos. AOK ‒ Die Gesundheitskasse. (2019). AOK Faktenboxen. https://www.aok.de/pk/uni/medizin-versorgung/aok-faktenboxen/. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Banerjee, A. V., Duflo, E., Glennerster, R., & Kothari, D. (2010). IMproving immunisation coverage in rural India ‒ clustered randomised controlled evaluation of immunisation campaigns with and without incentives. BMJ, 340, 1–9. Bird, J., & Rogers, Y. (2013). Decision-making in the aisles: Informing, overwhelming or nudging supermarket shoppers ? Personal and Ubiquitous Computing, 17, 1247–1259. Brown, M. T., & Bussell, J. K. (2011). Medication adherence: WHO cares? Mayo Clinic Proceedings, 86(4), 304–314. Camilloni, L. et al. (2013). Methods to increase participation in organised screening programs: A systematic review. BMC Public Health, 13(464). CDC. (2017). Overcoming barriers to medication adherence for chronic disease. https://www.cdc. gov/grand-rounds/pp/2017/20170221-presentation-medication-adherence-H.pdf. Zugegriffen: 13. Mai 2019. Eichhorn, D., & Ott, I. (2019). Nudging im Unternehmen ‒ Den Weg für gesunde Entscheidungen bereiten. Dresden: Initiative Gesundheit und Arbeit (iga). Gurol-Urganci, I. et al. (2013). Mobile phone messaging reminders for attendance at healthcare appointments. The Cochrane database of systematic reviews, 12. Hallsworth, M., et al. (2016). Provision of social norm feedback to high prescribers of antibiotics in general practice: A pragmatic national randomised controlled trial. Lancet, 387, 1743–1752. Hallsworth, M., List, J. A., Metcalfe, R. D., & Vlaev, I. (2017). The Behaviorlaist as tax collector: Using natural field experiments to enhance tax compliance. Journal of Public Economics, 148, 14–31. Halpern, S. D., et al. (2013). Default options in advance directives influence how patients set goals for end-of-life care. Health Affairs, 32(2), 1–10. Hastall, M. R. (2018). Botschaftsstrategien in digitalen Medien. Digitale Gesundheitskommunikation ‒ Zwischen Meinungsbildung und Manipulation (S. 187–210). Bremen: Apollon University Press. Haworth. (2018). The workspace nudge for wellbeing. https://media.haworth.com/asset/107587/ Workspace_Nudge_White_Paper_C6.pdf. Zugegriffen: 6. Mai 2019. Holden, B., Egan, M., Snijders, V., & Service, S. (2017). Why do parents bring children with minor illness to emergency and urgent care departments? Literature review and report of fieldwork in North West London. London: The Behavioural Insights Team. Hsiang, E. Y., et al. (2019). Association of primary care clinic appointment time with clinician ordering and patient completion of breast and colorectal cancer screening. JAMA Network Open, 2(5), e193403. Keller, P. A., Harlam, B., Loewenstein, G., & Volpp, K. G. (2011). Enhanced active choice: A new method to motivate behavior change. Journal of Consumer Psychology, 21, 376–383.

19  Läuft – Nudging und Verhaltenswissenschaften im Gesundheitswesen

231

Kern. (2019). Handlungsempfehlungen für die Gemeinschaftsverpflegung. https://www.kern. bayern.de/wissenstransfer/152739/index.php. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Krisam, M. (2018). Ansätze zur Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland mit Asthma bronchiale mit einem Fokus auf sozialen Risikofaktoren und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Berlin: Dissertation. Krisam, M., von Philipsborn, P., & Meder, B. (2017). Nudging in der Primärprävention: Eine Übersicht und Perspektiven für Deutschland. Gesundheitswesen, 79(2), 117–123. Lee, E. O., & Emanuel, E. J. (1999). Shared decision making to improve care and reduce costs. New England Journal of Medicine, 282, 2313–2320. McNeil, B. J., Pauker, S., Jr., Sox, H. C., & Tversky, A. (1982). On the elicitation of preferences for alternative therapies. New England Journal of Medicine, 306(21), 1259–1262. Mogler, B. K., et al. (2012). Using insights from behavioral economics and social psychology to help patients manage chronic diseases. Journal of General Internal Medicine, 28(5), 711–718. New York. (2009). Active design guidelines. https://centerforactivedesign.org/dl/guidelines.pdf. Zugegriffen: 6 Mai 2019. NHS. (2017). Stating appointment costs in SMS reminders to reduce missed hospital appointments. Behavioural Insights and Public Policy: Lessons from around the world (S. 268– 270). Paris: OECD Publishing. Nieuwlaat, R. et al. (2014). Interventions for enhancing medication adherence. Cochrane database of systematic reviews, Bd. 11. OECD. (2017). Behavioural insights and public policy: Lessons from around the world. Paris: OECD Publishing. Perry, C., et al. (2015). Behavioural insights in health care ‒ Nudging to reduce inefficiency and waste. London: The Health Foundation. Steemers, K. (2015). Architecture for wellbeing and health. Daylight & Architecture, 23, 6–27. Subramanian, S. (2010). Mind games to stop death on the tracks. https://www.livemint.com/ Home-Page/PGOJwDyboNbejam61mpotL/Mind-games-to-stop-death-on-the-tracks.html. Zugegriffen: 16 Mai 2019. Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2009). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness. New York: Penguin. Thornton, R. (2008). The Demand for, and Impact of Learning HIV Status. Am Econ Review, 98(5), 1829–1863.

Dr. med. Mathias Krisam studierte Medizin und Sozialwissenschaften und promovierte über Case Management in der Pädiatrie an der Charité Berlin. Er veröffentlichte den ersten deutschsprachigen Fachartikel zum Thema Nudging und Gesundheitsförderung, gründete die Initiative „Nudge 2019“ und organisierte 2019 erstmalig die Konferenz Nudging und Gesundheit an der. Er ist Gründer und Geschäftsführer der „läuft GmbH“, sowie Gastwissenschaftler am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaften der Charité Berlin. Rebecca Janßen  studierte Betriebs- und Volkswirtschaftslehre in Lüneburg und Münster. Derzeit promoviert sie zu Digitalen Plattformen am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Die gezieltere Auseinandersetzung mit dem Thema Nudging kam vordergründig aus verhaltensökonomischer Perspektive im Studium sowie der Mitarbeit in der Initiative „Nudge 2019“ zustande.

Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

20

Ulrike Koock, Katharina Thiede, Katharina Bröhl und Christian Lübbers

Inhaltsverzeichnis 20.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Was ist das Twankenhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4 Die Arbeitsgruppen des Twankenhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.5 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 234 235 242 246 247

20.1 Einleitung Längst hat sich das Gesundheitswesen von einer Institution der Daseinsfürsorge zu einem Gesundheitsmarkt entwickelt. Nachdem bereits 1993 im ambulanten Sektor die Einführung eines pauschalierten und budgetierten Systems erfolgte, hatten die G-DRG im Jahr 2004 den Zweck, die Liegezeiten der Patient/-innen zu verringern und die Kosten zu dämpfen. Nun, 15 Jahre später, werden Einrichtungen des Gesundheitswesens privatisiert und bei der Behandlung verkommen die Patienten/-innen zur Fallpauschale. Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen wenden sich immer häufiger von ihrem Beruf ab – der Pflegenotstand ist längst Realität geworden. Zunehmend mangelt es an Therapeuten/-innen der unterschiedlichsten Disziplinen. Ärzte/-innen fehlt die Zeit für eine patientenorientierte Medizin – nicht zuletzt bedingt durch den ständig wachsenden bürokratischen Mehraufwand. Personalmangel wiederum führt zu deutlicher Mehrbelastung des verbleibenden Personals, schlechterer Patientenversorgung U. Koock · K. Thiede · K. Bröhl · C. Lübbers (*)  Weilheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_20

233

234

U. Koock et al.

und fehlender Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit folgerichtig zu immer größeren Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Dieser Circulus vitiosus im Gesundheitswesen hat bereits vor Jahren begonnen und muss endlich durchbrochen werden. Das Twankenhaus ist ein junger Think Tank im Gesundheitswesen, der 2018 gegründet wurde. Der Begriff „Twankenhaus“ ist ein Kunstwort, das sich aus „Twitter“ und „Krankenhaus“ zusammensetzt. Das Twankenhaus will der Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens mit multiprofessionellem Diskurs und profunden Ideen entgegentreten. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, die Missstände zu benennen und mit Hintergrundwissen aus dem medizinischen Alltag Handlungsvorschläge für Politik, Verwaltung und Arbeitgeber zu erarbeiten.

20.2 Hintergrund Aktuelle Studien und Befragungen offenbaren die Unzufriedenheit, die auf den Mitarbeiter/-innen im Gesundheitswesen über alle Professionen hinweg lastet (Kunst et al. 2018). Junge Ärzte/-innen leiden unter der stetig wachsenden Arbeitsverdichtung hervorgerufen durch die Bürokratisierung der Medizin und die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes (Richter-Kuhlmann 2018). Starre Hierarchien, eine unstrukturierte Weiterbildung, Verstöße gegen die Arbeitszeitgesetze und mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie leisten einen weiteren Beitrag. Im Bereich der Pflege sorgt ein Personalmangel für Überlastung des examinierten Personals. Es ist keine Seltenheit mehr, dass 30 Patient/-innen in einer Nachtschicht von einer Pflegefachkraft betreut werden. Vielerorts werden Reinigungskräfte eingespart oder Servicekräfte gar nicht erst eingestellt – die Aufgaben sollen examinierte Mitarbeiter/innen aus der Pflege übernehmen, was wiederum zu einem verstärkten Personalmangel in der Patientenversorgung und zur zunehmenden Frustration der Fachkräfte führt. Die Unzufriedenheit macht nicht Halt vor den außerklinischen Berufen im Bereich der Physiotherapie, der ambulanten Pflege oder der präklinischen Notfallmedizin. Schlechte Bezahlung, unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch unflexible Arbeitszeiten und starre Schichtdienstmodelle sowie der Einsatz von Fachkräften unterhalb ihrer Qualifikation bewirken ein Abwandern der Fachkräfte mit konsekutiver Verschlechterung der Situation. Laut Umfragen hat nur eine Minderheit der Mitarbeiter/-innen den Eindruck, ausreichend Anerkennung für ihre Leistung zu erhalten (Deutsches Ärzteblatt 2014). Die stetige Überlastung von Ärzte/-innen setzt sich auch im niedergelassenen Bereich fort. So berichtet der im Oktober 2018 vorgestellte Ärztemonitor beispielsweise von einer zunehmenden Anzahl von Ärzte/-innen, die sich ausgebrannt fühlen (KBV 2018).

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

235

Auch Gespräche unter den Twankenhaus-Mitgliedern offenbaren immer wieder Missstände, die zum einen die Patientenversorgung, zum anderen die Gesundheit der Mitarbeiter/-innen gefährden. Als beispielhaft können folgende Situationen gesehen werden: Beispiel

• Assistenzärzte/-innen betreuen zwei Wochen nach Eintritt in das Berufsleben 40 Patient/-innen im regulären stationären Betrieb alleine. • Nachtdienste in der Notaufnahme werden durch die unerfahrensten Kollegen/innen besetzt. • Es herrscht hochgradiger Pflegenotstand. Eine examinierte Pflegefachkraft versorgt mit eine/r Schüler/-in alleine 30 Patient/-innen. • Ein/e Stationsarzt/-ärztin verlängert nach einem Nachdienst die Arbeitszeit um mehrere Stunden, um noch die Visite zu machen, weil kein/e weitere Kollege/-in anwesend ist. • Die einzige Pflegekraft auf Station ist Pflegehelfer/-in, jedoch keine examinierte Fachkraft, und dazu nicht in Kenntnis über die Gegebenheiten und die Logistik der jeweiligen Station. • Ein/e Arzt/Ärztin in der Notaufnahme ist neben der ärztlichen Tätigkeit gleichzeitig zuständig für das Bettenmanagement und muss neben der Akutmedizin auch die Organisation der Verlegung der Patient/-innen auf die Stationen in die Wege leiten. • Niedergelassene Ärzte/-innen beklagen sich über immer weniger Zeit, in der sie den Patient/-innen zur Verfügung stehen können, über drohende Regresse, überfüllte Praxen und eine überbordende Bürokratie. ◄ Zunehmende ökonomische Restriktionen und eine Übernahme von fachfremden oder bürokratischen Aufgaben über alle Gesundheitsberufe hinweg, erhöhen die Arbeitsbelastung und verhindern ein Arbeiten entsprechend der eigenen Qualifikation. Letztlich wird durch die ständige Überlastung der Mitarbeiter/-innen die Patientensicherheit gefährdet, was es dringend zu ändern gilt.

20.3 Was ist das Twankenhaus 20.3.1 Wie das Twankenhaus entstand Das Twankenhaus versteht sich als eine gemeinnützige Organisation, die als multiprofessioneller Zusammenschluss von Mitarbeiter/-innen im Gesundheitswesen als Verein gegründet wurde. Als Denkfabrik gibt es das Twankenhaus seit Oktober 2018, als es auf ungewöhnliche und innovative Weise ins Leben gerufen wurde.

236

U. Koock et al.

Der Diskurs über die drängenden Veränderungen im Gesundheitswesen begann mit Gesprächen hinter den Twitter-Kulissen über die Arbeitsbedingungen in Klinik und Praxis. Hier im „digitalen Hinterzimmer“, das vorerst aus einer geschlossenen Twitter-Gruppe bestand, war die Möglichkeit gegeben, anonym über Missstände zu reden. Den Twitter-Gesprächen folgte im Februar 2019 das erste Vernetzungstreffen und die konkretisierte Zielsetzung, das „Twitter-Krankenhaus“ als idealen Arbeitsplatz mit zufriedenstellenden Arbeitsbedingungen zu definieren und öffentlich zu diskutieren. Auch wenn die Namensgebung des Twankenhaus sich aus der Utopie eines idealen Krankenhauses abgeleitet hat, beschränken sich weder Diskurs noch Mitglieder auf den stationären Sektor. Im Twankenhaus hat sich eine Gruppe von Menschen zusammengefunden, die konstruktiv nach Lösungsansätzen sucht. Ein Großteil des Twankenhaus agiert aus Sorge um den Arbeitsplatz, die Schweigepflicht oder den eigenen Ruf in der Öffentlichkeit anonym (Süddeutsche Zeitung 2019). Und ganz gegensätzlich dazu existieren in den Reihen des Twankenhaus einige Personen, die bereits öffentlich mit Klarnamen für das Twankenhaus auf Missstände aufmerksam gemacht haben (Koock 2019; Grabbe und Trotier 2019; AOK 2019). Das Nebeneinander von anonymen und nicht anonymen Vertreter/-innen im Twankenhaus stellt dabei einen besonderen Vorteil dar, der neu im Diskurs über das Gesundheitswesen ist: Akteure, die mit Klarnamen auftreten, stehen mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Profil für die Werte des Twankenhaus ein. Anonyme Mitglieder geben eine ungeschönte und ungehinderte Sicht auf die Missstände im System, die es zu beheben gilt. Sie finden klare Worte und sorgen dafür, dass die Technokratisierung und Distanz, die einem Diskurs innerhalb der Verbände und Institutionen häufig zu eigen ist, ins Twankenhaus nicht einzieht. Die Mitglieder sind sich untereinander alle in persona bekannt, sodass Bewertung und Reflektion dieser anonymen Meinungen umfassend möglich sind. Das Twankenhaus organisiert sich somit als Interessens- und Vertrauensgemeinschaft mit einem lebendigen Diskurs zwischen allen Beteiligten.

20.3.2 Das Twankenhaus als Interessengemeinschaft Das Twankenhaus, das sich als offene Plattform über die sozialen Medien zusammengefunden hat, ist für die Bildung eines Think Tanks ein Weg, den es bisher in dieser Form im Gesundheitswesen noch nicht gegeben hat. Üblicherweise finden sich Denkfabriken „im Hinterzimmer“ von Fachtagungen zusammen und bilden damit eine hinsichtlich der Personen und Berufsgruppe selektierte Perspektive des Gesundheitswesens ab. Im Twankenhaus wird im Gegensatz zu diesen weitgehend geschlossenen Prozessen die Öffentlichkeit nicht erst zur Diskussion der Ergebnisse, sondern bereits während des Gedankenaustausches und des Problemlösungsprozesses involviert. Das Twankenhaus

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

237

stellt somit den transparenten Prozess in den Vordergrund, um auf diese Weise die Akzeptanz für die Schlussfolgerungen zu erhöhen und einer konkreten Umsetzung den Weg zu ebnen. Neben der Betonung des öffentlichen Diskurses liegt die grundlegende Besonderheit des Twankenhaus in den unterschiedlichen Professionen seiner Mitglieder. Neben Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen haben sich im Twankenhaus auch viele in der Praxis und im Krankenhaus tätige Ärzte/-innen sowie Vertreter/-innen unterschiedlicher Heilberufe, Notfallsanitäter/-innen, Psychotherapeut/-innen, Student/-innen und Patientenvertreter/-innen zusammengefunden. Das gleichberechtigte Neben- und Miteinander ermöglicht einen konstruktiven Austausch, der eine breite, multiprofessionelle Perspektive auf das Gesundheitswesen, die Arbeitsbedingungen und die Versorgung der Patient/-innen in den jeweiligen Sektoren und Versorgungsstufen bietet. Der interdisziplinäre Diskurs mit Blick aus unterschiedlichen Perspektiven soll zu Lösungen führen, die für alle Berufsgruppen tragfähig sind. 

Der multiprofessionelle Ansatz des Twankenhaus bettet die zu lösenden Probleme in den Kontext des interdisziplinären Austauschs ein und hebt sich damit deutlich von selektiv argumentierenden Interessenvertretungen einzelner Berufsgruppen ab.

Auch Altersstruktur und Berufserfahrung der Twankenhaus-Mitglieder bilden eine große Bandbreite des Gesundheitswesens ab. Im Twankenhaus finden Auszubildende und Studierende ebenso wie die Stimmen von Berufsanfängern Gehör, Weiterzubildende ebenso wie berufserfahrene „alten Hasen“. Weitere wertvolle Perspektiven werden von in Eltern- oder Teilzeit befindlichen oder alleinerziehenden Mitgliedern geliefert. Durch diese multidimensionale Struktur kann das Twankenhaus auch Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen in der gebotenen Breite abbilden. Vertrauensvoller Austausch und Wertschätzung erfolgen im Twankenhaus über die sonst im Gesundheitswesen üblichen Grenzen von Berufserfahrung, Hierarchie und Profession hinweg. Neben dem wertvollen Perspektivenwechsel erfolgt daher ein kontinuierlicher Wissensaustausch zwischen Berufsanfängern und erfahrenen Berufstätigen. Zwangsläufig sind von den zur Diskussion stehenden Themen nicht immer alle Mitglieder persönlich betroffen. Diese multidimensionale Betrachtung erlaubt allen Mitgliedern eine wertvolle Erweiterung des eigenen Horizonts und bereichert sodann den Diskurs der Betroffenen um die Perspektive der Beobachtenden (Abb. 20.1).  Das Twankenhaus arbeitet somit über konventionelle Hierarchieebenen,

unterschiedliche Erfahrungshorizonte, die Versorgungssektoren und die verschiedenen Professionen des Gesundheitswesens hinweg zusammen.

238

U. Koock et al.

Abb. 20.1    Die verschiedenen Kompetenzen im Twankenhaus arbeiten „Zahn in Zahn“. (Kinderdok.blog 2019)

20.3.3 Die Arbeitsweise im Twankenhaus Innerhalb kurzer Zeit hat sich im Twankenhaus eine unkonventionelle, partizipative Arbeitsweise etabliert, die allen Aktiven den Arbeitsbereich ihrer höchsten Kompetenz zugeordnet hat. Durch die vorhandene Multiprofessionalität und die große Anzahl an Mitgliedern ist Expertenwissen aus nahezu allen Gesundheitsberufen gegeben und in der Tat bildet das Twankenhaus auch fachlich zahlreiche Disziplinen ab: Von Allgemeinmedizin bis Physiotherapie sind vielfältige medizinische Kompetenzen vertreten, sodass jede/r Teilnehmer/-in sein bzw. ihr spezifisches Fachwissen einbringen kann. Erfahrene Arbeitnehmer/-innen aus Führungsetagen bringen zudem Expertise im Bereich Mitarbeiterführung, Organisation und Unternehmenskultur mit. Andere Mitglieder können durch ihr weiteres ehrenamtliches Engagement oder ihre originäre berufliche Entwicklung besondere Soft Skills einbringen. Der Diskurs auf Augenhöhe ungeachtet beruflicher Hierarchien ermöglicht es, den Fokus auf die Beschreibung und Lösung von Missständen und Problemen zu legen.

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie



239

Der multiprofessionelle Ansatz ist in der Lesart des Twankenhaus eine bislang zu wenig genutzte Chance, um tatsächlich tragfähige Lösungen für die Probleme des Gesundheitswesens zu erarbeiten. Allzu oft werden die Interessen der unterschiedlichen Gesundheitsberufe oder der Sektoren einander gegenübergestellt.

Im Twankenhaus fungieren die Akteure als teilnehmende Beobachter/-innen, die selbst keinen individuellen Vorteil aus ihrer nebenberuflichen und ehrenamtlichen Arbeit ziehen, ein persönliches Profitdenken ergibt sich folglich nicht. Für anonym handelnde Personen ergibt sich per se kein Karrierevorteil, und für die Personen, die unter ihrem Klarnamen auftreten, steht der Teamgedanke, der dem breiten und multiprofessionellen Diskurs Rechnung trägt, im Vordergrund. Die Mitglieder arbeiten auf Augenhöhe und kompetenzbasiert zusammen. 

Die Arbeit im Twankenhaus wird also durch ein partizipatives und kompetenzbasiertes Zusammenwirken innerhalb flachster Hierarchien charakterisiert.

Die Ziele des Twankenhaus Grundsätzlich richtet sich die Arbeitsweise im Twankenhaus an drei Zielen aus. 1. Den (teil)öffentliche Diskurs über Missstände und drängende Veränderungen im Gesundheitswesen beleben und gestalten. 2. Konkrete Positionspapiere und praxisnahe Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, um die nötigen Veränderungen zu bewirken. 3. Für einzelne Themen an der praktischen Umsetzung der Utopie des Twankenhaus zu arbeiten.

20.3.4 Gesundheitspolitischer Diskurs in den sozialen Medien Der teilöffentliche gesundheitspolitische Diskurs des Twankenhaus begann im März 2019 mit der Eröffnung eines gemeinsamen Accounts bei der sozialen Plattform Twitter. Der Account konnte innerhalb von drei Tagen 3000 Follower für sich gewinnen und weist inzwischen etwa 9.800 Follower auf. Die große Zustimmung in den sozialen Medien ist ein wichtiger Baustein für die Arbeit des Twankenhaus, denn die grundlegende Arbeitsweise beinhaltet einen basisdemokratischen Diskurs sowohl zwischen den Mitgliedern, der sich in Form von Telefonkonferenzen, Chats auf multiplen Kanälen und Austausch von Dokumenten darstellt, als auch mit einer interessierten und unbeschränkten Teilöffentlichkeit via Twitter. Strukturiert wird dieser Diskurs durch sogenannte Themenwochen, die regelmäßig über Twitter der Öffentlichkeit vorgestellt werden, um so gemeinsam Probleme zu erörtern. Die Menschen außerhalb des Twankenhaus sollen involviert werden und

240

U. Koock et al.

sind aktiv aufgefordert, ihre Wünsche, Kritik und die Missstände, die sie erleben, zu schildern, sodass sie in den Diskurs eingebunden werden können. Schließlich können sowohl Mitglieder des Twankenhaus als auch Nicht-Mitglieder aktiv mitwirken, indem Blogbeiträge auf der Internetseite des Vereins (www.twankenhaus.de) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Diese unkonventionelle und offene Herangehensweise ermöglicht einen Zugriff auf Ressourcen außerhalb des Vereins sowie ein direktes Mitwirken von Betroffenen mit dem Ziel, ein konkretes Abbild der Realität zu generieren. Das Twankenhaus fördert den Austausch und die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe und möchte gleichzeitig im Diskurs die Perspektive der Patient/-innen aufgreifen. Diese ständige Rückkopplung der Positionen des Twankenhaus zu anderen Mitarbeiter/innen aus Gesundheitsberufen sowie Patient/-innen sorgt für einen kontinuierlichen Abgleich der entwickelten Ideen und Meinungen mit der Versorgungs- und Arbeitsrealität und ist somit ein wichtiges Korrektiv. 

Ein abgehobener Diskurs im Elfenbeinturm der gesundheitspolitisch Aktiven mit zunehmender Entfremdung zwischen den Verantwortlichen des Gesundheitswesens und den Menschen, die es in Anspruch nehmen müssen, kann so vermieden werden.

Twitter bietet als soziale Plattform die Chance, Menschen für die aktuellen Probleme zu sensibilisieren und Reichweite für diese Themen zu generieren, damit eine Verbreitung über weitere Wege erfolgen kann. Die Aufforderung zum intensiven Austausch und zum aktiven Mitmachen ist zentraler Bestandteil der Arbeitsweise des Twankenhaus.

20.3.5 Positionspapiere und Handlungsempfehlungen Hinter den Kulissen erarbeiten die Mitglieder aus Inhalten des Twitter-Diskurses Positionspapiere und strukturieren diese, um sie nach Veröffentlichung auf der Homepage mit allen Interessenten abermals zu diskutieren, Verbesserungsvorschläge entgegenzunehmen und gegebenenfalls zu erweitern. Die Positionierung umfasst also sowohl die originären Positionen der Mitglieder des Twankenhaus als auch die Anregungen aus dem teilöffentlichen Twitter-Diskurs. Schließlich sollen aus den Positionspapieren Handlungsempfehlungen erarbeitet werden, welche Stellung zu konkreten Umsetzungsstrategien nehmen. Das Twankenhaus versteht sich dabei nicht als handelnder Akteur im Gesundheitswesen im Sinne berufs- oder standespolitischer Interessensvertretungen, sondern als Ideengeber für ebendiese sowie für Arbeitgeber/-innen und Politik. Hinsichtlich der Positionierung hat das Twankenhaus keine dauerhaften (berufs-)politischen Bündnispartner, vielmehr möchte es die Positionierung der verschiedenen Akteure bereichern. Nichtdestotrotz ist zur Umsetzung bestimmter Verbesserungsvorschläge eine vorübergehende Diskurskoalition mit anderen Akteuren denkbar (Abb. 20.2).

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

241

Abb. 20.2   Die Arbeitsweise im Twankenhaus (nach Kinderdok.blog 2019). Ideen und Gedanken aus sozialen Medien und der Öffentlichkeit werden in der Denkfabrik zu Positionspapieren und Handlungsempfehlungen für politische Akteure umgesetzt

Die Arbeitsweise im Twankenhaus Die Arbeitsweise des Twankenhaus gestaltet sich zusammengefasst wie folgt: 1. Interner Diskurs in Form von E-Mails, Chats und Telefonkonferenzen. 2. Veröffentlichen des Themas in den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter. 3. Veröffentlichung von Blogbeiträgen zum Thema. 4. Reflektion der von Wünschen, Ideen und Erfahrungen aus dem Diskurs in der Teilöffentlichkeit. 5. Erarbeitung von Positionspapieren. 6. Veröffentlichung der Positionspapiere auf der Homepage. 7. Abschließende Diskussionen in den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter. 8. Erarbeitung von Handlungsempfehlungen auf Basis der Positionspapiere

20.3.6 Praktische Umsetzung der Twankenhaus-Utopie Neben der theoretischen Arbeit als Denkfabrik sieht sich das Twankenhaus auch in der Verantwortung, durch praktische Arbeit die Umsetzung der gewünschten Veränderungen zumindest an einigen Stellen selbst voranzutreiben. Neben dem intensiven Diskurs über verschiedene kommunikative Kanäle wurden Arbeitsgruppen gebildet, die anhand

242

U. Koock et al.

der speziellen Interessen und Erfahrungen der Mitglieder neue Lösungen für bekannte Probleme in der Praxis etablieren wollen. Insbesondere die Förderung des Wissens über Gesundheit in der Bevölkerung ist ein Kernthema des Twankenhaus, das sich für eine nachhaltige Gesundheitsaufklärung einsetzt, die bereits im Kindergartenalter beginnen soll. Das Wissen um die eigene Gesundheit scheint verloren gegangen zu sein: Patient/-innen gehen entweder zu häufig zum Arzt (in Deutschland im Schnitt 18 Arztbesuche pro Jahr/Person) oder so gut wie nie, was präventive Ansätze bei Erkrankungen erschwert (KBV 2019). Die Notaufnahmen sind überlaufen, weil wenig Wissen vorhanden oder falsches Wissen verbreitet ist (Stichwort „Doktor Google“). Es herrscht eine schier unendliche Anzahl von medizinischen Informationen im Internet, die für den Laien undurchsichtig sind und für Verunsicherung sorgen. An dieser Stelle möchten die entsprechenden Arbeitsgruppen ansetzen.

20.4 Die Arbeitsgruppen des Twankenhaus Mit den bisher dargestellten Gründen für den Zusammenschluss zum Twankenhaus, der Organisationsstruktur und der in kurzer Zeit etablierten Arbeitsweise wurde der Grundstein für einen neuen Diskurs im Gesundheitswesen gelegt, der die Chance einer echten Veränderung und Verbesserung für Patient/-innen und Angehörige der Gesundheitsberufe birgt. Die Ziele sind besser versorgte Patient/-innen und bessere Arbeitsbedingungen für alle Mitarbeiter/-innen im Gesundheitswesen, da die Unzufriedenheit unter der Mitarbeiterschaft und die Belastung angesichts unzureichender Patientenversorgung hoch sind und weiter anzusteigen drohen. Die Utopie eines perfekten Krankenhauses, eines perfekten Arbeitgebers soll Wirklichkeit werden. Große Ziele werden in kleinen Schritten erreicht und jeder erste Schritt bestimmt den Weg, den man gehen kann. Das Twankenhaus konkretisiert die verschiedenen Aspekte der notwendigen Veränderung in Arbeitsgruppen, die der zuvor skizzierten Vorgehensweise folgen (Abb. 20.3). Einige Positionspapiere wurden bereits erarbeitet und definieren Themen, die besonders im Gesundheitssystem eine Rolle spielen. Die Ziele und Hintergründe einiger Arbeitsgruppen werden im Folgenden exemplarisch weiter ausgeführt.

20.4.1 Arbeitsbedingungen Viele Organisationen und Verbände, die die unterschiedlichen Berufsgruppen vertreten wollen, befassen sich regelmäßig mit den unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern. Gründe für die zunehmend schlechteren Arbeitsbedingungen liegen in der unterschiedlichen Definition von Personaluntergrenzen je nach Klinik – so sie denn

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

243

Abb. 20.3   Die Arbeitsgruppen im Twankenhaus (Bröhl 2019)

überhaupt existieren-, in der Schließungen von Abteilungen, sodass andere Krankenhäuser stärker frequentiert werden, in der Koppelung des Stellenschlüssels an durch Patienten generierte Einnahmen (Stichwort „DRG“) und in dem zunehmenden Verwaltungsaufwand über alle Professionen hinweg (Bundesministerium für Gesundheit 2018; DKGEV 2018; Jensen 2018). Anstatt in einem System der Daseinsfürsorge die Ressource Mensch wertschätzend in den Mittelpunkt zu stellen und weiterzuentwickeln, gründet die Ökonomisierung des Gesundheitswesens auf dem rationalisierten Einsatz der Mitarbeiter/-innen. Die Arbeitsbedingungen aller Gesundheitsberufe müssen sich dringend verbessern. Nicht nur aus Fürsorge und Respekt gegenüber den Mitarbeiter/-innen dieser Berufsgruppen, sondern und vor allem auch im Sinne einer besseren und guten Versorgung der Patientinnen und Patienten. Eine unzureichende Personaldecke gefährdet die Güte der Patientenversorgung, ja gar die Patientensicherheit, ebenso wie der zunehmende Zeitdruck in Klinik und Praxis. 

Ein gesundes Gesundheitswesen als System der Daseinsfürsorge stellt den Menschen in den Mittelpunkt, sowohl in der Patientenversorgung als auch in der Gestaltung des Arbeitsplatzes.

20.4.2 Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben Die erste Themenwoche griff das Thema Vereinbarkeit auf, da dies eines der Kernthemen des Twankenhaus darstellt und auch über die Arbeitsgruppe „Vereinbarkeit“ als konkrete Handlungsempfehlungen seinen Weg in die Praxis finden soll. Hier ist deutlich darauf hinzuweisen, dass dieses Thema geschlechtsunspezifisch betrachtet wird und für alle Beschäftigen im Gesundheitswesen gleichermaßen gilt. Dies geschieht unter anderem deshalb, weil es anhand der aktuellen Studienlage keinen Hinweis auf geschlechtsspezifische Unterschiede gibt (Lukasczic 2018).

244

U. Koock et al.

Hoch qualifizierte Fachkräfte aus ärztlichem oder pflegerischem Dienst verlassen den Beruf oder bleiben in der sogenannten Teilzeitfalle stecken, weil sie Beruf und Familie nicht vereinbaren können. Starre Strukturen in der Kinderbetreuung lassen nicht zu, dass man am gängigen Dienst- und Schichtsystem in den Kliniken teilnimmt. Die üblichen Schließ- und Ferienzeiten sind darüber hinaus kaum mit einer Niederlassung zu vereinbaren. Frauen und Männer, die Eltern- und Familienpflegezeiten in Anspruch nehmen oder in Teilzeit arbeiten wollen, werden ins Abseits gestellt. 

Die Konsequenz: Ressourcen liegen brach und der Personalmangel in den Gesundheitsberufen eskaliert.

Das Twankenhaus hat konkrete Vorschläge erarbeitet, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingen kann (Twankenhaus Positionspapier #Vereinbarkeit 2019).

20.4.3 Aus-, Fort- und Weiterbildung Gerade in den medizinischen Berufen ist eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung essenziell für die Patientensicherheit sowie die berufliche Zufriedenheit der Arbeitnehmer/-innen. Die Qualität der primären Ausbildung ist eng mit der Güte der Patientenversorgung verwoben. Jede/r Patient/-in wünscht sich bestmöglich qualifizierte Behandler/innen. Das medizinische Wissen entwickelt sich rasant weiter. Neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten verändern die Medizin so wie wir sie kennen. Gleichzeitig sind auch die Bedürfnisse der Patient/-innen beispielsweise durch demografische Entwicklungen oder Migration einem stetigen Wandel unterlegen. Die kontinuierliche professionelle Weiterentwicklung ist zudem wichtig für die persönliche Zufriedenheit mit Berufsleben und Arbeitsplatz.  Allen Mitarbeiter/-innen der Gesundheitsberufe evidenzbasiertes lebens-

langes Lernen auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu ermöglichen, muss ebenso kollegiales wie politisches Ziel sein. Eine moderne, kompetenzbasierte und praxisnahe Ausbildung für Ärzte/-innen ist für die Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung ebenso essenziell wie die wissenschaftlich fundierte Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege oder anderen Gesundheitsberufen. Medizinische Ausbildung ganz gleich für welche Profession muss dem besonderen Spannungsfeld aus Wissenschaft und Praxisnähe gerecht werden. Gleichzeitig stellt nicht nur die Qualität der Aus-, Fort- und Weiterbildung eine Herausforderung dar, sondern auch die Struktur derselben bzw. der Einsatz der Mitarbeiter/-innen entsprechend ihrer Erfahrung und fachlichen Kompetenzen.

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

245

Anhand der Dienstgestaltung in den Notaufnahmen lassen sich beispielsweise die Missstände der ärztlichen Weiterbildung im Krankenhaus anschaulich verdeutlichen: Gerade dort, wo es bei großen Patientenzahlen und teilweise schwer kranken Patient/innen auf Erfahrung und Kenntnis ankommt, werden aus Personalmangel häufig Berufsanfänger/-innen eingesetzt. Dieser Mangel an Erfahrung und teilweise auch Qualifikation soll durch eine Rufbereitschaft im Hintergrund ausgeglichen werden, die den sogenannte „Facharztstandard“ wahren soll. Dennoch entstehen durch die räumliche und organisatorische Distanz des Facharztes Zeitverlust sowie eine erhebliche Belastung der Berufsanfänger und teilweise auch Risiken für die Patient/-innen. Eine hohe Ausbildungsqualität, die kontinuierliche Fortbildung aller medizinischen Berufe und eine strukturierte Weiterbildung für Ärzte/-innen, die einen verfrühten Einsatz außerhalb der eigenen Qualifikationen verhindern, sowie Weiterbildungen in den pflegerischen Bereichen kommen der Patientensicherheit zugute.

20.4.4 Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit Das Gesundheitswesen und seine Leistungserbringer stehen vor vielfältigen Aufgaben und neuen Herausforderungen. Das Selbstverständnis und die klassische Rollenverteilung der verschiedenen Berufe im Gesundheitswesen werden infrage gestellt, multimodale Behandlungskonzepte sind gefordert. Multiprofessionalität bedeutet: die koordinierte Zusammenarbeit aller Gesundheitsfachberufe mit einem umfassenden Verständnis füreinander unter möglichst klar definierten Rahmenbedingungen.  Die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären, multiprofessionellen

Team auf Augenhöhe birgt viele positive und den Arbeitsalltag erleichternde Effekte: Vermeidung von Konkurrenzverhalten, bessere Ergebnisse für die Patient/-innen, ein besseres, weil kommunikativeres Arbeitsklima sowie eine geringere Einzelbelastung durch teaminternen Austausch kommen allen Mitarbeiter/-innen zugute und sollte gefördert werden. Eine gelungene multiprofessionelle Zusammenarbeit, die mit einer Qualitätssteigerung der Patientenversorgung, sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich einhergeht, benötigt Konzepte für mehr interprofessionelle Lehre in Studium und Ausbildung. Multiprofessionelle Ausbildungsansätze können die Zusammenarbeit im medizinischen Alltag verbessern und Kommunikations- sowie Teamfähigkeit der beteiligten Professionen stärken. Auch multiprofessionelle Fortbildungen im Bereich der berufsgruppenübergreifenden Kompetenzen, wie zum Beispiel Zeitmanagement, Medizin und Recht, Kommunikation mit Patient/-innen und interprofessionelle Kommunikation, sind anzustreben und werden an manchen Krankenhäusern bereits angeboten, respektive an medizinischen Fakultäten gelehrt (Molwitz und Kurze 2017).

246

U. Koock et al.

Im Rahmen einer multiprofessionellen Umstrukturierung bietet sich zudem die Gelegenheit, auch die Abläufe im Gesundheitswesen zu reflektieren und gegebenenfalls zu verbessern.

20.4.5 Gesundheitsbildung und Gesundheitskompetenz Das Ziel der AG Gesundheitsbildung ist eine solide Allgemeinbildung der breiten Bevölkerung zu verschiedenen gesundheitsspezifischen Themen. Anhand von Schulungsmaterial für den „Nicht-Mediziner“, Büchern für Kindergartenkinder, Broschüren für Schulen und Elterngruppen soll die Aufklärung verbessert werden. 

Durch die Anbindung an die sozialen Medien verfügt das Twankenhaus über eine hohe Reichweite, mit dem Ziel, die mediale Verbreitung zu nutzen, um Schulen und Kindergärten von Schulungsangeboten oder Videos profitieren zu lassen.

Gemeinsam mit dem Rettungsdienst ist bereits im Kindesalter ein spielerisches Einüben von Notfallsituationen und Erste-Hilfe-Maßnahmen möglich. Ähnliche Konzepte in anderen Ländern zeigen, wie fundiert bereits Kinder die wichtigsten Basismaßnahmen umsetzen können. Bei älteren Kindern hat die Vertiefung des bisher Gelernten Priorität. In Zusammenarbeit mit Pfadfindern, Kinderfeuerwehr, Jugendgruppen, Sportvereinen und Grundschulen kann eine weite Verbreitung der Kenntnisse erreicht werden. Ferner sind auch Unterrichtsstunden bereits in der Grundschule möglich, welche schließlich in höheren Klassen stetig erweitert werden sollten.

20.5 Zusammenfassung und Ausblick Das Twankenhaus steht als neuer Think Tank noch am Anfang seiner Arbeit. Anhand unkonventioneller und moderner Arbeitsweisen unter Nutzung von sozialen Medien und digitaler Kommunikationsmöglichkeiten hat sich eine Gruppierung gebildet, welche sich als multiprofessionelle Interessengemeinschaft sieht und als sogenannte GrassrootsBewegung für eine Veränderung und Verbesserung des Gesundheitswesens steht. Das Twankenhaus als Plattform für Meinungsbildung wird als gemeinnütziger Verein intensiv an der Verwirklichung der Twankenhaus-Utopie arbeiten. Die Aufgaben, die es zu lösen gilt, sind in den letzten Jahren enorm gewachsen, das Twankenhaus wird sich diesen Fragestellungen anhand der Themenwochen im multiprofessionellen Diskurs sukzessive widmen. Als berufserfahrene und moderne Ideenschmiede erarbeitet das Twankenhaus Lösungsvorschläge und Strategien, die Einfluss auf öffentliche Meinungsbilder und Entscheider nehmen können.

20  Das Gesundheitssystem verändern – das Twankenhaus® als Utopie

247

Als Think Tank, bestehend aus vielen Köpfen, denkt das Twankenhaus öffentlich über gesundheitspolitische Themen nach und bezieht die Allgemeinheit ein, damit ein möglichst umfassendes Abbild der aktuellen Lage und Stimmung wiedergegeben werden kann und sich alle Berufsgruppen vertreten fühlen. 

Das Twankenhaus ist bereits jetzt ein Abbild einer Gesundheitsversorgung, wie sie in Zukunft funktionieren könnte: multiprofessionell, interdisziplinär, über die Versorgungssektoren hinweg zusammenarbeitend, ständig lernend, im Austausch und auf Augenhöhe mit den Patient/-innen und in flachen Hierarchien arbeitend.

Wir hoffen auf aktiven Dialog und Austausch mit den Entscheidungsträgern und drängen auf die längst überfälligen Veränderungen des Gesundheitswesens.

Literatur AOK Baden-Württemberg im Gespräch mit Dr. Ulrike Koock. (2019). Twankenhaus ‒ Visionen für das optimale Krankenhaus. (15.05.2019). https://aok-bw-presse.de/ressorts/lesen/ twankenkhaus-visionen-fuer-das-optimale-krankenhaus.html. Zugegriffen: 26. Mai 2019. Bundesministerium für Gesundheit. (2018). Pflegepersonaluntergrenzen. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/personaluntergrenzen.html. Zugegriffen: 26. Mai 2019. Deutsches Ärzteblatt. (2014). https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/59911/KrankenhaeuserBeschaeftigte-klagen-ueber-verschlechterte-Arbeitsbedingungen. Zugegriffen: 26. Mai 2019. DKGEV. (2018). Stellungnahme der Deutschen Krankenhausgesellschaft zum Referentenentwurf einer Verordnung zur Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen in pflegesensitiven Krankenhausbereichen für das Jahr 2019 (Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung ‒ PpUGV) Stand: 12.09.2018. https://www.dkgev.de/fileadmin/default/Mediapool/1_DKG/1.3_Politik/Stellungnahmen/2018-09-12_DKG-Stellungnahme_Referentenentwurf_PpUGV.pdf. Zugegriffen: 26. Mai 2019. Grabbe, H., & Trotier, K. (2019). Ist die Arbeit im Krankenhaus noch auszuhalten? Der Alltag in Hamburger Kliniken ist hart, viele Pfleger und Ärzte arbeiten am Limit. Warum ist das so? Und was kann man tun? Vier Experten diskutieren, ZEIT Hamburg Nr. 18/2019, 25. April 2019. Jensen, M. (2018). „Es war nur ein Arzt da“ Personalmangel in Notaufnahmen. Spiegel online (10.08.2018). https://www.spiegel.de/karriere/asklepios-kliniken-hamburg-notaufnahmenwegen-personalmangels-geschlossen-a-1221395-amp.html. Zugegriffen: 26. Mai 2019. KBV. (2018). KBV Ärztemonitor. https://www.kbv.de/html/aerztemonitor.php. Zugegriffen: 26. Mai 2019. KBV. (2019). Versichertenbefragung der KBV. http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/24044. php. Zugegriffen: 26. Mai 2019. Koock, U. (2019). Lösungen für das Gesundheitssystem: Ein besseres Krankenhaus ist möglich – Tausende Menschen sammeln dafür Ideen. https://krautreporter.de/2811-ein-bessereskrankenhaus-ist-moglich-tausende-menschen-sammeln-dafur-ideen. Zugegriffen: 29. Mai 2019. Kunst, M., Chaturvedi, N., Plantevin, L., Di Filippo, V., Meyer, D., & Rebhan, C. (2018). Front line of healthcare report 2018. Bain & Company.

248

U. Koock et al.

Lukasczic, M. (2018). Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei Beschäftigten im Gesundheitswesen als Handlungsfeld der Versorgungsforschung. Gesundheitswesen, 80(6), 511–521. Molwitz, I., & Kurze, J. (2017). Interprofessionalität in Studium und Ausbildung. http://www. gesundheitskongresse.de/dresden/2017/dokumente/Praesentationen/Molwitz-Isabel–JohannaKurze—Interprofessionalitaet-in-Studium-und-Ausbildung.pdf. Zugegriffen: 26. Mai 2019. Richter-Kuhlmann, E. (2018). Nachwuchsärzte: Getrieben im Alltag. Deutsches Ärzteblatt, 115, 45. Süddeutsche Zeitung. (2019). Süddeutsche Zeitung: Ihr scheiß Sanis. https://www.sueddeutsche. de/leben/rettungskraefte-angriffe-gesellschaft-seite-drei-1.4380808?reduced=true. Zugegriffen: 30. Mai 2019. Twankenhaus. (2019). Positionspapier #Vereinbarkeit. https://twnknhs.de/wp-content/ uploads/2019/04/Positionspapier.pdf. Zugegriffen: 26. Mai 2019.

Dr. med. Ulrike Koock  ist angestellte Allgemeinmedizinerin (i.W.) und wie die übrigen Autoren Mitbegründerin der Initiative Twankenhaus. Als Medizinjournalistin und Medical Writer hatte sie im Jahr 2019 die Position der Pressesprecherin innerhalb des Vorstandes inne und möchte durch ihre journalistische Arbeit und ihre Texte die bestehenden Herausforderungen im Gesundheitswesen verständlich der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Dr. med. Katharina Thiede ist angestellte Fachärztin für Allgemeinmedizin und Sprecherin der FrAktion Gesundheit der Ärztekammer Berlin. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen Weiterbildung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Arbeitsbedingungen, Klimawandel & Gesundheit und gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Im Twankenhaus engagiert sie sich als Vorstandsmitglied für eine multiprofessionell getragene, menschliche und wertebasierte Medizin. Katharina Bröhl ist Fachärztin für Innere Medizin. Im Twankenhaus setzt sie sich als Vorstandsvorsitzende insbesondere für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Ferner engagiert sie sich ehrenamtlich unter anderem als Redaktionsmitglied im Verein LEONA e. V. Familienselbsthilfe bei seltenen Chromosomenveränderungen. Dr. med. Christian Lübbers  ist selbständiger Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Homöopathie-Kritiker und Twitter-Aktivist.Seine Aufklärung über die falschen Versprechungen der Homöopathie und sein Einsatz für eine evidenzbasierte Medizin erfahren eine große Medienpräsenz. Im Twankenhaus setzt er sich für eine ehrliche und bessere Medizin ein und übernahm bis April 2020 die Position eines Vorstandsvorsitzenden. Neben seiner berufspolitischen Arbeit im Berufsverband für Hals-Nasen-Ohrenärzte ist er Sprecher im Informationsnetzwerk Homöopathie.

Healthcare Innovations – eine private Initiative zur Förderung von Innovationen im Gesundheitswesen

21

Sarna Röser, Marius Henkel und Tobias Krick

Inhaltsverzeichnis 21.1 Healthcare Innovations – mehr Innovation im Gesundheitswesen durch ein erfahrenes Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Der Ansatz: Innovationen fördern durch Kooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Die Arbeitsweise: Qualität erkennen und Vorteile schaffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4 Die Leistungen: individuell und passgenau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5 Die Onlineplattform: Beamcoo Health . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.6 Die Vision von Healthcare Innovations. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.7 Ein starkes Team: Die Umsetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250 250 251 252 254 255 256 258

S. Röser (*) · M. Henkel · T. Krick  Röser Areal, Mundelsheim, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Krick  SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland T. Krick  Wissenschaftsschwerpunkt Gesundheitswissenschaften, Universität Bremen, Bremen, Deutschland

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_21

249

250

S. Röser et al.

21.1 Healthcare Innovations – mehr Innovation im Gesundheitswesen durch ein erfahrenes Netzwerk „Veränderung ist die einzige Konstante.“

Dieses berühmte Zitat des griechischen Philosophen Heraklit trifft den Nerv der Zeit. Im Gesundheitsbereich geht es schon lange nicht mehr um das „Ob“, sondern um das „Wie“. Der in den letzten Jahren häufig zitierte „Innovationsstau“ (ärzteblatt.de 2016) im Gesundheitswesen löst sich mehr und mehr auf. Viele Unternehmen entwickeln innovative Lösungen und Methoden. Nicht zuletzt mit dem für 2020 geplanten „DigitaleVersorgung-Gesetz“ soll der Einzug digitaler Gesundheitsanwendungen in die Gesundheitsversorgung erleichtert werden (Bundesministerium für Gesundheit 2019). Die Organisation Healthcare Innovations begleitet solche Veränderungsprozesse im Gesundheitswesen aktiv und fördert sie. Das Start-up versteht sich dabei als Marktplatz, der zum einen für Transparenz in der Innovationslandschaft sorgt, zum anderen aber auch die „richtigen Partner“ zusammenbringt, um Innovationen marktfähig zu gestalten und im Gesundheitsmarkt zu etablieren. Healthcare Innovations wurde im Jahr 2018 als privates Unternehmen in Stuttgart gegründet. Gegenstand des Unternehmens ist die Identifikation und Förderung von Innovationen im Gesundheitswesen. Die Stärke der Gesellschaft ist eine sehr heterogenen Gesellschafter- und Teamstruktur. Ein einzigartiges Team bestehend aus Healthcare Rebellen, Infragestellern, Familienunterunternehmern, Investoren, Wirtschaftsprüfern und Projektentwicklern. Ein Zusammenschluss von Menschen, die neue Perspektiven, Erfahrungen und Netzwerke aus den unterschiedlichsten Bereichen mitbringen und sich gemeinsam auf eine spannende Reise für ein innovativeres Gesundheitssystem gemacht haben. Mit diesem breiten, vor allem aber auch praktischen Erfahrungsschatz, einer großen Vision und dem weitreichenden Netzwerk der Gründer/-innen von Healthcare Innovations, bietet die Gesellschaft sowohl innovativen Gründern, sowie auch etablierten Unternehmen im Gesundheitswesen eine gemeinsame Basis für eine Zusammenarbeit an.

21.2 Der Ansatz: Innovationen fördern durch Kooperation Das Gesundheits- und Sozialwesen ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland und zugleich einer der expansivsten und dynamischsten Wachstums- und Beschäftigungsmotoren aller deutschen Branchen (Destatis 2018). Die Gesundheitswirtschaft unterliegt der staatlichen Regulierung mit einer Vielzahl von Novellierungen in den letzten Jahren. Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen, Altenpflegeeinrichtungen und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen müssen sich laufend den sich fortwährend ändernden rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen bzw. sich diesen Herausforderungen stellen. In der Vergangen-

21  Healthcare Innovations – eine private Initiative …

251

heit standen dabei vor allem ökonomische Fragestellungen im Vordergrund. Der Markt war geprägt von neuen Formen der Zusammenarbeit (vertikale und horizontale Kooperationen), die strategische Ausrichtung des Leistungsportfolios sowie von Re- und Umstrukturierungsmaßnahmen (Breyer et al. 2013; Hajen et al. 2017). Im Zuge des demografischen Wandels und der zunehmenden Digitalisierung steht die Gesundheitswirtschaft zunehmend vor neue Herausforderungen. Es drängen neue Akteure mit gesundheitsorientierten innovativen Angeboten in den Markt. Wesentliche Markttreiber werden daher die Digitalisierung von Prozessen und Leistungsangeboten sowie medizin-technische Innovationen bei weiterhin anhaltendem Effizienz- und Kostendruck sein. In diesem komplexen und dynamischen Markt positioniert sich Healthcare Innovations als Partner, der die Themen und den Markt kennt, transparent macht und gemeinsam mit allen Marktteilnehmern kreative und zukunftsfähige Lösungen findet und weiterentwickelt. Dabei versteht Healthcare Innovations sich als Marktplatz für alle Teilnehmer des Gesundheitswesens, der Innovationen identifiziert, validiert und den Teilnehmern unseres Netzwerkes transparent macht (Abb. 21.1). Mit ihrem Ansatz möchte Healthcare Innovations etablierte Marktteilnehmer wie Krankenhäuser, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen sowie Krankenversicherungen dafür gewinnen, Start-ups und andere Stakeholder mit innovativen Leistungen und Produkte zu unterstützen und Innovationen gemeinsam marktfähig zu entwickeln und zu gestalten.

21.3 Die Arbeitsweise: Qualität erkennen und Vorteile schaffen Entsprechend der Konzeption als Netzwerk bzw. Marktplatz für Innovationen im Gesundheitswesen versteht sich Healthcare Innovations als Dienstleister, der seinen Netzwerkmitgliedern innovative Geschäftsmodelle oder Produkte vorstellt und auf dieser Basis Partnerschaften und Kooperationen initiiert und betreut. Ein wesentlicher Grundstein der Aktivitäten von Healthcare Innovation ist daher eine ausführliche Validierung der jeweiligen Innovation. Diese Validierung

Abb. 21.1   Positionierung Healthcare Innovations im Gesundheitsmarkt

252

S. Röser et al.

(Screening) beinhaltet dabei die Auswertung von Informationen über das Gründerteam, den Businessplan, die Markt- und Wettbewerbssituation und die Berücksichtigung regulatorischer Anforderungen. In diesen Validierungsprozess werden neben dem Team der Healthcare Innovations auch externe Experten einbezogen. Zu diesem Zweck verfügt Healthcare Innovation über ein Advisory Board aus erfahrenen Praktikern, Spezialisten aus dem Bereich Digitalisierung und digitale Geschäftsmodelle, erfolgreiche Seriengründer sowie Hochschulprofessoren mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten. Das Expertenteam wird jeweils fallbezogen zusammengestellt, sodass eine möglichst valide Einschätzung über Marktchancen und Potenziale einer Innovation getroffen werden kann. Auf Basis dieses Validierungsprozesses werden die wesentlichen Informationen und der jeweilige Bedarf (siehe unsere Leistungen) des Start-ups aufbereitet und den Netzwerkmitgliedern zur Verfügung gestellt. Dieses Verfahren schafft zunächst Qualität und Vertrauen für die Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks, es hat aber darüber hinaus für alle Netzwerkteilnehmer konkrete Vorteile: • Start-ups bzw. Anbieter innovativer Lösungen erhalten wertvolle Informationen über die Chancen und Potenziale ihrer Geschäftsidee. • Krankenhäuser, Kliniken und Pflegeeinrichtungen erhalten aufbereitete, validierte Informationen über Innovationen in ihrem Markt. Das spart Zeit und gibt ihnen die Chance, sich mit den wesentlichen Dingen beschäftigen zu können. • Investoren können ihre Investitionsentscheidung auf Basis einer breiten Expertenmeinung treffen. Dies mindert das Risiko einer Fehlinvestition erheblich. • Die Healthcare-Innovations-Experten kommen frühzeitig mit innovativen Ansätzen und Lösungen in Kontakt und können sich gegebenenfalls aktiv in die Fortentwicklung der Innovation einbringen.

21.4 Die Leistungen: individuell und passgenau Das Leistungsangebot von Healthcare Innovations richtet sich grundsätzlich nach den Bedürfnissen der Netzwerkteilnehmer und ist insofern bewusst wenig standardisiert. Alle Leistungen sind so konzipiert, dass für jeden Netzwerkteilnehmer der größtmögliche Vorteil geschaffen werden kann. Krankenhäuser und andere etablierte Marktteilnehmer im Gesundheitswesen erhalten über das aktive Netzwerk sehr früh einen transparenten Überblick über Innovationen im Gesundheitswesen und können beispielsweise als Entwicklungspartner eines Start-ups Innovationen mitgestalten und die Entwicklung marktfähig machen. Innovative Produkte können frühzeitig genutzt werden und erhöhen die Attraktivität für Patientinnen und Patienten. Krankenversicherungen haben die Chance, ihren Versicherten innovative Leistungen anzubieten. Spätestens seit der Diskussion um das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ ist klar, dass innovative und digitale Leistungen künftig eine wichtige Rolle in der Patienten-

21  Healthcare Innovations – eine private Initiative …

253

versorgung einnehmen werden und damit zu einem wesentlichen Markttreiber werden können. Auch die Möglichkeit einer Beteiligung an einem Start-up kann für eine Krankenversicherung Sinn machen – auch hierfür liefert die Healthcare Innovations die wesentlichen Informationen. Start-ups benötigen für eine erfolgreiche Entwicklung sehr häufig einen erfahrenen Partner aus der Praxis. Dieser kann aus dem Netzwerk der Healthcare Innovations gewonnen werden. Auch der Marktzugang stellt im Gesundheitswesen für viele junge Unternehmen eine erhebliche Restriktion dar. Die Healthcare Innovations bietet mit ihrem Netzwerk einen Zugang zu einem großen Kreis etablierter Unternehmen im Gesundheitswesen. Daher bietet das Netzwerk auch die Chance, Investoren für eine Kapitalisierungsrunde zu finden. Hier können wir gewerbliche und private Investoren ansprechen, zugeschnitten auf die konkreten Bedürfnisse. Investoren erhalten einen schnellen Überblick über mögliche Investitionsmöglichkeiten. Darüber hinaus wird die Unsicherheit, die mit Investitionen in einem derart stark regulierten Markt wie dem Gesundheitswesen einhergeht, durch unseren Validierungsprozess deutlich reduziert. Auch eine laufende weitere Betreuung durch Healthcare-Innovations-Experten kann im Anschluss an eine Kapitalisierungsrunde sinnvoll sein. Zusammengefasst bietet Healthcare Innovations über ihr Netzwerk folgende Leistungen an Für Krankenhäuser/Pflegeheime • Zugang zu Innovationen • Als Pate/Pilotpartner kostenfreie Nutzung von Produkten • Mitgestaltung zur praxisgerechten Entwicklung innovativer Anwendungen • Erfahrungsaustausch • Umsetzung eigener Projekte Für Start-ups • • • • • •

Marktzugang und Vertriebsstrukturen Praxisgerechte Produktentwicklung Validierung des Geschäftsmodells Prüfung der Möglichkeit der Vergütung durch die GKV Zugang zu Kapital Know-how etablierter Marktteilnehmer Für Banken/Investoren

• Markttransparenz • Investitionen in Start-ups • Durch vorab validierte und praxiserprobte Geschäftsmodelle sinkt das Risikoprofil

254

S. Röser et al.

Für Krankenversicherungen • Zusammenarbeit mit Krankenhäusern • Austausch mit der Leistungsseite • Zugang zu Start-ups und Innovationen • Investitionsmöglichkeiten Für Hochschulen • Zugang zur Praxis • Teilnahme an Studien • Beratung

21.5 Die Onlineplattform: Beamcoo Health Von Beginn an war für die Gründer von Healthcare Innovations klar: Wer sich mit Innovationen im Gesundheitswesen befasst, benötigt selbst eine innovative (und digitale) Idee, wie Austausch, Kollaboration und das gemeinsame Miteinander während eines Projekts sichergestellt und beschleunigt werden können. Denn zwar finden wichtige Termine, Workshops und Veranstaltungen naturgemäß im direkten Austausch statt, also „offline“. Für den Projekterfolg unverzichtbar ist es allerdings, auch vor und nach einem solchen direkten Austausch engmaschig im Dialog bleiben zu können. Die Erfahrung zeigt, dass Projektschritte sich sonst angesichts anderer Aufgaben im Tagesgeschäft zu sehr verlangsamen und die Kommunikation leidet. Schon in der Gründungsphase haben sich die Initiatoren von Healthcare Innovations deshalb mit dem Start-up Beamcoo (www.beamcoo.com) zusammengetan. Beamcoo bietet seinen Nutzern ab 2020 unter dem Label „Beamcoo Health“ exklusiv für Healthcare Innovations Kunden und Partner eine einzigartige Onlineplattform, die als Ideen-Hub fungiert: In vor fremden Blicken geschützten Gruppen können, wie in einem privaten Forum, auch vertrauliche Themen diskutiert werden. Wer zudem kurze, aber schnell zu klärende Fragen (etwa zu regulatorischen Aspekten) hat, kann diese in einem speziellen Bereich namens „Instant Exchange“ einfach stellen – und erhält nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz von anderen Gruppenmitgliedern Antworten. In einem Feed, wie man ihn privat von Facebook und Instagram kennt, können die Gruppenmitglieder Berufliches posten und damit im besten Sinne „die Flagge hochhalten“ – schließlich tut es gut, wenn die anderen Healthcare Gruppenmitglieder Projektfortschritte und -erfolge live mitverfolgen können. Perspektivisch wird Beamcoo Health über Kommunikation und Austausch hinaus einen weiteren geschützten Bereich bereitstellen, in dem konkrete Projekte zum Zwecke der Kollaboration eingestellt werden können. Hier kann dann der Projektfortschritt für

21  Healthcare Innovations – eine private Initiative …

255

Abb. 21.2   Sneak Preview auf die Beamcoo Health Plattform

Projektteilnehmer sichtbar gemacht und einander „Aufgaben“ zugewiesen werden, um alles im Blick zu behalten (Abb. 21.2).

21.6 Die Vision von Healthcare Innovations • Die Vision der Gründer von Healthcare Innovations ist ein Gesundheitssystem, bei dem alle mutigen Akteure über alle Sektorgrenzen hinweg die Möglichkeit haben, gemeinsam am Thema Innovation zu arbeiten. Es wird als zentrale Aufgabe angesehen, diese relevanten Akteure, die bereit für Veränderungen sind, mit dem Healthcare-Innovations-Netzwerk zu verbinden, zu stärken, zu fördern und gemeinsam für eine spürbare positive Veränderung im Gesundheitssystem zu sorgen. Authentizität und der Mut zur Veränderung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Healthcare Innovations hat dabei den Anspruch, als Vorbild und Leuchtturm für Innovation zu stehen und einen Gestaltungsraum für Kreativität zu bieten. Dafür ist es notwendig, alte Wertevorstellungen und Denkweisen im Gesundheitssystem aufzubrechen. Healthcare Innovations setzt sich daher aktiv für ein „Mindset der Machbarkeit“ bei allen Akteuren ein, um eine praktische Entwicklung und Umsetzung von Innovation zu ermöglichen. Letztlich ist für ein innovatives Gesundheitswesen eine Kombination aus politischem Willen und umsetzungsstarken Praxishandelnden notwendig. Daher sollen gemeinsam mit Entscheiderinnen und Entscheidern aus der Politik Lösungen entwickelt werden, die noch bessere Innovationsbedingungen für die Healthcare-Innovations-Netzwerkpartner und das Gesundheitswesen im Allgemeinen ermöglichen. Man versteht sich dabei als Interessenvertreter für eine innovative Zukunft, für eine noch bessere, patientenzentrierte Versorgung auf internationalem Top-Niveau.

256

S. Röser et al.

Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Einbeziehung der Wissenschaft, um kreativ gestalterische Innovationen mit entsprechender Evidenzbasierung zu unterlegen. Eine kürzlich veröffentlichter Scoping Review von Krick et al. (2019) zeigt beispielsweise, dass viele technologische Innovationen in der Pflege noch auf einem unzureichend niedrigen Evidenzgrad erforscht wurden, um verallgemeinerbare Aussagen zu treffen. Exzellente Forschung auf hohem Evidenzniveau sollte daher die Basis für effektive Innovationen für das Gesundheitssystem bilden. Healthcare Innovations sieht es allerdings gleichzeitig als notwendig an, die Zeiträume für Innovationsentwicklung und Integration in das System so kurz wie möglich zu halten, um am Puls der Zeit zu bleiben. Um dies zu erreichen ist eine effektive Innovationsabfolge sinnvoll: Die Schritte zwischen Innovationsentwicklung, Produktentwicklung, Evidenzforschung und Markteinführung können durch die Vernetzung der Healthcare Innovations Partner so gering wie möglich gehalten werden. Zur Entwicklung von Innovation benötigt es dann kreative Köpfe, die weitestgehend frei von Zwängen innovative Gedanken austesten können. Für alle Mutigen und Kreativen im Gesundheitswesen will Healthcare Innovations der ideale Ansprechpartner sein und hat dabei nicht nur die Innovation und unternehmerische Zukunft im Fokus, sondern vor allem auch die Menschen dahinter. Healthcare Innovations versteht sich daher als Unternehmen mit einem hohen „social impact“. Letztlich liegt es in der Hand der Leistungserbringer (unter anderem Krankenhäuser, Pflegeheime) und Leistungsfinanzierer (Krankenversicherungen), diese Innovationen zu akzeptieren, zu finanzieren, einzuführen und zu nutzen. Dies kann nach Ansicht der Gründer am besten gelingen, wenn alle Beteiligten frühzeitig gemeinsam in die Entwicklung einbezogen werden und ihre Gedanken, ihr Wissen und auch ihre Interessen aktiv mit einbringen. Healthcare Innovations will dafür den Raum bieten. Die große Vision für Healthcare Innovations ist es, ein internationales Wissens- und Personennetzwerk für innovative Ansätze im Gesundheitswesen darzustellen. Letztlich darf bei all dem Streben um Innovation und Zukunft, das eigentliche Ziel solchen Handelns nicht vergessen werden. Es geht um eines der wichtigsten Themen im Leben eines jeden Menschen: die Gesundheit. Gesundheitliche Probleme existieren weltweit in vielschichtiger Form (Institute for Health Metrics und Evaluation 2018). Einen Beitrag zur Verbesserung dieser Situation zu leisten ist daher das übergeordnete Ziel von Healthcare Innovations. Niemand könnte es dabei besser auf den Punkt bringen als Arthur Schopenhauer: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“

21.7 Ein starkes Team: Die Umsetzer • Sarna Röser: Sarna Röser ist leidenschaftliche Unternehmerin, Netzwerkerin und Nachfolgerin eines in dritter Generation geführten Familienunternehmens. Sie ist mit dem Unternehmertum – und allem was dazu gehört – groß geworden. Zudem ist Sarna Röser Bundesvorsitzende von Die Jungen Unternehmer, einem Wirtschafts-

21  Healthcare Innovations – eine private Initiative …











257

verband, der sich als Interessenvertretung für junge Familien- und Eigentümerunternehmer bis 40 Jahre versteht. Des Weiteren ist sie selbst auch Gründerin zweier Start-ups. Unter anderem von Beamcoo, einer digitalen Plattform für Kompetenzaustausch über Unternehmensgrenzen hinweg. Mit diesen Erfahrungen und ihrem großen Netzwerk zu Unternehmern und Investoren unterstützt Sarna Röser junge Gründer und Unternehmer. Marius Henkel: Marius Henkel ist Wirtschaftsprüfer und seit über zehn Jahren auf Unternehmen aus dem Gesundheitswesen spezialisiert. Zu seinen Mandanten gehören Krankenhäuser, Medizinische Versorgungszentren, Rehabilitationskliniken sowie Pflegeeinrichtungen und Dienstleistungsunternehmen im Gesundheitswesen. Daneben hat Marius Henkel einen Lehrauftrag an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg zum Thema Finanz- und Rechnungswesen im Krankenhaus. Er kennt die Strukturen und die Entwicklung des Gesundheitsmarktes und verfügt über ein breites Netzwerk im Gesundheitswesen. Tobias Krick: Tobias Krick ist ein Idealist, Infragesteller und Healthcare Rebell. Er hat einen Masterabschluss in Public Health und engagiert sich seit Jahren in gesundheitspolitischen Gremien für Zukunftsthemen, unter anderem als stipendiatisches Mitglied des Arbeitskreis Gesundheit der Friedrich-Ebert-Stiftung. 2018 rief er das Projekt „Gesundheit Innovativ“ – für mehr Innovation und innovative Gründung – ins Leben, das aufgrund seiner respektvoll rebellischen Umsetzung in kürzester Zeit für Aufsehen im Gesundheitswesen gesorgt hat. Außerdem promoviert er an der Universität Bremen im BMBF geförderten Projekt „Pflegeinnovationszentrum“ zur Bewertung technologischer Innovationen in der Pflege. Sein Ziel ist ein Gesundheitswesen Out-of-the-box. Jürgen Röser: Jürgen Röser trat 1985 nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Karlsruhe (TH) in das 1923 gegründete Familienunternehmen Karl Röser & Sohn GmbH in Mundelsheim ein. Als Familienunternehmer übernahm er 1988 zusammen mit seinem Bruder als Mitgesellschafter die Geschäftsführung. Seit 2004 ist er als Business Angel aktiv und mit seiner Beteiligungsgesellschaft FAIR VC GmbH an diversen Start-ups beteiligt. Zusammen mit seiner Frau Brigida Röser gründete er 2007 die Social Angels Stiftung. Ende 2008 wurde die Social Angels Stiftung als ein Leuchtturmprojekt in Deutschland ausgezeichnet. Klaus Henkel: Vor seinem Ruhestand im Jahr 2013 gehörte Klaus Henkel über 15 Jahre dem Vorstand der Süddeutschen Krankenversicherung (SDK) und der Süddeutschen Lebensversicherung an, davon über acht Jahre als Vorsitzender des Vorstands. Davor war er in leitender Position bei einer der größten öffentlichen Versicherungsgesellschaft in Deutschland. Klaus Henkel verfügt daher über ein großes Netzwerk zu privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen und bringt seine Expertise und sein Netzwerk in die Gesellschaft ein. Michael Schröder: Michael Schröder studierte technisch orientierte Betriebswirtschaft an der Universität Stuttgart. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der

258

S. Röser et al.

Projektentwicklung, -Steuerung und -Gestaltung. Der Schwerpunkt seiner Projekte liegt in erster Linie auf erneuerbaren Energien. Michael Schröder hat weltweit diverse Projekte begleitet und umgesetzt und im Zuge dessen jeweils drei Jahre in Zürich und London gelebt. In diesem Zusammenhang verfügt er über ein breites, internationales Netzwerk zu institutionellen Investoren, Unternehmern und Versicherungen. • Zelda Röser: Zelda Röser studierte Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung (B.A.) und absolvierte ihren Masterabschluss (LL.M.) in Wirtschaftsrecht. Sie ist Leiterin der familieneigenen Beteiligungsgesellschaft FAIR VC GmbH und ist unter anderem für die Eruierung von neuen Investitionsmöglichkeiten sowie die Betreuung des vorhandenen Investmentportfolios zuständig. Zelda Röser verfügt über Erfahrung in der Sichtung, der Auswahl sowie der Beurteilung von innovativen Start-ups und deren Geschäftsidee. Des Weiteren ist sie unter anderem im ScreeningKomitee eines Business Angel Netzwerks aktiv. Zelda Röser verfügt durch diverse Investoren- und Business Angel-Clubs über ein breites Netzwerk zu Business Angels und privaten Investoren.

Literatur Ärzteblatt.de. (2016). Technologischer Fortschritt im Gesundheitssystem ausgebremst. https:// www.aerzteblatt.de/nachrichten/68208/Technologischer-Fortschritt-im-Gesundheitssystem-ausgebremst. Zugegriffen: 29. Aug. 2019. Breyer, F., Zweifel, P., & Kifmann, M. (2013). Gesundheitsökonomik (6. Aufl.). Berlin: Springer. Bundesministerium für Gesundheit. (2019). Entwurf eines Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG). Berlin: BMG. Destatis. (2018). Gesundheitspersonalrechnung. Berlin: Statistisches Bundesamt. Hajen, L., Schumacher, H., & Paetow, H. G. (2017). Strukturen – Methoden – Praxisbeispiele (8. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Institute for Health Metrics and Evaluation. (2018). Findings from the global burden of disease study 2017. Seattle: IHME. Krick, T., Huter, K., Domhoff, D., Schmidt, A., Rothgang, H., & Wolf-Ostermann, K. (2019). Digital technology and nursing care: A scoping review on acceptance, effectiveness and efficiency studies of informal and formal care technologies. BMC Health Services Research, 19, 400.

Sarna Röser  ist leidenschaftliche Unternehmerin, Netzwerkerin und Nachfolgerin eines in dritter Generation geführten Familienunternehmens. Daneben ist sie Bundesvorsitzende von Die Jungen Unternehmer, einem Wirtschaftsverband, der sich als Interessenvertretung für junge Familien- und Eigentümerunternehmer bis 40 Jahre versteht. Zudem ist sie selbst Gründerin zweier Start-ups. Marius Henkel ist Wirtschaftsprüfer und seit über zehn Jahren auf Unternehmen aus dem Gesundheitswesen spezialisiert. Zu seinen Mandanten gehören Krankenhäuser, Medizinische Versorgungszentren, Rehabilitationskliniken sowie Pflegeeinrichtungen und Dienstleistungsunternehmen im Gesundheitswesen.

21  Healthcare Innovations – eine private Initiative …

259

Tobias Krick  ist ein Idealist, Infragesteller und Healthcare Rebell. Er hat einen Masterabschluss in Public Health und engagiert sich seit Jahren in gesundheitspolitischen Gremien für Zukunftsthemen, unter anderem als stipendiatisches Mitglied des Arbeitskreis Gesundheit der Friedrich-Ebert-Stiftung. 2018 rief er das Projekt „Gesundheit Innovativ“ – für mehr Innovation und innovative Gründung – ins Leben. Er promoviert an der Universität Bremen im vom BMBF geförderten Projekt „Pflegeinnovationszentrum“ zur Bewertung technologischer Innovationen in der Pflege.

SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

22

Henri Michael von Blanquet und Marion von Blanquet

Inhaltsverzeichnis 22.1 Hintergrund – SÜNJHAID! Thinking and Networking for the Future of value-based Health Sciences Business. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Neuvermessung der Gesundheitswirtschaft – Navigating Medicine 4.0. . . . . . . . . . . . . . 22.3 SÜNJHAID! Die Gesundheitskapitäne (Leadership) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4 Neuroleadership: Dunbar-Kennzahlen in Netzwerken und Tipping-Point . . . . . . . . . . . . 22.5 SÜNJHAID! Die Gesundheitsstifter (Philanthropie) und SÜNJHAID! Die Gesundheitsentrepreneure (nachhaltiges Gesundheitsunternehmertum) . . . . . . . . . . 22.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 266 268 270 275 276 277

22.1 Hintergrund – SÜNJHAID! Thinking and Networking for the Future of value-based Health Sciences Business Als „Kapitänsschule der Gesundheitswirtschaft“ und „Zukunftswerkstatt Gesundheitswesen“ steht SÜNJHAID! seit 2003 • für die Entwicklung und Implementierung eines internationalen Navigationssystems für die molekular-digitale Medizin 4.0 – „Navigating Health and Medicine with your Smartphone: The Patient will be the CEO of his Health“ (Dr. H.M. v. Blanquet, Chairman of SÜNJHAID!) und

H. M. von Blanquet (*) · M. von Blanquet  Nieblum auf Föhr, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_22

261

262

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

• den Aufbau und Betrieb einer „Internationalen Non-for-Profit-Führungsakademie für die Medizin, die dazugehörigen Gesundheitswissenschaften und die Gesundheitswirtschaft auf der nordfriesischen Seefahrerinsel Föhr“ und • in Anlehnung an die Führungskunst des Polarforschers Shackleton Aufbau und Betrieb einer „SÜNJHAID! Bibliothek für Gesundheitskapitäne, Gesundheitsstifter und Gesundheitsentrepreneure und Concerned und Scientific Citizens“ als geistiger Quelle und Heimat für unseren Think Tank: Ernest Henry Shackleton „verabreichte“ als Leadership-Methode seiner Mannschaft ganz gezielt „geistige Nahrung“ auf See. Hierfür führte er eine kleine Schiffsbibliothek an Bord mit sich. Nach diesem historischen Vorbild baut SÜNJHAID! an seinem eigenen Bücherkanon für Gesundheitskapitäne (Leadership), Gesundheitsstifter (Philanthropie) und Gesundheitsentrepreneure (nachhaltiges Gesundheitsunternehmertum) in einer virtuellen Bibliothek, die, so die Gründervision, auf der Insel Föhr als Stiftungsbibliothek Realität werden soll. Zentrale Werke als „geistiger Heimathafen“ für das Wirken von SÜNJHAID! sind zum Beispiel – (diese empfehlen wir vor und nach der Teilnahme an SÜNJHAID! zu lesen, denn Denken ist Handeln): • Ivan Illich „Die Nemesis der Medizin: Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ (Illich 1995) • Leo A. Nefiodow „Der sechste Kondratieff. Die neue lange Welle der Weltwirtschaft“ (Nefiodow 2014) • Christian E. Elger „Neuroleadership: Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern“ (Elger 2013) • Robin Dunbar „How many friends does one person need?: Dunbar’s Number and other Evolutionary Quirks“ (Konnikova 2014) • Malcom Gladwell „The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference“ (Gladwell 2000) • Frans Johansson „The Medici Effect: What Elephants and Epidemics can teach us about Innovation“ (Johansson 2017) • Ulrich Weinberg „Network Thinking. Was kommt nach dem Brockhaus-Denken?“ (Weinberg 2015) • Nikos Mourkogiannis et al. „Der Auftrag: Was großartige Unternehmen antreibt“ & Henri M. von Blanquet „Unternehmenskultur und Kulturentwicklung im Krankenhausmanagement“ (Mourkogiannis et al. 2006, von Blanquet 2013) • Margot Morrell et al. „Shackletons Way: Leadership Lessons from the Great Antarctic Explorer“ (Morell und Capparell 2001) Das Ziel des 2002 ins Leben gerufenen Think Tanks ist es, über alle sektoralen und nationalen Grenzen hinweg nachhaltiges Vertrauen, einen gemeinsamen Geist und eine verlässliche Loyalität zueinander aufzubauen, damit der „Tipping-Point“ für Konvergenzen schneller erreicht werden kann. Ziel ist es, mit SÜNJHAID! einen „MediciEffekt“ für die Gesundheitswirtschaft zum Patientennutzen auszulösen.

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

263

Unsere wirtschaftstheoretische Basis dafür ist der „Der sechste Kondratieff“ – die Gesundheit im ganzheitlichen Sinne wird – körperlich, seelisch, geistig, ökologisch & sozial – im 21. Jahrhundert Träger einer langen Phase der Prosperität sein. Die Kondratieff-Zyklen beschreiben den Nukleus einer Theorie zur zyklischen Wirtschaftsentwicklung, die Theorie der Langen Wellen. Ausgangspunkt für die Langen Wellen sind neue Basisinnovationen und die damit verbundenen innovations-induzierten Investitionen: Es wird massenhaft in neue Technologien investiert und damit ein Aufschwung hervorgerufen. Nachdem sich die Innovation allgemein durchgesetzt hat, verringern sich die damit verbundenen Investitionen drastisch und es kommt zu einem Abschwung. In der Zeit des Abschwungs wird aber schon an neuen Basisinnovationen gearbeitet, die in der Summe wiederum erneut im Rahmen eines Tipping-Points zum Durchbruch einer neuen langen Welle verhelfen. Abb. 22.1 gibt einen Überblick über den ersten bis sechsten Kondratieff: SÜNJHAID! als Think Tank erkennt in seinem Wirken die folgende Summe an „gleichzeitigen“ Basisinnovationen als Antriebswelle für den sechsten Kondratieff: Die Konvergenz von Biologie und Technologie bedingt eine langanhaltende große globale Innovationswelle für neue Basisinnovationen für ein neues industrielles Zeitalter, dass das auslaufende Informationszeitalter ablöst. Dies wurde bereits durch einen der großen Protagonisten der digitalen Ära, Steve Jobs, erkannt. Jobs sagte: „Ich denke, die größten Innovationen des 21. Jahrhunderts werden an der Kreuzung der Biologie und Technik sein. Eine neue Ära beginnt.“ Die Basisinnovationen des Informationszeitalters sind im Dreiklang: Computer- & Datenbanktechnologie – Internet – Smartphone. Die derzeitige molekular-digitale Transformation der Medizin hin zum sechsten Kondratieff ist vor allem eine technologische; diese Transformation wird unter anderem aus der Verschmelzung der immer höheren Leistungsfähigkeit von intelligenten Hochleistungsdatenbanken und Datawarehäusern inklusive skalierbarer, sicherer Cloudtechnologie, der weiterhin immer noch weiter steigenden Computerpower zu immer

Abb. 22.1   Die langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung (Nefiodow 2014)

264

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

günstigeren Preisen, dem sozialen Networking, dem Internet, der mobilen Konnektivität mit immer höheren Bandbreiten, der Zunahme an künstlicher Intelligenz, der weiter steigenden Leistungsfähigkeit medizinscher Bildgebung, den neuen molekularen OmicsTechnologien (zum Beispiel Genomics, Proteoomis, Metabolomics, Microbiomics, Rapid Next Generation Sequencing, Single Cell Sequencing usw.) und drahtlosen Sensoren sowie weiteren Technologien gespeist. Der Arzt Eric Topol aus San Diego in Kalifornien, einem der internationalen biomedizinischen Konvergenz-Hotspots, hat diese multifaktoriellen Verschmelzungen in seinem weltweit beachteten Buch „The Creative Destruction of Medicine – How the Digital Revolution will create better Healthcare“ als Superkonvergenz beschrieben (Topol 2012). Das trifft es wohl am besten, um diese gesamte Entwicklung in einem einzigen Wort zusammenzufassen, um die nachhaltigen unumkehrbaren, nicht manipulierbaren Auswirkungen auf die Medizin im Sinne eines Compelling Effects auf die Medizin nachvollziehbar zu beschreiben. Die menschliche Biologie ist komplex (Krankheiten sind biologisch auf molekularem Level teilweise noch um ein Vielfaches komplexer), Technologie ist komplex, Krankenhäuser sind komplexe Organisationen und unsere Gesundheitssysteme sind multikomplex – der Auftrag von SÜNJHAID! ist diese Transformation hin zum sechsten Kondratieff immer wieder neu zu durchdenken und durch unsere multiprofessionelle, multisektorale, multistakeholder und „silofreie“ Zusammensetzung unseres Think Tanks diese Transformation durch Annäherung und Orientierung zu „entkomplizieren“. In diesem Sinne laden wir Gesundheitskapitäne als Sprecher und Orientierungspersönlichkeiten ein. Eine starke Orientierungspersönlichkeit trägt immer ein starkes Thema in sich und ist genauso eine Leadership-Persönlichkeit. Ziel von SÜNJHAID! ist auf der molekularen Ebene der Präzisionsmedizin die Zusammenarbeit zwischen Humanmedizinern und Veterinärmedizinern im Rahmen unseres Think Tanks und durch Öffentlichkeitsarbeit kraftvoll zu fördern, um die Entwicklung zum Patientennutzen zu beschleunigen: „from bench to bedside and bedside to bench“

Neuvermessung der Medizin Die meisten medizinischen Behandlungen sind immer noch für den „Durchschnittspatienten“ („on-fits-many“ & „one-fits-all“-Konzepte als eine Einheitslösung konzipiert (von Blanquet 2016), die für einige Patienten erfolgreich sein kann, für andere jedoch nicht (Imprecision Medicine)). Die Precision Medicine ist ein innovativer Ansatz zur maßgeschneiderten Prävention und Behandlung von Krankheiten, bei dem die Unterschiede in den Genen, der Umgebung und dem Lebensstil der Menschen berücksichtigt werden: „The goal of precision medicine is to target the right treatments to the right patients at the right time“ (FDA). Die Precision Medicine stützt sich dabei auf ihrer tiefsten Ebene auf molekulare Analysen und bestimmt so neuerdings Krankheitsbilder n = 1 – der Patient erhält keine symptom- und statistisch basierte ungenaue Diagnose, sondern erhält eine molekular, individuell basierte präzise Diagnose durch Beschreibung des biologischen Krankheitsmechanismus. Wir sprechen von der Neuvermessung der Medizin.

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

265

Neuvermessung von Mensch, Tier und Natur Noch immer werden in Forschungslaboren zur Erprobung der Wirksamkeit von für den Menschen konzipierte Medikamente und Anwendungen spezielle Versuchstiere insbesondere Mäuse eingesetzt. Tiere, welche speziell für diese Versuche gezüchtet und unter nicht natürlichen Laborbedingungen gehalten werden. Man macht sie krank, pflanzt ihnen zum Beispiel Krebszellen ein und wartet ab, was bei der Gabe von diesem oder jenem Medikament bzw. Anwendung wie Strahlentherapie passiert. In der Veterinärmedizin finden parallel ebenso aufwendige Forschungen und Versuche statt. Es gibt erhebliche biologische Übereinstimmungen zwischen Säugetieren, zu welchen auch der Mensch gehört, und dennoch werden bisher nur im geringsten Maße die Ergebnisse miteinander abgeglichen und eine humanmedizinisch-veterinärmedizinisch interdisziplinäre Forschung auf molekularem Level angestrebt. Eine enge Zusammenarbeit findet nur in besonderen Ausnahmefällen statt. Speziell der Hund ist dem Menschen im Aufbau des gesamten Organismus extrem ähnlich. Humanmedizinische Medikamente finden seit Generationen mit Erfolg Anwendung in der Tiermedizin und man muss sich die Frage stellen, ob dieser Umstand unter bestimmten Umständen auch umkehrbar ist (Natterson-Horowitz und Bowers 2014). Wünschenswert ist eine diesbezügliche Zusammenarbeit zwischen Human- und Veterinärmedizin und biologischer Grundlagenforschung insbesondere auf molekularer Ebene zwecks Abgleich der Ergebnisse und Entwicklung gemeinsamer Forschungsansätze, sowie zur Erlangung möglicher Handlungsalternativen. Dies wird SÜNJHAID! ganz gezielt durch entsprechend interdisziplinär besetzte Panel auf der Insel Föhr ab 2020 fördern, um so einen Handlungsanstoß zur interdisziplinären Zusammenarbeit in die forschende Community zu geben. Ein aktives Positivbeispiel für unseren Ansatz ist das Salk Institute for Biological Studies in Kalifornien, an dem humane molekularbiologische & neurowissenschaftliche Forschung gleichzeitig mit pflanzenbiologischer Forschung sehr erfolgreich unter einem Dach seit Institutsgründung 1960 praktiziert wird und ein ständiger interdisziplinärer sich gemeinsam inspirierender Austausch zwischen den Forschern auf dem Salk-Campus stattfindet. Von rund 3000 biomedizinischen Forschungsinstituten weltweit gehört das Salk zu den fünf erfolgreichsten Forschungseinrichtungen. Die derzeitige molekulare Neuvermessung von Mensch, Tier und Natur (NGSSequencing) sollte unbedingt gemeinsam stattfinden und die bestehenden „Silos“, insbesondere zwischen Human- und Veterinärmedizin, schnell zugunsten der Beschleunigung der biologischen Entschlüsselung aller Krankheitsmechanismen auf molekularer Ebene zum Patienten- und Tiernutzen zum Aufbau gemeinsamer Information Commons aufgelöst werden. Es gibt ubiquitäre biologische Mechanismen, die interdisziplinär schneller entschlüsselt werden können. Das Leitmotiv von SÜNJHAID! ist transdisziplinäre Nachhaltigkeit in Forschung, Entwicklung, Diagnostik und Therapie zu fördern. Wenn derartige, zusätzliche und/oder neue Ansätze dazu beitragen können, bisher als unheilbar geltende Krankheiten zumindest zu „zivilisieren“, ist bereits wieder

266

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

viel gewonnen und ein weiterer Meilenstein im Kampf gegen zum Beispiel den Krebs erreicht. Salon der Heilkunst Seit Gründung veranstalten wir im Rahmen von SÜNJHAID! Die Gesundheitskapitäne auf der Insel Föhr im Rahmen des SÜNJHAID!-Symposiums immer auch den „Salon der Heilkunst“ als Konvergenzplattform zwischen bisher konkurrierenden Heilansätzen, um zunächst im Diskurs und dann ganz praktisch Schulmedizin mit alternativen Heilverfahren komplementär zum Patientennutzen anwenden zu können. Im Salon der Heilkunst verfolgen wir die Absicht, unbedingt auch das überlieferte medizinische Weltwissen alter Kulturen zur individuellen Anwendung zu heben und so einen „Atlas of Humanity“ entstehen zu lassen. Wiederum ist für uns die zentrale Motivation, diese Wissens- und Erfahrungssilos zum Patientennutzen anwendbar und navigierbar in Information Commons zusammenzuführen. Dieses Wissen sollte in die Neuvermessung der Medizin und des Menschen einfließen und dafür eine Open-Source-Lösung zur barrierefreien Nutzung des medizinischen Weltwissens durch alle Patienten und Gesundheitsberufe gefunden werden. Für die meisten Heilverfahren wird man auch einen molekularen Mechanismus finden, sodass diese genauso Bestandteil von präzisionsmedizinischen Anwendungen sein werden. Ziel ist im Salon der Heilkunst den sechsten Kondratieff ganzheitlich abzubilden.

22.2 Neuvermessung der Gesundheitswirtschaft – Navigating Medicine 4.0 Die gesamte Zukunft für eine skalierbare und wertorientierte nachhaltige Medizin ist international, weil in Zukunft nur international skalierbare Lösungen einsetzbar sind – die molekulare und digitale Transformation der Medizin trägt dazu bei, ein präzises, individualisiertes und skalierbares Koordinationssystem für die medizinische Navigation von Patienten, aber auch bereits für die Prävention von Krankheiten zu schaffen (Topol 2012). Die molekularen Diagnosen, die als präzise digitale Ankerpunkte für alle vorhandenen digitalisierten medizinischen Informationen des Menschen dienen können, weil sie individuell der präziseste navigierbare Ankerpunkt für Patientendaten darstellen, haben die Fähigkeit, in Zukunft ein globales „patientenzentriertes Gesundheitsnavigationssystem“ zu schaffen (von Blanquet 2017). Dies könnte das „Google-Maps-System der Medizin“ werden: Das humane GPS-Navigationssystem: Precision Medicine basiert auf dem gleichen technologischen Grundgedanken wie zum Beispiel Google-Maps als dem am weitesten verbreiteten Global Positioning System (GPS) und geografischen Informationssystem (GIS): Die geografischen Informationssysteme (GIS) wie Google Maps, die einen mehrschichtigen Ansatz übereinanderliegender Datenbanksysteme zur Auswertung und zur

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

267

Visualisierung von Daten weltweit zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel einen Standort via Satellit mit Straßennamen, Sehenswürdigkeiten und Echtzeit-Verkehrsdaten auf dem Smartphone-Bildschirm übereinander gelagert, zu nur einer für den Nutzer verständlichen visuellen Ansicht verschmolzen dargestellt zu sehen, sind die besten illustrativen Beispiele, den Grundgedanken und die Technologie für ein Navigationssystem der Medizin allgemein verständlich übertragbar darzustellen. Das Beispiel des „Navis für die Medizin“ ist die datenbanktechnische Basisarchitektur für eine nachhaltige Precision Medicine. Mit den mehrschichtigen virtuellen Ansichten in Google Maps, je nach individueller Abfrage und Auswertung, hat man bereits teilweise das Gefühl, zum Beispiel im Falle von Streetview, physisch vor Ort zu sein. Während Google unseren Globus digitalisiert und somit ein GIS für die Erde geschaffen hat, ist es nun möglich, einen Menschen vergleichsweise genauso zu digitalisieren. Eine „GoogleMedMap-System für den Menschen“ liegt bestimmt nicht mehr in weiter Ferne. Precision Medicine setzt sich in seiner Grundstruktur aus mehreren für Auswertungen zusammenschaltbaren Datenbankebenen zusammen (Abb. 22.2), die nunmehr für jedes Individuum aufgebaut und analysiert werden können. Dazu gehören Daten von Biosensoren, Scannern, elektronische medizinische Aufzeichnungen, Social-Media-Daten, und die verschiedenen „Omics“, die unter anderem die DNA-Sequenz umfassen, das Transkriptom, das Proteom, das Metabolom, das Epigenom, das Mikrobiome und Exposom (Datensammlung über die authentische Umgebung, in der sich das Individuum in seinem Lebensumfeld bewegt) und weitere medizinische Datenquellen, wie zum Beispiel das mehrschichtige biomedizinische Weltwissen.

Abb. 22.2   Vergleichbar zu GPS & GPI setzt sich die Grundstruktur der Precision Medicine als Basisinnovation aus mehreren für Auswertungen zusammenschaltbaren Datenbankebenen zusammen, die nunmehr für jedes Individuum aus einem Knowledge Network bzw. Information Commons aufgebaut und analysiert werden können, um die bestmögliche individuelle Therapie präzise zu identifizieren. Ankerpunkte dieser Medizinnavigation sind die molekularen Datenbankebenen (National Research Council of the National Academies of Sciences 2011)

268

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

22.3 SÜNJHAID! Die Gesundheitskapitäne (Leadership) Die Gesundheitskapitäne sind das Gründungsformat von SÜNJHAID! mit Leadership-Fokus – seit 2003 findet jährlich immer beginnend an Christi Himmelfahrt von Donnerstag bis Sonntag Think Tank, Symposium und die Brainpools der „Gesundheitskapitäne“ auf der nordfriesischen Seefahrerinsel Föhr statt – erst Denken, dann Handeln – SÜNJHAID! ist immer auch eine mögliche Kombination von Think Tank und authentischem Kurzurlaub auf der Insel Föhr nach unserem Motto: „RHÜM HAART, KLAR KIMMING“ (Fering: „Ein großes geöffnetes Herz und einen klaren Horizont“). Diesem Wahlspruch der Inselnordfriesen von Föhr fühlen wir uns als Concerned Citizens im Gesundheitswesen verpflichtet. Als Menschen und als Verantwortungsträger blicken wir über den fachlichen Horizont hinaus – denn die Verantwortung für die Gesundheit ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft! Diesen geistigen Nukleus ergänzen wir auf Föhr, um insulare Verbindlichkeit und Fröhlichkeit und das Erlebnis an einer Begegnung unter Freunden teilzuhaben – „SÜNJHAID! The Health Captains: Partner, Family, Friends and Colleagues are always welcome – since 2003“: Watten, Reiten, Golfen, Segeln, Surfen, Fahrradfahren: Die Teilnahme an SÜNJHAID! auf der Gesundheitsinsel Föhr ist auch immer ein Familienerlebnis mit hoher emotionaler Verankerung. Unser Ziel ist, dass alle teilnehmenden Gesundheitskapitäne von der Insel Föhr mit einer authentischen „Wellbeing-Erfahrung“ aufgeladen an ihre Wirkungsstätten zurückkehren und in diesem Sinne den LeadershipKompass von SÜNJHAID! verinnerlichen und verbreiten: Die Gesundheitskapitäne: Leadership zum Patientennutzen Der Focus für SÜNJHAID! Die Gesundheitskapitäne liegt auf der Kultivierung und Aktivierung eines nachhaltigen am Patientennutzen orientierten Leaderships in der Gesundheitswirtschaft – hierzu propagiert SÜNJHAID! den „Leadership-Kompass“: „Networking for the Future of Value-based Leadership in Health Sciences.“ Im Zentrum des Leadership-Kompasses steht „Wellbeing“ als Kernaufgabe der Selbstführung, umgeben von den Führungsverantwortungsfeldern, die von einem „Gesundheitskapitän“ nicht wegdelegierbar sind (Abb. 22.3): Wellbeing SÜNJHAID! strebt nach gesunder Führung in gesunden Organisationen. Das innere Wohlbefinden des Gesundheitskapitäns ist dabei die innere Dimension und umfasst nach Hinterhuber et al. sechs Dimensionen: 1. Gesundheit (die physische Dimension) 2. Finanzielle Sicherheit (die materielle Dimension) 3. Eine erfüllende und befriedigende Aufgabe, die die persönliche Entwicklung und das Lernen fördert (die intellektuelle Dimension)

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

269

Abb. 22.3   „Leadership-Kompass“ nach Hinterhuber und Krauthammer (1998); Darstellung der Führungsverantwortungsfelder, die nicht delegierbar sind. Der Leadership-Faktor „Wellbeing“ als Ankerpunkt der „Kompassnadel“ beinhaltet dabei im Wesentlichen die Selbstführung und eine authentische und balancierte Führungspersönlichkeit als Voraussetzung für „gesunde“ Leadership

4. Liebe, Zuneigung, gute Familienbeziehungen, Freunde (die emotionale Dimension) 5. Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft – der „Auftrag“ (die soziale Dimension) 6. Der Sinn des Lebens (die spirituelle Dimension) Ziel Das Ziel von SÜNJHAID! Die Gesundheitskapitäne ist die Errichtung einer internationalen Führungsakademie für Gesundheitswirtschaft auf der nordfriesischen Seefahrerinsel Föhr nach dem Vorbild der historischen Föhrer Kapitänsschulen, die zwischen dem 16.-18. Jahrhundert über 2000 Kapitäne hervorbrachten und dem Organisationsprinzip der Baden-Badener Unternehmergespräche. Horizont Die Fähigkeit des Networkings gehört unbedingt zur Führungskompetenz von „Gesundheitskapitänen“. Zu viele Führungskräfte begreifen Networking fälschlicherweise als

270

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

Kür (von Blanquet 2017). Die Qualität und Fähigkeit des Networkings und Synapting (verknüpfen von getrennten Netzwerkinseln und von kleineren Netzwerken zu größeren Netzwerkeinheiten) ist eine Leadership-Kompetenz („Leadership-Kompass“, Abb. 22.3), das heißt eine Kernkompetenz, die von einem Manager und Leader nicht wegdelegierbar, sondern unmittelbar mit seiner eigenen Persönlichkeit verbunden ist und seine Sichtbarkeit ausmacht. Ein prägnantes Beispiel für die Wertschätzung der Ergebnisqualität erfolgreichen Networkings durch einen Leader ist der Chemie- (1954) und Friedensnobelpreisträger (1962) Linus Pauling, der seinen kreativen Erfolg nicht auf sein Glück oder seinen immenses Intellekt zurückführte, sondern auf seine vielfältigen Kontakte: „Die beste Methode, um eine gute Idee zu haben, besteht darin, viele Ideen zu haben“. Die Befähigung zum multiprofessionellen und multisektoralen Netzwerken und der professionellen Führung interdisziplinärer Netzwerke wird immer mehr zum zentralen Bestandteil des Leaderships in der Gesundheitswirtschaft und den Gesundheitswissenschaften, weil medizinisch-betriebliche bzw. medizinisch-wissenschaftliche StandaloneLösungen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Die Nettobotschaft lautet: Die „Ich-AG“ hat ausgedient. Die heutige Realität ist, um langfristig Erfolg zu haben, das über viele Jahre aufgebaute und gepflegte eigene strategische Netzwerk (Tab. 22.1) eine alternativlose Notwendigkeit geworden. Der Aufbau eines persönlichen Leadership-Netzwerkes ist nicht primär eine Frage des Talentes, sondern vor allem eine Frage des eigenen Willens, es wirklich zu tun. SÜNJHAID! will dafür im Sinne von Mentorship seiner Gesundheitskapitäne eine solch wertvolle und übertragbare Ausgangsbasis für die kommenden Führungsgenerationen schaffen. Vielfältig glauben Führungskräfte, die keine Leadership-Persönlichkeiten sind, sie haben erfolgreiches Netzwerken bereits in ihr Handeln adaptiert, bewegen sich jedoch immer noch ausschließlich auf dem operativen und privaten Netzwerkniveau. Erfolgreiche Leader hingegen pflegen strategische Netzwerke und versuchen Netzwerkallianzen anzugehören.

22.4 Neuroleadership: Dunbar-Kennzahlen in Netzwerken und Tipping-Point Die Dunbar-Kennzahlen: Untersuchungen durch Robin Dunbar, dem Leiter des Institute of Anthropology an der Universität Oxford, zu unserem sozialen Netzwerkverhalten und unserer auch zahlenmäßig limitierten Kapazität, Netzwerke zu unterhalten, hatten Kennzahlen zum Ergebnis, die ganz offenbar unseren neurophysiologisch angelegten Neocortex-Kapazitäten für Beziehungen (Social Brain Hypothesis) entsprechen. Die Anzahl von Menschen, zu denen wir bestenfalls in der Lage sind, dauerhafte und werthaltige Kontakte zu unterhalten, beläuft sich auf rund 150 Menschen, das heißt, dies ist eine kognitiv limitierte Anzahl von Menschen, mit denen eine Einzelperson vollumfänglich soziale Beziehungen unterhalten kann. Innerhalb dieser Beziehungsgröße

Schlüsselkontakte sind sowohl Ermessenssache als auch an den komplexen strategischen Lösungsüberlegungen ausgerichtet. Die Rekrutierung erfolgt strategisch durch Vernetzung von bereits bestehenden Organisationen und Personen. Plattformen für „Elder Statesman“ Schlüsselkontakte folgen primär den strategischen Erfordernissen und dem Umfeld der eigenen Organisation, spezifische Zugehörigkeiten sind Ermessenssache und es ist nicht immer klar, wer relevant ist. Mitgliedschaften sind oftmals an ein Bürgensystem gebunden Schlüsselkontakte sind zumeist Ermessenssache und es ist nicht immer klar, wer jetzt oder später relevant sein wird. Für die Zugehörigkeit sind oftmals Bürgen Voraussetzung

Mitspieler und Rekrutierung Schlüsselkontakte orientieren sich entlang der operativen Aufgabenstellung und am „Organigramm“ – damit ist klar, wer für ein operatives Netz relevant ist

(Fortsetzung)

Überregionale bis globale Ausrichtung durch Zusammenwirken mehrerer Netzwerke unter einem „Allianzdach“ Interne und externe Kontakte – Ausrichtung auf strategische Zukunftsthemen

Zugehörigkeit zu einer internationalen, multiprofessionellen und multistakeholder Netzwerkallianz, das den eigenen Netzwerk-Radius strategisch in eine höhere, nicht mehr persönlich beherrschbare Dimension erweitert und vorhandene Netzwerke zu einer strategischen „NetzwerkAllianz“ verbindet

Zukünftige Prioritäten und Herausforderungen herausfinden in Verbindung mit der Organisation der gegenseitigen Unterstützung durch andere Stakeholder

Wachstum durch Erweiterung des persönlichen und professionellen Umfeldes; Zugang zu nützlichen Informationen und Kontakten

Schwerpunktmäßig externe Kontakte. Orientierung an aktuellen und möglichen zukünftigen Interessen

Effiziente Aufgabenerledigung, dafür Netzwerkpflege der erforderlichen Kenntnisse und Funktionen

Zweck

Strategische Allianzen

Strategische Netzwerke

Persönliche Netzwerke

Lokalisation und temporäre Schwerpunkt: „betriebsOrientierung interne“ Experten

Operative Netzwerke

Netzwerk

Tab. 22.1  Die vier Formen von Netzwerken

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0 271

Operative Netzwerke

Tiefe: Aufbau starker Arbeitsbeziehungen

„nicht öffentlich“ – kaum externe Verbindungen

„nicht öffentlich“

Netzwerk

Netzwerkattribute und Verhaltensweisen

Netzwerk-Beispiele

Beispiele

Tab. 22.1   (Fortsetzung) Strategische Netzwerke

www.nrv.de www.dcada.de www.suevia.de www.seenotretter.de www.johanniterorden.de www.rotary.org

Zum Beispiel Sportvereine, Studentenverbindungen, Non-for-ProfitOrganisationen, Orden, Alumni-Clubs

Zum Beispiel M8-Allianz des Weltgesundheitsgipfels Berlin, Weltwirtschaftsforum Davos, Kenup Foundation, Malteser, BIOCOM, HIMSS www.worldhealthsummit. org www.worldeconomicforum. org www.biocom.org www.himss.org www.medicinale.eu www.orderofmalta.int

www.cdgw.de www.amcham.de www.medicinale.club www.uebersee-club.de www.suenjhaid.org www.bbug.de

Skalierbarkeit: überregional bis global – typischerweise um „Large-Scale-Business“ für neue Technologien ehemals getrennter Industriezweige zu beherrschen (Konvergenz) und zur Lösung komplexer globaler Probleme

Strategische Allianzen

Zum Beispiel Wirtschaftsclubs mit nationalen und internationalen Partnerclubs, Handelskammern, Think Tanks

Breite: Ausgestreckte Hand Hebelwirkung: Verzu Kontakten, die den linkung der internen Unterschied machen können und externen Welten; Horizonterweiterung und Erweiterung des eigenen Wirkungsradius –Netzwerkbasis für Kreativität und Problemlösungen

Persönliche Netzwerke

272 H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

273

kennt der begabte Netzwerker nicht nur alle Namen und Lebensgeschichten – vor allem kennt er auch sämtliche Querverbindungen und Abhängigkeiten innerhalb dieses Beziehungsgeflechtes. Dunbar hat zusätzlich herausgefunden, dass die weiteren von uns beherrschbaren Gruppengrößen in etwa einer „Regel von Drei“ entsprechen: Ein engerer Freundeskreis kann sich aus bis zu 50 Persönlichkeiten zusammensetzen, während ein unsere Aktivitäten unterstützender „Inner Circle“ in etwa 15 Personen ausmachen kann. Den intimen und vertrauenswürdigsten Freundeskreis bemisst Dunbar mit lediglich fünf Freunden bzw. Familienmitgliedern. Mithilfe der von Robin Dunbar geschaffenen sozialen Kennzahlen für Netzwerke von Einzelpersonen können wir eine Selbsteinschätzung unserer persönlichen kognitiven Netzwerkkapazität vornehmen, die für jeden von uns den Aufbau und die Pflege unseres eigenen Netzwerkes authentisch und qualitativ besser steuerbar macht. Bezogen auf die aus dem Neuroleadership bekannte kognitive Fähigkeit zu lebenslangem Lernen können wir unsere individuellen DunbarKenngrößen durch aktives Netzwerken im Laufe der Zeit expandieren. Dies ist ein klassischer neurophysiologischer Anpassungsprozess. Die Dunbar-Kennzahlen helfen uns, unser eigenes Netzwerk zu analysieren, um es quantitativ und qualitativ zu managen (Dunbar 2010). Soziale Netzwerke bestehen häufig nur aus Clustern (Netzwerkinseln), die keine Verbindung (Synapsen) untereinander haben. Solche unverbundenen Cluster gehen auf zwei defizitäre Prinzipien zurück: 1. Prinzip der Selbstähnlichkeit: Das „Prinzip der Selbstähnlichkeit“ besagt: Sie neigen beim Knüpfen von Kontakten primär dazu, sich mit den Menschen zu umgeben, die Ihnen im Hinblick an Erfahrung, Ausbildung und Weltanschauung ähnlich sind. 2. Das Prinzip der Nähe steht der Vielfalt von Netzwerken gleichermaßen im Wege: Es besagt, dass Sie in Ihre Netzwerke primär Personen aufnehmen, mit denen Sie bereits die meiste Zeit verbringen. Mitarbeiter mit ähnlichen Ausbildungen arbeiten in gleichen Abteilungen, und Menschen aus ähnlichen Verhältnissen neigen dazu, in derselben Umgebung zu wohnen. Wenn Sie selbst Ihren natürlichen Neigungen nachgeben und Ihre Netzwerke nach dem Prinzip der Nachbarschaft und Selbstähnlichkeit aufbauen, dann erzeugen Sie nur Echos und verpassen den eigentlichen Zweck von Netzwerken: multiprofessionelle und multikulturelle Vielfalt und Horizonterweiterung durch die eigene Multistakeholder-Kontaktwelt. Das echte Netzwerk und sein Mehrwert entsteht erst durch das Zusammenschalten zunächst getrennter Netzwerk-Cluster durch einen Connector, das heißt einer Vermittlerpersönlichkeit, die persönlich in diesen Clustern verankert ist und die die Fähigkeit besitzt, zwischen diesen Clustern Synapsen zu schalten. Unverbundene Cluster ohne aktiven Vermittler (Synaptiker) generieren keine neuen Informationen für die Mitglieder der einzelnen Cluster, sondern nur Echos. Synaptiker treten als aktives Bindeglied zwischen bislang unverknüpften Gruppen auf. Durch einen talentierten Synaptiker bekommt jedes Mitglied jeder Gruppe Zugang zu anderen Teilen des Netzwerkes und erst durch das Zusammenschalten der Synapsen der getrennten Netzwerkcluster können sichtbare Mehrwerte zur Lösung komplexer Aufgabenstellungen geschaffen werden. Das Synapting ist der eigentliche Zweck jeder Netzwerkarbeit. Neurophysiologisch

274

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

macht unser Gehirn selbst genau die gleiche synchronisierte synaptische Zusammenschaltung verschiedener anatomisch getrennter Hirnareale zur Verarbeitung komplexer Sinneseindrücke bzw. in der Genese der eigenen komplexen kreativen Gedankenwelt. Es reicht also nicht formal, Netzwerke zu betreiben, sondern erst durch das synaptische Zusammenschalten der getrennten Cluster entsteht ein wirksames synaptisches Netzwerk. Vermittlerpersönlichkeiten, die gar die Fähigkeit besitzen, mehrere Netzwerke zu strategischen Allianzen (Tab. 22.1) zusammenzuschalten, nennt man Supra-Synaptiker. Mehrwert von Netzwerken Um selbst ein Netzwerk zu schaffen, dass reich an sozialem Kapital ist, sollten Sie aktive Beziehungen zu einflussreichen Synaptikern pflegen und diese auch zu Ihrem Nutzen und zum Nutzen der anderen Netzwerkmitglieder in deren Netzwerkarbeit persönlich unterstützen. Sind Sie selbst ein Synaptiker, dann verbünden Sie sich mit weiteren Synaptikern und formen vielleicht gemeinsam eine Netzwerkallianz (Tab. 22.1). Netzwerke dienen dem Zugang zu vertraulichen und privaten Informationen – ausschließlich das Vertrauen zueinander im Beziehungsgeflecht bestimmt die Outcome-Qualität. Mit einer einseitigen, kurzfristigen Nehmerrolle werden Sie nie ein wertvolles und respektiertes Mitglied eines Netzwerkes werden und somit auch kein nachhaltiges Vertrauen aufbauen können – nur wenn Sie selbst uneigennützig und regelmäßig Input in das eigene Netzwerk hineingeben, werden Sie auch selbst etwas Werthaltiges zurückbekommen. Gute Netzwerkarbeit wird durch die eigene Haltung und Ihre Netzwerkloyalität bestimmt und kann nur von Ihnen selbst geleistet werden (Abb. 22.2), zum Beispiel insbesondere dadurch, dass Sie für Ihre eigenen Kontakte uneigennützig neue Kontakte schaffen. So wächst Ihr Vertrauenskapital im Netzwerk und dann können Sie später mit einer anderen Legitimation auf Ihr Netzwerk zurückgreifen, wenn Sie es selbst brauchen. Der Mehrwert von Netzwerken entsteht also durch Ihr eigenes Investment in das Netzwerk und benötigt Zeit. Langfristig gewinnen diejenigen, die nicht erst in Notzeiten kooperieren. Ein strategisch fundierter Netzwerkaufbau ist zeitaufwendig. Nettobotschaft: „Just do it.“ Bereits ein kleines besonders werthaltiges multiprofessionelles und MultistakeholderNetzwerk von rund 150 Personen (Dunbar-Zahl), das reich an eigenen Synaptikern und Charismatikern ist, kann bereits selbst einen Tipping-Point durch die eigene Kraft dieser Multiplikatoren und deren externen Verbindungen und Wirkungen in weiteren vergleichbaren und andersartigen Netzwerken auslösen. Der Tipping-Point geht nach Malcom Gladwell auf das Gesetz der Wenigen zurück und ist jener Moment, wenn eine Idee, ein Trend, eine Mode oder ein soziales Verhalten eine Schwelle überschreitet, kippt und sich wie eine nicht mehr aufzuhaltende Welle ausbreitet. Der Tipping-Point ist der Moment der kritischen Masse, die in der Lage ist, eine solche Welle auszulösen. Gladwell konnte zeigen, dass dafür bereits in Übereinstimmung mit der Dunbar-Zahl rund 150 Menschen in einem Netzwerk die Voraussetzungen dafür schaffen können (Gladwell 2000).

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

275

22.5 SÜNJHAID! Die Gesundheitsstifter (Philanthropie) und SÜNJHAID! Die Gesundheitsentrepreneure (nachhaltiges Gesundheitsunternehmertum) Der Focus von SÜNJHAID! Die Gesundheitsstifter liegt auf der Kultivierung und Aktivierung einer nachhaltigen, am Patientennutzen orientierten Philanthropie in der Gesundheitswirtschaft: „Think Tank and Network for the Future of value-based Philanthropy in Health Sciences“. Philanthropie bedeutet im Wortsinn Menschenfreundlichkeit oder Menschenliebe und ist ein Leitmotiv für SÜNJHAID!. Philanthropie ist affirmativ, personenbezogen, wertebezogen und universell – sie ist die nachhaltige Verantwortung erfolgreicher Unternehmer und privilegierter Persönlichkeiten, eben Bestandteil von Leadership – und besonders wichtig im Kontext von Gesundheit und Krankheit. Eine engere auf den Patientennutzen fokussierte Verzahnung zwischen dem Profit-, Non-Profit- und Wissenschaftssektor in der Gesundheitswirtschaft hilft allen Verantwortlichen. Neue „silofreie“ Formen der auf gleiche Ziele (zum Beispiel Valuebased Healthcare & Precision Medicine & Regenerative Medicine) orientierten Zusammenarbeit sollen hier entstehen und kultiviert werden. „Die Gesundheitsstifter! INNOVATIONEN ZUM PATIENTENUTZEN“ greifen dies für die Gesundheitswirtschaft auf. Die Gesundheitsstifter! sind eine Nachhaltigkeitsinitiative für die digitale und molekulare Transformation der Medizin zur Precision Medicine und Regenerative Medicine an der Schnittstelle zwischen Profit & Non-Profit & Health Sciences – Startup-Unternehmer und Investoren. Die Gesundheitsstifter! sind ein multiprofessionelles, Multistakeholder-Think Tank und Forum mit einem Start-up-Slam in Berlin in Gemeinschaft mit dem Hoppegartener Gesundheitspanel und dem sich anschließenden Renntag der Gesundheit auf der traditionellen Rennbahn Hoppegarten – Rennen seit 1868 – Ziel des „Renntages der Gesundheitswirtschaft“ und der Gesundheitsstifter ist es, ein neues unverbrauchtes, alte Muster brechendes Format, an den benannten Schnittstellen zwischen Gesundheitswirtschaft, Gesundheitswissenschaft, Gesundheitspolitik und den Gesundheitsstiftungen, den Philanthropen und Investoren, als Begegnungsstätte zu kultivieren: Dieses Gesamtkunstwerk der Gesundheitsstifter! fühlt sich ausschließlich dem Patientennutzen verpflichtet, deswegen trägt es den Untertitel „INNOVATIONEN ZUM PATIENTENNUTZEN“ – Innovationen, die das Outcome für den Patienten messbar verbessern, sollen durch unsere Nachhaltigkeitsinitiative gerade auch mithilfe der Gesundheitsstiftungen schneller in Klinik und Praxis Einzug halten. Die Verortung von SÜNJHAID! Die Gesundheitsstifter ist auf der Insel Sylt im Weltnaturerbe nordfriesisches Wattenmeer. Dort wird jährlich eine Gesundheitsstiftertag abgehalten. Der Focus von SÜNJHAID! Die Gesundheitsentrepreneure liegt auf der Kultivierung und Aktivierung eines nachhaltigen am Patientennutzen orientierten Entre-

276

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

preneurships in der Gesundheitswirtschaft: Think Tank and Network for the Future of value-based Health Sciences Entrepreneurship. Nachhaltiges Gesundheitsunternehmertum: Von der Lust, ein Gesundheitsentrepreneur zu sein …– gesucht werden: „dynamische Unternehmer“, Pionierunternehmer, Erfinderunternehmer und Unternehmenserfinder.  Entrepreneurship bezeichnet einerseits das Ausnutzen der unternehmerischen Chancen, sowie den kreativen und gestalterischen Anteil im unternehmerischen Prozess bzw. einer Phase aktiven unternehmerischen Wandels, und zum anderen eine wissenschaftliche Teildisziplin der Betriebswirtschaftslehre. Die dazugehörige Gründungsforschung präsentiert sich als ein interdisziplinäres Forschungsgebiet. SÜNJHAID! fördert und verbreitet das von Michael Porter & Kollegen (zum Beispiel Dr. Clemens Guth, MD, MBA) an der Harvard Business School entwickelte Konzept einer auf „Value-based Healthcare“ ausgerichteten Gesundheitswirtschaft, das heißt, der volkswirtschaftlich gesetzte Haupthandlungsanreiz ist der Patientennutzen. SÜNJHAID! möchte „nachhaltiges Gesundheitsentrepreneurship“ und Gründerpersönlichkeiten, die sich an der „Value-based Healthcare-Konzeption“ von Porter & Kollegen, das heißt am Patientennutzen ausgerichteten unternehmerischen Handeln, orientieren, aktiv fördern und arbeitet dafür mit Netzwerkpartnern, wie zum Beispiel dem Club der Gesundheitswirtschaft und der XPOMET Medicinale, strategisch zusammen. Die Gesundheitsentrepreneure sind das jüngste Format von SÜNJHAID!. Ziel ist die Gesundheitsentrepreneure parallel zu den Gesundheitskapitänen auf der Insel Amrum zu verankern.

22.6 Ausblick Basierend auf der Neuroleadership-Erkenntnis der Dunbar-Number 150 und TippingPoint-Number 150 sind die drei SÜNJHAID!-Arme Gesundheitskapitäne, Gesundheitsstifter und Gesundheitsentrepreneure auf jeweils maximal 150 Teilnehmer begrenzt, um sich in jedem Format ein nachhaltiges Netzwerk und Think Tank aufbauen und pflegen zu können, sodass alle drei Formate als strategische Netzwerkallianz zusammenwirken können und dadurch gemeinsam effektiv einen „Tipping-Point“ und „Medici-Effekt“ zum Patientennutzen erzielen sollen. In diesem Sinne hat der Gründer von SÜNJHAID! die Vision „SÜNJHAID! The Health Captains“ am Gründungsort auf der nordfriesischen Seefahrerinsel Föhr in der Nordsee nach dem Vorbild des „World Economic Forum“ als kleines, aber feines „Medizindavos“ auszubauen. Jedwede Mitwirkung und jeder Beitrag an der Realisierung dieser Vision ist willkommen. Der Gründer von SÜNJHAID! sucht einen Kreis von werteorientierten „Young Health Sciences Professionals“, die als „Young Health Captains“ SÜNJHAID! generationenübergreifend fortführen möchten und Philanthropen und Leadership, die helfen können, SÜNJHAID! in eine unabhängige

22  SUENJHAID! The Health Captains – Navigating Medicine 4.0

277

Stiftung zum langfristigen Erhalt der Unabhängigkeit von SÜNJHAID! umzuwandeln. Der Wahlspruch der Gesundheitskapitäne lautet „SÜNJHAID! an RÜNJHAID!“ (Gesundheit & Reichtum). SÜNJHAID! ist ein geöffnetes Netzwerk und steht dem Grunde nach allen qualifizierten Interessenten offen: „SÜNJHAID! The Health Captains: Partner, Family, Friends and Colleagues are always welcome – since 2003“. Seit 2018, 15 Jahre nach Gründung, wird SÜNJHAID! international. Seither leben der Gründer und seine Frau Marion auf der Insel Föhr. Immer willkommen auf Föhr. Teilnehmer und Sprecher von SÜNJHAID! gehören auch zu den internationalen Freunden und Mitgliedern des MEDICINALE.Club’s.

Literatur Dunbar, R. (2010). How many friends does one person need?: Dunbar’s number and other evolutionary quirks. Boston: Havard University Press. Elger, C. E. (2013). Neuroleadership: Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern. Freiburg: Haufe. Gladwell, M. (2000). The tipping point: how little things can make a big difference. New York: Little Brown & Company. Hinterhuber, H., & Krauthammer, E. (1998). The leadership wheel: The tasks that entrepreneurs and senior executives cannot delegate. Strategic Change, 7, 149–162. Illich, I. (1995). Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. München: Beck’sche Reihe. Johansson, F. (2017). The medici effect: What elephants and epidemics can teach us about innovation. Boston: Harvard Business Review Press. Konnikova, M. (2014). The limits of friendship. New York: The New Yorker. Morell, M., & Capparell, S. (2001). Shackletons way: Leadership lessons from the great antarctic explorer. New York: Viking Penguin. Mourkogiannis, N., Vogelsang, G., & Unger, S. (2006). Der Auftrag: Was großartige Unternehmen antreibt. New York: Wiley. National Research Council of the National Academies of Sciences. (2011). Towards precision medicine building an knowledge network for biomedical research and a new taxonomy of disease. Washington: National Research Council of the National Academies of Sciences. Natterson-Horowitz, B., & Bowers, K. (2014). Wir sind Tier: Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können. München: Albrecht Knaus Verlag. Nefiodow, L. A. (2014). Der sechste Kondratieff. Die neue lange Welle der Weltwirtschaft (7. Aufl.). Bonn: Rhein-Sieg-Verlag. Topol, E. (2012). The creative destruction of medicine: How the digital Revolution will create better healthcare. New York: Basis Books. von Blanquet, H. M. (2017). Networking und Synapting als vornehme Führungsaufgabe, Krankenhausmanagement. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. von Blanquet, H. M., & Medizin, S.-V. (2016). Die Neuvermessung der Gesundheitswirtschaft. Wien: Gabler Springer.

278

H. M. von Blanquet und M. von Blanquet

von Blanquet, H. M. (2013). Unternehmenskultur und Kulturentwicklung, Krankenhausmanagement. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Weinberg, U. (2015). Network thinking. Was kommt nach dem Brockhaus-Denken? Hamburg: Murmann Publishers.

Henri Michael von Blanquet wurde 1964 in Genf geboren und studierte Medizin in Heidelberg und zeitweise in Paris, promovierte am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Institut für Immunologie der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg. 2012 erwarb er in Ergänzung einen Master in Hospital Management an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2017 Gründer und der PRECISION MEDICINE ALLIANCE, Gründer des Institutes für nachhaltige Präzisionsmedizin auf der Insel Föhr. Zuvor als Medical Director Business Development (EMEA) der Molecular Health GmbH Heidelberg und als Referent des Ärztlichen Direktors und Geschäftsführers am Unfallkrankenhaus Berlin, als M&A-Manager der Marseille-Kliniken AG und als Senior Medical Consultant der Alerion Gruppe, der Planungsgruppe M + M AG, Lohfert & Lohfert AG tätig gewesen. Seit 2002 Gründer und Chairman von SÜNJHAID! Think Tank and Network for the Future of value-based Health Sciences. Seit 2010 Präsident von RÜNJHAID! Freundeskreis der nordfriesischen Seefahrerinseln Föhr, Amrum, der Halligen, Sylt, der Insel Kos und der Medicinale e. V. Dr. Henri Michael von Blanquet ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Marion auf der Insel Föhr in der Nordsee. Marion von Blanquet  wurde 1964 in NRW geboren und engagiert sich als Hundehalterin seit Jahrzehnten für das Konzept „Gesunde Ernährung – gesunde Hunde“ und ist die Begründerin der Hundefuttereigenmarke „besserfresserbande INSEL FÖHR“ und Inhaberin des Hundekontors in Nieblum auf Föhr. Zur Entwicklung ihres Ernährungskonzeptes absolvierte sie unzählige Lehrgänge. 2018 wurde sie selbst auf die großen übereinstimmenden Zusammenhänge in der molekularbiologischen veterinär- und humanmedizinischen Forschung aufmerksam und engagiert sich seither auf dieser transdisziplinären Ebene für SÜNJHAID! zum Patienten- und Tiernutzen. Zuvor war sie im Bereich Finance, Private Equity, Venture Capital, Real Estate, Hotelentwicklung und als Unternehmensberaterin vielfältig selbstständig tätig. Marion von Blanquet ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann Henri Michael auf der nordfriesischen Insel Föhr.

The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale

23

Ulrich Henning Pieper, Henri Michael von Blanquet und David Matusiewicz

Inhaltsverzeichnis 23.1 Das XPOMET Festival – noch ein neues Think-Tank-Format? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2 Das Festival für die nächste Generation der Gesundheitswirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 XPOMET - Themenwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279 280 281 286 286

23.1 Das XPOMET Festival – noch ein neues Think-TankFormat? Jede Woche finden medizinische Kongresse statt: nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Meistens sind es spezifische Kongresse für ein bestimmtes Fachgebiet. Dabei ist es zweifelsohne zielführend, wenn weltweit Kardiologen zusammenfinden, um in ihrem Fachgebiet zu debattieren. Um aber aktuellen Trends nicht hinterher zu sein, muss sich die nächste Evolutionsstufe in der Medizin neuen Regeln unterwerfen und Transparenz signalisieren. Der Umbruch wird so gestaltet werden müssen, dass Austausch und Zusammenarbeit der einzelnen Fachgruppen vermehrt betrieben werden und dieses U. H. Pieper  XPOMET Innovation in Medicine GmbH, Berlin, Deutschland H. M. von Blanquet  Nieblum, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Matusiewicz (*)  FOM Hochschule, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_23

279

280

U. H. Pieper et al.

als ganzheitliches System verstanden wird. Erforderlich ist dafür die Kooperation mit verschiedenen Berufsgruppen, Kulturen und nicht zuletzt Generationen zu erstreben, neue Technologien als Chance zu sehen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit durch Events zu fördern. Dieses könnte beispielsweise so aussehen, dass die junge ITSpezialistin zum Beispiel dem Kardiologen helfen wird, effektivere und effizientere Medizin zu betreiben und Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie ermöglichen, die bisher als völlig unvorstellbar galten. Andere Branchen haben im vergangenen Jahrzehnt bereits radikale Veränderungen durchlebt. Kreative Explosionen und interdisziplinärer Wissenstransfer sind grundsätzlich die Wurzeln von wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt. Diese Art des Wandels setzt nun auch im Gesundheitswesen ein. XPOMET erweist sich als einzige Plattform für Innovation der Medizin und Pflege zum Patientennutzen weltweit. Mehr als 5000 Menschen der nächsten Gesundheitswirtschaftsgeneration aus ganz Europa, China, Indien, Israel, Kanada und Nordamerika werden 2019 an der zweiten Ausgabe des Festivals in Berlin mitwirken. Im Ergebnis entsteht eine beständige, kollaborative Plattform mit Workshops und Think Tanks, die sich auf die drängenden Themen der aktuellen und zukünftigen Medizin und Pflege konzentrieren. Die XPOMET besteht aus einem internationalen Team, dessen Mitglieder nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, Griechenland, Serbien und Indien stammen. Der globale Charakter des Teams spiegelt den internationalen Ansatz wider, den die XPOMET verfolgt. Die vielen unterschiedlichen Erfahrungen zwischen den Teammitgliedern, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gesundheitssektors, ermöglichen es, unorthodoxe Ideen weit über den Tellerrand hinaus zu erspähen. Zum Team zählen U. Pieper als Gründer und Geschäftsführer, J. Shah als Leiter der Konferenz, S. Richter als Ausstellungsleiter, S. Petrovic als Eventmanager, M. Kutateladze im Bereich Marketing und Internationale Pressearbeit, T. Dewitz agiert als Ausstellungsmanager, D. Knight als Journalistin, R. Bacon als Content Manager, Co-Founder stellt A. Steidel dar und M. Bauer ist die Pressesprecherin von XPOMET.

23.2 Das Festival für die nächste Generation der Gesundheitswirtschaft Die „nächste Generation“ setzt sich aus vielen akademischen und nicht-akademischen (Fach-)Richtungen zusammen. Auf dem Festival werden Mediziner, pflegerische Fachkräfte, Pharmazeuten, Programmierer, Fachkräfte aus der Medizintechnologie, Biotechnologen und -informatiker, Pioniere, Versorgungsforscher, Tech-Stars, Gesundheitsvisionäre, erfahrene & junge Gesundheitsunternehmer, Führungskräfte, Investoren, Politiker, Studenten, Postdocs, Pädagogen, Kassenvertreter, Patientenbeauftragte, Betreuer, Forscher, Life-Science-Profis, Gesundheitsstiftungen und last but not least Patienten aufeinandertreffen und Probleme gemeinsam lösen versuchen. Das XPOMET Festival lädt neben den heute in den Entscheiderpositionen sitzenden Ver-

23  The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale

281

tretern der Baby-Boomer-Generation auch insbesondere die Young Professionals der Branche ein. Die zwischen 1982 und 2003 geborene Millenniums-Generation wird bis 2020 die Hälfte der Arbeitskräfte und bis 2030 75 % derer ausmachen, sodass diese eine besondere Bedeutung erhalten. Bisher scheint es so, dass das heutige Gesundheitssystem diesen Strukturwandel zu ignorieren und die damit verbundenen Werte- und Kulturveränderungen insgesamt zu vergessen versucht. Mit XPOMET soll ein Zeichen gesetzt werden. Dieses Festival, auf dem die besten Praktiken und die wirkungsvollsten Trends im globalen Gesundheitswesen präsentiert werden und die zukünftige Entwicklung von Gesundheit und Technologie vorangetrieben wird, soll alle Akteure vereinen, um ein ganzheitliches System zu entwickeln und gemeinsam Probleme effektiv und effizient lösen. Junge Fachkräfte der Gesundheitsbranche finden auf dem XPOMET Festival einen einmaligen Marktplatz für ihre eigene Karriereplanung vor. Das Festival überwindet bewusst und erfolgreich das traditionelle Konzept einer einfachen Informationsmesse. Umgekehrt präsentieren sich Arbeitgeber, die sich speziell für Nachwuchskräfte begeistern und diese als Promotoren der eigenen Unternehmensentwicklung für sich gewinnen möchten.

23.3 XPOMET - Themenwelten XPOMET bildet seine Innovationswelt in einem 360-Grad-Ansatz ab (Abb. 23.1).

23.3.1 XPOMET ‒ Programmüberblick Das XPOMET Festival ist eine Hommage an Technologie und Fortschritt. Mutige Unternehmer, Forscher und Entrepreneure finden ihren Platz, ebenso wie kritische Querdenker und Visionäre. Zu erleben sind über 150 Top-Sprecher auf vier Kongress-Bühnen. Kreative Explosion und Wissenstransfer sind die Wurzeln der XPOMET! Erleben Sie mit 5000 weiteren Gästen aus ganz Europa, China, Indien, Israel und Nordamerika das Silicon Valley der Gesundheitswirtschaft vom 10. bis 12. Oktober 2019 in Berlin.

23.3.2 Future-Health-Ausstellung In der Erlebnis-Ausstellung zeigen Gesundheitsanbieter und Industriepartner Innovationen der Medizin und Pflege von morgen zum Anfassen. Digital Health, Molekulare Medizin, Regenerative Medizin, Homebased Healthcare, Robotik, 3D-Printing, Künstliche Intelligenz, Nanotechnologien und viele andere Sektoren der Branche werden als „Leistungs-Show“ vorgestellt.

Abb. 23.1   XPOMET-Themenwelt

282 U. H. Pieper et al.

23  The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale

283

23.3.3 Think Tanks Als Möglichkeit des interaktiven Austauschs mit Fachleuten und Entscheidern soll das Event genutzt werden. Am Ufer der Spree spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe oder ein akademischer Grad keine Rolle. Alle Teilnehmer begegnen sich in dieser ungewöhnlichen Location auf Augenhöhe. Bei der XPOMET ist niemand nur staunender Zuschauer, sondern immer auch aktiver Mitstreiter in der Gestaltung eines besseren Gesundheitssystems. Die XPOMET Think Tanks arbeiten ganzjährig und sind das Working Continium der XPOMET. Auf dieser Ebene arbeitet die XPOMET mit SÜNJHAID! The Health Captains, dem Club der Gesundheitswirtschaft, den Ayinger Gesprächen, der Entscheiderfabrik und weiteren nationalen und internationalen Think Tanks und Konferenzen in einem Allianzsystem zusammen. Gestärkt wird das gemeinsame Working Continium durch die XPOMET Community bestehend aus Medical Board (15), Advisory Board (50) und den XPOMET Medicinale Ambassadoren (150), die allesamt in ihrem Wirken aktive Orientierungspersönlichkeiten, Inputgeber und Multiplikatoren für die XPOMET sind. Die zahlenmäßige Zusammensetzung folgt den Prinzipien des Neuroleaderships, den Dunbar-Numbern 150 – 50 – 15, um auf neurophysiologischer Basis ein optimales Zusammenwirken zum Patientennutzen zu erreichen.

23.3.4 Music and Art Festival Die XPOMET verbindet fachliches Spitzen-Know-how mit außergewöhnlichen Angeboten aus Kunst, Musik und Kultur. Auf der Festival-Bühne finden verschiedene Aktionen statt, Street Artists beleben das Festival auf ihre ganz eigene Art. Abends treffen sich alle Teilnehmer in der Berliner Innenstadt und feiern gemeinsam auf der #SuperScienceparty und der XPOMET Gala. Think Tank Klinik: Wie zukunftsfähige Unternehmenskultur, Sinngebung und innovatives Personalmanagement gelingen können.

23.3.5 XPOMET ‒ Public Day Veranstaltungen weltweit richten sich an die Wissenschaft, an die Gesundheitswirtschaft oder an die Vertreter der Gesundheitspolitik. Die Patienten müssen dabei natürlich draußen bleiben, sie sind nicht eingeladen. Das Gesundheitswesen ist bisher ein B2B-Ökosystem. So seltsam wie es erscheint, ist es auch, so sehr spiegelt es die Ausrichtung des globalen Gesundheitssystems in Bezug auf die Patienten wider. Der Patient ist Objekt und nicht proaktiver, gestaltender Teil des Wertschöpfungsprozesses. In der Zukunft hat diese Maxime keinen Platz. Es wird zum „muss“ für alle Gesundheitsdienstleister und -player werden, den Patienten mit ins Boot zu nehmen. Der Patient wird in den Mittelpunkt gerückt werden müssen, denn auch er ist Akteur, Kooperationspartner

284

U. H. Pieper et al.

und Kunde. Die Genesung des Patienten, sein Empfinden, sein Erleben als kranker Mensch auf dem Wege der Gesundung sollen am Public-Day diskutiert werden, sodass sich an diesem einen Tag das Festival zu 100 % auf diese Fragestellungen konzentrieren wird. In Kooperation mit Patientenorganisationen und Vertretern verschiedener Leistungsanbieter und Fachverbände wird der XPOMET-Design-AWARD vergeben. Medizinprodukte, die im Sinne des Patienten und der Patientensicherheit ein optimales Design erfahren haben, werden im Rahmen der XPOMET in der Abendgala am zweiten Tag des Festivals ausgezeichnet.

23.3.6 Veranstaltungsort und Sponsoren Der Veranstaltungsort ist die Arena Berlin, eine Eventlocation an der Spree. Erbaut in den goldenen Zwanzigern, eine traumhafte Event-Location und zudem ein Industriedenkmal. Dieser Veranstaltungsort verfügt über einen Nachtclub, einem Glashaus, einer Ausstellungshalle, einem Schwimmbad und einer Bar. Die Arena Berlin spiegelt die informelle, multidisziplinäre Atmosphäre wider, die die XPOMET prägt. Die Arena Berlin liegt an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin, sie ist ein Symbole für die faszinierende Geschichte Berlins sowie der noch zu schreibenden Zukunft. Wir freuen uns darauf, diesen Ort im Oktober mit 5000 Teilnehmern zu füllen und die Zukunft der Medizin & Pflege zu feiern! Zu den Sponsoren „Exponential“ gehören unter anderem Bayer, Pfizer, Soulmachines und KMS. Sponsoren „Impact“ sind gökCONSULTING, Lenus Klinik, NOVENTI und DRF Luftrettung. Sponsoren „Growth“ sind Philips, early secure, ECCLESIA, Janssen, Omnicell und ge. Zu den Sponsoren „Value“ gehören Behringer Ingelheim, AAL Programme, GTAI, BVI, pipits, Pizer Healthcare Berlin, Relias Learning, re care und Dynamed.

23.3.7 XPOMET – Workshops Zu den XPOMET-Workshop-Events zählt beispielsweise Robotik in der Altenpflege, welcher von Heinrich Recken moderiert wird. Drei Themen à 30 min werden vorgestellt und zur Diskussion gestellt: Möglichkeiten und Grenzen der Robotik in der Altenpflege mit Matthias Hoffmann (Entrance Gesellschaft für Robotik und Künstliche Intelligenz), Erfassung von Indikatoren, die zur Investitionsbereitschaft beitragen mit Martina Herrmann (Haus Gottesdank Oberhausen – Sprecherin der AG Robotik) und Akzeptanz und Fragestellungen im Bereich ELSI (Ethische, rechtliche und soziale Implikationen). Die Diskussion ist in Deutschland angekommen, und durch Forschungsprogramme werden weitere Ergebnisse in Wissenschaft und Praxis erwartet. So war es nur eine Frage der Zeit, bis das Thema auch in der Pflege ankommt. Aus Sicht der AG Robotik gibt es für die anwendungsnahe Robotik in der Pflege erhebliche Potenziale. Die alleinige theoretische Beschäftigung mit dem Thema wird jedoch nicht ausreichen. Der Work-

23  The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale

285

shop will bei unterschiedlichen Zielgruppen Interesse wecken und das Thema praxisnah vermitteln. Der Abschluss besteht aus einer moderierten Podiumsdiskussion mit Beteiligung des Plenums unter der Fragestellung: Was bedeutet der Einsatz humanoider Robotik für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Ziel dabei ist es, im Workshop Szenarien der Versorgung und Prozessanalysen der AG Robotik zu diskutieren und erste praktische Anwendungen mit den Teilnehmern zu bewerten, (a) inwieweit die Robotik die Pflege und die Versorgungslandschaft verändern wird und (b) welche Anforderungen angegangen werden müssen, damit der Einsatz im Sinne einer „guten Pflege“ erfolgt. Weitere Workshop-Themen sind JDS-TOP-Supplier Foresights @ Xpomet 2019, Become a Health Ecosystem Value Designer, Women-Centered Design: The Future of Female Health, Tackling TB in India, AI for Dummies, Patient-Centred Solutions, A Primer to Brand Strategy and Identity Design for Decision Makers und Next Generation Research: Leveraging Metaprise Analytics to Focus on Patient-Centric Systems That Create a Data Driven Trial Team.

23.3.8 Zukunftspreis Future Awards Der Club der Gesundheitswirtschaft vergibt jährlich den Zukunftspreis Gesundheitswirtschaft. Der cdgw ist ein Business Club. Er versteht sich als Netzwerk für Führungskräfte der immer stärker zusammenwachsenden Gesundheitswirtschaft. Dem Club gehören Krankenhäuser, Industrieunternehmen, Dienstleister etc. aus der Gesundheitswirtschaft an. An dem Wettbewerb können Unternehmen und Personen aus der internationalen Gesundheitswirtschaft teilnehmen, wobei die Wettbewerbssprachen deutsch und englisch sind. Dieser Preis ist mit 5000 EUR Preisgeld und einer garantierten Veröffentlichung in den verschiedenen Medien des führenden Gesundheitswirtschaftsmagazin kma (Print, Online etc.) dotiert. Das Gesundheitswirtschaftsfachmagazin kma der Thieme Gruppe ist Medienpartnerin des Preises. Eine Jury aus cdgw-Präsidium und cdgwGeschäftsführung, der kooperierenden XPOMET© Medicinale und dem Medienpartners kma wählt aus den Teilnehmern maximal sechs Teilnehmer für den Preiswettbewerb aus. Der Preiswettbewerb findet am 9. Oktober 2019 in Berlin statt. Die Gewinnerin/der Gewinner erhalten die Möglichkeit, sich am 10. Oktober 2019, um 18 Uhr, auf der MainStage der XPOMET© Medicinale vorzustellen. Der cdgw bietet mit dem Zukunftspreis Raum für Innovationen. Der Business Club bringt neue Ideen und potenzielle Anwender zusammen – und bietet den Wettbewerbsteilnehmern Zugang zu seinem hochkarätigen Netzwerk.

286

U. H. Pieper et al.

23.4 Fazit und Ausblick XPOMET lädt ein! Unter dem Dach der Medicinale werden 2019 gleichgesinnte Parteien eingeladen, sich dem Festival anzuschließen und die Community zu bereichern. Die internationale Hacking-Health-Bewegung wird zum Beispiel einen der heißesten Hackathons im Rahmen der Medicinale stattfinden lassen. Die coolsten internationalen Start-ups werden sich mit ihren wertvollen Innovationen (inter-)nationalen Investoren vorstellen. Geplant ist, diesen Teil des XPOMET Festivals durch mehrere Spezialisten ausfüllen zu lassen, zum Beispiel den Grants4Apps Accelerator des Arzneimittelherstellers Bayer. Die internationale Wissenschaftsgemeinschaft wird ihre neuesten Entdeckungen veröffentlichen und damit neue Perspektiven eröffnen. Zur weiteren Motivation der Forschungsbegeisterten wird für die Forscher, Studenten und Postdocs im Rahmen des Festivals der erste „next-gen-award“ vergeben. Die Entscheiderfabrik ist ein bedeutendes nationales Netzwerk aus Verbänden, Kliniken und IT-Anbietern und von den Verbänden gewählten Beratern für die Anwendung und Erprobung von Innovationen im Gesundheitsbereich. Die Ergebnisse des jährlich stattfindenden Entscheiderfabrik-Wettbewerbs um die fünf Digitalisierungsthemen der Gesundheits­ wirtschaft werden der Öffentlichkeit erstmalig beim XPOMET Festival vorgestellt. Die Community ist eingeladen, ihre eigenen Workshops, Think Tanks, Symposien, Konferenzsysteme unter dem Dach der Medicinale in Berlin einzubringen, sodass wir gemeinsam erreichen, dass einmal (abgeleitet von der Berlinale) die Welt der Medizin nach Berlin kommt und wir uns gemeinsam zu einer europäischen Plattform und Accelerator für die Zukunft der Medizin entwickeln können. Wir wünschen uns, dass möglichst viele Interessierte, Wissbegierige und vor allem Neulinge der Branche mit den Machern der XPOMET zusammen den internationalen Medicinale Freundes- und Förderkreis aufbauen, um die Wirkkraft zum Patientennutzen noch weiter zu erhöhen. Hinweis des Herausgebers: die XPOMET – Innovation in Medicine hat im Mai 2020 ein Insolvenzverfahren (36X IN 1496/20) beantragt.

Weiterführende Literatur Matusiewicz, D. (2016). Die Neuvermessung der Gesundheitswirtschaft. Wien: Gabler Springer. Von Blanquet, H. M., & Medizin, Silicon-Valley. (2016). Die Neuvermessung der Gesundheitswirtschaft. Wien: Gabler Springer.

Ulrich Henning Pieper ist Diplom-Ingenieur und ist seit über 20 Jahren in der Gesundheitsbranche tätig. Als Berater hat er Erfahrung in mehr als 100 verschiedenen Projekten gewonnen und genießt in der Branche einen hervorragenden Ruf als IT-Spezialist und Stratege. SAPProjekte, Neuentwicklung von Software bis hin zur Gestaltung komplexer Digitalisierungsstrategien bilden aktuell den Hauptschwerpunkt der Aufträge seines Beratungsunternehmens,

23  The Future Health & Care Festival XPOMET Medicinale

287

PIPITS Business Management GmbH, welches er vor etwa vier Jahren gegründet hat. Auf der Suche nach einem neuen Veranstaltungsformat und Innovationen im Gesundheitswesen entstand schließlich vor etwas mehr als zwei Jahren die Idee zur XPOMET© Medicinale. Henri Michael von Blanquet wurde 1964 in Genf geboren und studierte Medizin in Heidelberg und zeitweise in Paris, promovierte am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Institut für Immunologie der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg. 2012 erwarb er in Ergänzung einen Master in Hospital Management an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2017 Gründer und der PRECISION MEDICINE ALLIANCE, Gründer des Institutes für nachhaltige Präzisionsmedizin auf der Insel Föhr. Zuvor als Medical Director Business Development (EMEA) der Molecular Health GmbH Heidelberg und Referent des Ärztlichen Direktors und Geschäftsführers am Unfallkrankenhaus Berlin, als M&A-Manager der Marseille-Kliniken AG, als Senior Medical Consultant Alerion Gruppe, für Planungsgruppe M + M AG und die Lohfert & Lohfert AG tätig gewesen. Seit 2002 Gründer und Chairman von SÜNJHAID! Think Tank and Network for the Future of value-based Health Sciences. Seit 2010 Präsident von RÜNJHAID! Freundeskreis der nordfriesischen Seefahrerinseln Föhr und Amrum, der Halligen und der Insel Kos e. V. Seit 2019 Chairman of the Medical Board XPOMET Medicinale Berlin. Dr. Henri Michael von Blanquet ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Marion auf der Insel Föhr in der Nordsee. David Matusiewicz ist Professor für Medizinmanagement an der FOM Hochschule – der größten Privathochschule in Deutschland. Seit 2015 verantwortet er als Dekan den Hochschulbereich Gesundheit & Soziales und leitet als Direktor das Forschungsinstitut für Gesundheit & Soziales (ifgs). Darüber hinaus ist er Gründungsgesellschafter des Essener Forschungsinstituts für Medizinmanagement (EsFoMed GmbH) und unterstützt als Gründer bzw. Business Angel technologie-getriebene Start-ups im Gesundheitswesen. Matusiewicz ist zudem in verschiedenen Aufsichtsräten (Advisory Boards) sowie Investor von Unternehmen, die sich mit der digitalen Transformation des Gesundheitswesens beschäftigen. Vor seiner Professur arbeitete er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Jürgen Wasem am Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftungslehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen in den Arbeitsgruppen „Gesundheitsökonomische Evaluation und Versorgungsforschung“ sowie „Gesundheitssystem, Gesundheitspolitik und Arzneimittelsteuerung“. Berufserfahrung sammelte Matusiewicz bis 2017 zudem in der Stabsstelle Leistungscontrolling in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Betriebskrankenkasse unter anderem von Thyssen Krupp). Er ist zudem Gründer der Digital Health Academy mit Sitz in Essen und des Medienformats Digi Health Talk.

Teil IV Learnings aus dem Ausland

Globale Zukunftstrends in Health Care für die deutsche Wirtschaft nutzen

24

Philipp Plugmann

Inhaltsverzeichnis 24.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2 Consulting – Denkfabrik seit 20 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Senior Advisor einer globalen Technologieberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.4 Erfolgsfaktor Multidisziplinarität in Think Tanks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.5 Think Tank bedeutet Zukunftsszenarien entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6 Globale Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291 292 293 295 297 299 304 305

24.1 Hintergrund Think Tanks (Denkfabriken) im Gesundheitswesen sind Organisationseinheiten, die selbstständig oder in Unternehmen zu bestimmten Problemen und Zukunftsszenarien Lösungsansätze entwickeln. Die Themen können mit medizinischer, technischer, gesundheitsökonomischer und managementbezogener Aufgabenstellung verbunden sein. Dabei ist die Zusammenstellung der Mitglieder dieser Think Tanks ganz unterschiedlich, genauso wie die Arbeitsweisen und Prozesse, die von der Ideengenerierung bis zum Lösungsansatz führen können. Das vorliegende Kapitel gibt unserem Think Tank „Dr. Dr. Plugmann Consulting“ die Gelegenheit, unsere Inhalte und Vorgehensweisen vorzustellen. Es zeigt auf, wie wir

P. Plugmann (*)  Leverkusen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_24

291

292

P. Plugmann

arbeiten, reflektiert einzelne Beratungsprojekte, zeigt die persönliche Firmenentwicklung und ist eine Mischung aus eigenen Erfahrungen mit globalem Fokus und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Kapitel zeigt abschließend Handlungsoptionen auf, um Think Tanks zu etablieren und als Innovationsumgebungen zu gestalten.

24.2 Consulting – Denkfabrik seit 20 Jahren Die Denkfabrik „Dr. Dr. Plugmann Consulting“ kann auf eine 20-jährige Firmengeschichte zurückblicken. Gegründet nach meinem Staatsexamen im Jahr 2000 waren es zuerst klassische Marketingprojekte mit deutschen mittelständischen Unternehmen aus dem Bereich der Medizintechnik. Fünf Jahre nach Gründung wurde daraus im Jahr 2005 eine Kapitalgesellschaft geformt, die „Forxess Consulting GmbH“ mit Firmensitz in Köln, in der ich als Gründer und geschäftsführender Alleingesellschafter auch Beratungsprojekte mit europäischen und amerikanischen Unternehmen im Health-Care-Segment durchführte. 2016 wurde die Beratungsgesellschaft an die Industrie verkauft und ich übernahm nun Advisor-Tätigkeiten überwiegend für Start-ups oder Think-Tank-Projekte für etablierte Unternehmen. Die betreffenden Start-ups waren überwiegend im Gesundheitswesen aktiv, jedoch wurde ich auch von Start-ups aus anderen Branchen angesprochen. Im Co-Working-Space PROBIERWERK in Leverkusen bin ich zusätzlich ehrenamtlich mit vielen anderen erfahrenen Personen als Mentor tätig. Kurz zu meinem Hintergrund: An der Universität zu Köln hatte ich eine Doppelzulassung für Humanmedizin und später Zahnmedizin, entschied mich aber nach einigen Jahren das Studium der Humanmedizin nicht weiter zu verfolgen. Trotzdem bin ich an den humanmedizinischen Themen und Zukunftstrends der Medizin drangeblieben und führe seit vielen Jahren mit meiner Frau Julia, die in Köln als Ärztin (Innere Medizin) in einem Krankenhaus tätig ist, auch privat stets spannende Gespräche über Ansatzpunkte und Zukunftstrends im Gesundheitswesen. Da ich aus einer Medizinerfamilie stamme, sind die meisten als Ärzte oder in leitenden Positionen in der Krankenhausadministration tätig. Das erste Projekt war mit einem Industriepartner, den ich nach meinem Staatsexamen als Mitglied eines Referententeams kennengelernt habe. Damals war ich Doktorand bei Prof. Dr. Dr. J.-E. Zöller, Direktor der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsklinik Köln und habe während der mehrjährigen berufsbegleitenden Promotion, neben meiner Praxisgründung in Leverkusen, auf Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen Kontakte knüpfen können. Die gesundheitsökonomischen Fragestellungen haben mich bereits als Medizinstudent und studentische Pflegekraft an der Universitätsklinik Köln sehr interessiert, weil im Krankenhaus sehr schnell spürbar war, dass die Human- und Finanzressourcen begrenzt sind. Auch die in den ersten Semestern des Medizinstudiums gelernten Inhalte des Sozialgesetzbuches und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses hinsichtlich Leitlinien, Empfehlungen und die Vorgabe, auf die Wirtschaftlichkeit zu achten, verdeutlichte mir, dass die Leistungsfähigkeit des

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

293

„Gesamtsystems Gesundheitswesen“ von gesundheitsökonomischen Rahmenbedingungen abhängt und Medizinmanagement im Gesundheitssystem ein zentraler Erfolgsfaktor ist. Gleichzeitig faszinierten mich auch die davon eher unabhängig diskutierten neuen innovativen Diagnose- und Therapieverfahren und die Unternehmen, die das umsetzen. In diesem ersten Beratungsprojekt ging es um ein erfolgreiches deutsches Medizintechnikunternehmen, welches eine etablierte Planungssoftware für Operationen in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie entwickelt hat. Man konnte mit diesem Softwarepaket im Zusammenspiel mit computertopografischen Bildern sehr genau chirurgische Eingriffe vorplanen und erste Ansätze des heute fast selbstverständlichen digitalen Workflows waren erkennbar. Dieses Softwarepaket wurde in ein Update einer bereits seit Jahren bewährten Softwarevariante integriert, doch die Umsatzzahlen seit Verkaufsbeginn des Updates waren rückläufig. Die Geschäftsführung beauftragte unser kleines Unternehmen mit einer Analyse. Nach zahlreichen persönlichen Kundengesprächen und einer breiten Befragung von Stammanwendern konnten wir schließlich das Problem identifizieren. Aufgrund der damals noch unvollständigen digitalen Wertschöpfungskette nutzten viele Anwender das Programm zur Operationsplanung und gleichzeitig als grafische Darstellung für die Aufklärungsgespräche mit den Patienten. Es stellte sich heraus, dass die grafische Darstellung extrem aufwendig war, wie es der Behandler benötigt, aber viele Patienten verunsicherte, weil an manchen Stellen rote Blitze zur Warnung gezeigt wurden, wenn Nerven zu nah am Operationsgebiet lagen oder zahlreiche Millimeterangaben. Die ablehnenden Reaktionen vieler Patienten bei den Aufklärungsgesprächen lag nach unserer Analyse an den für die Patienten zu vielen bunten Informationen auf dem Bildschirm. Dies wiederum veranlasste manche Behandler zu negativem Feedback und so hielten sich viele Stammanwender, die das Update noch nicht bestellt hatten, mit den Neubestellungen zurück. Das Medizintechnikunternehmen konnte nach diesem Beratungsprojekt eine zweite Darstellungsgrafik einpflegen, die ausschließlich zur Aufklärung gedacht war und wenige Zusatzdaten zeigte. Die Umsatzzahlen erholten sich nach einem Jahr. Nach einigen ähnlichen Marketingprojekten wurde ich stärker in die Neuproduktentwicklung einbezogen, da ging es mehr um neue Produkte, Dienstleistungen und Innovationsprojekte.

24.3 Senior Advisor einer globalen Technologieberatung In meiner aktuellen berufsbegleitenden Funktion seit März 2019 als Senior Advisor im Bereich „Health Care & Life Sciences“ eines global agierenden Technologieberatungsunternehmens mit Sitz an der US-amerikanischen Ostküste, beschäftige ich mich mit der globalen Perspektive des Gesundheitswesens. Das faszinierende an diesem Unternehmen mit 2800 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von etwa 150 Mio. US$ ist, dass es sich selbst als „established Start-up“ definiert, obwohl es bereits 20 Jahre existiert. Die Unternehmenskultur ist von ständiger Aufbruchstimmung und Neugier getrieben. Ideen

294

P. Plugmann

können immer geäußert werden und man ist für diese scheinbar verrückten Ideen dankbar. Da dieses Unternehmen auch eine FinTech-Abteilung hat und unter anderem die US-amerikanische Börse NASDAQ als Kunden betreut, schaue ich mir Entwicklungen an der Börse in Bezug auf das Gesundheitswesen zunehmend an. Es hängt halt alles miteinander zusammen. Einen der Geschäftsführer, der gleichzeitig Europa- und Schweiz-Chef ist, habe ich vor fünf Jahren in New York/Boston (USA) kennengelernt und wir sind in Kontakt geblieben. Interessant fand er meinen letzten Buchbeitrag in „Digitale Transformationen der Pflege“ über selbstfahrende Krankenhausbetten und andere Zukunftsideen (Matusiewicz und Elmer 2019). Auch vernahm man positiv die Posterpräsentationen und Kurzvorträge meiner Forschungsergebnisse im Bereich „Innovation & Gesundheitswesen“ 2015 auf der World Open Innovation Conference (WOIC) im Silicon Valley (San Franzisco, USA), 2014 und 2016 auf der Open and User Innovation Conference (OUI) an der Harvard Business School (Boston, USA), 2016 auf dem CROWDFUNDING Symposium am Max-Planck-Institut für Wettbewerb und Innovation in München und 2017 auf der Singapore Economic Review Conference (SERC) in Singapur. Dabei ging es immer um „User Experience“, „User Acceptance“ und „New Digital Business Models“ im Gesundheitswesen. Somit ging es immer um neue Ansätze und die Formulierung und empirische Forschung über die Akzeptanz neuer Geschäftsmodelle und Technologien seitens der Patienten. Die Frage war auch, ist dort ein Markt, welche Größe könnte dieser haben und wir würden Market-Entry-Strategien ausschauen können. In meinem ersten Herausgeberwerk 2011, ein Sammelband über Zukunftstrends und Marktpotenziale in der Medizintechnik, habe ich insbesondere auf die ökonomischen Vorteile bei der Anwendung moderner Medizintechnik im Gesundheitswesen hingewiesen. Das habe ich in meiner neuen Advisor-Funktion auch weiterentwickeln können. Erfreulicherweise hat der amerikanische Globalplayer CISCO 2012 mein Buch positiv besprochen und diese Anerkennung seitens eines solchen Unternehmens ist für mich die größte Anerkennung hinsichtlich Praxisrelevanz gewesen. Auch die hohe Marktakzeptanz meines zweiten Herausgeberwerkes „Innovationsumgebungen gestalten“, im Springer Verlag (Plugmann 2018), mit über 35.000 Kapiteldownloads in zehn Monaten, veranlasste dieses Unternehmen, mich als „Senior Advisor Health Care & Life Science“ an Bord zu nehmen und dies in einer offiziellen Pressemitteilung öffentlich zu machen. Projektbezogen engagiere ich mich dort als Senior Advisor in „Projekt-Think-Tanks“, die je nach Kundenanforderungen mit unterschiedlichen Experten zusammengesetzt werden können. Wöchentliche Skype-Videokonferenzen und quartalsmäßige Teamtreffen in den USA oder Asien unterstützen Teambuilding und persönlichen Austausch. Dabei spielen Multidisziplinarität, Kreativität und Offenheit gegenüber neuen Ideen eine wichtige Rolle.

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

295

24.4 Erfolgsfaktor Multidisziplinarität in Think Tanks Von Vorteil bei Ideengenerierungen sind multidisziplinäre Kenntnisse und autodidaktische Kompetenzen. Bei unserem eigenen Think-Tank-Team legen wir stets Wert auf Mehrfachqualifikationen. Folgende Mehrfachqualifikationen unserer Teammitglieder seien folgend beschrieben: Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik & Langstreckenpilot einer globalen Fluggesellschaft, Biochemiker & Designer, Architekt & Soziologe, Ex-Leistungssportler & Physiker. Wichtig ist, dass diese Menschen die Lernkurve des Einarbeitens in unterschiedliche Fachrichtungen bereits erfolgreich hinter sich gebracht haben. Das ist unsere Think-Tank-Arbeitsweise und daran halten wir fest, denn es hat sich über Jahre erfolgreich bewährt. Die Kunden, die uns beauftragen, tun dies genau aus diesem Grund.

24.4.1 Persönliche Mehrfachqualifikationen Neben den abgeschlossenen Promotionen in Zahnmedizin und Medizinischen Wissenschaften, promoviere ich gerade berufsbegleitend in London zum „Doctor of Business Administration (DBA/Dr.)“, habe drei berufsbegleitende Masterstudiengänge absolviert, davon zwei ökonomische (Master of Science in Business Innovation, Master of Business Administration mit Schwerpunkt Health Care Management) und ein zahnmedizinisches (MSc Parodontologie & Implantattherapie). Des Weiteren absolvierte ich Zertifikatsstudiengänge in Gesundheitsökonomie und Finanzökonomie, und schließlich einen Kompaktkurs zum Private Equity Advisor. Nach dem DBA stehen weitere Qualifizierungen an. Zusätzlich bin ich seit 2013 als externer Research Fellow an der Universitätszahnklinik Marburg in der Abteilung für Parodontologie, Forschungsbereich Parodontologie & Implantate, aktiv. In der Lehre und Forschung im Bereich „Ökonomie & Management“ war ich in den letzten zwölf Jahren an der staatlichen Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, den privaten FHM Bielefeld und Hochschule Fresenius Köln, aktiv. Besonders gefreut hat mich nach knapp zehn Jahren die Auszeichnung für herausragende Lehre durch den Rektor der Hochschule Karlsruhe, Herrn Prof. Dr. KarlHeinz Meisel. An der Hochschule Karlsruhe hatte ich im Studium Generale die internationale Klasse mit 50 Studenten aus zwölf Ländern. Der Unterricht in englischer Sprache betraf die Kurse „International Marketing“ und „Innovationmanagement for technical products“. Zu den über 50 Publikationen, 30 im Bereich Zahnmedizin und 20 im Bereich Wirtschaft/Innovation, kamen mehrere Unternehmensgründungen in den letzten 20 Jahren. Für mich kann ich feststellen, dass lebenslanges Lernen und Weiterqualifizierung in den heutigen Zeiten Voraussetzung ist, sich langfristig im Wettbewerb durchzusetzen. Die Kosten für Weiterqualifizierungen rechnen sich mehrfach, unabhängig davon, ob

296

P. Plugmann

man selbstständig oder angestellt ist. Neben den fachlichen Weiterentwicklungen baut man ein Netzwerk auf und muss sich durch Prüfungsleistungen und wissenschaftliches Arbeiten immer wieder motivieren und neu einarbeiten. Das Training wird zur Gewohnheit und man entwickelt zusätzlich die Kompetenz autodidaktischen Lernens. Man verliert die Angst vor vorläufig fremden Fachgebieten und hat bei Gesprächen mit Personen anderer Fachrichtungen eine höhere Akzeptanz, weil sich die Fragen auch fachbezogener ergeben und man ein Verständnis für andere Fachbereiche zeigen kann. Damit lassen sich Gruppen und Think Tanks effizienter führen.

24.4.2 Anfänge an der Universitätsklinik Köln 1990 fing ich als Student durch eine Doppelzulassung an der Universität Köln mit Humanmedizin und später Zahnmedizin an. Die ersten Studienjahre arbeitete ich parallel zu meinem Studium als studentische Pflegekraft in verschiedenen Abteilungen unter anderem der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Notaufnahme und Intensivstation. Eine große Organisation wie die Universitätsklinik oder andere große Krankenhäuser stehen vor zahlreichen Herausforderungen. Durch meine Tag- und Nachtdienste hatte ich als Medizinstudent und studentische Pflegekraft die Möglichkeit, die Chefvisiten zu begleiten und mit verschiedenen Mitarbeitern zu interagieren. Auch zahlreiche Gespräche mit sehr kranken Patienten prägten mich. Besonders neugierig war ich, wie sich die Patienten verhalten. Die Arztseite war mir klar, ein Mensch kommt mit einer Gesundheitskrise in das Krankenhaus, seine Krankengeschichte wird umfänglich besprochen, die Diagnoseverfahren entsprechend den Indikationen eingesetzt und verschiedene Therapievarianten in Betracht gezogen. Jedoch war mir das Patientenverhalten zum Beispiel vor und nach Operationen nicht immer nachvollziehbar. Beispielsweise kam es vor, dass an Mund- und Rachenkrebs erkrankte Menschen, trotz umfangreicher stundenlanger Operationen wenige Tage nach den Operationen auf dem Patientenbalkon rauchten. Obwohl ihnen mehrfach und sehr umfangreich die Wirkung des jahrzehntelangen Rauchens auf die Gesundheit und die Krebserkrankung erläutert wurde. Dieses Patientenverhalten machte mich neugierig und es stellte sich die Frage, mit welcher Idee man dem betreffenden Patienten unterstützend helfen könnte. So fing ich an über Ideen, Produkte und Dienstleistungen im Gesundheitswesen nachzudenken, die einen Nutzen für das Individuum haben könnten, als auch über präventive Strategien in der Medizin. Die Gruppenbildung mit anderen ebenso motivierten Medizinstudenten und der Austausch waren für mich rückblickend betrachtet der Erstkontakt mit einem „Think Tank im Gesundheitswesen“. Später entschied ich mich endgültig zur Zahnmedizin zu wechseln und verließ das Feld der Humanmedizin vorläufig, um viele Jahre später das Fach der Medizinischen Wissenschaften zu studieren und mit einer Promotion abzuschließen. Mit nunmehr

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

297

489 Jahren und im 20. Berufsjahr hochmotiviert als Zahnarzt in eigener Praxis tätig, beschäftige ich mich genauso lang parallel unternehmerisch und akademisch mit dem Themenfeld Innovationen, Gesundheitswesen und Globales. Viele meiner Eindrücke aus den zahlreich besuchten Ländern und ihren privatwirtschaftlichen, akademischen und gesundheitsbezogenen Umgebungen lassen direkte Rückschlüsse auf unsere Gesundheits-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik zu. Wir sollten diese Impulse für uns nutzen, um langfristig und nachhaltig „Gesundheit, Umwelt & Wirtschaft“ in die richtigen Bahnen weiterzuentwickeln. Die Gesundheit aller Bürger in Deutschland hat direkte Auswirkungen auf unsere Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Kontext.

24.5 Think Tank bedeutet Zukunftsszenarien entwickeln Ein wichtiger Bestandteil unserer Think-Tank-Arbeit ist die Suche nach Zukunftstrends und die Analyse von Marktpotenzialen. Der Mensch möchte gerne die Zukunft einschätzen können. Das ist kulturell, emotional und wirtschaftlich betrachtet legitim. Einerseits, um zukünftige Risiken besser einschätzen zu können, also ein gewisses Risikomanagement, andererseits, um Bedürfnisse von Gesellschaften oder Organisationen frühzeitig erkennen und darauf vorbereitend reagieren zu können, was gesellschaftssteuernde oder politische Komponenten beinhaltet. Manche Kulturen meinten früher sogar durch die Interpretation der Konstellation der Sterne, der Farbe der Innereien toter Tiere oder anderer Rituale, verbindlich Aussagen über die Zukunft machen zu können. Für Investmentgesellschaften, die im Bereich „Venture Capital & Private Equity“ unterwegs sind, ist die Beschäftigung mit Zukunftstrends und Marktpotenzialen ein wichtiges Thema. Das führt man beispielsweise durch, indem man internationale Fachliteratur, wissenschaftliche Publikationen und Kongresseinreichungen studiert. Des Weiteren sind Advisor, Think Tanks und Beratungsgesellschaften Ansprechpartner. Und schließlich muss man in der Community der Start-ups, Hubs und Innovationsumgebungen generell, auch in und um internationale Universitäten herum, gut vernetzt sein. Im Mai 2009 besuchte ich eine Woche lang die Business School der Oxford Universität, England. Der angebotene Kurs für erfahrene Manager „The Oxford Scenario Programme“ bot 40 Executives aus der ganzen Welt mit den unterschiedlichsten beruflichen Funktionen an, die Szenario-Planung zu erlernen und in der Woche auch einen „Real-Case“ in Gruppen zusätzlich durchzuführen. Die dort erlernte und trainierte Technik nutzen wir in unserem Think Tank im Gesundheitswesen noch heute und die wichtigsten Elemente sind meiner Meinung nachfolgende: 1. Bei der Szenario-Technik ist es wichtig, wenn diese in einer Gruppe durchgeführt wird, vor Beginn Spielregeln zu definieren. Dazu gehört, jede Stimme zählt. Jedes

298

P. Plugmann

Mitglied der Gruppe soll zu Wort kommen. Damit wird gewährleistet, dass auch zurückhaltende Individuen ihre Ideen an die Gruppe und somit an das Unternehmen weitergeben. Des Weiteren wird darüber gesprochen, dass es keine „blöden Ideen“ gibt. Die Szenario-Technik lebt von der Kreativität und Ideenvielfalt der einzelnen Gruppenmitglieder und soll auch zum Denken über „beyond the future“ anregen. Es wird festgelegt, dass unabhängig von den kommunizierten Gedanken und der entstehenden Konfliktgespräche innerhalb der Gruppe, man abends trotzdem gemeinsam ein Bier trinken oder Sport machen geht. Das hört sich für Sie möglicherweise seltsam an, aber ich habe in den letzten 20 Jahren innerhalb von Projekten, Studienarbeiten oder Workshops sehr unterschiedliche Gruppenbildungsprozesse erlebt, ebenso Projektleiter von dominant-autoritär bis entspannt-passiv. Und das hat immer Auswirkungen auf die Gruppenbildung und -dynamik. In letzter Konsequenz muss in einer produktiven Innovationsumgebung eine freiheitliche Atmosphäre herrschen, eine Mischung aus geschütztem Raum und dem Spirit, die Welt verbessern zu wollen. 2. Bei der Szenario-Technik wird ein Zeitstrahl bestimmt, der frei wählbar ist. Die erarbeiteten „End-Szenarien“ werden vor der Bewertung nochmal analysiert hinsichtlich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Die Bewertung in Bezug auf das betreffende Projekt erfolgt erst zum Schluss. Der Nutzen dieser Vorgehensweise für uns als Think Tank ist, dass viele „End-Szenarien“ trotz ihrer Unterschiedlichkeit, Gemeinsamkeiten aufweisen. Wenn ich als investierendes Unternehmen risikominimierende Entscheidungen suche, wähle ich aus den verschiedenen Szenarien die Merkmale aus, die überall vorkommen. Das würde unter dem Aspekt des Risikomanagements bedeuten, ich investiere in ein Merkmal, welches aus meiner Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auftauchen wird, unabhängig davon, welches der Zukunftsszenarien eintreten wird. Wir wissen aber auch, wo geringe Risiken, da auch geringe Chancen und eine hohe Wahrscheinlichkeit für geringe Verzinsung des Eigenkapitals. Somit wird es auch Unternehmen geben, die sich diese Szenarien anschauen und ganz bewusst sich ein Szenario und eben ein eher seltenes Merkmal aussuchen, das in nur einem Szenario auftaucht, um ein hohes Risiko einzugehen. Das zeigt, die SzenarioTechnik kann uns nur Optionen anzeigen, die unternehmerische Entscheidung muss die jeweilige Geschäftsführung treffen. Das macht letztlich die Vielfalt diverser Unternehmen am Markt sichtbar. 3. Die Kraft branchenfremder Teammitglieder ist enorm. Bei allen Projekten beziehen wir auch sogenannte branchenfremde Menschen mit ein. Die Erfahrung dieses Kurses an der Oxford University zeigte, dass berufliche Vielfalt tolle Ergebnisse hervorbringen kann. Wir hatten zwei „Real-Cases“ zur Wahl, aus dem Gesundheitswesen und der Flugzeugindustrie. Ich entschied mich für das „Gesundheitswesen-Projekt“. Es fand direkt am ersten Tag ein Treffen an der Oxford Universität mit der Geschäftsführerin und dem Ärztlichen Direktor eines großen englischen Krankenhauses statt und wir hatten nach einem Briefing eine Stunde Zeit, beide im Seminarraum zu interviewen. Das Krankenhaus war in den 1960er-Jahren gebaut und in die Jahre gekommen, Fenster undicht, Rohre erneuerungsbedürftig und veraltete Technik. Es

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

299

musste eine Entscheidung fallen, ob man saniert und gleichzeitig mit einem großen Wettbewerber fusioniert oder „Abriss und Neubau“. Die verantwortlichen Politiker, die hinter dem Projekt über Krankenhausfinanzierungsmittel zu entscheiden hatten, beauftragten zwar eigens eine unabhängige Beratungsgesellschaft, wünschten sich aber von der Geschäftsführung und dem Ärztlichen Direktor des Krankenhauses auch eine Entscheidung, die sie berücksichtigen wollten. Unsere Gruppe bestand aus acht Personen, aus Neuseeland ein Architekt, aus Kanada ein Biochemiker, aus England ein Unternehmensberater, aus Brasilien ein Geschäftsführer aus der Ölindustrie, nur um mal ein Gefühl zu erhalten. Das Alter in unserer Gruppe war zwischen 35 und 65. Es war interessant zu erleben, wie unsere Gruppe von Sonntagabend bis Freitagmittag zusammengewachsen ist und wie vielfältig die Erfahrungen eingebracht wurden. Obwohl aus anderen Branchen, konnte doch jeder über Themen wie Personalführung, Finanzplanung, Organisationseinheiten, Multiprojektmanagement, Projektabbruchstrategien, Wettbewerbsanalysen, Public-Relationship-Management und Leadership zahlreiche Inputs geben. Die Lösung, die wir als Gruppe nach einer Woche präsentierten, war mehr geleitet von der Kultur im Krankenhaus, den traditionellen Werten und der Berücksichtigung regionaler sozialer Kriterien, als davon, was unter reiner Betrachtung eines Geschäftsmodells, Business Plans oder Controlling-Variablen, hätte erwartet werden können. Eine rein mathematisch-technische Lösungsfindung trat an gegen eine bunte, vielfältige, von Erfahrung und Sensibilität geprägte Lösungssuche. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie immer in der Mitte, jedoch kann ich die Kraft einer Gruppe, die durch Diversität und Erfahrung geprägt ist für die Szenario-Planung eines Think Tanks im Gesundheitswesen, nur empfehlen.

24.6 Globale Perspektive Wir leben in Zeiten der Veränderungen. Schlagwörter wie Globalisierung, Digitalisierung, Vernetzung, Klimawandel und Transformation, begleiten unseren Alltag. Gleichzeitig sehen wir Bilder von Robotern auf dem Mars, Darstellungen schwarzer Löcher und Fortschritten in der Genetik. Es geschieht alles gleichzeitig, sehr schnell, gefühlmäßig fast schon chaotisch und man muss sich anstrengen, dem Informationsfluss folgen zu können. So chaotisch wie die neue Welt der Technologie- und Wissenschaftssprünge, ist das Anforderungsprofil an Think Tanks, multidisziplinär und vielfältig. Während in den führenden Industrieländern sehr hohe Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und den Fortschritt im Gesundheitswesen gelegt wird, müssen in anderen Teilen der Welt Menschen um Nahrung fürchten, eine medizinische oder pharmazeutische Versorgung ist entweder nicht existent oder für unsere Verhältnisse nur unzureichend ausgeprägt. Die Wette auf die Zukunft Europa würde das alles nicht angehen, wird uns langfristig hart treffen, denn Umweltveränderungen, Epidemien und globale Krankheitsphänomene

300

P. Plugmann

ganz allgemein, haben Rückkopplungswirkungen auf das gesamte Erdsystem. Im Folgenden einige globale Einsichten und Impulse:

24.6.1 Südafrika Als ich im November 2009 für eine Woche in Kapstadt war, im Rahmen eines berufsbegleitenden MBA Health Care Management Studiums, schauten wir uns die Gesundheitsversorgung an. Wir waren auf dem Campus der Stellenbosch Business School untergebracht und hatten neben dem Unterricht nachmittags den Besuch einer Klinik oder eines Krankenhauses auf dem Programm.

24.6.2 Tygerberg Hospital Kapstadt Mit ca. 1300 Betten und einem Patientenaufkommen von über drei Mio. Patienten pro Jahr, auch architektonisch beeindruckend. Begibt man sich in den Gebäudekomplex, so fallen sofort die sehr dicken Metalltüren und Gitterstäbe auf. Eine leitende Ärztin, die uns herumführte, begründete diese Sicherheitsmaßnahmen mit den regelmäßigen Bandenbesuchen, die nachts versuchten, Medikamente und Medizintechnik zu entwenden. Im Vergleich dazu ist ein deutsches Krankenhaus wie ein offenes Scheunentor. Ein gutes Beispiel, wie der Kreislauf medizinischer Unterversorgung zu Kriminalität führt und die gesamte Gesellschaft in einen dauerhaften Alarmzustand versetzt. Bereits da wurde mir klar, dass die Ressorts Gesundheit, Wirtschaftspolitik und Umwelt, eine interdisziplinäre Strategie entwickeln sollten, denn am Ende des Tages dreht sich alles um unsere Gesundheit.

24.6.3 Kapstadts Townships Der Besuch war hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen beängstigend. So besuchten wir eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis und der Bus, der uns vor die im Erdgeschoss liegende Hausarztgemeinschaftspraxis fuhr, musste bis auf einen halben Meter an die Hauswand heran, da man wegen der Bandenkriminalität um unsere Sicherheit besorgt war. Wie uns erzählt wurde, treten die Banden in Gruppengrößen von 20–30 Personen auf, die mit Messern und Macheten bewaffnet sein können. Es gelte die Erkenntnis, wenn man solche Banden sieht, ist es meist schon zu spät. Dazu kamen die Erläuterungen eines Hausarztes in dieser Gemeinschaftspraxis. Er berichtete, er habe mit drei ehemaligen Mitstudenten vor 20 Jahren diese hausärztliche Gemeinschaftspraxis in den Townships gegründet. Zwei der Kollegen seien in den Jahren bei Hausbesuchen ermordet worden. Die Gesundheitssituation der lokalen Patienten sei neben der extrem hohen Arbeitslosigkeit, Gewalt in den Familien, Drogenmissbrauch

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

301

und Teenagerschwangerschaften, insbesondere durch Tuberkulose und AIDS gekennzeichnet. Die Tuberkulosezahlen zählen zu den höchsten weltweit. Auch die Architektur der Unterkünfte mit fehlender Lüftung und stehender stickiger Luft fördere die Weiterverbreitung der Tuberkulose.

24.6.4 USA Jeder der in der Innenstadt von San Franzisko zum ersten Mal aus dem Hotel geht, läuft den vielen Obdachlosen und Veteranen, die teilweise im Rollstuhl sitzen, entgegen. Für mich war der erstmalige Spaziergang von der Union Square Area, Richtung China Town und Pear 39, eine interessante Erfahrung, die bei der Rundreise mit dem Touristenbus und den Ausflügen mit Bekannten jenseits der üblichen Touristenpfade, sehr erkenntnisreich war. Die Balance zwischen erfolgreicher Wirtschaft und vielen Bürgern ohne Anschluss an die Leistungsgesellschaft führt eben zu Zeltstädten um San Franzisko herum mit Tausenden Menschen. Eine Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung, wie wir es in Deutschland kennen, gibt es in den USA nicht. Die zurückliegende Immobilienkrise hat Spuren hinterlassen und Zeltstädte mit Tausenden von Einwohnern wären in Deutschland kaum denkbar. Wir sollten unseren Standard zu schätzen wissen.

24.6.5 Internationaler Wettbewerb erfordert Reisen Eine meiner Aufgaben innerhalb des Think Tanks ist, mich global auf Konferenzen, an Universitäten und bei Besuchen von Unternehmen, über Trends und Entwicklungen zu informieren, dabei aber auch Start-ups ins Auge zu fassen, die interessant sein könnten, um möglicherweise sich daran zu beteiligen oder diese aufzukaufen. Das bedeutet, mein Informationsgewinnungsprozess ist nicht stationär, sondern mobil, denn auch andere sind in unterschiedlichen strategischen Aktivitäten global unterwegs. Ich bin meistens in den USA, Russland und Asien unterwegs. Ganz aktuell war ich Anfang Mai 2019 in Boston/USA und besuchte unterschiedliche Konferenzen. Zuerst die „Open Data Science Conference (ODSC)“. Sehr spannend fand ich den Vortrag „How AI (Artificial Intelligence) changes Healthcare“ von Prof. Regina Barazilay (MIT CSAIL). Sie stellte dar, wie mithilfe von Big Data Voraussagen über einen Krankheitsverlauf gemacht werden könnten, die Konsequenzen bezüglich der Sensitivität der Behandlungsprozedur und Rückschlüsse auf allgemeine Krankheitsrisiken für die Bevölkerung haben. Unter dem Themenblock „Predicting Future Cancer“ wurde besprochen, welche Leistungsfähigkeit Künstliche Intelligenz (KI) im Vergleich zum Menschen hat. Die Möglichkeit, ein Röntgenbild (CT, MRT) nicht nur dahingehend zu bewerten, ob ein positiver oder negativer Befund hinsichtlich Krebs vorliegt oder nicht, sondern auch

302

P. Plugmann

eine Aussage abzugeben, ob und wie wahrscheinlich in Zukunft eine Krebserkrankung zu erwarten wäre, ist natürlich eine neue Dimension im Screening und bietet Patienten einen enormen Mehrwert. Die Geschäftsmodelle, die sich daran anschließen werden, zum Teil noch entwickelt werden müssen. Bei der Brustkrebsuntersuchung werden klassischerweise das Alter, die Familienanamnese und gegebenenfalls vorherige Behandlungen einbezogen. Für die Wissenschaft schaut man sich an, wie viele an Brustkrebs operierte Patientinnen beispielsweise eine Fünf- oder Acht-Jahres-Überlebensrate haben. Man kann KI in Forschung und bei der klinischen Behandlung anwenden. Weitere Vorteile der KI ist die Fähigkeit, ein Vielfaches an Studien oder Bildern in sehr kurzer Zeit zu vergleichen. Hier ist der Mensch überfordert und ermüdet mit zunehmender Arbeitsdauer. Die KI ermüdet nie. Es wird natürlich nur mit Training gehen, das bedeutet, die KI benötigt Daten in enormen Mengen, um am Ende mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit histopathologische Befunde oder radiologische Vorlagen exakt und schnell in immer gleichbleibender Qualität zuverlässig diagnostizieren zu können. Es gibt viel Potenzial und in der Zukunft werden wir immer stärker die Möglichkeiten der KI in der medizinischen Forschung, klinischen Tätigkeit und telemedizinischen Betreuung einsetzen. Gegenwärtig ist der Stand eben noch am Anfang. Für die schnellere Entwicklung der KI im Gesundheitswesen wurden folgende Barrieren benannt: • Zugang zu Daten • Fragen bezüglich der Regulierung • Lücken in Maschinenlernalgorithmen • Mangel an entsprechender KI-Kompetenz bei Gesundheitsdienstleistungsunternehmen Des Weiteren gilt es, die Skepsis in der Bevölkerung zu überwinden, die ihre Privatsphäre gefährdet sieht und den Datenmissbrauch seit Jahren in den Medien verfolgt. Hier schließt sich der Kreis zur Cybersecurity, die direkt proportional zur Akzeptanz der Bevölkerung für KI im Gesundheitswesen steht. Da kann die Politik Maßnahmen fördern, um diese Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen und das Verständnis zu stärken.

24.6.6 Trend Mentale Gesundheit Der zunehmende Fachkräftemangel zwingt die Arbeitgeber, die Belange der Arbeitnehmer ernster zu nehmen, als sie es vielleicht bisher getan haben. Beim Besuch einer mehrtägigen Konferenz der Harvard Medical School 2019 in Boston (USA), geführt von Prof. Dean Ornish, klinischer Professor für Medizin an der Universität von Kalifornien in San Diego, bei der es um „Lebensstil Medizin“ ging, saß ich noch keine fünf Minuten,

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

303

da ging es auch schon direkt zur Sache. Da die meisten Anwesenden Mediziner waren, sagte er „bevor wir uns um andere Menschen kümmern können, müssen wir uns zuallererst um uns selber kümmern“. Während ich diese Einleitung noch einzuordnen versuchte, schaute ich auf die erste Folie, auf der stand: • Über 400 Selbstmorde bei Krankenhausärzten jährlich in den USA und das seit Jahrzehnten • Über 50 % Burn-out bei niedergelassenen Ärzten und Krankenschwestern in den USA Das gibt einen Vorgeschmack darauf, was in der Gesellschaft los ist. Wenn schon die Leistungsträger im System über dem Limit sind, obwohl vom Fach, dann kann man sich vorstellen, wie es vielen Arbeitnehmern inzwischen geht. Die Thematik betriebliches Gesundheitsmanagement spielt dabei eine zentrale Rolle und das Medizinmanagement greift auch in diese Thematik mit ein. Die Berichterstattungen der Selbstmorde sind global unterschiedlich ausgeprägt. Die Frage ist, wie lange sich die Leute das noch gefallen lassen. Da wo Probleme sind, gibt es aber eben auch Geschäftsmöglichkeiten, in Form von Produkten und Dienstleistungen, die die mentale Gesundheit des Einzelnen unterstützen. Dieser Trend zur Förderung der mentalen Gesundheit des Individuums ist bereits an etlichen Apps sichtbar, die sich mit Entspannung, Meditation und Körperertüchtigung befassen. Volkswirtschaftlich betrachtet führen Burn-out, Depression und Isolation folglich auch zu chronischem Stress und fördern koronare Herzerkrankungen und andere Krankheiten. Diese Zusammenhänge und die Opportunitätskosten, die daraus entstehen, finden sich in keiner wirtschaftswissenschaftlichen Literatur. Ob das Thema zu komplex oder für Forscher zu langweilig ist, weiß ich nicht, jedoch fehlt hier offensichtlich die Motivation, den Gesamtzusammenhang umfassend darzustellen und dann in die Forschungslücken und -fragen einzusteigen. Politisch betrifft das Problem der mentalen Gesundheit die Wirtschaft-, Gesundheitsund Familienpolitik. Denn all das ist davon betroffen und hängt miteinander zusammen. Es kann nicht segmentiert einzeln betrachtet werden, da es erst durch den interdisziplinären Ansatz verständlich wird. Ein Think Tank im Gesundheitswesen würde hier sicher zur Empfehlung kommen, dass mentale Gesundheit ein Grundrecht ist. Das Grundrecht im Grundgesetz auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist eben um den Punkt der mentalen Gesundheit zu erweitern. Jetzt können Gesellschaften darüber philosophieren, ob dies nicht ein Element der Konsumgesellschaften und Industrieländer sei, wo es nicht mehr um das nackte Überleben geht, sondern jetzt soll man sich noch um die mentale Gesundheit kümmern. Da hört die Leistungsfähigkeit eines Think Tanks meiner Meinung nach auf. Denn es geht um das Erkennen von Trends und Zukunftsszenarien, und danach gibt man wie in der Leichtathletik den Stab an die Entscheidungsträger, Verbände und die Gesellschaft an sich weiter, die in einem demokratischen Prozess und dem Abwägen aller Argumente dafür oder dagegen Entscheidungen treffen muss. Klar ist, dass Gesellschaften, die diesen Punkt ernst nehmen und in den Griff bekommen, leistungsfähiger sein werden als der globale Wettbewerb.

304

P. Plugmann

24.6.7 Literatur zu strategischen Innovationsimpulsen Die Leistungsfähigkeit von Think Tanks im Gesundheitswesen hängt von Innovationsimpulsen von verschiedenen Inputgebern ab. Man kann in digitalen Zeiten die Masse involvieren. Dieses Nutzen der „Crowd“ als Innovationspartner kann ein strategischer Vorteil sein (Boudreau und Lakhani 2013). Auch das Ausrichten von Wettbewerben „Contests“ kann eine Motivation für potenzielle Lösungsgeber sein (Boudreau et al. 2011). Seit dem Jahr 2000 findet auch der Ansatz der offenen Innovation „Open Innovation“ Beachtung, wobei die Frage ist, wie offen ist dieser Bereich zwischen Unternehmen wirklich (West 2003), kann man den Qualitätsprozess über die implementierten Ideen anderer Parteien dabei erhalten (West et al. 2006) und wohin entwickelt sich dieser Ansatz zu kooperieren. Organisationen können sich aber auch entscheiden, statt Think Tanks im Gesundheitswesen zu gründen, Firmen aufzukaufen und somit ganze Start-ups oder junge Unternehmen in ihre Unternehmenseinheit zu integrieren, um sich dort die strategischen Innovationsimpulse zu holen. Dabei tauchen etablierte Unternehmen als Venture Capital Investoren auf (Röhm et al. 2019), investieren beispielsweise in der BiotechnologieIndustrie in Cluster-Regionen mit günstigen Rahmenbedingungen (Muller et al. 2004) und in den USA war diese Strategie bereits vor über 30 Jahren Erfolgsfaktor (Florida und Kenney 1988). Eine weitere Strategie kann die Einbindung von Nutzern sein („User Innovation“). Diese Strategie, auch bei wissenschaftlichen Lösungsansätzen, wurde bereits vor über 40 Jahren thematisiert (von Hippel 1976). Dabei ist die Einbindung von Nutzerideen ein demokratischer offener Prozess (von Hippel 2009) und kann auch bei Innovationen von medizinischen Ausrüstungen helfen (Biemans 1991). Ein spezielleres Segment stellen dabei die sogenannten Lead-User (führenden Anwender) dar. Diese finden am Markt nicht das, wonach sie suchen und entwickeln dann ganz eigene Produkte oder Dienstleistungen (Eisenberg 2011). Wenn die herkömmlichen Marktforschungsinstrumente den Unternehmen keine zielführenden Antworten geben können, ist der Ansatz der LeadUser-Methode ein alternatives Instrument zur Gewinnung strategischer Innovationsimpulse (Herstatt und von Hippel 1992). Diese Literatur ist auch Bezugsquelle für unser Think Tank, denn es finden sich spannende Forschungsstudien und praxisrelevante Ergebnisse. Diese Hausarbeit muss man als Think Tank eben auch machen und das erfordert viel Zeit.

24.7 Ausblick Die Überlegung, dass wir in Deutschland losgelöst von den Gesamtentwicklungen im Gesundheitssektor in anderen Ländern sind, ist riskant. Die Zunahme multiresistenter Keime, die fortwährenden Verunreinigungen der Meere und der Luft, der globale

24  Globale Zukunftstrends in Health Care für die …

305

Temperaturanstieg, die Abholzung von Wäldern und die Zunahme der Strahlungsexposition verändern unsere Umwelt. Think Tanks im Gesundheitswesen müssen mobil bleiben und sich global Impulse für die deutsche Gesundheitswirtschaft holen. Dazu gehört Auslandserfahrung und die Bereitschaft, dorthin zu reisen, wo die Trends pulsieren. Bereits im Juli 2019 konnte ich mir in Hongkong (China) auf der mehrtägigen RISE Konferenz, einer der führenden Technologiekonferenzen Asiens, die nächsten neuen Impulse holen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass es projektbezogen zahlreiche Vorgehensweisen der Think Tanks gibt und die Unterschiede von der Unternehmenskultur und der Einstellung der betreffenden Individuen abhängen. Natürlich sind andere Länder geografisch oft weit entfernt, jedoch muss man sich vergegenwärtigen, dass viele globale Phänomene, Prozesse und Mechanismen, langfristig auch uns in Europa betreffen werden. Unser Think Tank beschäftigt sich in den nächsten Jahren mit folgenden Themen: Präventive Diagnostik, Notfallmedizin durch Sensoren im Automobil, telemedizinische Applikationen to go, monitorloses Internet und Gesundheitswesen, Umwelttechnologien und Gesundheit, digitales Mentoring, Wegfall der Sprachbarriere und globales Gesundheitswesen, Gesundheit in Megastädten, multiresistente Keime und synthetische Biologie. Der Dreiklang Lehre & Forschung an der Hochschule, Netzwerken auf globalen Konferenzen und Advisor-Tätigkeiten bei nationalen und internationalen Start-ups und etablierten Unternehmen ermöglicht mir auf internationaler Ebene Zukunftstrends und Marktpotenziale im Gesundheitswesen zu erkennen und daraus Lösungsansätze im Team zu entwickeln. Die Ergebnisse sind immer eine Teamleistung.

Literatur Biemans, W. G. (1991). User and third-party involvement in developing medical equipment innovations. Technovation, 11(3), 163–182. Boudreau, K. J., Lacetera, N., & Lakhani, K. R. (2011). Incentives and problem uncertainty in innovation contests: An empirical analysis. Management Science, 57(5), 843–863. Boudreau, K. J., & Lakhani, K. R. (2013). Using the crowd as an innovation partner. Harvard Business Review, 91(4), 60–69. Eisenberg, I. (2011). Lead-user research for breakthrough innovation. Research-Technology Management, 54(1), 50–58. Florida, R. L., & Kenney, M. (1988). Venture capital-financed innovation and technological change in the USA. Research Policy, 17(3), 119–137. Herstatt, C., & Von Hippel, E. (1992). From experience: Developing new product concepts via the lead user method: A case study in a „low-tech“ field. Journal of Product Innovation Management, 9(3), 213–221. https://www.dataart.com/pressroom/press-release/dr-philipp-plugmann-joins-dataart-s-healthcareand-life-sciences-practice-as-a-new-advisor. Zugegriffen: 29. Mai 2019.

306

P. Plugmann

Matusiewicz, D., & Elmer, A. (2019). Die Digitale Transformation der Pflege. Berlin: MWVVerlag. Muller, C., Fujiwara, T., & Herstatt, C. (2004). Sources of bioentrepreneurship: The cases of Germany and Japan. Journal of Small Business Management, 42(1), 93. Plugmann, P. (2018). Innovationsumgebungen gestalten: Impulse für Start-ups und etablierte Unternehmen im globalen Wettbewerb. Wiesbaden: Springer. Röhm, P., Merz, M., & Kuckertz, A. (2019). Identifying corporate venture capital investors–A data-cleaning procedure. Finance Research Letters. Von Hippel, E. (1976). The dominant role of users in the scientific instrument innovation process. Research Policy, 5(3), 212–239. Von Hippel, E. (2009). Democratizing innovation: the evolving phenomenon of user innovation. International Journal of Innovation Science, 1(1), 29–40. West, Joel. (2003). How open is open enough?: Melding proprietary and open source platform strategies. Research Policy, 32(7), 1259–1285. West, J., Vanhaverbeke, w., & Chesbrough, H. (2006). Open innovation: A research agenda. Open innovation: Researching a new paradigm. 285‒307.

Prof. Dr. Dr. Philipp Plugmann ist seit 20 Jahren als Zahnarzt tätig, in Leverkusen niedergelassen und mehrfacher Unternehmensgründer. Parallel dazu hat er eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen und zahlreich publiziert. Von 2007 bis 2016 unterrichtete er als Lehrbeauftragter an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft und vermittelte Wissen zu Innovation und Vermarktung von technischen Produkten, wofür er vom Rektor für herausragende Lehre ausgezeichnet wurde. Seit 2013 ist er zusätzlich als Research Fellow an der Universitätszahnklinik Marburg (Abteilung für Parodontologie) tätig, wo er 2018 für herausragendes Engagement ausgezeichnet wurde. Seit 2019 ist er „Senior Advisor Health Care & Life Science“ des globalen Technologieberatungsunternehmens DataArt mit Sitz in New York/USA und promoviert berufsbegleitend in London/GB zum „Doctor of Business Administration“.

Global Health Think Tanks – Think Tanks im Bereich der Globalen Gesundheit

25

Mathias Bonk, Ole Döring und Timo Ulrichs

Inhaltsverzeichnis 25.1 Hintergrund – globale Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2 Nationale Global Health Think Tanks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3 Internationale Global Health Think Tanks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307 311 314 321 322

25.1 Hintergrund – globale Gesundheit Der Begriff „Globale Gesundheit“ ist nicht definiert oder als Marke geschützt. So konnte sich aus den angrenzenden und befassten Akteursfeldern heraus eine Vielfalt von relevanten Kompetenzen organisieren, ihre Erfahrungen und Vorstellungen einbringen, um die Schärfung eines spezifischen Konzeptes für die besondere neue Funktion der Globalen Gesundheit und eine Professionalisierung auf möglichst breiter Basis vorzubereiten. Während dieser Standardisierungsphase und besonders im Zuge von Prozessen der Institutionalisierung kommt es darauf an, das übergreifende Innovationspotenzial der Globalen Gesundheit für alle Bereiche wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Handelns mithilfe einer klaren Definition klar und zugänglich zu machen (Abb. 25.1).

M. Bonk (*) · O. Döring · T. Ulrichs  Institut für Globale Gesundheit Berlin e. V., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_25

307

308

M. Bonk et al.

Abb. 25.1   Globale Gesundheit in der Übersicht (Adaptiert von Havemann und Bösner 2018)

Mit dem vorgeschlagenen methodologischen Ansatz der Globalen Gesundheit können diese disambiguierten Themenfelder als integrierte wissenschaftlich-politisch-gesellschaftliche Praxisfelder mit Verknüpfungsoptionen dargestellt werden (s. Abb. 25.1). Hieraus ergibt sich ein ganzheitliches offenes System von Elementen und Fragestellungen, die unter dem Ansatz Globaler Gesundheit mit einer eigenen, neuartigen Qualität bearbeitet werden können. Wichtig dabei ist, die Unterschiede und Überschneidungen zwischen den Bereichen der öffentlichen, internationalen und Globalen Gesundheit zu berücksichtigen (s. Tab. 25.1). Globale Gesundheit gibt sowohl regional als auch inhaltlich dem Arbeitsfeld der Internationalen Gesundheit im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit einen die Kulturen übergreifenden globalgesellschaftlichen Zusammenhang und transdisziplinären konzeptuellen Reflektionsrahmen. Mit dem Ende des Kalten Krieges, den parallellaufenden Fortschritten in der Gesundheitsforschung, Technologieentwicklung und der neuen weltweiten Vernetzung änderte sich seit den 1990er-Jahren die globale Situation der Gesundheitspolitik. Die technologisch und ökonomisch getriebene Globalisierung war maßgeblich an der Entwicklung des globalen Politikfeldes Gesundheit beteiligt. Dies gilt auch für die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Millennium-Entwicklungsziele (MDGs), mit ihrer Betonung

Gesundheit für alle Bürger einer bestimmten Gemeinschaft oder eines Landes

Präventionsprogramme (Bevölkerung)

Meist lokal oder regional begrenzt

Staatliche Fürsorgepflicht Gesetze und Regelungen

Teilweise multidisziplinär Fokussiert auf Gesundheits- und Sozialbereiche

Schutz vor und Bekämpfung von Infektionskrankheiten

Geografisch

Zielgruppe

Kooperation

Aufgaben

Bereiche

Krankheiten

ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT

Kurative Behandlung, fokussiert auf Tropenerkrankungen (zum Beispiel Malaria, Tuberkulose, Polio)

Teilweise multidisziplinär Fokussiert auf den Gesundheitsbereich

Internationale (Entwicklungs-)Hilfe

Bilateral Oft interessensbasiert

Prävention und Medizinische Versorgung (Individuen)

Gesundheit für die Bürger eines anderen Landes (Nord → Süd)

INTERNATIONALE GESUNDHEIT

Infektions- und nicht übertragbare Krankheiten; Salutogenese

Hochgradig inter- und multidisziplinär Innerhalb und über den Gesundheitsbereich hinaus

Probleme, die nationale Grenzen überschreiten oder einen globalen politischen und wirtschaftlichen Einfluss haben; Werte-orientiert (Gerechtigkeit)

Glokal, integrativ; Meist auf der globalen oder transnationalen Ebene Werte-orientiert

Prävention und Medizinische Versorgung (Individuen); Policy, Entwicklung

Verbesserung der Gesundheit aller Menschen weltweit; salutogene Nutzung geografischer Faktoren

GLOBALE GESUNDHEIT

Tab. 25.1  Vergleich zwischen der Öffentlichen, Internationalen und Globalen Gesundheit. (Adaptiert von Koplan et al. 2009)

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks … 309

310

M. Bonk et al.

der Verbesserung der Gesundheit. Sie bewirkten große Investitionen von öffentlichen und privaten Geldgebern in globale Gesundheitsprojekte und Initiativen. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit stiegen die Ausgaben für Gesundheit von ca. 5,6 Mrd. US$ (1990) auf ca. 31,3 Mrd. US$ (2013) an. Angesichts der beschränkten Mittel transnationaler Einrichtungen wie der WHO wurde dies insbesondere durch philanthropische Stiftungen wie der Bill und Melinda Gates Stiftung oder Rotary International ermöglicht. Anfang des 21. Jahrhunderts wurden zur Erreichung der MDGs viele neue Organisationen, Programme, Initiativen und Partnerschaften initiiert. Im selben Zeitraum vereinbarten die Mitgliedstaaten der WHO die ersten weltweit rechtlich bindenden Abkommen im Gesundheitsbereich: 2003 wurde die Tabakrahmenkonvention (Framework Convention on Tobacco Control, FCTC) beschlossen (WHO 2003). In der Folge der SARS-Epidemie (Severe Acute Respiratory Syndrome) wurden 2005 von den WHO-Mitgliedstaaten die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) verabschiedet. Diese bilden nunmehr das völkerrechtliche Fundament der internationalen Bekämpfung von Infektionskrankheiten und gelten als Meilenstein internationaler Abkommen zum Wohle der öffentlichen Gesundheit (WHO 2005). Um dem schnellen Wachstum des Handlungsfeldes der globalen Gesundheit gerecht zu werden, begannen einige Länder hierfür nationale Strategien zu entwickeln. Die Schweiz veröffentlichte 2006 ihre „Gesundheitsaußenpolitik“ (BAG 2006), Großbritannien 2008 eine Strategie mit dem Titel „Health is Global“ (GOV-UK 2008) und die deutsche Bundesregierung 2013 ein Konzept mit dem Titel „Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen“ (GERGOV 2013). Die wachsende Bedeutung der Gesundheit für die globale Politik zeigte auch die „Oslo Ministerielle Erklärung“ von 2007, in der die Außenminister von sieben Ländern (Brasilien, Frankreich, Indonesien, Norwegen, Thailand, Senegal, Südafrika) die Gesundheit als „die wichtigste, weitgehend vernachlässigte Langzeitaufgabe der Außenpolitik unserer Zeit“ bezeichnen (Pibulsonggram et al. 2007). Auch im Rahmen der G7/G8- und G20-Treffen wurde die Globale Gesundheit zunehmend thematisiert. So entstand 2010 im Rahmen des G8-Treffens in kanadischen Muskoka eine Initiative zur Stärkung der Mütter- und Kindergesundheit (UN 2017). Die globale Gesundheitsarchitektur befindet sich in einem ständigen Wandel und gewinnt zunehmend an Komplexität. Daher werden auch übergreifende GovernanceKompetenzen immer wichtiger. Vorschläge zur zukünftigen Aufgabenverteilung und Prioritätensetzung, zum Beispiel durch eine Rahmenvereinbarung für Globale Gesundheit, werden regelmäßig diskutiert. Aber viele politische, historische, ökonomische und sonstige Faktoren erschweren hier gewünschte und mögliche Fortschritte. Dabei macht sich zunehmend störend das Fehlen eines adäquaten konzeptuellen Rahmens bemerkbar, der die Arbeit der Globalen Gesundheit in eine kulturübergreifende, wertegeleitete und umfassend wissenschaftlich-praktische Kohärenzperspektive stellen und als ethischpragmatisches Governance-Projekt vorstellen würde.

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

311

Die zuvor genannte Plastizität des Begriffes Globale Gesundheit und die rasche Zunahme der Einsicht in die Bedeutung und das Desiderat einer innovativen Strategie für Globale Gesundheit verlangt Kompetenzen der Verknüpfung und transdisziplinären Zusammenarbeit im Dienst an der Globalen Gesundheit als universalem Zweck und konkreter Zielsetzung. Nicht für alle Akteure kommt hier eine eigene neue Herangehensweise in Betracht. Das innovative Potenzial im Sinne der vom IGGB vorgeschlagenen Definition innerhalb von Institutionen mit nominellem Bezug auf „Globale Gesundheit“ kommt dadurch nicht immer entsprechend zum Ausdruck. Das zeigt sich in Problemen der Kategorisierung von Think Tanks als Akteuren der Globalen Gesundheit, im Unterschied zur Kompetenz auch für deren nicht-medizinische oder technologische Aspekte. Eine große Vielfalt von Einrichtungen beschäftigt sich entweder unter oder ohne eine solche Bezeichnung mit relevanten Fragestellungen, zum Beispiel im Bereich der Epidemiologie, Entwicklungszusammenarbeit, internationalen politischen Gesundheitsthemen oder sozialen Gerechtigkeits- oder Befähigungsprogrammen. Eine zunehmende Anzahl an Think Tanks stellt sich nun auch den Herausforderungen und Chancen der ganzheitlichen Betrachtung von Globaler Gesundheit. Einige dieser Denkfabriken werden in diesem Kapitel vorgestellt.

25.2 Nationale Global Health Think Tanks In Deutschland wird das Themenfeld der Globalen Gesundheit noch von relativ wenigen akademischen Institutionen und Think Tanks schwerpunktmäßig bearbeitet. Die multidisziplinäre, wissenschaftliche Zusammenarbeit wurde in der Vergangenheit von der Forschungsförderung weitestgehend vernachlässigt, wodurch Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern deutlich weniger wissenschaftliche Publikationen in diesem Bereich zu verzeichnen hat. Einige Think Tanks beschäftigen sich mit Teilbereichen der Globalen Gesundheit, wie zum Beispiel das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE), das European Council of Foreign Relations (Außen- und Sicherheitspolitik) oder die Stiftung Wissenschaft und Politik (Gesundheitsrelevante UN-Nachhaltigkeitsziele). Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mittlerweile dieses Thema als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit in ihrem 2019 neu eröffneten Büro in Genf festgelegt. Die wissenschaftliche Lücke auch im Bereich der Politikberatung füllen seit einigen Jahren das Wissenschaftszentrum Berlin und das Institut für Globale Gesundheit Berlin, die in den folgenden Abschnitten näher vorgestellt werden.

25.2.1 Institut für Globale Gesundheit Berlin Das Institut für Globale Gesundheit Berlin (IGGB) wurde 2017 als akademischer Think Tank und Wissensplattform gegründet. Das Institut ist ein Zusammenschluss unabhängiger Experten mit langjähriger internationaler Erfahrung und interdisziplinärer

312

M. Bonk et al.

Kompetenz, über Globale Gesundheit zu forschen, zu analysieren, zu beraten, zu vernetzen und zu kommunizieren. Der Zweck des gemeinnützigen Vereins ist: Das gesamte Themenfeld der Globalen Gesundheit politisch, akademisch und gesellschaftlich zu fördern und weiterzuentwickeln. Die Gründung erfolgte mit der Absicht, eine Kompetenzlücke für die Fortentwicklung der Globalen Gesundheit zu schließen. Das IGGB begleitet seit seiner Gründung die Entwicklung der Strategie der Bundesregierung für Globale Gesundheit. Zu den ersten öffentlichen Aktivitäten des IGGB zählte 2018 die Koordination eines gemeinsamen Positionspapiers deutscher Denkfabriken für die Globale Gesundheitsstrategie der Bundesregierung (Bonk et al. 2018). 13 deutsche Think Tanks, die eine breite Vielfalt von wissenschaftlichen Ansätzen und Interessen repräsentieren, verständigten sich darin auf eine Positionsbestimmung Deutschlands als Akteur in der Globalen Gesundheit und legten den Tenor einer Programmatik für künftige Aktivitäten vor. Hierzu zählen Ausbau und Förderung der multidisziplinären Forschung und Ausbildung, unter angemessener Einbeziehung der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung. Im Zuge der Disambiguierung der Leitbegriffe bringt das IGGB neben Berichten und Studien auch methodologische und konzeptuelle Vorschläge in die Debatte ein. So wurde die zuvor bereits erwähnte neue Definition für die Globale Gesundheit entwickelt, die den Wandel des Themenfeldes im Kontext der UN-Nachhaltigkeitsagenda (von den MDGs zu den SDGs) berücksichtigt, um politischen und anderen Entscheidungsträgern eine Einordnung zu erleichtern. Dabei wird der umfassende, menschenrechtsbasierte, multidisziplinäre und ganzheitliche Ansatz der Globalen Gesundheit hervorgehoben, der die Aktivitäten zur Umsetzung der Agenda 2030 und der UN Nachhaltigkeitsziele (SDGs) ergänzt und verstärkt. Das IGGB bearbeitet transnationale Gesundheitsprobleme, Determinanten und Lösungen an den Schnittstellen zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft und fördert zudem die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mit dieser methodologischen Wende und ethisch-kulturellen Zuspitzung nimmt das IGGB die Rolle eines Vordenkers für innovative Ansätze und Diskursimpulse ein. Als eine dem globalen Ganzen der Gesundheitsarbeit verpflichtete Graswurzelbewegung in eigener Verantwortung kann das IGGB unabhängig und primär aus wissenschaftlichem Antrieb agieren. Damit ist eine besondere Flexibilität, Kreativität und Glaubwürdigkeit verbunden, die das etablierte Geflecht aus Behörden und Forschungsinstitutionen belebt. Das IGGB öffnet etablierte Kompetenzsilos und hinterfragt wissenschaftlich-disziplinäre Grenzziehungen konstruktiv, um gemeinsame übergreifende Szenarien für arbeitsteilige Zusammenarbeit der Akteure aufzuzeigen und organisationale Optionen sowie Governance der internationalen Vernetzung zu entwickeln. Unter „global“ versteht das IGGB die größtmögliche Verknüpfung der notwendigen empirischen und konzeptuellen Komponenten in der Globalen Gesundheit zu einer integrierten Gesamtheit von Wechselwirkungen und Zwecken. Konkret wird dieser Gesamtzusammenhang durch das Ziel „Gesundheit für alle“ programmatisch strukturiert und normativ orientiert. Es bereichert damit das Rahmenkonzept der WHO für „Gesundheit

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

313

in allen Politikbereichen“ (Stähl et al. 2006). Der transdisziplinäre, integrative und interkulturelle Ansatz befördert auch die Kohärenzbildung in die Organisation politischer und gesellschaftlicher Akteure für eine kooperative Agenda. Er unterstützt die globale Zusammenarbeit innerhalb und zwischen multiplen Sektoren (unter anderem Gesundheit, Umwelt, Ernährung, Entwicklung, Wirtschaft, Zusammenarbeit, Bildung usw.), unter partizipativer Einbeziehung der Gesundheitsakteure einschließlich des Gesundheitsverhaltens der Einzelnen. Hierfür fördert das IGGB den Wissenstransfer und Dialog zwischen Vordenkern, Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern, Medien, informellen Akteuren und der Öffentlichkeit. Wissenschaft und Bildung erhalten einen konzeptuellen Rahmen für die Entwicklung einer übergreifenden gemeinsamen Programmatik des fortlaufenden Lernens. Die Arbeitsschwerpunkte des IGGB sind vielfältig. Neben der wissenschaftlichen Begleitung bei der Entwicklung der neuen deutschen Globalen Gesundheitsstrategie, stehen Projekte mit europäischen und außereuropäischen Partnerinstitutionen (China, Russland, Ukraine, Georgien, Jemen) sowie übergeordnete Aspekte wie die Ethik im Bereich der Globalen Gesundheit im Mittelpunkt. Hierfür hat das IGGB eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe zu „Kultur-Fragen der Ethik, Werte, Menschenrechte und Governance in der Globalen Gesundheit“ in dem vom Bundesministerium für Gesundheit finanzierten Global Health Hub Germany ins Leben gerufen. Die Website des IGGB bietet ein Forum für die entsprechenden Informationen, für die allgemeine Diskussion, eine Plattform für die Analyse und Bereitstellung unabhängiger und evidenzbasierter Forschungsergebnisse (IGGB 2017a).

25.2.2 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Das 1969 gegründete Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften. Das WZB ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und beschäftigt sich mit Entwicklungen, Problemen und Innovationschancen moderner Gesellschaften. Das WZB hat seit einigen Jahren zwei Forschungsgruppen, die sich mit der Globalen Gesundheit schwerpunktmäßig beschäftigen. Die Forschungsgruppe Governance for Global Health (WZB und Freie Universität Berlin) beschäftigt sich mit der wachsenden Anzahl an Akteuren, Institutionen und Regelsystemen, die für die globale Gesundheitspolitik relevant sind und die zu einer zunehmenden Komplexität und Konkurrenzsituation in den letzten Jahren geführt hat. Die Gruppe prüft diese Entwicklung, indem sie die Beziehungen zwischen acht bedeutenden internationalen Gesundheitsorganisationen (Gavi, Global Fund, UNAIDS, UNDP, UNFPA, UNICEF, WHO und die Weltbank) und die Praktiken der interorganisatorischen Zusammenarbeit untersucht. Um dem historischen Wandel der globalen Gesundheitspolitik gerecht zu werden, untersucht die Forschungsgruppe zudem, wie Normen, die regeln, was „angemessen“ und „gut“ ist, die Beziehungen zwischen den internationalen Organisationen im Gesundheitswesen prägen (WZB 2019b).

314

M. Bonk et al.

Die Forschungsgruppe Globale humanitäre Medizin erforscht Expertenhierarchien im Feld der globalen Gesundheit. Das Projekt Medical Internationalisms and the Making of Global Public Health (Dr. GLOBAL), das durch die Volkswagen-Stiftung finanziert wird, untersucht die Internationalisierung medizinischer Professionen in Frankreich, Kuba und den USA. Es fokussiert sich im Besonderen darauf, wie Gesundheitsarbeit im globalen Süden für medizinische Karrieren im globalen Norden Bedeutung erlangt. Das Projekt hinterfragt zudem etablierte Erzählungen über Nord-Süd-Diffusionsprozesse und entwickelt neue Ansätze, um medizinische Autorität in der Weltgesellschaft zu verstehen. Durch die Kombination von soziologischer Feldanalyse, kultursoziologischen Ansätzen, postkolonialen Studien, Medizingeschichte und Medizinanthropologie wird die Grundlage für eine transnationale Soziologie der Medizin gelegt, welche wiederum den multidisziplinären Ansatz der Globalen Gesundheit sehr deutlich macht (WZB 2019a).

25.3 Internationale Global Health Think Tanks Auf der internationalen Ebene dominieren traditionellerweise Think Tanks aus dem anglo-amerikanischen Raum, das gilt auch noch für den Bereich der Globalen Gesundheit. In den letzten Jahren haben sich aber auch in Europa, China und anderen Ländern (zum Beispiel Australien, Japan, Georgien) einige Think Tanks etabliert, von denen eine Auswahl in diesem Kapitel vorgestellt werden.

25.3.1 USA/Transatlantik Center for Strategic and International Studies – Global Health Policy Center Das Center for Strategic and International Studies (CSIS) wurde 1962 als überparteiliche Institution an der Georgetown University in Washington D.C., USA, gegründet und ist seit 1987 eine unabhängige Denkfabrik. Das CSIS erstellt politische Studien und strategische Analysen zu politischen, ökonomischen sowie außen-, sicherheits- und gesundheitspolitischen Fragen, unter anderem zu Themen wie Energie, Technologie und Handel. Das Global Health Policy Center (GHPC) am CSIS hat sich zu einem führenden Institut für politische Forschung entwickelt, das sich darauf konzentriert, ein überparteiliches Bewusstsein für die globale Gesundheit und die Bedeutung dieses Bereichs für die nationale Sicherheit der USA zu schaffen. Ein wesentliches Ziel des GHPC ist es, mit verschiedenen Interessengruppen zusammenzuarbeiten, um die weltweiten Gesundheitsanstrengungen der USA strategischer, integrierter und nachhaltiger zu gestalten. Das GHPC hat in den letzten zehn Jahren eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung erfolgreicher globaler Gesundheitsanstrengungen der USA gespielt, indem es direkt mit politischen Entscheidungsträgern und Experten aus Entwicklungsländern zusammengearbeitet und einflussreiche hochrangige Arbeitsgruppen wie die HIV/AIDS-Task Force ins Leben gerufen hat. Am GHPC werden fortlaufende Forschungen zu verschiedenen Aspekten

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

315

der globalen Gesundheitspolitik der USA durchgeführt und regelmäßig politische Entscheidungsträger zu eingehenden Diskussionen über das globale Engagement im Gesundheitsbereich eingeladen (CSIS 2019). Council on Foreign Relations – Global Health Program Das Council on Foreign Relations (CFR) wurde 1921 in New York als eine private Denkfabrik mit Fokus auf außenpolitische Themen gegründet. Dem CFR wird eine herausragende Funktion im Formulierungsprozess außenpolitischer Strategien nicht nur in den USA zugesprochen und zählt seit Jahren zu den weltweit wichtigsten und einflussreichsten privaten Think Tanks. Neben dem Hauptsitz in New York wurden Außenstellen in Washington D.C., London und Tokio eingerichtet. Das Global Health-Programm des CFR bietet unabhängige, evidenzbasierte Analysen und Empfehlungen, um Entscheidungsträger, Wirtschaftsführer, Journalisten, die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit bei der Bewältigung der globalen, gesundheitlichen Herausforderungen zu unterstützen. Das Themenspektrum ist daher auch relativ breit gewählt: Infektionskrankheiten, Biosecurity, Ernährungssicherheit, Wissenschaft und Technologie, Ethik, Klimawandel und weitere gesundheitsrelevante Aspekte werden von den Experten des CFR bearbeitet. Weitere Schwerpunkte des Global Health Programms stellt die Globale Gesundheits-Governance und der Bereich der Finanzierung globaler Gesundheitseinrichtungen – und -initiativen dar. Hier werden Forschungsarbeiten durchgeführt, um ein besseres Verständnis für drängende Gesundheitsprobleme zu ermöglichen und praktische Vorschläge für politische Maßnahmen zu entwickeln (CFR 2019). Center for Global Development Das Center for Global Development (CGD) ist ein 2001 gegründeter Think Tank mit Sitz in Washington, D.C., der sich in vielen Bereichen der globalen Entwicklung betätigt. Das wesentliche Ziel des CGD ist es, durch Forschung und Engagement mit politischen Entscheidungsträgern auf den politischen Wandel in den USA, aber auch in anderen reichen Ländern, insbesondere in Europa, hinzuarbeiten, um so die globale Armut und Ungleichheit zu reduzieren. Hierfür hat das CGD auch unter anderem Entschuldungsprogramme insbesondere für Nigeria und Liberia entwickelt und die Regierungen vor Ort beraten. Zudem wurde ein Programm namens Advance Market Commitments entwickelt, das Anreize zur Entwicklung von Impfstoffen für spezielle Krankheiten schaffen soll. Dieser Ansatz wurde von der G7 Gruppe unterstützt und durch fünf Länder und die Bill und Melinda Gates Foundation mit 1,5 Mrd. US$ für die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Lungenentzündung finanziert. Mittlerweile konzentriert sich das CGD auf die Ungleichheiten und aufkommenden Probleme, die den globalen Gesundheitsfortschritt gefährden, wie zum Beispiel durch eine gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitssektor, die Entwicklung neuer Mechanismen zur Verbesserung der Familienplanung oder die Reduzierung von Ungleichheiten bei der Behandlung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern (CGD 2019).

316

M. Bonk et al.

Global Health Security Alliance Die Global Health Security Alliance (GloHSA) organisiert als unabhängiges und transdisziplinäres Netzwerk von internationalen Experten aus Politik, Wissenschaft, Sicherheit und dem Privatsektor eine Brücke über alle globalen Gesundheits- und Sicherheitsverbünde hinweg, um die kollektive Fähigkeit zur Minderung von übergreifenden Gesundheitsgefahren zu stärken. Die 2017 gegründete Allianz agiert von Frankreich, Deutschland und den USA aus und bietet Entscheidungsträgern Wissen und Analysen zur globalen Gesundheitssicherheit, um Entscheidungsprozesse zu unterstützen. Die GloHSA bezieht sich auf universelle humanitäre Werte und betont die Aufgabe souveräner Staaten, die eigene Bevölkerung vor sicherheitsrelevanten Gesundheitsgefahren zu schützen. Das Ziel von GloHSA ist es, widerstandsfähige Gesundheitssysteme aufzubauen und setzt dabei auf die besondere Verknüpfung von Gesundheits- und Sicherheitsfragen. Dazu vertritt die Allianz einen transnationalen und multisektoralen Ansatz (GloHSA 2019). Neben den bereits genannten Institutionen gibt es eine Reihe weiterer USamerikanischer Think Tanks, die sich mit der Globalen Gesundheit beschäftigten. Zu den wichtigsten zählen die Kaiser Family Foundation, die Brookings Institution und die Rand Cooperation.

25.3.2 Vereinigtes Königreich Chatham House – Centre on Global Health Security Das im Jahre 1920 gegründete Chatham House ist eine britische Denkfabrik mit Sitz in London, die sich mit einer Vielzahl von Themen aus der internationalen Politik beschäftigt. Die unter der Schirmherrschaft von Königin Elisabeth II. stehende nichtstaatliche Non-Profit-Organisation ist Begründer der weltweit angewandten Chatham House Rule. Das Präsidium setzt sich aus führenden Parteivertretern der Regierungsparteien im britischen Parlament zusammen. Neben Großkonzernen, Investmentbanken, Energiekonzernen und weiteren Firmen, zählt das Chatham House mehr als 2500 Mitglieder, international tätige Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft, Politik und Medien, die aus 75 Ländern stammen. Das Chatham House Centre on Global Health Security untersucht die wichtigsten globalen Gesundheitsprobleme und wie diese sich als außenpolitische und internationale Probleme manifestieren. Die Arbeit des Zentrums konzentriert sich auf drei eng miteinander verknüpfte Aspekte der globalen Gesundheitssicherheit: transnationale Krankheitsbedrohungen und Determinanten, den Zugang zu gesundheitsbezogenen Produkten, Technologien und Dienstleistungen sowie internationale Angelegenheiten, Governance und Gesundheit. In diesem Forschungsschwerpunkt wird auch untersucht, inwieweit und in welcher Form Bemühungen zur Verbesserung der globalen Gesundheit außenpolitischer Interessen wie Sicherheit und Wirtschaftswachstum dienen (Chatham-House 2019)

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

317

Overseas Development Institute Das Overseas Development Institute (ODI) ist eine unabhängige Denkfabrik für internationale Entwicklung und humanitäre Fragen, die 1960 in London gegründet wurde und als einer der weltweit führenden Think Tanks im Entwicklungsbereich gilt. Das ODI hat das Ziel, evidenzbasierte Politik zu fördern, um die weltweite Armut zu bekämpfen und nachhaltige Lebensgrundlagen in Entwicklungsländern zu ermöglichen. Seit 2004 besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem ODI und dem britischen Ministerium für internationale Entwicklung. Im Bereich der Globalen Gesundheit erforschen Experten des ODI Ursachen, Auswirkungen und Lösungen für die globalen Probleme des Klimawandels und der damit verbundenen Gesundheitsbedrohungen. Zudem werden die Folgen des demografischen Wandels auf die öffentliche Gesundheit untersucht, der über geografische, sozioökonomische und demografische Grenzen hinweg sehr unterschiedliche Auswirkungen haben wird. Zur Bearbeitung dieser komplexen Zusammenhänge nutzt das ODI einen multidisziplinären Ansatz, um internationale Abkommen einschließlich der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, des Sendai-Rahmens und des Pariser Abkommens zu fördern (ODI 2019).

25.3.3 Australien George Institute for Global Health Das George Institute for Global Health wurde 1999 in Sydney, Australien, als ein Gesundheits- und medizinisches Forschungsinstitut mit dem Ziel gegründet, die weltweite zunehmende Belastung durch nicht übertragbare Krankheiten und Verletzungen zu verringern. Das Institut verfügt mittlerweile über zusätzliche Büros in Indien, China und Großbritannien und beschäftigt mehr als 600 Mitarbeiter in 50 Ländern. Die Schwerpunkte in den Projekten des Instituts liegen dabei in der Suche nach besseren Vorbeugemaßnahmen und Behandlungsmöglichkeiten von Herzerkrankungen und Schlaganfällen (zum Beispiel in Indien), der Vorbeugung von Komplikationen bei Diabetes und der Ermöglichung der Nutzung von mobilen Technologien im Gesundheitswesen. Die Verbesserung der primären Gesundheitsversorgung und die Schließung von Versorgungslücken (zum Beispiel in China) stellen weitere Prioritäten der Arbeit des Instituts dar. Durch einen verstärkten Dialog und eine intensivere Zusammenarbeit mit Regierungen, Marktteilnehmern und Gemeinden versucht das George Institute auf den verschiedenen Ebenen die Erreichung seiner Ziele zunehmend zu befördern (GI 2019).

25.3.4 Schweiz Graduate Institute for International and Development Studies – Global Health Center Das Graduate Institute for International Development Studie in Genf, Schweiz, ist eine private Hochschule und als Nachfolgeinstitution des 1927 gegründeten Institut

318

M. Bonk et al.

universitaire de hautes études internationales die älteste Einrichtung für internationale Studien in Kontinentaleuropa. Das Global Health Center ist das Forschungs- und Ausbildungsprogramm des Graduate Institutes, mit Schwerpunkt auf globaler Gesundheitssteuerung und globaler Gesundheitsdiplomatie. Das Center trägt durch die akademische Analyse von Herausforderungen und Veränderungen in der globalen Gesundheitssteuerung zum Kapazitätsaufbau von Entscheidungsträgern und Regierungsvertretern, internationalen Organisationen, globalen Gesundheitsinitiativen und anderen Interessengruppen wie der Zivilgesellschaft, Stiftungen, dem Privatsektor, Plattformen und Allianzen bei. In den letzten Jahren hat sich das Global Health Center als führendes Forschungszentrum im Bereich der Globalen Gesundheits-Governance und als Kompetenzzentrum für globale Gesundheitsdiplomatie weltweit profiliert. Das GHC liegt im Zentrum von Genf umgeben von internationalen Organisationen und weiteren Institutionen aus dem Bereich der Globalen Gesundheit und fungiert auch daher als neutrale Plattform für politische Dialoge, Veranstaltungen und Konferenzen (IHEID 2019).

25.3.5 Frankreich Santé Mondiale 2030 Santé Mondiale 2030 ist eine im Jahre 2016 gegründete, unabhängige Denkfabrik und „Analysegruppe“ mit Sitz in Paris. Diese Gruppe von Experten und ehemaligen Führungskräften mit langjährigen Erfahrungen im Bereich der Globalen Gesundheit arbeitet gemeinsam an dem Ziel, durch die Erstellung, Verbreitung und Nutzung von Ideen, Analysen oder Empfehlungen Einfluss auf die öffentliche Politik und Strategien französischer Akteure im Bereich der globalen Gesundheit zu nehmen. Santé Mondiale 2030 zielt insbesondere darauf ab, die französischen Entscheidungsträger bei der Entwicklung einer kohärenteren und effektiveren Strategie für die Globale Gesundheit zu unterstützen. Zentrale Aspekte der Arbeit sind Herausforderungen durch die Globalisierung, die Armutsbekämpfung, die internationale Migration, den demografischen Wandel und die durch den Klimawandel verursachten Auswirkungen auf die Gesundheit und Entwicklung. Zudem unterstützt Santé Mondiale 2030 verschiedene Akteure in ihrer Arbeit zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), einschließlich der internationalen Agenda im Kampf gegen die Armut und den Schutz des Planeten (SM 2019).

25.3.6 Spanien ISGlobal Barcelona Das Barcelona-Institut für globale Gesundheit (ISGlobal) wurde 2010 auf Initiative der Stiftung „la Caixa“ in Zusammenarbeit mit akademischen und staatlichen Institutionen

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

319

gegründet, um ein Kompetenzzentrum für Forschung und Wissenstransfer für die Herausforderungen im Bereich der Globalen Gesundheit im 21. Jahrhundert zu schaffen. Die Arbeit des Instituts gliedert sich in drei Abteilungen: Wissensgenerierung durch multidisziplinäre Forschung, Wissensvermittlung durch Aus- und Weiterbildung sowie das Wissensmanagement mit den Schwerpunkten Politik und globale Entwicklung. Diese Abteilung übernimmt dabei eine Doppelfunktion, als Denkfabrik und als Katalysator für Ideen und Aktionen zur Verwirklichung der Gesamtstrategie des Instituts, um nicht nur Probleme der realen Welt zu untersuchen, sondern auch Veränderungen herbeizuführen. Dieser zweigleisige Ansatz der Abteilung wird durch Ergebnisse multidisziplinärer, evidenzbasierten Analysen unterstützt, um die globale Gesundheitsagenda zu informieren und durch internationale Entwicklungsprojekte direkt vor Ort einzugreifen (ISGlobal 2019).

25.3.7 Europäische Ebene European Global Health Research Initiative Network Das European Global Health Research Initiative Network (EGHRIN) wurde im Jahr 2018 von zwölf in Europa führenden Forschungsinstituten im Bereich der Globalen Gesundheit gegründet, um das Profil der globalen Gesundheitsforschung auf der europäischen Ebene zu schärfen. Das Hauptziel des Netzwerks besteht darin, Spitzenleistungen in der Wissensgenerierung, -umsetzung und -erziehung sowie in der Politikberatung im Bereich der globalen Gesundheit zu fördern und damit auch die globale Gesundheitsagenda der EU zu stärken. Darüber hinaus zielt die Initiative darauf ab, die finanzielle Unterstützung der globalen Gesundheitsforschung auf der europäischen Ebene zu erhöhen, und Mechanismen zur intensivierten Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen in der Forschungsförderung zu entwickeln. Zudem erarbeitet die EGRHIN-Initiative Vorschläge zur Änderung der europäischen Gesundheitspolitik, veröffentlicht Positionspapiere zu einer Reihe verwandter Themen, erstellt Forschungspapiere und verfasst Forschungsagenda-Papiere. Darüber hinaus werden AdvocacyAktivitäten durchgeführt, indem EU-Parlamentarier und Forschungsattachés aus EU-Mitgliedstaaten kontaktiert werden (EGHRIN 2019).

25.3.8 China Die oben ersichtliche Dominanz der Denkfabriken zur Globalen Gesundheit durch kulturell westeuropäisch und nordamerikanisch geprägte Formen hängt mit den wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen in diesen Regionen ebenso zusammen wie mit dem Bewusstsein der Verantwortung, Gesundheit als ein Thema globaler Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu verstehen. Die Volksrepublik China schließt nun an dieses Entwicklungsniveau und Verantwortungsbewusstsein an

320

M. Bonk et al.

und organisiert sich entsprechend. Zu Chinas neuem Engagement im Gesundheitsbereich gehören karitative, wissenschaftliche, soziale und ökologische Graswurzelbewegungen, die formal oft als NGOs oder fachliche nationale Denkfabriken firmieren. Dies ist unter der Einschränkung zu verstehen, dass die Leitlinien der Politik unter der Herrschaft der KPCh stehen und die Organisation hoheitlich relevanter Aktivitäten unter Staatsvorbehalt. So ergeben sich facettenreiche und schwer durchschaubare Hybride aus unabhängigen und staatlichen Treibern. Viele Think Tanks in China behandeln Themen der „Neuen Seidenstraßen-Initiative“. Sie fungieren eher als Gremien für Fachexperten oder Forschungsinstitute, oft mit Bindung an ein Ministerium, und weniger als unabhängige Graswurzelinitiativen. Oft erscheinen sie als virtuelle Agglomerationen einer bunten Vielfalt von Initiativen unterschiedlicher Größe und Arbeitsweise, die in ihrer finanziellen und politischen Verknüpfung schwer zu durchschauen sind. Ein aktueller Report listet China allgemein mit insgesamt 507 anerkannten „Think Tanks“ weltweit an dritter Stelle (nach den USA mit 1871 und Indien mit 509, Deutschland an sechster Stelle zählt 218) (McGann 2019). Zu Chinas wichtigsten gelisteten Einrichtungen gehört das China-Institut für Internationale Studien (CIIS, Weltrang 51), die Chinesische Akademie für Gesellschaftsforschung (CASS, Weltrang 39) und das China-Institut für Internationale Beziehungen (CICIR, Weltrang 30). Auf der anderen Seite stehen humanitäre und ökologische Think Tanks, die sich als Kombination zivilgesellschaftlichen Engagements sehr unterschiedlicher Hintergründe und akademischer Forschung präsentieren. Hervorzuheben sind hier, in der Perspektive von One Health und Planetary Health, die China Biodiversity Conservation and Green Development Foundation (CBCGDF), als Dachorganisation und Sammlungsplattform der chinesischen NGOs im Bereich Umwelt-, Natur-, Arten- und Klimaschutz und Gesundheitspolitik, das China Council for International Cooperation on Environment and Development, ein transnationaler und von China organisierter Treiber der „Green Development-Bewegung“ sowie das China Lingshan Council for the Promotion of Philanthrophy (CLCPP), als karitativer Dachverband für allgemeine Wohlfahrt, Recht und Gesundheit. Spezifisch für den Bereich International Public Health sind zu nennen: • China National Health Development Research Center (CNHDRC): Ein staatlicher Think Tank für technische und wissenschaftliche Unterstützung von Gesundheitsund Entwicklungsprojekten ist eine Forschungseinrichtung mit Sitz in Peking und wurde 1991 unter der Leitung des chinesischen Gesundheitsministeriums gegründet. Es fungiert als nationaler Think Tank, der Entscheidungsträgern in der Gesundheitspolitik technische Beratung bietet (CNHDRC 2019a). • Das 2008 unter diesem Dach gegründete DC Health Systems Board für Entwicklungszusammenarbeit und International Public Health ist ein Forum für Fragen

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

321

der internationalen Gesundheitssystemforschung, für Finanzierung und Zugang und in vergleichender Perspektive mit Ländern wie Äthiopien, Uganda und Bangladesch (CNHDRC 2019b). • Weitere Think Tanks mit Aufgaben im Bereich Globale Gesundheit sind das China Center for Health Economics Research (CCHER) und das Development Research Center of the State Council (DRC) und CNHDRC) (McGann 2019). Eine dritte Gruppe anerkannter Think Tanks in China gehört zum universitären Sektor. Führend ist hier die Abteilung für Globale Gesundheit an der Peking Universität. Obwohl sie als Think Tank bezeichnet wird, ist sie in erster Linie ein universitäres Institut mit Lehr- und Forschungsaufgaben. Die Dynamik dieses Sektors wird auch durch die Gründung einer ambitionierten „Tsinghua School of Public Health“ in Beijing deutlich, die im April 2020 als Reaktion auf die COVID-19 Krise erfolgte. Das Duke Global Health Institute (DGHI) ist eine US-amerikanische Netzwerkgründung mit Verbindungen zu Universitäten in Peking, Shanghai und Kunshan. Dazu gehören akademische Programme und ein globales Gesundheits-Forschungszentrum. Gemeinsam mit dem George-Institut (s. Abschn. 25.3.3) vermittelt es in Beijing Wissen zum Umgang mit chronischen Krankheiten und Schlaganfällen. In Shanghai zielen die Partnerschaften der DGHI mit dem Fudan Institute of Global Health darauf ab, chinesische Wissenschaftler mit afrikanischen Kollegen zu verbinden, um gemeinsame Forschungs- und Bildungsinitiativen zu entwickeln (DGHI 2019).

25.4 Ausblick Den Bereich der Globalen Gesundheit werden in den kommenden Jahren Herausforderungen wie die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels, politische Krisen, internationale Migration sowie die Entwicklungen im Bereich der globalen Gesundheitssicherung zum Schutz vor weiteren Epi- oder Pandemien prägen. Die Verschiebung geopolitischer Machtstrukturen wird die Rolle neuer Mächte mit bislang wenig repräsentiertem Kulturprofil wie China oder Äthiopien aufwerten und die Aktivierung weiterer Kohärenzpotenziale für Globale Gesundheit erforderlich machen. Zudem wird die globale Gesundheit von der UN-Nachhaltigkeits-Agenda 2030 mit ihren 17 SDGs direkt und indirekt beeinflusst werden. Die Erreichung des primären Gesundheitszieles (SDG 3:„Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern“) wird wesentlich von ökonomischen Faktoren (und damit auch von anderen SDGs) und dem Zugang zur gesundheitlichen Versorgung abhängen. Daher wird das von der WHO gesetzte Ziel der allgemeinen finanziellen Gesundheitsabsicherung (UHC) in den nächsten Jahren die Gestaltung der Agenda der globalen Gesundheit maßgeblich mitbestimmen. Und damit werden kultur- und grenzüberschreitende Governance-Fragen und auch die Tätigkeiten der Global Health Think Tanks immer wichtiger werden.

322

M. Bonk et al.

Literatur BAG. (2006). Schweizerische Gesundheitsaußenpolitik. In BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT (Hrsg.). Bern, Switzerland: Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA, Eidgenössisches Departement des Innern EDI. Bonk, M., Döring, O., & Ullrichs, T. (2018). Positionspapier der Think Tank Gruppe für die Globale Gesundheitsstrategie der Bundesregierung [Online]. Berlin, Germany: Think Tank Gruppe. https://institut-fuer-globale-gesundheit.de/wp-content/uploads/2018/09/Positionspapier-Think-Tank-Gruppe-0109.pdf. Zugegriffen: 15. Mai 2019. CFR. (2019). Global Health Program [Online]. New York, USA: Council on Foreign Relations. https://www.cfr.org/programs/global-health-program. Zugegriffen: 15. Mai 2019. CGD. (2019). Global Health [Online]. Washington D.C., USA: Center for Global Development. https://www.cgdev.org/topics/global_health. Zugegriffen: 15. Mai 2019. CHATHAM-HOUSE. (2019). Centre on Global Health Security ‒ About [Online]. London, Vereinigtes Königreich: Chatham House. https://www.chathamhouse.org/about/structure/globalhealth-security/about. Zugegriffen: 16. Mai 2019. CNHDRC. (2019a). China National Health Development Research Center [Online]. Peking, China: China National Health Development Research Center. http://www.futurehealthsystems. org/cnhdrc. Zugegriffen: 20. Mai 2019. CNHDRC. (2019b). DC Health Systems Board for International Cooperation and International Public Health [Online]. Peking, China: China National Health Development Research Center. http://www.futurehealthsystems.org/dc-health-systems-board. Zugegriffen: 19. Mai 2019. CSIS. (2019). Global Health Policy Center [Online]. Washington D.C., USA: Center for Strategic and Internaitonal Studies. https://www.csis.org/programs/global-health-policy-center. Zugegriffen: 15. Mai. 2019. DGHI. (2019). Duke Global Health Institute ‒ China [Online]. Durham, USA: Duke Global Health Institute. https://globalhealth.duke.edu/locations/countries/china. Zugegriffen: 21. Mai 2019. EGHRIN. (2019). European Global Health Research Initiative Network [Online]. Amsterdam, Niederlande: European Global Health Research Initiative Network Available: https://eghrin.eu. Zugegriffen: 18. Mai 2019. GER-GOV. (2013). Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen. Berlin, Germany: Bundesregierung Deutschland. GI. (2019). George Institute for Global Health ‒ About us [Online]. Sydney, Australien: George Institute for Global Health. https://www.georgeinstitute.org. Zugegriffen: 16. Mai 2019. GLOHSA. (2019). Global Health Security Alliance ‒ About us [Online]. New York, USA: Global Health Security Alliance. https://glohsa.com/. Zugegriffen: 16. Mai. 2019. GOV-UK. (2008). Health is global. London: HM Government. Havemann, M., & Bösner, S. (2018). Global Health as „umbrella term“–a qualitative study among Global Health teachers in German medical education. Globalization and health, 14, 32. IGGB. (2017a). Institut für Globale Gesundheit Berlin [Online]. Berlin, Germany: Institut für Globale Gesundheit Berlin e. V. www.igg.berlin. Zugegriffen: 10. Apr. 2019. IGGB. (2017b). Themen, Globale Gesundheit verlangt Überblick [Online]. Berlin, Germany: Institut für Globale Gesundheit Berlin e. V. https://institut-fuer-globale-gesundheit.de/?page_ id=58. Zugegriffen: 4. Apr. 2019. IHEID. (2019). Global Health Center [Online]. Genf, Schweiz: Graduate Institute for International and Development Studies. https://www.graduateinstitute.ch/globalhealth. Zugegriffen: 17. Mai 2019.

25  Global Health Think Tanks – Think Tanks …

323

ISGLOBAL. (2019). Instituto de Salud Global Barcelona [Online]. Barcelona, Spanien: Instituto de Salud Global Barcelona. Available: https://www.isglobal.org. Zugegriffen: 18. Mai 2019. Koplan, J. P., Bond, T. C., Merson, M. H., Reddy, K. S., Rodriguez, M. H., Sewankambo, N. K., & Wasserheit, J. N. (2009). Towards a common definition of global health. The Lancet, 373, 1993–1995. Mcgann, J. G. (2019). 2018 Global go to think tank index report. ODI. (2019). Global Health and well-being [Online]. London, Vereinigtes Königreich: Overseas Develoment Institute. https://www.odi.org/global-health-and-wellbeing. Zugegriffen: 16. Mai. 2019. Pibulsonggram, N., Amorim, C., Douste-Blazy, P., Wirayuda, H., Støre, J., & Gadio, C. (2007). Oslo Ministerial Declaration–global health: A pressing foreign policy issue of our time. Lancet, 369, 1373–1378. SM. (2019). Santé mondiale 2030 ‒ About us [Online]. Paris, Frankreich: Santé mondiale 2030. http://santemondiale2030.fr. Zugegriffen: 17. Mai 2019. Ståhl, T., Wismar, M., Ollila, E., Lahtinen, E., & Leppo, K. (2006). Health in all policies. Prospects and potentials. Helsinki: Finnish Ministry of Social Affairs and Health. UN. (2017). Maternal, Newborn and Child Health Muskoka Initiative ‒ Canada [Online]. New York, USA: United Nations. http://iif.un.org/content/maternal-newborn-and-child-healthmuskoka-initiative-canada. Zugegriffen: 15. June 2017. WHO. (2003). WHO framework convention on tobacco control. Geneva: World Health Organization. WHO. (2005). International health regulations. Geneva: World Health Organization. WZB. (2019a). Globale humanitäre Medizin [Online]. Berlin, Germany: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. https://www.wzb.eu/de/forschung/internationale-politik-und-recht/ globale-humanitaere-medizin. Zugegriffen: 10. Apr. 2019. WZB. (2019b). Governance for global health [Online]. Berlin, Germany: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. https://www.wzb.eu/de/forschung/internationale-politik-und-recht/ governance-for-global-health. Zugegriffen: 10. Apr. 2019.

Mathias Bonk ist als selbstständiger Berater im Bereich der Globalen Gesundheit und als Wissenschaftsautor tätig. Er ist promovierter Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und hat ein Masterstudium in Internationaler Gesundheit an der Universität Heidelberg absolviert. Von 2010 bis 2014 hat er den World Health Summit in Berlin und das damit verbundene M8 Alliance Netzwerk als Programmdirektor maßgeblich mit aufgebaut. Während der Ebola-Krise in Westafrika war er im Clinical Management Team der WHO in Genf tätig. Seine besonderen Interessen liegen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und der globalen Gesundheits-Governance, mit Schwerpunkt WHO. Gemeinsam mit den Co-Autoren hat er das Institut für Globale Gesundheit Berlin als ersten deutschen Think Tank im Bereich der Globalen Gesundheit gegründet. Ole Döring ist habilitierter Philosoph und promovierter Sinologe mit besonderem Interesse an ethischen und gesundheitlichen Grundlagen des guten Lebens. Er lehrt und forscht zwischen Deutschland, China und Neuseeland. Er publiziert seit 25 Jahren zu Themen der Medizinethik, Philosophie, Governance und Kultur-übergreifender Zusammenarbeit. Außerdem berät er Unternehmen auf den Feldern Nachhaltige Entwicklung, Ethik, Resilienz und Chinakompetenz. Besonders interessieren ihn die neuen Perspektiven einer modernen Gesundheitswirtschaft für Eurasien.

324

M. Bonk et al.

Timo Ulrichs ist Professor für Globale Gesundheit und Entwicklungszusammenarbeit an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Er ist Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und beschäftigte sich am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin mit Fragen der Tuberkulose. Am Bundesministerium für Gesundheit war er als Referent unter anderem für den Seuchenschutz und die Influenzapandemieplanung zuständig. Praktische Tätigkeiten führten ihn unter anderem nach Frankreich, in die USA und Südafrika. Zudem ist er seit 2001 in wissenschaftlichen Kooperationsprojekten in Osteuropa aktiv, insbesondere in Russland, Georgien und der Republik Moldau.

Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern

26

Maike Henningsen und Joscha Hofferbert

Inhaltsverzeichnis 26.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 26.2 Das multidisziplinäre Team als Keimzelle der Lösungsfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 26.3 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

26.1 Hintergrund Gegründet wurde Hacking Health 2012 in Montreal von Hadi Salah, einem Arzt, und Luc Sirois, einem Softwareentwickler. Beiden war augenfällig, dass das bestehende Gesundheitssystem Kanadas so wie auch die allermeisten Gesundheitssysteme der westlichen Welt vor stetig wachsenden Anforderungen stehen. Dazu gehören die Auswirkungen des demografischen Wandels, eine Zunahme an chronischen Erkrankungen, die Sicherstellung einer gleichwertigen Versorgung in Stadt und Land, das Fehlen von Fachkräften im pflegerischen und medizinischen Bereich, die Finanzierung von teuren medizinischen Innovationen und schließlich die Frage nach einer nachhaltigen Finanzierbarkeit einer hochwertigen Gesundheitsversorgung. Hier ist die Hoffnung, dass digitale Technologien und Innovationen im Gesundheitsbereich helfen können, diese Herausforderungen besser zu lösen. Durch die Digitalisierung ist es in der Medizin zum ersten Mal möglich geworden, medizinische Inhalte orts- und zeitunabhängig zu vermitteln. Das schafft eine Basis,

M. Henningsen (*) · J. Hofferbert  Berlin, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Matusiewicz (Hrsg.), Think Tanks im Gesundheitswesen, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29728-2_26

325

326

M. Henningsen und J. Hofferbert

um medizinische Versorgung auch unabhängig von der Person des einzelnen Arztes und unabhängig von der klassischerweise benötigten Infrastruktur anzubieten. Zudem eröffnen sich neue Herangehensweisen, diagnostische oder pathophysiologische Fragen durch intelligente Datenanalysen, über Künstliche Intelligenz beispielsweise oder BigData-Ansätzen zu erschließen. Neue Prozesse, Verfahren und Möglichkeiten in der medizinischen Versorgung bringen es in diesem Fall mit sich, dass Bereiche, die Schnittstellen zur medizinischen Versorgung haben, ebenfalls einen Veränderungsprozess durchlaufen. Fokussiert man auf das, was in Deutschland momentan zu beobachten ist, so kann man erkennen, dass die von Digital-Health-Start-ups aus dem Gesundheitsbereich angestoßene Entwicklung zu einer Vielzahl von Veränderungen geführt hat – und das in quasi allen assoziierten Bereichen. Es wurden in den letzten Jahren nicht nur Möglichkeiten geschaffen, Startups und deren Gründer so gut es geht zu fördern, es wurden darüber hinaus ebenfalls auch grundsätzliche Rahmenbedingungen verändert, die es nun ermöglichen, die digitale Medizin zu implementieren, zu lehren, zu beforschen und letztendlich auch eine ganz neue Art einer medizinische Versorgung zu entwickeln. Was sich aber auch zeigt ist, dass das Potenzial, was in digitaler und innovativer Medizin steckt, nicht unbedingt mit den klassischen Strukturen angegangen werden kann, sondern eine Zusammenarbeit multidisziplinärer Teams, die ein hohes Maß an Expertise aus unterschiedlichen Fachrichtungen, wie der Medizin, IT, Data Science, Design, mitzubringen erfordert. Alleine die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Stakeholder und notwendigen Akteure ermöglicht es, dass die bestehenden Herausforderungen gemeistert und innovative Lösungen entwickelt und auch implementiert werden können. Diese Erkenntnis war Grundlage für Luc Sirois und Hadi Salah Hacking Health zu gründen, um zum einen Lösungen für konkrete Herausforderungen zu finden, aber zum anderen auch eine Community für deren Implementierbarkeit zu bilden: „Hacking Health catalyses collaboration by empowering key stakeholders to co-create innovative and meaningful solutions to healthcare challenges“ – so das Motto von Hacking Health. Die Hacking Health Community Vor sieben Jahren in Montreal gegründet, haben sich bis heute 63 Chapter in 16 Ländern über fünf Kontinente hinweg aus Eigeninitiative aufgebaut und nehmen eine aktive Position im globalen Netzwerk ein. Alle Chapter können bei Bedarf den Außenauftritt der Mutterorganisation nutzen und sich somit als Teil von Hacking Health präsentieren. Für die Ausgestaltung eines Chapters gibt es wenige Vorgaben. Bedingungen sind lediglich, keinen kommerziellen Nutzen zu verfolgen und ein Kernteam mit einem Hintergrund im Gesundheitswesen zu haben. Neben diesen Auflagen sind die Chapter frei in der Gestaltung ihres Tuns. In den letzten sieben Jahren hat sich eine internationale Gemeinschaft, bestehend aus mehr als 600 ehrenamtlichen Hacking-Health-Mitgliedern entwickelt, die über 100 Hackathons und mehr als 1250 Projekte organisiert haben – immer mit dem Fokus

26  Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern

327

auf innovative Lösungen für bestehende Herausforderungen in der medizinischen Versorgung und dem Gesundheitsbereich.

26.2 Das multidisziplinäre Team als Keimzelle der Lösungsfindung Fokussiert man auf einzelne medizinische oder pflegerische Fragestellungen „Challenges“, die im Rahmen eines Hackathons eine Rolle spielen, so sollte zum einen der Patient mit seinem Bedürfnis nach Heilung der Ausgangspunkt des Lösungsansatzes sein. Auf der anderen Seite steht der Arzt oder die Pflegekraft, die ebenfalls eine Lösung für ein Problem benötigt. Zentral dabei ist der Patient, der ein unerfülltes Bedürfnis formulieren kann, sowie auch der Arzt oder die Pflegekraft, welchem die gleiche Rolle zukommt. Die unerfüllten Bedürfnisse passen sich häufig in einen Kontext ein, den nur die Betroffenen genau definieren könnten. Dieses Wissen ist wiederum elementar wichtig, um eine wirklich passgenaue Lösung zu erarbeiten, die auch nutzbar und in das System integrierbar ist. Im zweiten Schritt muss erarbeitet werden, wie ein Problem gelöst werden kann, hierzu werden Designer und Entwickler, Ingenieure oder andere Experten benötigt. Sollte später die kommerzielle Nutzung Ziel sein, ist es notwendig, einen Entrepreneur/Businessexperten miteinzubeziehen, welcher die Möglichkeiten definieren und umsetzen kann. Für die erfolgreiche Entwicklung von wie auch immer gearteten Lösungen ist es somit dringend notwendig, dass in Teams gearbeitet wird, welche das Problem genau definieren können, um es dann mit der Hilfe von Experten aus anderen Bereichen zu lösen. Das globale Netzwerk, als Basis für Entwicklung und Implementierung Zugeschnittene neue Lösungsvorschläge können erst Teil eines Systems werden, wenn das System aktiv miteinbezogen wird. Nur dann können Lösungsvorschläge implementiert werden und Unterstützung finden, bzw. nur dann kann auch ein System davon profitieren und gegebenenfalls eine eigene Anpassung einleiten. Dieser Prämisse folgend, hat Hacking Health weltweit ein Netzwerk aufgebaut, welches alle relevanten Akteure des Gesundheitssystems vereint. Ein wichtiger Teil des Netzwerks sind medizinische Einrichtungen im ambulanten und stationären Bereich, aber auch Pflegeeinrichtungen und deren Dienstleister, wie Apotheken oder Sanitätshäuser. Den praktizierenden Ärzten und dem Pflegepersonal kommt dabei die Rolle der Identifikation von Problemen und Ursachen zu sowie auch gleichzeitig die von Vordenkern von Lösungen. Ähnlich verhält es sich mit Patienten, welche sowohl über die direkte Ansprache über das Internet, als auch durch Kooperationen mit Patientenverbänden mit einbezogen werden. Dem übergeordnet bezieht Hacking Health in den Diskurs auch politische Organe mit ein und kooperiert mit Forschungseinrichtungen, Universitäten, diversen Institutionen

328

M. Henningsen und J. Hofferbert

und Konsortien, die zum einen eigene „Challenges“ in einen Hackathon einbringen, aber auch die Nähe zu Hacking Health schätzen, um mit den Teams in Austausch zu kommen und neue Lösungsansätze und Herangehensweisen kennenzulernen. Dieser Austausch kann langfristige strukturelle Anpassungen des Systems vorantreiben und stellt einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung dar. Um Ideen, Projekte und Lösungen tatsächlich schnell und agil umsetzbar zu machen und in den medizinischen Alltag einfließen zu lassen, ist es ebenfalls unerlässlich, engen Kontakt zum Start-up „Ökosystem“ herzustellen und zu halten, was Hacking Health aktiv tut. Seine internationale Ausrichtung ermöglicht es Hacking Health, den globalen Ideen- und Wissenstransfer zu stärken, welcher als die grundlegende Basis für jegliche Kooperation und Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen und Personen angesehen werden muss. Dieses ist umso mehr zu betonen, als dass digitale Medizin das Potenzial hat, ein globales Phänomen zu sein und medizinische Lösungen nicht unbedingt auf Landesgrenzen begrenzt sind. Hackathons als Plattform für Interaktion Allgemein erfreuen sich Hackathons als Format in den letzten fünf bis zehn Jahren in fast allen digitalen und technologiegetriebenen Bereichen immer größerer Beliebtheit. Dabei wird dieses Format auf unterschiedliche Art und für unterschiedliche Szenarien zur Anwendung gebracht. Sie unterscheiden sich dabei unter anderem in der Dauer, dem Entwicklungsstand der Lösungen und dem Ziel. Die von Hacking Health durchgeführten Hackathons sind zumeist von den Hacking Health Chaptern einem spezifischen Motto gewidmet, wie zum Beispiel „Hacking Female Health“, (dem Motto des Hackathons von Hacking Health Berlin in 2018). Zu diesem Thema wurden im Vorhinein die sogenannten „Challenges“ definiert, die jeweils ein spezifisches Themengebiet oder eine Aufgabe/Herausforderung relativ klar umgrenzen, welche während des Hackathons bearbeitet oder gelöst werden soll. Über zweieinhalb Tage (meistens von Freitagnachmittag bis Sonntagabend) bzw. 48 h hinweg haben die Beteiligten Zeit an ihrer Lösung zu arbeiten, um am Ende der Veranstaltung ihre Lösung und funktionierenden Prototypen vor einer ausgewählten Jury vorzustellen. Die besten Lösungen werden von dieser ausgewählt und prämiert. Die Teilnehmer können sich im Vorfeld der Veranstaltung für die Teilnahme bewerben und werden auf Grundlage ihrer Expertise, ihrer Erfahrung, Motivation und professionellem Hintergrund von einem Konsortium ausgewählt. Am Anfang der Veranstaltung finden sich die Teilnehmer zu Teams zusammen, um an den spezifischen Projekten zu arbeiten. Meist geschieht dieses themenorientiert. Durch die Vorauswahl und Maßnahmen zur Unterstützung des „Team-Buildings“ wird die interdisziplinäre Zusammensetzung der Teams während des Hackathons garantiert. Hackathons fungieren dabei als Plattform für die Beteiligten, um über den reinen Wissensaustausch hinweg, zusammen Lösungsansätze zu spezifischen Challenges im Gesundheitsbereich zu entwickeln und diese in Prototypen oder prototypische

26  Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern

329

Prozesse umzusetzen, welche im Nachgang der Veranstaltung weiterentwickelt und ausdifferenziert werden können. Häufig kommen die Teilnehmer der Hackathons nicht alleine aus dem Land des jeweiligen Chapters/Veranstaltungsortes, sondern reisen aus dem Ausland an, wodurch der internationale Austausch von Erfahrungen, Wissen und Lösungsansätzen gefördert wird und somit erfolgreiche Ansätze für Innovationen in das jeweilige Gesundheitssystem Einzug finden können. Oft sind es die Kooperationspartner aus Industrie, Forschungseinrichtungen, Universitäten oder der Politik, die die Veranstaltungen finanziell als Sponsoren unterstützen und auch personell einen Beitrag leisten, indem sie zum Beispiel als Mentoren zur Verfügung stehen. Die Vorteile der Sponsoren sind vielfältig und reichen vom Erlangen von Impulsen bis zur gemeinsamen Entwicklung der Lösungen und weiterführende strategische Partnerschaften. Wichtiger Grundsatz aller Hacking Health Hackathon ist jedoch, dass die erarbeiteten Ergebnisse und das geistige Eigentum bei dem Team der jeweiligen Projekte liegt und Lösungen nicht ausschließlich für ein Unternehmen/ Sponsor entwickelt werden. Die Teams können sich im Nachgang frei entscheiden, wie sie mit ihrem Projekt weiter verfahren wollen. Hacking Health steht den Teams dabei als beratende Instanz zur Seite. Neben den genannten Hackathons werden unter anderem auch Meetups durchgeführt, um das lokale Ökosystem zu stärken und Impulse zu setzen. Organisierte Workshops vermitteln Methoden, Best-Practices-Beispiele und Lösungsansätze. Die Vernetzung und kollektive Entwicklung von Lösungen für relevante, aktuelle Herausforderungen im Gesundheitswesen bietet allen Teilnehmern und Beteiligten der Veranstaltung die Möglichkeit, neue Kompetenzen und Wissen durch den interdisziplinären Austausch zu erlangen, Ideen auszutauschen, neue Lösungsansätze zu entwickeln und Partnerschaften für (langfristige) Kooperationen zu gründen. Best Practice: Hacking Health in Deutschland Hacking Health Berlin wurde 2014 als gemeinnütziger Verein gegründet. Seit seiner Gründung hat Hacking Health Berlin unterschiedliche Workshops, Meetups und Events organisiert und so die Hacking Health Community zu einem der größten Netzwerke und festen Bestandteil der deutschen digitalen Gesundheitsszene entwickelt. Hervorzuheben ist hier, dass die Community aus einem breiten Spektrum von Experten mit unterschiedlichem Hintergrund, Wissen und Expertise besteht, wie es sonst nur selten bei vergleichbaren Netzwerken der Fall ist. Der Aufbau des Netzwerkes ist für die Entwicklung eines Chapters der erste Schritt eine Basis für die gemeinschaftliche Entwicklung von Innovationen zu schaffen. Nur so können die richtigen Akteure, Personen und Experten in den entsprechenden Veranstaltungen zusammenkommen und gemeinsam Lösungsansätze entwickeln. Je nach Format fungieren die Veranstaltungen dabei zum einen als Instrument zum Austausch von Wissen und Ideen sowie zum anderen auch zur Entwicklung von (interdisziplinären) Projekten und Prototypen. Jede Veranstaltung für sich betrachtet

330

M. Henningsen und J. Hofferbert

behandelt dabei ein aktuelles, relevantes und meist zukunftsorientiertes Thema, welches sich zumeist im interdisziplinären Grenzbereich zwischen Medizin, Psychologie und Technik befindet. Beispiele dafür wären Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen, Digitale Zukunft der Frauengesundheit, Virtual Reality in der Medizin usw. Wie auch in vielen der weltweiten Hacking Health Chaptern liegt der Fokus von Hacking Health Berlin stark auf der wissenschaftlichen Forschung und klinischen Gesundheitsversorgung. Dies spiegelt sich unter anderem in der konstanten, engen Zusammenarbeit und Kooperation mit dem Berliner Institut für Gesundheitsforschung der Charité (BIH) sowie weiteren Pflege- und Forschungseinrichtungen (UKSH, Fraunhofer etc.) wider. In seiner Struktur als gemeinnütziger Verein bietet Hacking Health Berlin die nötige Unabhängigkeit, Transparenz und Mitwirkungsverfügbarkeit für alle interessierten und engagierten Teilnehmern, um den gemeinsamen Diskurs, Austausch und Kooperationen zu fördern. Dabei ist es unerheblich, ob diese Teilnehmer in ihrer Position als Patienten, Ärzte oder Angestellte von Institutionen und Unternehmen an den Veranstaltungen teilnehmen. Als Beispiel der interdisziplinären Zusammenarbeit und Entwicklung von innovativen Projekten sind hier besonders die in Deutschland von Hacking Health durchgeführten Hackathons zu erwähnen. Beispiel 1: Charité Hackathon 2017 In enger Zusammenarbeit mit dem Berlin Institut für Gesundheitsforschung der Charité Berlin und deren Accelerator „Berlin Health Innovation“ veranstaltete Hacking Health 2017 den ersten Charité Hacking Health Hackathon in Berlin. Für diesen Hackathon wurden im Vorhinein drei „Challenges“ definiert, welche jeweils ein Themengebiet umfassen, in dem der Einsatz von digitalen/technologischen Lösungen einen Mehrwert für die Versorgung der Patienten darstellen kann. Die „Challenges“ bestanden dabei in der Entwicklung eines Hardware-Tools für medizinisches Personal im Operationssaal, eines KI-basierten Tools zur Verbesserung der klinischen Entscheidungsfindung oder einer digitale Patient-Empowerment-Lösung für Patienten mit Diabetes und deren Komplikationen zur Selbstversorgung. Die zuletzt genannte Challenge wurde dabei in Zusammenarbeit mit dem Pharmaunternehmen Roche definiert, welches den Hackathon als Sponsor unterstützte, wohingegen die ersten beiden Challenges zusammen mit dem Hauptpartner, dem Berlin Institut für Gesundheitsforschung der Charité, ausgearbeitet wurden. Die 90 Teilnehmer des Hackathon setzten sich zu gleichen Teilen aus Medizinern, Psychologen, Patienten, IT- und Datenexperten sowie Entrepreneuren zusammen. Bei der Entwicklung der einzelnen Lösungen wurden die Teams von ca. 60 Mentoren und Experten aus unterschiedlichen relevanten Bereichen sowie Design-ThinkingExperten unterstützt. Zum einen handelte es sich dabei um Experten der Unternehmen und Institutionen, welche den Hackathon entweder als Sponsoren finanziell oder als Kooperationspartner des Netzwerkes und Hacking Health unterstützten, zum anderen

26  Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern

331

wurden jedoch auch ausgewiesene Experten aus den relevanten Themengebieten (in diesem Fall klinische Versorgung und Patient-Empowerment) als Mentoren und Experten hinzugezogen, um bei der Entwicklung der Lösungsansätze zu helfen, als auch den während der dreitägigen Veranstaltung bestehenden Diskurs und Diskussion mit ihrem Wissen und Expertise zu bereichern. Als Abschluss der dreitägigen Veranstaltung wurden die zwölf entwickelten Lösungsansätze vor einer Jury von ausgewählten Experten vorgestellt und die besten vier Projekte ausgewählt und prämiert. Die Ergebnisse können als Leuchtturmprojekte angesehen werden, anhand deren die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen skizziert und Lösungsansätze in kürzester Zeit entwickelt und auf ihre Relevanz und Anwendbarkeit überprüft werden können. Beispiel 2: Hacking Female Health Hackathon 2018 Der im November 2018 in Berlin von Hacking Health durchgeführte Hackathon widmete sich spezifisch dem Thema „Female Health“ und war damit der erste seiner Art mit der Spezifikation auf Indikationen aus der Frauengesundheit. Dieser Hackathon folgte den „Challenges“ Brustkrebs, Endometriose, mentaler Gesundheit, STDs und Harnweginfektionen sowie geriatrischer Frauengesundheit. Dem Thema des Hackathons entsprechend waren 75 % der Teilnehmer Frauen, welche einen medizinischen Hintergrund hatten, als Patientinnen teilgenommen haben oder Software Entwicklerinnen, Designerinnen und Vertreterinnen anderer Berufsgruppen waren. Diese Quote war nicht forciert, sondern hat sich alleine aufgrund des Themas so ergeben. Die vorgegebenen „Challenges“ waren zum Teil von den Sponsoren der Veranstaltung, wie Pfizer Healthcare Hub Berlin und B. Braun zusammen mit den Organisatoren ausgearbeitet worden. Um die Einbindung von neuesten Technologien in die skizzierten Lösungsansätze zu ermöglichen, wurden neben dem Berlin Institut für Gesundheitsforschung für diesen Hackathon auch Fraunhofer Venture als Kooperationspartner der Veranstaltung integriert. Diese stellten den Teams relevante Technologien der Fraunhofer Institute zur Verfügung. Ziel war es, diese Prototypen in ein „minimal viable product“ (MVP) mit einem entsprechenden Nutzen zu überführen und in einer Ausgründung münden zu lassen. Das zweite Ziel war es zudem, Inspirationen für weitere Technologieentwicklung zu erhalten. Um ein möglichst umfassendes Netzwerk aus unterschiedlichen Bereichen und Teilnehmern für den Hackathon zu entwickeln, wurden weitere Partner wie zum Beispiel das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Technologiestiftung Berlin, das Hasso Plattner Institut Potsdam, BCG Digital Ventures, die Design Agentur Designit oder das „Medical Valley“ Nürnberg in die Entwicklung der Projekte und den damit verbundenen Diskurs mit einbezogen. Dabei ist zu erwähnen, dass besonders Partnerschaften mit Unternehmen und Institutionen eingegangen wurden, welche die Weiterentwicklung der entstehenden Projekte unterstützen. So wurde den besten drei Teams die Teilnahme am Bootcamp des Hasso-Plattner-Instituts ermöglicht. Fünf ausgewählte

332

M. Henningsen und J. Hofferbert

Teams wurden von Fraunhofer Venture eingeladen, an dem hauseigenen AHEAD Accelerator teilzunehmen und drei ausgewählte Teams wurden vom Pfizer Healthcare Hub zu weiteren Kooperationsgesprächen eingeladen. Die Interessen der einzelnen Partner und Akteure, an dem Hackathon teilzunehmen, können sehr vielseitig sein. Während einige Teilnehmer Interesse an innovativen Technologien und neuartigen Ideen haben, steht für die meisten Unternehmen die Entwicklung von neuen Produkten und Dienstleistungen im Vordergrund. Die Ziele aller Teilnehmer und Akteure vereinen sich jedoch in dem Wunsch, gemeinsam innovative Lösungen zu entwickeln und diese in die Versorgung der Patienten zu bringen. Neben den Hackathons, die von Hacking Health Berlin selbst organisiert werden, unterstützt Hacking Health ähnliche Projekte sowohl inhaltlich zum Thema „Gesundheit“ als auch durch Vernetzung und Aufbau von Kooperationen zwischen unterschiedlichen Stakeholdern. So hat Hacking Health 2018 sowohl ein Kooperationsprojekt (Healthcare Hackathon Kiel) zusammen mit dem UKSH als auch mit der europäischen Organisation EIT Health durchgeführt. Beispiele für Hacking Health international Hacking Health in den Niederlanden In den Niederlanden ist Hacking Health ein hoch geschätztes Format und fester Bestandteil der Innovationslandschaft. Bis dato haben sich in den Niederlanden sechs feste Chapter gegründet, die eng miteinander verzahnt zusammenarbeiten. Jedoch liegt jedem Chapter eine leicht unterschiedliche Struktur zugrunde. In Nijmegen zum Beispiel ist Hacking Health als Teil des Radboudumc REshape Center fester Teil der Innovationsstrategie des Universitätsklinikums und damit in die Prozesse und Strukturen eingebunden. Dies eröffnet die Möglichkeit des Universitätsklinikums, Teil der Innovations- und Start-up-Kultur zu werden, von dieser zu lernen und maßgeblich mitzubestimmen und so die Versorgung der Patienten durch Innovationen zu verbessern und effizienter zu gestalten, aber auch den Technologie-Transfer zu unterstützen. „Dutch Hacking Health“ organisiert einmal im Jahr einen landesübergreifenden Hackathon in sechs Städten. Dabei ist der Ablauf, die Aktivitäten und behandelten Themen zwischen den Städten aufeinander abgestimmt. Jedoch bleibt es jedem Chapter selbst überlassen, das Konzept für den jeweiligen Hackathon selbst aufzustellen. Durch das nationale Netzwerk in den Niederlanden ist es theoretisch für alle Einwohner der Niederlande und angrenzenden Ländern möglich, an einem der Hackathons teilzunehmen, ohne lange Anreisen in Kauf nehmen zu müssen. Somit ist die Entwicklung von digitalen/technologiegetriebenen Ideen und Innovationen nicht mehr nur auf die Großstädte und Technologie Hotspots wie zum Beispiel Berlin, Amsterdam, London, Paris etc. beschränkt. Dies ist besonders im Hinblick auf die strukturellen Unterschiede und damit verbundenen Anforderungen der ländlichen Regionen von Bedeutung. An diesem Beispiel wird die enorme Relevanz der Vernetzung und Interdisziplinarität erkennbar. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Landarzt ein medizinisches

26  Hacking Health: Eine globale Initiative mit vielen Gesichtern

333

Problem definiert hat, was sehr gut mit einer digitalen Lösung behoben werden könnte, er jedoch aufgrund von fehlendem technischen Fachwissen über die Möglichkeiten der Digitalisierung weder zu einer möglichen Lösung kommt, noch den Zugang zu der nötigen IT-Expertise hat. Hierbei zeigen sich die Kernelemente von Hacking Health: Wissensaustausch und -transfer sowie die daraus entstehende transdisziplinäre Entwicklung von Lösungen und Prototypen im Gesundheitswesen. Durch das stetig wachsende, landesweite Netzwerk und die Vernetzung alle relevanten und nötigen Ressourcen werden Lösungsansätze, Projekte und strategische Innovationsziele entwickelt, welche die Interessen, Bedürfnisse und strategischen Ziele aller Teilnehmer des Gesundheitssystems – vom Patienten, über den Arzt, Versicherungen, Kliniken bis hin zur Pharma, Medtech und IT-Industrie – mit einbeziehen und gleichsam berücksichtigen. Hacking Health in Kanada Seit der Gründung 2012 sind in Kanada 15 Hacking Health Chapter über das gesamte Land hinweg entstanden. Die einzelnen Chapter arbeiten sehr eng vernetzt zusammen und organisieren gemeinsame Veranstaltungen. Dieses enge Netzwerk gilt nicht nur als Vorbild für eine gelungene Zusammenarbeit und Vernetzung in den Niederlanden und Brasilien, sondern ist auch eine Inspiration für Chapter in anderen Städten, aber auch für andere Bewegungen, die sich von der Struktur und den Möglichkeiten einer solchen Bewegung inspirieren lassen. In seinem Geburtsland ist Hacking Health von einer sogenannten Graswurzelbewegung (Grassroots Movement) zu einem festen Bestandteil des Gesundheitssystems geworden. Heute gilt Hacking Health in Kanada als landesweit aktive innovative Institution, welche in alle Bereiche des Gesundheitssystems integriert ist und so die bestehenden Strukturen, Prozesse und Vorgehensweisen hinterfragt und neue, innovative Lösungen skizzieren, diskutieren und entwickeln kann. Somit nimmt Hacking Health im ständigen Austausch und Diskurs Einfluss auf Institutionen, Unternehmen und die politischen Entscheidungsträger – immer mit dem zugrunde liegenden Ansatz, die Gesundheitsversorgung für die Patienten zu verbessern. Was ebenfalls besonders ist, ist, dass Hacking Health in Zusammenarbeit mit dem kanadischen Gesundheitsministerium strategische und gesundheitspolitische Zukunftsprojekte skizziert und prototypisch entwickelt. Dazu werden landesweite Hackathons sowie daran anschließend zwei- bis drei-monatige Bootcamps durchgeführt, in denen die während der Hackathons entwickelten Lösungen und Projekte fortlaufend weiterentwickelt und in die Praxis umgesetzt werden. Hacking Health nimmt hierbei zum einen die Rolle einer Plattform ein, auf der sich die Akteure treffen, austauschen und gemeinsam Projekte entwickeln können als auch die des Wegbereiters, der mit Know-how, dem Netzwerk und den nötigen Methoden jedes einzelne Projekt fördert und zur nötigen Reife verhilft. Als zentrale Instanz bleibt Hacking Health dabei vollkommen unabhängig und folgt alleine dem grundlegenden Ziel, gemeinsam mit allen Akteuren und Teilnehmern des Gesundheitssystems die Gesundheitsversorgung der Patienten durch Innovationen zu verbessern.

334

M. Henningsen und J. Hofferbert

26.3 Ausblick Hacking Health ist kein typischer Think Tank, der eine klassische beratende Funktion einnimmt. Hacking Health kann vielmehr als eine Plattform verstanden werden, die es Institutionen, Firmen oder politischen Einrichtungen ermöglicht, zu Problemen, die definitionsgemäß im Gesundheitssektor angesiedelt sind, die Meinung und Einschätzung vieler versierter Stakeholder einzuholen und einen Diskurs zu ermöglichen, der wiederum zu neuen Erkenntnissen für die eigene Institution führt. Zudem bindet Hacking Health durch seine kooperative Struktur Patienten, Ärzte, Pflegepersonal und andere Mitarbeitende der Gesundheitsbranche gleichsam als „Experten“ aktiv mit in die Lösungsfindung ein. In einem zweiten Schritt ist es ausdrücklich erwünscht, die entwickelten Lösungsvorschläge in die Tiefe weiter auszuarbeiten und im Sinne einer Prototypisierung tatsächlich zu testen und auf Basis der neuen Erkenntnisse erneut mit den Stakeholdern zu diskutieren und Modifikationen anzubieten. Da es das Ziel eines Hackathons ist, Prototypen zum besseren Verständnis anzubieten, kann man Hacking Health auch als eine Art „haptischen Think Tank“ verstehen. Ob es sich dabei um ein tatsächliches Produkt oder aber ein strukturelles Modell handelt, ist zunächst nicht relevant. Dieses offene Konzept, was zugleich Zugang zu Talenten ermöglicht, hat Hacking Health in den letzten Jahren sehr erfolgreich sein lassen. Mit seinem Konzept kann Hacking Health ganz neue Denkräume öffnen und Bedürfnisse herausarbeiten, die mehrdimensional begriffen werden können. Es handelt sich dabei um einen vieldimensionalen Ansatz, der in traditionellen Organisationen nicht unmittelbar zur Verfügung steht.

PD Dr. Maike Henningsen ist habilitierte Gynäkologin und hält einen Master in Innovationsmanagement und Entrepreneurship. An Hacking Health Berlin beteiligte sie sich als Jurorin und Mitorganisatorin des Female Hacking Health Hackathon. Aktuell berät sie Start-ups, Forschungsinitiativen sowie die EU-Kommission als Expertin an der Schnittstelle zwischen Entrepreneurship und Medizin. Am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf hat sie das Wahlpflichtfach „Digital Health“ mitkonzipiert, was die Ärzte von morgen auf ihr verändertes Berufsbild vorbereiten soll. Joscha Hofferbert hat ein Diplom in Psychologie und Neurowissenschaftler der Universität Heidelberg. Er leitete Hacking Health Deutschland als Vorsitzender und Strategy Lead ehrenamtlich seit drei Jahren und ist maßgeblich für die Entwicklung des Netzwerkes und Kooperationen verantwortlich. Als Experte im Bereich für digitale Gesundheit und Innovationen berät er Unternehmen, Start-ups und Institutionen bei der Entwicklung, Umsetzung und Implementierung von eHealth-Projekten und Innovationen. Zudem unterstützt Herr Hofferbert diverse AcceleratorProgramme sowie Start-ups als Mentor und Experte.