Kulturpolitik und Kunstgeschichte: Persepektiven der Hegelschen Ästhetik 378731721X, 9783787317219

Einleitung: Über Kunst nach dem "Ende der Kunst". Zur Aktualität von Hegels Berliner Vorlesungen über Philosop

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Kulturpolitik und Kunstgeschichte: Persepektiven der Hegelschen Ästhetik
 378731721X, 9783787317219

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Kulturpolitik und Kunstgeschichte Perspektiven der Hegelschen Ästhetik

Sonderheft des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Herausgegeben von ursula franke und annemarie gethmann-siefert

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: - Archiv für Begriffsgeschichte - Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft - Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte - Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie - Hegel-Studien - Phänomenologische Forschungen Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter www.meiner.de.

Zuletzt erschienen als Sonderhefte der ZÄK: Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (Jg. 2004)

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.ddb.de › abrufbar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft · ISBN 3-7873-1721-X · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2005. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

INHALT

Vorwort ....................................................................................................

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Einleitung: Über »Kunst nach dem Ende der Kunst«. Zur Aktualität von Hegels Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst oder Ästhetik .......

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i. kunst in der mode rnen we lt Jeong-Im Kwon: Das moderne Ideal und die kulturelle Rolle der Kunst. Hegels Bestimmung der Kunst in der Gegenwart .......................................

3

Elisabeth Weisser-Lohmann: Der Staat und die Kunst. Zur öffentlichen Funktion der Kunst bei Hegel ...................................................................

23

Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. Zur Rehabilitierung des ästhetischen Genusses ...........................................

37

Bernadette Collenberg-Plotnikov: Wissenschaftstheoretische Implikationen des Kunstverständnisses bei Hegel und im Hegelianismus ...........................

65

ii. von schönem, charakteristischem und hässlichem: das gestaltungsspektrum der künste Ursula Franke: Der neue Heilige. Hegel über die Darstellung Gottes ...........

105

Karsten Berr: Landschaft – Die Rehabilitierung des verschmähten Naturschönen in der Kunst .......................................................................

119

Giovanna Pinna: Hegel über das Portrait und die spezifisch moderne Version des Ideals ......................................................................................

143

Alain Patrick Olivier: La musique à la fin de l’histoire ..................................

155

Evelin Kohl: Becketts »Warten auf Godot« und Hegels »Dramatische Poesie«. Auf Entdeckungsreise mit Beckett in die Welten der Ästhetik .....................

165

Francesca Iannelli: Hegel und die Hegelianer über das Häßliche: Eine kontroverse Rezeption ......................................................................

195

Anschriften der Autoren ............................................................................

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VORWO RT

Die kleine Auswahl von »Fallstudien« zu Hegels Berliner Vorlesungen über »Ästhetik oder Philosophie der Kunst«, die er fast über die ganze Zeit seiner Berliner Lehrtätigkeit (von 1820/21 bis 1828/29 insgesamt viermal) vorgetragen, modifiziert und wesentlich erweitert hat, wurde im wesentlichen von einer Reihe junger Forscher auf der Basis der jahrelangen Arbeit an den Quellen zu den Hegelschen Vorlesungen entwickelt. Den Mitarbeitern dieses Bandes sei für ihr Interesse, ihre Initiative, den vielen hier nicht genannten Mitarbeitern am Forschungsobjekt zur Ästhetik des Deutschen Idealismus an der FernUniversität in Hagen für die über Jahre hinweg geleistete produktive Zusammenarbeit gedankt, auf deren Basis hier weiter gearbeitet werden konnte. Für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Textes danken die Herausgeber Chardia Budiman und Thomas Engel, für die sorgfältige Betreuung des Bandes geht unser Dank an Marion Lauschke und Jens-Sören Mann vom Verlag Meiner.

Über »Kunst nach dem Ende der Kunst« Zur Aktualität von Hegels Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst oder Ästhetik

I. Hegels Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Bedeutung der Kunst hat gegenwärtig durch Arthur C. Danto und in seinem Gefolge durch Hans Belting nicht trotz, sondern gerade wegen der umstrittenen »These vom Ende der Kunst« auf sehr überraschende Weise an Aktualität gewonnen. Die Bestimmung der »Kunst nach dem Ende der Kunst« oder gar nach dem »Ende der Kunstgeschichte«, die als lineare Fortschreibung einer Kunstentwicklung nicht mehr möglich erscheint, soll die für die Gegenwart adäquate Form der Kunst und der Wirkung der Kunst markieren.1 Wegen der sogenannten »These vom Ende der Kunst« und dem damit scheinbar verbundenen »Klassizismus« der idealistischen Ästhetik wurde Hegels Ästhetik nicht nur von seinen Zeitgenossen, sondern bis in die Gegenwart stets und ständig kritisiert und allenfalls als Exempel einer verfehlten dogmatischen Verfremdung des geschichtlichen Phänomens Kunst durch ein vorgefertigtes philosophisches System des absoluten Wissens gebrandmarkt. Nun gibt ausgerechnet diese Überlegung Anlaß zur Aktualisierung der Hegelschen Ästhetik. Überlegungen dieser Art verschaffen Hegels viel kritisierter These vom »Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Möglichkeit nach« offensichtlich nicht nur die lange verweigerte Anerkennung, sondern sie nutzen diese skandalisierte These in einem ästhetisierenden Sinn: was bisher (mit vielen guten Gründen) kritisiert wurde, garantiert nun die pikant-frappante Wirkung einer Theorie über die moderne Kunst, die sich ausgerechnet durch den Rückgriff auf diese Seite der Hegelschen Ästhetik als ihrem Inhalt angemessen, als in sich avantgardistisch erweist. Für Danto beginnt mit Warhols Brillo Box im Jahr 1964 nicht nur das unwiderrufliche Ende der Kunst, sondern – so u. a. Hans Belting in seinen Fahrwassern – zugleich das Ende jenes »Geschehens […] das in der Kunstgeschichte seinen passenden Rahmen besaß«.2 Arthur C. Danto legt dies beispielsweise in den Abhandlungen dar, die in Sammelbänden wie dem Band Kunst nach dem Ende der Kunst (München 1996), Das Fortleben der Kunst (München 2000), Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (Frankfurt/M. 1991) oder Die philosophische Entmündigung der Kunst (München 1993) inzwischen in deutscher Übersetzung vorliegen und die Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst prägen. Für die Kunstgeschichte hat Hans Belting diese Überlegungen aufgegriffen und in einer 1995 überarbeiteten Fassung herausgegeben: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach 10 Jahren (München 1995). 2 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte, 23. 1

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Zur Begründung der Zwangsläufigkeit dieses Endes und der völlig geänderten Bedeutung der Kunst nach ihrem Ende weist Danto – wenn auch in sehr globalisierender Interpretation – stets und ständig auf Hegel zurück. In dessen Enzyklopädie entdeckt er die systematische Begründung für die Zwangsläufigkeit der Auflösung und des Bedeutungsverlustes der Kunst in der modernen Welt, nämlich die Basis für die sog. »philosophische Entmündigung der Kunst«. Wann und wo immer die Kunst in der gegenwärtigen Kultur fortlebt, hat sie ihren ursprünglichen Sinn eingebüßt. Kunst ist durch die Ununterscheidbarkeit vom Alltäglichen ihrer Besonderheit beraubt und muß sich ihre kulturelle Position wie Wirkung jeweils neu erobern. Da die anschauliche Differenz von Kunstgegenstand und Alltagsdingen – so Danto – durch die zwangsläufige Entwicklung der Kunstgeschichte kassiert wird, sofern sie nach dem Prinzip der perzeptorischen Äquivalenzen konstruiert ist, ist Kunst um der Rettung ihres Kunststatus willen auf Reflexion verwiesen. Diese Abhängigkeit bringt die Kunst letztlich in eine dialektisch re-konstruierte Aporie, denn die Begriffsbedürftigkeit bedeutet Anerkennung der Überlegenheit des Begriffs gegenüber der Anschauung. Nicht in der Anschauung, nur durch den Begriff kann – wenn überhaupt – die Differenz zwischen Kunst und Alltagsgegenstand eruiert werden. Danto sieht darin den dialektischen Umschlag einer Perfektion der anschaulichen Weltwiedergabe durch Kunst in den Begriff – kurz und seiner Ansicht nach im Sinne Hegels formuliert: die »philosophische Entmündigung der Kunst«. Dadurch wird die (angeblich) Hegelsche These vom Ende der Kunst – genauer die These vom »Vergangenheitscharakter ihrer höchsten Möglichkeit« – durch die Entwicklung der Kunst der Moderne inhaltlich voll bestätigt. Überraschend an dieser modernen Form der Hegelinterpretation ist nicht die Tatsache der Auseinandersetzung mit der problematischen These vom Ende der Kunst, sondern die positive Konnotation anstelle der landesüblichen Ablehnung. In der amerikanischen Diskussion wurde bereits vor geraumer Zeit (und in maßgeblicher Weise für die nachfolgende amerikanische Hegelinterpretation) in der These vom Ende der Kunst Hegels hellsichtige Prophetie über deren zwangsläufig degenerative Entwicklung gedeutet.3 Diese negative ästhetische Kritik vollzieht Danto freilich nicht mit, wohl aber das diesen und ähnlichen Rehabilitierungsversuchen der Hegelschen These zugrunde liegende Mißverständnis.4 So erfreulich es auf den ersten Blick erscheinen mag, in der aktuellen ästhetischen Diskussion eine Rehabilitierung der Hegelschen Ästhetik zu finden, die die Aktualität seiner Gedanken bis in die Gegenwartskunst

3 Vgl. dazu im Überblick Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte – Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, Bonn 1984 (Hegel-Studien, Beiheft 25) sowie dies.: Einführung in Hegels Ästhetik, München 2005. 4 Zu den unterschiedlichen Ansätzen der Interpretation der Hegelschen Ästhetik Annemarie Gethmann-Siefert: Ist die Kunst tot und zu Ende? Überlegungen zu Hegels Ästhetik, Jena / Erlangen 1994 ( Jenaer Philosophische Vorträge und Studien, hg. von Wolfram Hogrebe. 7).

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verfolgt, so mißverständlich ist Dantos Hegeldeutung und sind die Schlußfolgerungen im einzelnen. Weder geht Hegel davon aus, daß die philosophische Reflexion die Kunst zu ersetzen habe, noch daß eine mögliche Kunstentwicklung für die Zukunft auszuschließen sei – diese Überlegung verdankt sich eher einem Mißverständnis der Historie als »Zukunftsgeschichte« denn einer fundierten Theorie. Auch die von Danto beschworene »Alltäglichkeit« moderner Kunsterscheinungen, die Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und Alltagswelt, ist für Hegel nicht ohne weiteres der Anlaß, vom Ende der Kunst, von ihrer Auflösung in die Prosa des Lebens reden zu wollen. Im Gegenteil: Da Hegel die Bestimmung der Künste darin sieht, eine anschauliche Vorstellung der Welt zu vermitteln – also im Sinne Nelson Goodmans »etwas als etwas« darzustellen – , geht er über Dantos Definition der Kunst als »Darstellung von etwas« einen wesentlichen Schritt hinaus. Es kann in der Kunst – so Hegel wie Goodman – nicht um eine bloße Nachahmung der Natur bis hin zur Ununterscheidbarkeit von Kunst und realer Welt gehen, sondern noch der durch bloße Anschauung vom Alltagsding nicht zu unterscheidende Kunstgegenstand steht unter einem Anspruch, den Alltägliches nicht stellt. An die Stelle der Brauchbarkeit, Nützlichkeit – oder will man es mit Heidegger sagen: der »Dienlichkeit« – tritt die Enthüllung dieses Seinssinnes alltäglicher Gegenstände, tritt der Verzicht auf die Alltagsperspektive der Nützlichkeit zugunsten der ästhetischen Perspektive des Erscheinenlassens dessen, was in Gegenständen – auch den alltäglichen – intendiert sein mag. Was hier in Kürze und nur knapp skizziert wird, entspricht Hegels Bestimmung des Ideals als anschaulich gegebener, damit lebendig wirksamer Vernunftidee. Nicht die Ununterscheidbarkeit von Realität und dargestellter Realität, nicht die Nachahmung der Natur liegt der Kunst als Sinn und Zweck ihrer Gestaltung zugrunde, sondern die Vermittlung einer Welt-Anschauung und über diese Anschauung die Vermittlung der Bedeutung des Dargestellten. So gesehen nötigt der durch Danto initiierte überraschende Aktualitätsgewinn der Hegelschen Ästhetik zur Skepsis. Sieht man nämlich genauer hin, dann erweisen sich solche Aktualisierungen, insbesondere der These vom Ende der Kunst, der »philosophischen Entmündigung« der Künste zugunsten höherer Formen des absoluten Geistes, eher als Hegel-Mißverständnis denn als Auszeichnung seiner in den Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst und Ästhetik entwickelten Auseinandersetzung mit den Künsten in Vergangenheit wie Gegenwart. Eine »Entlarvung« der untergründigen Mißverständnisse einer zunächst offensichtlichen Affinität erweist sich allerdings als ein nicht so ohne weiteres durchführbares und keinesfalls als leichtes Unterfangen. Die bisherigen Interpretationen der Hegelschen Ästhetik stützen sich nämlich samt und sonders auf eine Überlieferung seiner Gedanken zur Philosophie der Kunst, die Heinrich Gustav Hotho nach Hegels Tod im Rahmen der von Hegels Schülern und Freunden geplanten Gesamtausgabe seiner Werke erarbeitet hat. Dieser Text erweist sich für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung als äußerst problematisch. Auf jeden Fall bedarf er der Ergänzung

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und kritischen Überprüfung, die gegenwärtig durch die Edition der Mitschriften zu Hegels Berliner Ästhetik-Vorlesungen möglich wird. Die Untersuchungen des vorliegenden Heftes sind wegen solcher und ähnlicher Schwierigkeiten an Hegels eigener Darstellung in den vier großen Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst orientiert, d.h. sie stützen sich – mit zwei Ausnahmen – neben der Enzyklopädie und verstreuten Bemerkungen Hegels in seinen sonstigen Publikationen ausschließlich auf die erst in neuerer Zeit verfügbaren Quellen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen. Diese Quellen – wenige Notizen von Hegels eigener Hand und einer Reihe studentischer Vorlesungsmitschriften – erlauben einen Einblick in Hegels philosophische Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Bedeutung der Kunst. Im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts zur Ästhetik des deutschen Idealismus am philosophischen Institut der FernUniversität in Hagen werden seit einigen Jahren die Vorlesungsquellen für die Publikation bearbeitet und seit geraumer Zeit für die neu entstehenden wissenschaftlichen Arbeiten zu Hegels Ästhetik genutzt.5 Die philologische Erschließung der Quellen zu den Ästhetikvorlesungen, die Hegel vom Beginn bis fast zum Ende seiner Berliner Lehrtätigkeit gehalten hat und die offensichtlich bei seinen Studenten auf großes Interesse, aber auch vehemente Kritik gestoßen sind, hat im einzelnen – wie auch die Beiträge dieses Bandes zeigen – einige überraschende Ergebnisse erzielt.6 Nicht nur die Gewichtung einzelner Kunstwerke, auch die Bestimmung der geschichtlichen Rolle der Kunst zeigt, wie Hegel sich in seinen Vorlesungen gegen den Zeitgeist stellt. Während seines BerliVon Hegels Berliner Vorlesungen sind gegenwärtig publiziert: Ein Manuskript der ersten Vorlesung von 1820/21, ebenfalls ein Manuskript der von H. G. Hotho mitgeschriebenen Vorlesung von 1823, eine ins Französische übertragene Kurzfassung dieser Vorlesung von 1823, die sich im Nachlaß von Victor Cousin findet; ferner existieren sechs Nachschriften der Vorlesung von 1826, drei Nachschriften der letzten Vorlesung von 1828/29 – nicht gerechnet studentische Bearbeitungen unterschiedlicher Vorlesungsquellen. 6 Einzelstudien zu Problemen der Hegelschen Ästhetik, die auf der Basis der neu erschlossenen Quellen durchgeführt wurden, haben dazu motiviert, die Nachschriften zu publizieren. Bislang sind die beiden Nachschriften von 1820/21 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über Ästhetik – Berlin 1820/21. Eine Nachschrift, hg. von Helmut Schneider, Frankfurt/M. / Berlin /Bern / New York / Paris /Wien 1995) und 1823 (ders.: Vorlesungen über Philosophie der Kunst – Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998) sowie zwei Nachschriften von 1826 (ders.: Philosophie der Kunst oder Ästhetik nach Hegel – Im Sommer 1826. [Mitschrift von Hermann von Kehler], hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004; ders.: Philosophie der Kunst – Berlin 1826 [Mitschrift von der Pfordten], hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt/M. 2005) publiziert worden; die drei letzteren sind durch Kommentare und Sachanmerkungen erschlossen. Es ist vorgesehen, sowohl die Vorlesung von 1826 als auch die Quellen zur letzten Vorlesung von 1828/29 in einer kritischen Studienausgabe zugänglich zu machen. In Kürze erscheint überdies die französische Kurzfassung der Vorlesung von 1823 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Éstétique-Ästhetik. CousinMitschrift, französisch-deutsch, hg. von Alain Patrick Olivier, Buchreihe: Jena sophia, Abt. I). 5

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ner Wirkens rückt die Kunst durch die Museumsgründung, die Wiederbelebung der kulturellen Aktivitäten der Berliner Akademie der Künste, das Theater, die Oper, die von Karl Friedrich Zelter geleitete Singakademie (die u. a. auch Felix Mendelssohn-Bartholdy beeinflußt hat) ins Zentrum öffentlichen Interesses. Hegel dagegen relativiert die Bedeutung der Kunst durch seine sogenannte »These vom Ende der Kunst«. Die Kunst kann nicht das höchste staatsbürgerliche Interesse beanspruchen. Dennoch räumt Hegel den Künsten im modernen Staat eine unverzichtbare Bedeutung ein, legt ihre Rolle für die Bildung des individuellen wie kollektiven Bewußtseins fest. Auch damit aber steht er im Widerspruch zur Kunstbegeisterung seiner Zeit ebenso wie zur Reklamation der »Autonomie« der Kunst in unserer gegenwärtigen Diskussion um die kulturelle Rolle der Kunst. Daß dieser Hegelsche Widerspruchsgeist in der Auseinandersetzung um die Künste äußerst anregend sein kann, zeigt sich an der vier Jahre nach seinem Tod durch Heinrich Gustav Hotho herausgegebenen Ästhetik oft nur undeutlich oder gar nicht. So geht Hegel beispielsweise trotz seiner These, die Kunst könne in der modernen Welt nicht das erste – nämlich ein umfassendes staatsbürgerliches – Interesse abdecken (so die Bedeutung der These vom »Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Möglichkeiten nach«, die verkürzend kolportiert wird als These vom »Ende der Kunst«) davon aus, daß die Künste ein wichtiger kultureller Faktor der Gegenwart seien. In der Rechtsphilosophie legt er zudem dar, daß der Staat auf ein Interesse zur institutionellen Sicherung und Erhaltung des Freiraums der Künste verpflichtet werden müsse. Während Hegels Schüler Heinruch Gustav Hotho in der Edition seiner Ästhetikvorlesungen alles daran setzt, die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst zu mildern, um Hegel vor der Kritik zu bewahren, geht dieses Interesse an den Künsten, die Bestimmung ihrer grundlegenden Bedeutung, ihres Inhaltes – des Menschen in seinem Interesse an Selbstverwirklichung (des »humanus« als des neuen »Heiligen«) – weitgehend unter. So liegt für Hegel in der Legitimation des Alltäglichen ebenso wie in der Transformation des Alltäglichen, der Verklärung des Gewöhnlichen über die Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst hinausgehend eine Befreiung der Künste selbst. Die Kunst wird frei zu jedweder Gestaltungsform; sie kann in der Gegenwart ebensogut als charakteristische, interessante, häßliche, wie auch als schöne Kunst Relevanz gewinnen. In provokanter Gegensetzung zum Kunstgeschmack und zur Wertschätzung bestimmter Sparten der bildenden Kunst wendet Hegel sich einer Form der Synthese von Kunst und Alltäglichkeit zu, die zeigt, daß in der (schönen) Darstellung alltäglicher Dinge nicht nur Abglanz und Widerschein der Realität vermittelt wird, sondern ein geschichtliches Selbstbewußtsein. In den Nachschriften zu den Berliner Vorlesungen über Ästhetik wird diese differenzierte Stellungnahme Hegels sehr deutlich. Hier zeigt es sich, daß Hegel zugleich mit der Einschränkung der umfassenden Orientierungsleistung der Kunst weiterhin von der grundlegenden kulturellen Bedeutung der Kunst, ihrer Relevanz »für uns«, d.h. für jeden Bürger eines modernen Staates ausgeht. In den

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strukturierenden Reflexionen zur philosophischen Bedeutung der Kunst, in der Bestimmung des »Ideals« sowie der historischen Gestalt der Künste, in der Bestimmung der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform, aber auch in der Auseinandersetzung mit einzelnen Werken erweisen sich vor allem die Künste der modernen Welt sowohl als die gesellschaftlich unverzichtbare Chance für eine allgemeine Bildung zur Vernunft als auch im einzelnen jeweils als Exempel freier Gestaltungsmöglichkeiten und Selbstverständigung des Menschen. Das wird näher erörtert in der Bestimmung der Bedeutung des Ideals für die Gegenwart (sowohl der Hegels wie der unseren), nämlich für die moderne Welt. Hegel bestimmt die kulturelle Rolle der Kunst als »formelle Bildung«; das Gestaltungsspektrum der Künste wird gegenüber der Konzentration auf die klassische Schönheit (die in der Druckfassung der Ästhetik im Vordergrund steht) durch die Integration sowohl von Gestaltungsmöglichkeiten der erhabenen symbolischen Kunst, der schönen, aber auch der charakteristischen, ja sogar der häßlichen Kunst erweitert. Was Hegel in der Enzyklopädie systematisch festgelegt hat, daß nämlich die Kunst um der Adäquatheit von Inhalt und Form willen auch häßlich werden könne, bekräftigt er in den Vorlesungen durch den dezidierten Hinweis, sie dürfe und müsse unter bestimmten Bedingungen häßlich werden. Die Beiträge dieses Heftes erörtern zunächst in grundsätzlichen Überlegungen Hegels Auffassung der Kunst in der modernen Welt (I). Dabei geht es insbesondere unter verschiedenen Gesichtspunkten um die Funktion der Kunst als Träger der Kultur. Eine Reihe weiterer Abhandlungen widmet sich in detaillierten Analysen dem Gestaltungsspektrum wie auch gestalterischen Problemen der Künste in der modernen Welt. Das Gestaltungsspektrum der Künste reicht – folgt man Hegels Überlegungen – vom Schönen über das Erhabene, Charakteristische bis hin zum Häßlichen. Hier werden die grundlegenden Bestimmungsversuche der Kunst in der modernen Welt exemplarisch für einzelne Künste untersucht und vertieft. Der Tendenz der Entwicklung der Hegelschen Vorlesung folgend werden neue Facetten der Hegelinterpretation herausgearbeitet (II).

II. Die von Hegel her mögliche »Bestimmung der Kunst in der Gegenwart« zeichnet Jeong-Im Kwon in ihrer Analyse »Das moderne Ideal und die Rolle der Kunst« nach. Zunächst wird die aus der Druckfassung der Ästhetik geläufige Bestimmung des Ideals als »sinnliches Scheinen der Idee«, die zur Deutung der These vom Ende der Kunst als Konsequenz einer platonisierenden Ästhetik maßgeblich beigetragen hat, zurechtgerückt. Kwon legt dar, daß die Bestimmung des Ideals sich in den Nachschriften zu Hegels Berliner Ästhetik-Vorlesungen in dieser Formulierung nicht findet. Sie zeigt, daß das Ideal keineswegs mit dem »Ideal der schönen klassischen Kunst« gleichzusetzen ist und daß eine solche Gleichsetzung, die von der

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Druckfassung nahegelegt wird, den Sinn, den Hegel mit dieser Bestimmung intendiert, nicht trifft. Im Ideal, das Hegel als das Kunstschöne bestimmt, wird vielmehr die Idee der Schönheit konkret. Das Ideal als »Dasein der Idee« nimmt – so Hegels Konstruktion im Rückgriff auf die »Philosophie des Geistes« – »in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen verschiedene Formen an«. Von hier aus legt Kwon dar, daß sich in Hegels umstrittener These vom »Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Bestimmung nach« die kulturelle Rolle der Kunst »verbirgt«, und zwar ihre Bedeutung als »formelle Bildung«. Im Vergleich der Wirkung der Künste unter unterschiedlichen historischen Bedingungen muß die konkrete Bestimmung der Kunst für die jeweilige Gegenwart – der Hegels wie auch der unsrigen – gefunden werden. Da das Ideal durch ein geschichtliches Individuum in die Konkretheit einer Gestalt, des Kunstwerks, überführt wird, erweist sich für Kwon die Funktion der Kunst als Träger der Kultur als ein Ergebnis des künstlerischen Handelns. Für die gegenwärtige Kunst ist – hier schließt Kwon sich an eine frühe Überlegung von Reiner Wiehl an – Hegels Konzeption der Handlung und damit die Konzeption des Dramas strukturell maßgeblich. Die Bestimmung der Kunst als Träger einer »formellen Bildung« tritt, wie Kwon im Rückgriff auf Hegels Rechtsphilosophie und die Philosophie der Geschichte nachweist – , die Nachfolge der von Hegel für die klassische Kunst reklamierten inhaltlichen Bildung durch Kunst, die Vermittlung der Sittlichkeit eines Volkes an. Weiter fundiert wird die Bestimmung der Kunst in der modernen Welt durch die genaue Festlegung ihrer Rolle im modernen Staat. Hegel hat nämlich keineswegs – wie Elisabeth Weisser-Lohmann in ihrem Beitrag »Der rechts- und geschichtsphilosophische Gesichtspunkt der Hegelschen Überlegungen zur Bedeutung der Kunst als Staatsangelegenheit« zeigt – die Kunst als ein für die moderne Kultur verzichtbares, marginales Phänomen abtun wollen, sondern ihr im Gegenteil im Rahmen der Rechts- und Geschichtsphilosophie nicht nur einen unverzichtbaren kulturellen Stellenwert, sondern zugleich die Chance eröffnet, als Institution des modernen Staats in die Kultur integriert zu werden. Weisser-Lohmann geht davon aus, daß die »Realisierung des Staatszwecks« sich nach Hegel in »spezifischen Praxisformen« vollzieht und Hegel die Sittlichkeit als eine Gestalt des Rechts entwickelt; damit stellt sich die Frage nach der Rolle von Religion und Kunst im modernen, auf Vernunft gegründeten Staat. Auf diesem Hintergrund wird die Funktion der Kunst für die Bildung des Menschen und die Rolle dargelegt, die Hegel ihr in der Kulturpolitik zuerkannt hat. Letztlich klärt sich durch diese Verortung der Kunst auch Hegels in den Vorlesungen vorgetragene Einschätzung des Museums als Eröffnung der Möglichkeit des »reflektierten Genusses« und damit als »Ort der Bildung«. Wie sich diese strukturellen Überlegungen zur Bestimmung der Kunst in der modernen Welt und zur Kunst als »Staatsangelegenheit« im einzelnen auswirken, zeigt Hegel insbesondere an seiner – allerdings über Danto in der oben erwähnten spezifischen Weise hinausgehenden – Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Alltäglichkeit, wie die Interpretation von Annemarie Gethmann-Siefert in ihrem

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Beitrag »Hegel über Kunst und Alltäglichkeit« am Beispiel der niederländischen Malerei ausweist. Zwar unterscheidet sich – zeitbedingt – Hegels Hinweis auf die »Verklärung des Gewöhnlichen« von der Dantos, im Prinzip aber stehen beide in ihrer Kritik der Fixierung der Größe der Kunst auf die Größe des dargestellten Inhalts in sehr ähnlicher Gegnerschaft zur (je zur eigenen Zeit) herrschenden Kunstauffassung. Für Hegel legitimiert sich die Bedeutung des Werks nicht durch das religiöse oder weltgeschichtliche Sujet. Gerade die Konzentration vollendeter Technik und Schönheit auf Dinge der Alltagswelt (Stilleben, Genre, Szenen) läßt diese als Produkt eigener Gestaltungs- und Weltbewältigungsleistung erfahrbar, damit zu einer Vermittlung geschichtlichen Selbstbewußtseins werden. Ähnlich provokativ muß Dantos Einschätzung des »Ereignisses« Brillo-Box gelesen werden. Hier gerät ein Alltagsding in den Raum der »Kunstwelt«, wird durch seine Präsentation in der Kunstausstellung transformiert zu einem Kunstwerk. Was für Hegel – gemäß seiner Einschätzung der Kunst als »formelle Bildung«, damit als Element menschlicher Kultur – über die Anschauung die Reflexion provoziert, das sollizitiert für Danto die Reflexion der und die kritische Abstandnahme von der gängigen Selbstbestimmung der Kunst. Es wird gezeigt, daß es Hegel in der Anschauung schöner Alltäglichkeit gerade nicht um eine Perfektion der Nachahmung geht, sondern um die Darstellung des vorderhand Belanglosen als Symbol für eine der Wertschätzung des Alltäglichen zugrunde liegende kulturelle Selbstverständigung. Die Alltagswelt erscheint im Medium der Malerei als anschauliche Erschließung ihrer geschichtlichen Bedeutung. Im Sinne Dantos wird diese Bedeutung nicht in der Anschauung allein, sondern zugleich und nur durch Reflexion faßlich. Für die Gegenwart – die Hegels wie die unsere – wird allerdings eine weitere Reflexion nötig. Diese Reflexion führt allerdings nicht zur »philosophischen Entmündigung« der Kunst, sondern zu ihrer philosophischen Erschließung »für uns«: Es ist die historisch-philosophische Reflexion auf die Bedeutung der Kunst zu ihrer Zeit, die eine Anknüpfung an das gegenwärtige Selbstverständnis ermöglicht, die den Gang durchs Museum zu einem »sinnvollen Genuß« werden läßt – eine gegenwärtig eher vernachlässigte Perspektive, die an Kants Gedanken der Lust ästhetischer Erfahrung erinnert und einer philosophischen Ästhetik für unsere Gegenwart weitreichende Anregungen zu bieten vermag. Die für diese Verknüpfung von Kunst und Reflexion fundamentale Integration historischen Wissens in die philosophische Reflexion und damit vermittelt in das allgemeine Kunstverstehen zeichnet Bernadette Collenberg-Plotnikov im Blick auf die »Wissenschaftstheoretischen Implikationen des Kunstverständnisses bei Hegel und im Hegelianismus« nach. Fazit dieser Überlegungen ist unter anderem, daß an die Stelle der »spekulativen« Kunstgeschichte der Hegelianer, an die Stelle der dogmatischen Festschreibung der Historie durch ein dialektisches System in Hegels Vorlesungen ein Weg zur beginnenden Kunstgeschichte vorgezeichnet wird. Collenberg-Plotnikov zeigt, daß und inwiefern bereits Hegel das »Problem einer Pluralität der Kunstbegriffe« gesehen hat, so daß für ihn die Kunst »als ein Phänomen mit

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historisch variierenden Gesichtern« erscheint. Auf dieser Folie wird der Entstehung und allmählichen Etablierung der Kunstgeschichtsforschung nachgegangen. Behandelt werden unter diesem Aspekt insbesondere die Positionen Gustav Heinrich Hothos wie dann auch des Positivismus, der eher eine Auflösung des Kunstbegriffs mit sich bringt, während Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin »als geschichtlicher Funktionszusammenhang anerkannt wird«. Die Reaktionen auf diese Situation, die mit den Namen von Konrad Fiedler wie auch von Max Dessoir oder Emil Utitz, den Begründern der »allgemeinen Kunstwissenschaft«, verbunden sind, verfolgt Collenberg-Plotnikov bishin zu Dantos Versuch einer Neubestimmung der Kunst und fragt abschließend nach der Anschlußfähigkeit des Hegelschen Kunstverständnisses, und zwar im Blick auf dessen wissenschaftstheoretische Implikationen. III. In der Beschäftigung mit der Malerei wie auch mit der Skulptur, die Ursula Franke unter den Titel »Der neue Heilige. Hegel über die Darstellung Gottes« gestellt hat, wird die Frage der Repräsentation von Transzendenz in den bildenden Künsten im Blick auf die Götterstatuen der Antike und auf die christliche Malerei erörtert, und zwar ausgehend von der Bestimmung des Absoluten, des Göttlichen, mit der Hegel Transzendenz, das Transzendente begrifflich faßt. Eine Perspektive für die Erörterung der Problematik einer künstlerischen Repräsentation des Absoluten wird im Zusammenhang mit Hegels Auffassung des Verhältnisses von Kunst und Religion wie auch hinsichtlich seines Verständnisses der Kunstschönheit eröffnet. Franke legt dar, inwiefern der künstlerische Ausdruck des Schönen – in seinem geschichtlichen Wandel – als Medium von Transzendenz in den bildenden Künsten eingesetzt wird und zu sehen ist. Auf diesem Hintergrund geht es ihr im wesentlichen um den Versuch, Hegels Überlegungen zur Darstellbarkeit der Inhalte der christlichen Religion, insbesondere seine Problematisierung der Darstellbarkeit Gottes und Jesu Christi, für gegenwärtige bildtheologische Debatten über Kunst und Religion fruchtbar zu machen. Damit stellt sich auch die Frage, welchen Stellenwert Hegel der künstlerischen Gestaltung christlicher Inhalte in der modernen Welt beimißt. Der Versuch einer »Rehabilitierung des verschmähten Naturschönen in der Kunst« führt Karsten Berr dazu, die Anfangsüberlegungen der Hegelschen Ästhetik, nämlich die Unterordnung des Naturschönen unter das Kunstschöne in ihrer Tragweite zu untersuchen, d.h. zu zeigen, daß Hegel durch seinen ästhetischen Ansatz, durch die Bestimmung des Ideals und der Bedeutung der Kunst als anschaulich vermittelte »Vorstellung einer Vorstellung« auch den Bereich des Naturschönen erschließen kann. Der Schlüsselbegriff für eine solche Integration der Erschließung des Naturschönen in das aus dem Gestaltungsgeschehen analysierte Schöne ist – so Berr mit Joachim Ritter – der Begriff der Landschaft. Hegels Konzept wird skizziert und eine Verbindung hergestellt zur aktuellen Diskussion über »Landschaft in

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Ökologie und Ästhetik«, die unter dem Schlagwort »Ökologie versus Ökonomie« geführt wird. Berr bezieht, auch im Rückgriff auf Hegels Naturphilosophie, dessen Sicht der heute aktuellen Problematik des Verhältnisses von Natur und Mensch bzw. von Natur und Kultur, also des »Natur-Geist-Verhältnisses« ein, wie Hegel es sowohl in seinen ästhetischen Überlegungen als auch seinen »Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte« reflektiert hat. Von hier aus schlägt Berr eine Brücke zu den aktuellen Debatten über Landschaft, Landschaftsgestaltung, Landschaftsarchitektur, wobei das alte Thema der »Gartenkunst« ebenfalls Aktualität gewinnt. Die Bedeutung des »Charakteristischen«, also einer weiteren Gestaltungsmöglichkeit des modernen Kunst-Ideals, stellt Giovanna Pinna in ihrem Beitrag »Hegel über das Portrait und die spezifisch moderne Version des Ideals« dar. Hegel behandelt das Portrait im Rahmen der romantischen Kunstform, an der er, aufgefächert in die einzelnen Gattungen der Malerei und auch der Bildhauerei, in den – so Hegel – »Statuen der neueren Zeit« seine Auffassung einer modernen Konzeption des Ideals im Unterschied zu seiner antiken klassischen Ausprägung entwickelt. Pinna zeigt, inwiefern Hegel mit seiner Beschreibung »des Portraitartigen« die letzte Phase der romantischen Kunst in ihrer »abstrakt-subjektiven Tendenz« zu erfassen versucht. Indiz und künstlerisches Konzept konvergieren in der Konzentration auf das Gesicht, dessen Ausdruck einer vergeistigten Sinnlichkeit historisch-mythologischer oder individueller »Fokus des Bildes« wird. Wesentlich ist die Beziehung auf die dargestellte Person, denn ein Bild weist »andere Eigenschaften« auf, wenn es sich z.B. um das Bildnis einer Madonna oder aber dasjenige einer jungen Frau handelt. Pinna zeigt, daß Hegel, anders als die Frühromantiker, sowohl »die Aporie des Individuellen« als auch »die sozialhistorische Bestimmung des Bildes« als zentrale Aspekte der Portraitkunst betrachtet und sie theoretisch als »Charakter« der geformten Subjektivität reflektiert hat. Daß sich selbst dem kargsten Teil der Hegelschen Ästhetik-Vorlesungen, seinen Überlegungen zur Musik, einiges an interessanten und aktuellen Hinweisen abgewinnen läßt, zeigt Alain Patrick Olivier auf der Basis seiner Monographie zur Hegelschen Musikästhetik, die erstmals Hegels Vorlesungen und seine eigenen Publikationen berücksichtigt. Olivier schreibt der Hegelschen Musikästhetik durch die Konzentration seiner Interpretation auf die vorderhand problematischen und zögerlichen Überlegungen zur Bedeutung der Instrumentalmusik nicht nur Modernität, sondern im Vergleich mit zeitgenössischen Interpretationen (so z.B. Adorno) auch die Möglichkeiten einer Überwindung der Moderne zu. Hervorgehoben wird Hegels ebenso engagierter wie kritischer Blick auf das Musikleben seiner Zeit, insbesondere in Berlin und Wien, an dem Hegel ebenso regen Anteil nahm wie auch an den musikästhetischen Diskussionen. Im Blick auf traditionelle Deutungen der Ästhetik ist auf jeden Fall auch Hegels Eintreten für den Fortgang der Musik und seine Offenheit für ihre »kosmopolitischen« Aspekte ebenso überraschend wie interessant. Durch Anleihen bei anderen Kulturen hat Hegel – dies weist Olivier für die Musik analog zur Poesie nach – die Vielfalt der Kulturen (toutes les cultures)

Einleitung

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einbezogen, sozusagen hörbar gemacht. Hegels Position in ästhetischen Fragen wird auch in dieser Hinsicht als »post-historisch« aufgefaßt und beschrieben, eine Position, die eine dezidierte Ablehnung des Historismus sowie die Anerkennung einer Pluralität ästhetischer Phänomene aus Vergangenheit und Gegenwart einschließt. In ähnlicher Weise schlägt auch Evelin Kohl in ihrem Beitrag über »Becketts ›Warten auf Godot‹ und Hegels ›Dramatische Poesie‹« den Bogen zwischen der Hegelschen dramatischen Poesie zu einem Exempel des absurden Theaters, nämlich Becketts »Warten auf Godot«. Hier erweist sich – wie in der grundlegenden Bestimmung der Bedeutung der Kunst in der modernen Welt – der Handlungsbegriff, damit eine Verknüpfung von Kunst und Reflexion, als grundlegend für die Hegelsche Konzeption des Dramas. Hegel entwickelt dadurch einen »entscheidenden Zugang« zu einem modernen Werk wie »Godot« »durch ästhetische Bestimmungen in zeitloser Aktualität«. Kohl setzt sich zunächst pointiert mit den höchstgegensätzlichen Deutungen auseinander, die das Werk in seiner fünfzigjährigen Interpretationsgeschichte erfahren hat, und betrachtet sodann »aus der Optik des Beckettschen Werks« Hegels Auffassung der dramatischen Poesie. Auf diesem Fundament nimmt Kohl das Tragische und das Komische als sich wechselseitig bedingende dramatische Prinzipien in den Blick; es wird gezeigt, daß und inwiefern Hegels Bestimmung in dieser Hinsicht äußerst fruchtbar ist, will man die »maßgebliche Form der Beckettschen Weltanschauung«, wie sie in Godot in hoher Komplexion anschaulich wird, theatralisch erfassen. Die Überlegungen Kohls werden dabei nicht zuletzt geleitet von einer aufmerksamen Berücksichtigung des »Arbeitsweges des Theaterkünstlers«, des Schauspielers, der »die Welt eines Werks lebendig werden zu lassen«, sie »anschaulich zu formen« die Aufgabe hat. Francesca Iannelli schließlich weist die grundlegende Bedeutung jenes Begriffs ästhetischer Gestaltung für die Hegelsche Ästhetik nach, den die Kritik ihm nicht ohne weiteres zutrauen würde: Sie interpretiert Hegels Ästhetik als eine Form der Rehabilitierung des Häßlichen und zwar des um der Relevanz des Inhalts willen bewußt gesetzten (nicht zufällig unterlaufenen) Häßlichen. Anhand der Vorlesungsnachschriften zur Ästhetik zeigt Iannelli nicht nur, daß Hegel das Problem des Häßlichen schon früh beschäftigt hat, sondern auch, daß er seine Einstellung zu dieser Frage immer wieder neu überdacht hat. Hegel – so Iannelli – löst sich allmählich von der traditionellen Konvergenz des Bösen und Häßlichen als einer Parallelisierung zur Entsprechung des Guten und Schönen und reflektiert, anders als die Hegelianer, den eigenständigen Stellenwert des Häßlichen, insbesondere seine Funktion in der christlichen Malerei. Hegels Konzeption des Häßlichen als der nötigen Entsprechung von Inhalt und Form in der Kunst der modernen Welt erweist sich – so Iannelli – gegenüber der metaphysischen Einbettung und damit Depotenzierung des Häßlichen in den explizit diesem Thema gewidmeten Ästhetiken der Hegelianer als eine progressivere, damit aktuellere Version der Diskussion um diese Art künstlerischer Gestaltung.

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Die in den Beiträgen untersuchten Beispiele ließen sich selbstredend erweitern und ergänzen. Sie mögen hier – bei aller notwendigen Beschränkung und Knappheit – den Blick auf eine Tradition der Diskussion innerhalb der philosophischen Ästhetik öffnen und durch die interpretative Erschließung der Berliner Vorlesungen neue Perspektiven der Hegelschen Ästhetik eröffnen, auch und insbesondere in ihrer Relevanz für gegenwärtige Debatten über die Kunst heute.

Hagen, im April 2005

Münster, im April 2005

Annemarie Gethmann-Siefert

Ursula Franke

I. KUNST IN DER MODERNEN WELT

Das moderne Ideal und die kulturelle Rolle der Kunst Hegels Bestimmung der Kunst in der Gegenwart Von Jeong-Im Kwon

I. »Hegel« oder Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen zum »Ideal« Hegels Philosophie, die in der Interpretation gemeinhin auf die in der Wissenschaft der Logik vorgegebene dialektische Logik hin ausgelegt wird, gewann in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen beachtlichen Einfluß auf unterschiedliche Bereiche der Kulturwissenschaften, insbesondere auf die Theorie der Künste. In der wissenschaftstheoretischen Selbstbesinnung der Kunsttheorien gibt Hegels Bestimmung der Kunst entweder die Negativfolie für die eigenen Überlegungen vor, oder man hält ihm zugute, eine neue Ebene für das Verständnis der Kunst eröffnet zu haben. In der Regel wird Hegels Bestimmung der Kunst aber nicht in ihrem ursprünglichen Sinn, den Hegel in seinen Publikationen und insbesondere in den Berliner Ästhetikvorlesungen entwickelt hat, rezipiert. Die Interpretationen stützen sich bis auf die Forschungen der jüngsten Zeit sämtlich auf die nach Hegels Tod von Heinrich Gustav Hotho herausgegebene dreibändige Ästhetik, damit auf eine Form der Überlieferung, die sich bei näherem Hinsehen, insbesondere durch den Vergleich mit den Quellen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen, in vielen Einzelpunkten, aber auch im Grundkonzept – hier der Bestimmung des Ideals – in Frage stellen lassen muß. Auf der anderen Seite ist Hegels Bestimmung der Kunst da, wo sie in ihrem kulturell-gesellschaftlichen Sinn aufgegriffen wird, meist auf marxistisch-soziologische Weise verengt rezipiert worden.1 In der Nutzung Hegelscher Ideen für die philosophische Ästhetik machte sich die Überlieferung der Hegelschen Philosophie der Kunst durch die Druckfassung der Ästhetik besonders beeinträchtigend bemerkbar. Hier wird Hegels Konzeption der Kunst als klassizistisch abgelehnt und seine sogenannte »These vom Ende der Kunst« als ein aus diesem Klassizismus folgendes Vorurteil markiert. Der Grund für die Deutung der Hegelschen Philosophie der Kunst als systematisch-dogmatische Verzerrung des geschichtlichen Phänomens durch die Fixierung auf eine glorifizierte Vergangenheit liegt nicht zuletzt darin, daß schon der Herausgeber der Ästhetik, H.G. Hotho, sich mit der Kritik an der These vom Ende der Kunst hat auseinandersetzen müssen und versucht hat, diese These durch Eingriffe in den Die marxistisch-soziologische Rezeption und Weiterentwicklung der Hegelschen Ästhetik findet sich hauptsächlich in den Schriften Theodor W. Adornos, den späteren Schriften von Georg Lukács, Robert Kalivoda oder auch Max Bense. 1

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überlieferten Text – ein Manuskript Hegels sowie eine Reihe von studentischen Vorlesungsnachschriften – abzumildern. Gleichzeitig hat Hotho – wie in zahlreichen Fallstudien der letzten Jahre nachgewiesen worden ist2 – seine eigene Vorliebe für die schöne Kunst, eigene Kunsturteile, Charakteristiken und Gewichtungen entweder mit Hegelschen Überlegungen kombiniert oder sie gleich an deren Stelle gesetzt. Das gilt nicht nur für mehr oder weniger belanglose Reflexionen, sondern ebenso für zentrale Begriffe der Hegelschen Ästhetik, vor allem für den grundlegenden Begriff des Ideals. Unbestritten kommt Hegels Bestimmung des Ideals eine Schlüsselfunktion für die korrekte Einschätzung und das Verständnis der Hegelschen Philosophie der Kunst zu. Um die Konsequenzen der Hegelrezeption – hier der grundlegenden, die weitere Diskussion prägenden ersten Rezeption durch die Druckfassung – ersichtlich zu machen, geht der vorliegende Beitrag zunächst auf die Bestimmung des Ideals ein, die sich in den Nachschriften zu Hegels Ästhetikvorlesungen findet. Die Analyse dieser Texte zeigt, daß die von Hegel in den Vorlesungen vorgetragene und von den Studenten im gleichen Sinn aufgefaßte und überlieferte Bestimmung des Ideals eine ausgezeichnete Grundlage für die Diskussion um die Aktualität der Hegelschen Ästhetik abgibt, da die Hegelsche Bestimmung der Kunst auf der Basis dieser Neubestimmung des Ideals eine andere und in der Bemühung um die Grundlegung der philosophischen Ästhetik weit akzeptablere Bestimmung erfährt. Ein wesentliches Moment der Bestimmung des Ideals ist die sogenannte »These vom Ende der Kunst«, die Hegel allerdings anders formuliert hat, nämlich als These vom »Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Möglichkeit nach«. Daher wird nicht der Versuch unternommen, der sich ebenfalls in zahlreichen Rettungsversuchen der Hegelschen Ästhetik findet, die These vom Ende der Kunst wegzuleugnen, sondern es soll im Gegensatz dazu Hegels These vom »Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Möglichkeit nach« in ihrer Bedeutung analysiert werden. In dieser These verbirgt sich nämlich eine Bestimmung der kulturellen Rolle der Kunst unter unterschiedlichen historischen Bedingungen, die, kombiniert mit der Bestimmung des Ideals, eine Möglichkeit eröffnet, bei Beibehaltung dieser These eine aktuelle, weil geschichtlich konkrete Bestimmung der Kunst auch für die Gegenwart – der Hegelschen wie der unsrigen – zu finden. Wenn der vorliegende Beitrag die kulturelle Rolle der Kunst in der Gegenwart vornehmlich am Beispiel von Hegels Deutung der Charaktere in Shakespeares Dramen und von Goethes West-östlichem Divan exemplifiziert, so greift er hiermit gerade die charakteristischen Beispiele auf, anhand derer Hegel die Bedeutung des Ideals für die moderne Welt, d. h. im Rahmen der romantischen Kunstform und in Absetzung vom klassischen Ideal wie von der symbolischen Kunstform bestimmt.

Zusammengefaßt finden sich diese Studien in einer Einführung zu Hegels Ästhetik in: Annemarie Gethmann-Siefert: Die Rolle der Kunst in Geschichte und Kultur (in Vorb.). 2

Das moderne Ideal und die kulturelle Rolle der Kunst

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II. Re-Interpretation des Begriffs des Ideals Den Begriff des Ideals hat Hegel nicht erst in den späten Berliner Ästhetikvorlesungen, sondern bereits in seinen frühen religionskritischen Schriften und Reflexionen entwickelt. Hier bestimmt er die Handlung und damit die Gestalt der Tugendlehrer und Religionsstifter, insbesondere Person und Leben Jesu als ein solches Ideal. Dieser Ansatz der Bestimmung des Ideals ist insofern für die spätere Konzeption des Ideals in der Ästhetik grundlegend, als auch hier die Handlung als Verwirklichung des Ideals, die Darstellung der Handlung als das in Kunstanschauung umgesetzte Ideal gilt. In den Ästhetikvorlesungen verknüpft Hegel darüber hinaus in der Bestimmung des Ideals die platonisch bestimmte Idee (des Schönen) bzw. die Kantische Vernunftidee mit dieser Deutung und Bedeutung und bestimmt das Ideal als »geschichtliche Gegebenheitsweise« der Idee.3 Diese geschichtliche Gegebenheitsweise definiert Hegel durchweg als »Dasein«, »Existenz« bzw. »Lebendigkeit« der Idee. In der Druckfassung der Ästhetik übersetzt H. G. Hotho diese Bestimmung des Ideals in die eingängige und heutzutage jedermann geläufige Definition des Ideals als »sinnliche[s] Scheinen der Idee«4. Gerade diese letzte Bestimmung hat in der Kritik dazu geführt, daß man Hegels sogenannte »These vom Ende der Kunst« als Konsequenz eines Platonismus seiner Ästhetik hat deuten können, da die Konzentration auf die bloße Sinnlichkeit die Kunst von vornherein abwertet. Zum anderen hat diese Bestimmung des Ideals dem Klassizismusvorwurf Nahrung gegeben, da Exempel für die Erfüllung des Ideals in der Druckfassung der Ästhetik samt und sonders in den schönen christlichen Künsten zu finden sind, so daß Hegels Überlegungen zum Spektrum möglicher Kunstgestaltung vom Schönen bis zum Häßlichen, die er in die Bestimmung des Ideals integriert, verloren gehen. Betrachtet man zunächst die Bestimmung des Ideals in der von Hotho herausgegebenen Ästhetik näher, so wird die Bedeutung dieses Begriffs hauptsächlich durch zwei Momente charakterisiert: Einmal ist das Ideal des Schönen »sinnliches Scheinen« der Idee, d. h. eine der geistigen Repräsentation unterlegene Gegebenheitsweise. Diese Formulierung ist offensichtlich nicht von Hegel vorgetragen worden, sie ist zudem auch nicht im Sinne der Hegelschen Überlegungen. So ist sie in den Quellen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen, in den Vorlesungsnachschriften, nirgendwo zu finden. Zugleich wird mit dieser Bestimmung die eigentliche Bedeutung des Ideals als »Dasein« etc. der Idee, d. h. der Charakter des unmittelbar GegeAnnemarie Gethmann-Siefert: Hegels Bestimmung der Kunst. Überlegungen zum Spektrum möglicher Kunstgestaltung vom Schönen bis zum Hässlichen (übersetzt ins Koreanische), in: Hegel und die moderne Kunst, hg. von der koreanischen Gesellschaft für die Hegel-Studien, Seoul 2002 (HegelYeongu. 10 [Jan. 2002]), 46-76, hier: 50. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: G.W.F. Hegels Werke – Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 10, 3 Abt., hg. von Heinrich Gustav Hotho, Berlin 11835-38 (im folgenden: Ästh1. mit der Abteilungs- und Seitenzahl), hier: Abt. 1., 144. 3

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benseins und der lebendigen Wirksamkeit in den Hintergrund gedrängt, indem das Moment der Sinnlichkeit der Gegebenheitsweise überbetont wird. Zugleich wird das Ideal in der Druckfassung der Ästhetik mit dem Ideal der schönen klassischen Kunst, also mit einer von drei unterschiedenen strukturellen Gegebenheitsweisen des Ideals identifiziert. Wie sich in den folgenden Überlegungen zeigen läßt, trifft diese Deutung des Ideals den von Hegel intendierten Sinn nicht. Diese Diskrepanz in der Bestimmung grundlegender Begriffe, insbesondere in der Bestimmung des Ideals, die zwischen der Druckfassung der Ästhetik und den Vorlesungen besteht, hat bereits G. Lasson 1931 dazu motiviert, eine Neubearbeitung der Hegelschen Ästhetik in Angriff zu nehmen. In dieser Bearbeitung, in der nur der erste Teil, »Die Idee und das Ideal«, zum Abschluß gebracht wurde, stützt Lasson sich auf die ihm zur Verfügung stehenden Quellen zu Hegels Vorlesungen (zu denen keine Zeugnisse von 1828/29 und 1820/21 gehörten) und versucht, eine den Hegelschen Vorlesungen adäquate Version seiner Ästhetik herauszugeben. Im Text hat er die durch die Vorlesungsquellen verifizierbaren Äußerungen von den »Zusatzüberlieferungen« der Hothoschen Druckfassung dadurch unterschieden, daß er die nur in der Druckfassung der Ästhetik vorfindlichen Äußerungen in eckige Klammern setzt. Der Leser wundert sich über die Reichhaltigkeit dieser Einklammerungen und ist – so zeigt es jedenfalls die Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Ästhetik – sehr schnell über diesen uneleganteren Text hinweggegangen, um sich der »vollendeten« Version der Hothoschen Edition wieder zuzuwenden. Lassons Skepsis und sein Versuch einer Neuedition wurde allerdings durch die spätere Erforschung der Hegelschen Vorlesungsquellen, die sich nun auch auf die erste und letzte Vorlesung ausweiten ließ, mehr als bestätigt. Gerade an grundlegenden Begriffen läßt sich zeigen, daß bereits diese Neuedition von 1931 eine erheblich bessere Textbasis für die philosophische Diskussion hätte abgeben können als die 1835 bzw. in zweiter Auflage 1842 erschienene dreibändige Ästhetik in der Ausgabe des »Vereins der Freunde und Förderer des Verewigten«. Insbesondere die Bestimmung des Ideals kann Lasson in seiner Neuausgabe anhand der ihm vorliegenden Vorlesungsquellen im Sinne Hegels ändern. So wird das Ideal als die »als existierend vorgestellte Idee«5 bestimmt. Dieser Charakter des Ideals als real daseiende, in diesem Sein aber auf Reflexion angelegte, anschaulich gegebene Idee verdeutlicht Lasson in dem darauf folgenden Vergleich von Idee und Ideal: »Die Idee gehört ganz zum Denken, zum Gedanken; das Ideal aber existiert, und wir haben es sogleich auch in der Wirklichkeit.«6 Zugleich wird in Lassons Textrevision eher die Geistigkeit des Ideals als dessen Sinnlichkeit akzentuiert: »Das Ideal ist ein Geistiges, […] Zum Idealen also gehört, daß es in der sinnlichen Welt zugleich in sich geschlossen ist, daß der Geist den Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Idee und das Ideal. Nach den erhaltenen Quellen neu hg. von Georg Lasson, Leipzig 1931, 214. 6 Zum folgenden vgl. ebd., 223. 5

Das moderne Ideal und die kulturelle Rolle der Kunst

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Fuß in das Sinnliche setzt, aber ihn zu sich zurückzieht, auf sich beruhend, frei im Äußerlichen mit sich zusammengeschlossen sich genießend, als sinnlich selig in sich seiend, […] sich nie verlierend, nur bei sich bleibend.« In den zitierten Sätzen, die zwar die sinnliche Anschaulichkeit, vordringlich aber den Charakter der Geistigkeit des Ideals betonen, gibt Hegel in den Vorlesungen eine Bestimmung des Ideals im Unterschied zum Natürlichen. Durch diese Entgegensetzung wird dann nicht die Sinnlichkeit zum entscheidenden Differenzierungskriterium, sondern die Geistigkeit. Dagegen wird in der Druckfassung der Ästhetik durch die Bestimmung des Ideals als »sinnliches Scheinen der Idee« die Scheinhaftigkeit betont, damit die Nähe zur möglichen Täuschung, aber auch die Sinnlichkeit herausgehoben und damit die Unterlegenheit dieser Gegebenheitsweise der Idee gegenüber dem Begriff. Aufschlußreich ist die folgende Passage: »Denn das Sinnliche und die Objektivität überhaupt bewahrt in der Schönheit keine Selbstständigkeit in sich, sondern hat die Unmittelbarkeit seines Seyn aufzugeben, da es nur Daseyn und Objektivität des Begriffs, und […] so nur als Scheinen des Begriffs gilt.«7 Durch diesen Wechsel in der erklärenden Begrifflichkeit kann Hotho in der weiteren Darstellung den Charakter des Ideals als »Sein« – Dasein, Existenz –, aber auch die spezifische Wirksamkeit des Ideals nicht konsequent im Hegelschen Sinn ausführen. Bereits Lassons Versuch einer Neuedition liefert eine Bestimmung des Ideals, die den Hegelschen Überlegungen erheblich näher kommt als die der Ästhetik. Dennoch kann Lasson auf der Basis seiner Quellentexte (der Vorlesungen von 1823 und 1826) einen wesentlichen Gesichtspunkt, nämlich die sich in der Geschichte ändernde Bedeutung des Ideals, die strukturell unterschiedliche Gegebenheitsweise der Idee, die Hegel durch die Bestimmung der drei Kunstformen als unterschiedliche Formen des »Daseins« der Idee definiert, nicht weiterführen. So ist die neue Textversion der Hegelschen Ästhetik von 1931 zwar für die Deutung seiner Philosophie der Kunst einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gegangen, läßt sich aber durch die Kenntnis der Vorlesungsnachschriften zu allen vier Berliner Vorlesungen noch überbieten. Bevor die genauere Bestimmung des Ideals in den Vorlesungsnachschriften angeführt wird, sei ein Blick auf die Konsequenzen, die Nachwirkung der von Hotho verfälschten Bestimmung der zentralen Begriffe der Hegelschen Ästhetik, die Notwendigkeit dieser historisch-philologischen Forschungsarbeit demonstriert. Exemplarisch läßt sich dies an der Arbeit von K. Comoth8 verdeutlichen. Comoth betrachtet die »Idee des Schönen« als Ideal unter drei Aspekten, nämlich denen der Individualität, der Materialität und der Zeit.9 Korrekt faßt sie die Bedeutung von ›schön‹ als einer geistigen Qualität auf, versteht aber »das Schöne«, damit zugleich das Ideal nur als dasjenige, das den Geist im Sinne der Gottesbestimmung der 7 8 9

Ästh.I, 1, 144. Katharina Comoth: Idee als Ideal – Trias und Triplizität bei Hegel, Heidelberg 1986. Ebd., 64.

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christlichen Religiosität, indem das Geistige seine Absolutheit erreicht, in der Kunst darstellt. Bezeichnend dafür ist die Auswahl von Zitaten aus der Druckfassung der Ästhetik. So führt Comoth an: »›Die höhere Kunst wird diejenige sein, welche sich die Darstellung dieses höheren Inhalts zur Aufgabe macht‹, und zwar ›in Lebensgröße‹«. Dieser absolute Inhalt wird dann einerseits klassizistisch als nur durch Schönheit darstellbar, andererseits christlich-inhaltlich bestimmt. »Die lebensgroße ›wahrhaft freie unendliche Einzelheit‹ ist die sich gestaltende ›adäquate Wirklichkeit des Schönen‹ und somit ›die höhere Kunst‹, ab-solute Idee als unendlich reflektierendes Ideal der absoluten Idee, das den Ernst, den Schmerz, die Geduld und ›Arbeit des Negativen‹ in der subjektiven Empfindung, Materie, Individuation als Widerspruch kennt und überwindet, schön ist, doch nicht erbaulich […]«.10 Offensichtlich geht Comoth in ihrer Deutung noch einen Schritt über die von Hotho eingeschlagene falsche Richtung der Hegeldarstellung hinaus, wenn sie sich auf den Begriff des Schönen anstatt den des Ideals bevorzugt konzentriert und zugleich den christlichen Inhalt, damit die christliche Religion als absolute Grundlage des Schönen bzw. der idealen Darstellung charakterisiert.11 Dies liegt in der Tendenz der Druckfassung der Ästhetik, nicht so in Hegels eigenen Publikationen und vor allen Dingen nicht in der der Ästhetikvorlesungen. Hegel selbst sieht in der christlichen Kunst nur eine schöne Darstellung als möglich an, nämlich die Darstellung der Maria Magdalena oder die Madonnendarstellung; alle anderen Sujets müssen um der Adäquatheit willen die Schönheit der Darstellung aufgeben. Um solche Ungereimtheiten der Hegelrezeption zu vermeiden, die zudem zu einer Überspitzung ohnehin vorhandener Schwierigkeiten führen, ist es m. E. notwendig, sich an den Bestimmungen des Ideals zu orientieren, die Hegel in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen vorgetragen hat. Dort wird das Ideal weder mit einer klassizistischen Kunstkonzeption (der schönen und ausschließlich schönen Kunst) noch durch eine Kombination mit dem Höchsten, nämlich dem christlich gedeuteten Absoluten, bestimmt. Vielmehr entwickelt Hegel eine geistesphilosophische Bestimmung des Ideals, d. h. er analysiert die Bedeutung des Ideals unter drei Aspekten, nämlich a) dem des »Daseins« oder der »unmittelbare[n] Existenz der Idee«, b) dem des vereinzelten Kunstschönen und c) dem des Daseins des Ideals.12 Dem Wortsinn nach finden sich diese Bestimmungen des Ideals auch in der Druckfassung der Ästhetik, werden dort aber durch die alles überschattende Definition des Ideals als »sinnliches Scheinen« der Idee in ihrem eigentlichen Sinn nicht weiter verfolgt. Untersucht man aber diese drei Bestimmungen des Ideals präziser, lassen Ebd., 71 f. (Hervorhebung von K. Comoth). Dies hat besonders die Auseinandersetzung mit Hegels Konzeption des Häßlichen gezeigt; vgl. dazu u. a. Gethmann-Siefert: Hegels Bestimmung der Kunst [Anm. 3]. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik oder Philosophie der Kunst nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel. Sommer 1823 – Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 2) (im folgenden: Hotho 1823), 47 / Ms. 41 f. 10 11

Das moderne Ideal und die kulturelle Rolle der Kunst

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sich wesentliche Punkte für Hegels auf die Geistesphilosophie begründete Philosophie der Kunst herausstellen. Was zunächst die erste Bestimmung des Ideals als »Dasein« oder »unmittelbare Existenz der Idee« angeht, so stellt Hegel hier die Gegebenheitsweise der Idee im Sinne des schlicht gegenwärtig vorhandenen Seins, zugleich aber den Charakter der Lebendigkeit dieses Gegebenseins, der Wirkung in einer geschichtlichen Situation heraus. Es geht also nicht – wie Hothos Definition insinuiert – um eine ontologische Deutung des Ideals als sinnliche Verschattung der Idee, sondern um konkrete Gegebenheitsweisen der Idee in der Anschauung und in ihrer geschichtlichen Wirkung. So weist der Seins- bzw. Lebendigkeitscharakter der Idee, der das Ideal definiert, erstens auf die Konkretheit, Anschaulichkeit der Idee, also auf ihre notwendige Angewiesenheit auf solche Vermittlung hin. Diese Verwiesenheit betont Hegel bereits in der Definition der Idee, die die Einheit von Realität und Idealität darstellt und sich gerade dadurch vom Begriff unterscheidet, der nur ideell ist und noch keine Realität gewonnen hat. Die Idee ist aber erst wahrhaft und ist erst faßlich, wenn sie konkret ist. Eine mögliche Form des Daseins, d. h. der konkreten Faßlichkeit der Idee, ist nun aber nichts anderes als das Ideal. So gesehen ist das Ideal als »Dasein der Idee« die konkret realisierte, damit wahrhafte Idee.13 Diese Konkretheit und Realität der Idee im Ideal gewährleistet den Unterschied des Scheincharakters der Kunst vom Schein im Sinne bloßer – in platonischer Deutung sinnlich bedingter – Täuschung. Der Schein der Kunst gewinnt seine Valenz durch die Vereinigung von Sinnlichkeit und Geistigkeit. Zweitens bestimmt Hegel das Ideal als »das Kunstschöne«. Dieses ist seiner eigenen Aussage nach »die nähere Bestimmung des Ideals«.14 Wie im Titel des Abschnitts, überschrieben mit »Die Idee des Schönen«, zu sehen ist, geht Hegel in der Philosophie der Kunst von der Idee des Schönen aus, aber nicht in dem häufig unterstellten allgemeinen und weiten Sinn, den die Idee des Schönen in der platonischen Philosophie erhält, sondern Hegel bezeichnet sogleich das Kunstschöne als »die Schönheit«. Damit geht er – was auch die sogleich folgende Auseinandersetzung mit dem schönen Schein dokumentiert – über die platonische Konzeption auf eine eher an Aristoteles orientierte Bestimmung des Schönen über. Wenn Hegel das Kunstschöne als die – gegenüber dem Schönen der Natur – ausgezeichnete Form der Schönheit hervorhebt, so bezieht er damit innerhalb der philosophischen Ästhetik, aber auch innerhalb der metaphysischen Begründung Stellung. Das Kunstschöne ist höher als das Naturschöne zu schätzen, weil es vom Menschen gestaltet ist. Durch die einem anschaulichen Ding integrierte Schönheit, durch die Harmonie von Inhalt und Form künstlerischer Gestaltung, setzt Hegel sich eindeutig vom 13 Das Ideal wird auch als »Gestalt« der Idee bestimmt: »Gestalt ist überhaupt das, worin das Wahre sein Daseyn hat« (G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik – Berlin 1820-21. Eine Nachschrift. I., hg. von Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1995 (im folgenden: Ascheberg 1820/21), 70 / Ms. 41. 14 Hotho 1823, 79 / Ms. 70 (Herv. v. Verf.). Die folgenden Zitate beziehen sich auf Hotho 1823, 70-83 / Ms. 70-73.

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Platonismus, der seiner Ästhetik häufig unterstellt wird, ab. Wie Aristoteles sieht er im schönen Ding, im von den Menschen für Menschen gestalteten Schönen den eigentlichen Gegenstand der philosophischen Ästhetik, was sich in der Zuordnung von Schönheit, dem Kunstschönen und der Bestimmung der Schönheit als Ideal, als Dasein, Existenz und Lebendigkeit der Idee abzeichnet. Der Sinn der Zuordnung dieser drei grundlegenden Begriffe liegt darin, daß sie sich allesamt auf die konkret realisierte und in die Besonderheit vereinzelte Idee beziehen. So charakterisiert Hegel das Kunstschöne bzw. das Ideal und damit die Schönheit, von der er in der Ästhetik zu handeln gedenkt, als dasjenige, das »im Außereinander der sinnlichen Erscheinung an jedem Teile die Einheit oder die Seele als solche erscheinen« läßt, und das zugleich »Einheit der Seele und ihres Körpers« ist, »so daß der Inhalt dieser Seele ein an-und-für-sich-seiender, wahrhafter und die Erscheinung dieses Inhaltes seinem Wesen angemessen sei«. In der weiteren Bestimmung des Ideals greift Hegel auf die Grundlagen seiner Geistesphilosophie zurück und demonstriert, daß sich die Idee – hier die Idee des Schönen – in der Geschichte realisiert und damit auch in jeweiligen geschichtlichen Epochen auf unterschiedliche Weise Gestalt gewinnt. Das Ideal als »Dasein der Idee« nimmt demgemäß in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen verschiedene Formen an. Diese Formen erörtert Hegel als Versionen des »Daseins des Ideals« und führt auf diese Weise die dritte Bestimmung des Schönen, das Schöne als Ideal, weiter. Dieses Dasein, die geschichtliche Vorfindlichkeit des Ideals faßt Hegel konkret als »die Wirklichkeit des Kunstschönen«, also als die Art und Weise, wie das Schöne als Kunstschönes, d. h. als Gestalt-gewordenes Schönes (Ideal) geschichtlich wirkt. Diese formale Grundlage, geschichtliche Konkretion des Ideals zu sein, sieht Hegel ebenbürtig als Bestimmung der »symbolischen«, »klassischen« und »romantischen Kunstform« an. In allen drei Kunstformen bilden Inhalt und Gestalt jeweils eine Einheit, die sich aber – weil der Inhalt sich in der Geschichte entwickelt – jeweils auf andere Weise darstellt, für den möglichen geistigen Inhalt wird eine je andere, ihm angemessene Gestalt gefunden bzw. in der Gestaltung der Künstler gesucht. So gesehen ist in Hegels Philosophie mit dem Begriff des Ideals nicht ausschließlich jenes zentrale Konzept des Ideals der Schönheit im engeren Sinne, nämlich die für die klassische Kunstform charakteristische harmonische Einheit des Inhalts und der Gestalt gemeint. Diese harmonische Einheit von Inhalt und Gestalt, die die Idee der Schönheit in eine anschaulich-schöne, sinnlich faßliche Form überträgt, gilt ihm nur als eine Daseinsform des Ideals unter anderen. Sie ist in der klassischen Kunst realisiert. Ihr geht aber eine Gestalt des Ideals voraus, die Hegel als das Unterwegssein zur Harmonie von Inhalt und Form charakterisiert – die symbolische Kunstform –, und es folgt ihr eine Version des Ideals nach, in der aufgrund des Inhalts die harmonische ästhetische Gestalt (die schöne Göttergestalt der Skulptur) aufgegeben werden muß. Symbolische, klassische und romantische Kunstform sind also unterschiedliche konkrete Formen, »Dasein des Ideals«, »Wirklichkeit des Kunstschönen in der Geschichte«.

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Hegel betrachtet also unter diesem Gesichtspunkt des Ideals, der konkreten Gestalt und Wirksamkeit der Idee des Schönen in der Geschichte die gesamte Weltgeschichte der Kunst und untersucht, welche Rolle der Kunst jeweils in geschichtlichen Epochen und Kulturen, die die konkrete Realisierung der Idee des Schönen sind, zufällt. Durch diese präzise Erläuterung der unterschiedlichen Gestalt des Ideals bei gleichbleibender Bestimmung des Ideals als Dasein, Existenz der Idee des Schönen wird es möglich, die Konzeption der Hegelschen Philosophie der Kunst in den Rahmen seiner Geistesphilosophie zu integrieren und sie losgelöst von der traditionellen Kritik als Versuch der geschichtlichen Bestimmung der Kunst zu lesen. Da das Ideal nicht nur in der klassischen Kunst realisiert ist und daher nicht bloß auf diese Kunst beschränkt wird, sondern als Grundkonzept aller drei Kunstformen, insbesondere der sich bis in Hegels Gegenwart weiter entfaltenden Kunst der »romantischen Kunstform« erörtert wird, läßt sich durch die genaue Interpretation der Bestimmung des Ideals der Klassizismus-Vorwurf gegen Hegels Ästhetik automatisch entkräften und es wird zugleich eine Basis für die Diskussion um die aktuelle Bedeutung der Hegelschen Ästhetik sowie um die Tragfähigkeit der Bestimmung des Ideals für die Bestimmung der Rolle der Kunst in der Gegenwart geschaffen. III. Kunst als Träger der Kultur In den folgenden Überlegungen soll geklärt werden, welche Rolle der Kunst in der Gegenwart zukommt. Auch dieser Versuch läßt sich vornehmlich Hegels weiterer Erläuterung des Ideals, der Bestimmung jener neuen Form, die das Ideal in der romantischen Kunstform gewinnt, entnehmen. Eine für die moderne, das heißt zunächst für die romantische Kunst zur Zeit Hegels maßgebliche Bestimmung, erweist sich auch für die weitere Entwicklung der Kunst als richtungsweisend: Das Ideal, das die Idee in die Konkretheit einer Gestalt faßt, wird durch ein geschichtliches Individuum, näherhin in dessen Handlung verwirklicht.15 Da der Künstler als handelndes Individuum einerseits Subjektivität, gekennzeichnet durch geschichtliches Selbstbewußtsein ist, andererseits aber auch endlich, in einem bestimmten Ort und in eine ihn bestimmende Zeit (in Epoche und Kultur) eingebunden ist, wird das Ideal auch Auf die systematische Bedeutung des Handelns als des künstlerischen Handelns verweist Hegel bereits in der Enzyklopädie in den Paragraphen zur Kunst. Auch in den Ästhetikvorlesungen zeichnet Hegel die Handlung vor allen anderen als das »Konkrete des Kunstschönen« aus (Philosophie der Kunst. Berlin 1826 [Mitschrift von der Pfordten], hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt a.M. 2005 (im folgenden: von der Pfordten 1826; hier: Ms. 13a). Die Relevanz der Handlung für die Konkretisierung des Ideals wurde bereits in einer sehr frühen Studie zu Hegels Ästhetik berücksichtigt: Wolfgang Schlunck: Hegels Theorie des Dramas, Heidelberg 1936 (Diss.); dazu auch Josef Derbolav: Hegels Theorie der Handlung, in: Hegel-Studien 3 (1965), 209-223; und insbes. Reiner Wiehl: Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegelschen Ästhetik, in: Hegel-Studien 6 (1971), 135-170. 15

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durch die Momente realer Handlungsmöglichkeiten des Individuums mit bestimmt. In der weiteren Bestimmung des Ideals werden unter diesem Aspekt vier Momente näher erläutert, nämlich a) »die äußerliche Welt als [allgemeiner] Zustand«, b) der ›besondere Zustand‹ oder die »Situation«, c) die »Reaktion gegen die Situation« und d) die ›äußerliche Bestimmtheit‹.16 In der Analyse dieser vier Momente wird gezeigt, daß das Ideal in der Kunst nicht nur in seinem Für-sich-Sein dargestellt und in der Ästhetik entsprechend analysiert wird, sondern daß es von seinem Für-sich-Sein zur Handlung hingeführt, durch Handlung konkretisiert wird. Diese vier Momente sind also die Grundlage für die Erläuterung, wie die Handlung durch die geschichtliche Situation evoziert wird und wie durch das künstlerische Handeln das Ideal in die Realität eintritt, sich realisiert, wirksam wird. So finden sich in Hegels Analyse dieser vier Momente die wesentlichen Anhaltspunkte für die weitere Bestimmung des Ideals, nämlich für seine Überlegungen zur Kunst und zum Kunstwerk, die unmittelbar zur Bestimmung der Rolle der Kunst in der Gegenwart führen. In der Analyse dieser vier Momente, d.h. ihrer über das künstlerische Handeln für die Bestimmung des Ideals analysierten Bedeutung, zeigt Hegel also zunächst, wie uns das Allgemeine (der »Inhalt« der Kunst) nicht nur »in seiner Selbständigkeit«, sondern auch in seiner »Gestalt« erscheint, und dann weiter, wie sich das Ideal durch die Handlung des Menschen in den jeweiligen Momenten der Gegebenheit, der »Reaktion« auf die Situation, des »Bewegenden« bzw. des »Charakters« und schließlich der »äußerlichen Bestimmung« in der Realität verwirklicht.17 Das erste Moment der Bestimmung des Ideals ist der allgemeine Zustand bzw. die »Selbständigkeit« des Allgemeinen. Sie ist das Moment, in dem das Allgemeine noch an sich steht, ohne sich in Handlung umzusetzen. Einen solchen Zustand sieht Hegel im heroischen Weltzustand verwirklicht, in dem die Subjektivität den Status einer »substantiellen« Individualität, wie sie sich in den Gestalten der Heroen manifestiert, hat und dadurch noch in der Ungetrenntheit des Subjekts und des Objekts bzw. der Weltverhältnisse steht. In der Darstellung des Zustands der Heroenzeit hebt Hegel insbesondere die Eigentümlichkeit und die vollkommene Selbständigkeit des Individuums hervor und betont, daß in diesem Zustand die »Selbständigkeit« des Allgemeinen ohne Beschränkung durch die partikuläre Bedingtheit am vollständigsten erscheint. Die Züge dieses »allgemeinen Zustands« der vorstaatlichen Welt werden durch den Vergleich mit der formellen Individualität des modernen Menschen im modernen Staat verdeutlicht. Hotho 1823, 83 / Ms. 73. In der Nachschrift von der dritten Ästhetikvorlesung sind diese vier Momente wie folgt angegeben: a) »die eigentliche Selbständigkeit«, b) »die Situation«, c) »die Individualität, [bzw. der] Charakter« und d) »die äußerliche Bestimmung« (von der Pfordten 1826, Ms. 12). 17 In diesem Beitrag kann nicht auf die ausführliche Analyse eingegangen, sondern es können nur die für das folgende Argument nötigen Punkte hervorgehoben werden. Näheres hierzu findet sich bei Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst – Die Bedeutung der ›symbolischen Kunstform‹ in Hegels Ästhetik, München 2001, 160-168. 16

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Im Unterschied zu dem ersten Moment des allgemeinen Zustands bzw. der Selbständigkeit fallen das zweite, dritte und vierte Moment für die Verwirklichung des Ideals, d. h. die »Situation«, die »Reaktion« und die »äußerlichen Bestimmtheiten« als konstitutive Momente in die Realisierung der Selbständigkeit des Allgemeinen durch die diesem entsprechende Selbständigkeit des Individuums. Denn die Selbständigkeit des Allgemeinen realisiert sich durch die des Indiviuums und diese wieder durch die »Handlung«, die in einer bestimmten »Situation« steht, daher zugleich als die »Reaktion« auf diese Situation gilt, zudem durch verschiedene »äußerliche Bestimmtheit[en]« als Bedingungen ihrer Ausführung näher bestimmt wird. Diese drei Momente bezeichnen die »Partikularität« in der Geschichte, die selbst wieder für das Ideal, die Gestalt der Idee bzw. der Selbständigkeit des Allgemeinen konstitutiv wird, insofern dieses sich konkret vermitteln muß. Wichtig für die Überlegungen zur Rolle der Kunst in der Gegenwart ist insbesondere Hegels Analyse des vierten Moments, der »äußerlichen Bestimmtheit«, in der seine Intention deutlich wird, die unterschiedlichen Weisen des Verhältnisses des Ideals zur Partikularität zu erläutern. Hier geht er im wesentlichen von der Bestimmung des Menschen bzw. des Individuums im Sinne eines »Bedingtsein[s]« aus. Genauer gesagt, er macht mit der Tatsache ernst,18 daß das Individuum als dasjenige, durch dessen Handeln das Ideal verwirklicht wird, nur mit einer bestimmten Umgebung, Lokalität und zeitlichen Bedingtheit, also zugleich mit den geschichtlichen Bedingungen, unter denen es existiert, aufgefaßt werden kann. In der Analyse der »äußerlichen Bestimmtheit« erörtert Hegel zunächst, wie der Mensch als »Subjektivität« mit der ihn umgebenden objektiven Welt zusammenstimmt. Dieses »Zusammenstimmen der subjektiven und objektiven Seite« liegt einmal in der Harmonie von Subjekt und elementarer Natur, zum anderen wird es in der Bearbeitung der Natur, d. h. in der Kultur erreicht. Die unmittelbare Harmonie von Individuum und Natur erörtert Hegel an den empirisch gegebenen Handlungsweisen des Menschen, die er nochmals nach ihrem Vorkommen unter den Bedingungen verschiedener Epochen und kultureller Zusammenhänge unterscheidet. Unter dieser Rücksicht weist Hegel z. B. darauf hin, daß der Araber – damit seine Poesie – nur zusammen mit seiner geschichtlichen Umgebung (seinen Wüsten, seinen Pferden etc.) verstanden werden kann, und daß die Helden bei Ossian ebenfalls durch die elementare Natur, in der sie verwurzelt sind, geprägt werden und nur im Blick auf diese Umgebung zutreffend charakterisiert werden können.19 In der Bearbeitung der Natur, der kulturellen Tätigkeit unterscheidet Hegel zwei Seiten. Zum einen ist es die Bearbeitung der Natur für die theoretische Befriedigung Hotho 1823, 105 / Ms. 94. Im Gegensatz dazu werden die ›Bänkelsängerei‹ wie das ›Nibelungenlied‹ und später ebenfalls Klopstocks neues Epos, der ›Messias‹, kritisiert, weil in diesen die Lokalität, die äußerliche Bestimmung nicht deutlich dargestellt sind. Dazu vgl. Ascheberg 1820/21, 91 / Ms. 58; Hotho 1823, 107 f. / Ms. 96 f.; von der Pfordten 1826. Ms. 21a ff.; Ästhetik nach Prof. Hegel. 1826 (Anonym) (Ms. Stadtbibliothek Aachen) (im folgenden: Aachen 1826), Ms. 69 f. 18 19

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des Menschen. Durch Dekoration, Schmuck der natürlichen Dinge, d. h. durch den handelnden Umgang mit ihnen erfahren die Naturdinge eine Vermenschlichung. Zum zweiten ist es die Bearbeitung der Natur für die praktische Befriedigung. Beide Momende der »Kultur« werden bestimmt durch »Arbeit« und »Sprache«, deren Produkt Hegel bereits in der Realphilosophie von 1803/04 als »Resultat« des sich in der Geschichte entwickelnden Geistes und zugleich als »Werk« bestimmt hatte. In der Realphilosophie von 1803/04 unterscheidet Hegel also die zwei Ebenen der Tätigkeit des menschlichen Geistes, nämlich die Reflexivität und die Umsetzung der Handlungsintentionen in Realität. In der Reflexivität sieht er die Tätigkeit des Geistes durch die »Sprache«. Insbesondere die »Sprache eines Volkes« gilt als Repräsentant der »ideale[n] Existenz des Geistes« des Volkes, und Hegel definiert sie daher als »Werk eines Volkes«.20 Die Tätigkeit des Geistes in der Realität erläutert Hegel dagegen durch die Bestimmung der »Arbeit«. Die Arbeit ist eine Tätigkeit zur Bedürfnisbefriedigung; und zwar ist auch sie als eine »Weise des Geistes« zu verstehen, weil sie in einer »Vernünftigkeit« gründet, »die sich im Volke zu einem Allgemeinen macht«. Die Arbeit ist daher zwar »subjektive Tätigkeit des Einzelnen«, geht aber über die Einzelheit des Individuums hinaus zu einem Allgemeinen. In dieser Hinsicht ist die Arbeit für Hegel die »Erlernung des Allgemeinen«.21 Da diese zwei Weisen der Realisierung des Geistes, Sprache und die Arbeit, in ihrer Bedeutung für eine bestimmte geschichtliche Kulturgemeinschaft ausgelegt werden, findet sich bei Hegel bereits in dieser frühen Bestimmung des Werks der Ansatzpunkt für die Bestimmung der kulturellen Rolle der Kunst, und dieser Punkt wird in den Berliner Ästhetikvorlesungen in bezug auf die Bearbeitung der Natur weiter ausgeführt. Insbesondere in der Darstellung der Bearbeitung der Natur für die praktische Befriedigung hebt Hegel hervor, daß die »Geschicklichkeit« des Menschen darin liegt,22 sich die äußere Natur durch Arbeit und Sprache anzueignen. Daher hält er es für wichtig, daß in der Kunst die »äußerliche[n] Bestimmtheit[en]« als »die Bedingungen des Daseins« deutlich dargestellt werden, da bzw. damit man durch die Kunst die »Geschicklichkeit«, die Handlungskapazität des Menschen und dadurch die unterschiedlichen kulturellen Lebensformen der Völker erkennen bzw. kennenlernen kann. In der Kunst wird das durch »Arbeit« und »Sprache« konstituierte Verhältnis des Ideals zur »Partikularität« anschaulich. Die Partikularität, die nach der Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Realphilosophie (1803/04), in: Jenaer Systementwürfe 1. Gesammelte Werke 6, hg. von Hans-Christian Lucas, Klaus Düsing und Heinz Kimmerle, Hamburg 1975, 318. Zur Interpretation dieser Bestimmung der Sprache vgl. Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1966, bes. 124 ff.; Theodor Bodammer: Hegels Deutung der Sprache – Interpretationen zu Hegels Äußerungen über die Sprache, Hamburg 1969, bes. 97 ff. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Realphilosophie (1803/04), in: Jenaer Systementwürfe I [Anm. 20], 320. Zur näheren Analyse der »Sprache« und der »Arbeit« in diesem Zusammenhang vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik, München 1995, 104 f. 22 Von der Pfordten 1826, Ms. 21a. 20

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heroischen Zeit der griechischen Antiken die (moderne) Kunst bestimmt, nötigt Hegel einerseits zu der Einsicht, daß das Ideal im Rahmen der romantischen Kunstform nicht mehr in Form einer allgemeinen Selbständigkeit verwirklicht ist. Damit ist die Kunst, wenn man sie in dem engen Sinn einer Realisation der Harmonie von Inhalt und Form durch die Schönheit ansieht, zu Ende gekommen. Zugleich ist sie für die Moderne ihrer höchsten Möglichkeit nach – d. h. als einzig gültige Orientierung des kulturellen Lebens – etwas Vergangenes.23 Diese Annahme wäre aber nur dann – wie es A.C. Danto vornimmt – als ein radikales Zuendekommen der Kunst auszudeuten, wenn man übersieht, daß Hegel in seiner Philosophie der Kunst an das klassische eine neue Form des Ideals angeschlossen hat, das gegenüber der in Schönheit erfahrbaren Harmonie von Inhalt und Form Versionen einer solchen Angemessenheit eines die endliche Form sprengenden Inhalts durch nicht mehr schöne Formen eröffnet. Es geht in Hegels Philosophie der Kunst nicht darum, die Schönheit im Sinne der Harmonie von Inhalt und Form zum zentralen Gesichtspunkt der Bestimmung der Kunst zu erheben, sondern darum, die sich in der Geschichte variierend verwirklichende Daseinsform des Ideals, die Geschichtlichkeit der Idee philosophisch zu erfassen und damit zugleich die geistesgeschichtliche Bedeutung der Kunst zu definieren, nämlich die Entwicklung des menschlichen geschichtlichen Selbstbewußtseins durch eine Retrospektive auf vergangene Formen anschaulicher Vermittlung geschichtlichen Geistes, unser partiales, historisch bedingtes Bewußtsein durch eine Kenntnis der Geschichte zu erweitern. Hegel gilt dabei die Partikularität des Ideals nicht als Argument für die Wirkungslosigkeit der Kunst, sondern gerade umgekehrt als Argument für die Erweiterung des Spektrums ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten, die in der romantischen Kunstform vom Schönen über das Charakteristische bis zum Nicht-mehr-Schönen und sogar zum Häßlichen reichen können.24 Auch die Bedingtheit des Individuums, die Partikularität moderner Subjektivität entspricht dieser Wirkung der Kunst, denn sowohl die Kunst der Gegenwart als auch der Blick auf die Kunst der Vergangenheit – die historische Vermittlung und Repräsentation der Kunst und Kultur vergangener Völker – vermögen über die Bildung die Partikularität des modernen Individuums im Sinne größerer Allgemeinheit aufzuheben. 23 Zur Bedeutung der Hegelschen These vom Ende der Kunst unter besonderer Berücksichtigung der im folgenden dargestellten Möglichkeit, eine neue Form des Ideals zu erreichen und damit eine neue Form geschichtlicher Wirksamkeit vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der Kunst. Vortrag beim Forum für Philosophie in Bad Homburg am 20. 10. 1988. 24 Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Bestimmung der Kunst – Überlegungen zum Spektrum möglicher Kunstgestaltung vom Schönen bis zum Häßlichen, in: Gethmann-Siefert: Hegels und die moderne Kunst [Anm. 3], 46-76. Auch zu Hegels Konzeption des Häßlichen in diesem Zusammenhang vgl. Francesca Iannelli: F. Th. Vischer: Ein Hegelianer ? – Mitschrift F. Th. Vischers zu Hothos Ästhetikvorlesung von 1833 (übersetzt ins Koreanische), in: Mihak Yaesulhak Yeongu 15 (Juni 2002), hg. von der Koreanischen Gesellschaft für die Ästhetik und Kunstwissenschaft, Seoul, 239-268.

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Diesen Gedanken hat Hegel bereits in seinen früheren Schriften, endgültig aber in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte ausgeführt. In diesen Vorlesungen begründet er die Bestimmung der Kunst als Vermittlung geschichtlicher Kultur durch eine Konzeption der »formellen Bildung«.25 Kurz dargestellt bedeutet diese »formelle Bildung« keine inhaltliche Festlegung auf überlieferte Wahrheit, sondern die Herausforderung der Reflexion anläßlich der durch die Kunst anschaulich repräsentierten geschichtlichen Erfahrung früherer oder fremder Kulturen. Der vorgegebene Inhalt bzw. die überlieferte Wahrheit muß im Blick auf die Gegenwart mit den Mitteln und unter Erfordernissen der »Vernunft fordernden Vernunft« geprüft und kritisch diskutiert werden. Die Rolle der Kunst in der modernen Welt läßt sich also als diese »formelle Bildung« bestimmen und die Kunst ist nicht (ebenso wenig die isoliert genommene Religion) die Gewährleistung absoluter Wahrheit in der modernen Welt (dies kommt allein der methodischen Sicherung der Philosophie zu). Dagegen vermittelt die Kunst die vielen partialen Wahrheiten aus Vergangenheit wie Gegenwart, aus eigener wie fremder Kultur. Die »formelle Bildung« umfaßt daher einerseits historische, andererseits kulturelle Bildung im Sinne einer Bildung auf Handlungsorientierung für Gegenwart und Zukunft zugleich. Unter dem Aspekt der historischen Bildung läßt sich die Kunst als »Schlüssel« für die Wahrheitserfahrung der Vergangenheit definieren, einer Wahrheitserfahrung, die sich jeweils im menschlichen Handeln, als Sittlichkeit einer Gemeinschaft, damit als Grundprägung einer Kultur ausformt. Auf der anderen Seite sieht Hegel die Funktion der Kunst darin, verschiedene, auch zeitlich fremde Weltanschauungen und Lebensformen und vor allem die Pluralität der möglichen geschichtlichen Formen der Humanität zu vermitteln.26 In diesem Zusammenhang weist Hegel auf die Möglichkeit hin, in der modernen Poesie den Stoff geschichtlich vergangener und zugleich fremder Kulturen wiederzubeleben. Insbesondere in der Vorlesung von 1826 sieht er in den Werken Shakespeares und Goethes (insbesondere in Goethes West-östlichem Divan) gelungene Kunstwerke der modernen Welt, da beide durch Gestaltungsweise wie Inhalt Elemente aus der Geschichte (Shakespeare) bzw. aus einer fremden Kultur (Goethe) in unsere eigene Welt »übersetzen« können. 25 Die Konzeption der »formellen Bildung« entwickelte Hegel bereits in den Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, die er in Heidelberg im Jahr 1817/18 gehalten hat (Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über das Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von Peter Wannenmann, hg. von Claudia Becker et al., Hamburg 1983, § 91). Zur näheren Erläuterung dieser Konzeption vgl. Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst [Anm. 17], Kap. 4; dies.: Kunst und Bildung – Überlegungen zur Bedeutung der symbolischen Kunstform, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bernadette CollenbergPlotnikov und Lu De Vos, München 2005. 26 Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Einleitung: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert / Otto Pöggeler, Bonn 1986 (Hegel-Studien, Beiheft 27), X ff..

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Wenn man nun ausgehend von Hegels Gegenwart die Erscheinungsweisen der Kunst in unserer heutigen Gegenwart betrachtet, läßt sich zeigen, daß Hegels Bestimmung der Kunst, insbesondere die Festlegung ihrer Rolle in der modernen Kultur im Sinne der »formellen Bildung« noch heute Gültigkeit hat. In dem Sinne, in dem Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte »Partikularität« als den Grundzug des modernen Staats und damit die Notwendigkeit der »formellen Bildung« für ein solches Gemeinwesen erörtert,27 fällt auch der Kunst der Gegenwart eine solche Funktion zu. Auch die Kunst der Gegenwart repräsentiert eine Vielheit verschiedener Gehalte, die aber je für sich nicht mehr allgemeingültig, sondern partikulär sind, so daß die Vielheit künstlerischer Möglichkeiten auf der einen Seite das Spektrum der Gestaltung erweitert, auf der anderen Seite aber die jeweilige Gestaltung als eine nur partielle Weise des Möglichen kennzeichnet. Die »Partialität« der Kunst, von der bereits Hegel ausgeht, läßt sich in der Geschichte der modernen Kunst insbesondere durch jene Formen der Kunst »nach dem Ende der Kunst«, auf die A.C. Danto unter (nur teilweise zutreffender) Berufung auf Hegel hinweist, näher darstellen. Seit Marcel Duchamp im Jahr 1917 das Ready-made »Fountain« ausgestellt hat, geraten die Kunsttheoretiker offensichtlich in eine Verwirrung, wenn es darum geht, einen umfassenden Begriff der Kunst zu entwickeln. Schlußendlich hat Morris Weitz die Not zur Tugend erhoben und die Unmöglichkeit einer Definition der Kunst zu demonstrieren versucht.28 Diese Undefinierbarkeit ließ allerdings die meisten Kunsttheoretiker unbefriedigt. So stellt bekanntermaßen Maurice Mendelbaum mit dem Konzept der »unausgestellten« (nonexhibited)« Eingentümlichkeit einen gemeinsamen Grundzug der unterschiedlichen Phänomene der modernen Kunst auf 29 und eröffnet auf diese Weise erneut den Diskurs um eine zureichende Definition der Kunst in der Gegenwart. In seinem Artikel »Artworld« von 1964 proklamiert Arthur C. Danto nicht allein ein Ende der traditionellen Kunst und damit eine neue Kunst und eine neue Art ihres Verhältnisses zur Geschichte, sondern er definiert die »artworld« als eben die von Mendelbaum hervorgehobene Unausstellbarkeit der Kunst. Als Kunst bestimmt sich dasjenige, was in der »artworld« behaust ist,30 wobei unter Kunstwelt jener kulturelle Bereich verstanden wird, in dem die zu einem großen Teil von den Dingen der Alltagswelt ununterscheidbaren Kunstwerke ihren eigentümlichen Raum, damit ihren Definitionsrahmen finden. Einen Schritt weitergehend entwickelt Georg Dickie die »artworld« A.C. Dantos im Sinne einer Institutionentheorie der Kunst zur Konzeption des »Art InstiGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 51955, 121-179, bes. 179. 28 Morris Weitz, The Role of Theory in Aesthetics (1956), in: Contemporary Studies in Aesthetics, ed. by Francis Coleman, New York 1968, 84-94. 29 Maurice Mendelbaum: Family Resemblances and Generation Concerning the Arts, in: American Philosophical Quarterly 2 (1965), 219-228. 30 Arthur C. Danto: The Artworld, in: The Journal of Philosophy 61 (1964. no. 19), 571-584. 27

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tute« (Kunst-Institut).31 Dieses Kunst-Institut wird als eine soziale Institution erläutert, die »eine begründete Praxis« (an established practice)« konstituiert, der nicht nur die Kenner und Kunstkritiker, sondern auch all diejenigen zugehören, die ein Interesse an der Kunst haben. Auf diese Weise wird das aus den mannigfaltigen Phänomenen mit dem Anspruch, Kunst zu sein, zum Kunstwerk, was zwei Voraussetzungen erfüllt, nämlich a) ein Künstliches zu sein – hierzu gehört auch das Naturobjekt, das der Künstler zur Vermittlung, zum Ausdruck seiner künstlerischen Absicht ausgewählt hat – und b) jenes Phänomen, dem von einem der Mitglieder der Kunst-Institution der Status eines Kandidaten solcher Betrachtung verliehen wurde. Diese beiden Voraussetzungen bilden die Grundlage für G. Dickies Definition der gegenwärtigen Kunst, vor allen Dingen aber bieten sie die Möglichkeit einer unterscheidenden Klassifikation der Kunstwerke gegenüber alltäglichen – mit Danto »reinen realen« – Dingen. Zwar wird dieser Versuch Dickies aufgrund der Zirkelhaftigkeit und letztlich der Unverbindlichkeit jener sozialen Institution »artworld« kritisiert,32 dennoch ist seine Theorie für den Umgang mit der Mannigfaltigkeit und der häufig irritierenden Kunst der Gegenwart äußerst interessant. In Kritik dieses Ansatzes und mit dem Versuch, seine Schwächen aufzuheben, schlägt Noel Carroll vor, anstelle der Kunst-Institution als sozialer Lebenswelt der Kunst die Kunst als eine Art der kulturellen Praxis zu betrachten. Auf diese Weise läßt sich die Kunstwelt von anderen sozialen Instituten über das spezifische künstlerische Handeln differenzieren, und Carroll meint, auf diese Weise die mannigfaltigen Phänomene der Gegenwartskunst auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ohne zu vieles ausschließen zu müssen, d. h. er vermutet, damit einen erweiterten Kunstbegriff erreicht zu haben.33 An den hier nur kurz skizzierten Versuchen zur Definition der Gegenwartskunst wird ersichtlich, daß die Diskussion um den Kunstbegriff letztlich wieder bei jener konstitutiven Bedeutung für den Kunstcharakter der Kunst landet, von der auch Hegel ausgegangen ist, nämlich bei einer Bestimmung ihrer kulturellen Funktion, ihrer Besonderheit als besondere kulturelle Praxis. Da in diesen Versuchen generell auf Hegels Bestimmung der Kunst entweder als Folie, gegen die man sich absetzt, zumeist aber als korrekte Annahme eines theoretischen Vorgängers verwiesen wird, müßte man mit dieser umfassenden Bestimmung der Kunst als Element der Kultur ernst machen, wenn man den Bezug auf Hegel korrekt darstellen und in seiner Bedeutung erschöpfend nutzen möchte. In einer seiner letzten Abhandlungen sieht A.C. Danto die Rolle der Kunsttheorie und der Deutung der Kunst dafür als wichtig an, daß ein Gegenstand das Kunstwerk ist bzw. wann und wodurch er ein Kunst31 Vgl. George Dickie: Defining Art, in: American Philosophical Quarterly 6 (1969), 253-256; ders.: Art and the Aesthetics – An Institutional Analysis, Ithaca 1974; ders.: The Art Circle, New York 1984. 32 Diese Kritik findet sich insbesondere bei Monroe C. Beardsley: Is Art Essentially Institutional ? (1976), in: The Aesthetic Point of View, Ithaca 1982, 134 ff. 33 Noel Carroll: Art, Practice, and Narrative, in: The Monist 71 (1988), 140-156, hier: 143.

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werk wird.34 Eine sinnvolle Kunsttheorie auch in seinem Sinne und die Deutung bzw. Definition des Kunstwerks wird allerdings nur möglich, wenn die Kunst als Element der Kultur verstanden wird. Letztlich würde das bedeuten, die Institutionentheorie der Kunst im Sinne Dickies und Dantos zu integrieren in eine allgemeine Kulturtheorie im Sinne Carrolls. In der Tat erfordert ein gegenwärtiges Kunstwerk, je fremder es uns ist, um so mehr kulturelle und auch historische Kenntnis; umgekehrt wird unser kultureller Erfahrungsraum und unsere geschichtliche Kenntnis durch ein Kunstwerk nicht nur aus fremden Kulturräumen, sondern auch aus den fremden Momenten der eigenen Kultur bereichert. Greift man hier auf Hegels Ansatz der Bestimmung der Kunst als Träger bzw. eines der maßgeblichen Momente der Kultur zurück, so ist insbesondere die Bestimmung der gesellschaftlichen Rolle der Kunst im Sinne der »formellen Bildung«, im Sinne einer inhaltlich nicht festgelegten, d. h. für jeglichen Inhalt offenen Konzeption der Kunst interessant. Letztlich bleibt seine Bestimmung der Kunst in der gegenwärtigen Diskussion um die Kunst der eigenen Gegenwart »strukturell« in Geltung und bietet sich als Grundlage für weitere Überlegungen zur Kunst der Gegenwart an.

IV. Die kulturelle Rolle der Kunst – erläutert am Beispiel Shakespeares und Goethes Im folgenden soll unter Rückgriff auf Hegel exemplarisch gezeigt werden, auf welche Weise die Kunst in der Gegenwart jene kulturelle Rolle übernehmen kann, die Hegel ihr in seiner Ästhetik zugedacht hat. Obwohl Shakespeare und Goethe nicht unmittelbar zur Kunst unserer Gegenwart gehören, läßt sich Hegels Deutung der Charaktere in Shakespeares Dramen und in Goethes West-östlichem Divan als exemplarische Weise der Auslegung der Kunst in der Gegenwart diskutieren. Was zunächst Shakespeare angeht, so deutet Hegel die Charaktere der Shakespeareschen Dramen stets im Vergleich mit den Homerischen Helden oder den Heroen der antiken Tragödie und kann auf diese Weise die spezifischen Merkmale eines modernen Individuums, eines individuellen Charakters im modernen Drama aufzeigen. Die Deutung der Shakespeareschen Charaktere wird im Kern durch eine Analyse der Handlung des Individuums im Drama dargestellt. Diese Handlung ist zunächst durch »Freiheit« geprägt, die aber nach Hegels Charakteristik bloß »formeller Selbständigkeit« in dem Sinn realisiert wird, daß sie nur für die »individuelle Besonderheit« des Individuums, also im Blick auf alle Menschen nur beschränkt gültig ist. So entsteht die Kollision des modernen Dramas »zwischen dem Charakter des Helden und seiner Aufgabe«, die sich auf die Erfüllung seines »partikulären« Zwecks richVgl. Arthur C. Danto: After the End of Art – Contemporary Art and the Pale of History, Princeton 1997, 194 ff. 34

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tet.35 Shakespeares Dramen sind also durch die Partikularität des jeweiligen Handlungszwecks der dramatischen Personen bestimmt. Zugleich kennzeichnet Hegel das »allgemeine Menschliche«, das bei Shakespeare in genialer Weise dargestellt wird, als etwas, das »das Partikulare« der Charaktere sowie ihrer Handlungszwecke im Drama aufgreift und zu der Besonderheit der dramatischen Person führt.36 Zweitens wird die Handlung dieses Individuums ebensowenig wie durch einen vorgegebenen allgemeinen Zweck durch ein überindividuelles »Pathos« regiert, durch eine Form der Sittlichkeit der Gemeinschaft, die sich in das Handeln des Individuums übersetzte, sondern dieses ist lediglich durch seine »Leidenschaft« motiviert. Die Charaktere in Shakespeares Dramen sind also eher dadurch gekennzeichnet, daß sie als individuelle Gestalten »Widersprüche in sich« tragen,37 durch die individuelle Leidenschaft getrieben werden. Daher findet Hegel in Shakespeares Dramen »eine Fülle von gedoppelten Menschen, die mit sich selbst nicht ins Reine kommen«, und er sieht in ihm »den größten neuzeitlichen und überhaupt den größten spielbaren Dramatiker«.38 Hegel sieht in der Darstellung der »subjektive[n] Leidenschaften«, im »Pralle[n] der Charaktere«39 eine mögliche Form der Kunst in der modernen Welt. In dieser, der antiken Kunst nicht möglichen »Darstellung der Individualität« gewinnt die Kunst in der Moderne eine »neue Bedeutung«, die für ihn paradigmatisch für ihre neue kulturelle Rolle ist.40 In Shakespeares Dramen wird drittens die Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der Handlung des Individuums, dessen Innerlichkeit sich vom Äußerlichen befreit und in sich zurückgeht, in allen Bereichen behandelt. Hegel kritisiert zwar an der romantischen Kunst die Unendlichkeit der mit dem Äußerlichen unversöhnten Subjektivität, aber er sieht in Shakespeares Dramen eine gelungene poetische Darstellung dieser Subjektivität. In dieser Analyse der Shakespeareschen Dramen erweist Hegel sie als eine gelungene Weise moderner Kunst, zugleich weist er auf die Bedeutung des Stoffs hin, näherhin auf eine Möglichkeit des Gebrauchs historischer Stoffe für gegenwärtige Formen künstlerischer Gestaltung und für die Bedeutung der Kunst als »formelle Emil Wolff: Hegel und Shakespeare, in: Vom Geist der Dichtung, hg. von Fritz Martini, Hamburg 1949, 156. 36 Aachen 1826, Ms. 26. 37 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift H. von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitwirkung von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004, 57 f. / Ms. 107. 38 Otto Pöggeler: Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik. In: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge. G 287, hg. von der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1987, 32. 39 Aachen 1826, Ms. 216. 40 Hans-Christian Lucas: Shakespeare, in: Hegel in Berlin – Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen, hg. von Otto Pöggeler, Berlin 1981 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge 16), 246-253, hier: 252. 35

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Bildung«. Die Notwendigkeit des Gebrauchs historischer Stoffe entwickelt Hegel aus einer neueren Charakteristik der Vermittlungsmöglichkeiten der Kunst in der modernen Welt. Da das Göttliche sich »mannigfaltig modifiziert«41 und das Ideal im Verhältnis zu dem Äußerlichen nur »partikulär« ist, beziehen sich die Künste in der modernen Welt auch »auf diese bestimmten Eigentümlichkeiten, [auf die] Partikularität«. Dies »partikulär Menschliche«, das »Geschichtliche« macht den Inhalt und die Bedeutung der Kunst in der modernen Welt aus, denn die Kunst hebt »das Höhere, Menschliche« heraus, das in dieser Welt »vielfach bestimmt und bedingt« ist durch »Modifikationen, Verhältnisse, Formen, in denen [der Mensch] […] unmittelbar lebt«. Um die Mannigfaltigkeit des Möglichen präsent zu halten, sieht Hegel nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Erfordernis der Kunst in der modernen Welt darin, »Gegenstände aus einer früheren Zeit« und »solche Stoffe anderer Nationen« zu behandeln.42 Dadurch konstituiert sich die Bedeutung der Kunst in der Vermittlung des Geschichtlichen und der verschiedenen fremden kulturellen Lebensformen der vergangenen wie gegenwärtigen Welt. Auch Goethes West-östlicher Divan erscheint Hegel als Möglichkeit, eine fremde Weltanschauung dem modernen Selbstverständnis gemäß poetisch zu vermitteln. Auch die Deutung des Divan exemplifiziert seine Bestimmung der Rolle der Kunst in der modernen Welt, und zwar unter Hinzufügung eines weiteren Aspektes. In der Divan-Deutung hebt Hegel zunächst die gelungene poetische Aneignung und Vermittlung einer fremden (sc. der orientalischen) Weltanschauung und Lebensform hervor. Diese Auseinandersetzung mit dem Divan hat ihn dazu motiviert, die Frage der Romantiker nach den Möglichkeiten eines neuen Epos, einer Mythologie der Moderne vom Blick auf das Christentum auf die Analyse der orientalischen Weltanschauung auszuweiten und zugleich durch die Vermittlung dieser kulturell fremden Weltanschauung einen neuen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit der romantischen Kunst zu entwickeln. Hegel betont dabei, daß es weder um die Verengung der Perspektive unter einem national geprägten Interesse noch um die Verdrängung der in der Frühromantik in den Blickpunkt gerückten orientalischen Mythologie gehen kann. Er greift auf die orientalische Weltanschauung und ihre künstlerische Gestaltung zurück, setzt sich dadurch von gegenwärtigen Tendenzen der Beschränkung der Kunst auf bestimmte Inhalte und Gestaltungsweisen ab, und zwar durch ein dezidiert kulturelles, ja kulturpolitisches Interesse. An dieser Weise künstlerischer Gestaltung kann er nämlich seine These, es müsse in der modernen Kultur eine Vermittlung unterschiedlicher partikulärer Weltanschauungen geben, an einem anschaulichen Beispiel belegen. Der Forderung, die Pluralität der Weltkulturen und ihrer Errungenschaften insbesondere durch die Kunst, hier durch poetische Vermittlung in die moderne Bildung zu integrieren, hat Goethe in vorbildlicher Weise entsprochen. Hier hat er – wie Hegel betont – »poetisch 41 42

Von der Pfordten 1826, Ms. 22a. Von der Pfordten 1826, Ms. 22a und 24.

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das Höchste geleistet«. Im Blick auf die eigene Kunst der Gegenwart – so hebt Hegel besonders in seiner Ästhetikvorlesung von 1826 hervor – liegt in der orientalischen, insbesondere neupantheistischen Poesie die wesentliche Möglichkeit der »Substantialität«, jene Weltverwobenheit des Individuums im dichterischen Wort zu vermitteln, die zugleich als Möglichkeit der Überwindung der romantischen Subjektivität und der Konzentration auf die Innerlichkeit gilt. Dies ist der wesentliche Gedanke der Divan-Deutung, wodurch Hegel der Kunst zunächst im historischen Rückblick die Möglichkeit und Notwendigkeit der Aktualisierung kulturell fremder Inhalte zuerkennt.43 Dieser Gedanke ließe sich auf die prinzipiell fremdartige Kunstdarstellung unserer Gegenwart übertragen, und zwar wiederum im Sinn der Eröffnung der Möglichkeit »formeller Bildung«, nicht inhaltlicher Festlegung durch die Kunst. Die Grundlage der Hegelschen Deutung der Charaktere in den Shakespeareschen Dramen sowie des Divans Goethes ist seine Bestimmung der Kunst als Kulturphänomen, als eine besondere Weise der »Arbeit« und »Sprache«, durch die eine Deutung der Welt und geschichtliches Bewußtsein der Individuen gewonnen wird. Das Kunstwerk als Produkt von Sprache und Arbeit repräsentiert die mannigfaltigen Modifikationen des allgemeinen Geistes in unterschiedlichen Verhältnissen des Geistes zur äußerlichen Natur, die durch menschliche Tätigkeit und menschliches Bewußtsein vermittelt als Kultur erscheint. Kunst repräsentiert damit Kultur und Geschichte. Zwar bleibt für die moderne Welt die durch die Kunst gewonnene Vermittlung geschichtlichen Selbstbewußtseins partial, Hegel sieht aber ihre Relevanz darin, daß die Kunst über die Vermittlung historischer Stoffe und fremder Lebensformen letztlich zu einer inhaltlichen Erweiterung des eigenen geschichtlichen Bewußtseins, zu einer neuen Form des Sich-Wissens führt. Gerade in dieser Leistung, in der »formellen Bildung« liegt die heute noch mögliche und aktuelle Rolle der Kunst, die Hegel paradigmatisch in der Bestimmung des modernen Ideals vorgezeichnet hat.

Zur ausführlichen Darstellung der Hegelschen Rezeption von Goethes ›Divan‹ vgl. Barbara Stemmrich-Köhler: Die Rezeption von Goethes West-östlichem Divan im Umkreis Hegels, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. von Otto Pöggeler und Annemarie GethmannSiefert, Bonn 1983 (Hegel-Studien, Beiheft 22), 318-396; dies.: Zur Funktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel. Exotische Klassik und ästhetische Systematik in den ›Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans’ Goethes, in Frühschriften Herders und in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, Frankfurt/M. / Berlin / New York / Paris 1992. 43

Der Staat und die Kunst Zur öffentlichen Funktion der Kunst bei Hegel Von Elisabeth Weisser-Lohmann

Platons These, die Änderung der »Gesetze der Musik« komme einer Änderung der »bürgerlichen Ordnung« gleich, hat Konsequenzen für die Stellung der Kunst in Platons Staat, insbesondere für die Funktion der Kunst im Erziehungsprogramm der Wächter: Die in der Kunst eröffnete Welterfahrung ist auf die vom Staat gewünschte Charakterbildung zu verpflichten. Platons systematische Einheit von Ethik, Politik und Ästhetik wird zwar bereits von Aristoteles aufgegeben, Nachklänge finden sich bei den Nachfolgern aber auch dort, wo der Kunst eine zwar systematisch eigenständige Erkenntnisleistung zugesprochen wird, diese aber als erzieherisches Potential für das Allgemeine fruchtbar gemacht wird. Unter dem Einfluß der Querelle reflektiert Hegel die für das antike Gemeinwesen konstitutive Funktion der Kunst vor dem Hintergrund der modernen sich ›autonom‹ begreifenden Kunst. Widersprüchlich sind Hegels frühe Aussagen zum Verhältnis von Kunst, Religion und Sittlichkeit. Im Brief an Schelling klagt Hegel 1795 etwa1: »Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte«. Neben der Forderung nach politischer Entmachtung von Kirche und Religion findet sich schon früh die Einsicht der Unverzichtbarkeit der »Poesie« als »Lehrerin der […] Menschheit« und der »sinnlichen Religion«2: »Nicht nur der große Haufen auch der Phil[osoph] bedarf ihrer. Monotheismus der Vern[nunft] u[nd] des Herzens, Polytheismus d[e]r Einbildungskraft u[nd] der Kunst, dis ists, was wir bedürfen !« In seinem Systementwurf des Jahres 1805/6 bindet Hegel die Darstellung von Kunst, Religion und Spekulation zurück an die Entwicklung der »Constitution«.3 Es ist der Versuch Hegels, die platonische Einheit für den eigenen Ansatz zurückzugewinnen. Auch die Phänomenologie des Geistes teilt dieses Anliegen, wenn Hegel die Gestalten der sich politisch-gesellschaftlich artikulierenden Sittlichkeit als »Geist« faßt.4 Über die Jenaer Vorlesung »Naturrecht« berichtet Rosenkranz, daß Briefe von und an Hegel, hg von Johannes Hoffmeister, Hamburg 31969, I, 11. Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm‹ des deutschen Idealismus, hg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1984, 13. 3 Vgl. Ludwig Siep: Praktische Philosophie im deutschen Idealismus. Frankfurt/M. 1992, 151 f. 4 Das Ziel einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Wahrheit realisiert Hegel keineswegs exklusiv in der enzyklopädischen Darstellung des Systems. Diese ist erst in der Nürnberger Zeit entstanden und geht, was den Aufbau betrifft, auf das gymnasiale Curriculum zurück. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie als spekulative Wissenschaft, in: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg. von Hermann Drüe u. a., Frankfurt/M. 2000, 21-86. 1 2

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dort die Darstellung der Philosophie des Geistes insgesamt auf die Frage nach der »Nothwendigkeit der Philosophie in einem Volke« bezogen und damit am Dasein in einem Volk orientiert bliebe.5 Diese Perspektive ist auch für die Ausarbeitungen zum Begriff des religiösen Cultus bestimmend: Die Frage der Wirkung in einem Volke bildet den Orientierungspunkt der Darstellung.6 1817 trennt Hegel im Rahmen der enzyklopädischen Systemdarstellung die absoluten Gestalten des Geistes (Kunst, Religion und Wissenschaft) von der Sphäre des objektiven Geistes, so daß von einer »systematischen Überordnung« dieser Gestalten gesprochen worden ist.7 Etwa zeitgleich erklärt Hegel in seiner Heidelberger Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft (WS 1817/18)8: »Die Anschauung des Wesens des Staates, seines frei herausgehobenen Geistes, diese Anschauung, das Intellektuelle der Wirklichkeit, wird durch Religion, Kunst und Wissenschaft.« Diese Anschauung rechtfertige den Staat und müsse daher vom ihm als »Zweck an und für sich selbst betrachtet« werden. Der Staat müsse diese Sphären zu seiner absoluten Angelegenheit machen. Die zeitliche Nähe dieser Ausführungen zur Erstauflage der Enzyklopädie lassen den Verweis auf »Religion, Kunst und Wissenschaft« wie ein Hinweis auf die Gestalten des absoluten Geistes verstehen. So entsteht der Eindruck, Hegel bringe hier »Kunst«, »Religion« und »Wissenschaft« als absolute Wissensgestalten des enzyklopädischen Systems mit der Rechtfertigung, ja mit der Konstitution des Staates in Zusammenhang. Letztlich ist es die Konsequenz dieser Lesart, daß Hegel die Rechtfertigung des Staates von der Sphäre des objektiven Geistes in die Sphäre des absoluten Geistes verlagert. Fragwürdig ist ein solches Vorgehen vor dem Hintergrund, daß Hegel zum einen in den Grundlinien antritt, die eigenständige Stellung der Sittlichkeit zu erweisen,9 zum anderen in den Vorlesungen zur Ästhetik die Kunst als eigenständige Wissensform losgelöst von der Darstellung des objektiven Geistes entwickelt. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Band 5. Schriften und Entwürfe 17991808, hg. von Manfred Baum und Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, 459. 6 Rudolf Haym bestätigt diese Einschätzung des Manuskriptes: »Allein das Charakteristische des gegenwärtigen Stadiums besteht in dem Versuch, diese Idee [des Göttlichen] immer wieder in die Objektivität des sittlichen Geistes zurückzubiegen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Band 5 [Anm. 5], 465. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Gesammelte Werke Band 13, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Klaus Grotsch. Hamburg 2000. W. Jaeschke spricht von einer »systematischen Überordnung der Religion über den objektiven Geist«. Manifest wird diese Überordnung in Hegels Bestimmung der besonderen politischen Funktion des Protestantismus, nämlich »in einer selbst noch theologisch begründeten Freisetzung von Weltlichkeit und in der Selbstbeschränkung der Theologie, über die Gestaltung dieser Weltlichkeit kraft einer speziellen religiösen Kompetenz befinden zu können.« Walter Jaeschke: IV. 4.2.4 Religion und Staat (§ 552), in: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften [Anm. 4], 458-466, hier 465. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Heidelberg 1817/18. Nachgeschrieben von Peter Wannenmann, hg. v. C. Becker u.a. Hamburg 1983, 245 (im folgenden zitiert als Hegel: Wannenmann). 9 Dieses Anliegen wird insbesondere dort deutlich, wo Hegel die zeitgenossischen Rechts-

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Gegen die hier vorgenommene Verknüpfung des Paragraphen 158 mit dem enzyklopädischen Programm könnte man anführen, daß es in dem zitierten Paragraphen nur um die Anschauung des Wesens des Staates gehe, die eigentlichen Ausführungen zum Staatszweck dagegen im Inneren Staatsrecht abgehandelt werden. Dort unterscheidet Hegel zwischen einer durch die natürlichen Bedürfnisse bestimmten Vereinigung als Gesellschaft und einer durch freie Selbstbestimmung hervorgebrachten Vereinigung im Staat. Ungelöst bleibt gleichwohl die Frage nach dem Verhältnis von Staatszweck und Wesen des Staates. In den Grundlinien korrigiert Hegel die Vorlesung dahingehend, daß er die eigentümliche, von der des Staates verschiedene Form von Religion wie Erkenntnis und Wissenschaft hervorhebt. Deutlich trennt Hegel zwischen den Prinzipien des Staates und den Prinzipien von Wissenschaft, Religion und Kunst. Im Rahmen der Philosophie des Rechts gehe es um das Prinzip des Staates, erst »in einer vollständig konkreten Abhandlung vom Staate müssen jene Sphären, sowie die Kunst, die bloß natürlichen Verhältnisse u.s.f. gleichfalls in der Beziehung und Stellung, die sie im Staate haben, betrachtet werden«10. Hegels Formulierungen – »konkrete Abhandlung«, »Prinzip des Staates«, »Wesen« bzw. »Anschauung« des Staates – verweisen auf ein Grundproblem der Sittlichkeitskonzeption: welche Rolle haben Philosophie, Kunst und Religion für Konstitution, Bestimmung und Geltung der Sittlichkeit der Moderne, die Hegel als Rechtsgestalt entwickelt ? Auf die hier liegenden Probleme verweist Paragraph 170 der Grundlinien, wenn Hegel, auf das Verhältnis von Religion und Staat eingehend, bestimmt: die Religion sei zwar die Grundlage des Staates, zugleich aber »nur Grundlage«11. Die bis heute kontrovers diskutierte Frage – die Rolle der Gestalten des absoluten Geistes für Genese und Geltung der Sittlichkeit als Rechtsgestalt – soll hier in den Kontext der Hegelschen Staatszwecklehre zurückgestellt werden. Mit der Jenaer Konzeption (Verknüpfung der Darstellung von Kunst, Religion und Wissenschaft mit der Darstellung der Verfassung eines Gemeinwesens) und der Heidelberger Konzeption der enzyklopädischen Systematik (Überordnung der Sphären des absoluten Geistes über die Darstellung der Formen des Zusammenlebens) stehen zwei alternative Deutungen für die Bestimmung des Verhältnisses von Kunst, Religion,Wissenschaft und Sittlichkeit zur Verfügung. Hegels Formulierung, »die Anschauung des Wesens des Staates wird durch Religion, Kunst und Wissenschaft«, bleibt vor diesem Hintergrund zweideutig. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Konzeptionen gestatten Hegels Ausführungen im Paragraphen 158 der Vorlesung nicht.

konzeptionen kritisiert. Vgl. etwa die Kritik an Hugos rechtsgeschichtlichem Standpunkt sowie die Kritik an der von Kant ausgehenden Rechtslehre bei Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In der Textedition von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995, 8 ff. (im folgenden zitiert als Hegel: Grundlinien). 10 Hegel: Grundlinien [Anm. 9], § 270, 222. 11 Ebd.

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Eine Vorklärung des Problemzusammenhangs soll zunächst im Rückgriff auf die Hegelsche Staatszwecklehre versucht werden (I). Vor diesem Hintergrund kann dann nach der Funktion und Aufgabe von »Kunst«, »Religion« und »Wissenschaft« im Rahmen der Staatszwecklehre gefragt werden (II). Auf dieser Grundlage ist dann auch die Frage zu klären, inwiefern die Hegelsche Staatkonzeption eine kulturpolitische Perspektive einschließt (III).

I. Rechtsphilosophie und Staatszweck Die dem Staatskapitel der Grundlinien vorausgehenden Gestalten des Rechts thematisiert Hegel bereits im Horizont der Frage nach der Tauglichkeit dieser Rechtsbestimmungen für die Geltung des Rechts als Allgemeinheit. Das Recht, über eine Sache zu verfügen, schließt für die feudalistische Patrimonialtheorie zwar Gewalt über ein bestimmtes Territorium und seine Bewohner ein. Gleichwohl zeigt das Verbrechen, daß dieser Rechtsbegriff das Recht nicht als Recht herstellendes Instrument zu fassen vermag. Das bloße Verfügungsrecht über eine Sache entspricht nicht dem allgemeinen, u. U. auch gegen das einzelne Individuum geltende Recht. Die im »Abstrakten Recht« auftretenden Eigentumskonflikte fordern zwar die Anerkennung eines allgemein anerkannten und geltenden Rechts. Das bloß abstrakte Rechtsprinzip, das die Individuen als gleiche Personen bestimmt, erfüllt die hier bestehenden Kriterien aber nicht. Geht doch die hier geforderte Anerkennung eines unabhängig von der Person bestehenden Allgemeinen über die bloße Anerkennung des Anderen als Person und über die Anerkennung des Verfügungsrechts der Person über eine Sache hinaus. Die Anerkennung eines nicht sachlichen Allgemeinen als Wirklichkeit ist auf der Basis des abstrakten Rechtsprinzips nicht möglich. Mit dem Gewissen hat Hegel im Moralitätskapitel im Subjekt eine Gestalt des Willens aufgewiesen, die zur Einsicht und zum Wollen eines als allgemein Anerkannten fähig ist. »Recht« sind die vom Subjekt gewollten Willensäußerungen, insofern sie auf die Allgemeinheit des Personseins zurückgehen. Allerdings verfügt das Gewissen nicht über das Vermögen, dieses Gute als Wirklichkeit hervorzubringen. Eine Rechtfertigung der Geltung eines Allgemeinen im Rückgriff auf den bloßen Willen eines einzelnen Individuums, das Gute zu verwirklichen, scheitert – und dies unterscheidet die Moderne vom Heroenzeitalter – an der Pluralität des jeweils als Gut gesetzten Allgemeinen. Das Moralitätskapitel zeigt, daß das im Gewissen gesetzte Recht nicht als Allgemeinheit wirklich zu werden vermag. Für die Rechtfertigung des Staates als Rechtsgestalt bedeutet dies, daß der Staat nicht als jene Instanz zu rechtfertigen ist, die ein anerkanntes Gutes mit geeigneten Mitteln durchzusetzen befugt ist. Der allein auf dem Recht des Gewissens und dem Wollen des Guten gegründete Staat ist vielmehr der Staat des »terreurs«12. 12

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Band 9,

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Für die Begründung des Staatszweckes erweisen sich die beiden ersten Abschnitte der Grundlinien als rein negativ. Weder das »Abstrakte Recht« noch die »Moralität« vermögen einen Rechtsbegriff zu entwickeln, der den Staat als Rechtsgestalt hinreichend rechtfertigt. Die beiden ersten Teile der Grundlinien formulieren allerdings die Bedingungen, denen der Staat der Moderne als Rechtsstaat zu genügen hat: Das Recht muß allgemeingültig, d. i. für jedermann gleiche Gültigkeit haben, jeder Mensch hat aber auch das Recht, nur das als gültig anzuerkennen, was »von ihm als gut eingesehen werde« (Grundlinien, § 132, 117). Diesen beiden formalen Rechtsprinzipien genügen das »Abstrakte Recht« und die »Moralität« nur zum Teil. Für die Gestalten der Sittlichkeit, und zu ihnen gehört der Staat, lautet daher die Forderung: Wirklichkeit und Allgemeinheit dieser Rechtsformen müssen hier vereinigt sein. Die »Sittlichkeit« als eine Gestalt des Rechts hat für Hegel die Wirklichkeit des Eigentumsrechts der Person in der Sache mit dem Recht der handelnden Subjekte, ihren Willen zu verwirklichen, zu vereinigen. Als Rechtsgestalt ist Sittlichkeit damit aus einem notwendig von allen und für alle Handelnden gesetzten Zweck zu verwirklichen und zu rechtfertigen. Dieser Zweck ist für die Moderne das Dasein der Freiheit. Hegel entwickelt diesen Staatszweck allerdings nicht – wie die zeitgenössische Vertragslehre – ausgehend vom Willen der Einzelnen, sondern allein aus der Beziehung des Staates »auf sich selbst« (Grundlinien, § 126). Die Differenzierung innerhalb der Sittlichkeit zwischen Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat verdeutlicht darüber hinaus, daß für Hegels Staatszwecklehre staatliche Herrschaft weder aus dem Willen »eine Person auszumachen«, noch aus der Vereinigung zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung abzuleiten ist. Die Realisierung des Staatszwecks vollzieht sich in spezifischen Praxisformen. Diese Praxisformen werden durch die Verfassung des Staates eröffnet und gesichert. Vor diesem Hintergrund bestimmt Hegel den Staatszweck als Ermöglichung von Handlungen, deren Zweck Selbstbestimmung und Allgemeinheit ist. Die Rechtsförmigkeit des Ordnungsgefüges sichert die Erfüllung dieses Zwecks. Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat sind Handlung ermöglichende Ordnungsgefüge, die den Vollzug von Praxis im höchsten Sinn ermöglichen. Mit diesem Staatszweck, der im Staat als Rechtsgestalt seinen adäquaten Ausdruck findet, konstituiert Hegel eine eigenständige unabhängige Sphäre geltender Verpflichtung. Diese Bestimmung stellt die Philosophie des Rechts vor die Aufgabe, die überlieferten Praxisformen auf ihre Rechtsförmigkeit hin zu prüfen. Nur als Rechtsgestalt kann diese oder jene Handlung Pflicht sein, d.h. für das sich als freie Person und als Subjekt begreifende Individuum Geltung haben. »Abstraktes Recht« und »Moralität« erweisen sich als bloße Möglichkeiten, denen Wirklichkeit allein in den hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, Kapitel VI, B, III: Die absolute Freiheit und der Schrecken, 316 ff.

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sittlichen Gestalten, Ehe, Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat zukommt. Die tradierten und bewährten Gestalten der Sittlichkeit müssen von der Philosophie als Realisationen der abstrakten Rechte rekonstruiert werden, wenn deren Geltung nicht im Herkommen sondern in der Selbstbestimmung des Menschen als Person und Subjekt gründen soll. Wenn Hegel Sittlichkeit hier als Gestalt des Rechts entwickelt,13 so stellt sich die Frage nach der Rolle von Religion und Kunst für die Sittlichkeit. Vor dem Hintergrund dieser Staatszwecklehre wird deutlich, daß die oben zitierten Ausführungen der Vorlesung zunächst die Beschreibung einer vergangenen Form des Praktischen leisten. Die These, die Formen von Kunst und Religion bestimmen die Anschauung des Staates, kann nur dort gelten, wo die sittliche Praxis in diesen Formen aufgeht, von ihnen gar nicht unterscheidbar ist. Dies entspricht nicht der Situation der Moderne, wie sie für die Philosophie des Rechts der Ausgangspunkt ist. Dort, wo es Hegel um die Begründung eigenständiger Praxisformen geht, muß das Wesen der sittlichen Formen in Abgrenzung von diesen Anschauungsformen gewonnen werden. Aus der Perspektive der Staatszwecklehre der Rechtsphilosophie kennzeichnet Hegel mit der Formulierung der Vorlesung zunächst einmal eine historische Position. Die These, Kunst und Religion stifteten die Anschauung und Rechtfertigung des Staates, hat zur Voraussetzung, daß in der Gegenwart »Staat« als Verwirklichung selbstbestimmter Praxis faßbar ist. Erst im Anschluß an diesen Staatszweck werden die Geltungsbedingungen vergangener Praxen deutlich. Insofern stehen die Ausführungen der Vorlesungen am richtigen Ort, wenn Hegel sie im Anschluß an die eigentliche Staatszwecklehre vorträgt. Die Frage ist allerdings, ob die sittliche Funktion von Kunst und Religion auf die Vergangenheit beschränkt bleibt – oder ob diese Gestalten auch im modernen Staat eine Aufgabe haben ?

II. »Staatszweck« und »Kunst, Religion, Wissenschaft« Hegel beschließt die Darstellung des Staatszweckes in den Grundlinien mit der Lehre von der öffentlichen Meinung. Für die Philosophie des Rechts ist es die Aufgabe der Wissenschaft, das wahre Wesen des Staatszwecks zu erkennen und Fehlformen als das Produkt bloßer »Meinung« zu entlarven. Damit nimmt die Wissenschaft jene Stelle ein, die einst Kunst und Religion für die Anschauung des Staates hatten. Die öffentliche Meinung enthält zwar in sich »in Form des gesunden Menschenverstandes […] die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustands«14. Aber weder verfügt der gesunde Menschenverstand Die enzyklopädische Darstellung nimmt demgegenüber einen allgemeineren Ausgangspunkt ein, wenn dort die allgemeinsten Prinzipien der Sittlichkeit entwickelt werden. 14 Hegel: Grundlinien [Anm. 9], § 317. 13

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über einen Maßstab zur Beurteilung der verschiedenen Meinungen, noch vermag er aus sich heraus – trotz der substantiellen Grundlage – zum bestimmten Wissen vorzudringen.15 Wenn das Wesen des Staates in der Moderne von den Wissenschaften erkannt wird, so scheint den Sphären »Religion, Kunst« in der Gegenwart weder für die Anschauung noch für die Konstitution der Sittlichkeit eine besondere Aufgabe zuzukommen. Im Moralitätskapitel macht Hegel deutlich, wie der in der religiösen Anschauung gegründete griechische Handlungsbegriff in der Tragödie anschaulich zur Darstellung kommt. Kunst und Religion übernehmen hier für das Handlungsverständnis und damit das Ethos dieser Gemeinschaft eine konstituierende, rechtfertigende wie auch verpflichtende Funktion. Für das Sittlichkeitskapitel der Grundlinien steht die Rekonstruktion der Bedingungen freier Handlungsformen als Recht im Vordergrund. Die Frage nach den Bedingungen, unter denen Kunst und Religion zu konstitutiven Prinzipien des Praktischen werden, rückt damit zwangläufig in den Hintergrund. Die entwicklungsgeschichtliche These, Kunst, Religion und Wissenschaft seien sich ablösende Gestalten der Anschauung des Staates, impliziert die konstitutive Wirksamkeit dieser Gestalten. Im Rahmen einer historischen Darstellung müßte Hegel deutlich machen, wie die Prinzipien des Praktischen in der Vergangenheit diese Gestalten aufnahmen und wie diese Gestalten das Gemeinwesen und seine politische Verfassung zu bestimmen vermochten. Für die Philosophie des Rechts erweisen sich dagegen Wissenschaft und Philosophie als für die Sittlichkeit konstitutiv. Die Ausgangsthese, das Wesen des Staates werde gegenwärtig durch die Wissenschaft erkannt, entwertet die Bedeutung von Kunst und Religion als Anschauungsformen der Sittlichkeit, insofern diese das Wesen der Sittlichkeit nur unzulänglich darstellen. Ihre Formen erreichen die Wirklichkeit nicht, bestimmen doch Verehrung und Anschauung deren Praxis. Auf welcher Grundlage kann diesen Formen im modernen Staat gleichwohl eine spezifische Rolle zugeschrieben werden ? Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang – was hier nur thesenartig geschehen kann – die Rolle der Philosophie bzw. Wissenschaft für die Sittlichkeit als einer Gestalt des Rechts. Zwei Gesichtspunkte sind für diesen Zusammenhang entscheidend. Einmal muß, damit Sittlichkeit Gegenstand der Wissenschaft zu werden vermag, die Praxis des Handelns eine bestimmte Gestalt haben: Die Handelnden müssen sich als Person und Subjekt begreifen. An den überlieferten Praxisformen ist von der Wissenschaft zu zeigen, wie diese Selbstbestimmung in den tradierten Formen ihre Erfüllung zu finden vermag. Damit konstituiert die Wissenschaft eine für »Person« und »Subjekt« adäquate Praxis als Wirklichkeit und macht deren Verpflichtung für jedermann verbindlich. Diese Wissenschaft kommt nun zum zweiten nicht von außen an ihren Gegenstand. Vielmehr will Hegel zeigen, daß zwischen der vorgängigen sittlichen Praxis 15

Vgl. ebd., § 318, 274.

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und der explizierenden bzw. konstituierenden Wissenschaft ein unlösbarer Zusammenhang besteht. Diesen Zusammenhang will Hegel am Leitfaden des Willens, als Wissen und Selbstbestimmung zum Handeln, entwickeln. »Sittlichkeit« als Gestalt des Rechts ist bewußte Handlung, ist »Wissen«, das durch den Willen als Wirklichkeit gesetzt ist. Die skizzierte »Rolle« der Philosophie stellt die Konzeption der Sittlichkeit als einer Gestalt des Rechts in den Kontext des Jenaer Anliegens, wo Hegel, um mit Haym zu sprechen, Religion, Kunst und Philosophie »in die Objektivität des sittlichen Geistes zurückbiegt«. Wie Kunst und Religion so geht allerdings auch die Wissenschaft aus dieser Praxis hervor – Praxis, Anschauungsform und Wissen bedingen sich gegenseitig. Nicht nur die Wissenschaft ist in die sittliche Praxis eingebunden und geht aus ihr hervor. Am Leitfaden des Willens lassen sich für Religion und Kunst vergleichbare Strukturen aufweisen. Hegel zeigt, wie in der Vergangenheit Religion und Kunst als spezifisches Handlungsverständnis das Zusammenleben normierten. Für die Gegenwart macht Hegel die Wirksamkeit dieses Handlungsverständnisses an »Ehe« und »Staat« deutlich. Für die Sittlichkeit als Rechtsgestalt ist die Ehe die »Identifizierung der Persönlichkeiten, wodurch die Familie eine Person ist«, dieser sittliche Geist ist »als die Penaten« verehrt worden. Es fällt auf, daß Hegel hier – wie in der Phänomenologie – erst dort, wo sich der Wille politisch-gesellschaftlich artikuliert, von »sittlichem Geist« spricht. Dieser sittliche Geist mache überhaupt das aus, »worin der religiöse Charakter der Ehe und Familie, die Pietät, liegt.«16 Der Zusammenhang zwischen tradierten Anschauungsformen und dem Wesen einer sittlichen Gestalt läßt sich folgendermaßen fassen: Erst dann, wenn das Wesen einer Praxisform als wirkliches selbstbestimmtes Handeln faßbar wird, erweist sich die ›religiöse‹ oder die ›ästhetische‹ Bestimmung dieses Handelns als eine mögliche Anschauungsform, die zwar nicht zur Wirklichkeit des Angeschauten als selbstbestimmtes Handeln gelangt, die aber gleichwohl zentrale Bestimmungsmomente dieser sittlichen Gestalt konstituiert. In der Ehe etwa ist es die »unendliche Wichtigkeit«, die aus der früheren Anschauungsform in die gegenwärtige wirkliche Gestalt eingeht. Die Ehe als Dasein des Rechts nimmt frühere Bestimmungsmomente dieser Praxisform – etwa die Verehrung des »unendlich Wichtigen« in den Penaten – auf und bringt sie in die für den sittlichen Geist angemessene Gestalt, insofern sie als Rechtsgestalt nicht mehr Gegenstand der Verehrung sondern Wirklichkeit ist. Damit hat sie als Praxisform die ihr angemessene Gestalt erlangt. Als Handlungsvollzug ist sie jetzt »natürlicher Lebensvollzug mit unendlicher Wichtigkeit«. Letzteres, die »unendliche Wichtigkeit«, geht aus der religiösen Gestalt in diese Praxisform ein, deren Wirklichkeit als natürlicher Lebensvollzug durch das Dasein als Gestalt des Rechts möglich geworden ist. Analog zur Konstitution der Familie als Rechtsgestalt rekonstruiert Hegel die 16

Ebd., § 163, 152.

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Einheit eines Volkes. ›Einheit‹ ist der moderne Staat durch das vernünftige gemeinsame Handeln. In der Vergangenheit waren es religiöse Anschauung, natürliche und geistige Mythologie, die die Einheit und Verfassung des Staates hervorbrachten.17 Die vormoderne – durch Religion und Kunst konstituierte – Sittlichkeit wird in der Moderne durch die Reflexionsform der Wissenschaft als Rechtsgestalt neu konstituiert: der als Wesen dieser Praxisform bestehende Anschauungsgehalt wird in eine Reflexionsgestalt transformiert. Hegel begreift diese Transformation als Realisierung der Praxis. Die Wesensmomente der ästhetischen oder religiösen Anschauung – die polis als Kunstwerk, der Staat als Gemeinde – sind in der Sittlichkeit als Rechtsgestalt realisiert. Damit realisieren die Handlungsformen des Staates die Forderung nach »politischer Tugend«18. Indem die Normen, die das Zusammenleben regeln, dem Subjekt nicht »ein Fremdes« sind, das verehrt und angeschaut wird, sondern die als der Ausdruck seines eigenen Wesens gewußt werden, ermöglicht diese Gestalt der Sittlichkeit eine Rekonstruktion der Sittlichkeit als Rechtsgestalt. Damit sind die vergangenen inhaltlichen Bestimmungen des Sittlichen für das Recht als Sittlichkeit aber unverzichtbar. Gegenwärtig ist dieser Inhalt des Sittlichen im »Selbstgefühl« des Subjekts, dieses bildet das durchgängige Prinzip der Sittlichkeit. Hegel charakterisiert dieses Verhältnis als »noch identischer als […] Glaube und Zutrauen«19. Diese Identität kann »in ein Verhältnis des Glaubens und der Überzeugung«, aber auch in »Einsicht durch Gründe« übergehen. Entscheidend ist, daß dieses »Selbstgefühl« als vorgängige und bewährte Handlungsform aller Anschauung und aller wissenschaftlichen Einsicht vorausliegt. Anschauung und Erkenntnis stiften in Deutungsformen eine Praxis und stellen das Bewährte auf Dauer. Hegel hat diese Entwicklung vom durch das Selbstgefühl getragenen Tätigsein hin zur bewußten, selbstbestimmten Handlung im Moralitätskapitel dargestellt. Was aus dem vorgängigen Selbstgefühl in die reflektierte Praxisform eingeht, liegt in der Selbstdeutung der Handelnden. In der Gegenwart wird diese Wirklichkeit von der Philosophie des Rechts aus dem geltenden Selbstverständnis, Person und Subjekt mit spezifischen Rechten zu sein, rekonstruiert: Sittlichkeit wird Dasein, Wirklichkeit dieser Rechte. Für die hier verfolgte Frage ist es entscheidend, wie diese vorgängige sittliche Einheit sich mit den bloß abstrakten Rechtsformen zu verbinden vermag im Dasein als Recht. Dabei muß die Doppelsinnigkeit im Rechtsbegriff beachtet werden. »Recht« ist einmal das abstrakte allgemeine Recht, das alle Menschen zu Personen macht. »Recht« als Dasein der Idee ist für Hegel aber auch die Vereinigung dieses formalen Rechtsprinzips mit den substantiellen Bestimmungen einer Praxisform. 17 Die Vorlesung des Wintersemesters 1817/18 entwickelt die Verfassungslehre auf der Basis dieser unterschiedlichen religiösen Bedingungen, vgl. Hegel: Wannenmann [Anm. 8], § 135, 192 ff. Zu diesem Zusammenhang vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Hegel-Studien Beiheft 25, Bonn 1984, 215 ff. 18 Hegel: Grundlinien [Anm. 9], § 257, 208. 19 Ebd., § 147, 143.

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Wenn Hegel das »Selbstgefühl« als den Ort der inhaltlichen Bestimmtheit der Sittlichkeit erklärt, so stellt sich die Frage, wo dieses »Selbstgefühl« in der Rechtsphilosophie seinen Ort hat ? Weder als Person noch als Subjekt erreicht das Individuum eine Wirklichkeit, die diese Einheit zwischen Selbst und Welt realisiert. Der Inhalt des »Selbstgefühls« ist weder »Sache« noch »Wohl«. Erst dort wo der Mensch als Mensch, als Bedürfniswesen gegenständlich wird, wird diese Wirklichkeit erreicht: Erst in der bürgerlichen Gesellschaft wird dieses »Selbstgefühl« gegenständlich. Und hier läßt sich auch die Rolle von Kunst und Religion für die Sittlichkeit als »Selbstgefühl« weiter bestimmen. Die Stellung von Kunst, Religion und Philosophie ist für die Sittlichkeit als Rechtsgestalt nicht nur mit Blick auf deren Stellung als rechtsförmige Gestalten zu klären, wie im Paragraphen 270. Darüber hinaus ist ihre »Beziehung und Stellung im Staate« zu entwickeln. Hegel verweist darauf, daß diese Aufgabe in einer »konkreten Abhandlung« zu lösen sei, für die das Eingehen dieser Gestalten in die daseienden Rechtsgestalten von Interesse ist. Was Hegel in der geplanten Staatspädagogik zu diesen Problemen beitragen wollte, muß offen bleiben. Allerdings finden sich auch in den Grundlinien entscheidende Hinweise zu diesem Problem. Im »Abstrakten Recht« entwickelt Hegel ausgehend vom Personenbegriff das Eigentums- und Vertragsrecht. Die Veräußerung setzt die Bestimmung des quantitativen Wertes einer Sache voraus. So werden auch »Wissenschaften, Kunst und religiöse Objekte zu anerkannten Sachen in Weise des Kaufens, Verkaufens u.s.f.«20. Der Widerspruch, den diese Behandlung auslöst, dies seien doch keine Sachen, sondern dem »freien Geist eigen und Innerliches«, kann auf dem rein rechtlichen Standpunkt eines abstrakten Rechtsbegriffs nicht gelöst werden. Setzt diese Frage doch Kriterien voraus, die eine Unterscheidung zwischen Sache und Nicht-Sache erlauben. Ob eine Sache aber ihrer Natur nach ein Innerliches, ein Gut ist, vermag erst dann bestimmt werden, wenn Einsicht in jene Bedingungen gewonnen wird, die aus der Sache ein Gut mit allgemeinem Wert macht. Das Gutsein, die Werthaftigkeit einer Sache, erweist sich in dem sie durch die Arbeit zu einem Vermögen wird. Geistige Produktionen eines Schriftstellers oder Erfinders etc. können durch den Verkauf zu äußerlichen Sachen werden, so daß der neue Besitzer nicht nur diese einzelne Sache erwirbt, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, »solche Produkte […] als Sachen gleichfalls hervorzubringen«.21 Eine Sache ist in diesem Fall nicht nur Besitzung sondern auch Vermögen. Als »Vermögen« aber ist es zunächst – etwa in der Familie – bleibender und sicherer Besitz. Das jeweils besondere Vermögen, seine Bildung und Geschicklichkeit befähigen das Individuum, für seine Subsistenz zu sorgen.22 Dieses Vermögen ist Teil des allgemein bleibenden Vermögens der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Vermögen 20 21 22

Ebd., § 43, 56. Ebd., § 69, 75. Vgl. ebd., § 199, 174.

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bildet die Basis für das Selbstgefühl des Individuums; das »Selbstgefühl« gehört somit in den Zusammenhang von Bedürfnis, Arbeit und Vermögen. Besondere Individualität, Vermögen und Selbstgefühl stehen im Gegensatz zu der formal rechtlichen Allgemeinheit und Gleichheit, denn das Aufgehen des rein quantitativen Sachwerts in der formal abstrakten Rechtsform widerspricht der qualitativen Werthaftigkeit, dem Gut-Sein einer Sache, insofern sie besonderes Vermögen ist. Daseiendes Recht wird die abstrakte Rechtsform nur dort, wo sie aus diesem besonderen Vermögen hervorgeht, und in eine Wirklichkeit als Allgemeinheit einzugehen vermag. Diese Handlungsoption eröffnen für Hegel die Institutionen »Ehe« und »Staat«. Ein spezifischer Inhalt, ein aus dem Vermögen hervorgegangenes Gut geht in die abstrakte allgemeine Rechtsform ein, und verleiht dieser als daseiendem Recht Bedeutung und Existenz.23 Sich zum Menschen bestimmen und als Mensch gelten kann der Einzelne nur als besonderes Individuum mit spezifischem Vermögen. In der bürgerlichen Gesellschaft bleibt diese Spannung zwischen Besonderheit und Allgemeinheit der Rechtsformen bestehen, hier ist die Allgemeinheit der Freiheit nur abstrakt als Recht des Eigentums in der Rechtspflege etc. verwirklicht. Entscheidend ist, daß erst die Besonderheit als Vermögen diese Daseinsformen des Rechts hervorbringt. »Es ist aber diese Sphäre des Relativen, als Bildung, selbst, welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes zu sein, und vermittelt durch dies Gewußt- und Gewolltsein Gelten und objektive Wirklichkeit zu haben.«24 Es ist das jeweils besondere Vermögen im umfassenden Sinne, das, bestimmt durch Herkunft, individuelle Geschicklichkeit, die jeweilige intellektuelle und moralische Bildung, unsere Identität formt. Gegenüber der rechtlichen Bindung und Verpflichtung ist dies der Ort unserer menschlichen Existenz. Die sittlichen Gestalten, Ehe und Familie, Rechtspflege, Polizei und Korporation gehen als Handlungsformen auf dieses Vermögen zurück. In der »Bürgerlichen Gesellschaft« rekonstruiert Hegel die Wurzel der Sittlichkeit als Recht in Bedürfnis, Arbeit und Vermögen; die »Rechte der Besonderheit«25 gehören somit unauflöslich zur Sittlichkeit. Das besondere Individuum, indem es die Bedingtheit seiner Besonderheit reflektiert, d.h. über Bildung verfügt, bringt das Dasein des Rechts als allgemeines Anerkanntsein hervor. Dieses Vermögen, das die individuelle Besonderheit ausmacht, konstituiert allererst das Dasein des Rechts. Gegenüber diesem reflektierten Handeln stehen »Familie« und »Staat« für eine differenzlose Einheit zwischen der Besonderheit der Einzelnen und den abstrakten Rechtsformen. Für den hier betrachteten Zusammenhang ist entscheidend, daß alle drei Gestalten der Sittlichkeit (Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat) aus der Arbeit und Vgl. ebd., § 209, 180. Ebd. 25 So geht die Differenzierung des Vermögens nicht aus dem Allgemeinen hervor, sondern es ist »die im System menschlicher Bedürfnisse immanente Vernunft, welche dasselbe zu einem organisch Ganzen von Unterschieden gliedert.« (ebd., § 200, 175.) 23 24

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dem Vermögen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen und auf dem Selbstgefühl der Individuen gründen. Wirklichkeit und Dauer erhält dieses Selbstgefühl als rechtlich gesicherte Handlungsform. Es ist dieser Zusammenhang, der den Staat verpflichtet, jene Vermögen – und hierzu gehören Kunst, Religion und Wissenschaft – unter besonderen Schutz zu stellen und zu befördern. »Früher«, so Hegel in der Vorlesung 1817/18, »sorgten für Religion die Gottesfurcht und für Kunst und die Wissenschaften die Fürsten«. Die Sorge für diese Sphären war damit zufällig. Erst die Einsicht, in die das sittliche Handeln ermöglichende »Vermögen«, begründet den besonderen Schutz und die Pflege, die der Staat diesen Sphären zukommen läßt. Begrenzt wird die Wirksamkeit dieser Sphären durch das konstitutive Prinzip der Sittlichkeit. So dürfen etwa die Personen, »die sich diesen Sphären widmen«, sich »nicht so tief darin verlieren, daß sie sich selbst verlieren«26 – ihre Arbeit muß vielmehr auf die Wirklichkeit gerichtet sein. Den hier geltenden Pflichten sind somit auch die Gestalten des absoluten Geistes unterworfen. Welchen Zielsetzungen staatliches Handeln zu folgen hat, soll abschließend gefragt werden. Beschränken möchte ich mich auf die Rolle der Kunst in der »Kulturpolitik« des Hegelschen Staates.27 Mit Blick auf die Frage, inwieweit die Hegelsche Konzeption Kunst als Gegenstand politischen Handelns vorsieht und die Ablösung des traditionellen Modells der »Kultusministerien« hin zur modernen Kulturpolitik vorwegnimmt, können hier nur einige Gesichtspunkte diskutiert werden.28

III. Rechtsphilosophie und Kulturpolitik Die in der Nachschrift Wannenmann überlieferte Formulierung29: »Kunst, Religion und Wissenschaft bringen die Anschauung des Wesens des Staates hervor«, und dies sei vom Staat als Zweck an sich zu betrachten, da er gerade »durch diese Anschauung gerechtfertigt wird«, ist von Hegel in korrigierter Form in die Druckfassung übernommen worden. Die Korrekturen machen deutlich, daß mit dieser Aussage Hegel: Wannenmann [Anm. 8], 245. Für die Philosophie ist die Konzeption, die von Kant herkommend für die preußische »Kulturpolitik« bis 1818 entscheidend war, durch Hermann Lübbe aufgearbeitet worden. Vgl. Hermann Lübbe: Deutscher Idealismus als Philosophie preußischer Kulturpolitik, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert. Hegel-Studien Beiheft 22, Bonn 1983, 3-27. 28 Bezüglich der Zuständigkeit der offiziellen Ämter in Preußen hat Walter Jaeschke bereits deutlich gemacht, daß die Politik des Ministeriums Altenstein sich nicht als »Kultur«-Politik versteht. Dieses Ministerium »verwaltet ein Aggregat dreier Bereiche, deren dritter, die Medizinalpolitik, sich ohnehin wieder von den Bereichen »Bildung« und »Religion« getrennt hat«. »Erst das Zusammentreten der Bereiche »Bildung« und »Kunst« definiert den Gegenstand der modernen Kulturpolitik«. Walter Jaeschke: Politik, Kultur und Philosophie in Preußen, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels [Anm. 27], 29-48, hier 30. 29 Hegel: Wannenmann [Anm. 8], 245. 26 27

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ein spezifisch historischer Standpunkt eingenommen wird, der die Aussage der Vorlesung dahingehend relativiert, daß diese Formen in der Vergangenheit das Wesen des Staates bestimmt haben. Heute aber ist das Selbstverständnis der Handelnden entscheidend. Den Zusammenhang zwischen Selbstverständnis, individueller Besonderheit und allgemeinen Rechtsformen entwickelt Hegel im Abschnitt Bürgerliche Gesellschaft, wenn er die Wechselbeziehung von allgemeinen Rechtform und besonderer Individualität herausarbeitet. Die »Sittlichkeit« als Rechtsgestalt ist als das Dasein des Rechts nicht ohne jene individuelle Besonderheit zu verwirklichen: wird die individuelle Besonderheit doch erst durch Bildung – und d.h. durch Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen der jeweiligen Besonderheit. Das Dasein des Rechts – als von den bloß abstrakten Rechtsformen unterschieden – verwirklicht die Einheit von individueller Bestimmtheit und allgemeiner Geltung. Erst diese Formen daseienden Rechts vermögen das gegenüber der individuellen Besonderheit restriktive Vorgehen des Rechts im Gesetz zu legitimieren. Zwei kulturpolitische Konsequenzen sind aus dieser Bestimmung der Sittlichkeit als daseiender Rechtsgestalt zu ziehen. Zur Sicherung der rechtlichen Gestalt der Sittlichkeit muß es dem Staat einmal darum gehen, durch Einsicht und Bildung die Bedingungen der Freiheit für jedermann durchsichtig zu machen. Diese Aufgabe übernehmen die Wissenschaften, aber auch das Museum als der Ort geschichtlichen Lernens. Hegel hat die Gründung des Berliner Museums mit Interesse verfolgt.30 Die Absicht allerdings, hier durch eine Kunstreligion die Einsicht in die Bedingung der Freiheit verzichtbar zu machen, mußte Hegels Konzeption strikt zuwiderlaufen. Das Museum ist ihm ein Ort der Bildung, mit Rotunde und Fassade verfolgt Schinkels Bau aber eine weitere Zwecksetzung31: »Die Rotunde zielt auf eine Erhebung des Subjekts, bevor es sich in den Sälen der Betrachtung der Kunst widmete«. Hegel ging es um das Studium der Geschichte der Kunst. In dieser Bildungsfunktion bleibt das Museum streng von der Religion getrennt und kann diese auch nicht ersetzen. Die Sittlichkeit geht zum anderen auch als Gestalt des Rechts auf jene Gestalten zurück, die unser menschliches Selbstverständnis bestimmen, und hierzu gehören für Hegel die Religion wie auch die Kunst.32 Auch die Praxisformen der Moderne 30 Vgl. Otto Pöggeler: Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, XVIII (1981), 355-376. 31 Hermann Lübbe: Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgründung 1830, in: Hermann Lübbe: Die Aufdringlichkeit der Geschichte, Graz / Wien / Köln 1989, 187-206, hier 197. 32 Für die Religion erklärt Hegel es zu einem Recht des Staates, »von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß sie sich zu einer Kirchengemeinde halten – übrigens zu irgendeiner«. Grundlinien [Anm. 9], § 270, 225. Kirchenpolitisch impliziert diese Forderung eine Absage an eine staatskirchlich verfaßte Religiosität zugunsten einer Stärkung der Autonomie der Kirche. Inwiefern Hegel hier die Linie der Kantischen Religionsphilosophie – Religion als Medium der Moralitätsbeförderung – fortsetzt, wäre im einzelnen zu prüfen. Vgl. zu dieser Frage insgesamt den Beitrag von Lübbe [Anm. 27], 18 ff.

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gehen aus diesen Vermögen hervor. Bei der Vermittlung zwischen den individuellen Besonderheiten und den abstrakten Rechtsformen mißt Hegel der Kunst eine besondere Funktion bei, wie die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, etwa in der Schiller-Kritik, zeigen.33 Für Hegel bleibt die moderne Dichtung zum einen auf eine partielle Rolle beschränkt, insofern sie in der Gegenwart eine allgemein verbindliche Handlungsorientierung nicht zu stiften vermag. Als vergangene Kunst vermag sie uns über die Bedingungen der Gegenwart zu belehren. Als Gestalt der Gegenwart aber hat die Kunst die Möglichkeiten, unser Selbstverständnis als reflektierende, Rechtfertigung fordernde Individuen zu bestimmen. Trotz ihrer Partialität kommt der Kunst eine herausgehobene Rolle zu, insofern sie neben Bildung auch als Vermögen der Individuen wirksam ist. Nach der politischen Entmachtung von Kirche und Fürsten übernimmt der Staat die Verantwortung, so Hegel in Paragraph 158 der Vorlesung, für Institutionen und Werke aus Religion, Kunst und Wissenschaft. Hegel fordert von der inneren Verwaltung des Staates (d. i. Polizei), diese Sphären zu schützen. »Die bloß negative, aber allererste Beförderung der Wissenschaft und Künste ist, diejenigen, die darin arbeiten, gegen Diebstahl zu sichern und ihnen den Schutz ihres Eigentums angedeihen zu lassen«34. Eine Forderung, die Kulturpolitik auf rechtliche Maßnahmen beschränkt. Werden Werke als »lebendige und selbständige Zwecke«, als öffentliche Denkmale preisgegeben, werden sie wie die Kirchengüter in der französischen Revolution zu herrenlosem und zufälligem Privatbesitz, so liegt es im staatlichen Entscheidungsspielraum, diese Güter als allgemeines Vermögen sicherzustellen und im Museum als allgemeines Bildungsgut zu bewahren. Diese Aufgabe rechtfertigt sich für Hegel aus den notwendigen Bedingungen jeder rechtlichen Ordnung: Das Individuum muß in dieser Ordnung Sphären der Einheit zwischen individueller Besonderheit und der geltenden Allgemeinheit finden. Mit der Sicherstellung dieser Sphären greift Hegels Staatskonzeption über eine bloße Kulturverwaltung hinaus und fordert vom Staat kulturpolitische Zielsetzungen.

33 Zu Hegels Schiller-Kritik vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, CXCV. 34 Hegel: Grundlinien [Anm. 9], § 69, 76.

Hegel über Kunst und A lltäglichkeit Zur Rehabilitierung des ästhetischen Genusses Von Annemarie Gethmann-Siefert

Hegels Ästhetik ist auch heute noch eines der gemeinsamen umstrittenen Themen in Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Kunstsoziologie. Doch scheint es, daß die Beschäftigung mit Hegels Ästhetik, die bereits nach 1820 bei den Hörern seiner Berliner Vorlesungen über »Ästhetik oder Philosophie der Kunst« einsetzte, heute wenig Interessantes, vor allem kaum neue Aspekte bietet. Ganze Heerscharen kompetenter Interpreten haben Hegels Ästhetik als Steinbruch für gute Ideen genutzt. Sie haben dort frappierend gute Charakteristiken einzelner Phänomene gefunden und Hegel dann doch als dogmatischen Systematiker des absoluten Wissens kritisieren müssen. Was sollte sich also an dieser permanent, weil zwangsläufig frustrierten Liebe zu Hegel, dem »großen Phänomenologen« (wie Odo Marquard sagt), geändert haben, da sich Hegel, der philosophische Systematiker, nicht wegdiskutieren läßt? Dennoch bringt gegen allen Anschein und alle Erwartung – so meine These – die gegenwärtige historisch-kritische und philologische Arbeit an den Quellen zu Hegels Ästhetik neue Aspekte zutage. Diese Arbeit an den Quellen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen in den Jahren 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29 ist noch relativ jungen Datums und wird bislang wenig beachtet. Dennoch geben die bisherigen Studien auf der Textgrundlage der Vorlesungsquellen zu der Hoffnung Anlaß, durch das Studium der Nachschriften einen neuen, anderen Hegel zu entdecken. Dieter Henrich vermutete vor geraumer Zeit, daß die historisch-kritische Edition der Hegelschen Ästhetik uns von Hegels dogmatischem System erlösen könnte, weil der Philosoph in diesen Vorlesungen, seiner reichen Kenntnis der Künste folgend, die eigene These vom Ende der Kunst vergessen habe. Diese Hoffnung bestätigt sich in der genaueren Bearbeitung der Quellen nicht. Dennoch gewinnt man durch Hegels Vorlesungen zur Ästhetik oder Philosophie der Kunst vor allem ein interessantes Korrektiv gegen verfestigte Positionen der ästhetischen Diskussion. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die unmittelbare Auseinandersetzung mit Hegel, sondern auch in bezug auf über Hegel hinausgehende, von ihm unabhängige philosophische Bestimmungen der Kunst. Vor allem die viel beschworene These von der Autonomie der Kunst, aber auch die ihr zugrundeliegende Trennung von Kunst und Alltäglichkeit werden in Frage gestellt.

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I. Klassizismus und die These vom »Ende der Kunst« Will man Hegels Ästhetik als einen auch heute noch interessanten und diskutablen Versuch philosophischer Ästhetik akzeptieren, will man mit anderen Worten die vielbeschworene »Aktualität« der Hegelschen Kunstphilosophie nachweisen, so steht diesem Versuch zunächst ein gravierendes Hindernis entgegen. Hegel hat nicht nur dem systematischen Aufriß der Enzyklopädie, sondern auch seinen Vorlesungen die These vom Ende der Kunst bzw. vom Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten geschichtlichen Möglichkeit nach zugrunde gelegt. Verknüpft mit dieser These scheint Hegel einen »Klassizismus« in der Kunstbewertung zu fordern und selbst zu vertreten, der seine Ästhetik undiskutabel werden läßt. Daher steht und fällt die Aktualität der Hegelschen Ästhetik mit der Antwort auf die »Gretchenfrage«: »Sag’, wie hältst Du’s mit der ›schönen Kunst‹?« Diese Frage scheint Hegel jedenfalls in ihrer kritischen Potenz nicht ernst zu nehmen. In der gedruckten Ästhetik 1 finden sich beispielsweise zahlreiche emphatische Lobpreisungen schöner Künste. Die Suche nach der Schönheit bleibt dabei keineswegs auf den Kontext griechischer Kunst, damit insbesondere auf die schöne Skulptur der Antike beschränkt, sondern die Ästhetik dehnt sie auf alle Künste aus, sie wird offensichtlich zum leitenden Aspekt von Hegels gesamter Kunstbeurteilung. Während es in der Architektur noch um das Erhabene geht, entdeckt Hegel nach dem Zeugnis der Ästhetik in der Malerei, der Musik, der Poesie schöne Werke der Kunst, ja er scheint vordringlich nach solchen zu suchen und seine Reflexionen prinzipiell wie generell an der Charakteristik schöner Kunstwerke zu orientieren. Daher räumt die Ästhetik, so wie wir sie seit mehr als 150 Jahren kennen, das angesprochene Problem nicht aus. Hegels Fixierung auf die große Kunst und seine Auszeichnung der schönen Kunst bleiben als störendes Vorurteil in der philosophischen Reflexion wirksam. Bei aller Differenziertheit im einzelnen scheint auch Hegels Bestimmung des Kunstwerks im allgemeinen letztlich durch den »Klassizismus« vorgeprägt zu sein: Nur vollendet schöne Kunst ist ein Kunstwerk im Vollsinn. Darum wird Hegels Ästhetik auch in den meisten gegenwärtigen Interpretationen als inaktuell zurückgewiesen oder schlicht übergangen. Sie bleibt an einer Kunst orientiert, die nicht die unsere ist; sie richtet die Philosophie an Phänomenen aus, die der Vergangenheit angehören, und ihre Reflexionen stehen deshalb der Gegenwart der Künste fern. Eine philosophische Durchdringung dieser Art kann sowohl im Blick auf die Künste, die Hegel selbst zur Kenntnis nahm, als auch angesichts der gegenwärtigen Vielfalt des Phänomens eine nur geringe Problemlösungskapazität für sich beanspruchen. Die Relevanz einer solchen Ästhetik steht in Frage. 1 Auf die von Heinrich Gustav Hotho herausgegebene dreibändige Ästhetik (G.W.F. Hegel’s Vorlesungen über die Ästhetik, in: G.W.F. Hegel’s Werke – Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 10. 3 Abt., hg. von Heinrich Gustav Hotho, Berlin 11835-38, 21842) wird im Text jeweils mit kursiviertem Titel verwiesen (Ästhetik). Auf die Nachschriften zu den Vorlesungen wird im einzelnen hingewiesen.

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A. Zukunft statt Ende der Kunst: Der Ansatz der Hegelschüler Es war schon den Schülern und Freunden Hegels bewußt, wie fatal sich die These vom Ende der Kunst für die Begründung einer systematischen philosophischen Ästhetik auswirken kann. Deshalb finden sich im Umkreis Hegels allenthalben Versuche, die These vom Ende bzw. Vergangenheitscharakter durch die Gegenthese von der unabschließbaren Zukunft der Kunst zu ersetzen. Allerdings hat auch diese These inhaltliche Konsequenzen, die sich – so viel sei vorweg gesagt – nicht weniger problematisch auswirken, als die der ursprünglichen Hegelschen These. Zunächst wird das Problem durch die Ästhetik selbst verschärft, und Hegels Stellung in der Frage nach der gegenwärtigen geschichtlichen Bedeutung der Kunst wird ebenso wie seine Option für die schöne Kunst nicht nur unklar, sondern verzerrt dargestellt. Wie bereits erwähnt, ist die Ästhetik in ihrer Grundkonzeption offensichtlich »klassizistisch«. Allerdings geht der Klassizismus, die Ausrichtung an der schönen Kunst und – genauer noch – am griechischen Ideal mit dem Versuch einher, die These vom »Ende der Kunst« abzumildern. Der Herausgeber von Hegels Vorlesungen über Ästhetik, sein langjähriger Schüler Heinrich Gustav Hotho, kann diese These selbstverständlich nicht aus der Druckfassung der Ästhetik eliminieren, da Hegel sie in allen Vorlesungen eingangs vorgetragen hat. So wird die Position anfänglich erwähnt und korrekt überliefert. Die am wenigsten akzeptable These der Hegelschen Philosophie der Kunst wird in der Ästhetik dadurch zwar ausgesprochen, aber im einzelnen, in der Entwicklung der philosophischen Ästhetik durch die Charakteristik zahlreicher Kunstwerke aller Epochen und Kulturen, nicht vollzogen. Hegel entdeckt – traut man seiner Ästhetik – in allen Künsten und zu allen Zeiten immer wieder schöne Kunst, die sich mit der idealen Kunst des Griechentums messen kann, wenn sie dieser auch nicht ganz zur Seite gestellt werden darf. Es scheint selbstverständlich, daß die Auszeichnung der Kunst durch »Schönheit« mit ihrer Auszeichnung als Kunstwerk identisch ist. Darüber hinaus gibt es in der Fülle der Kunstbeurteilungen und Kritiken (negativen wie positiven) der Ästhetik anders als in Hegels Vorlesungen eine Reihe von Widersprüchlichkeiten, die häufig durch eine »Dialektik« der Herleitung des einen aus seinem Gegenteil überspielt werden. Da diese Ungereimtheiten in den Vorlesungsnachschriften nicht tradiert werden, scheint die wohlwollende Editionsarbeit Hothos ausgerechnet das Grundproblem zu verschärfen. Die Identifikation von schöner und großer Kunst, die Unterstellung, solche Kunst lasse sich zu allen Zeiten, insbesondere auch in den bildenden Künsten und der Poesie der Moderne entdecken, verfehlt Hegels Absicht. Was in der Ästhetik als schöne Kunst und wahrhaftes Kunstwerk ausgezeichnet wird, erscheint in den verschiedenen Vorlesungen zur Ästhetik oft nur am Rande, wird sogar explizit für weniger interessant erklärt.2 Diese Diskrepanz zwischen der Ästhetik und den Quellen zu Hegels Vorlesungen ist bereits in einigen Überlegungen dargestellt worden. Vgl. z. B. Annemarie Gethmann-Siefert: 2

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Hegel ist in den Vorlesungen durchweg daran interessiert, die Kunst, deren Inhalt – wie er es definiert – der »humanus«, das Menschliche generell und in all seinen Erscheinungsweisen ist, zu diskutieren. Künste, die diesen Inhalt darstellen, unterzieht Hegel einer prüfenden Kritik. Dabei ist seine Leitfrage immer, ob es sich um Kunstwerke handele, die in ihrer geschichtlichen Rolle und Wirkung die Bedeutung der Kunst entsprechend zu ihrer Funktion in der Antike und der orientalischen Welt aufrechterhalten. In der Ästhetik werden aber gerade die von Hegel in diesem Zusammenhang angeführten Kunstwerke häufig von vornherein abgetan, weil sie der bloßen »Alltäglichkeit«, der »Prosa des gemeinen Lebens« verhaftet und der wahren Kunst entgegengesetzt seien. Statt ihrer fügt Hotho eine Reihe akzeptablerer Beispiele, vor allem schöne Werke mit christlichem Inhalt ein, um »Hegels« Kunstgeschmack aufzubessern und die These vom Ende der Kunst sozusagen im Vollzug aufzuheben. Hegel erscheint in solchen Erörterungen als der umfassend gebildete Polyhistor und Kenner, der mit sicherem Griff die Spreu vom Weizen, das ästhetisch Verwerfliche und Problematische vom Schönen trennt. Dieser großangelegte Rettungsversuch der Hegelschen Ästhetik durch die Integration einer Fülle von Kunsturteilen, in denen mit höchstrichterlicher Strenge – im Sinne der »spekulativen Kunstgeschichte« Hothos3 – über Kunst und Unkunst entschieden wird, führt in der Ästhetik zu vielen Ungereimtheiten. Dennoch scheitert die »Rettung« nicht an diesen Ungereimtheiten, sondern eher daran, daß der Großteil der in die Ästhetik eingeflochtenen Kunsturteile Hothos Ansicht wiedergibt, nicht die seines Lehrers Hegel. Die Gedanken, die Hegel in seinen Vorlesungen den Studenten Ästhetik oder Philosophie der Kunst – Die Nachschriften und Zeugnisse zu Hegels Berliner Vorlesungen, in: Hegel-Studien 26 (1992), 92 ff.; dies.: Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823 – Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 2) (im folgenden: Hotho 1823), XV ff. Die Beiträge des Bandes Phänomen versus System – Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1992 (Hegel-Studien, Beiheft 34), beschäftigen sich mit weiteren Problemen dieser Art. Fallstudien mit ähnlichem Ergebnis sind z. B. auch Annemarie Gethmann-Siefert und Barbara StemmrichKöhler: Faust: Die »absolute philosophische Tragödie« und die »gesellschaftliche Artigkeit« des Westöstlichen Divan – Zu Editionsproblemen der Ästhetikvorlesungen, in: Hegel-Studien 18 (1983), 23 ff. Ebenso: Annemarie Gethmann-Siefert: Die Kritik an der Düsseldorfer Malerschule bei Hegel und den Hegelianern, in: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte, hg. von Gerhard Kurz, Düsseldorf 1986, 295 ff. 3 Hotho entwickelt diese Transformation der Hegelschen Ästhetik zur definitiven Kunstbeurteilung und -kritik auf der Basis historischer Kenntnis als seine »spekulative Kunstgeschichte« in vielen Publikationen. Oft entlehnt er hierfür Hegelsche Gedanken und Formulierungen, die er entsprechend umformt oder durch Kontextänderung in ihrem Sinn modifiziert. Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: H.G. Hotho: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht – oder die entpolitisierte Version der ästhetischen Erziehung des Menschen, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983 (Hegel-Studien, Beiheft 22), 229 ff.

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vorgetragen hat,4 werden in der Ästhetik nicht korrekt tradiert. Stützt sich der Nachweis der Aktualität der Hegelschen Ästhetik auf die Druckfassung dieser Vorlesungen, die Ästhetik, so bleibt er ein Nachweis der Aktualität Hothoscher, nicht Hegelscher Behauptungen und Einsichten. In eigenen Publikationen vereinfachen sich die Hegelschüler den etwas diffizilen und für die Rettung Hegels prekären Sachverhalt. Sie gehen nicht mehr (wie Hotho in der Druckfassung der Ästhetik) von einer Vereinbarkeit der These vom Ende der Kunst mit der Auszeichnung großer Kunst in Vergangenheit wie Gegenwart aus, sondern ersetzen die These vom Vergangenheitscharakter durch die These von der unabschließbaren Zukunft der Kunst. Wie Hegel bleiben sie an einer systematischen Ästhetik orientiert. Zugleich soll die Systematik aber die unabschließbare Zukunft der Kunst offenhalten, die je neue Entwicklung bestärken, nicht unterdrücken. Auf diese Weise vermeidet die systematische Ästhetik die oft kritisierte Überfremdung des Phänomens durch den Begriff. Die Kunst bleibt nicht mehr auf eine vollendete Vergangenheit festgelegt, die Ästhetik muß nicht klassizistisch werden, wenn sie systematisch grundgelegt wird. Die inhaltlichen Überlegungen, durch die die Defizite der Hegelschen Ästhetik behoben werden sollen, erweisen sich im einzelnen als fragwürdig. Paradoxerweise gelingt es einzig dem Hegelkritiker Theodor Mundt, die Hegelsche systematische Ästhetik mit dieser neuen These von der Zukunft der Kunst in einer Weise zu verknüpfen, die die Vorurteile eines systematischen Dogmatismus umgeht, ohne in inhaltliche Festlegungen der Kunst, in eine ›Ideologie‹ der Künste zu verfallen.5 In seinen eigenen Publikationen entwickelt der Hegelschüler Heinrich Gustav Hotho eine Konzeption der Bildung durch Kunst, die Hegels Verständnis dieser Bildung diametral entgegengesetzt ist. Hegel entwickelt in seiner Philosophie der Geschichte, der Religion oder der Kunst die Konzeption einer »formellen Bildung« durch geschichtliche Inhalte. Geschichte, Religion oder Kunst vermitteln eine Einsicht in das, was menschlich und menschenmöglich ist, sie schreiten aber nicht zur umfassenden inhaltlich-affirmierten Ausbildung eines eigenen neuen Lebensgefühls für die moderne Welt fort. Ein solches Lebensgefühl der modernen Welt versucht Hotho aber durch die Kunst und ihren an der Kunstgeschichte geschulten spezifischen Vollzug, die wissenschaftlich und philosophisch-spekulativ fundierte Begeisterung für das Schöne, zu gewinnen. Er entwickelt eine Konzeption der Hotho selbst ist sich dieser Diskrepanz durchaus bewußt, denn er weist im Vorwort der 1835 erschienenen ersten Auflage der Ästhetik auf das Problem hin, daß viele der ehemaligen Hörer die Hegelschen Vorlesungen in der Druckfassung nur schwer wiedererkennen werden. Das Versprechen, durch einen genauen Quellennachweis die Authentizität aller Gedanken, die in der Ästhetik zu finden sind, nachzuweisen, löst Hotho nicht ein. Es wird in der zweiten Auflage 1842 nicht einmal mehr genannt. Vgl. zur näheren Darstellung: Annemarie Gethmann-Siefert: Ästhetik oder Philosophie der Kunst [Anm. 2], 102 ff. 5 Vgl. dazu Theodor Mundt: Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit, Göttingen 1966 (Nachdruck). Vgl. dazu auch Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte – Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, Bonn 1984 (Hegel-Studien, Beiheft 25). 4

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»spekulativen Kunstgeschichte«, in der er die philosophische Reflexion, die historische Kenntnis, die individuelle Bemühung und Begeisterung zu einem Kunsterleben zusammenschmilzt, das den Menschen erst zum Menschen emporhebt.6 Es geht ihm also nicht wie Hegel um eine Bildung des Bürgers durch Kunst, sondern um eine Bildung zur Kunst. In zahlreichen Veröffentlichungen, die alle Sparten dieser spekulativen Kunstgeschichte abdecken, verfolgt und verteidigt Hotho dieses Programm einer Bildung des Menschen zum Vollzug seiner höchsten Selbstverwirklichung, zum Gefühl für das Schöne im Erleben der Kunst. Da solchem Erleben spekulativ gesichert nur Wertvolles zugeführt werden darf und kann, muß umgekehrt die philosophische Ästhetik die Garantien für Letztgültigkeit übernehmen, sie muß richterlich Kunst von Unkunst sondern, um dem Gefühl das zur Bildung des Menschen Zuträgliche aus der Vielfalt der Künste vorzugeben. Der Enkelschüler Hegels, Friedrich Theodor Vischer, fordert in seiner Auseinandersetzung mit Hothos Konzeption der Kunstgeschichte dezidiert, diese Konzeption noch einmal zu verschärfen. Es muß in der Gegenwart (der Nachhegelianer) darum gehen, so betont er, eine »deutsche« Kunstgeschichte zu schreiben. In einer solchen Kunstgeschichte wird die gesamte Entwicklung der Kunst teleologisch auf die Kunst der Gegenwart, und zwar auf deren Vollendung in der germanisch geprägten Kultur, zugespitzt. Während Hotho in der schönen (idealischen) Kunst des Mittelalters, insbesondere in der Renaissance-Malerei und dem »schönen Rittertum« eine Orientierungsmöglichkeit entdeckt, geht Vischer einen Schritt weiter. Er will, daß aus dem Reich der Kunst all das ausgemerzt werde, was dem deutschen Geist widerspricht. Beispielsweise fordert er, eine »Malerei der christlich-germanischen Bildung« zu entwickeln, scheint es ihm doch »längst eine Forderung der National-Ehre«, der Welt eine solche Geschichte der deutschen Malerei zu geben. Der Stil der germanischen Kunst, also der vollendeten Kunst der Gegenwart, ist geprägt durch »derbe, selbst etwas wilde und rohe Formen, aber frisch und tüchtig, feurig bewegt oder behaglich ruhend, phantasievoll humoristisch, freundlich gefühlvoll« etc. Ein solcher »markiger Stil« prägt dann ein Ideal von Kunstgeschichte, das darauf abgezweckt ist, die Kunst als eine Blüte darzustellen, die »ihre Wurzel tief in dem gesamten nationalen, politischen, religiösen Leben des Volkes hat« und die dazu angetan ist, die germanische Kultur gegen alle schwächlichen Formen »romanischen Geistes« durchzusetzen.7 Während Hegel sehr in Zweifel zieht, ob ausgerechnet das Mittelalter als eine Kulturstufe betrachtet werden darf, die für die Gegenwart maßgeblich bleibt, ist dies für Friedrich Theodor Vischer eine Selbstverständlichkeit. Für ihn trägt das 6 Vgl. dazu näher Annemarie Gethmann-Siefert: H.G. Hotho: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht [Anm. 3]. 7 Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Friedrich Theodor Vischer – »Der große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre«, in: »O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard« – Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800, hg. von Otto Pöggeler und Christoph Jamme, Stuttgart 1988, 329 ff.

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Mittelalter als Ganzes germanischen Charakter. Es ist geprägt durch einen »heroischen Naturzustand«, den es in die Gegenwart zu übersetzen gilt, und zwar mit Hilfe der Kunstgeschichte und der Philosophie. Die Ästhetik muß sich gegen all die Phänomene wenden, in denen es nicht um eine solche Zuspitzung der Kunst auf eine Zukunft aus eigenen Quellen, in denen es nicht um die Weiterführung und Wiederbelebung mittelalterlichen Geistes in der Moderne zu tun ist. Vischer meint, nur so die Aufklärung mit Hilfe der Kunst weiterführen zu können. Ein Kosmopolitismus der Kunst, wie ihn Goethe und Hegel vertreten, gilt ihm dagegen als »Zeichen eines schwachen Nationalgefühls«. Die »Fäulnis«, der »Verwesungsprozeß der Romantik« kann nur durch eine neue Naivität, durch eine neue Art der Idealität, nämlich durch das verherrlichte deutsche Ideal, wieder gewonnen werden. Hegel hat in persönlichen Äußerungen solche und ähnliche Versuche als »Deutschdumm« treffend charakterisiert und darauf hingewiesen, daß es keine in Form wie Inhalt auf die Vergangenheit festgelegte Kunst geben darf. Auch der Hegelschüler Moritz Carrière versucht sich in einer Umorientierung der Ästhetik. Ihm gilt nicht mehr die Bildung zur Vernunft im Sinne einer in der Kunst anschaulich präsenten Geschichte des Geistes als der maßgebliche Gesichtspunkt, sondern die Bildung des Gefühls, der subjektiven Innerlichkeit. Hegels systematische Ästhetik wird dadurch in eine romantisch orientierte Ästhetik überführt, denn die »subjektive Innerlichkeit« gilt Carrière als der höchste in der Kunst wie in der Philosophie erreichbare Standpunkt.8 Die Vollendung der universellen Geistesgeschichte lokalisiert auch Carrière in einem neuen deutschen Reich. In seiner Kunst und Wissenschaft manifestiert sich ein Gefühl der eigenen Nationalität. Dadurch bleibt der »nationale Gedanke an der Arbeit«, der schließlich zur politischen Herrschaft Deutschlands in Europa führen soll. In dieser Zukunft der Kunst verbindet sich aber, so meint Moritz Carrière, das Charakteristische des germanischen Wesens in Vollendung wieder mit dem Schönen der Antike. Bach wie Dürer beispielsweise vertreten das durch und durch nationale Element, das vor allem nach Wahrheit trachtet, in dessen Vollendung dann aber aus der »harten Kraft des Charakteristischen und Tiefsinnigen die Schönheit hervorbricht«.9 In Carrières Ästhetik tritt an die Stelle der Systematik eine verflachend-psychologisierende Umdeutung Hegels. Das Gefühl, so betont Carrière gegen Hegels Bestimmung der Geschichte als Geistesgeschichte, rettet das Zeitalter der Wissenschaft in eine neue Zukunft hinüber, in die Vollendung eines neuen, dem Griechischen und Germanischen abgelauschten Ideals. Es zeigt sich, daß diese und weitere ähnliche Rettungsversuche durch eine ebenso unselige Kombination der These von der unabschließbaren Zukunft der Kunst mit einer Präfiguration dieser Zukunft in einer glorifizierten Vergangenheit Zum folgenden vgl. Moritz Carrière: Die Kunst Im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale Menschheit, Bd. 5: Das Weltalter des Geistes im Aufgange, Leipzig 1873, 666. 9 Ebd., 31. 8

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geprägt werden. Eher als Hegels Behauptung, die Kunst könne ihre im Griechentum erreichte kulturbestimmende Macht in der Moderne nicht behalten, ist die Identifikation germanischer Ursprünglichkeit mit deutscher Zukunft ein – wenn auch historisch eher im Sinne der Romantik orientierter – Klassizismus. Hegels These vom Ende der Kunst wird durch die von der unabschließbaren Zukunft ersetzt, doch die Zukunft selbst liegt in einem zwar der eigenen Welt angepaßten, dennoch aber der Vergangenheit abgelauschten Ideal. Überdies wird die philosophische Ästhetik durch ihre Verknüpfung mit der Kunstgeschichte und der Kunsterfahrung zur Richterin über Kunst und Unkunst, weil nur sie die kulturphilosophische »Ideologie« der Künste entwickelt und das Phänomen selbst dann am vorgegebenen Maßstab des Ideals einer deutschen Kunst aus deutscher Quelle mit antiker Vollendung messen kann.

B. Hegel gegen »Hegel«: Die Ästhetik im Licht der Vorlesungen betrachtet Die Rettungsversuche der Schüler Hegels finden bis in unsere Zeit Nachfolger im Versuch, die Aktualität der Hegelschen Ästhetik für die gegenwärtige Diskussion zu erweisen. Allerdings verschlimmbessern solche Rettungsversuche die Lage aber häufig. Deshalb sei im folgenden eine andere Version des Aktualitätsnachweises durchgespielt, die bislang nicht in Erwägung gezogen wurde, weil sie der Tendenz der Rettung Hegels gegen Hegel, gegen seine eigenen dogmatischen Vorurteile, nicht entspricht. Die Ästhetik legt den Akzent stets auf die schöne Kunst mit großem, d. h. religiösem Inhalt. Hegel dagegen scheint in den Berliner Vorlesungen – nach Meinung seiner Schüler fehlgeleitet durch persönliche Vorlieben, die einen zumindest problematischen, wenn nicht gar schlechten Kunstgeschmack befürchten lassen – den Schwerpunkt seines Interesses gerade in Kunstwerke mit alltäglichem Inhalt zu legen. Die schöne Kunst mit einem – wie Hegel betont – »für uns Menschen eines aufgeklärten Zeitalters« belanglosen, inakzeptablen Inhalt wird zum Gegenstand intensiver philosophischer Erörterung. Ebenso interessiert sich Hegel als Philosoph gerade nicht vordringlich für die religiöse Kunst, sondern wendet sich der Kunst zu, deren Heiliger der »humanus«, deren Inhalt die geschichtliche Alltagswelt ist. Dadurch entsteht in der Auseinandersetzung mit beinahe allen Sparten der Kunst eine Beurteilungsdiskrepanz zwischen der Ästhetik und den Berliner Vorlesungen zur Ästhetik oder Philosophie der Kunst. Hegel scheint sich in der Ästhetik beispielsweise um die »wahrhaft idealische Musik« zu bemühen, deren Inhalte – jedenfalls soweit es die von ihm bevorzugte Oper betrifft – »sich in einfachen Motiven bewegen und im Kreise des gediegensten Inhalts für die Empfindung halten […] substanzielle Kollisionen sich ruhig entwickeln lassen«, in einer Leidenschaft »rein, groß, edel und von plastischer Ein-

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fachheit«.10 Nach Hegels eigener Aussage in der Ästhetik kann nur die »idealische« Kunst, die Musik eines Gluck, Mozart, Haydn, oder Palestrinas, Durantes, Lottis, Pergolesis ästhetisch in Betracht gezogen und mit dem Schönsten, nämlich mit der idealischen Skulptur, in Bezug gesetzt werden.11 Im Gegenzug wird das ästhetisch Inakzeptable scharf kritisiert. So beispielsweise Webers Freischütz, wo »solche abstrakte Trostlosigkeit« wie das Weinen, das »als haltungsloser Jammer in das ideale Kunstwerk« eintritt, den Zuhörer abstoßen muß.12 Dagegen geht Hegel in persönlichen Berichten, aber auch in seinen Vorlesungen auf die Opern Spontinis oder Rossinis ein – sehr zum Entsetzen seines Schülers Hotho, der die Ästhetik dann auch von den Spuren dieser geschmacklichen Verirrung reinigt. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der Beurteilung der Malerei, ein beinahe noch peinlicheres in der Poesie. Hegel beschäftigt sich nicht, wie die Ästhetik uns glauben macht, mit der schönen, idealischen Kunst, sondern mit den ärmsten Versionen der Schilderkunst, mit Genre und Stilleben. Dazu widmet er nicht dem Goetheschen Faust, dem von vielen Zeitgenossen erwarteten neuen Epos der modernen Welt, die hinreichende Aufmerksamkeit. Statt dessen räumt er aber dem Divan, besonders in den beiden letzten Vorlesungen von 1826 und 1828/29, eine ausführliche Diskussion ein und findet Worte des höchsten Lobes. Für diese Verkehrung des Interesses hat sein Enkelschüler Theodor Vischer nur die beißendste Kritik: Die Stärkung des romanischen Geistes, das Abrücken von der germanischen Welt degradiert ein Volk der Genies zum »Übersetzervolk«. Die unterschiedslose Beschäftigung mit Genuinem und Fremden, ja der Bevorzugung des Anderen ist Zeichen eines »schwachen Nationalgefühls«, eines »Kosmopolitismus«. Daß Hegel sich eines solchen schuldig gemacht hat, konnte Vischer bereits nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Er selbst konnte, als er im Jahre 1832 nach Berlin kam, Hegels Vorlesungen über Ästhetik nicht mehr hören. Anstelle der erwarteten Hegelschen Vorlesung besuchte Vischer die in Vertretung durch Hotho gehaltene Vorlesung zur Ästhetik und begegnete dort, wie sich an erhalten gebliebenen Vorlesungsnotizen zeigt, bereits einer im Sinne Hothos umgeformten Hegelschen Systematik. Das Schicksal Hegelscher Reflexionen, die dem Zeitgeist seiner primären Rezeption zuwiderlaufen, ist in der Überlieferung seiner Ästhetik von vornherein besiegelt. Da es Hegels Schülern darum geht, seine Philosophie der Kunst den anderen großen Systemen der Romantik und Spätromantik, vor allem aber Schelling und Solger als ebenbürtig zur Seite zu stellen, muß Hegel entsprechend aufgebessert werden. Hegels bevorzugtes Thema, die Kunst mit alltäglichem Inhalt, die Kunst, die sich der Prosa des Lebens und allem, was die Menschenbrust bewegt, verschrieben hat, rückt in der Ästhetik an die letzte Stelle. Die erste Stelle in der philosophischen 10 11 12

Ästhetik I [Anm. 1], Bd. 3. 194; 204. Ebd., 194, 198, 199. Ästhetik I [Anm. 1], Bd. 1. 204, Ästhetik II, Bd. 1. 200.

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Erörterung und die höchste ästhetische Auszeichnung erhält immer die schöne Kunst, deren Inhalt das Göttliche, insbesondere die christliche Gottesvorstellung ist. Im folgenden sollen Beispiele aus den in der Ästhetik verdrängten Künsten näher erörtert werden, weil gerade diese Beispiele eine neue Perspektive der ästhetischen Diskussion eröffnen. Diese Beispiele der philosophischen Auseinandersetzung mit der Kunst aus den Vorlesungen sind allesamt gekennzeichnet durch eine Synthese von schöner Kunst und Alltäglichkeit des Inhalts, Prosa des gemeinen Lebens. Werden sie in der Version erörtert, die Hegel in seinen Berliner Vorlesungen für seine damaligen Hörer entwickelt hat, so erscheinen sie als Verteidigung des ästhetischen Genusses. Hegels Vorlesungen setzen gerade mit diesen Beispielen darum neue Akzente, weil die Entflechtung von Klassizismusvorwurf und Kritik an der These vom Ende der Kunst möglich wird. Während Hegels Schüler die These vom Ende der Kunst zwar verdrängen, dadurch aber eine (mehr oder weniger ausgeprägt) klassizistische Ästhetik auf der systematischen Basis des Hegelschen Denkens entwickeln, hält Hegel selbst an der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst fest. Seine Ästhetik wird keineswegs »klassizistisch«, weil er die Bedeutung der schönen Kunst im Kontext der alten wie der modernen Welt erörtert. Durch diesen Kontext erörtert er nämlich die Frage nach der schönen Kunst in einem eigenen geschichtlichen Rahmen und unter Maßgaben, die beide durch den Vergleich mit der schönen Idealität der Antike nicht ausgeschöpft werden. Gerade die Beispiele, die Hegel als Hinweis auf die Symbiose von Schönheit und Alltäglichkeit anführt und diskutiert, setzen in der Ästhetikdiskussion neue Akzente, und sie geben zudem auch für die gegenwärtige Ästhetik neue Perspektiven vor, bzw. sie setzen alte Akzente neu in ihr Recht. Während es in der Ästhetik darum geht, die große Kunst durch die Symbiose von Schönheit und geschichtlicher Relevanz auszuzeichnen, die Hegel in der klassischen Kunstform paradigmatisch vorgezeichnet hatte, interessiert Hegel sich in den Vorlesungen insbesondere für die Kunst, deren Inhalt die Prosa des Lebens, das Alltägliche, der »humanus«, das allgemein Menschliche ist. Auch die Kunst dieses Inhalts ist – zumindest noch häufig – schön, aber sie ist nicht unbedingt in der Weise geschichtlich relevant, daß sie (wie das Kunstwerk der antiken Welt) die Orientierung im Sittlichen zu leisten vermag. An die Stelle des Hothoschen Prinzips: der Suche nach dem Kunstwerk als Einheit von Schönheit und Relevanz, setzt Hegel Variationen dieses Grundmusters. Es gibt schöne und zugleich geschichtlich relevante Kunst, wie Hegel vor allem an der antiken Skulptur und Tragödie demonstriert. Daneben gibt es in der Gegenwart aber auch die nicht-mehr-schöne, dafür aber inhaltlich bedeutsame Kunst. Beginnend mit der antiken Tragödie – so behauptet Hegel – hat die Reflexion in die Kunst Eingang gefunden. Dadurch werden ihre Orientierungsvorgaben nicht mehr schlicht affirmativ übernommen und konstituieren die Sittlichkeit eines Volkes, sondern der Konflikt im Sittlichen wird zum Thema und Sprengsatz der Kunst. Bleibt die antike Tragödie schöne Kunst, so wiederholt sich im modernen Drama das Grundmuster der Kombination von Schönheit und Relevanz in Umkehrung: Das sittliche Pathos findet sich in einer

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nicht-mehr-schönen Kunst. Das moderne Drama kann nämlich nicht wie die antike Tragödie im Aufruhen auf einer religiösen Grundüberzeugung (dem griechischen Schicksalsglauben) Versöhnung stiften; es entläßt den Zuschauer nachdenklich, wie Hegel im Hinweis auf ein Xenion Schillers betont: Gedankenschwer verläßt der moderne Mensch das Theater. Neben dieser Möglichkeit einer Kombination des Auflösens der schönen Form um der Relevanz des Inhaltes willen, das Hegel besonders in seiner Schillerinterpretation darlegt,13 diskutiert er insbesondere am Beispiel der Oper eine schöne, aber im Gehalt belanglose, rein dem Genuß gewidmete Kunst. Ergänzt wird dies Beispiel durch die Diskussion des Genres als einer ebenfalls schönen Kunst, die nicht mehr eindeutig ein Kunstwerk genannt werden kann. Dennoch – und dies hebt sie über den bloß banalen Inhalt der Oper hinaus – stiftet sie die »Empfänglichkeit« für geschichtliche Inhalte. So ist der Inhalt dieser schönen Kunst zwar die Alltäglichkeit, aber eine Alltäglichkeit, die aufgrund historischer Vermittlung (wie zu zeigen sein wird) relevant bleibt. Konsequent schließt sich ein weiteres Beispiel aus der Poesie an, nämlich die Darlegung der Möglichkeit einer poetischen Vermittlung fremder Kulturen für das eigene Lebensgefühl, die Hegel in Goethes Divan entdeckt. Den Hintergrund dieses breiten Spektrums der Kunst bildet jeweils Hegels Frage nach dem »Werk«, d. h. nach der Wirkung der Kunst in der geschichtlichen Welt. An drei Extrembeispielen sei diese Konzeption des Werks näher erörtert. Es sind dies Beispiele, die man gegenwärtig aus der Diskussion um Kunst und Kunstwerk ausschließt, zumindest aber hinter der vielbeschworenen »autonomen« Kunst zurücksetzt: eine dem Genuß gewidmete Kunst, die Möglichkeit einer Kunst, die den Menschen durch Schönheit für die kulturelle Bedeutung ihres Inhaltes, ihrer Aussage empfänglich macht und die Möglichkeit einer poetischen Vermittlung des Fremden ins Eigene durch die Kunst. In allen Beispielen geht es – wie in Hegels Ästhetik generell – um Bildung durch Kunst, um Kunst, die in ihrer kulturellen Funktion betrachtet wird, nicht um die sogenannte »autonome« Kunst. Überspitzt kann man behaupten, daß für Hegel die Maßgeblichkeit der schönen Kunst der Antike, jener Kunst, die den Menschen ihre Götter stiftete, in der Akzentuierung dieser prinzipiellen philosophischen Perspektive liegt. Die Kunst ist immer und überall ein unverzichtbares, konstitutives Element menschlicher Kultur. In der philosophischen Ästhetik wird sie unter dieser Perspektive eigens reflektiert: Philosophische Ästhetik bestimmt die Rolle der Kunst in der Kultur zu allen Zeiten, mit Hegels Worten: bei allen Epochen und Völkern. Auch die genannten Beispiele der Für Hegel ist Schiller – und nicht Goethe, wie die Vorlesungen glauben machen – der größte Dramatiker, gerade weil Schiller diese Auflösung der schönen Form um der geschichtlichen Wirkung des Inhalts willen betreibt. Vgl. zur genauen Analyse Annemarie Gethmann-Siefert: Vergessene Dimensionen des Utopiebegriffs – Der »Klassizismus« der idealistischen Ästhetik und die gesellschaftskritische Funktion des »schönen Scheins«, in: Hegel-Studien 17 (1982), 119 ff; dies.: Idylle und Utopie – Zur gesellschaftskritischen Funktion der Kunst in Schillers Ästhetik, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 24 (1980), 32 ff. 13

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Kunst, die Oper, das Genre und die historisch-vermittelnde Poesie, werden unter dieser Perspektive ihrer Orientierungskraft in der modernen Welt erörtert. Sie werden gerade nicht, wie die Ästhetik insinuiert, nach ihrem »ästhetischen Wert« (was immer das heißen mag) beurteilt bzw. verurteilt. Daher stellen sich gerade die hier herausgegriffenen Beispiele in der Ästhetik und in den Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Kunst unterschiedlich dar.

II. Die Oper und der Genuß der schönen Kunst Die Wertschätzung der klassischen Musik, die sich in der Ästhetik findet, läßt sich in Hegels persönlichen Äußerungen und in den Vorlesungen nicht verifizieren. Zunächst berichten Hegels Zeitgenossen davon, daß er mit großer Begeisterung am künstlerischen Leben teilnimmt, insbesondere Theater, Konzerte und Salons besucht. Nicht nur in Berlin findet sich Hegel unter den Besuchern des Schauspiels und der Oper, auch auf einer aus der Staatsschatulle finanzierten Erholungsreise nach Wien finden wir ihn jeden Abend in der Oper und lesen in den Briefen nach Berlin die begeisterten Kommentare. Hegel bekennt beispielsweise, daß er sich mehr zu Rossinis Musik hingezogen fühlte, daß er bereits seinen »Geschmack so verdorben [habe], daß dieser Rossinische Figaro mich unendlich mehr vergnügt hat als Mozarts Nozze«14. Diese Begeisterung Hegels, die die Schüler nicht uneingeschränkt teilen, schlägt sich in den Ästhetikvorlesungen nur indirekt nieder.15 Hegel überträgt zwar seine Kunstbegeisterung nicht in die Ästhetik, er zieht aber in Erwägung, wie die Kunst, näherhin die schöne Kunst, in der modernen Welt wirken könne. Die Oper, die er im Zusammenhang mit der Darstellung des Dramas eigens hervorhebt, tritt für ihn das Erbe der alten Tragödie an. Hier wie dort, in der antiken Tragödie wie in der modernen Oper, sind »alle Künste […] vereinigt: die Natur des Menschen [ist Thema], die Architektur, durch Malerei vorgestellt, oder das Lokal selbst [kommen hinzu, ebenso] Musik, Tanz und Pantomime«. Die Oper repräsentiert wie das alte Drama also ein Gesamtkunstwerk. Wenn in der modernen Zeit »das Drama nach allen seinen Seiten ein vollständiges Kunstwerk wird, so ist das die Oper, die Oper erscheint als das vollkommen künstlerisch ausgebildete Drama«. Sie ist »ganz vervollständigte Totalität«16. Es wundert nicht, daß dieser Vergleich der Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister und Friedhelm Nicolin, 4 Bde., Hamburg 31969-1981, Bd. 3, 64. 15 Vgl. dazu auch den Hinweis von David Friedrich Strauß an Friedrich Theodor Vischer, daß Hegel den Barbier von Rossini dem Mozartschen Figaro vorziehe und daß er für diese Vorliebe zumindest Verständnis hege. (Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. von Günter Nicolin, Hamburg 1970, Nr. 705). 16 So in einer Vorlesungsnachschrift von 1826: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst. Berlin 1826 (Mitschrift von der Pfordten), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt/M. 2005 (im folgenden: von der Pfordten 1826), Ms. 89 f. 14

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Oper und der antiken Tragödie wenig angetan ist, die Zustimmung der Hegelschüler zu erhalten. Hegel hebt mit solchen Reflexionen nicht seinen persönlichen – wie die Anhänger meinen, nicht unproblematischen – Geschmack zum Wertmaßstab, sondern er reflektiert auf die Bedeutung der Kunst für die moderne Welt. Wenn er der Oper eine formale Vollendung zugesteht, die an die Vollendung der alten Kunst heranreicht, so ist mit dieser formalen Vollendung eine nur partiale Bedeutung des Inhalts verknüpft. Die Oper erstreckt sich auf Inhalte, die nicht nur ins »Märchenhafte und Mythologische« ausschweifen, sondern die überdies unserem aufgeklärten Geist eher »ein Greuel« sein müßten.17 Die Oper ist also gekennzeichnet durch formale Vollendung bei inhaltlicher Belanglosigkeit. Ausgerechnet die Wahl antiker Stoffe liefert Hegel den Anlaß, die Belanglosigkeit dieser Inhalte »für uns« zu charakterisieren. Denn »daß Alkeste für ihren Mann sterben will«, »daß Iphigenie ihren Bruder schlachten soll«, all dies ist »nicht für uns« relevant. Auf der anderen Seite ist es aber »wohl für die Oper« geeignet, weil in ihr alle möglichen Inhalte im Sinne eines unverbindlichen Spiels der Kunst mit ihren eigenen Möglichkeiten repräsentiert werden. Durch den Kontext, in dem Hegel diese Überlegungen vorbringt, wird sogleich die Gegenrechnung aufgemacht. Während die schöne Kunst bei inhaltlicher Belanglosigkeit dem Kunstgenuß anheimgegeben ist – dies ohne pejorative Wertung gesagt und gemeint –, kann die relevante Kunst selbst nicht mehr schön sein, wie Hegel an Schillers Dramen erörtert.18 Eine Möglichkeit der Wirkung und der Rezeption der Kunst in der Moderne ist also der relevanzdruckfreie Genuß des Schönen, der der durch die Kunst mit »sittlichem Pathos« ausgelösten Reflexivität gegenübersteht. Hegel sieht diesen Genuß als eine mögliche und vor allem als uneingeschränkt legitime Weise des Kunstvollzuges an. Nur im Genuß des Schönen bleibt »für uns« auch inhaltlich Problematisches aus der Kunst anderer Zeiten präsent, im Schönen kann das Fremde oder Andersartige zum Unseren werden. Daher entdeckt Hegel zwar vordringlich im »erhabenen« modernen Drama die für die moderne Welt, d. h. für die »vernunftfordernde Vernunft« der Aufklärung, kennzeichnende Nötigung zur Reflexivität, aber auch der Genuß der »schönen« Oper enthält eine Verwiesenheit auf Reflexion. Denn der Genuß am Schönen erfordert zumindest die Abstraktion vom Inhalt bzw. eine Zurückstellung des Inhaltes. Gegenüber der Bestimmung der Kunst in der griechischen Antike zieht Hegel also eine Differenzierung ein. Das schöne Handeln der dramatischen Personen in der alten Tragödie, das schöne Menschsein, motiviert nicht mehr zur unmittelbaren Identifikation mit einer der Gestalten. Es kann die Vielfalt möglicher Orientierungen nicht mehr automatisch zum sittlich Guten anleiten, auch wenn die ursprüngliche Vollzugsweise des sittlich So im Bericht der bereits genannten Nachschrift von der Pfordten 1826, Ms. 89a. Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Das »moderne« Gesamtkunstwerk: die Oper, in: Phänomen versus System [Anm. 2], 165 ff., bes. 206 f, 217 f. 17 18

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Guten, nämlich die Schönheit, erhalten bleibt. Der relevanzdruckfreie Genuß schöner Kunst wird in der modernen Welt daher – aufgrund der zwangsläufigen, sozusagen genußkonstitutiven Abstraktion von den Inhalten – seine Partialität zugleich bewußt setzen und reflexiv transzendieren. Hegel behauptet also in seiner These vom Ende der Kunst nicht, die Kunst sei »mausetot«, wie es Felix Mendelssohn-Bartholdy persifliert, sondern er differenziert die Präsenz der Kunst im modernen Staat und in der modernen Kultur. Wichtig für diese Charakteristik der Präsenz der Kunst in der Kultur ist die Vollzugsspektrumserweiterung, die bei der Oper bereits von Kunstgenuß bis Kritikstimulanz reicht.

III. Genuß der Schönheit und Empfänglichkeit für das Geistige: Bewußtsein in Geschichte Im ›Malerei‹-Kapitel seiner Ästhetik entwickelt Hegel eine eindeutig wertende Einteilung der Malerei gemäß ihrer Fähigkeit, die Schönheit der Form mit dem großen (religiösen) Inhalt zu kombinieren, gemäß ihrer Nähe zum Ideal. Hierbei geht es Hegel auch in der philosophischen Reflexion auf die Malerei offensichtlich darum, im schönen Kunstwerk die Verschwisterung von göttlichem Inhalt und harmonischer Form wiederzuentdecken, die ihm zuerst in der klassischen Kunstform begegnet war. An der Spitze der Malerei stehen die Werke der Renaissance. Denn, so betont »Hegel«, wir werden »durch die Meisterwerke der italienischen Malerei, wenn wir sie diesen niederländischen gegenüberstellen, mehr angezogen werden, weil die Italiener bei voller Innigkeit und Religiosität die geistreiche Freiheit und Schönheit der Phantasie voraushaben«.19 Zwar geht Hotho – wie Hegel in den Ästhetikvorlesungen – davon aus, daß weder Gott(vater) noch Christus in idealen Portraits adäquat dargestellt werden können. Dennoch bilden diese Sujets, gefolgt von Darstellungen der Apostel, den zentralen Kern der christlichen Malerei. Hotho weist zudem in der Charakteristik einzelner Werke darauf hin, daß besonders die Italiener »schöne« Bilder dieses Inhalts geschaffen haben. Ebenso werden die schönen Darstellungen des Christuskindes eigens hervorgehoben. Von Bedeutung – insbesondere als Symbole der Liebe, wenn auch der Gottes- und Christusdarstellung nachgeordnet – sind Sujets wie die (schöne) Mariendarstellung oder Bilder des Marientodes sowie Darstellungen der Heiligen bzw. von Situationen aus der Geschichte Christi. Diese wiederum haben im Gefolge ästhetisch problematische Darstellungen der Leiden und Qualen der Heiligen und Märtyrer. In den Vorlesungen kehrt sich zunächst einmal die Wertschätzung zwischen italienischer und niederländischer Malerei um. Hegel hebt besonders die Malerei der Niederländer hervor, weil sie das ganze Spektrum möglicher Inhalte von den christlichen bis zu den weltlichsten durchläuft und weil sie ihm daher im Vergleich 19

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mit den ebenfalls geschätzten Bildern der Italiener als die ästhetisch vollendete erscheint. Die Begründung dieses ästhetischen Werturteils gewinnt Hegel durch eine prinzipielle Erörterung, nämlich durch eine revolutionäre Konzeption der Farbe – revolutionär zumindest, was die bisherige Unterordnung der Farbe unter die Linie betrifft.20 Nicht die Linie, damit die festgefügte Form konstituiert die Gestalt und damit die Schönheit des Bildes, sondern die Farbe. Hegel sieht darin den Rückgewinn der Lebendigkeit. Die Malerei wächst über die statarische Darstellung der Skulptur hinaus, weil das Ineinanderspiel der Farben die Form konstituiert. Überdies ist die Form nur im Vollzug, nicht »an sich« gegeben. So liegt für Hegel die Auszeichnung der Malerei darin, »daß das Objekt als Bezügliches vorgestellt wird zunächst auf den Menschen. Diese Beziehung ist Zusammenhang nach allen Seiten hin, Totalität des Erscheinens«. Anders als bei der Skulptur, die in die natürliche Welt gestellt ist, tritt beim Bild »der Hintergrund […] hinein«, das Bild selbst enthält dadurch »eine Beziehung« von Figur und Hintergrund (Raum), »die getrennt abgeschnitten werden muß; das Herausschneiden aus dem Zusammenhang muß markiert sein (Rahmen)«.21 Damit enthält das Bild in sich, nicht – wie bei der Skulptur – das Zusammenspiel von Gestalt und Natur, die »Totalität des Erscheinens«. Diese konstituiert sich in der Farbe als lebendig, als Prozeß der Darstellung und Rezeption. Dadurch »erweitert sich der Gegenstand der Malerei in eine unendlich Mannigfaltigkeit … der höchste Inhalt soll erscheinen auf der Fläche, in der Farbe; es geht hinaus bis zu abstrakten Extremen des Erscheinens selbst als solchem. Die abstrakte, allgemeine Befriedigung der Kunst ist, daß der Mensch sich das Erscheinen als solches vorstellig macht. Das Erscheinen aber selbst erfordert dann selbst diese große Kunst, die höchste Wirkung des Erscheinens bringt die unendliche Genauigkeit hervor.« Diese Fähigkeit, die Totalität des Erscheinens darzustellen, charakterisiert Hegel auch als die »Musikalität« der Malerei, als eine durch die Farbe evozierte Magie des Scheinens, die durch vollendete Technik erwirkt wird. Auch in der Malerei tritt deshalb letztlich der Inhalt der Kunst gegenüber dieser Vollendung und Schönheit des Scheins gewissermaßen in den Hintergrund, er wird sozusagen in den schönen Schein aufgehoben. Interessanterweise findet sich die Charakteristik der »Musikalität« der Malerei und die damit verknüpfte Auszeichnung der Malerei als schöner Kunst nicht in dem Kontext, in den die Ästhetik sie setzt. Hegel vindiziert diese Fähigkeit, ein in sich lebendiges Scheinen darzustellen und damit das Statarische der Kunst, durch Diese Konzeption der Farbe, die Hegel im Anschluß an Diderot und Goethe entwickelt, hat Bernadette Collenberg-Plotnikov näher dargestellt. Vgl. Bernadette Collenberg: Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. In: Phänomen versus System [Anm. 2], 91 ff. 21 Das Zitat stammt aus einer Nachschrift zur Vorlesung von 1828/29: Aesthetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29 (Mitschrift Karol Libelt) (Ms. Jagiellonische Bibliothek, Krakau) (im folgenden: Libelt 1828/29), Ms. 129; zum folgenden vgl. Ms. 129 a. 20

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das die frühen christlichen Bilder noch geprägt sind, aufzuheben, vorzüglich der niederländischen, nicht der italienischen Malerei. Die Differenz zwischen Hegels Überlegungen, die er in den Vorlesungen vorgetragen hat, und der Ästhetik geht aber noch einen erheblichen Schritt weiter. Während in der Ästhetik die schöne Malerei der Renaissance durch die »Musikalität« der Farbe ausgezeichnet wird, kennzeichnet Hegel Genre und Stilleben der Niederländer als Beispiele, in der diese Kraft der Farbe, die Fähigkeit, die Lebendigkeit des Erscheinens zur Darstellung zu bringen, in besonderer Weise ausgebildet ist. Er wendet sich damit nicht nur von der idealisch-schönen Malerei der Renaissance zur technisch vollendeten Schönheit der Niederländer; er hebt zudem die beiden Sparten der Malerei heraus, die in der allgemeinen Wertschätzung am wenigsten galten, die in jeglicher öffentlichen Präsentation zu Hegels Zeit generell im Schatten der höheren Kunstgattungen, vor allem der Historienmalerei, dahinvegetierten. In der Ästhetik findet sich eine polemisch überspitzte Skepsis gegen die GenreMalerei, insbesondere die moderne Genre-Malerei. Die in ihr zum Ausdruck gebrachte Alltäglichkeit einer »beschränkten Lebensart« setzt »einen Mangel in der Entwicklung des Geistes voraus«, der den Kenner abstoßen muß,22 so heißt es dort im Namen Hegels. Die Mittel der Darstellung, die Hegel als die »Musikalität« der Malerei kennzeichnete und damit als die formale Bedingung, auch das Alltägliche als Schönes darzustellen, werden in der Ästhetik geradezu disqualifiziert. In den genannten Bildern werden nämlich die Mittel der Darstellung in einer Weise für sich selbst zum Zweck erhoben, daß sich »die blanke Subjektivität des Künstlers« in diesen Bildern zeigt.23 Hegel stellt dagegen die Frage, wieweit die alltäglichsten Dinge, durch die Malerei als schöne Gestalten dargestellt, ein ›Kunstwerk‹ genannt werden können. Durch diese Frage, ob man bei den Bildern belanglos-alltäglichen Inhaltes von »Werken« der Kunst reden dürfe, hebt Hegel die Bedeutung dieser Beispiele als selbstkonstruierte Infragestellung seiner These vom Vergangenheitscharakter der Kunst eigens hervor. Ausgerechnet die Bilder alltäglichen Inhalts, die die von Hotho polemisch verunglimpfte »Prosa des gemeinen Lebens« zu ihrem Inhalt wählen, erfüllen nach Hegels Ansicht ganz das Wesen der Malerei. Denn: »Die Malerei ist die Kunst des Scheinens überhaupt […] das bloße Scheinen als solches erhält dieses Übergewicht. Es ist ein Kunstwerk und Kunststück des Scheins«.24 Ästhetik II [Anm. 1], Bd. 1. 325 f. Ästhetik I/II [Anm. 1], Bd. 3. 123 f.; inhaltlich gleichlautende Kritiken finden sich Ästhetik I. Bd. 1. 218; Ästhetik II, Bd. 1. 213. 24 Von der Pfordten 1826, Ms. 72a. In der letzten Vorlesung wird eine beinahe noch prägnantere Formulierung überliefert. Dort heißt es: »Der höchste Inhalt soll erscheinen auf der Fläche in der Farbe; es geht hinaus bis zu abstrakten Extremen des Erscheinens selbst als solchen. Die abstrakte allgemeine Befriedigung der Kunst ist, daß der Mensch sich das Erscheinen als solches vorstellig macht«; hier wird explizit dann die Malerei, die »die höchste Wirkung des Erscheinens« durch Genauigkeit hervorbringt, mit der Skulptur verglichen, die dann vollkommen ist, »wenn jede der kleinsten Partien in sich vollkommen ist. In der Malerei wird das noch mehr erfordert, 22 23

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Hinzu kommt, daß Hegel die Genremalerei und das Stilleben nicht als bloß subjektive Darstellung und als mögliche Version des »subjektiven Humors«, sondern als eine Möglichkeit des »objektiven Humors« diskutiert.25 Die Voraussetzung dafür, daß die Malerei der Niederländer den »objektiven Humor« realisiert, sieht Hegel darin, daß hier die Alltäglichkeit in die Schönheit überführt wird. Diese Symbiose von Schein und Alltäglichkeit betrachtet Hegel nicht nur als eine historisch interessante Kombination, er sieht in ihr eindeutig den Kulminationspunkt der Malerei. Hegel geht nämlich noch einen Schritt weiter und entwickelt sozusagen in Anlehnung und in kritischer Absetzung von der zeitgenössischen Tendenz der Wertschätzung der Malerei die Überlegung, daß Genre und Stilleben als eine Art sublimierter Historiendarstellung aufzufassen seien. Das Bild verkörpert nicht mehr bloß die »Nachahmung« des erinnerungswürdigen Geschehens, sondern schreitet fort zur Symbolisation der Bedeutung des geschichtlichen Geschehens im schönen Gegenstand, genauer in der Heiterkeit schöner Alltäglichkeit. In Hegels Vorlesung rückt daher diese Auseinandersetzung mit Bildern, die die belangloseste Alltäglichkeit darstellen, an eine systematisch zentrale Stelle. In der Ästhetik steht es mehr oder weniger außer Frage, daß solche Gebilde keine Kunstwerke genannt werden dürfen, sondern ästhetisch aufs schärfste verworfen werden müssen. Hegel dagegen kann sich zumindest fragen, ob – und wenn ja, warum und in welchem Maße – es sich bei diesen Bildern um Kunstwerke handelt. Sind sie nämlich ein Phänomen des »objektiven Humors«, so darf man sie in eine Reihe setzen mit anderen Kunstwerken, die im Humor eine reflektierte Weltsicht entwickeln, diese Weltsicht aber nicht subjektiv darstellen, sondern sie zugleich wieder objektiv, d. h. an der Welthaftigkeit von Gegenständen anschaulich nachvollziehbar werden lassen. Die Bedeutung dieser Bilder alltäglichen Inhalts läßt sich in vollem Ausmaß nur ermessen, wenn man die oben skizzierte Konzeption der Farbe mit im Blick behält. Durch Hegels anti-klassizistische Konzeption der Malerei, deren wesentliches Medium nicht die Linie, sondern die Farbe ist, ergibt sich die Möglichkeit, durch die Kunst der Malerei selbst eine Sinnlichkeit und Anschaulichkeit zu konstituieren, die in sich reflexiv ist. Die Farbe als sinnliches, aber in sich reflexives Medium ist auf den Vollzug des Sehens angewiesen. Nur im Vollzug konstituiert sich die schöne der Fleiß der Ausarbeitung ist nur ein geistreicher Fleiß. Die Gegenstände dehnen sich aus in diese unendliche Mannigfaltigkeit« (Libelt 1828/29, Ms. 129a). 25 Die Frage nach dem objektiven Humor wird in der Ästhetikinterpretation meist als das experimentum crucis der These vom Ende der Kunst betrachtet. Gelingt es nämlich in der Kunst der Moderne, ein Phänomen des »objektiven Humors« zu entdecken, dann wäre die romantische Innerlichkeit, die Hegel kritisiert, durch die Kunst selbst überwunden. Zuweilen wird Jean Paul als möglicher Kandidat des »objektiven Humors« ins Feld geführt. Hegel rechnet ihn aber dem »subjektiven Humor« zu. Während der »subjektive Humor« die Zerstörung der Kunst, ihre Auflösung markiert, liegt im »objektiven Humor« die Möglichkeit, durch einen Rückgewinn der Welt in die Kunst die Weltlosigkeit romantischer Innerlichkeit zu überwinden. Hegel diskutiert die Möglichkeit des »objektiven Humors« anläßlich der Genre-Malerei; er vertieft sie, wie zu zeigen sein wird, in seiner Auseinandersetzung mit dem Divan.

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Gestalt. Daher ist die Farbe ganz anders als die starre Linie geeignet, die Lebendigkeit einer vollzogenen Handlung zu symbolisieren. Durch das Medium der Malerei wird im Zuge ihrer Entwicklung das Statische der bloßen Situation, der gefrorenen Geste, aufgehoben in die Lebendigkeit eines Symbols. Diesen Kulminationspunkt legt Hegel in die niederländische Malerei und ausgerechnet in deren verpönte Ausprägung: Genre und Stilleben. Auch die Ästhetik kann die niederländischen Genrebilder noch sozusagen exkulpieren, weil sie – durch die Würde des Alters und die Größe der Künstler geprägt – die Alltäglichkeit in das Schöne aufheben. Das Argument, das »Hegel« hierfür bringt, steht aber nicht im Einklang mit seinen Reflexionen in den Vorlesungen. In der Ästhetik geht es im Erscheinenlassen um die »tausend und abertausend Effekte«, die uns interessieren und einem »interesselosen Scheinen«, einer idealen Darstellung, nahekommen.26 Hegel geht es dagegen um eine prinzipielle Erweiterung der Möglichkeiten sinnlicher Anschauung, sozusagen um eine Reflexivität der Sinnlichkeit selbst. Deshalb betont er, daß in der Malerei »das Erscheinen als solches, Beziehung auf den Menschen«, die wesentliche Bestimmung ist. Diese wesentliche Bestimmung der Malerei wird eingelöst durch die Bilder, deren alltäglicher Inhalt durch die Schönheit zu einem Symbol der Welthaltigkeit wird. Die »Musikalität der Farbe« steht dafür ein, daß das schlichte weltliche Ding oder die banale Szene über sich hinausverweist, zugleich empfänglich macht für geistige Inhalte.27 Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit – Zur Rehabilitierung der schönen Kunst und des ästhetischen Genusses, in: Hegel-Studien 28 (1993), 215 ff. Interessant ist, daß die Ästhetik auf eine Kantische Konzeption zurückgreift, die ihrem Grundansatz prinzipiell widerspricht. Die zitierte »Interesselosigkeit des Scheinens«, die das »Ideal« sein soll, basiert auf dem Vorrang des Naturschönen, den Hegel gleich zu Beginn seiner Ästhetik in Zweifel gezogen hatte. Zum folgenden Zitat vgl. Libelt 1828/29, Ms. 128. 27 Auch dieser Bezug wird in der Ästhetik nicht korrekt wiedergegeben. Da die Genremalerei der Niederländer ebenso wie das Stilleben allenfalls durch Schönheit und historische Würde noch ihr Recht behalten, schreibt Hotho die Auszeichnungen, die Hegel eindeutig der niederländischen Malerei vorbehält, kurzerhand der Renaissancemalerei zu. Wie in seinen eigenen Publikationen, so werden auch in der Ästhetik die Bilder der Italiener, insbesondere Raphaels, durch die »Musikalität« der Farbe ausgezeichnet. Das widerspricht der Konzeption der Ästhetikvorlesungen. Die Nachschrift von 1823, die von Hotho selbst stammt, bringt diese Differenzierung eindeutig zum Ausdruck: »Die Niederländer haben viel mehr Geschicklichkeit im Kolorit als Raffael« (Hotho 1823, 252 / Ms. 235). Obwohl Hegel Niederländer wie Venezianer als »Meister des Farbentons« bezeichnet (258 / Ms. 242), stehen ihm eindeutig die niederländischen Bilder höher: »Die Italiener im allgemeinen gehen dem Trockenen mehr zu als die Niederländer« (ebd.). Unzweifelhaft wird diese Einstellung in der Vorlesung von 1826. Dort heißt es: »Bei den großen Kunstwerken eines Raphaels und anderer hingegen vertieft man sich in den Inhalt, in den Gegenstand und die Malerei ist da nur ein Mittel, den Inhalt darzustellen. Die italienische Kunst hat nicht diesen Zyklus durchlaufen wie die niederländische. Sie wählte vornehmlich mythologische Gegenstände, aber es entstanden Manieren der Maler.« (Ästhetik nach Prof. Hegel. 1826 [Anonym] [Ms. Stadtbibliothek Aachen] [im folgenden: Aachen 1826], Ms. 183.) Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik – Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift H. von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter 26

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Während Hegel in seiner Auseinandersetzung mit der Oper die Möglichkeit und Legitimität des Genusses schöner Kunst zu begründen suchte, diesen Genuß am Schönen aber noch der Formalität zuordnete, weil die Inhalte »für uns« belanglos oder gar abstoßend sein können, erscheinen ihm die Bilder der Niederländer trotz, oder besser aufgrund ihrer Alltäglichkeit einen Schritt weiterzugehen. Sie sind »Kunstwerk und Kunststück des Scheins«.28 Die Bilder der Niederländer sind vollendet, weil sie die Möglichkeit der Malerei als Erscheinenlassen einer subjektivkonstituierten Welt ausschöpfen. Überdies sind sie »Kunstwerk und Kunststück des Scheins«,29 d. h. sie illustrieren nicht die religiösen Vorstellungen, sondern bringen eine eigentümliche Weltsicht zum Erscheinen. Deshalb betont Hegel ausdrücklich: »Die Pracht und Schönheit ihrer Farben übertrifft weit die italienischen Schulen«, denn sie haben die »Musikalität in den Farben gründlich studiert, durch Scheine Wirkungen hervorgebracht, welche […] frappieren.«30 Die Doppelung von Kunstwerk und Kunststück des Scheinens greift Hegel explizit noch einmal auf und stellt sich gegen die Verrechnung dieser Bilder unter die Kunstwerke des »subjektiven Humors«, die in der Bezeichnung »Kunststück« des Scheinens anzuklingen scheint. Zunächst läßt die Meisterschaft der Farbbehandlung, d. h. die unbestreitbare Schönheit dieser Bilder es prinzipiell sinnvoll erscheinen, danach zu fragen, ob solche Gegenstände ein Kunstinteresse haben, ein Interesse »für uns«, ob sie Werke der Kunst sind oder ob lediglich das subjektive Talent des Malers unsere Bewunderung erregt. Dieser Frage begegnet Hegel ausdrücklich, denn er erörtert beharrlich, ob es eine »Rechtfertigung [gibt], diese Gegenstände auch für würdig der Kunstbehandlung zu halten«31. Hegels Zögern läßt sich auf dem Hintergrund seiner Überlegungen zur Oper auch in die Frage fassen: Ist mit dem Genuß der Schönheit als formaler Vollendung der Kunst zugleich die »Empfänglichkeit« für geistige Inhalte geweckt, die Empfänglichkeit für LebensMitwirkung von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004 (im folgenden: Kehler 1826), 183 / Ms. 345. Die Zuordnung der Musikalität der Farbe zu Raphael findet sich dagegen bei Hotho. Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: H.G. Hotho: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht [Anm. 6], bes. 235 f. Interessant ist die Unterteilung zwischen der christlichen Malerei, die sozusagen die Illustration religiöser Vorstellung zu leisten hat, darum nach Hegels eigener Aussage nicht schön sein muß, und schöner Kunst, die zum Symbol eines Weltbezuges werden kann. Auch diese Unterscheidung geht in der Ästhetik unter. 28 Von der Pfordten 1826, Ms. 72a (Hervorh. Verf.). 29 Ebd. (Hervorh. Verf.). 30 Aachen 1826, Ms. 152; in gleichem Sinn berichten auch die anderen Nachschriften dieses Jahrgangs von der Kunst der Farbbehandlung, so z. B. Aachen 1826, Ms. 181, 186; von der Pfordten 1826, Ms. 72. 31 Kehler 1826, 153 / Ms. 285. Dieser Gedanke findet sich in der Nachschrift zu allen Vorlesungen. Hegel knüpft hiermit explizit an die Eingangsreflexionen seiner Ästhetik an, ob und wieweit die Kunst würdig der philosophischen Betrachtung ist, und welche Inhalte der Kunstbehandlung überhaupt für würdig erachtet werden. Während Hotho die Prosa des Lebens als unwürdig verwirft, widmet Hegel ihr wenigstens einige Gedanken, und er kommt sogar, wie sich zeigen wird, zu positivem Ergebnis.

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formen anderer Kulturen? Und: Können diese Inhalte für die eigene Lebensform eine Bedeutung gewinnen? Diese Frage beantwortet Hegel eindeutig positiv in der Erörterung des Hintergrunds der niederländischen Genrebilder. Der dargestellte belanglose Gegenstand, die alltägliche Handlung, erscheint im Bild als Symbol einer Welt-Anschauung. Mit Hegels Worten: die »Bürger-Behaglichkeit«, die in den Genre-Bildern ihren Ausdruck findet, symbolisiert die ganze Geschichte und Kultur, deren Resultat diese Art des Welt-Vollzuges und seiner Darstellung ist. Die Dinge der Alltagswelt, die im Bild dargestellt sind, symbolisieren wiederum die Art des Weltvollzuges. So darf man mit gutem Recht sagen, daß Hegel in den GenreBildern und Stilleben eine Art symbolischer Historiendarstellung entdeckt, eine in der schönen Objektivität festgehaltene und tradierte geschichtliche Weltanschauung. Der Mensch, der sich im Anschauen schön dargestellter Dinge seiner Welt in Frohheit und Heiterkeit zuwendet, vollzieht einen Entwurf der Welt, der über die romantische Innerlichkeit, über die Beschränkung auf die bloße Subjektivität, hinausweist. In der schönen Repräsentation der Alltäglichkeit machen sich die Bilder der Niederländer das »allgemein Menschliche« zum Inhalt. Sie vermögen durch die Schönheit der Darstellung eine Empfänglichkeit für einen Weltvollzug und für eine in sich reflexive Darstellung dieses Weltvollzuges zu erwecken. Hegel weist in den Vorlesungen ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hin. Die Niederländer, so führt er vor seinen Studenten aus, haben »als sie sich die Freiheit erworben haben«, d. h. als sie sich von der spanischen Oberherrschaft im politischen wie religiösen Sinn gelöst und zu ihrer eigenen Lebensform gefunden haben, »die Kunst in ihre eigene Gemütlichkeit gesetzt«.32 Der Weltvollzug »Gemütlichkeit« steht für diesen Befreiungsakt, für die Identifikation mit der selbsterkämpften Freiheit. Die schönen Dinge dagegen symbolisieren die Zufriedenheit, die Behaglichkeit in einer Welt, die der Mensch, wie Hegel in den Vorlesungen betont, durch Arbeit der Natur (dem Meere) abgerungen hat. Deshalb sind sowohl »der flüchtige Augenblick einer ganz gewöhnlichen Situation« als auch das gewöhnliche Ding, wann immer es »meisterhaft ausgeführt in einem Zauber des Farbenscheins« zur Anschauung gebracht wird, »durchdrungen von unbefangener Freiheit und Lustigkeit«. Das Komische erscheint hier als Aufhebung bzw. als Überwindung der kruden Belanglosigkeit des Alltäglichen, denn es symbolisiert nicht das Alltägliche selbst (im Sinne einer Nachahmung der gegebenen Welt), sondern eine Handlung, die die Alltäglichkeit erst in Existenz setzt. Arbeit und Befreiung von fremder Herrschaft, die als kulturelle Basis der Kunst zugrunde liegen, finden im Bild ihren Ausdruck. Interessanterweise sind dabei schon die dargestellten Dinge durch die Art ihrer Darstellung nicht bloß als statische Objekte, sondern als Resultat eines Weltvollzuges wiedergegeben. Die »Welthabe der Gemütlichkeit und Behaglichkeit« wird eingefangen durch das freie Spiel der Farben, das die Gestalt lebendig erscheinen läßt. Im Farbenschein kann sowohl die alltägliche Situation als auch das 32

Libelt 1828/29, Ms. 135; hier auch das folgende Zitat.

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schöne Ding zum Symbol einer menschlichen Lebensform schlechthin werden. Unter dieser Rücksicht muß Hegel die Genre-Bilder und Stilleben der Niederländer ein »Kunstwerk« nennen. Sie sind nicht bloßer Kunstgenuß, bloßer Genuß des Schönen, sondern weisen durch ihre Symbolisation einer Welt-Anschauung über sich und den bloß subjektiv-individuellen Vollzug des Genusses hinaus. Zugleich rücken diese Bilder in die Nähe weiterer Phänomene des »objektiven Humors«, die Hegel in den beiden letzten Vorlesungen besonders akzentuiert. Auch hier geht es ihm darum zu prüfen, ob die Kunst in der modernen Welt eine Bedeutung erhalten kann, die ihre Begrenzung auf Zeit und Kulturraum transzendiert. Mit Hegels eigenen Worten: Es geht um die Frage, wieweit bestimmte einzelne Phänomene der Kunst dem neuen Heiligen der Kunst, dem Menschen, ein Forum zur Artikulation allgemein menschlicher, nicht bloß historisch interessanter Belange verschaffen. Zumindest zu einem guten Teil sieht Hegel diese Möglichkeit in den Bildern der Niederländer realisiert. Die »Musikalität« der Farbe steht dafür, daß es in diesen Bildern über den bloßen Genuß am Schönen hinaus um einen reflektierten Genuß geht. Es geht um die Rezeption einer Lebensform und einer die Lebensform bestimmenden Grundhaltung, die im Humor, im Komischen der Situation und im Heiteren der Darstellung alltäglicher Dinge über die bloß subjektive Weltsicht hinausführt. An den Gegenständen der Welt erscheint die Handlung, die ihnen selbst die Bedeutung in einer bestimmten Kultur zugewiesen hat. So kann Hegel mit gutem Recht sagen: »Im Kunstwerk lernt man die Natur des Menschen kennen. Der Künstler hat die Empfindung des Menschen und dann die Bedeutung [dargestellt] durch den […] Sinn für das Kolorit, das den mystischen Zusammenhang mit der Innerlichkeit hat. Der Künstler muß die Formen wissen, wodurch sich das ausdrückt, was [der] Mensch ist in seiner Tiefe.«33 Ausgerechnet in der Prosa des gemeinen Lebens also gewinnt die Kunst die Inhalte, die, in Schönheit, die Kunst über die Partialität der Bedeutung hinausführen könnten. Hegel selbst macht sich allerdings einen gravierenden Einwand. Er bleibt bei seinem Vorbehalt, daß es uns »anderen Nationen […] nicht einfallen würde, auf diese Gegenstände die Mittel der Kunst zu verschwenden«.34 Der Hintergrund dieser Überlegungen ist der, daß der genauere Sinn dieser im schönen Ding aufscheinenden kulturellen Lebensform durch einen eigenen kulturhistorischen Kommentar erschlossen werden muß. Hegel leistet in der philosophischen Reflexion diese Erschließung durch seine Frage nach der Basis solcher Kunstwerke und durch den Hinweis auf ihre spezifische kulturelle Situation. Da diese Situation für eine bestimmte Kultur (die der Niederländer) spezifisch ist, kann sie »für uns« nicht ohne weiteres in der Anschaulichkeit schöner Bilder vermittelt werden. Dennoch können wir – mit Hilfe der philosophischen Reflexion, wie sie Hegel in seiner Vorlesung entwickelt – das schöne Bild als Erscheinung einer Lebensform, als Ver33 34

Libelt 1828/29, Ms. 135 f. Kehler 1826, 153 / Ms. 285.

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mittlung geistiger Inhalte erfassen. Die in der Malerei vermittelte Welthaltigkeit des Kunstwerks, die in der Schönheit aufscheint, macht uns deshalb empfänglich für geistige Inhalte, auch für die Weltanschauung und -gestaltung einer fremden Kultur. Insofern dürfen die Bilder der Niederländer »Kunstwerke« genannt werden. Aber das Bild allein und für sich selbst genommen erschließt diese Inhalte fremder Kultur noch nicht; die Weise der Symbolisation der Welthaltigkeit in schöner Alltäglichkeit bleibt umstritten. Deshalb haben auch diese Kunstwerke eine nur partiale, auf ihre Zeit beschränkte unmittelbare Bedeutung; sie müssen »für uns« historisch erschlossen werden. An der Erörterung scheinbar dubioser Beispiele aus der Vielfalt der Künste, in der Auseinandersetzung mit den belanglosen Sparten der Malerei zeigt Hegel zugleich die Bedeutung der philosophischen Ästhetik auf. Die Welthaltigkeit der abgebildeten alltäglichen Dinge kann »für uns« als legitime Möglichkeit eines (vergangenen, uns selbst fremden) Weltentwurfs einsichtig gemacht werden. Sie wird im Genuß unmittelbar nachvollziehbar, spricht uns als schöne Kunst unmittelbar an. Aber sie muß in ihrer Eigenart, nämlich in ihrem Werkcharakter, eigens reflexiv erschlossen werden. Diese Erschließung leistet die philosophische Ästhetik. Dadurch wird die Weltsicht und ihre symbolische Repräsentation »für uns« nicht zur Vorschrift, zur Forderung der Wiederholung des gleichen unter geänderten Bedingungen, sondern sie bleibt ein anschaulicher Vorschlag möglicher Welt-Anschauung. Die Allgemeinheit dieser im Werk repräsentierten Weltanschauung und Welt-Habe kann nicht mehr unterstellt werden, das Kunstwerk bleibt partial. Dennoch können wir vermittels der Schönheit die Weltsicht einer fremden Kultur nachvollziehen, sie uns wenn schon nicht mehr anschaulich und in affirmativer Identifikation, so doch historisch reflexiv aneignen. Hegel akzentuiert hier also noch einmal seine Position in der grundlegenden Festlegung der Rolle der Kunst in der modernen Welt. Im Unterschied zu seinen Schülern und auch im Unterschied zu vielen Passagen der Ästhetik bestimmt er das Empfänglich-Machen für historische Weltanschauungen als eine »formelle Bildung« durch Kunst. Es geht nicht darum, in der Kunst die Ideologie einer christlich und darin zugleich auf nationale Werte orientierten Kultur anschaulich zu vermitteln, sondern es geht darum zu zeigen, wie durch Kunst Kultur gestiftet und bestimmt wird, wie die Menschen durch Kunst eine Repräsentation ihrer eigenen Weltsicht, ein erstes geschichtliches Selbstbewußtsein gewinnen. Kunst dient dabei nicht als Vehikel staatstragender Ideen, jedenfalls kann sie dies »für uns« Bürger eines aufgeklärten Staates nicht leisten. Die Kunst bildet den Menschen nicht zum Bürger, sondern sie bildet die Bürger eines modernen Staates zu Genuß, Einsicht, Kritik. Den letzten Punkt, die Bildung zu Kritik an der eigenen Weltanschauung, erörtert Hegel noch einmal an einem weiteren Beispiel, das wiederum gekennzeichnet ist durch die Kombination von Alltäglichkeit der Inhalte und Schönheit der Form. Auch dieses Beispiel ist ein Kunstwerk, das zum Genuß des Schönen auffordert und zugleich im Genuß über bloße Schönheit der Form transzendiert. Auch in

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diesem nächsten Schritt der Bestimmung der Funktion der Kunst in der modernen Welt geht es nicht allein um die vermittelbare Identifikation mit der Kunst im Vollzug (Gefühl oder Genuß als die formellere Variante des Gefühls), sondern um eine Stimulation der Reflexion. Die Letztere führt aber eine Stufe über die Empfänglichkeit für geistige Gehalte hinaus. Kunst wird zur Aufforderung, die eigene Kultur um das Fremde, um Alternativen zu bereichern. Als Beispiel für diese Art der Wirkung der Kunst, für ihre kritische Funktion führt Hegel Goethes Dichtung, insbesondere den West-Östlichen Divan an.

IV. Die kulturelle Bedeutung: Kosmopolitismus der Kunst Hegel zeichnet Goethes West-Östlichen Divan als eine weitere Möglichkeit der Kunst aus, im »objektiven Humor« die Weltlosigkeit romantischer Innerlichkeit zu überwinden.35 Auch der Divan schafft die Möglichkeit, im »objektiven Humor«, durch die Heiterkeit eines Verweilens bei den Dingen dieser Welt eine fremde Kultur poetisch zu vermitteln, sie der unseren als Erfahrungsmöglichkeit anderer Art entgegenzustellen. Anders als in der Ästhetik ordnet Hegel den Divan einmal als Kulminationspunkt der symbolischen Kunstform zu, um ihn als Wiederholung der symbolischen Kunstform auf dem Boden und mit der Reflexivität romantischer Innerlichkeit zu charakterisieren; zum anderen sieht er im Divan Goethes höchste poetische Leistung.36 Die Ästhetik rühmt beispielsweise zwar die »geistige Freiheit« des Divan – was immer dies heißen mag –, sieht aber Goethes poetische Höchstleistung nicht im Divan, sondern eindeutig im Faust als der »absoluten philosophischen Tragödie«. Hegel dagegen setzt die Erörterung des Divan in den Kontext der Auseinandersetzung mit den »Liedern der Völker«. Während das lyrische Lied zunächst in Goethes Liedern einen epischen Charakter bekommt, also eine Situation zugleich mit einem Gefühl, Objektivität gepaart mit subjektiver Innerlichkeit darstellt, geht Goethe in seinem Alterswerk einen entscheidenden Schritt weiter. Erst der Divan verknüpft die Empfindung einer Welt mit der Realität selbst, und zwar mit einer Realität, die nicht bloße Naturidylle bleibt, sondern eine ausgebildete fremde Kultur ist. Daher betont Hegel: »Wenn wir Goethes frühere Lieder vergleichen mit den Liedern seines Alters, so erkennen wir [einen] verschiedenen Charakter [beider]: Zu dieser Heiterkeit, Pharrhäsie der Vorstellung, Empfindung, hat er sich erst später ergänzt. Der West-Östliche Divan zeigt, daß er erst da von dem morgenländischen 35 Vgl. dazu die nähere Analyse bei Annemarie Gethmann-Siefert und Barbara StemmrichKöhler: Faust: Die »absolute philosophische Tragödie« und die »gesellschaftliche Artigkeit« des Westöstlichen Divan [Anm. 2]. Auf diese Analyse wird hier zurückgegriffen; die Positionen werden im einzelnen nicht eingehend belegt. 36 Vgl. dazu Ästhetik I [Anm. 1], Bd. 1. 476 f.; Ästhetik II, Bd. 1. 464.

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Geist berührt ist; er ist unerschöpflich in Bildern, expandiert vor Freude, Sicherheit, Unbekümmertheit, auch in der Polemik gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen die Menge.« All diese Eigenarten der poetischen Qualität des Divan knüpft Hegel in einer definitionsartigen Charakteristik zusammen, wenn er fortfährt, es zeige sich im Divan »das substantielle Verhältnis des Dichters in sich selbst und zu den Gegenständen«.37 Im Verständnis Hegels führt Goethes Divan deshalb über die Kunst der romantischen Innerlichkeit hinaus. Das »substantielle Verhältnis« des Dichters in sich selbst, d. h. eine auf die Welt bezogene, die Welt integrierende Weise des Selbstvollzuges, wird ergänzt durch ein ebensolches Verhältnis zu den Dingen. Auf dem Hintergrund der Analyse der niederländischen Malerei läßt sich deshalb folgern, daß auch im Divan die Beschreibung der Dinge ein Welt-Haben symbolisiert, das zudem im Vergleich mit Hegels (und auch unserem heutigen) Weltverständnis eine kritische Position einnehmen kann, zumindest eine Alternative darstellt. Hegel geht davon aus, daß die »Lieder der Völker« zu jeder Zeit in ihrer umfassenden Bedeutung ein Epos gewesen sind und daß auch der Divan diesen Charakter des Epischen vermittels der lyrischen Poesie wiedergewinnt. Deshalb sein »ästhetisches« Urteil: »Goethe hat in seinem West-Östlichen Divan, nachdem ihn in seinem Alter das Morgenland berührt hat […] das Höchste in der Poesie geleistet«.38 Im Vergleich mit der Konzeption seiner Schüler, sowie im Vergleich mit der Konzeption Hothos, zeigt sich hier eine weitaus interessantere Möglichkeit, die Wirkung der Kunst in der Moderne zu definieren. Während Hegels Schüler und Anhänger allesamt auf den Faust als das neue Epos der modernen Welt harren, sieht Hegel, wenn überhaupt, die Chance eines solchen modernen Epos im Divan bereits realisiert. Im Divan gelingt es Goethe nämlich, mit Hilfe der Poesie eine fremde Kultur zu vermitteln, ihr Lebensgefühl dem eigenen Erfahrungshorizont zu integrieren. Gegen solche Reflexionen sticht das »Deutschdumm« der Hegelanhänger ab, die auf eine Erneuerung des deutschen Geistes aus germanischer Quelle hoffen und Phänomene wie den Divan kurzerhand als »Kosmopolitismus«, damit als Zeichen eines schwachen Nationalgefühls und als ästhetisch inakzeptabel abtun. Zwar bringt Hotho es nicht übers Herz, das Lob des Divan, das Hegel in den Vorlesungen vorgebracht hat, ganz zu unterdrücken, er münzt es aber weitgehend um in eine Wertschätzung der Alterslyrik, die hinter den großen Werken, hinter der »absoluten philosophischen Tragödie«, dem Faust, zurückbleibt. Hegel erweist sich daher in seinen Vorlesungen bereits als Kritiker der Tendenzen, die seine spätere Ästhetik durch die Schüler gestützt, vertritt. Es geht nicht um eine national orientierte Kunst aus eigener Quelle, sondern es geht um eine durch die Kunst (zumindest mit-)vermittelte Weltkultur, um die Gestaltung der eigenen Kultur durch die Öffnung faktischer Orientierungen für die Vielfalt des Menschen-Möglichen. 37 38

Kehler 1826, 94 / Ms. 171. Kehler 1826, 197 / Ms. 376; Aachen 1826 / Ms. 191.

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Deshalb charakterisiert Hegel Goethes Divan auch eindeutig als ein Phänomen des objektiven Humors. »Im West-Östlichen Divan Goethes ist Befriedigung in der Phantasie, die Freiheit des Geistes über die Gebundenheit der Welt, das Preisen des zeitigen Genusses«.39 Hegel sieht in dieser »Richtung« der Kunst die höhere Möglichkeit »des lyrischen Liedes«. So zeigt sich in seiner Charakteristik des Divan dieselbe Intention wie in der Auseinandersetzung mit der Genre-Malerei und dem Stilleben der Niederländer. Auch hier verteidigt Hegel mit dem Genuß des Schönen die Möglichkeit, in der Kunst zum objektiven Humor vorzudringen, damit die Chance, durch die Kunst eine in sich kritisch-reflexive Weltanschauung zu vermitteln. Der Divan beispielsweise gibt der modernen Welt durch die Weltanschauungsweise, die hier poetisch vermittelt wird, eine Korrektur der Welt-Habe vor. Die Weltanschauungsweise der orientalischen Welt steht der der germanischen entgegen, ja ist ihr überlegen durch die Fähigkeit zur »Heiterkeit bei den Dingen«, durch die Fähigkeit, den Sinn und die Bedeutung einer Weltsicht an den Dingen zu symbolisieren. Diese »objektive Heiterkeit« läßt (ebenso wie Hegel es für die Genre-Bilder und die Stilleben der Niederländer zeigte) die romantische Innerlichkeit als bloß eingeschränkte Weltsicht erscheinen. Die Konzentration auf die subjektive Innerlichkeit gewährt nicht mehr zwangsläufig die höchste historische Entwicklung der Kunst. Sie kann überboten werden durch die Darstellung eines Weltverhältnisses, das sowohl subjektiv-innerlich als auch welthaft-objektiv ist, das in der künstlerischen Darstellung symbolisch präsentiert ist. Durch die unmittelbare Konfrontation zweier sprachlich gegebener Weltanschauungsweisen (der herrschenden abendländischen, die in der Kunst zur »romantischen Innerlichkeit«, in der Politik zum »Deutschdumm« verengt wurde, und der orientalischen substantiellen Welthabe) entfaltet die Poesie der »objektiven Heiterkeit« das kulturkritische Potential der Kunst. Dennoch bleibt Hegel auch in der Erörterung dieses Beispiels dabei, daß die poetische Vermittlung anderer, fremder und damit uns neuartiger Inhalte lediglich eine »formelle Bildung« leisten kann. Die Kunst kann affirmative Identifikation mit der Weltsicht einer fremden Kultur fordern, sie kann nur im NachvollziehbarMachen der Alternative die Nachdenklichkeit für die Beschränkungen der eigenen Kultur herausfordern. Kunst wird daher nicht zur Ideologie (etwa der Ideologie der Verklärung des Orients anstelle der germanischen Welt), sondern zur Vermittlung einer anschaulichen Alternative menschlicher Kultur. Sie wird zur Kritik des Faktisch-Gewordenen durch den Hinweis, daß anderes ebenso geworden, möglicherweise mit gleichem Recht gültig und eventuell gar besser sein kann. D.h. nach Hegel: Wir leben unser Leben als Bürger eines Staates nicht dadurch, daß wir durch die Kunst zum Bürger gebildet werden. Wir leben als moderne Bürger aber mit der Kunst, weil uns allen in der Kunst ein anschauliches Kritikpotential für unsere eigene Weltanschauung und Handlungsorientierung gegeben ist. 39

Libelt 1828/29, Ms. 151a. Zum folgenden ebd.

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V. Kunst »für uns« Während Hegels Ästhetik die schöne Kunst mit großem Inhalt als die vorbildliche Kunst darstellt, wobei der Philosoph immer wieder mit begeisterten Schilderungen schöner Kunstwerke glänzt, mit Superlativen ästhetischer Auszeichnung nicht spart, erörtert Hegel in seinen Vorlesungen die Möglichkeiten kultureller Selbsterfahrung angesichts und anläßlich historisch vergangener wie gegenwärtiger Kunst. Kunst motiviert zur Reflexivität und in einem zweiten Schritt zur Kritik. Dabei verknüpft Hegel den Gedanken einer Bildung durch Kunst, also ein wesentliches Anliegen seiner Ästhetik wie seiner Philosophie überhaupt, mit der Legitimation des Kunstgenusses. Der Genuß der schönen Kunst ist ein ebenso zuträgliches wie unverzichtbares Moment des Kunstvollzuges. Er wird freilich ergänzt durch die Relevanzforderung, durch die Vermittlung möglicher sittlicher Orientierung durch die Kunst. Kunst bietet Genuß, stimuliert im Genuß aber zugleich zur kritischen Reflexion. Bereits die schöne, dem Genuß gewidmete Kunst kann zur »Empfänglichkeit« für Fremdes, damit zur Kritik motivieren. Anders als in der gegenwärtigen Ästhetik gelingt es Hegel daher, nicht nur ein breiteres Spektrum von Vollzugsmöglichkeiten der Kunst zu entfalten. Ausgerechnet die in der Gegenwartsdiskussion verpönte Haltung des Genusses wird als Möglichkeit einer durch Kunst vermittelten Gesellschaftskritik analysiert. Während die Ästhetik den Kunstgenuß nur in der sublimierten Form einer Begeisterung für die große Kunst zuläßt, weist Hegel seine Legitimität an den verpönten Unkünsten nach, die sich die »Prosa des Lebens« zum Inhalt wählen. Dabei verkommt die philosophische Ästhetik aber nicht zum gefühlsseligen Lobpreis des Schönen, zur Verbreitung individueller Genießerfreuden. Die Vorlesungen rücken kaum je die Begeisterung, den individuellen Genuß an der Beschäftigung mit der Kunst in den Blick, der sich in vielen persönlichen Äußerungen Hegels entdecken läßt. Hegel münzt seine eigene, in Briefen und Gesprächen zum Ausdruck gebrachte Begeisterung für die Kunst in den Vorlesungen zu kulturphilosophischen Reflexionen, in eine Bestimmung der generellen Bedeutung der Kunst »für uns« um. Diese Bestimmung charakterisierte er bereits in der Rechtsphilosophie, aber auch in frühen Überlegungen zu einer »pragmatischen Geschichte«, die er in der »Philosophie der Weltgeschichte« wieder aufgreift.40 Dem Gedanken einer Bildung durch Kunst verpflichtet, zeigt Hegel, daß der Genuß der Kunst in dieser »formellen Bildung« eine unverzichtbare Rolle übernehmen kann und muß. Die Rehabilitierung des Kunstgenusses umfaßt den Genuß der Schönheit und der formalen 40 Vgl. Philosophie des Rechts (Wannenmann-Nachschrift). Zur Interpretation vgl. die Abhandlung von Otto Pöggeler: Hegels Bildungskonzeption im geschichtlichen Zusammenhang, in: Hegel-Studien 15 (1980), 241 ff. Die Weiterführung der Konzeption der formellen Bildung in der Philosophie der Weltgeschichte interpretiert Jeong-Im Kwon in ihrer Dissertation im Zusammenhang mit der Bestimmung der symbolischen Kunstform eingehender (Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst – Die Bedeutung der »symbolischen Kunstform« in Hegels Ästhetik, München 2001).

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Vollendung, ebenso aber die Reflexivität dieses Genusses, die die Empfänglichkeit für fremde Kulturen und andere Lebensformen stimuliert. Damit erschließt die Rehabilitierung des Kunstgenusses zugleich die Bedeutung der Kunst in der Geschichte der Menschheit und die Bedeutung der Kunst jeweils »für uns«. Ausgerechnet die »Heiterkeit«, der »objektive Humor«, da, wo er sich an die Dinge der Alltäglichkeit anheftet, ist in der Lage, diese kulturelle Dimension der Kunst und des Kunstvollzuges zu vermitteln. Hegel erscheint deshalb in seinen Vorlesungen zur Ästhetik (nicht in der Ästhetik) als der bereits zu seiner Zeit unzeitgemäße Verfechter einer Befreiung des Kunstvollzuges von der Kunstverehrung. Wir beugen vorm Kunstwerk nicht mehr das Knie, so betont Hegel. Die Kunst wird als »autonome Kunst« nicht zum neuen Heiligen des modernen Menschen, vor dem er in den neugestalteten Andachtsräumen der Museen und Ausstellungen zumindest innerlich die Knie beugen müßte. Dagegen verschafft sich der neue Heilige der Kunst, der Mensch, vermittels der Kunst ein Spektrum kultureller Möglichkeiten der Selbst- und Welterfahrung. Hegels vermeintlich klassizistische Ästhetik ist also gerade, wenn man ihre These vom »Ende der Kunst« ihrer höchsten Möglichkeit nach ernst nimmt, der Promotor einer neuen, gegenüber der gegenwärtigen Ästhetik breiter angelegten philosophischen Ästhetik. Es geht nicht um die Verteidigung der »Autonomie« der Kunst gegen den genußorientierten Zugriff des modernen Menschen. Während sich in der gegenwärtigen Ästhetik, der genußorientierte Rezipient als »Banause« abqualifizieren lassen muß, geht es Hegel gerade um eine Verteidigung dieses »Banausen«. Schon in den Nürnberger Schriften betont er, daß es nicht um die Kennerschaft an der Kunst geht, sondern um die schlichte Frage, was die Kunst »für uns« bedeute. Diese Frage beantwortet er in seinen Vorlesungen zur Ästhetik oder Philosophie der Kunst auf vielerlei Weise, nicht zuletzt durch die dargestellte Rehabilitation des »Fehlgriffs« des Banausen, durch die Rehabilitierung des ästhetischen Genusses. Fragt man sich, warum Hegels Option für den Genuß bislang von dem Heer kompetenter Interpreten nicht realisiert wurde, so gibt es darauf eine schlichte Antwort. Hegels Darstellung dieses Sachverhalts wird durch die Ästhetik in einer Weise verzerrt und umgestellt, die die brisanten Reflexionen unter der Frage nach der schönen und großen Kunst erstickt. Sollte man also in der gegenwärtigen Diskussion um die Aufgaben, Möglichkeiten und Resultate einer philosophischen Ästhetik eine Argumentationshilfe brauchen, so bietet sich Hegel selbst an. Seine Konzeption einer Kunst, die dem Genuß nicht abhold, zugleich zur kulturellen Relevanz der Kunst voranschreiten kann, ist angetan, verfestigte Gegensätze der Ästhetikdiskussion (wieder) aufzuheben. Um Hegel in seiner Eigentümlichkeit kennenzulernen, wird allerdings eine philologische und historisch-kritische Auf arbeitung seiner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst nötig.

Wissenschaftstheoretische Implikationen des Kunstverständnisses bei Hegel und im Hegelianismus Von Bernadette Collenberg-Plotnikov

Wohl jeder deutschsprachige Kunsthistoriker kennt das schöne, Otto von Bismarck zugeschriebene, Zitat1: »Die erste Generation verdient Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends.« Denn das Image dieser Wissenschaft hat sich seit der Gründerzeit nicht wesentlich gewandelt: Der über diesem ›Orchideenfach‹ liegende Hauch des dekadenten Luxus mag zwar vielleicht inzwischen verflogen sein, aber der Geruch des Überflüssigen ist geblieben. So hat auch der heute vieldiskutierte nordamerikanische Kunstphilosoph und -kritiker Arthur C. Danto, dem man schon von Berufs wegen mehr ›Kunstsinn‹ als dem Reichskanzler zubilligen mag, für die Kunstgeschichtsforschung nur das beiläufig gesprochene Urteil übrig, hier handele es sich um eine »rather anemic discipline«2, für die – wie man sich unwillkürlich ergänzt – jede Reformbemühung ungefähr ebenso aussichtsreich ist wie der Wiederbelebungsversuch an einer Leiche.

I. Die Pluralisierung des Kunstbegriffs als Provokation der Kunstgeschichtsforschung Während früher solche freundlichen Einschätzungen den Gang des Wissenschaftsbetriebs in der Regel nie weiter irritiert haben, sehen sich die Kunsthistoriker seit geraumer Zeit mit einem Problem konfrontiert, das nun allerdings für entschiedene Unruhe sorgt. Unter den Kunsthistorikern greift nämlich das Bewußtsein um sich, daß ihnen ihr Forschungsgegenstand zusehends entgleitet.3 Gegenstand des Faches Kunstgeschichte im herkömmlichen Verständnis sind die bildenden Künste und ihre Geschichte. Dabei behandelt diese Disziplin aber 1 Vgl. Wolfgang Beyrodt: Kunstgeschichte als Universitätsfach, in: Kunst und Kunsttheorie 14001900 – Vorträge gehalten anläßlich des 22. Wolfenbütteler Symposions »Kunstgeschichte von Vasari bis Winckelmann« vom 1. bis 5. Dezember 1987 und des 24. Wolfenbütteler Symposions »Kunstgeschichte seit Winckelmann« vom 27. November bis 1. Dezember 1988 in der Herzog August Bibliothek, hg. von Peter Ganz, Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen 48), 313-333, hier: 331. 2 Arthur C. Danto: The End of Art, in: ders.: The philosophical disenfranchisement of art, New York 1986 (dt.: Die philosophische Entmündigung der Kunst, aus dem Englischen von Karen Lauer, München 1993), 81-115, hier: 114. 3 Vgl. bes. Willibald Sauerländer: Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs – Zerfällt das Paradigma einer Disziplin ?, in: ders.: Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik, hg. von Werner Busch, Wolfgang Kemp, Monika Steinhauser und Martin Warnke, Köln 1999, 293-323.

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nicht die Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, wie dies vor der akademischen Etablierung der Kunstgeschichte die Aufklärer des 18. Jahrhunderts und beispielsweise auch Hegel gefordert hatten. Vielmehr wurde schon im 19. Jahrhundert ›Kunstgeschichte‹ die Bezeichnung für die Geschichte der bildenden Kunst ausschließlich Europas und Nordamerikas. In Deutschland wurde der Gegenstand dann noch enger eingegrenzt: Während man etwa in Frankreich und den USA die Erforschung der antiken Kunst Griechenlands und Roms mit einbezog, konzentrierte man sich in den deutschsprachigen Ländern auf die künstlerische Produktion nach der Anerkennung des Christentums durch Kaiser Konstantin. Demgegenüber wird die eurozentrische Selbstbeschränkung des Fachs aufgrund der Globalisierungserfahrung heute zunehmend als problematisch empfunden, die Fixierung auf die christliche Kunst ist nicht länger durch das kulturelle Selbstverständnis gedeckt. Die Irritation geht aber noch weiter. So stehen die Kunsthistoriker, zumal angesichts neuer Kunstpraktiken, unter dem Eindruck, daß die überkommenen Kategorien des Faches wie ›Autor‹, ›Werk‹ oder ›Sinn‹ nicht mehr greifen – sie erscheinen jetzt als »willkürliche Beschränkungen des Blickes«.4 Dabei wird nicht nur eine lineare geschichtliche Entwicklung der Kunst, wie die Vertreter des Fachs sie in ihren Forschungen bislang unterstellt hatten, fragwürdig. Vielmehr gilt dies auch für die Konturen des Gegenstandes ›Kunst‹ selbst: Wo an die Stelle der Kunst als spezifischem Phänomen eine allgemeine Ästhetisierung der Existenz gesetzt wird, wo kein äußerliches Kriterium mehr angeführt zu werden vermag, das einen Gegenstand sicher als Kunst auszuzeichnen vermöchte, da wird die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst unscharf. In diese Lücke stößt vor allem ein Begriff: der Begriff des ›Bildes‹. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Denn die Pluralisierung des Kunstbegriffs, wie sie hier reflektiert wird, drängt seine Überführung in den Bildbegriff geradezu auf. Zudem erscheint die durch die Praktiken der neueren Kunst angezettelte Irritation nur als Fortsetzung der aktuellen kulturellen Wahrnehmung, einer ›Bilderflut‹ ausgesetzt zu sein. Das Massenmedium Bild – die Bilder der Information, Werbung und Unterhaltung – hat dem Medium Kunst quantitativ unbestreitbar den Rang abgelaufen. Die Vertreter anderer Disziplinen haben es daher unternommen, das Bild grundsätzlicher zu bedenken, als Kunsthistoriker dies bislang getan hätten.5 Stefan Germer: Mit den Augen des Kartographen – Navigationshilfen im Posthistoire, in: Kunst ohne Geschichte ? – Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, hg. von Anne-Marie Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt, München 1995, 140-151, hier: 146. 5 Die Frage »Was ist ein Bild ?«, die Gottfried Boehm als Titel eines einflußreichen Sammelbandes wählte (Was ist ein Bild ?, hg. von Gottfried Boehm, München 21995 [11994]), ist so zum Gegenstand einer inzwischen kaum noch zu überblickenden Zahl von Untersuchungen über das Phänomen und Prinzip ›Bild‹ geworden. Es gibt inzwischen eine Theologie, Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Ethnologie und Kulturgeschichte des Bildes. Hinzu treten die Beiträge weiterer bildbezogener Wissenschaften wie der Kommunikationswissenschaft und der Medienwissenschaften. Selbst für die Mathematik und die Naturforschung ist das Bild zum Thema 4

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Diese Veränderungen können selbstverständlich auch die Kunsthistoriker nicht ignorieren. Schließlich droht ihnen ihre immer wieder beschworene angestammte ›Deutungshoheit‹ über die Bilder abhanden zu kommen. Die Antwort der Wahl ist dabei die Transformation der traditionellen Kunstgeschichte in eine anthropologisierende Bildwissenschaft, die als solche ihr Scherflein zu den ›Visual studies‹, ›Media studies‹, ›Cultural studies‹, ›Postcolonial studies‹ oder ›Gender studies‹ beisteuern kann. Im anglo-amerikanischen Raum ist diese Praxis bereits akademischer und kultureller Alltag. Aber auch eine Reihe von kontinentaleuropäischen Kunsthistorikern versucht, auf diesem Weg der ›anämischen Disziplin‹ wieder Farbe ins Gesicht zu treiben. Sie sehen den Kunsthistoriker vor der Grundsatzentscheidung, »ob er zum Bildwissenschaftler mutieren oder als Exot in einer Nische der Geschichte enden will«6. Die Wissenschaftspolitik gibt dieser Intuition recht: Denn die Aufgabe der alteuropäischen Einzeldisziplinen wird derzeit darin gesehen, die von den fachübergreifenden Studiengängen vorgegebene ›Matrix‹ mit möglichst universell kompatiblen ›Modulen‹ zu bestücken.7 Wie auch immer – eine Revision der Kunstgeschichtsforschung scheint angesichts der Veränderung der ästhetischen Erfahrung überfällig zu sein. Diese Überzeugung teilen durchaus auch diejenigen Forscher, die sich nicht dem bildwissenschaftlichen Ansatz verschreiben mögen. Was die Überlegungen der Wissenschaftler angeht, so ist bei der Begründung des Bedarfs einer Reform der traditionellen Kunstgeschichtsforschung – wie eigentlich immer, wenn es ernst wird – Hegel im Spiel. Im Mittelpunkt steht dabei seine These vom Vergangenheitscharakter der Kunst. Und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen stellt Hegel in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen ein Bedingungsverhältnis zwischen der These, die Kunst sei heute nicht mehr die »höchste Stufe, das Absolute auszudrücken«, und der Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen, näherhin: historischen Erforschung her.8 Indem geworden. Dabei steht das spezifische kognitive und kommunikative Potential bildhafter Darstellungen im Zentrum des Interesses. 6 Thomas Wagner: Laßt Bilder sprechen – Die Begriffe drehen und wenden: Der 26. Deutsche Kunsthistorikertag in Hamburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 73 (27.3.2001), 53. 7 Vgl. hierzu bes. Wolfgang Kemp: Reif für die Matrix – Kunstgeschichte als Bildwissenschaft, in: Neue Rundschau 114/3 (2003), 39-49. 8 »Unsere Welt, Religion und Vernunftbildung ist über die Kunst als höchste Stufe, das Absolute auszudrücken, um eine Stufe hinaus. Das Kunstwerk kann also unser letztes Bedürfnis nicht ausfüllen, wir beten kein Kunstwerk mehr an, und unser Verhältnis zum Kunstwerk ist besonnenerer Art. Ebendeswegen ist es auch unser näheres Bedürfnis, über das Kunstwerk zu reflektieren. Wir stehen freier gegen dasselbe als früher, wo es der höchste Ausdruck der Idee war. Das Kunstwerk erreicht unser Urteil; den Inhalt des Kunstwerks und die Angemessenheit der Darstellung unterwerfen wir unserer betrachtenden Prüfung. Es ist in dieser Rücksicht die Wissenschaft der Kunst mehr [zum] Bedürfnis [geworden] als in alter Zeit. Wir achten und haben die Kunst, sehen sie aber als kein Letztes an, sondern denken über sie [nach]. Dies Denken kann nicht die Absicht haben, sie wieder hervorzurufen, sondern [nur die,] ihre Leistung zu erkennen.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823 – Nachgeschrieben von Hein-

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die Kunst nämlich die Leitfunktion als Ausdruck des ›Absoluten‹ an die Philosophie abgibt, wird sie – so Hegel – allererst als historisches Phänomen erfahrbar. Damit wird diese These zum »Gründungsakt einer neuen Disziplin«9: der Kunstgeschichtsforschung, deren Vertreter Hegels Historisierung der Kunst als Grundvorstellung eines rational rekonstruierbaren, kohärenten Entwicklungsgangs der Kunst aufgreifen. Und eben diese Grundvorstellung wird heute entschieden problematisiert. Denn die darin einbeschlossene Überzeugung, »aus der Vogelschau des lieben Gottes« »außerhalb der Geschichte über die Geschichte urteilen zu können«10, gilt namentlich infolge der »Verwirrung, welche die moderne Kunst in den Ursprungs- und Ordnungssystemen des Faches angerichtet hatte«, als Irrtum11: »In dem Moment, da das Geschichtliche sich in Einzelgeschichten auflöst, die, jede für sich betrachtet, im philosophischen Sinn grundlos sind, gerät die mit Hegels Rollenverteilung gesetzte Herrschaft des Historischen über das Ästhetische oder methodologisch gewendet: die Dominanz der Erudition über die Interpretation ins Wanken.« Zugleich wird aber eben diese Hegelsche These vom Vergangenheitscharakter der Kunst entschieden positiv aufgenommen: Nach dem Ende jener Abfolge von künstlerischen Innovationen, die die klassischen Künstler vorbewußt, die Avantgardisten dagegen bewußt, in permanenter Absetzungsbewegung vom eben erst Akzeptierten, realisierten, erscheint Hegel als Vordenker des ästhetischen Posthistoire. Dabei wird Hegels These in dem Sinne gedeutet, daß mit der Pluralität der Einzelgeschichten zugleich der einheitliche Kunstbegriff, der in der Vorstellung der Geschichte der Kunst tragend war, aufgelöst ist. Die traditionelle Kunstgeschichtsforschung, die sich auf die Pflege ihres problematischen Hegelschen Erbes, nämlich die Fortschreibung einer teleologischen Geschichtskonstruktion, konzentrierte, wird auf diese Weise, paradoxerweise mit Hegelschen Mitteln, überwunden.12 Bei diesem eher topischen Verweis wird allerdings in der Regel übersehen, daß Hegels Kunstphilosophie selbst bereits eine Auseinandersetzung mit dem prekären Charakter der Kunst als Gegenstand der Wissenschaft darstellt. Das Problem ist also keineswegs so neu, wie es angesichts der jüngeren Debatten scheinen mag. Vielmehr begleitet es die Disziplin in der Tat bereits seit ihren Anfängen im Umfeld von Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen in den 1820er Jahren. So gesehen handelt es sich heute lediglich um die Zuspitzung einer von Beginn an latent präsenten Frage. Im folgenden soll zum einen Hegels Beitrag zu dieser Diskussion näher erläutert werden. Zum anderen soll die Reflexion dieser philosophischen Position in den Arbeiten des Kunsthistorikers Heinrich Gustav Hotho, einem Schüler Hegels, rich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 [Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 2] [im folgenden: Hotho 1823], 6 / Ms. 5 f.) 9 Stefan Germer: Mit den Augen des Kartographen [Anm. 4], 141. 10 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte – Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, 135 und 137. 11 Stefan Germer: Mit den Augen des Kartographen [Anm. 4], 146 f. 12 Vgl. z. B. Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte [Anm. 10].

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betrachtet werden. Eine solche historische Verlängerung mag zur Relativierung des gegenwärtigen Eindrucks einer überfälligen Radikalreform des Fachs beitragen. Die Rekonstruktion der Problemlagen fördert aber darüber hinaus Bestimmungen des Ästhetischen zutage, die möglicherweise auch in den aktuellen Diskussionen, wie namentlich Danto sie unter Berufung auf Hegel angeregt hat, in konstruktiver Weise aufgegriffen werden können.

II. Die Bestimmung der Kunst in Hegels Ästhetik: Einheit in der Pluralität So vertraut uns heute der Gemeinplatz von Hegel als einem der Väter der Kunstgeschichte ist, so fern stand diese Wirkungsrichtung ganz zweifellos Hegel selbst. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß sich die Profilierung der Kunstgeschichte als akademische Disziplin in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts allererst abzuzeichnen begann. Für Hegel war dieser Forschungszweig vorerst nur in Form disparater Einzelstudien präsent, anhand derer kaum abzusehen war, daß sich aus solchen Forschungen einmal eine selbständige Wissenschaft entwickeln würde. Einfluß auf die kunsthistorische Forschung zu nehmen, mußte Hegel schon aus diesem Grund fern liegen. Hinzu kommt, daß Hegel noch die Philosophie allein als Wissenschaft im eigentlichen Sinn betrachtet13, indem nur die Philosophie die Begriffe klärt, mit denen in den Erfahrungswissenschaften unhinterfragt operiert wird. In der rein historischen Analyse wird ein Kunstbegriff vorausgesetzt, der letztlich unbegründet bleibt und sich im Bereich bloßer Behauptungen bewegt. Denn mit der Historisierung und Empirisierung der Kunst kommt notwendig zugleich jener Gesichtspunkt ins Spiel, den Hegel vorerst eher als grundsätzliches Problem erkennt, mit dem es die im Anschluß an Hegel ausgebildete empirisierte Kunstforschung dann aber in verstärktem Maß zu tun hat: das Problem einer Pluralität der Kunstbegriffe. So notiert Hegel14: »Jede Kunst stellt eine unendliche Menge von Formen dar. Was ist nicht in allen verschiedenen Zeiten und Nationen schön Vgl. bes. Herbert Schnädelbach: Kap. Wissenschaft sowie Spekulative und empirische Methode, in: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830) – Ein Kommentar zum Systemgrundriß von Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch, Walter Jaeschke, Wolfgang Neuser und Herbert Schnädelbach, Frankfurt/M. 2000 (Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken herausgegeben von Herbert Schnädelbach 3), 22-26 und 47-52; Stephan Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, Berlin 1984 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich 7), darin bes. Kap. Philosophie und Kunsthistorie als Einheit, 30-32; Otto Pöggeler: Kennerschaft versus Philosophie – Waagen und die Hegelianer, in: Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 37 (1995), 33-38. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitwirkung von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004 (im folgenden: Kehler 1826), 5 / Ms. 7 f. 13

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genannt worden; wie unendlich verschieden, mannigfaltig stellt sich uns das Schöne dar. Diese Mannigfaltigkeit, die der Kunst eigentümlich ist, als einem anderen Gebiete des Geistes, kann [als] eine unüberwindliche Schwierigkeit scheinen, eine Wissenschaft des Schönen zu erbauen. […] Als Resultat bei der unendlichen Verschiedenheit der Gegenstände, die für schön gelten sollen, hat sich als das Negative ergeben, daß sich keine Regeln angeben lassen, für das, was für schön zu halten sei. Wenn das Resultat nicht so negativ ausfällt, sondern affirmativer Inhalt sein soll, so wird es sehr oberflächlich sein, denn in der Tat sind die Bestimmungen so verschieden, daß sich keine herausheben läßt als dem Schönen wesentlich.« Nicht weniger problematisch ist aber auch die umgekehrte, sozusagen klassischphilosophische Herangehensweise, die Heterogenität der Phänomene auf eine allgemeine abstrakte Idee reduzieren zu wollen15: »[Die] abstrakte Reflexion über das Schöne in der Kunst, die das Schöne für sich zu ergründen sucht, hat Plato zuerst eingeführt. Die Gegenstände sollen in ihrer Allgemeingültigkeit erfaßt werden. […] Das ist die höchste Betrachtung des Schönen, aber sie kann auch nur zur abstrakten Metaphysik werden. Die logische Idee muß konkreter gefaßt werden. Platos leere, inhaltslose Idee befriedigt unseren Geist nicht mehr.« Damit stellt sich die Frage, wie man eigentlich, jenseits einer Norm, rational über Kunst reden kann. Dieses Problem betrachtet Hegel als die zentrale Herausforderung an eine philosophische Beschäftigung mit der Kunst. Eine Antwort ist weder in der »Betrachtung der partikularen Kunst« noch in der »formellen Metaphysik des Schönen« zu suchen. Und so schließt Hegel16: »Der eigentliche philosophische Begriff muß die Mitte der beiden Extreme sein, das bloß empirische Verhalten führt zur Richtungslosigkeit, der Allgemeinheit mangelt es an Fruchtbarkeit.« Die Arbeit auf dieser »Mitte«, wie Hegel sie in seinen Ästhetikvorlesungen leistet, ist der Versuch einer theoretischen Verknüpfung von historischer Varianz und begrifflicher Identität. Bereits die kunstphilosophischen Grundbegriffe oszillieren in seiner Argumentation jeweils zwischen einer systematischen und einer historischen Bestimmung. So sind ›Schönheit‹ und ›Idealität‹ für Hegel ausgezeichnetes Merkmal der klassischen Kunst der Antike. Sie bilden das Kriterium zur Unterscheidung der klassischen von den anderen Kunstformen: »In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden.« »Hier fällt das Ideal der Kunst her.«17 Nichtsdestoweniger ist das »ganze Schöne« erst in den »drei Formen des Symbolischen, des Klassischen, des Romantischen. Jede besondere Kunst ist ein Schönes, und deswegen ist das Schöne in diesen drei Formen.«18 Auch die romantische Kunst 15 Aesthetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29 (Mitschrift Karol Libelt) (Ms. Jagiellonische Bibliothek, Krakau) (im folgenden: Libelt 1828/29), Ms. 4a f. 16 Libelt 1828/29, Ms. 5. 17 Hotho 1823, 179 / Ms. 166 und 36 / Ms. 31. 18 Kehler 1826, 157 / Ms. 291.

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ist, ebenso wie die symbolische, das »Dasein oder die Darstellung des Ideals oder die Vereinzelung, Verwirklichung des Ideals«19. Diese offensichtlichen Widersprüche lösen sich auf, wenn man in Hegels Argumentation zwei Diskussionsebenen unterscheidet. Zum einen bestimmt Hegel auf einer systematisch-philosophischen Ebene Schönheit als Begriff, der es allererst erlaubt, Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden; dieser Begriff von Schönheit bezeichnet das ›Kunstschöne‹ in seiner Eigentümlichkeit, wie es sich in charakteristischer Weise von anderem (etwa dem Naturschönen) unterscheidet. Zum anderen untersucht Hegel die kulturgeschichtlichen Ausprägungen dieses Unterscheidungsmerkmals in den drei Kunstformen. Während das Kunstschöne die ganze Vielfalt der in der Kunst möglichen Schönheiten umfaßt, ist der Inhalt des zweiten, engeren Schönheitsbegriffs der der klassischen Schönheit. Parallel verwendet Hegel auch den Begriff des Ideals auf eben diesen zwei Ebenen: Es ist zu unterscheiden zwischen dem Ideal als dem erscheinenden Schönen,20 d. h. dem Kunstschönen allgemein, und dem klassischen Ideal als einer bestimmten Erscheinungsform des Kunstschönen. Dieser Schritt ist entscheidend: Klassische Schönheit und Kunst im eigentlichen Sinn werden nicht mehr, wie dies für die normative Ästhetik charakteristisch war, miteinander identifiziert, sondern im Begriff der Kunst ist bereits enthalten, daß die klassische Schönheit nur eine von vielen möglichen Weisen der Kunst (in Hegels Begrifflichkeit: des Kunstschönen) ist. Wie sind aber diese Varianz und Identität verknüpfenden Begriffe in Hegels Kunstphilosophie methodisch fundiert ? Die Idee des Schönen, die Hegel als Klammer um den Gegenstand ›Kunst‹ schließt, hat – und auf diesen Aspekt konzentriert sich die Kritik an seiner Kunstphilosophie – maßgeblich metaphysischen Charakter: Sie gründet in der Vorstellung eines ›absoluten Geistes‹ als des Geistes, der über sich selbst reflektiert und der – so Hegel – im Verlauf der Weltgeschichte schrittweise ›zu sich selbst kommt‹. Auf diese Linie gerät die Kunst, weil sie in Hegels Verständnis nicht bloß Zerstreuung und Spiel ist, sondern auf das menschliche Bedürfnis nach Selbstauslegung und Orientierung antwortet. Denn in der Kunst, so Hegel, »haben die Völker ihre höchsten Vorstellungen niedergelegt, und sie [ist] oft der einzige Schlüssel, die Religion eines Volkes zu erkennen«21. Kunst ist »aus dem Geist und für den Geist«22. Charakteristisch für die Weise der Kunst, diese Selbstreflexion zu objektivieren, ist, daß diese – im Unterschied zu den anderen Formen des absoluten Geistes, der Religion und der Philosophie – »das Höhere selbst auf sinnliche Weise darstellt und

Hotho 1823, 47 / Ms. 41. »Das Ideal ist zwar das Schöne, aber das Schöne, das erscheint und [das,] indem es erscheint, in die Äußerlichkeit tritt, in welcher diejenigen, für die es erscheint, einheimisch sein müssen.« (Kehler 1826, 61 / Ms. 113) 21 Hotho 1823, 4 f. / Ms. 4. 22 Ebd., 11 / Ms. 10. 19 20

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der empfindenden Natur so näherbringt«23. Dabei folgen die Formen des absoluten Geistes, so auch die Kunst, in Hegels Konzeption einer immanenten Konsequenz: Sie realisieren eine ›Geschichte‹, in der sie jeweils sukzessive, in einem Prozeß fortschreitender Reflexivität, zur Erkenntnis ihres eigenen Wesens drängen. Mit dem Erreichen dieses Ziels in der Moderne ist dann die weltgeschichtliche Mission der Kunst erfüllt: Religion und Philosophie als nicht sinnliche, sondern begriffliche Formen der Selbstreflexion sind nach Hegel dem modernen ›Bedürfnis nach Vernunft‹ angemessener. Im Zuge seiner Bestimmung der Kunst als Objektivierung der Selbstreflexion entwickelt Hegel ein kulturgeschichtliches Verständnis der Kunst. Hegel deutet die Kunst als Teil eines gesellschaftlichen Selbstverständigungshandelns, in das der Name und das individuelle Verdienst des Künstlers eingebettet sind. So bestimmt Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen das Kunstwerk nicht primär als Erfindung des Künstlers als isoliertem Individuum, sondern als die Erfindung des ganzen Volks.24 Das Kunstwerk ist daher nicht maßgeblich Genie- sondern Kulturprodukt. Es ist, obwohl von Einzelnen hervorgebracht, ›Eigentum‹ der Gemeinschaft, in der die im Kunstwerk anschaulich gemachte Handlungsorientierung gilt. Die Frage nach der Originalität eines Werks ist in Hegels radikal kulturgeschichtlicher Perspektive allenfalls von sekundärer Bedeutung. Insofern kann es für Hegel auch nicht um die Förderung einzelner Künstler oder Künste gehen, sondern immer nur um die Etablierung der Kunst überhaupt als gesellschaftlicher Institution. Damit kommt aber für Hegel ebenfalls der Rezipient in seinen Ästhetikvorlesungen nur als Teil einer Gemeinschaft, der sich in der Anschauung des Kunstwerks als Teil einer Gemeinschaft (wieder-)erkennt, ins Spiel. Das Thema der Geschichtlichkeit der Kunst wird somit in Hegels Ästhetikvorlesungen angestoßen und der damit verknüpfte Aspekt einer Pluralität der Kunstverständnisse gerät in den Blick. Allerdings hält hier der Rahmen der spekulativen Ästhetik noch die historisierten Kunstverständnisse zusammen: Kunst erscheint bei Hegel als ein Phänomen mit historisch variierenden Gesichtern.

Ebd., 5 / Ms. 4. Vgl. auch die frühe Bestimmung des Werks in der Differenz-Schrift (1801) als »ein Produkt des Individuums, des Genies, aber der Menschheit angehörend«. (G.W.F. Hegel: Vergleichung des Schellingschen Prinzips der Philosophie mit dem Fichteschen, in: ders.: Jenaer Kritische Schriften I, neu hg. von Hans Brockard und Hartmut Buchner, Hamburg 1979, 77-96, hier: 94.) 23 24

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III. Hothos Entwurf einer ›spekulativen Kunstgeschichte‹: Kunst zwischen Norm und Subjektivierung Die noch in ihren Anfängen begriffene kunsthistorische Forschung wird durch den Entwurf einer Philosophie der Kunst, wie Hegel ihn in seinen vielbeachteten Vorlesungen präsentiert, ebenso angeregt wie zur Distanznahme getrieben. Begünstigend für die Aufnahme in den Einzelwissenschaften wirkte sicher zum einen der Umstand, daß Hegel in seiner Ästhetik eine Deutung der Kunst als geschichtliches Phänomen philosophisch begründet, zum anderen, daß Hegel philosophische Thesen mit konkreten Werkbeispielen aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen der Weltgeschichte verbindet. In affirmativer Weise werden Hegels Thesen vor allem in der philosophischen Kunstgeschichtsforschung der Hegelianer aufgegriffen. Hegel hatte die Feststellung, daß das, was Kunst für uns ist, weder am Objekt selbst noch befriedigend im abstrakten Begriff fixiert werden kann, als genuin philosophische Frage charakterisiert. Im Unterschied dazu interpretieren die Hegelianer, denen es darum geht, die Anschlußfähigkeit der Hegelschen Philosophie an die von den expandierenden empirischen Wissenschaften gesetzten neuen Forschungsstandards nachzuweisen, die Aufgabe einer Vermittlung von Identität und Varianz als zentrale Aufgabe einer philosophischen Kunstgeschichtsforschung. Am weitesten geht hierbei Hotho, der die Ausbildung einer ›spekulativen Kunstgeschichte‹ als Hegels Gebot an die Kunstgeschichtsforschung begreift. Seiner Überzeugung nach muß es nun darum gehen, Hegels Bestimmung der Kunst als einem Werk »aus dem Geist und für den Geist« konkreter zu machen. Denn Hotho als derjenige Hegelianer, dem die Aufgabe der ›Vollendung‹ des Hegelschen Systems im Bereich der Kunst zufällt, sieht, daß die empirische Forschung als legitime Form der Kunstanalyse zu berücksichtigen ist. So erklärt er 1830 in seiner Bewerbung um eine Anstellung in der Berliner Gemäldegalerie25: »Denn als höchsten wissenschaftlichen Zweck habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Ästhetik nur in innigster Verbindung mit der Kunstgeschichte zu behandeln, um in dieser Weise durch die geschichtliche Entwicklung der Künste die Rechtfertigung und Gewährung der allgemeinen ästhetischen Prinzipien zu liefern.« Aufschlußreich für die Rekonstruktion von Hothos wissenschaftlicher Position sind vor allem seine Vorlesung über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst, die in einer im Sommersemester 1833 entstandenen Mitschrift von Hegels jüngerem Sohn Immanuel überliefert ist, und seine Vorstudien für Leben und Kunst (1835). Aber bereits 1832/33 stellt Hotho die Idee einer spekulativen Kunstge25 Zit. nach Wilhelm Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker, 2 Bde., Berlin 31986 (Leipzig 1192124), Bd. 2, 54; vgl. Elisabeth Ziemer: Heinrich Gustav Hotho 1802-1873. Ein Berliner Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Philosoph. Berlin 1994, 254; Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution – Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt/M. 1979, 198.

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schichte in einer Rezension zu Amadeus Wendts Werk Ueber die Hauptperioden der schönen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte (1831) explizit als Methode vor.26 Wendt selbst hatte sich in seinem Buch gegen die Enthistorisierung der Kunst in den Forschungen eines Carl Friedrich von Rumohr und die Isolierung der Völker und Epochen in den vorliegenden Studien zur Geschichte der Kunst überhaupt gerichtet. In solchen Forschungen sieht Wendt eine Reduktion der Kunstbetrachtung auf das Studium atomisierter Tatsachen, die lediglich zu einem Bündel von ›Einflüssen‹ addiert werden, ohne daß sie ein integrales kulturgeschichtliches Verständnis der Kunst entwickelten. Hier wird seiner Überzeugung nach eine bloß historisch-faktische Beschreibung von Einzelphänomenen geleistet – die Rekonstruktion eines Zusammenhanges der Kunst, auf dessen Basis die Fakten in eine Ordnung der Geschichte gebracht werden könnte, bleibt aber ausgeblendet. Gegen solche Tendenzen stellt er den Versuch, diese verschiedenen Aspekte in einen historischen und kulturellen Sinnzusammenhang zu stellen und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Weiterhin verteidigt er sein »Construiren der Geschichte« mit dem Hinweis, daß im »Historischen auch ein philosophisches Element« anerkannt werden müsse und »Vernunft in der Geschichte« zu finden sei. Insofern sei sein Werk der »erste kunstgeschichtliche Versuch«, die Kunst »in welthistorischer Bedeutung« zu betrachten.27 Hotho macht nun in seiner programmatischen Besprechung von Wendts Werk, das er als einen Schritt in die Richtung des von ihm selbst intendierten Forschungsansatzes verstehen kann, deutlich, daß es sich bei der spekulativen Kunstgeschichte um eine Verknüpfung von philosophischer und historischer Analyse der Kunst handelt. Es gehe weiterhin darum, »die bisher ihrer empirischen Richtung nach so mannichfaltig ausgebildete Geschichte der Künste nicht nur überhaupt philosophisch zu behandeln, sondern als integrirendes Glied in die Wissenschaft des Schönen und der Kunst einzureihen und innerhalb derselben durchzuführen«28. Vgl. Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst. Berlin 1833. Nachgeschrieben und durchgearbeitet von Immanuel Hegel, hg. und eingeleitet von Bernadette Collenberg-Plotnikov, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Spekulation und Erfahrung I,8); ders.: Vorstudien für Leben und Kunst (Stuttgart und Tübingen 1835), hg. und eingeleitet von Bernadette Collenberg-Plotnikov, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung I,5); ders.: Ueber die Hauptperioden der schönen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte, dargestellt von Amadeus Wendt [Rezension], in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 113-115 (Dezember 1832), Sp. 902-916; 5-6 (Januar 1833), Sp. 33-48. – Sehr knappe Notizen zu Hothos ÄsthetikVorlesung von 1833 sind auch von Friedrich Theodor Vischer erhalten (Universitätsbibliothek Tübingen); vgl. Friedrich Theodor Vischer zwischen Hegel und Hotho – Edition und Kommentar der Notizen Friedrich Theodor Vischers zu Hothos Ästhetikvorlesung von 1833, hg. von Francesca Iannelli, in: Hegel-Studien 37 (2002), 11-55. 27 Amadeus Wendt: Ueber die Hauptperioden der schönen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte, Leipzig 1831, V-VII. – Vgl. auch Heinrich Dilly: Institution [Anm. 25], Kap. Die Enthistorisierung der Kunst, 116-132; zu Wendt dort bes. 131. 28 Heinrich Gustav Hotho: Wendt-Rezension [Anm. 26], Nr. 113-115, Sp. 902. 26

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Hothos Interessenlage, näherhin insbesondere seine Bemühung um eine philosophische Einbettung der Kunstgeschichte bzw. umgekehrt um eine Ausweitung der spekulativen Kunstphilosophie in empirischer Richtung, ist durchaus keine aparte Erscheinung, sie ist vielmehr symptomatisch für die Übergangssituation des akademischen Disziplinenverständnisses der Zeit. Die Tendenz zur Empirisierung der Hegelschen Vorgaben ist – auch jenseits der Kunst als Hothos Arbeitsfeld – ein Merkmal des Schaffens so gut wie aller Hegelianer, die diesen Vorstoß in die Welt der Phänomene als Antwort auf die veränderten Fragen der Zeit begreifen. Die Emanzipation der Einzelwissenschaften von der Philosophie wird in dieser Phase erst auf den Weg gebracht. Doch wenngleich Hotho mit seinem Versuch einer philosophischen Fundierung der Kunstgeschichte nicht allein dastand, war mit Gustav Friedrich Waagen auch bereits in Hothos unmittelbarem Umfeld neben Forschern wie von Rumohr und Franz Kugler ein Hauptvertreter einer von seiner völlig divergierenden Forschungshaltung präsent: Diesen Gelehrten ging es von allem Anfang an um die Gründung der Wissenschaftlichkeit der Kunstgeschichte auf empirische Sachkenntnis, ihre Schriften haben dementsprechend weniger – wie die kunsthistorischen Arbeiten der Hegelianer – kunstschriftstellerischen als katalogisierenden, handbuchartigen Charakter. In diesem Verständnis generieren die Einzelwissenschaftler ihre methodische Basis jeweils selbst aus der konkreten Arbeit am Gegenstand. Wissenschaftlichkeit ist demnach nur durch die radikale Emanzipation der Kunstgeschichtsforschung von der Ästhetik zu erreichen. Eine solche Position ist allerdings aus einer Hegelschen Perspektive unhaltbar. Für die Einzelwissenschaften kann aus dieser Sicht nun umgekehrt nur in abgeleiteter Form Wissenschaftscharakter beansprucht werden.29 Gegen die von den Empirikern angehäufte Materialfülle stellt Hotho dementsprechend den Versuch, den Stoff in eine philosophische und historische Konstruktion einzugliedern, um ihn auf diese Weise erst eigentlich zum Sprechen zu bringen, was für Hotho in Anknüpfung an Hegels Inhaltsästhetik bedeutet: die Rolle der Kunst als Dokument der Geschichte des Geistes zu verdeutlichen. Wenn Hegel die Kunst philosophisch als Medium des Selbstverständnisses einer kulturellen Gemeinschaft in der Anschauung bestimmt hatte, betreibt nun Hotho Kunstgeschichte unter kulturgeschichtlichem Gesichtspunkt.

So merkt Hotho auch in seiner Wendt-Rezension an, die Ansätze der ausschließlich auf die Empirie gerichteten Historiker führten notwendig zu einer Vorstellung von der Schönheit, die allein spekulativ gesichert werden könne: »Entwickelt sich nun aber aus der Kunstgeschichte und deren Empirie zu gleicher Zeit auch eine gedankenmässige Ansicht des Schönen, und wird dies gefundene Princip als innerstes Wesen aller Kunst anerkannt, dann ist es consequent, auch das philosophische Begreifen zu Hülfe zu rufen. Denn die wahren Principien principienmässig zu entwickeln, vermag die Philosophie allein.« (Heinrich Gustav Hotho: Wendt-Rezension [Anm. 26], Nr. 113-115, Sp. 904.) 29

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A. Der Kunstgeist Aufgabe der Kunstgeschichtsforschung ist nämlich Hothos Auffassung nach die Rekonstruktion des Kunstgeistes: »Die Universalgeschichte der Kunst ist nur der Kunstgeist, insofern er sich stets nach allen seinen Phantasieformen in einzelnen Künstlern zusammenfaßt und die ganze Welt der Kunst hervorgehen läßt«. Die drei im Kunstgeist zusammenspielenden Aspekte sind dabei erstens »der Künstler als schaffender«, zweitens – indem der Künstler »objektivieren« muß, »was er im Inneren hat« – das »Kunstwerk« und schließlich drittens das Kunstpublikum. Denn – so erklärt Hotho in unmittelbarem Anschluß an Hegels Bestimmung der Kunst als »aus dem Geist und für den Geist« – das »so objektivierte Kunstwerk ist wieder für den Geist und muß in den Geist zurückgenommen werden«. Das Kunstwerk »bedarf« des Publikums, das »als das Beschauende, Wiedergebärende« das Werk in der Rezeption vollendet. Diese drei Seiten »in ihrer steten Vermittlung und Totalität geben erst den Kunstgeist«.30 Hothos Rede vom Kunstgeist ist ein Versuch, die Vielfalt der historischen Kunstphänomene auf ein identisches Prinzip zurückzuführen, das allerdings allein metaphysisch legitimiert ist: Der Kunstgeist ist der numinose Motor, der das Kunstschaffen der Menschen über alle Regionen und Zeiten hinweg in Gang hält. Der Kunsthistoriker kann sich daher als Dolmetscher der Göttlichen verstehen, wie es sich in der Weltgeschichte der Kunst manifestiert. Wissenschaftlichkeit kann der Erforschung der Manifestationen des Kunstgeistes aber für Hotho nur dann zugesprochen werden, wenn die Kunstgeschichtsforschung sich auf die Kunstphilosophie als ihr systematisches Fundament bezieht. Die disparaten Phänomene sind nämlich nur insofern als Manifestationen des Kunstgeistes zu erfassen, als sie an der Idee des Schönen teilhaben. Hotho versucht so, das Kunstschöne und seine Geschichte in streng dialektisch angelegten, aufeinander aufbauenden Schritten aus einer (platonisierenden) metaphysischen Konzeption abzuleiten.31 Aus dieser Orientierung resultiert eine stark schematisierte Argumentationsweise, die Hothos wissenschaftliches Schaffen generell charakteristisiert.

Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik [Anm. 26], 231 / Ms. 170 f. Zu Hothos kulturgeschichtlichem Ansatz vgl. z. B. auch: »Wie sehr sich die Kunst zu verselbständigen scheint, sie bleibt mit Glauben und Gottesdienst, dem Glück und der Noth der Zeiten, mit nationalen Vorzügen und Mängeln, mit dem ganzen Weltgewebe in engster Verflechtung.« (H.G. Hotho: Die Malerschule Huberts van Eyck nebst deutschen Vorgängern und Zeitgenossen – Öffentliche Vorlesung, 2 Teile, Berlin 1855-1858, Teil 1, 4.) 31 Vgl. hierzu insbes. den Aufbau seiner Ästhetikvorlesung von 1833 [vgl. Anm. 26]. Hotho entwickelt hier zunächst eine Kunstphilosophie im Stile Hegels; die Vorlesung endet dann aber mit einem Abschnitt zur ›Kunstgeschichte‹, in dem Hotho auf der Basis der drei Hauptformen der Phantasie, die er zuvor in Anlehnung an Hegels Kunstformen entworfen hatte, eine Weltgeschichte der Kunst vom Orient über die der Griechen und Römer bis zur Kunst der germanischen, romanischen, mohammedanischen und slawischen Völker skizziert, die in Hegels Vorlesungen ohne Parallele ist. 30

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B. Geschichtsteleologie Hothos Forschungsansatz scheint zwar vorderhand ganz und gar im Sinne Hegels zu sein. Allerdings notiert Hotho selbst explizit, Hegel habe dieses Verfahren eines Zusammenschlusses von Prinzip und Wirklichkeit für die Philosophie des Rechts, der Religion und der Geschichte »anerkannt und durchgearbeitet, für die Aesthetik jedoch nicht gefordert«32. Im Verständnis der Hegelianer muß demgegenüber die Ausweitung der spekulativen Philosophie Hegels auf empirischem Gebiet notwendig mit einem Ausbau des lückenhaften Systems Hand in Hand gehen.33 Denn die Aussicht, die Philosophie Hegels zu einem System zu vollenden, in dem »jedes auch nur erdenkliche Phänomen der Natur, des Geistes oder der Geschichte seinen Platz«34 findet, machte gerade ihre Faszination aus. Diese allgemeine Tendenz der Hegelnachfolge verfolgt Hotho auf dem Gebiet der Kunst. Dabei geschieht allerdings, was auch für die Tätigkeit der Hegelianer in den übrigen Bereichen des Wissens gilt: Durch die fortgesetzte Integration der Empirie wird Hegels System nicht, wie beabsichtigt, vollendet, sondern aufgelöst. Durch die Integration der Historie, die vom gegenwärtig erreichten »Gipfelpunkte der Kunst« aus das gesamte »Panorama der Kunstvergangenheit« deutet und strukturiert35, gewinnt Hothos Ansicht nach die philosophische Ästhetik endlich jenen absoluten Maßstab, der nicht nur die Identität des Gegenstandes Kunst sichert, sondern zudem eine abschließende Bewertung und Ordnung der einzelnen Werke gestattet. Spekulative Begriffe können in normative Begriffe transformiert werden. Insofern verwundert es auch kaum, daß Hotho mit der philosophischen Fundierung des Wissens über die Kunst zugleich die Überzeugung verbindet, ein Instrument der verbessernden Einflußnahme auf die aktuelle (und zukünftige) Kunst in der Hand zu haben: Die Kunst kann und soll, in Überwindung der Hegelschen These von der Marginalisierung der Kunst in der Moderne, wieder zum Mittelpunkt des menschlichen Selbstverständnisses gemacht werden. Damit verkörpert Hotho geradezu idealtypisch jenen Typus des Kunsthistorikers als dem »Platzanweiser der Universalgeschichte«36, der in der Zwischenzeit aus guten Gründen in Mißkredit geraten ist. Die historische und philosophische Bedeutung der Kunst bzw. der Kunstwerke steht in dieser Art der kunstgeschichtlichen Forschung bereits vorab fest, die Geschichte der Künste wird zur faktischen Heinrich Gustav Hotho: Wendt-Rezension [Anm. 26], Nr. 114, Sp. 907. Zu diesen gegenläufigen Reaktionen der Philosophie als Ausweg aus der »Identitätskrise, in die sie nach Hegel geraten ist«, vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983, bes. Kap. Philosophie als Wissenschaft, 120-122, hier 121. 34 Ernst. H. Gombrich: Hegel und die Kunstgeschichte – Rede anläßlich der Verleihung des HegelPreises der Stadt Stuttgart am 28.1.1977, in: Neue Rundschau 2 (1977), 202-219, hier: 210. 35 Heinrich Gustav Hotho: Wendt-Rezension [Anm. 26], Nr. 113-115, Sp. 908 f. 36 Wolfgang Kemp: Alois Riegl (1858-1905), in: Altmeister moderner Kunstgeschichte, hg. von H. Dilly, Berlin 1990, 36-60, hier: 41 (unter bezug auf Alois Riegl). 32 33

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Bestätigung der Theorie.37 Hier greift in der Tat jener zentrale Vorwurf, der gegen Hegels Einfluß auf die kunsthistorische Forschung erhoben wird und der im Kern lautet, dieser Einfluß bestehe in einer fatalen Überfremdung des Phänomens durch die philosophische Systematik. Die Kunstwerke werden so nicht als Forschungsgegenstände sui generis behandelt, sondern sie fungieren als Bilder, mit denen der Geschichtsgang illustriert wird.38 Damit gelingt dieser metaphysisch gestützten Kunstgeschichte genau das nicht, was sie gegenüber der empirischbeschreibenden Forschungsrichtung auszeichnen sollte: die Sicherung der Identität des Gegenstandes ›Kunst‹.

C. Psychologie Gegen die spekulative »Ästhetik von oben«39 eines Hotho setzt die Psychologie, die sich im späteren 19. Jahrhundert ebenso wie die übrigen Einzelwissenschaften schrittweise von der Philosophie emanzipiert, eine empirisch gestützte ›Ästhetik von unten‹. Gustav Theodor Fechner, der Mitbegründer der empirischen Psychologie als selbständiger Disziplin, legt mit seiner Vorschule der Aesthetik von 1876 eine in diesem Sinne konzipierte psychologische Ästhetik vor, die er ausdrücklich als Gegenentwurf zu den hegelianisierenden Bestrebungen versteht40: »Die Mißachtung galt von den vierziger Jahren an vor allem Hegel und seinem System, insbesondere auch der Ansetzung eines Wahren als des Ganzen, die jeden sich mühsam voranarbeitenden Empiriker entsetzlich stören mußte. An die Stelle des Ganzen trat damit das Erforschen der Verknüpfung des Einzelnen, in psychologischer Hinsicht: die Assoziation.« Es geht hierbei also nicht länger um Spekulation, sondern um die empirische Analyse der Gesetze, denen das Subjekt bei der künstlerischen Produktion und Rezeption folgt. Allerdings setzt auch bereits Hotho neben die metaphysische Konstruktion, der sich seine Geschichtsteleologie und seine Konzeption des Kunstgeistes verdankt, »Da die Inhalte der Kunst sich wandeln nach dem sinnlichen Material, in dem die einzelnen Künste gestalten, läßt sich eine Vielheit von Möglichkeiten, Aufgaben, Zielen und Wegen der Künste konstruieren. Ihre Offenbarung im geschichtlichen Leben der Kunst aufzuzeigen und die Notwendigkeit ihres Ans-Licht-Tretens zu erweisen, bestimmt Hotho als die Aufgabe der historischen Forschung. So kommt er zu einer Ästhetik von oben, deren durch Spekulation gefundene Sätze ihm den unbefangenen Blick für die bunte Mannigfaltigkeit des wirklichen historischen Geschehens trüben.« (Wilhelm Waetzoldt: Kunsthistoriker [Anm. 25], Bd. 2, 65 f.) 38 Zu dieser Praxis in der gegenwärtigen Bildwissenschaft vgl. bes. Wolfgang Kemp: Reif für die Matrix [Anm. 7], 46 f. 39 Wilhelm Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker [Anm. 25], Bd. 2, 66. 40 Hermann Drüe: Die psychologische Ästhetik im Deutschen Kaiserreich, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft – Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich, hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt und Gerd Wolandt, Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich 3), 71-98. 37

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als zweite Klammer, die die Identität der heterogenen Kunstphänomene herstellen soll, die subjektive Phantasie. Auf diesen Gesichtspunkt lassen sich deutliche Inkonsistenzen innerhalb der Hothoschen Konzeption zurückführen. So ist es mit einer kulturgeschichtlichen Bestimmung der Kunst, wie Hotho sie im Anschluß an Hegel entwirft, kaum vereinbar, daß Hotho die Kunstwerke wesentlich als Hervorbringungen eines Individuums, des Genies als Einzelnem, versteht. Anders als Hegel betrachtet nämlich Hotho den Künstler als großes und isoliertes Individuum41: »Jedes Kunstwerk ist das Produkt eines einzelnen Geistes und muß sich als solches zeigen: Das Subj[ekt] hat sich kundzutun am Kunstwerk; erst dadurch wird es lebendig, individuell. Daher es ganz guten Grund hat, sich bei jedem Kunstwerk nach dem Künstler zu erkundigen; es ist keine müßige Frage, ob die Homerischen Gedichte von einem Autor oder ein[em] Aggregat von Dichtern sei: [Das] Kunstwerk ist nicht vom Volksgeist produziert, sondern von einem vereinzelten Individuum, das nicht gegen das Allgemeine verschwinden darf, das in ihm lebt; verschwindet es, so ist es ein Mangel.« Auch in Hegels Konzeption des Kunstschönen hat die Phantasie einen zentralen Stellenwert, indem Hegel das Werk als Resultat des Zusammenspiels von Phantasie und Vernunft bestimmt. Im Mittelpunkt von Hegels Interesse steht aber das Werk als kulturelles Phänomen in einer geschichtlichen Gemeinschaft, die Phantasie ist allein für die Rekonstruktion der Genese des Werks von Belang. Hotho wendet demgegenüber den Fokus vom Werk auf die Phantasie als individuelles Vermögen. Die Phantasie ist für Hotho das Prinzip der Kunst schlechthin, das mit rationalen Mitteln nicht zu fassen ist42: »Das ist der Tiefsinn und Tiefblick der Phantasie, dazu sind nur schönere Naturen berufen.« Nichtsdestoweniger handelt es sich bei der Phantasie um eine natürliche Fähigkeit des Menschen, die keinem Volk fehlt und somit als anthropologische Konstante die Voraussetzung für die Konstruktion einer fortlaufenden Weltgeschichte der Kunst bildet.43 Mehr noch: Die Wendung von der kulturgeschichtlichen Sicht der Phantasie als Bedingung des Werks zur Phantasie als menschlichem Vermögen liefert ein weiteres Argument für die Aufhebung der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst: So wenig wie die Phantasie an ein Ende gelangen kann, solange es Menschen gibt, so wenig kann auch die Kunst an ein Ende gelangen.44 Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik [Anm. 26], 176 f. / Ms. 130. Ebd., 76 / Ms. 54. 43 Vgl. z. B.: »Jedes Volk, der Kunst überhaupt fähig, kann so Vollendung erreichen, in Stufenfolgen bestimmter Art.« (Heinrich Gustav Hotho: Die Malerschule Huberts van Eyck [Anm. 30], Teil 1, 11.) »Die Universalgeschichte der Kunst ist nur der Kunstgeist, insofern er sich stets nach allen seinen Phantasieformen in einzelnen Künstlern zusammenfaßt und die ganze Welt der Kunst hervorgehen läßt: Dies, nach allen Seiten und bei allen Nationen ausgeführt, gibt eine Welt von Kunstwerken.« (Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik [Anm. 26], 231 f. / Ms. 171.) 44 Entsprechend optimistisch beschließt Hotho auch beispielseise seine Ästhetikvorselung von 1833. Dort heißt es über die gegenwärtige Situation der Kunst: »Der Stoff ist die ganze Vergan41 42

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Der Tendenz nach antwortet Hotho auf das kunsthistorische Problem der Konkretheit des Kunstwerks nicht nur mit metaphysisch-philosophischen, sondern zugleich mit psychologischen Mitteln. Denn sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite wird nicht die rationale Struktur des Kunstvollzugs thematisiert, sondern das subjektive Vermögen als solches. Bei Hothos Auseinandersetzung mit der ästhetischen Subjektivität zeigt sich somit ein charakteristischer Unterschied gegenüber den Bemühungen eines Immanuel Kant oder Johann Gottlieb Fichte um eine Analyse der ästhetischen Subjektivität unter dem Gesichtspunkt ihres Rationalitätscharakters, an die auch Hegel angeknüpft hatte. Vielmehr reiht sich Hotho mit seiner Konzeption der ästhetischen Subjektivität als letztlich nicht rationalisierbarem Gefühl in die Tradition der Romantik ein. Auf der Produktionsebene wird bei Hotho der Begriff der Phantasie grundlegend, der eine umfassende kulturgeschichtliche Einbindung der Kunst auf die subjektive Leistung des Genies verengt. Auf der Rezeptionsebene tritt an die Stelle der kulturellen Gemeinschaft als Adressat des Kunstwerks das genießende und sich in die Kunst ›hineinlebende‹45 Individuum mit seinen Wahrnehmungsmodalitäten. (Insofern ist es auch nur konsequent, daß Robert Vischer als Vertreter einer Einfühlungsästhetik sich in seinen Schriften ausdrücklich auf Hotho beruft.46) Die Kunst gerät aber auch hier ins Abseits. Denn ganz wie bei der metaphysisch gestützten Geschichtskonstruktion geht es bei Psychologisierung bzw. Anthropologisierung des Ästhetischen, wie sie in unseren Tagen erneut propagiert wird, gleichfalls nicht zentral um die Kunst als Phänomen sui generis, sondern um allgemeine Prozesse, die auch in der Kunst auftreten. Die Kunst, verstanden als Realisation von ›inneren Bildern‹47, ist Teil im Universum der Bilder. Sicher können empirische Psychologie und Hothos romantische Seelenkunde nicht miteinander identifiziert werden: Die Prinzipien der empirischen Psychologie erwachsen gerade aus den »Erfolgen und Mißachtungen, die für die ›psychologisierenden Philosophen‹ der Jahrhundertmitte leitend waren«48. So sind für den Empiriker Fechner generalisierende Bestimmungen, wie Hegel sie in seinen kunstphilosophischen Vorlesungen vornehmen konnte, dahin: Er lehnt es ausdrücklich ab, das Wesen des Schönen begrifflich festzulegen. Das Schöne wird nur noch als Hilfsmittel verstanden, mit dessen Mitwirkung »überwiegende Bedingungen unmittelbaren Gefallens vereinigt«49 werden können. »Die empirischen Bedingungen genheit und Gegenwart. Doch [eine] ungeheure Forderung ist es, bei wachsender Universalität [zugleich] die Kraft der Individualität und Originalität wachsen zu lassen. Dabei das Umsichgreifen der philosophischen Einsicht fordert eine desto höhere Kraft der Phantasie: Wir haben dies erst zu erwarten; jetzt haben wir eben nichts.« (Ebd., 239/Ms. 177.) 45 Heinrich Gustav Hotho: Vorstudien [Anm. 26], VII. 46 Vgl. bes. Elisabeth Ziemer: Hotho [Anm. 25], Kap. Robert Vischer, 206-209. 47 Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie – Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, z. B. 20. 48 Hermann Drüe: Die psychologische Ästhetik [Anm. 40], 73. 49 Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik, 2 Bde., Leipzig 1876, Bd. 1, III.

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dieser Vorgänge sollen nunmehr erforscht werden.« In der Konsequenz laufen aber Hothos und Fechners Bestrebungen in die gleiche Richtung – die Aufhebung der Kunst im Ästhetischen bzw. im Bild. Denn für Fechner darf der Bereich der Kunst nicht durch alle möglichen Vorurteile im Vorhinein eingeengt werden50: »Im weitesten Sinne umfaßt Kunst demnach alle Schöpfungen von Werken oder Einrichtungen, die mit bewußter Absicht nach bestimmten Regeln geschaffen wurden, um menschlichen Zwecken zu dienen. Mit einer solchen Definition ist Fechner seiner Zeit, erst recht dem sich damals anbahnenden praktischen Historismus, voraus.« Er bezieht die gesamte technische Produktion des aufkommenden Maschinenzeitalters ein. Erst vor diesem Hintergrund trennt Fechner dann die nützlichen von den angenehmen oder schönen Künsten.

D. Kunst als Sonderwelt Metaphysische Geschichtskonstruktion und romantische Psychologie laufen in Hothos Argumentation auf einen identischen Gesichtspunkt hinaus: Die Welt der Kunst ist nicht mehr, wie in Hegels Konzeption, die kulturelle Gemeinschaft, sondern eine Sonderwelt. Die Kunst als Sonderwelt ist für Hotho historische Realität, denn die Gegenwart ist, wie er ganz im Sinne seiner Zeit diagnostiziert, »durchweg prosaisch«51 und somit kunstfeindlich. Diesen Zustand empfindet Hotho, wiederum ganz im Geist seiner Zeit, als entschieden defizitär. So legt er seine Kunstforschungen als Versuch an, die Marginalisierung der Kunst in der modernen Gesellschaft zu überwinden: Es geht ihm um die Wiederbelebung vergangener kunstsinniger Zeiten (namentlich des Mittelalters) zum einen durch die spekulative Vorkonstruktion der Zukunft der Kunst, zum anderen durch einfühlendes ›Hineinleben‹52: Wenn die Harmonie von subjektiver Erfahrung und gesellschaftlicher Relevanz der Kunst – somit ihre maximale historische Funktion als die »höchste Stufe, das Absolute auszudrücken«53 – schon realgeschichtlich Utopie bleiben muß, dann soll sie wenigstens im seelischen Haushalt des Individuums wiedererstehen. Die Überwindung von Hegels These vom Ende der Kunst entpuppt sich damit bei näherem Hinsehen als individueller Ästhetisierungsprozeß. Der Sonderweltstatus der Kunst wird damit nicht überwunden, sondern vielmehr bestätigt.

Hermann Drüe: Die psychologische Ästhetik [Anm. 40], 74 und 76. Heinrich Gustav Hotho: Vorstudien [Anm. 26], VIII. 52 Zu dieser Tendenz der kulturgeschichtlichen Kunstgeschichtsforschung und J. Burckhardts kritischem Gegenentwurf vgl. bes. Nikolaus Meier: Kunstgeschichte und Kulturgeschichte oder Kunstgeschichte nach Aufgaben, in: Kunst und Kunsttheorie 1400-1900 [Anm. 1], 415-437. 53 Vgl. Anm. 8. 50 51

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IV. Die Auflösung des Kunstbegriffs im Positivismus Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kann diese Philosophie und empirische Kunstgeschichte verknüpfende Forschungsrichtung bereits als historische Erscheinung angesehen werden. Die Kunstgeschichtsforschung löst sich von der philosophischen Ästhetik und fängt an, sich als selbständige Disziplin durchzusetzen. Innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung trennen sich, mit Hans Robert Jauß gesagt, »historische und ästhetische Betrachtung«54. Paradoxerweise wird Hegel dabei nicht allein zum Paten der ästhetischen Metaphysik, sondern indirekt zugleich zum Paten des Positivismus im strengen Sinne auf dem Gebiet der Kunstgeschichtsforschung: Die kunsthistorischen Studien, die unter expliziter Berufung auf seine Philosophie entstehen, provozieren eine starke Gegenreaktion, aus der schließlich als neues Wissenschaftsideal der Positivismus als dominierende Tendenz hervorgeht.55 Während es den hegelianisierenden Kunstwissenschaftlern darum ging, die Forschung auf ein sicheres begriffliches Fundament zu stellen und die Kunst in einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu betrachten, so erscheint den kennerschaftlich ausgerichteten Forschern umgekehrt die Verknüpfung von Philosophie und Empirie in der Hegel-Tradition als Überfremdung des historischen Wissens durch eine vorgefertigte Systematik. Gilt dies bereits für Empiriker wie von Rumohr oder Kugler, so gilt dies um so mehr für die radikalen Positivisten, die diese Forschungsrichtung beerben. Die Schule der kunsthistorischen Positivisten, die von dem abtrünnigen Hegelianer Anton Springer über Hubert Janitschek bis zu Adolf Goldschmidt führt, sieht ihre »Hauptaufgabe in der Erschließung und stilkritischen Ordnung des immer stärker anschwellenden kunstgeschichtlichen Materials, verbindet also die historisch-philologische und die sich ständig verfeinernde formanalytische Methode«56. Die Geschichte löst die Philosophie in der Rolle der »kulturellen Führungsmacht« ab. »Das Resultat ist der Historismus, den man am klarsten als eine Position bestimmt, die das Geschichtliche zum Prinzip macht.«57 Das Ziel einer systematisch fundierten Weltkunstgeschichte erscheint jetzt als dilettantische Verkennung der Fülle des Materials, die Intention einer kulturgeschichtlichen Einbettung des Werks als bestenfalls feuilletonistisches Geplauder. Im Rahmen des sogenannten Holbeinstreits von

Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, 144-207, hier: 154 f. – Vgl. auch: Hans Belting: Ende der Kunstgeschichte [Anm. 10], 134; Heinrich Dilly: Institution [Anm. 25], 84 f.; Wilhelm Waetzoldt: Kunsthistoriker [Anm. 25], Bd. 1, 318. 55 Vgl. Stephan Nachtsheim: Kunstphilosophie [Anm. 13], 30. 56 Walter Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, Mittenwald 1981 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930; Kunstwissenschaftliche Studientexte 8), 3. 57 Herbert Schnädelbach: Die Abkehr von der Geschichte – Stichworte zum ›Zeitgeist‹ im Kaiserreich, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft [Anm. 40], 31-43, hier: 32. 54

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187158 um die Autorschaft zweier Gemälde wird der Öffentlichkeit endgültig unter Beweis gestellt, was positives Wissen zur Klärung von Sachfragen beizutragen vermag – die philosophisch-literarische Methode der Kunstbetrachtung ist diskreditiert. Die in dieser Kontroverse symbolisch verkörperte Wendung der Kunstwissenschaft von der Schönheits- zur Echtheitsfrage gilt fortan als Zeichen der neu erreichten Selbständigkeit. Der Universalismus der Hegelianer gilt aber nicht nur als dilettantisch, sondern er ist auch politisch nicht mehr korrekt: Nicht mehr die Kunst aller Völker ist von Interesse, sondern die Leistungen des germanischen Volks. Und so werden im Kaiserreich in großen Kampagnen die Denkmäler der Deutschen inventarisiert und katalogisiert. Die fortschreitende Emanzipation der Einzelwissenschaften gegenüber der Philosophie ist auch im Bereich der Kunstgeschichte nicht aufzuhalten. Scheinbar hatten sich die von Hegel gestellten Grundfragen dadurch erledigt, daß sie in einen Komplex von empirischen Einzeldisziplinen aufgelöst wurden. Mehr noch: Jede philosophische Besinnung auf Grundlagenfragen war mit dem Odium des Rückfalls in jene verpönten Spekulationen behaftet, von denen man sich eben erst mühsam emanzipiert hatte.59 Mit der verstärkten Empirisierung der Auseinandersetzung mit der Kunst, der Betrachtung der konkreten Kunstentwicklung in verschiedenen kulturellen Kontexten, tritt aber nur um so deutlicher der bereits von Hegel angesprochene Aspekt einer Pluralisierung der Gegenstände durch ihre historische Variabilität hervor. D. h. das Problem der Bestimmung des Gegenstandes Kunst gilt prinzipiell weiter, spitzt sich sogar mit dem Verzicht auf die spekulative Rückbindung der Einzelforschungen weiter zu. Für die Vertreter des Positivismus ist Kunst nichts anderes als eine auf gesellschaftliche Konventionen und Institutionen – bzw. in seiner psychologischen Spielart: auf menschliche Vermögen – gestützte Verallgemeinerung empirisch zusammengetragener Daten. Spätestens als die Geschichte nicht mehr als faktisches und normatives Prinzip zugleich verstanden werden kann, tritt als »Resultat des seiner normativen Implikationen beraubten Historismus«60 der Relativismus hervor. Auch die Erfolge der positivistischen Forschungen können somit nicht das Problem überdecken, das der Kunstgeschichte als Wissenschaft aus der Pluralität der geschichtlich variierenden Kunstverständnisse erwächst: Ihr Gegenstand zerfällt. Zeitlich und sachlich parallele Tendenzen lassen sich in der Ästhetik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufweisen, die sich von der alten idealistischen Ästhetik mehr und mehr entweder in Richtung der Psychologie oder der Soziologie entVgl. bes. Adolph Bayersdorfer: Der Holbein-Streit – Geschichtliche Skizze der Madonnenfrage und kritische Begründung der auf dem Holbein-Congress in Dresden abgegebenen Erklärung der Kunstforscher, München u.a. 1872; Oskar Bätschmann: Der Holbein-Streit – Eine Krise der Kunstgeschichte, in: Kennerschaft, hg. von Thomas W. Gaehtgens, Berlin 1996 (Jahrbuch der Berliner Museen Beiheft 38), 87-100. 59 Vgl. Stephan Nachtsheim: Kunstphilosophie [Anm. 13], 11. 60 Herbert Schnädelbach: Die Abkehr von der Geschichte [Anm. 57], 33. 58

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fernt61: In der Verabsolutierung der subjektiven Erfahrung durch die psychologische Ästhetik wird unter Verzicht auf eine funktionelle Bestimmung der Kunst der Aspekt der Gestaltung isoliert. Den Rahmen für die Verknüpfung der Einzelphänomene bilden in dieser Konzeption die psychischen Vermögen des Menschen. Der Gegenstand ›Kunst‹ wird auf diese Weise – wie sich dies bereits im Zusammenhang mit Hotho und Fechner gezeigt hatte – in einen ästhetischen Erlebniskomplex aufgelöst. In der Verabsolutierung der gesellschaftlichen Relevanz durch die soziologische Ästhetik spielt demgegenüber die künstlerische Form keine Rolle mehr. Sie ist nur Mittel zum möglichst effektiven Transport eines Inhalts. In dieser Konzeption werden nun die gesellschaftlichen Institutionen als Rahmen für die Verknüpfung der Einzelphänomene ins Feld geführt: Die soziologische Ästhetik mündet in einen Institutionalismus. Auch auf diesem Weg wird so der Gegenstand ›Kunst‹ aufgelöst, indem er in der Gesellschaft als größerer Einheit aufgeht. Als Beitrag zur Kunstforschung können diese Ansätze daher – sei es auf kunsthistorischem, sei es auf philosophischem Feld – nur so lange gelten, wie die Bestimmung ihrer Gegenstände als Kunst als gegeben vorausgesetzt werden kann – und zwar durch die (explizite oder implizite) Eingliederung der Objekte in die von Hegel postulierte Geschichte der Kunst. Insofern kann man sagen, daß die Kunstgeschichtsforschung de facto nur aufgrund des Beharrungsvermögens des Hegelschen Kunstbegriffs in der Institution Museum und im bürgerlichen Kunstbegriff fortexistiert, d. h. solange Kunst in der Gesellschaft als geschichtlicher Funktionszusammenhang anerkannt wird. Auf dieses Problem reagieren u. a. Konrad Fiedler, Hugo Spitzer, Max Dessoir und Emil Utitz um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der Gründung der ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ als neuer wissenschaftlicher Disziplin, die von der eigentlichen Ästhetik abgelöst und als »eine Art Clearing-Stelle von Grundsatzfragen«62 der Kunstgeschichtsforschung konzipiert ist. Neben der weiterhin einflußreichen positivistischen Richtung werden so im Bewußtsein des Problems einer Bestimmung des Gegenstandes der Kunstgeschichte die verschiedensten Versuche einer Verbindung von Kunstgesichtsforschung und Kunsttheorie entwickelt. Im Rahmen der ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ tritt vor allem die Frage nach den Grundbegriffen dieser Wissenschaft in das Zentrum der kunsttheoretischen Betrachtung. Besonderes Gewicht erhält in diesem Zusammenhang der von Alois Riegl eingeführte Begriff des Kunstwollens, der »im Gegensatz zu der beständigen Betonung der das Kunstwerk determinierenden Faktoren (des Materialcharakters, der Technik, der Zweckbestimmung, der historischen Bedingungen) die Summe oder Einheit der in demselben zum Ausdruck gelangenden, es formal wie inhaltlich von innen heraus organisierenden schöpferischen Kräfte bezeichnen sollte«. Er übernimmt damit eine Funktion, die jener vergleichbar ist, die in Hothos Argumenta61 62

Vgl. Walter Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart [Anm. 56], bes. 3 f. Wolfgang Kemp: Reif für die Matrix [Anm. 7], 41.

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tion der Begriff des Kunstgeistes übernommen hatte. Im Kunstwollen sucht man das »Erklärungsprinzip«, »auf Grund dessen das künstlerische Phänomen nicht nur durch immer weitere Verweisungen an andere Phänomene in seiner Existenz begriffen, sondern auch durch eine unter die Sphäre des empirischen Daseins hinabtauchende Besinnung in den Bedingungen seiner Existenz erkannt werden kann«. So betont beispielsweise Erwin Panofsky, das Kunstwollen sei nicht etwa ein Gattungsbegriff, sondern ein Grundbegriff, richtiger der Grundbegriff der Kunstgeschichte überhaupt und von zentraler methodologischer Bedeutung: Insofern, als das Kunstwollen »als Gegenstand möglicher kunstwissenschaftlicher Erkenntnisse keine (psychologische) Wirklichkeit ist«, konnte mit seiner Hilfe, so Panofsky, die »Abkehr von der psychologistischen Auffassung eingeleitet« werden. Er bezeichnet das, was als »endgültiger letzter Sinn im künstlerischen Phänomene ›liegt‹«.63 Durch diese Rückkehr zum Problem des Sinns berührt sich diese Kunsttheorie mit der konstruktiven Geschichtsphilosophie Hegels, »freilich auf einer neuen, entwicklungsgeschichtlich gesehen höheren Stufe: bereichert durch die unendliche Fülle neuerschlossenen Tatsachenmaterials und verfeinert durch die immanente Begriffsforschung der neueren Kunstwissenschaft«64. Allerdings gilt auch für diese Ansätze zu einer methodologischen Begründung der Kunstwissenschaft, daß die Gültigkeit des (Hegelschen) Kunstbegriffs nach wie vor vorausgesetzt bleibt: Das Kunstwollen wird als Fundamentalbegriff akzeptiert, hinter den nicht weiter zurückgegangen werden muß. Diese Annahme wird nun heute nicht länger geteilt.65

V. Dantos Versuch einer Neubestimmung der Kunst In unseren Tagen wird das Ästhetische als fundamentaleres Prinzip als die Kunst erfahren. Vor allem der Begriff des Bildes wird dabei gegen die frühere Identifikation der Kunst mit dem Ästhetischen ins Feld geführt. Der unbefriedigende Sonderweltstatus der Kunst, der prekäre Status der Kunst überhaupt, soll aufgehoben werden durch die Integration der Kunst in die Welt der Bilder, mit denen die Menschen leben. Die bildwissenschaftliche Wendung gegen Hegel und die unter dem Hegelschen Paradigma der Geschichte stehende Kunstforschung soll den Bruch mit einer Betrachtungsweise besiegeln, die mit ihrer Fixierung auf die Kunst

Erwin Panofsky: Der Begriff des Kunstwollens, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1985, 29-43 (zuerst in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 14 [1920], 321-339), hier: 29 f. und 34 f. 64 Walter Passarge: Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart [Anm. 56], 15. 65 Zur Kritik an Panofsky vgl. z. B. William J. Thomas Mitchell: The Pictorial Turn, in: ArtForum 30 (March 1992), 89-95 (dt: Der Pictorial Turn, übers. von Christian Höller, in: Privileg Blick – Kritik der visuellen Kultur, hg. von Christian Kravagna, Berlin 1997, 15-40). 63

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das Spektrum der ästhetischen Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten autoritär beschneidet: Die Frage nach dem Bild transzendiert nicht nur die Grenzen der akademischen Disziplinen, sondern auch der Epochen, Medien und Kulturen. Der Blick auf Motive und Gestaltungsaspekte von Bildern macht eine Verknüpfung von Bildern heterogenster Herkunft und Verwendungsweisen unter dem Aspekt ihrer Bildhaftigkeit möglich. Dabei wird die Tendenz zur Anthropologisierung und Psychologisierung des Ästhetischen, wie sie sich bereits bei Hotho abgezeichnet hatte, wieder aufgegriffen. So versteht beispielsweise Hans Belting, einer der Hauptvertreter des bildwissenschaftlichen Ansatzes im deutschen Sprachraum, seinen Entwurf einer Bild-Anthropologie als Teil der Menschheitsgeschichte. In den Bildern der Jahrtausende finden sich die anthropologischen Zentralthemen »Tod, Körper und Zeit«, weil zwar alle Bilder eine »Zeitform« in sich tragen, aber immer auch »zeitlose Fragen« mit sich führen, »für welche die Menschen immer schon Bilder erfunden haben«.66 Eben diese diachron und globalisierend verallgemeinernden Fragen sind es, die Belting im Rahmen seiner Bild-Anthropologie anhand von Bildmaterial rekonstruiert, das die neolithischen Schädel von Jericho ebenso umfaßt wie Luca Signorellis Szenen nach Dante, das SS-Foto eines jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto oder eine elektronische 3D-Animation des Christus vom Turiner Leichentuch. Die Anthropologisierung und Psychologisierung des Ästhetischen zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß hier die subjektive Erfahrung und die Erkenntnisvermittlung durch Anschauung in den Mittelpunkt gerückt werden. Aus dieser bewußt hinter das diskursive Wissen zurückgehenden Orientierung ergibt sich notwendig eine Pluralisierung des Gegenstandes. Hotho hatte noch versucht, dieser Konsequenz durch die Berufung auf einen metaphysisch fundierten Kunstbegriff, der die Bündelung des Disparaten leisten soll, entgegenzusteuern. Auch der Begriff des Kunstwollens diente letztlich diesem Zweck. Die Bildwissenschaftler machen demgegenüber durch ihren Rekurs auf das Bild als Forschungsgegenstand die Not der Pluralisierung des Gegenstandes der Kunstwissenschaft zur Tugend. Jede Bezugnahme auf ein nicht aus der Anschauung generiertes Wissen gilt als Überfremdung der ästhetischen Erfahrung und der nur der Anschauung zugänglichen spezifischen Sinnhaftigkeit des Bildes. Die Bildwissenschaftler verzichten radikal auf eine Analyse der Erfahrungsbedingungen, um sich ganz auf die Analyse der Erfahrungsgehalte zu konzentrieren. Die Bedingung von Erfahrung ist, allgemein gesprochen, die kategoriale Unterscheidung von Gegenständen in verschiedene ontologische Klassen. Auf den bildwissenschaftlichen Kontext bezogen handelt es sich bei den Bedingungen der Erfahrung um die Unterscheidung verschiedener ontologischer Klassen von Bildern, d. h. insbesondere von künstlerischem und nicht-künstlerischem Bild. Demgegenüber plädiert Belting im Rahmen seiner Bild-Anthropologie für eine radikale Ent66

Hans Belting: Bild-Anthropologie [Anm. 47], 23 und 55.

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grenzung des Bildbegriffs, der seiner Auffassung nach jede Definition konterkariert und nur im Rückgang auf die allgemeinsten Bedingungen menschlicher Existenz zu diskutieren ist. Denn seiner Auffassung nach läßt sich »[a]lles, was in den Blick oder vor das innere Auge tritt, […] zu einem Bild klären oder in ein Bild verwandeln«67. Das Allgemeinmenschliche als Erfahrungsgehalt bildet den Gegenstand seiner alle Unterscheidungen ontologischer Klassen transzendierenden Bildanalysen. Nicht alle Bildwissenschaftler befürworten indes eine solche Entgrenzung. So hebt vor allem Gottfried Boehm, ein weiterer Hauptvertreter dieses Ansatzes im deutschsprachigen Bereich, hervor, daß die »Auswertung des Bilddiskurses« eine »Fülle neuer und präziser Distinktionen« erfordert, zu denen »sicherlich auch ›die Kunst‹» zählt. In den Bildwissenschaften kann es also seiner Ansicht nach nicht darum gehen, die Grenzen zwischen den Bildarten einzuebnen, vielmehr müssen sie zum Gegenstand einer grundlegenden Klärung werden. So spricht seiner Auffassung nach nichts dafür, daß »z. B. Röntgenaufnahmen Kunstwerke sind«. Boehm geht es bei der Erforschung des Bildes um die Erkundung der spezifischen, durch historische und technische Faktoren bedingten Modulationen der Wahrnehmung eines sinnvollen visuellen Zusammenhangs. Dabei wird unterstellt, daß der Charakter eines Bildes als künstlerisches Bild oder als nicht-künstlerisches Bild Resultat eines bestimmten »Erkenntnisinteresse[s]« bzw. einer bestimmten »Sichtweise« ist.68 Diese Perspektive hinterläßt nun aber Boehms Auffassung nach, und dies ist entscheidend, sichtbare Spuren im Bild. Die »anschaulichen Kapazitäten des Auges« entschlüsseln anhand dieser Sichtbarkeitsgestalt, ob ihm das Bild ästhetische, d. h. künstlerische, oder z. B. epistemische Erkenntnis vermittelt. Dabei stehen sich dann, trotz vielfältiger Überschneidungen und Berührungen, die »maschinelle Delegierung oder Instrumentalisierung des Sehens« im technischen Bild und das ästhetische Bild als eine ›komplexe und vieldeutige Metapher, die auf visuelle Energien setzt‹, gegenüber.69 D. h. die kategoriale Unterscheidung von künstlerischem und nicht-künstlerischem Bild wird hier zwar getroffen, aber nicht als Erfahrungsbedingung, sondern als Erfahrungsgehalt ausgewiesen: Man kann sie sehen.

Ebd., 11. Gottfried Boehm: »Das Bild als Medium der Erkenntnis«. In: Bild als Medium der Erkenntnis – Künstlerische und wissenschaftliche Beiträge zum Jahrestreffen 2000. Köln 2001 (Schriften des Cusanuswerkes 14), 11-18, hier: 11 f. – So spricht nach Boehms Auffassung viel dafür, »bildnerische Strategien, wie sie durch veränderte Apparate erzeugt wurden, zu unterscheiden, und schließlich Kriterien dafür zu entwickeln, wie Bilder funktionieren, wenn es um anatomische Darstellungen, um Entwurfsskizzen oder um Gemälde des gleichen Sachverhaltes geht«. (Ebd., 11.) 69 Ebd., 16 f. und 14. 67 68

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A. Wissen als Erfahrungsbedingung Demgegenüber unternimmt Danto mit seiner Kunstphilosophie den wohl prominentesten gegenwärtigen Versuch, angesichts der Veränderungen der ästhetischen Erfahrung die Kunst als Gegenstand sui generis neu zu bestimmen. Mit seinen Überlegungen setzt er bei einem Phänomen an, das mit dem bildtheoretischen Ansatz bei der ästhetischen Erfahrung nicht zureichend geklärt werden kann: dem von Danto so genannten Phänomen verwechselbarer Gegenstände. Darunter versteht er die physische Ununterscheidbarkeit von Alltagsgegenständen (›mere real things‹70) und Kunstgegenständen in der Nachfolge der Ready mades. Ebenso wie es kategorial falsch ist, eine Person mit einem materiellen Körper zu verwechseln71, ist es Dantos Ausführungen nach nicht einfach falsch, sondern ›kategorial falsch‹72, ein Kunstbild als bloßes Bild zu betrachten. Was aber die Person zu etwas anderem als einem materiellen Körper macht, kann man ebensowenig anhand irgendwelcher den Sinnen zugänglicher Kriterien erheben wie das, was das Kunstbild gegenüber dem nicht-künstlerischen Bild ausmacht. Das Hinzutreten von Strukturen beim Kunstwerk gegenüber seinem materiellen Gegenstück kann also nicht auf der Ebene des Sichtbaren, so subtil sie auch gefaßt sein mag, eruiert werden. Vielmehr kommt der spezifische Charakter eines Gegenstandes als Kunstwerk oder als bloßer Gegenstand dadurch zustande, daß er innerhalb eines Darstellungssystems einen bestimmten Platz einnimmt. Die für den eigentümlichen Sinn eines Gegenstandes relevanten Strukturen werden daher von den Regeln und Konventionen des jeweils einschlägigen Darstellungssystems auferlegt und sie steigen nicht sozusagen aus der Tiefe empor. Danto zeigt anhand dieses Phänomens, daß die Unterscheidung von ontologischen Klassen, also die Bedingung der Erfahrung, konstitutiv für den Erfahrungsgehalt ist. Und er zeigt weiterhin, daß diese kategoriale Unterscheidung von ontologischen Klassen sich nicht (nur) aus Erfahrungsgehalten ergibt, sondern immer mit einem der Erfahrung vorausgehenden Interesse und Wissen verbunden ist. Bei der ›reinen‹, allem diskursiven Wissen vorgängigen Erfahrung, von der die Bildwissenschaftler ausgehen, handelt es sich um eine Abstraktion. Auf den von Danto aufgegriffenen Kontext bezogen heißt dies: Der Wahrnehmung eines Gegenstandes als Kunst muß das Wissen um seinen Kunstcharakter vorausgehen. Dieses Wissen prägt dann allerdings auch die Wahrnehmung: Physisch identische Gegenstände werden zu Gegenständen heterogener Art. Bild- und Sinnstruktur sind eben nicht Vgl. Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace – A Philosophy of Art, Cambridge (Mass.) / London 1981 (dt.: Die Verklärung des Gewöhnlichen – Eine Philosophie der Kunst, übersetzt von Max Looser, Frankfurt/M. 31996 [11991]), 1 et al. 71 Vgl. Arthur C. Danto: The Artworld, in: The Journal of Philosophy 19/61 (1964), 571-584 (dt.: Die Kunstwelt, aus dem Amerikanischen von Peter Mahr, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42/5 [1994], 907-919). 72 Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace [Anm. 70], 139. 70

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ohne weiteres und in jedem Fall miteinander identisch. Das Bild spricht sich daher nicht selbst aus, der kognitive Kontext der Wahrnehmung ist keine Nebensache, sondern er ist für die Wahrnehmung und das Verständnis des Gegenstandes zentral. (Allerdings wird man kritisch gegen Dantos Rede von ›mere real things‹ einwenden müssen, daß nicht nur die reine Erfahrung, sondern auch das ›reine‹ Ding eine Abstraktion ist: Eine ›Dingerfahrung‹ findet immer vor einem interpretativen Hintergrund statt, der die ontologische Klassifizierung beeinflußt.) Die ästhetische Erfahrung ist ein Zusammenspiel von Sinnlichkeit und nicht-sinnlichem Wissen. Die bildwissenschaftliche Fixierung auf die Erfahrungsgehalte bleibt demgegenüber ebenso partiell wie die Deutung des Ästhetischen als eine abgeleitete Form des diskursiven Wissens in der Metaphysik eines Hotho.

B. Das Kunstwerk als ›das zu Interpretierende‹ Indem Danto darauf hinweist, daß sich die Unterscheidung zwischen Kunstwerk und bloßem Ding nicht aus den Erfahrungsgehalten ergibt, sondern ein Hintergrundwissen erfordert, wird in seiner kunstphilosophischen Konzeption der Begriff der Interpretation zentral. Anders als nicht-künstlerische Darstellungen haben künstlerische Darstellungen nämlich eine rhetorische Struktur: Der Künstler versucht, so Danto, durch die Wahl der Präsentationsform bei den Rezipienten eine bestimmte Einstellung zu dem von ihm Dargestellten zu erwecken. Die Funktion von Kunst besteht für Danto daher nicht vorrangig darin, die Welt darzustellen, sondern vielmehr, sie darzustellen »as to cause us to view it with a certain attitude and with a special vision«73 – der Einstellung und der Sichtweise des Künstlers. Dieser Appellcharakter macht das Kunstwerk zur Metapher: Die Metapher ist, als rhetorische Figur verstanden, ein elliptischer Syllogismus, dessen fehlendes Mittelglied ergänzt werden muß. Bezogen auf die Struktur des Kunstwerks heißt dies, daß der Rezipient das fehlende Mittelglied in der Interpretation des Werks ergänzen muß. In Dantos kunsttheoretischem Modell fungiert das Kunstwerk somit als Aussageträger: Das Charakteristikum von Kunstwerken ist demnach ihre Bezogenheit (›aboutness‹74); Kunstwerke sind, so Danto, immer ›über etwas‹. Der Künstler zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, einer Aussage im Werk Gestalt zu geben. Der Rezipient hat dagegen die Aufgabe, die im Werk verkörperte Bedeutung zu verstehen.75 Bei der Interpretation handelt es sich für Danto nicht um einen Aspekt, der dem Kunstwerk zukommen, aber auch ausbleiben kann: Für Danto werden Objekte als Kunstwerke überhaupt erst durch Interpretationen konstituiert. Denn als KunstEbd.,167. Vgl. z. B. ebd., 52, 68 f., 79, 81, 85, 139. 75 Vgl. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht. Arthur C. Dantos Philosophie der Kunst und der Kunstgeschichte, Bern / Stuttgart /Wien 1999 (Berner Reihe philosophischer Studien 23), 25. 73 74

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werk erscheint jeweils nicht einfach das physikalische Objekt, das ihm zugrunde liegt, sondern lediglich das an ihm, was durch eine Interpretation herausgehoben und mit Bedeutung erfüllt wird. Was an einem Kunstwerk nicht durch eine Interpretation gestützt ist, »lapses invisibly back into the object, or simply disappears, for it is given existence by the interpretation«.76 Nun ist es ein Merkmal von Metaphern, daß sie sich nicht direkt auf Dinge oder Sachverhalte beziehen, sondern auf Deutungen von Dingen und Sachverhalten: Metaphern stellen nicht nur ihr Sujet dar, sondern für den Sinn einer Metapher ist immer zugleich die Art und Weise, wie sie das Sujet präsentiert, wesentlich. Bezogen auf die metaphorische Dimension der Kunst bedeutet dies: Künstlerische Darstellungen sind über etwas bzw. stehen für etwas und sie sind zugleich darüber wie sie dieses Etwas sind. Denn Kunstwerke bedienen sich ihrer Darstellungsmittel in einer Weise, »that is not exhaustively specified when one has exhaustively specified what is being represented«77. Durch die Thematisierung ihrer Präsentationsform weisen die Kunstwerke eine reflexive Struktur auf, die nicht-künstlerischen Darstellungen fehlt. In dieser Doppelrolle liegt für Danto der kategoriale Unterschied zwischen Kunstwerken und bloßen Darstellungen.78 So genügt es, um ein Kunstwerk zu verstehen, nicht, nur zu erkennen, was dargestellt ist. Vielmehr ist es auch und vor allem entscheidend zu verstehen, was das Kunstwerk durch die spezifische Form der Präsentation des Dargestellten zum Ausdruck bringt. Die Interpretation muß sich daher notwendigerweise auch auf die Präsentationsform des Sujets beziehen.79 Nicht die Tatsache, daß Kunst etwas darstellt, sondern vielmehr eben diese selbstreflexive Struktur des Kunstwerks, seine Thematisierung der Darstellungsweise, macht für Danto den kognitiven Beitrag von Kunstwerken aus. Denn durch die Wahl seiner Präsentationsmittel ermöglicht uns der Künstler, das Sujet unter einer bestimmten Perspektive zu sehen. Er macht damit sichtbar, was außerhalb der Kunst transparent ist: Indem die Kunst etwas im Lichte einer subjektiven Perspektive zeigt, macht sie uns » – im Unterschied zur Wissenschaft und zur Philosophie – nicht nur bewusst, sondern erfahrbar […], dass die Welt eine uns durch das Bewusstsein gegebene ist«. Genauer: Durch die Selbstreflexivität der künstlerischen Gestaltungsweise wird dem Menschen seine ästhetische Rationalität vor Augen geführt; er erfährt sich als Wesen, das sich über seine Sinne orientiert. Die Kunst beschränkt sich somit nicht bloß auf die Aufgabe der Erkenntnis der Welt, sondern ihr kommt eine »eigentlich erkenntnistheoretische Funktion« zu.80 Diese Funktion der Kunst ergibt sich aber eben nicht quasi automatisch aus der Anschauung des Werks. Denn die Bestimmung des Sujets, das Verständnis der spe76 Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace [Anm. 70], 125; vgl. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht (Anm. 75), 29 f. 77 Ebd., 148. 78 Vgl. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht [Anm. 75], 31 f. 79 Vgl. ebd., 26, 39 f. 80 Ebd., 41, vgl. 33.

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zifischen künstlerischen Darstellungsweise, und auch bereits – mit den Ready mades ist dies unwiderlegbar deutlich gemacht worden – die Identifikation eines Objekts als Kunstwerk setzt historisches Wissen voraus. Erst wenn der Kulturzusammenhang, in dem das Kunstwerk geschaffen wurde, als Verständnishorizont präsent ist, kann auch die ästhetische Erfahrung den Kunstgegenstand adäquat erfassen. Aus diesem Grund ist die in der Kunst eingenommene subjektive Perspektive nicht in erster Linie als psychologische oder allgemeinmenschliche relevant. Vielmehr kann sie nur als historisch bedingte Perspektive, als Äußerung eines Individuums in einer geschichtlichen Situation, angemessen verstanden werden81: »Artistic perception is through and through historical. And in my view artistic beauty is historical as well.« Insofern zum einen die ontologische Differenzierung konstitutiv für die Wahrnehmung eines Gegenstandes und insofern zum anderen in der Kunst – wie man mit Heinrich Wölfflin sagen könnte – nicht alles zu allen Zeiten möglich ist82, läßt sich sinnvollerweise auch nicht alles mit allem vergleichen.

C. Die Kunstwelt Schon 1964 hatte Danto in seinem Aufsatz The Artworld die These vertreten, daß ein Objekt nur dann als Kunstwerk identifiziert und angemessen interpretiert werden kann, wenn es gelingt, es an den jeweiligen kunsttheoretischen und -historischen Kontext anzuschließen – mit Danto: seinen Platz in der Kunstwelt zu bestimmen83: »To see something as art requires something the eye cannot descry – an atmosphere of artistic theory, a knowledge of history of art: an artworld«. Danto führt den Begriff der Kunstwelt ein, um die Kontext- und Theorieabhängigkeit der Produktion und Rezeption von Kunst zu beschreiben. Er versteht unter der Kunstwelt eine über Institutionen wie Galerien, Museen, Kunsthochschulen, kunstkritische Periodika etc. lose verbundene ideale Gemeinschaft von Künstlern, Kunstwerken und Kunstrezipienten, die ein historisch variantes Kommunikationssystem entwickelt, das die Kriterien zur Identifikation und Interpretation von Objekten als Kunstwerken liefert.84 Danto bindet also die ontologische Bestimmung der Kunst an die Eingliederung der Kunst in die Kunstwelt. In kritischer Absetzung von der (im Anschluß an seinen Aufsatz von 1964 entwickelten) soziologischen Institutionentheorie vertritt Danto allerdings die These, ein Objekt werde nicht schon dadurch zum Kunstwerk, daß es in einer Institution der Kunstwelt präsentiert wird. Vielmehr muß für Arthur C. Danto: After the End of Art [Anm. 12], 165. Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe – Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915), Basel / Stuttgart 171984, 24. 83 Arthur C. Danto: The Artworld [Anm. 71], 580. 84 Vgl. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht [Anm. 75], 51. 81 82

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Danto erst eine Interpretation das als Kunstwerk kandidierende Objekt unter eine Kunsttheorie subsumieren und in den kunsthistorischen Kontext einbinden. Die Übertragung des Kunststatus ist damit nicht Sache einer Elite, die (legitimiert durch ihre institutionelle Macht) Objekte zu Kunstwerken erklärt, sondern eine Sache von Gründen, die von den Mitgliedern der Kunstwelt erörtert werden. Daher muß sich auch eine Interpretation selbst innerhalb der Kunstwelt behaupten und ist vor Zurückweisung nicht gefeit.85

D. Perspektiven und Probleme von Dantos Kunstphilosophie Danto weist wohl darauf hin, daß es aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge, in denen ein Kunstwerk steht, einer vermittelnden Disziplin bedarf, die die Kunstrezipienten mit den nötigen kunsthistorischen und -theoretischen Informationen zur Identifikation und Interpretation von Kunstwerken ausstattet. Danto sieht in dieser Funktion allerdings weniger die Kunstgeschichtsforschung als vielmehr die Kunstkritik. Eine Neubegründung der Disziplin Kunstgeschichte ist daher nicht Dantos Absicht. Nichtsdestoweniger sind seine Ergebnisse für eine (Neu-) Bestimmung dieser Disziplin relevant. Danto zeigt nämlich, daß, selbst wenn die metaphysische Klammer zur Verknüpfung der Kunstphänomene aufgegeben wird, die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst als relevant aufgestellt werden kann. Man kann Dantos Thesen daher als explizite Reaktion auf ein Problem verstehen, das die Kunstgeschichtsforschung seit ihren Anfängen latent begleitet hat. Mit seinem Versuch einer kulturgeschichtlichen Einbettung der Kunst stellt sich Danto in die Tradition der Hegelschen Ästhetik. Bereits Hotho hatte mit seiner Rede vom Kunstgeist ein solches kulturgeschichtliches – wenngleich noch metaphysisch in der Idee des Schönen fundiertes – Verständnis der Kunst als theoretischen Hintergrund der Kunstgeschichtsforschung entwickelt. Hierbei handelt es sich, wie auch beim Begriff des Kunstwollens, um einen Vorstoß zu einer Empirisierung metaphysischer Kategorien, der es (prinzipiell) erlaubt, Kunst als sachlichen und genetischen Zusammenhang zu erfassen, ohne ihre geschichtliche Relativität zu annullieren. Ähnlich geht es auch in Dantos Kunstwelt um eine Analyse der Kunst in historischen Zusammenhängen. Danto setzt allerdings an die Stelle der metaphysischen Fundierung die ontologische Begründung der Kunst im Funktionszusammenhang der Kunstwelt. Damit entwickelt Danto eine Kunstphilosophie, die viele der Probleme, die sich im Rahmen metaphysisch geprägter Entwürfe auftun, umgeht. Mit seinen Überlegungen stützt Danto sich jedoch nicht nur auf Hegels kulturgeschichtliches Verständnis der Kunst. Zentral wird in Dantos Argumentation vielmehr vor allem Hegels systematische These, die Kunst komme im Verlauf der Ge85

Vgl. ebd., 55.

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schichte schrittweise ›zu sich selbst‹, werde schließlich zur Philosophie. Diese systematische These betrachtet Danto nun als nicht nur philosophisch, sondern auch historisch wahr.86 Das Ende der Kunst sieht Danto mit dem Phänomen des Ready made erreicht: Mit diesem Phänomen, für das in Dantos Argumentation Andy Warhols Brillo Box einsteht, wird innerhalb der Kunst die Frage nach ihrer eigenen Identität gestellt. Indem die Kunst aber selbst die Frage nach ihrem eigenen Wesen nicht beantworten kann, schlägt genau an diesem Punkt – so Danto – die Stunde der Philosophie. Denn die Aufgabe der Philosophie bestehe eben darin, den ontologischen Status von Dingen zu klären, die unterschiedlichen ontologischen Klassen anzugehören scheinen, aber einer identischen Klasse zugehören, oder umgekehrt von Dingen, die identischen ontologischen Klassen anzugehören scheinen, aber unterschiedlichen Klassen angehören. Am Punkt der äußerlichen Ununterscheidbarkeit von Kunstwerk und bloßem Ding offenbart sich somit für Danto das Wesen der Kunst, das durch kontingente Bestimmungen wie die der Nachahmung o. ä. nur verdeckt wurde, nämlich ihre ontologische Bestimmung als gedeutetes Ding: Kunstwerke sind Dinge, in denen ästhetische Erfahrung und Deutung unlösbar miteinander verflochten sind und die zugleich dazu bestimmt sind, ästhetisch erfahren und gedeutet zu werden. Indem die Kunst aber mit der äußeren Ununterscheidbarkeit von Kunstwerk und bloßem Ding das ihr immanente Ziel historisch erreicht, kommt sie nach Danto insofern an ein Ende, als die Unterstellung einer weiteren teleologischen geschichtlichen Entwicklung keinen Sinn mehr macht. Die Kunst hat mit der Enthüllung bzw. Entdeckung ihres wahren philosophischen Wesens das Ende ihrer Geschichte als einer Geschichte der Entdeckungen und Durchbrüche erreicht. Die Kunst wird ununterscheidbar von einer anderen Form des menschlichen Wissens von sich selbst: der Philosophie. Mit Pop, so lautet daher Dantos Kardinalthese, wurde die Kunst philosophisch. Insofern ist auch Dantos Gedanke verständlich, die Zeit der Kunstgeschichtsforschung sei abgelaufen: Kunstkritik und Philosophie übernehmen ihre Funktion. Dieser Auffassung Dantos liegen zwei Voraussetzungen zugrunde: Zum einen vertritt er in Anknüpfung an Hegels Geschichtsphilosophie die These, die kunstgeschichtliche Entwicklung verlaufe progressiv und folge einer bestimmten inneren Logik – nämlich der Suche nach ihrem eigenen Wesen. Zum anderen ist er der Überzeugung, die Frage nach dem Wesen der Kunst sei im Problem der physischen Ununterscheidbarkeit von künstlerischen und nicht-künstlerischen Objekten auf seine abschließende philosophische Form gebracht. Dantos Argumentationsweise ist damit zumindest immanent konsequenter als der verbreitete Umgang mit Hegels These vom Ende der Kunst, wo nur das Fazit, die Geschichtslosigkeit der gegenwärtigen Kunst, akzeptiert, die Unterstellung eines zielgerichteten Weges der Kunst hierher dagegen ablehnt wird. 86

Vgl. z. B. Arthur C. Danto: The End of Art [Anm. 2].

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Allerdings wird Dantos Theorie gerade dadurch kompromittiert, daß er – unter Absehung von seiner im übrigen vertretenen Fokussierung der Geschichtlichkeit – seinen kunstphilosophischen Ansatz nicht seinerseits als historisch generierten einbringt, sondern ihn als ahistorische Metatheorie zu etablieren versucht: Die im Ausgang von Aspekten der Kunst der 1960er Jahre entwickelte philosophische Geschichte der Kunst wird zur Geschichte der Kunst schlechthin. Damit verfällt Danto in genau jenes Argumentationsmuster, das schon Hothos Zeitgenossen am Hegelianismus als Überfremdung der Kunst durch den Begriff kritisiert hatten und das auch Danto ansonsten als ›philosophische Entmündigung der Kunst‹87 anprangert. »Die Identifikation eines Königsprinzips der kunsthistorischen Entwicklung im Geiste Hegels ist allerdings eine theoretische Konstruktion, die nicht ohne Verluste, also ohne ein Absehen von anderen – parallelen, konkurrierenden oder gegenläufigen – Strömungen auskommt.«88 Sicher ist die Reflexion auf ihr eigenes Wesen eine Thematik, die die Kunst seit ihren Anfängen begleitet. Allerdings ist es selbst für die Moderne kaum überzeugend, sie als ihr ausschließliches Projekt auszuweisen.89 Mit der These, daß Kunstwerke wie Duchamps Ready mades oder Warhols Brillo Boxes in dieser Sache einen äußersten Punkt markieren, ist nicht mehr gezeigt, als daß eben dieses eine kunstweltliche Projekt, diese »praktische Weise, die Grenzen des Kunstbegriffs auszutesten«, an ihr Ende gelangt ist.90 Insofern ist auch nicht plausibel, warum die Kunstkritik die Kunstgeschichtsforschung ersetzen soll. Gegen diese Ersetzung spricht noch ein weiteres Argument: Bei der Kunstkritik handelt es sich nicht primär um ein wissenschaftliches, sondern um ein literarisches Unternehmen. Sie gehorcht daher prinzipiell denselben rhetorischen Maßstäben wie auch ihre Gegenstände.91 Aus diesem Grund kann der (auch von Danto herausgestellte) Bedarf an nicht-künstlerischem Wissen zum Verständnis von Kunst durch die Kunstkritik, so unverzichtbar ihre Funktion in der modernen Kunstwelt auch sein mag, nicht gedeckt werden. Hierzu ist vielmehr eine Wissenschaft von der Kunst erforderlich. Für die Kunstgeschichtsforschung ist weiterhin Dantos Konzeption der Kunstwelt ebenso ergiebig wie korrekturbedürftig: Danto reduziert nämlich den für die Produktion und Rezeption von Kunst relevanten Kontext auf historisch situierte Vgl. Arthur C. Danto: The Philosophical Disenfranchisement of Art [Anm. 2]. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht [Anm. 75], 97. 89 Vgl. hierzu Werner Hofmann: Die Grundlagen der modernen Kunst – Eine Einführung in ihre symbolischen Formen. Stuttgart 1987, darin bes. Kap. Große Realistik und große Abstraktion, 152-158 sowie Kap. Drei Wegbereiter (Wassily Kandinsky – Piet Mondrian – Marcel Duchamp), 304-343. 90 Hans Julius Schneider: Einleitung zum Schwerpunkt: Arthur C. Danto und das »Ende der Kunst«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/5 (1997), 741-753, hier: 742. 91 Vgl. Jürgen Habermas: Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne – Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988, 219-247, hier: 224. 87 88

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Kunsttheorien und postuliert dabei die historische Dominanz jeweils einer Kunsttheorie. Damit vereinfacht Danto allerdings die Entwicklung der kunsttheoretischen Debatten, die sich über weite Strecken gerade nicht durch solche Einstimmigkeit auszeichnen, sondern durch eine Konkurrenz verschiedener inkommensurabler Kunstbegriffe charakterisiert sind. Zudem handelt es sich bei dieser Monopolisierung der Kunsttheorie in den Augen zahlreicher Kritiker Dantos um eine rationalistische Verkürzung: Die Kunstwelt ist nicht nur eine Welt von Theorien, sondern muß auch als eine Welt von Praktiken und Konventionen in den Blick genommen werden.92 Problematisch ist Dantos Konzept der Kunstwelt aber noch in anderer Hinsicht. Danto wendet sich zwar gegen die Implikationen der Institutionstheorie, in deren Konsequenz es liegt, daß die Mitglieder der Kunstwelt elitär und autoritär darüber entscheiden, was als Kunst zu gelten hat. Allerdings konzipiert er selbst die Kunstwelt als eine idealtypische Gemeinschaft von Personen, die auf dem Hintergrund ihres kunsttheoretischen Wissens in der Lage sind, Objekte als Kunstwerke zu identifizieren und interpretieren. Die Kunst gerät dabei nur als Teil der Kunstwelt in den Blick: Es scheint so, als sei ein Gegenstand, der als Kunstgegenstand konzipiert ist, ausschließlich dazu bestimmt, in der Kunstwelt Anerkennung zu finden. Damit etabliert auch Danto die Kunstwelt als elitäre Sonderwelt. Demgegenüber ist zum einen darauf hinzuweisen, daß auch in die Handlungen und Motive der Mitglieder der Kunstwelt außerkünstlerische Interessen und Argumentationen einfließen. Zum anderen gilt es zu berücksichtigen, daß die Kunst in der Regel nicht (nur) für die Mitglieder der Kunstwelt hergestellt ist. Die von Danto anvisierte ›autonome‹ Kunst in der Kunstwelt ist selbst in der Moderne nicht die einzige. Um die Kunst zu identifizieren und zu interpretieren genügt es daher nicht, die Stellung eines Kunstgegenstandes in der jeweiligen Kunstwelt zu rekonstruieren. Vielmehr muß die kunsthistorische Argumentation weiter ausgreifen und die Kunst und die Kunstwelt im Rahmen der jeweiligen Kultur als Funktionszusammenhang erläutern.

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Vgl. Ursula Thomet: Kunstwerk – Kunstwelt – Weltsicht [Anm. 75], 52 f.

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VI. Hegels Kunstphilosophie als Wissenschaftstheorie Anknüpfungspunkte für eine solche Konzeption der Kunst in einem kulturellen Funktionszusammenhang finden sich in Hegels Kunstphilosophie. Die mag überraschen, weil man mit Hegels Ästhetik vor allem jene eingleisige Geschichtsdoktrin assoziiert, die in der Philosophie und Kunstgeschichtsforschung im Anschluß an Hegel auf die Kunst projiziert wurde. Allerdings läßt sich anhand von studentischen Aufzeichnungen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen nachweisen, daß eine solche in einem absoluten Wissen gegründete Geschichtsteleologie Hegel selbst für die Kunst nur sehr bedingt als durchführbar oder auch nur sinnvoll erschien.93 Vielmehr ist es namentlich Hotho, der als Herausgeber der Hegelschen Ästhetik nach dem Tod seines Lehrers dessen Kunstphilosophie, in diesem – ganz dem Zeitgeist entsprechenden – Sinne akzentuierte. So halten zwar auch die überlieferten Vorlesungszeugnisse Hegels Absicht fest, in der Ästhetik die (in der Enzyklopädie entwikkelte) Systematik ›lemmatisch‹ einzuführen, d. h. er will an der Phänomenfülle und geschichtlichen Entwicklung eine immanente Systematik plausibel machen, die er andernorts begründet. De facto legt Hegel seinen Überlegungen in den Vorlesungen zur Kunstphilosophie aber implizit die (selbst-)kritische Frage zugrunde, inwieweit sich die eigene systematische Bestimmung der Kunst am Phänomen bewährt, d. h. es geht ihm um eine in immer neuen Ansätzen durchgeführte kritische Überprüfung des eigenen philosophischen ›Vorurteils‹ anhand der Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen, die bei ihm zu keinem endgültigen Abschluß kommt.94 Aus den Aufzeichnungen zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen läßt sich so neben einer metaphysischen Konzeption der Idee des Schönen zugleich ein alternativer Ansatz ausmachen. Man kann nämlich Hegels Bestimmung des Kunstschönen bzw. des Ideals auch als den Versuch verstehen, eine rational begründete Rede über die Kunst zu fundieren durch eine Freilegung der Unterstellungen, die wir machen, wenn wir etwas als Kunst bezeichnen. Mit modernen wissenschaftstheoretischen Termini läßt sich Hegels Ansatz folgendermaßen zusammenfassen: Wenn wir etwas als Kunst bezeichnen, ist dies eine Rekonstruktion bzw. Unterstellung von Praxen, die wir als spezifische Funktion der Kunst betrachten. Hegel fragt so in seinen Vorlesungen, was wir eigentlich beschreiben, wenn wir über die vielfältigen historischen Phänomene sprechen, die wir Kunst nennen, welche Voraussetzungen wir machen, wenn wir uns über Kunst verständigen. Seine Antwort lautet: Das Kunstwerk ist eine Art und Weise, in anschaulich-faßlicher Form »dem Menschen, was er ist, vor ihn zu bringen«, sich eine Weltdeutung zu S. o. Anm. 32. Vgl. hierzu bes. Annemarie Gethmann-Siefert: Phänomen versus System, in: Phänomen versus System – Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1992 (Hegel-Studien Beiheft 34), 9-39; dies.: Ästhetik oder Philosophie der Kunst – Die Nachschriften und Zeugnisse zu Hegels Berliner Vorlesungen, in: Hegel-Studien 26 (1991), 92-110. 93 94

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verschaffen95: »Das Kunstwerk ist demnach vom Menschen gemacht, damit das Bewußtsein sich selbst zum Gegenstande werde.« Kunst ist sinnlich-anschauliche, aber bewußt konstruierte Realität. Sie zeichnet damit intentionales Handeln in der Welt strukturell vor. Daher ist die Kunst eine Weise, wie der Mensch sich formell Handlungsorientierung verschafft96 – und zwar Handlungsorientierung über Anschauung und Empfindung. Kunst ist so in Hegels Konzeption zwar auch eine Form von Erkenntnis, sie ist aber zugleich und vor allem auf Handlung ausgerichtet. Dabei ist der Künstler nicht der Urheber der künstlerisch gestifteten Selbsterkenntnis, sondern deren Medium. Die Kunstrezeption darf sich daher nicht darauf beschränken, die individuelle künstlerische Leistung als solche zu erwägen, vielmehr müssen der kulturelle Kontext und das Werk ineinander gespiegelt werden: Hegel entwickelt seine Ästhetik als Kulturtheorie. Die Historizität der Kunst bringt aber zugleich den Aspekt der Varianz ins Spiel. Denn um in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten ein und dieselbe Funktion (deren Unterstellung die Gegenstände erst für uns zur Kunst macht) auszuüben, müssen die Gestaltungsweisen der Kunst radikal unterschiedlich ausfallen. In der Funktion der Handlungsorientierung über Anschauung und Empfindung liegt die Identität der geschichtlichen Phänomene für uns, die es uns erlaubt, das seinem rein ästhetischen Charakter nach Verschiedenartigste als Kunst zu bezeichnen. Sie ist der Inhalt von Hegels Begriff des Kunstschönen bzw. des Ideals. Als bestimmtes theoretisches Kunstverständnis erlaubt er uns erst – modern gesprochen –, die unterschiedlichen Praxen der Völker und Epochen so zu rekonstruieren, als ob sie Kunstpraxen wären. Mit dem Begriff des Kunstschönen bzw. des Ideals leistet Hegel somit die Herstellung eines transzendentalen Begründungszusammenhangs, der die Möglichkeit vernünftiger Kommunikation über Kunst fundiert. Auf den Status dieses Funktionszusammenhangs, nicht auf die kunsthistorische Entwicklung der Kunst, ist auch Hegels These vom Ende der Kunst ›ihrer höchsten Möglichkeit nach‹ zu beziehen. Für Hegel steht fest, daß mit der Forderung der Aufklärung nach einem mündigen Gebrauch der Vernunft die Funktion der Kunst, geschichtliches Handeln zureichend zu begründen, nicht wieder zurückgewünscht werden kann und insofern unwiederbringlich zu Ende ist. So verstanden hat Hegels These vom Ende der Kunst kulturkritische Implikationen97: Die Kunst hat zwar Hotho 1823, 13 / Ms. 11. Zu Hegels Konzeption der ›formellen Bildung‹ vgl. bes. Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst – Die Bedeutung der »symbolischen Kunstform« in Hegels Ästhetik, München 2001, Kap. Der kulturphilosophische Aspekt der ›formellen Bildung‹ sowie ›Die formelle Bildung und die Bedeutung der Geschichte der Künste‹, 296-318; dies.: Hegels Bestimmung der ›formellen Bildung‹ und die Aktualität der symbolischen Kunst für die moderne Welt, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bernadette Collenberg-Plotnikov und Lu De Vos, München 2005, 159-174. 97 Zu Hegels These vom Ende der Kunst vgl. bes. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der Kunst und der ›Klassizismus‹ der Ästhetik, in: Hegel-Studien 19 (1984), 205-258; dies.: 95 96

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auch in der modernen Gesellschaft ihren Platz als Weise der Selbstverständigung, aber sie hat diesen Platz nur neben anderen Reflexionsformen. Die Verkennung dieser Relativierung befördert nicht nur die Reduktion des Handlungsspielraums des modernen Menschen auf einen Ästhetizismus. Sie wird auch dem kritischen Potential vor allem der modernen, ›freien‹ Kunst nicht gerecht, das gerade in ihrer Möglichkeit liegt, in Distanz zum Faktischen zu rücken, es perspektivisch zu brechen.

VII. Wissenschaftstheoretische Implikationen des Kunstverständnisses bei Hegel und im Hegelianismus Welche Konsequenzen lassen sich aus diesen Überlegungen nun für die Kunstgeschichtsforschung ableiten ? Hierzu einige Thesen: Mit ihrem Hinweis auf die reflexive Struktur des Kunstwerks machen Danto und Hegel den spezifischen Charakter der Kunst deutlich. Kunst hat nämlich einen Aspekt, der nicht-künstlerischen Darstellungen fehlt: Sie ›funktioniert‹ nicht einfach, zeigt nicht bloß etwas oder evoziert eine Stimmung, sondern provoziert immer zugleich eine Reflexion auf die Art und Weise, wie der Inhalt sinnlich erfahrbar, wie die Stimmung generiert wird. Kunst ist die Weise, dem Menschen bewußt zu machen, daß er sich auch über seine Sinnlichkeit in der Welt orientiert und daß dies in historisch variierender Weise geschieht. Aus diesem Grund ist es eine Verkürzung, die Kunstbilder als Teil in der Welt der Bilder aufgehen zu lassen. Ebenso verkürzend ist es aber auch, die Kunst als Bild zu betrachten: Bild und Kunst sind nicht miteinander identisch, Bildhaftigkeit ist immer nur Teilaspekt der Kunst. So ist es beispielsweise – um nur bei den traditionellen Medien zu bleiben – schwer einzusehen, wie der spezifische Charakter der Skulptur oder der Architektur gegenüber der Malerei erwogen werden kann, wenn man alle diese Gattungen wesentlich als Bilder betrachtet. Die von Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen diskutierte Möglichkeit, die verschiedenen Kunstgattungen als Ausdrucksformen eines historisch variierenden kulturellen Selbstverständnisses zu deuten, entfällt damit. Daher sollte die Antwort der Kunstgeschichtsforschung auf die Veränderung der ästhetischen Erfahrung nicht darin liegen, ihren Gegenstand als Bild zu bestimmen, sondern vielmehr in der Bemühung, die Eigenart ihres Gegenstandes, der Kunst also, geltend zu machen. Daß die Kunst nach wie vor – angesichts der aktuellen ›Bilderflut‹ möglicherweise sogar dringender denn je – als eigenständiger Kulturzusammenhang konzipiert werden kann und muß, zeigt sich nicht zuletzt am Selbstverständnis der Künstler. Gerade die Medienkünstler, die mit technisch identischen Mitteln wie die Produzenten nicht-künstlerischer Bilder arbeiten, machen es zum Mittelpunkt ihrer Hegelsches gegen Hegel – Zu Th. Mundts anti-hegelschem Entwurf einer Ästhetik, in: Hegel-Studien 15 (1980), 271-278.

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Bemühungen, die Differenz zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Bildern herauszuarbeiten. Belting selbst hält fest, daß die Medienkunst heute die »wohl avancierteste Spielart der Medienkritik darstellt«98. Wenn dies so ist, dann bleibt es allerdings fraglich, warum nicht auch der geschichtliche Kulturzusammenhang ›Kunst‹ in seiner Eigenart Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben soll. Insofern ist die anthropologische Frage der Kunstgeschichte nicht die nach der anthropologischen Bedeutung des Bildes, sondern der Kunst: Nicht die Bedeutung des Bildes, sondern die Bedeutung der Kunst als einer »spezifischen und unverwechselbaren Mitteilungsform des Menschen« ist, wie Willibald Sauerländer hervorgehoben hat, sichtbar zu machen. Dieser Leistungssinn der Kunst kann in der Kunstgeschichtsforschung zum einen nur in ausführlichen Werkanalysen aufgewiesen werden, die das Einzelwerk nicht zum Beleg depotenzieren.99 Zum anderen kann er nicht in einem geschichtsfreien Raum des ›Allgemeinmenschlichen‹, sondern nur in konkreten Kulturzusammenhängen rekonstruiert werden. Gewiß ist es an der Zeit, zu diskutieren, ob die im deutschsprachigen Raum etablierte Selbstbeschränkung des Fachs auf die europäische bzw. europäisch geprägte Kunst seit der staatlichen Anerkennung des Christentums noch dem aktuellen Geschichts- und Kulturverständnis angemessen ist. Auch kann es nicht darum gehen, zu einem geschlossenen Kunstbegriff zurückzukehren und bestimmte Gegenstände von vorne herein aus der kunsthistorischen Betrachtung auszugrenzen. Vielmehr muß die Kunstgeschichtsforschung »in einem jeweils spezifischen Bezugsrahmen« erwägen, ob und auf welche Weise ein Objekt als Kunst zu bestimmen ist. Die Einbeziehung nicht-künstlerischer Aspekte ist dabei nicht nur zulässig, sondern unabdingbar erforderlich, um das spezifisch Künstlerische des Gegenstandes deutlich werden zu lassen. Anders gesagt: Die Kunstgeschichte muß die nicht-künstlerischen Bilder »unter ihre negativen Themen aufnehmen, weil sie anders ihre traditionellen Gegenstände gar nicht mehr in deren Differenz erkennen und vor der bloßen Vermarktung retten kann«.100 Eine Reform der Kunstgeschichtsforschung kann daher sinnvollerweise nicht darin bestehen, die Relevanz nicht-ästhetischer Rationalität für das Verständnis des Ästhetischen zu bestreiten. Vielmehr muß es darum gehen, durch die Rekonstruktion seiner kulturellen Einbindung gerade die eigentümliche Leistung des KunstbilHans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte [Anm. 10], 167. – Hier wiederholt sich in anderer Form das Paradox der avantgardistischen Zielvorstellung einer Identifikation von Kunst und Leben: »Wird der avantgardistische Aufgebungsanspruch als realisierbar dargestellt, verfällt die Kunst. Wird er getilgt, d. h. wird die Trennung von Kunst und Lebenspraxis als selbstverständlich hingenommen, verfällt sie auch.« (Peter Bürger: Das Altern der Moderne, in: Adorno-Konferenz 1983, hg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1983, 195; vgl. Willibald Sauerländer: Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs [Anm. 3], 320.) 99 Vgl. Wolfgang Kemp: Reif für die Matrix [Anm. 7], bes. 46 f. 100 Willibald Sauerländer: Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs [Anm. 3], 320 und 311-313. 98

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des und künstlerischer Rationalität herauszustellen. Dabei muß die eigene wissenschaftliche Fragestellung als historische ausgewiesen werden – und zwar in doppelter Hinsicht: Nicht nur die Kunstwerke sind als geschichtliche Phänomene in konkreten Kulturzusammenhängen, als Zeugnisse vergangener Gestaltungen der Sichtbarkeit zu diskutieren, sondern zugleich muß die Geschichte der Kunst als Fundus für Antworten auf jeweils aktuelle ästhetische Fragestellungen plausibel gemacht werden. Das heißt, die Geschichte der Kunst ist zwar nicht homogen und universal gültig, sie strebt keinem bestimmten Ziel zu, aber sie ist nichtsdestoweniger (retrospektiv) rational rekonstruierbar: Für die jeweils entworfenen historischen Zusammenhänge können diskutierbare Gründe angegeben werden. Sie genügen damit der wissenschaftlichen Forderung nach Kritisierbarkeit. In diese Richtung weist beispielsweise eine als Funktionsgeschichte verstandene Kunstgeschichtsforschung (Werner Busch, Tillmann Buddensieg, Wolfgang Kemp, Jürgen Paul u. a.).101 Hierbei handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Methode im engeren Sinn, sondern um ein Spektrum von Möglichkeiten, die es erlauben, das Kunstwerk in dem kulturellen und funktionalen Kontext zu sehen, in dem es entstanden ist und für den es bestimmt war. Gegenstand der Analyse ist dabei nicht ›die Kunst‹ oder die Künstlerbiographie, sondern die jeweils spezifische Aufgabenstellung des Werks in einer Kultur. Hier wird die Kunst also nicht – wie bei Danto – als per se autonome verstanden, sondern die Kunst kann im Wandel und der Interaktion ihrer Funktionen, beispielsweise der religiösen, der politischen, der abbildenden und eben auch der ästhetischen Funktion, analysiert werden. Ein weiterer für die Kunstgeschichtsforschung gangbarer Weg in die beschriebene Richtung könnte etwa auch in der Erforschung von Wirkungszusammenhängen (Wilhelm Dilthey) bestehen.102 Die Erforschung von Wirkungszusammenhängen ist der Versuch, systematische und historische Forschung zu vermitteln. Die Idee 101 Vgl. hierzu bes. Funkkolleg Kunst, hg. vom Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, 13 Bde. und ein Abbildungsband, Weinheim / Basel 1984; in leicht modifizierter Form auch erschienen als: Funkkolleg Kunst – Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, hg. von W. Busch, 2 Bde., München / Zürich 1987. Im Rahmen des Funkkollegs Kunst wurde der funktionsgeschichtliche Ansatz einer Einführung in die Kunstgeschichte zugrundegelegt. Vgl. auch Hans Belting: Das Werk im Kontext, in: Kunstgeschichte – Eine Einführung, hg. von Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke, Berlin 31988, 222-239. 102 Dilthey wird hier nicht als Theoretiker der Einfühlung und der biographischen Forschung angeführt, sondern als Theoretiker von strukturierenden Deutungen der geschichtlichen Welt, wie die neuere Forschung ihn thematisiert. (Vgl. bes. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, Leipzig / Berlin 1913 ff., Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von Bernhard Groethuysen, Leipzig / Berlin 1927, 77-188, bes. Kap. Die geistige Welt als Wirkungszusammenhang, 152-188; zur Interpretation vgl. Frithjof Rodi: Wilhelm Dilthey – Der Strukturzusammenhang des Lebens, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts – Eine Einführung, hg. von Margot Fleischer und Jochem Henningfeld, Darmstadt 1998, 199-219; Rudolf A. Makkreel: Dilthey – Philosoph der Geisteswissenschaften, übers. von Barbara M. Kehm, Frankfurt/M. 1991, bes. Kap. Wirkungszusammenhänge und historisches Erklären, 361-370.)

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des Wirkungszusammenhangs bringt eine Vorstellung von der Struktur der geschichtlichen Welt bzw. von der strukturierenden Deutung der geschichtlichen Welt zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um eine solche Struktur einer singulären geschichtlichen Situation, die es ermöglicht, die Wechselwirkung verschiedener sozialer, politischer, kultureller und religiöser Momente als einen Zusammenhang darzustellen, ohne ein kausales Erklärungsmodell einzuführen. Es geht also darum, gegenüber der Monopolisierung einer bestimmten Methode der Erforschung historischer Phänomene eine Dezentralisierung der Argumentation zu erzielen und Interdisziplinarität innerhalb der kunsthistorischen Einzelforschungen und – allgemeiner – zwischen der kunsthistorischen Forschung und anderen geistesgeschichtlichen Disziplinen herzustellen. Die Ergebnisse der Einzelforschungen sollen in einen systematischen Rahmen gestellt werden, der zugleich operationalisiert werden kann zur Deutung von Einzelphänomenen. Die Kunstgeschichtsforschung muß dabei die spezifische Leistungsfähigkeit der Kunst gegenüber anderen Formen der ästhetischen Erfahrung und des Wissens herausstellen. Der Beitrag der Kunstgeschichte zur aktuellen ästhetischen Diskussion könnte daher darin bestehen, sich gerade nicht selbst zur Bildwissenschaft zu transformieren, sondern sich vielmehr als historische Bild-Kritik zu etablieren.103 Ein solcher Ansatz ließe es beispielsweise zu, sich an einer kritischen Analyse der Neuen Bildmedien und ihrer öffentlichen Wirkung zu beteiligen. Er ließe es zu, die Frage aufzuwerfen, ob die Bilder, mit denen wir in angeblich instruktiver Absicht umstellt werden, tatsächlich überhaupt verstanden werden wollen. Es bleibt zu hoffen, daß die Relevanz einer so verstandenen Kunstgeschichtsforschung schließlich auch politisch plausibel gemacht werden kann.

103 Vgl. Willibald Sauerländer: Dies Bildnis ist bezaubernd fremd – Man sieht immer noch, daß es Menschen sind: Zweifelnd verwandelt Hans Belting die Gegenstände der Kunstgeschichte in ethnographische Objekte«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 162 (2001 / 16.7.2001), 47 sowie Wolfgang Kemp: Reif für die Matrix [Anm. 7], bes. 45 f.

II. VON SCHÖNEM, CHARAKTERISTISCHEM UND HÄSSLICHEM: DAS GESTALTUNGSSPEKTRUM DER KÜNSTE

Der neue Heilige Hegel über die Darstellung Gottes Von Ursula Franke

Hegels Kunstphilosophie, insbesondere seine Theorie der Skulptur und seine Philosophie der Malerei, bieten durchaus Gesichtspunkte, die für gegenwärtige Debatten über Kunst und Religion erhellend sind – und das nicht trotz, sondern in geradezu ausgezeichneter Weise wegen der Rede vom Ende der Kunst, genauer wegen Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst ihrer höchsten Bestimmung / geschichtlichen Möglichkeit nach. Hegels grundsätzliche Auffassung über die Bezüge der Kunst zur Transzendenz soll in dieser Hinsicht zunächst skizziert und auf diesem Hintergrund sodann die Frage der Repräsentation von Transzendenz, mithin der Darstellung Gottes im Medium der bildenden Künste thematisiert und problematisiert werden, und zwar im Blick auf die Götterstatuen der griechischen Antike und auf Gemälde christlichen Inhalts. Wenn bekanntlich für Hegel die griechischen Götterstatuen von klassischer Exemplarizität sind, so erreicht in seinen Augen die Malerei bei den christlichen Völkern ihren Höhepunkt.1 Wie aber erreicht die Malerei eine Visualisierung der christlichen Gottesvorstellung und ihrer Bilderwelt ? Wie kann das Unsichtbare skulptural und malerisch sichtbar werden ? Wie gelangt es zu einer, für den Betrachter ästhetisch erfahrbaren Präsenz ? Diese entscheidende Frage kann m. E. mit Hegel zwar nicht beantwortet, wohl aber in ihrer Problematik pointiert werden. Da Hegels Auffassung der Geschichte der Kunst und damit seine Theorie der Skulptur ebenso wie seine Philosophie der Malerei, soweit im strengen Sinn davon gesprochen werden kann, in die gesamte Problematik seiner Philosophie der (schönen) Kunst eingebunden ist, muß zunächst deren systematische, geschichtsphilosophisch grundierte Struktur in ihrer Eigenart markiert werden.2 Weiter ist vorab die Bestimmung der Kunstschönheit zu skizzieren, um dann auch zu verstehen, inwie1 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, nach der 2. Ausg. von Heinrich Gustav Hotho (1842), hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt/M. 1955; 2. Aufl. (mit einem Essay über Hegels Ästhetik von Georg Lukacs), 2 Bde., Berlin u. Weimar o. J, II 343 (im folgenden: Ästhetik). – Parallel und ergänzend zur Druckfassung der Ästhetik ziehe ich studentische Mitschriften zu Hegels Berliner Ästhetik-Vorlesungen heran. Mein besonderer Dank gilt Bernadette Collenberg-Plotnikov und Annemarie Gethmann-Siefert, die mir vor Erscheinen der Buchausgabe der Mitschriften Auszüge daraus zur Verfügung stellten. 2 Zur Problematik und zur kontroversen Diskussion des Einflusses der Hegelschen Ästhetik auf die Kunstgeschichte: vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Ästhetik. Die Transformation der Berliner Vorlesungen zum System, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56, H. 2, Frankfurt/M. 2002, 274-292, bes. 286-289; siehe auch dies.: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, Bonn 1984, bes. 142-162 (zur »Entwicklung des Systems der Philosophie

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fern, in welchem Sinn und inwieweit Hegel der Bildhauerkunst und der Malerei zutraut und zumutet, als Medien von Transzendenz zu fungieren.

I. Hegel erörtert die Fragen der Vorstellung und Darstellung Gottes unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung des Absoluten, mit der er Transzendenz, das Göttliche begrifflich faßt, und zwar im Sinn von »metaphysischen Definitionen Gottes«: »Das Absolute« ist ein Begriff, der »Gott im Sinne und in der Form des Gedankens ausdrücken soll«3. Der Begriff des Absoluten entfaltet sich in der Weltgeschichte des Geistes. ›Geist‹ ist nichts anderes als das Wissen vom Absoluten; Wissen aber ist eine »besondere Form« von Glauben. Glaube und Wissen sind nicht entgegengesetzt. 4 Der Begriff des Glaubens ist dabei nicht auf den christlichen Glauben eingeschränkt. Philosophisch gesehen, so Hegel, ist »der Inhalt« des Glaubens »unbestimmt«; er läßt nicht allein den christlichen Glauben zu, sondern begreift ebensosehr auch den Glauben in sich, daß »der Dalailama, der Stier, der Affe usf. Gott ist«.5 ›Glauben‹ bezieht sich so verstanden im weitesten Sinn auf Gott als das höchste Wesen überhaupt. Der Mensch vergewissert sich seines Bezuges zu Gott, zum Absoluten, zur Transzendenz in der Anschauung, im Glauben und im Denken.6 Im geschichtlichen Wandel der sinnlichen Anschauung, der Glaubensvorstellungen und des Denkens repräsentieren Kunst, Religion und Philosophie das Absolute. Für die Frage der künstlerischen Darstellung Gottes ist es entscheidend, daß Hegel den skizzierten Begriff des Absoluten als Bestimmung unserer Vorstellung von Transzendenz im Rahmen eines geschichtsphilosophischen Modells behandelt.7 Er als Grundlage der Ästhetik«). Siehe auch den Beitrag von Bernadette Collenberg-Plotnikov in diesem Band. 3 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), neu hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg, 6. Aufl. 1959, § 85. 4 Vgl. ebd., §§ 553 u. 554. 5 Vgl. ebd., § 63. 6 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie. [Anm. 3] § 63. Zu Hegels Begriff der Religion vgl. Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart–Bad Cannstatt 1986, bes. 219 ff. 7 Klaus Düsing (Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 319-340) zeigt, daß Hegels Konzeption der Ästhetik als einer Philosophie der Kunst, die »einerseits die idealen und gemeingültigen Bestimmungen dessen, was Kunst ist, oder des Kunstcharakters von Kunstwerken anzugeben [hat]« und »andererseits die Geschichtlichkeit der Kunst, ihrer Formen und sogar einzelner Künste darlegen [muß], da der Inhalt der Kunst, der Religion oder Mythologie in derjenigen geschichtlichen Gestalt ist, der die Kunst zugehört« (ebd., 320), im Ansatz auf die Entstehung von Hegels Ästhetik in der Jenaer Zeit (1801-1807) zurückgeht und stellt diese Konzeption in den Kontext der vorhergehenden idealistischen Ästhetik.

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geht davon aus, daß die Kunst sich seit Jahrtausenden an religiösen Bilderwelten orientiert hat, und er bezieht – das ist ein Thema für sich – außer den Bilderwelten der christlichen Religion auch vor- bzw. nichtchristliche Vorstellungen vom Göttlichen ein.8 Die Bindung der neuzeitlichen Kunst an die Weltanschauung der christlichen Religion aber sieht er, wie sich zeigen wird, bereits zu seiner Zeit in der Auflösung begriffen. Die Kunst wird ›frei‹ und der Mensch selbst zum ›neuen Heiligen‹ der Kunst. Hegels Position ist auf dem skizzierten Hintergrund grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, daß er die religiöse Vorstellungswelt des Menschen und die philosophische Reflexion ebenso wie auch die Kunst als eine Ausdrucksform der Selbstund Welterfahrung des Menschen betrachtet. Darin liegt der Ursprung der Künste und zugleich ihr großes Thema. Die Künste bezeugen ein Selbst- und Weltverständnis, das im Transzendenten gründet und in den Kunstwerken Präsenz erlangt, und zwar mit dem »sittlichen Ziel« der »Moralität«, der Bildung des Menschen;9 es ist der Standpunkt der Reflexion, der diesen maßgeblichen Gesichtspunkt der Bestimmung oder des ›Endzwecks‹ der Kunst angibt. Das vom Menschen hervorgebrachte Kunstwerk muß sich wegen dieses Zwecks »über die Natur erheben«, und zwar »besonders bei der Darstellung der göttlichen Wesenheit«.10 Das Wissen um das Göttliche ist für den Menschen »die höchste und letzte Befriedigung des Geistes«: und da, wie Hegel es sieht, »das Göttliche […] selbst das Wesen des Geistes [ist]«, strebt der Mensch danach, »sich selbst zum Gegenstande zu haben«. Wenn Hegel damit »die abstrakte Bestimmung der höheren Sphäre des (Kunst)schönen« angegeben hat, so besteht diese Sphäre selbst aus den »Gestalten« der Kunst, Religion und Philosophie, »welche zusammen zur Erkenntnis des Wahren hinarbeiten«.11 Hegel legt demnach Kunstwerke wie philosophische Texte aus, die vom Göttlichen, vom Absoluten handeln und sprechen: »die höchste Bestimmung hat die Kunst […] gemein mit der Religion und Philosophie, [sie] ist wie diese beiden eine Art und Weise, das Göttliche, die höchsten Forderungen des Geistes auszusprechen und zum Bewußtsein zu bringen. In der Kunst haben die Völker ihre höchsten Vorstellungen niedergelegt und sie [ist] oft der einzige Schlüssel, die Religion des Volkes zu erkennen«.12 Während die Religion uns in »gedachten Vorstellungen, Ge8 Dazu Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik, München 2001. Siehe auch Kwons Beitrag zu diesem Band. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband, hg. von Helmut Schneider. Frankfurt/M. 1995, 23 f./ Ms. 5 f. (im folgenden: Ascheberg 1820/21). Die Mitschriften der Berliner Ästhetik-Vorlesungen Hegels werden hier und im folgenden mit der Seitenangabe der Buchausgabe und der Angabe der Seite im Manuskript (Ms.) zitiert – Vgl. Ästhetik, I 42, I 77. 10 Ascheberg 1820/21, 27 f. / Ms. 9. 11 Ebd., 27 f. / Ms. 8. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, 4 f. / Ms. 4 (im folgenden: Hotho 1823).

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danken« belehrt, belehrt uns die Kunst »in Bildern«.13 Das ›Absolute‹, das ›Göttliche‹, das in den bildenden Künsten, zu denen Hegel außer der Skulptur und der Malerei auch die Architektur zählt, sowie in der Musik und der Dichtkunst zu bildlicher Präsenz gelangt, scheint auf in der Schönheit der Kunstwerke, die als solche – ebenso wie die Vorstellung des Absoluten – dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist. Die Welt der Künste als Ort der Repräsentation von Transzendenz gelangt im Fortgang der Geschichte, d. h. im Fortgang von der symbolischen zur klassischen Kunstform zur Vollendung, während die romantische Kunstform, die für Hegel im christlichen Mittelalter ihren Anfang nimmt, sich also mit dem literaturwissenschaftlichen Epochenbegriff der Romantik nicht deckt, bereits die Auflösung und Ausweitung der Kunstwelt bezeichnet und den Übergang zur Moderne markiert. Die einzelnen Künste werden in dieser geschichtsphilosophischen Perspektive exemplarisch den geschichtlich sich entfaltenden Kunstformen zugeordnet. Die Architektur gehört der symbolischen Kunstform vorzüglich an, die Skulptur stellt den Höhepunkt der klassischen Kunstform dar und die romantische Kunstform findet Ausdruck in Musik, Malerei und Poesie. Das Kriterium für diese Differenzierung der Künste legt Hegel in eine mehr oder weniger vollendete Verkörperung der Idee des Absoluten, d. h. in die Repräsentation oder Präsenz der Idee des Absoluten im Medium der schönen, sinnlichen Gestalt des Kunstwerks. Die im Orient ausgebildete symbolische Kunstform ist durch die Trennung von Bedeutung und Bild oder, anders gesagt, durch die Trennung von Idee und individueller Erscheinung des Absoluten gekennzeichnet. Die klassische Kunstform repräsentiert die Einheit von Bedeutung und sinnlicher Gestalt während die romantische Kunstform wiederum durch eine Trennung dieser beiden Momente bestimmt ist. Die Kunstformen stellen m.a.W. eine differenzierte Entfaltung und Modifikation des Schönen dar, und zwar »das Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit«14, worunter Hegel eben nichts anderes versteht, als die Repräsentation des Absoluten im Kunstschönen: »[…] in den Formen liegt der Unterschied, der Inhalt bleibt derselbe«.15 Die im Laufe der Geistesgeschichte sich wandelnde Kunstschönheit begreift Hegel als Produkt, als Resultat menschlicher Tätigkeit, der Tätigkeit des Künstlers. Dabei nimmt er die Bestimmung des Kunstschönen lemmatisch aus der Metaphysik auf, und zwar im Anschluß an die große Tradition der antiken Auffassung der Intelligibilität des Schönen und der mittelalterlichen Bestimmung der Schönheit als ›splendor Dei‹. Nach antiker, wesentlich auf Platon zurückgehender Auffassung erweckt die sinnenhafte Schönheit die Sehnsucht nach dem göttlich Schönen und weist dem Ascheberg 1820/21, 26 f. / Ms. 13 f. Vgl. Ästhetik, I 88, I 295-297. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst. Berlin 1826 (Nachschrift im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt/M. 2005, 56 / Ms. 4 (im folgenden: Von der Pfordten 1826). 13 14

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Menschen den Weg dorthin. In der Bestimmung der Schönheit als ›splendor Dei‹, als Glanz oder Schein der Herrlichkeit Gottes, der seine Schöpfung, die Welt, durchstrahlt, hat das Mittelalter den platonischen Begriff der Schönheit aufgegriffen und im Horizont des christlichen Weltverständnisses weiterentwickelt.16 Für die sinnenfällige Schönheit sind in diesem Zusammenhang drei Kriterien, die Thomas von Aquin geltend gemacht hat, maßgebend: Unversehrtheit oder Vollendung (integritas sive perfectio), ein richtiges Maßverhältnis oder Übereinstimmung der Teile (proportio sive consonantia partium) und Klarheit (perspicuitas, claritas). Diese Kriterien, die für die Schönheit der natürlichen Dinge und analog für die Schönheit der Artefakte gelten, bleiben auch in der Kunsttheorie der Renaissance, die sich mit der platonisch-christlichen Theorie des Schönen verbindet, gültig.17 Der normative Rang einer derart vor Augen geführten Schönheit als Ideal der Kunst ist so auch – wie Klaus Krüger gezeigt hat – maßgebend, wenn in der italienischen Frührenaissance die Schönheit einer malerischen Darstellung zum Signum der Glaubwürdigkeit religiöser Bilder wird.18 Hegels Bestimmung der Kunstschönheit und die Funktion, Transzendenz, das Unsichtbare sichtbar zu machen, die er der Kunstschönheit zumutet, ist zwar wesentlich von der antiken und der mittelalterlichen Auffassung des Schönen geprägt, doch wird sie zudem und nicht minder durch die Modifikationen des Interessanten und Charakteristischen, ja des Häßlichen konturiert, wie sie die moderne Auffassung und den modernen Ausdruck des Ideals kennzeichnen: »Schöneres« als die »Darstellung des Ideals« in der griechischen Skulptur »kann nicht sein und werden. Dennoch gibt es Höheres als die schöne Erscheinung des Geistes in seiner unmittelbaren […] sinnlichen Gestalt«, wie sie in der skulptural idealisierten körperlichen Gestalt des Menschen realisiert ist.19 Es ist »die Bestimmung der Skulptur«, daß sich »das Geistige […] das Material vollkommen angeeignet [hat]«. Oder anders, wiederum mit Hegel gesagt: »Der innerliche Gott ist in die Äußerlichkeit versenkt, die Äußerlichkeit hat sich zum Gotte erinnert und individualisiert; die Äußerlichkeit ist schlechthin Innerlichkeit und die Innerlichkeit entäußert.«20 Diese Schönheit aber, deren Wahrheit darin bestand, daß der Geist »sich in die Leiblichkeit« versenkte, wird, so Hegel, im geschichtlichen Fortgang der Künste, wie er dann durch die Malerei zunächst markiert wird, etwas »Untergeordnetes«.21 16 Vgl. z. B. Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bde., Einsiedeln 1967-1969, Bd. III, 1: Das theologische Apriori der Schönheitsphilosophie, 285-370, vgl. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Neuausg. Köln 1982 (DuMont-Taschenbücher, Bd. 117), bes. 19-35 u. pass. 17 Vgl. Michael Jäger: Die Theorie des Schönen in der italienischen Renaissance, Köln 1990 (DuMont-Taschenbücher, Bd. 238), bes. 38-56, 180-214. 18 Vgl. Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion der Kunst in der frühen Neuzeit in Italien. München 2001, 172 ff. u. pass. 19 Ästhetik, I 498 f. 20 Hotho 1823, 40 / Ms. 35. 21 Ästhetik, I 498. Vgl. Hotho 1823, 179 f. / Ms. 166.

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Die unterschiedlichen Aspekte, die Hegels Bestimmung der Kunstschönheit auszeichnen, bringen den Übergang von der klassischen zur romantischen Form der Kunst und der Künste in den Blick und bilden den Hintergrund für seine pointierte Problematisierung einer Visualisierung des Göttlichen in den Medien der Skulptur und der Malerei. II. Eine skulpturale Visualisierung des Absoluten, Göttlichen, von Transzendenz sieht Hegel exemplarisch in den Götterstatuen des sogenannten idealen, im 4. Jahrhundert v. Chr., also in der Zeit des Phidias ausgebildeten Stils gegeben.22 Die Exemplarizität oder Klassizität der antiken griechischen Bildwerke stellt er im Anschluß an Winckelmanns epochemachende Geschichte der Kunst des Altertums (1764), der seine kunstgeschichtlichen Beschreibungen verpflichtet sind, vor Augen. Wenn die Götterstatuen, deren Stoff der griechischen Mythologie entnommen ist, für Hegel in ihrer unüberbietbaren und unüberholbaren Schönheit der Ausdruck einer Kunstreligion sind,23 so findet die Idee des Absoluten deshalb in diesen Bildwerken eine ideale Verkörperung, weil ihr Vorbild die menschliche Gestalt ist, die, so Hegel, an sich selbst bereits die Bedeutung des Geistes hat. Die Götterbilder der griechischen Skulptur, so sagt er mit einem Pathos, das heute ohne weiteres kaum mehr nachvollzogen werden kann, fassen »das Wunder auf, daß der Geist dem ganz Materiellen sich einbildet und diese Äußerlichkeit so formuliert, daß er in ihr sich selber gegenwärtig wird und die gemäße Gestalt seines eigenen Inneren darin erkennt«.24 Diese »Form der Kunst ist das Klassische«. Hegel bestimmt die klassische Form in der Rücksicht auf die Repräsentation des Absoluten, Göttlichen, so, »daß die Form der Kunst die adäquate Einbildung der Idee, des Begriffs in die Erscheinung, Manifestation ist. Der Begriff ist so eingebildet in die ihm eigentümliche Gestalt. Hiermit ist also das Ideal vollendet und erscheint in seiner Wirklichkeit«.25 Zur Veranschaulichung des Gemeinten sei ein Beispiel angeführt: Wie später Arnold Gehlen, so hebt auch Hegel den aufrechten Gang des Menschen hervor: »[…] sobald aber das Bewußtsein zu erwachen beginnt, reißt der Mensch sich von 22 Die klassische Übereinstimmung einer »Adaequation von Idee und künstlerischer Form« gilt auch für die übrigen Kreise der griechischen Skulptur. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Aesthetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29, Mitschrift von Karol Libelt. (Unpubliziert; Ms. Jagellionische Bibliothek, Krakau), Ms. 120 (im folgenden: Libelt 1828/29, zitiert mit Angabe der Manuskriptseite). 23 Vgl. Walter Jaeschke: Kunst und Religion, in: Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner, Stuttgart 1982, 163-195. 24 Ästhetik, II 95. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift von Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitwirkung von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004, 28 / Ms. 48 (im folgenden: Kehler 1826).

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dem tierischen Gebundensein an den Boden los und steht frei für sich aufrecht da«.26 Die aufrechte Stellung »ist noch nicht als solche schön«, sondern wird erst schön aufgrund einer plastisch durch die Stellung und Haltung des Körpers modellierten »Freiheit ihrer Form«, die den optischen Eindruck der Bewegtheit vermittelt. Erst unter dieser Voraussetzung kann die aufrechte Haltung aufgrund ihrer »Stellung als eine Gebärde des Geistes gelten«27, denn: »Die Wahrheit der Kunst darf […] keine bloße Richtigkeit sein […], sondern das Äußere muß mit einem Inneren zusammenstimmen«.28 Die griechische Skulptur erreicht so gesehen in den Götterbildern/Götterstatuen den Ausdruck einer »schönen Individualität« und läßt das Göttliche, Transzendenz ästhetisch präsent werden. Bei allem Pathos, das Hegel hier an den Tag legt, wird gleichwohl eindringlich deutlich, daß der philosophische Gedanke und die philosophische Reflexion die skulpturale griechische Kunst zwar überformen, sie jedoch keineswegs entmündigen, vielmehr sich den Werken in ihrer ideellen wie materiellen Eigenart und Besonderheit verbal pointiert annähern. Das geistige Moment, wie Phidias es im Zeus zum Ausdruck gebracht habe und wie es ausgeprägt sei in den Kunstgestalten des Jupiter, Apollon, Merkur oder der Juno, der Pallas Athene oder der Venus, wird durch die künstlerisch vollendete Darstellung der menschlichen Gestalt, insbesondere durch die Stellung und Haltung des Körpers ausgedrückt und erreicht so jene, die »eigentlich ideale Skulptur« auszeichnende »Lebendigkeit«.29 Wenn Hegel in dieser Weise die Darstellung des Göttlichen im Sinne einer Visualisierung von Transzendenz im Blick auf die Verkörperung der mythologischen Götterbilder im Medium der klassischen Schönheit der Götterstatuen der griechischen Skulptur, also im Blick auf die idealisierte, skulpturale Gestalt des Menschen zu begründen versucht, so erörtert er die Frage einer Visualisierung von Transzendenz in der Malerei sowohl im Blick auf die christliche Gottesvorstellung als auch 26 Ästhetik, II 121. Kurt Bayertz (Glanz und Elend des aufrechten Ganges. Eine anthropologische Kontroverse des 18. Jahrhunderts und ihre ethischen Implikationen, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), Berlin 2001, 345-369) verfolgt den Topos des aufrechten Ganges in seiner »bis in die Antike zurückreichenden Tradition des philosophischen Denkens«. Bayertz problematisiert im Zusammenhang mit gegenwärtigen Debatten über das Problem des Anthropozentrismus und im Licht der Naturwissenschaften die Auffassung, daß der aufrechte Gang »stets als ein Symbol der besonderen Stellung des Menschens in der Natur gedeutet worden [ist]« (368 f.). 27 Vgl. Ästhetik, II 121 f. 28 Ebd., I 157. Vgl. Hotho 1823, 81 / Ms. 71 f. 29 Vgl. Ästhetik, II 165, vgl. II 142-144. Den minutiösen Beschreibungen folgend, die Hegel im einzelnen den antiken skulpturalen Werken widmet, habe ich vor Jahren versucht, aktuelle Bezüge zur Plastik des 20. Jahrhunderts, z. B. zu den Arbeiten von Norbert Kricke und Alberto Giacometti, herzustellen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der philosophischen Perspektive, in der Hegel das Ideal konkret, nämlich im Hinblick auf den Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung einer Kunstgestalt erfaßt. Vgl. Ursula Franke: Die Skulptur in Hegels »Pantheon der Kunst«, in: Die Kunst gibt zu Denken. Über das Verhältnis von Philosophie und Kunst, hg. von ders. und Volker Gerhardt, Münster 1981 (Schriftenreihe der Abteilung für Kunsterzieher Münster der staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Hochschule für bildende Künste, Heft 7, 34-76).

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unter dem formalen Aspekt der Kunstschönheit. Dazu muß er sich von der klassischen Schönheitsvorstellung verabschieden. In der romantischen Kunst der Malerei ist »die Schönheit des klassischen Ideals […] kein Letztes mehr«. Auch die »Züge des Unschönen« erlangen einen »ungeschmälerten Spielraum«.30 III. Anders als die körperliche Schönheit der griechischen Skulptur verlangt die geistige Schönheit, deren Ausdruck den Gemälden der christlichen Bilderwelt ihren Glanz verleiht, keine Idealisierung der menschlichen Gestalt. Eine Visualisierung von Transzendenz im Medium der Malerei setzt vielmehr voraus, daß der Künstler durch »das Gewöhnliche und Bekannte dennoch das Geistige und Innerste […] selber hindurchscheinen läßt«, daß er »seinen Gestalten die geistige Lebendigkeit einzuhauchen und die Anschaulichkeit und Erfaßbarkeit des Geistigen zu geben imstande gewesen ist«.31 Zur Beschreibung der Schönheit der Gemälde der christlichen Bilderwelt setzt Hegel die Kategorie der Innerlichkeit ein, die das Romantische auszeichnet und mit der er die sozusagen psychologische Voraussetzung einer Visualisierung von Transzendenz im Sinn der christlichen Gottesvorstellung begrifflich zu fassen sucht: »Das Romantische ist das Angemessenste für die Kunst der Malerei«.32 Innigkeit oder Innerlichkeit ist das Prinzip der christlichen Religion, und die christliche Malerei ist, als Malerei, »Erscheinung des Innern«, der inneren Vorstellungswelt des Menschen. Malerei ist wegen ihrer Innerlichkeit »die Kunst des Scheines überhaupt«. Zugespitzt formuliert: »Das Gemälde ist ein Kunstwerk und zugleich ein Kunststück des Scheinens«.33 Der malerische Schein wird durch die Farbe hervorgebracht. Malerei ist erst durch die Farbe Malerei, und die Anordnung der Farben verleiht einem Gemälde die ihm eigentümliche Schönheit. Malerische Schönheit als »Schönheit der Innigkeit« ist eine geistige Schönheit. Hegel sieht darin einen Ausdruck vor Augen geführt, der die »innerliche Gestalt der Seele in sich selbst« offenbart.34 Dabei bezieht er für den Ausdruck der geistigen Schönheit das Charakteristische ebenso ein wie das Häßliche; durch die Darstellung der Deformation der menschlichen Gestalt finden Gebrechen, Schmerz, das Leiden Jesu oder die Qualen der Märtyrer einen malerischen Ausdruck, welcher der geistigen Schönheit angemessen ist.35 Vgl. Ästhetik, I 499, 507. Ebd., I 516. 32 Libelt 1828/29, Ms. 130 a. 33 Kehler 1826, 181 / Ms. 341 f. 34 Ästhetik, I 511. 35 Vgl. ebd., II 236f., II 255, vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Hässliche in der Kunst, in: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – Die Politik der Kunst, Hegel – Jahrbuch 2000, hg. von Andreas Arndt, Karol Bal, Henning Ottmann in Verbindung mit Willem van Reijen, Teil 2, Berlin 2000, 21-41, bes. 26-29. 30 31

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Wenn für ihn der Ausdruck geistiger Schönheit einer ästhetischen Vergegenwärtigung der christlichen Bilderwelt allein gerecht wird, so legt Hegel bei seinen Überlegungen ein scharfes Bewußtsein für die Problematik an den Tag, die mit einer künstlerischen Visualisierung von Transzendenz im Sinn der christlichen Religion verbunden ist. Für seine Auseinandersetzung mit diesem Problem bezieht er sich auf Gemälde, die ihm in dieser Hinsicht signifikant erscheinen. »Der Gott der Christen«, so betont Hegel, ist ein »unvorteilhafter Gegenstand« für die Kunst.36 Diese Auffassung hat Hegel in seinen Berliner Ästhetik-Vorlesungen immer wieder unterstrichen: »Gott der Vater« so heißt es bereits in den Vorlesungen von 1820/21, »kann nicht eigentlich Gegenstand der Malerei seyn«.37 Zwar haben »große Maler« immer wieder versucht, »den christlichen Gott auf eine großartige Weise darzustellen«, aber es zeige sich bei der »Betrachtung der Werke sogleich, daß unser Gott sich für die Darstellung nicht hergibt, daß sie ein Notbehelf ist«.38 Jan van Eyck z. B. habe »in dem Gottvater des Altarbildes zu Gent das Vortrefflichste erreicht, was in dieser Sphäre kann geleistet werden […]; aber wie vollendet dieses Gemälde auch durch den Ausdruck der ewigen Ruhe, Hoheit, Macht, Würde usf. sein mag […], so bleibt doch darin für unsere Vorstellung etwas Unbefriedigendes. Denn das, als was Gottvater vorgestellt wird, ein zugleich menschliches Individuum«, ist – im Kontext der christlichen Gottesvorstellung – allein Jesus Christus. »In ihm erst schauen wir dies Moment der Individualität und des Menschseins als ein göttliches Moment, und zwar so an, daß sich dasselbe nicht als eine unbefangene Phantasiegestalt, wie bei den griechischen Göttern, sondern als die wesentliche Offenbarung, als die Hauptsache und Hauptbedeutung erweist«.39 Der mit dem Moment der Individualität gegebene Anthropomorphismus macht für Hegel nun aber auch die Darstellung Jesu Christi problematisch, und zwar hinsichtlich der Vorstellung seiner Göttlichkeit. Die Inkarnation legitimiert zwar die Repräsentation des Absoluten, des Göttlichen durch die Gestalt eines Menschen, doch – so unterstreicht Hegel – die Malerei habe es gleichwohl schwer, den Menschen Jesus von Nazareth, der als Sohn Gottes in die Welt gekommen ist, nicht bloß als einen würdigen Mann unter anderen würdigen Männern darzustellen, etwa wie

Kehler 1826, 183 / Ms. 346. Zur Begründung vergleicht Hegel die Darstellung Gottvaters mit der Darstellung von Zeus: »Als Gegenstand der Kunst ist er [Gott Vater] als Zeus erschöpft, wo er bloß die Macht vorstellt.« Demgegenüber ist er in der christlichen Religion »aber auch gedacht als Vater, als übergehend in seinen Sohn«. So könne man sagen, daß er auch im Altertum dargestellt sei, »wie ihm PALLAS aus dem Haupte entspringt«. Doch würde ein solcher »Anthropomorphismus […] der christlichen Religion nicht entsprechen«. Daher müsse Gott Vater, christlich vorgestellt, als ein ernster Mann dargestellt werden, »aber dieses Moment der Individualität ist schon in seinem Sohne Christus dargestellt, und so würde diese Bestimmung an Gott dem Vater als überflüssig, nicht passend erscheinen« (Ascheberg 1820/21, 257 / Ms. 201). 38 Kehler 1826, 183 / Ms. 346. 39 Ästhetik, II 196. 36 37

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Raffael den Pythagoras oder sonst einen anderen Weisen in der Schule von Athen darstellte.40 Prinzipiell, so unterstreicht Hegel, passe der Anthropomorphismus zwar zu dem menschengestaltigen Gott, als der Jesus Christus vorgestellt wird, doch sei hier eine ähnliche Schwierigkeit wie bei der Frage der Darstellung Gottvaters ganz offensichtlich: »[…] als griechische Individualität dargestellt, erschiene er [ Jesus Christus U. F.] als ein griechischer Gott; als Mensch dargestellt, trete er ganz unter die Menschen zurück«.41 So erklärt Hegel im Blick auf die Christusköpfe von Caracci oder Hans Memling, die er in der Sammlung Boisserée42 gesehen hatte, je mehr man diese Köpfe betrachte, desto mehr werde man in Verwunderung gesetzt, so scheinen sie einen »anzustrahlen«.43 Doch diese Köpfe erreichen den Ausdruck der Gottmenschlichkeit, den Hegel als Ausdruck einer geistigen Schönheit begrifflich zu fassen sucht, nicht. Viele Meister, die Jesus als Lehrer darstellen, hätten für ihre Darstellung »einen griechischen Idealkopf« gewählt, was »der göttlichen In- Jan van Eyck (um 1390 -1441): nigkeit und dem Ausdruck der Liebe zuwider« Antlitz Christi (Alte Kopie nach sei.44 Man müsse deshalb gestehen, daß derartige einem verschollenen Bild von Portraits von Christusköpfen, so schön sie auch J. v. Eyck aus dem Jahre 1438), sein mögen, der geistigen Schönheit nicht entspre- Eichenholz, 44 x 32 cm. Erworben mit der Slg. Solly, 1821. chen. Lediglich ein Christuskopf aus der Schule des Jan van Eyck, der von »glänzender Vollendung« sei, scheint für Hegel den Ausdruck geistiger Schönheit zu treffen.45 Bemerkenswerterweise ist dieser Kopf in der Art einer Ikone gemalt.46 Letztendlich aber – und darin gipfeln Hegels Überlegungen zur Frage der Darstellbarkeit des christlichen Gottes – müsse und könne die Göttlichkeit Jesu Christi in einem Gemälde nur als »Reflex« erscheinen. Wenn die Darstellung Jesu »mit den unmittelbaren Zügen der Menschlichkeit« ausgestattet sein muß, so könne die ihm zugesprochene Göttlichkeit allein »durch den Reflex, durch die Anbetung der Gemeinde« präsent werden. Durch die Geste der Anbetung werde der maleEbd., II 197. Ascheberg 1820/21, 257 / Ms. 201. 42 Vgl. Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée – Konzeption und Rezeptionsgeschichte einer romantischen Kunstsammlung zwischen 1804 und 1827, München 2003. 43 Ascheberg 1820/21, 257 / Ms. 201. 44 Kehler 1826, 183 f. / Ms. 346 f. 45 Ebd. 184 / Ms. 347. 46 Siehe auch Sammlung Boisséree [Anm. 42] Abb. 9. 40 41

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risch erscheinende Jesus »in den Himmel des Geistes erhoben«, und seine damit angezeigte Göttlichkeit erscheint uns insofern als ein Reflex, als Jesus Christus für den Betrachter so erscheint, wie er der anbetenden Gemeinde erscheint.47 Die Darstellung der Anbetung auf dem Tafelbild des Dreikönigsaltars, des sogenannten ›Columbaaltars‹ des Rogier van der Weyden, das zu Hegels Zeit noch Jan van Eyck zugeschrieben wurde, überzeugt ihn in dieser Hinsicht nicht. Die Heiligen drei Könige werden auf diesem Gemälde von drei Herzögen von Burgund, den Patronen des Erzstifts Köln, dargestellt.48 Man sehe »diesen Donatarien die Innigkeit und fromme Empfindung« zwar an, »wie sie geistig vereinigt sind mit dem Wesen des Heiligen«, doch entgehe dem Betrachter nicht, daß »diese religiöse Richtung nur etwas Momentanes ist«.49 Eine solche Darstellung verfehle es, den Reflex des Göttlichen durch den Ausdruck der anbetenden Gemeinde anschaulich, ästhetisch erfahrbar zu machen und werde daher dem Anspruch, den Blick auf das Absolute, auf Transzendenz zu öffnen, nicht gerecht. Der Undarstellbarkeit Gottvaters und der problematischen malerischen Repräsentation der Göttlichkeit des menschengestaltigen Gottessohnes stellt Hegel die Darstellbarkeit der Lebenssituationen Jesu Christi gegenüber: Jesus Christus »in seiner Menschlichkeit ist der höchste Gegenstand für die christliche Malerei gewesen […]«.50 »Die Erlösungsgeschichte Christi« offenbare »Gott, insofern er Mensch wird«, d. h. ein »wirkliches Dasein in der Welt der Endlichkeit und ihrer konkreten Verhältnisse hat«. In seinem »einzelnen Dasein bringt Jesus Christus das Absolute (Gott) selber zur Erscheinung«.51 Jesus als Kind, die Darstellung des leidenden Christus, auch die Verklärung, etwa Raffaels Transfiguration, die Grablegung oder die Auferstehung Christi sind für Hegel zentrale und interessante Gegenstände der Malerei, wenngleich z. B. die Verklärung Christi wiederum einen durch die Malerei schwerlich zu erreichenden Ausdruck der Göttlichkeit erfordere.52 Wenn Hegel den künstlerischen Ausdruck geistiger Schönheit als Ausdruck der Innigkeit und der Liebe zu erfassen und zu beschreiben sucht und diesen Ausdruck als Signatur des »Göttlich-Menschlichen« betrachtet, dann sieht er diesen Ausdruck letztlich allein in den Mariendarstellungen der großen Maler der italienischen Renaissance vollendet / überzeugend vor Augen geführt. Raffaels Jesuskind beispielsweise, wie es auf dem Gemälde der Sixtinischen Madonna erscheint, erweitere den »schönsten Ausdruck der Kindlichkeit« zur Präsenz einer noch nicht erfüllten Offenbarung. Das Kindliche enthalte »die Rechtfertigung, daß solche Offenbarung noch nicht vollendet dasteht«.53 47 48 49 50 51 52 53

Ascheberg 1820/21, 257 / Ms. 201. Vgl. Sammlung Boisserée [Anm. 42], Abb. 8. Kehler 1826, 185 / Ms. 349. Ebd., 183 / Ms. 346. Ästhetik, I 513, I 503. Kehler 1826, 183 f. / Ms. 346 f. Ästhetik, II 198.

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Das Problem einer Visualisierung von Transzendenz im Geist der christlichen Botschaft beschäftigt Hegel nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Darstellung von Motiven der christlichen Malerei, die in Bildern der »Umkehr« der Menschen zu Gott, der »Bekehrung« wie auch der »Buße« und der »Marter« das Leben und Wirken Jesu in der Geschichte und die Gegenwart des »Geistes Gottes« als »in der Menschheit gegenwärtig« vor Augen führen.54 »Bewunderungswürdig« findet er die Lesende Maria Magdalena von Correggio. Hegel bewundert das auch als Büßende Maria Magdalena bezeichnete Gemälde (ehemals in der Dresdner Gemäldegalerie) deshalb, weil im Unterschied zu anderen Darstellungen hier bei »der Gestalt, den Gesichtszügen, dem Anzug, der Haltung, Umgebung usf.« die »Umstände« beiseite gelassen sind, »die auf Sünde und Schuld zurückdeuten könnten«; Corregios Maria Magdalena sei »nur vertieft in ihren jetzigen Zustand, und dieser Glauben, dies Sinnen, Versinken scheint ihr eigentlicher ganzer Charakter zu sein«. Mit seiner, sagen wir feinsinnigen, Beschreibung versucht Hegel, »die Angemessenheit des Inneren und Äußeren, der Bestimmtheit des Charakters und der Situation« verbal zu fassen und hervorzuheben.55 Diese Bestimmtheit lasse Der verlorene Sohn von Gerhard von Kügelgen (17721820) vermissen. Zwar sei die »Zerknirschung seiner Reue und seines Schmerzes lebhaft/merkwürdig ausgedrückt«, doch habe der Künstler »die Einheit des ganzen Charakters, den er außerhalb dieser Situation haben würde und des Zustandes, in welchem er uns dargestellt ist, […] nicht erreicht«. Stelle man sich die Gesichtszüge »beruhigt vor«, so zeigen sie »nur die Physiognomie eines Menschen, der uns auf der Dresdner Brücke wie eben andere auch begegnen könnte«.56 Im Ergebnis ist also für Hegel die malerische Visualisierung von Transzendenz, die Darstellung des Absoluten im christlichen Verständnis problematisch geworden. Während das Absolute in den mythologisch inspirierten antiken Götterstatuen eine überzeugende ästhetische Präsenz erlangte, macht Hegel die Differenz von geglaubter christlicher Gottesvorstellung und ihrer künstlerischen Darstellung am Beispiel der Malerei pointiert geltend. Ebenso wie Johann Heinrich Meyer und Goethe weiß auch Hegel, daß der Anspruch an ein Werk der bildenden Kunst, »daß es sich selbst ausspreche«57, die Gemälde der christlichen Malerei überfordert, nachdem in Vgl. Ästhetik, I 513. Ästhetik, II 240 f. 56 Ästhetik, II 241. Anders als es die Druckfassung der Ästhetik überliefert, nennt Hegel in seinen Berliner Ästhetik-Vorlesungen den Ausdruck der Zerknirschung »merkwürdig« und nicht »lebhaft« (vgl.z. B.Ascheberg 1820/21,167 f. / Ms.210 f.) – Vgl.Gregor Stemmrich / Annemarie GethmannSiefert: Hegels Kügelgen-Rezensionen und die Auseinandersetzung um den »eigentlichen historischen Stil« in der Malerei, in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik (Hegel-Studien-Beiheft 27), Bonn 1986, 139-168. Werner Busch (Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, 21 ff.) hat auf die psychologisierende Darstellung des Bildes von Kügelgen hingewiesen, die an die Stelle einer verbindlichen Ikonographie getreten sei und macht im Blick auf diese Stilisierung Hegels Kritik in der Sache plausibel. 57 Vgl. Johann Heinrich Meyer / Johann Wolfgang Goethe: Über die Gegenstände der bildenden 54 55

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einer zunehmend säkularisierten Welt die christliche Vorstellungswelt nicht mehr allgegenwärtig ist. Darum nicht zuletzt ist in der Moderne die Darstellung des Absoluten in der, an die christliche Gottesvorstellung gebundenen, christlichen Malerei zum Problem geworden. Zwar werde hier der »Anthropomorphismus der griechischen Anschauung« des Absoluten abgestreift und »das Menschliche als wirkliche Subjektivität« zum Prinzip der Anschauung des Göttlichen, die nicht jenseits des Menschlichen liegen könne und dürfe, gemacht.58 Doch genau darin, im Menschlichen das Göttliche auszudrücken, liegt schon für Hegel das Problem einer malerischen Visualisierung von Transzendenz im Sinne der christlichen Religion. Wenn Hegel diese Problematik, die in der Moderne nicht mehr übergangen werden kann, offengelegt hat, so bietet ihm seine geschichtsphilosophisch fundierte Auffassung des Wandels der Kunstschönheit als Ausdruck oder sinnliche Erscheinung oder Präsenz des Absoluten ein ausgezeichnetes Kriterium für eine differenzierte Sicht des Problems. Im Blick auf den Wandel des Ausdrucks des Ideals von der äußerlichen körperlichen Schönheit zu einer geistigen, der inneren Welt des Menschen zugehörenden Schönheit, die in den romantischen Künsten, der Malerei, Musik und Dichtung ihren Ausdruck findet,59 stellt sich die Frage der Repräsentation von Transzendenz im Schein des Schönen in der Antike und in der Moderne unter jeweils anderen Voraussetzungen. Auch in dieser Hinsicht bleibt für Hegel die Darstellung/Repräsentation des christlichen Gottes, Gottvaters wie auch der Göttlichkeit des Gottessohnes im Bilde eines würdigen oder »schönen Menschen« ungenügend, während die malerische Darstellung des Leidens des Menschen Jesus von Nazareth dagegen ästhetisch überzeugend gelingen kann. Das Gelingen bedingt das »Zerbrechen der schönen menschlichen Gestalt« und damit ein Zerbrechen der schönen Form.60 Das Unschöne tritt in die Kunst ein, »in dem Schmerz, körperliches Leiden auftritt«, die »Negation«, das Leiden gehören zum Ausdruck der geistigen Schönheit, so daß »wir nicht beim Ideal stehenbleiben [können]«. Die romantische Weltanschauung und Welterfahrung »enthält vielmehr die Auflösung des Ideals«. Es wird in den romantischen Künsten, also auch in der Malerei, bestimmt durch das Besondere, Äußerliche, Zerrissene.61 Wenn Hegel also aufgrund seiner philosophischen Einsicht in die Geschichtlichkeit der Gottesvorstellung der Menschen und in die Geschichtlichkeit ihres AusKunst (1798), in: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland I: Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft (Texte und Dokumente), Hrsg. Wolfgang Beyrodt/Werner Busch, Stuttgart 1982, 69-86, hier: 69. 58 Ästhetik, I 500. 59 Vgl. Ästhetik, II 14-22 – Vgl. Bernadette Collenberg-Plotnikov: Die Funktion der Schönheit in Hegels Bestimmung der Malerei. Zum Stellenwert eines Grundbegriffs der Hegelschen Ästhetik, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, Hrsg. Annemarie GethmannSiefert / Lu de Vos / Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2005, 245-268, bes. 249 ff. 60 So Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche [Anm. 35], 29. 61 Vgl. Kehler 1826, 135 f. / Ms. 250 f.

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drucks im Kunstschönen die Bindung der neuzeitlichen Kunst an die Weltanschauung der christlichen Religion in der Auflösung begriffen sieht, dann folgt für ihn daraus, daß die Kunst »frei« und der Mensch selbst zu ihrem »neuen Heiligen« wird. Indem er den »Humanus« zum neuen Heiligen der Kunst erklärt, hat er die Möglichkeit einer künstlerischen Visualisierung von Transzendenz, die ihren Ursprung im, so Hegel, unendlichen Inhalt des menschlichen Bewußtseins hat, zumindest angedeutet. Der moderne Künstler ist »der sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist«.62 Der moderne Künstler setzt durch den künstlerischen Ausdruck seiner Betrachtung der Dinge, der Geschichte des Menschen und seines Lebensraums als dem unermeßlichen Stoff der Kunst, mit oder in seinem Werk gleichsam von sich aus Zeichen, die auf Transzendenz verweisen, und zwar nunmehr, ohne der dogmatischen theologischen Auslegung der christlichen Gottesvorstellung verpflichtet zu sein oder einer verbindlichen Ikonographie zuarbeiten zu müssen. Der Mensch, der sich in sich selbst versenkt, begegnet in seinem Innern dem Andern seiner selbst, und der Künstler kann dieses Selbstverhältnis des Menschen in vielerlei Hinsicht und vorzüglich im Sinne seines Gottesverhältnisses zum Ausdruck bringen. Mit solchen Gedanken blickt Hegel in eine Zukunft der Kunst, die wir in unseren gegenwärtigen Debatten über Kunst und Religion nunmehr unmittelbar vor Augen haben.63

Vgl. Ästhetik, I 581, vgl. I 578 f. – Vom Humanus als dem neuen Heiligen der Kunst ist in dieser Wendung, soweit ich sehe, lediglich in der Druckfassung der Ästhetik die Rede. Die Interpretation der Stelle, die bereits Oskar Walzel beschäftigt hat, ist in einem weiteren geistesgeschichtlichen Zusammenhang für Hegels Auffassung des Humanus, des Menschen und des Menschlichen, wie auch des Heiligen als als vorzüglicher Inhalte der Kunst aufschlußreich. Walzel sah darin eine Anspielung auf eine Verszeile in Goethes epischem Fragment Die Geheimnisse aus dem West-Östlichen Divan: »Humanus heißt der Heilige, der Weise / der beste Mann, den ich mit Augen sah […].« (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 2; textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, 3. Aufl. Hamurg 1956, 278.) Hegel habe, so Walzel, die Verkörperung des Humanus als Künstler in Schiller gesehen, der im Hymnus an die Freude (1785), der Hegel sehr begeisterte, eine emphatische Huldigung des Künstlers in Verse brachte. Annemarie Gethmann-Siefert (Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, Bonn 1984 (Hegel-Studien-Beiheft 25), 323, Anm. 26) unterstreicht, daß sich schon in Hothos Nachschrift der Beleg finde, »daß Hegel in der Bestimmung des Inhalts der Kunst des Heiligen, ausdrücklich auf Goethe, und zwar auf die Geheimnisse verweist: ›Heilig, sagt Goethe, ist was den Menschen dem Menschen verbindet‹« (Hotho 1823, 211 / Ms. 196). – Siehe auch Martin Donougho: Remarks on »Humanus heißt der Heilige.« In: Hegel-Studien 17 (1982), 214-225, hier: 215. 63 Vgl. z. B. Warum ! Bilder diesseits und jenseits des Menschen, Ausstellungskatalog anläßlich des ersten ökumenischen Kirchentages vom 28. Mai – 3. August 2003, hg. von Matthias Flügge und Friedrich Meschede, Ostfildern-Ruit 2003. 62

Landschaft – Die Rehabilitierung des verschmähten Naturschönen in der Kunst Von Karsten Berr

Hegel hat das Naturschöne bekanntlich aus seinen Ästhetikvorlesungen1 verbannt, die ausdrücklich vom geistig hervorgebrachten Kunstschönen statt vom nachzuahmenden Schönen der Natur ausgehen. Insofern ließe sich sagen, Hegel habe das Naturschöne in seiner Ästhetik gewissermaßen verschmäht und bestenfalls als »Reflex des Geistes« (Kehler 1826, 2 / Ms. 3) zu würdigen gewußt. Heftig, ja wütend fällt die Kritik der Gegner dieser Verschmähung des Naturschönen aus. Hier sei nur an Adorno erinnert, der von dem »finstere[n] Schatten des Idealismus« sprach, der das Naturschöne »verdrängt« habe, so daß es »verlischt, ohne daß es im Kunstschönen wiedererkannt würde«2; es komme »zu seinem Recht einzig durch seinen Untergang, dadurch, daß sein Mangel als raison d’être des Kunstschönen sich installiert.«3 Die »Usurpation des Subjekts« bringe es mit sich, daß der »breite und schmutzige Hauptstrom des Geistes«4 alles Naturschöne ins Jammertal der Bedeutungslosigkeit fortspült. Unlängst hat Hartmut Böhme Adornos Kritik noch verschärft und behauptet, Hegel habe die Natur bzw. das Naturschöne zum Spiegel narzißtischer Selbstbespiegelung des Geistes degradiert: »Das Hegelsche Naturschöne bleibt im Bann des Spiegels jener Quelle, über die Narziß sich beugt, sein Bild im Anderen begehrend, ohne doch sich darin haben zu können. […] So arrangiert Hegel die Dialektik von Natur und Geist zu einem Triumph des im Anderen sich vollendenden Subjekts.«5 Folgende Mit- bzw. Nachschriften zu Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen werden im weiteren herangezogen und zitiert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823 – Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, 2003 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte [im folgenden: V ], Bd. 2), (im folgenden: Hotho 1823); ders.: Philosophie der Kunst oder Ästhetik – Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004 (im folgenden: Kehler 1826); ders.: Philosophie der Kunst. Berlin 1826 (Stadtbibliothek Aachen) (im folgenden: Aachen 1826); ders.: Vorlesung über Ästhetik. 1826 (Mitschrift von der Pfordten), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt/M. 2005 (im folgenden: Pfordten 1826); ders.: Aesthetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29 (Mitschrift Karol Libelt) (Ms. Jagiellonische Bibliothek, Krakau) (im folgenden: Libelt 1828/29). Die bereits publizierten Mitschriften werden mit Seitenzahl, die noch nicht publizierten mit Angabe der Manuskriptseite (Ms.) zitiert. 2 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1992, 99, 98, 119. 3 Ebd., 118. 4 Ebd., 99. 5 Hartmut Böhme: Natürlich/Natur, in: Ästhetische Grundbegriffe – Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Bd. IV, Stuttgart 2002, 432-498, hier: 493. 1

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Eine ebenfalls häufig vorgebrachte Kritik gegen Hegels Konzeption des Naturschönen zielt ab auf dessen stiefmütterliche, ja »schnöde«6 Behandlung des Themas »Landschaft«. Es ist kaum zu verstehen, warum Hegel sich in einer Zeit, in der Natur als Landschaft »längst entdeckt war«7, nur mit wenigen dürren Worten zur Landschaft und mit geradezu »Lieblosigkeit«8 zur Landschaftsmalerei äußert. Dies ist um so erstaunlicher, als die Zeit um 1800 die Zeit ist, in der die künstlerisch vermittelte Entdeckung und Begeisterung für europäische Landschaften einem Höhepunkt zustrebt. »Die Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800«9 ist Ausdruck einer Entwicklung, die Hegel freilich kannte, die er aber mit gemischten Gefühlen beobachtete und in einer zwar knappen, aber durchaus differenzierten Argumentation in seiner Ästhetik zu begreifen suchte. Im Zuge dieser Argumentation entwickelt Hegel ein Konzept der Natur als Landschaft, welches das sogenannte »Naturschöne« qua Natur verwirft, aber qua Landschaft in seine Geistphilosophie zu integrieren vermag. In der Kunst der von Hegel gelobten niederländischen Landschaftsmalerei erfährt das Naturschöne eine Rehabilitierung insofern, als hier Natur nicht als bloße Natur, sondern als gestaltete Natur aufgegriffen und dargestellt wird, also als Landschaft, in der Natur und Menschengeist eine spezifische, geistig-kulturell vermittelte, damit historisch kontingente Einheit bilden. Damit ist eine Hauptforderung Hegels an Kunst überhaupt erfüllt, nämlich Natur nur dann zum Gegenstand von Kunst zu erheben, wenn diese »Manifestation der geistigen Freiheit« (Hotho 1823, 82 / Ms. 72) sein kann. Zudem wird damit dem Umstand Rechnung getragen, daß Natur überhaupt nur als geistig, also als geschichtlich vermittelte zugänglich ist und ein vermeintlich unvermittelter Zugang zur Natur nicht zu dieser führt, sondern eher auf einen empfindsamen, in sich kreisenden Vollzug des Betrachters rückverweist, der nur das in die Natur projiziert, was seiner subjektiven Innerlichkeit entstammt. Insofern fügt sich Hegels Behandlung der Natur in seiner Philosophie der Kunst auch in einen weiteren Hauptzug seiner Philosophie: in die Kritik der Unmittelbarkeit. Wie die folgende Darstellung zu zeigen beabsichtigt, kann Kunst nicht die Aufgabe haben, Natur nachzuahmen oder zu erkennen, weil Kunst für Hegel der Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung des sich entwickelnden Geistes dient. Die Kunst kann aber in 6

Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt – Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Hamburg 1988,

308. Ebd., 309. Konrad Schüttauf: Die Kunst und die bildenden Künste – Eine Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik, Bonn 1984, 173. 9 Vgl. hierzu den Ausstellungskatalog Wasser, Wolken, Licht und Steine – Die Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800, hg. von Klaus Weschenfelder und Urs Roeber (Ausstellung Mittelrhein-Museum Koblenz, 25. August bis 3. November 2002), Heidelberg 2002. Vgl. insbesondere die beiden in diesem Katalog publizierten Aufsätze von Helmut Börsch-Supan: Die künstlerische Entdeckung der Landschaften Europas in der Epoche der Aufklärung und der Romantik, 11-26, sowie Oskar Bätschmann: Reflexionen über die Landschaftsmalerei um 1800 in Deutschland, 27-44. 7 8

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Gestalt der Natur als Landschaft die je aktuelle, stets mehrfach vermittelte Beziehung von Natur und Menschengeist zur Anschauung bringen. Natur kann demnach gleichsam nur durch die Brille des Geistes erfaßt werden – insofern verdankt sich auch der ästhetische Glanz der Schönheit in der Natur dem Selbstbezug des menschlichen Geistes. Dieser Selbstbezug kann insofern vielleicht als »Triumph des im Anderen sich vollendenden Subjekts«10 gedeutet werden, träfe dann aber nur die halbe Wahrheit. Denn Hegel selbst bringt auch die andere Hälfte der Wahrheit zur Sprache, nämlich einen möglichen »Triumph der Natur« über Kultur – dies aber nicht in seiner Ästhetik, sondern in den Vorlesungen zur Naturphilosophie. Dort kann Natur sogar als »Subjekt« begriffen werden, insofern sich »Formen von Zweckmäßigkeit« aufweisen lassen, die nicht von Gottes Gnaden oder einem sonstigen jenseitigen Weltgrund stammen, sondern der »Natur immanente Zwecke« sind; daher ist sie »selbst Subjekt, wenn auch nicht ein mit Bewußtsein ausgestattetes Subjekt«11. Dieses Verständnis von Natur wird im letzten Kapitel dieser Ausführungen eine wichtige Rolle spielen. Die Rehabilitierung des Naturschönen in der Kunst qua Landschaft kann nur dann als eine solche Rehabilitierung gewürdigt werden, wenn es nicht als vorgängige Größe betrachtet wird, der sich die Kunst anzumessen hätte, sondern wenn es als aus der Beziehung zwischen Mensch und Natur hervorgehendes Phänomen, das in diese Beziehung integriert und mit der unabsetzbaren Brille des stets sich vermittelnden Geistes historisch jeweils neu erfaßt werden kann, begriffen wird. Die folgenden Ausführungen werden vor diesem Hintergrund den Zusammenhang zwischen Hegels Verschmähung des Naturschönen und seiner Konzeption von Natur und Geist, damit von Kunst und Landschaft skizzenhaft rekonstruieren, um dann Hegels Rehabilitierung des Naturschönen qua Landschaft nachzuzeichnen und schließlich eine Verbindung herzustellen zu der aktuellen Diskussion um Landschaft in Ökologie und Ästhetik.

Böhme: Natürlich/Natur [Anm. 5], 493. Walter Jaeschke: Der Zauber der Entzauberung, in: Hegel-Jahrbuch 2004, Berlin 2004, 11-19, hier: 17. 10 11

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geist, natur und kunst Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Geist stößt nach wie vor auf Kritik, ja auf Unverständnis: Es ist der »Geist«, der »höher« zu schätzen sei als die Natur – was analog ebenso für die Unterscheidung zwischen Naturschönem und Kunstschönem gilt; denn es »läßt sich sagen, daß um soviel höher der Geist als die Natur ist, so viel höher das Kunstschöne als das Naturschöne sei« (Kehler 1826, 1 / Ms. 2). Dieses »höher« wird nun von Hegels Kritikern zumeist so verstanden, als ob damit eine Abwertung oder Geringschätzung der Natur gemeint und demgemäß ein Freibrief für eine schrankenlose »Usurpation« des menschlichen Geistes über die Natur ausgestellt sei. Es ist durchaus zuzugestehen, daß es Äußerungen in Hegels Werk gibt, die auf nur wenig Sympathie für Natur schließen lassen. So sei nur daran erinnert, mit welcher Geringschätzung Hegel stellenweise über die Naturkulisse des Berner Oberlandes in seinem Bericht über eine Alpenwanderung12 von 1796 spricht. Andererseits stehen diesem frühen Bericht beispielsweise Briefäußerungen über eine Reise in die Vereinigten Niederlande entgegen, in denen er über »schöne fruchtbare Gegenden«13 schwärmt. In den Niederlanden habe er »viele schöne Städte, Gegenden und Gemälde und Kirchen gesehen«14; Utrecht beispielsweise sei »eine schöne Stadt mit Universität und anmutigen Umgebungen«15. Die niederländische städtische Kultur mit ihren »anmutigen Umgebungen«, ihren »grünen Wiesen«16, ihren »schönen Gegenden« ist für Hegel die schöne Verkörperung einer kulturellen Auseinandersetzung mit Natur, in denen die Städte in eine umgebende schöne, ja anmutige Kulturlandschaft eingebettet sind, die gleichsam die Handschrift des menschlichen Geistes noch erkennen läßt. Angesichts solcher Äußerungen ist zu fragen, ob Hegel tatsächlich ein »Usurpator« der Natur, ein für die Schönheiten der Natur blinder Advokat des idealistischen »Geistes« ist ? Zu prüfen ist, ob sich nachvollziehbare Gründe für eine »Verschmähung« des Naturschönen angeben lassen und welche Rolle die Konzepte von Natur, Geist und Kunst für die Bestimmung des Naturschönen und für das Konzept der »Landschaft« spielen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Bericht über eine Alpenwanderung, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden: GW), Bd. 1: Frühe Schriften I, hg. von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, Hamburg 1989, 381-398. 13 Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, Bd. II: 1813-1822, Hamburg 21961, 348. 14 Ebd., 363. 15 Ebd., 365. 12

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I. Geist In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als Grundriß seines Systems verortet Hegel die Kunst in dem »absoluten Geist«, und zwar als dessen erste Sphäre. Das, was Hegel allgemein als »Geist« bezeichnet, ist ausgezeichnet durch Selbstbezug und Wissen seiner selbst im Anderen seiner selbst. Mit »Geist« ist demnach die Form der Wirklichkeit angesprochen, in der Wissendes und Gewußtes bzw. – in der Sprache Hegels – Begriff und Realität nicht mehr, wie noch in der Natur, auseinander-, sondern nunmehr zusammenfallen, identisch sind; im letzten Paragraphen zur Naturphilosophie kann Hegel daher sagen: »Die Natur ist damit in ihre Wahrheit übergegangen, in die Subjectivität des Begriffs, deren Objectivität selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelnheit, die concrete A llgemeinheit ist, so daß der Begriff gesetzt ist, welcher die ihm entsprechende Realität, den Begriff zu seinem Daseyn hat, – der Geist.«17 Diese spezifische Weise des wissenden Selbstbezugs nennt Hegel an vielen Stellen auch »Freiheit«18. Der »absolute Geist« ist nun diejenige Form des Geistes, in der dieser nichts anderes als seinen eigenen Begriff zum Gegenstand seines Wissens hat und die Bereiche des subjektiven und des objektiven Geistes aus der Position der Philosophie als Wegabschnitte seiner Entwicklung betrachten kann.19 Erst im absoluten Geist ist der Gegenstand der wissenden Selbstbeziehung tatsächlich nichts anderes als der Begriff des Geistes – ohne daß der Geist sich noch auf etwas anderes als sich selbst bezöge. Dieser Selbstbezug des Geistes auf sich selbst vollzieht sich bekanntlich mittels der Bewußtseinsformen Anschauung (Kunst), Vorstellung (Religion) und Denken (Philosophie). Kunst als erste Form des absoluten Geistes kann demnach als »Selbstanschauung des Geistes«20 bezeichnet werden, die im Medium der Sinnlichkeit Sinnliches »vergeistigt« oder »verklärt« sowie Geistiges »versinnlicht«, um es überhaupt anschaulich zu gestalten und somit vor die Anschauung zu bringen. Ebd., 366. GW, Bd. 20: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans Christian Lucas unter Mitarbeit von Udo Rameil, Hamburg 1992 (im folgenden: Enz 1830), § 376. Im Abschnitt zum »absoluten Geist« heißt es, rückblickend auf die Sphäre des Geistes überhaupt: »Der Beg r i f f des Geistes hat seine Re ali tät im Geiste.« (Enz 1830, § 553). 18 »Das Wesen des Geistes ist die Freiheit« (V, Bd. 13: Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828 – Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter, hg. von Franz Hespe und Burkhard Tuschling unter Mitarbeit von Markus Eichel, Werner Euler, Dieter Hüning, Torsten Poths und Uli Vogel, Hamburg 1994 [im folgenden: V 13], 12). Die »abs[olute] Anlage ist das, worauf sich alles reduziert, d[er] Urspr[ung]. Diese abs[olute] Anlage oder Substanz des Geistes ist seine Freiheit, und die Bestimmung seines Tuns, die Tat des Geistes ist, sich zu befreien« (V 13, 7). »Das We se n des Geistes ist deswegen formell die Fre ih eit […]« (Enz 1830, § 382). 19 »Der subjective und der objective Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der R ea litä t oder der Existenz ausbildet« (Enz 1830, § 553). 20 Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch – Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2003, 421. 16 17

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II. Natur Die Natur ist für Hegel die Idee in ihrem Äußerlichsein bzw. das »Andere« des Geistes. In dieser Hinsicht zeigt sich, daß die Gestalten und Gestaltungen der Natur einerseits nicht die Freiheit des Geistes im Sinne eines sich selbst wissenden Selbstbezuges erreichen können, sondern auch durch Fremdbezug, durch Fremdbestimmung sowie durch Nichtwissen ihrer selbst und damit durch Unfreiheit charakterisiert sind; andererseits ist Natur sozusagen schon auf dem Wege zum Geist, indem sie auf ihren unterschiedlichen Stufen bereits Strukturen zunehmender Subjektivität ausbildet. In diesem Sinne entwickelt Hegel in den Vorlesungen zur Naturphilosophie und den entsprechenden Paragraphen der Enzyklopädie einen Begriff der Natur und eine Stufenfolge des Naturseienden von den abstrakten Formen der Materie bis hin zum Gattungsprozeß des Lebendigen. Leitend ist dabei der grundsätzliche Gedanke, daß Natur zwar »die Idee in der Form des Andersseyns«21 ist, und zwar insofern, als »die Begriffsbestimmungen den Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander« haben (Enz 1830, § 248). Die Natur hat also einen geistigen Kern qua »Idee in der Form des Andersseyns« bzw., so Hegel, die Natur ist zwar »an sich, in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Seyn ihrem Begriffe nicht« (ebd.). Also ist auch in den Gebilden der Natur die Idee, d. h. die »Einheit des Begriffs und seiner Realität« (Hotho 1823, 47 / Ms. 41) vorhanden – und zwar insbesondere in der lebendigen Natur als spezifisches FormInhalt-Verhältnis, als »beseelter Zusammenhang«, der der »Materie in[ne wohnt]« (Hotho 1823, 61 / Ms. 53). Dessen ungeachtet gelangt diese Einheit aber nicht zu einem Für-sich-Sein, d. h. zum Sichselbstwissen und damit zur Freiheit des Geistes. Wenn Hegel solcherweise die Natur systematisch gegenüber dem »Geist« als defiziente Form der Idee bezeichnet – nämlich als »Abfall der Idee« (V 13, 22) in der Form, »in die sie sich selbst versenkt, die physische Natur«22 –, dann geht es ihm nicht darum, die Natur dem Geist, das Naturschöne der Kunst aufzuopfern, sondern es werden die kategorialen Unterschiede zwischen Natur und Geist, Natur und Kunst herausgearbeitet. Natur ist wesentlich ein »Außereinander« gleichgültig zueinander bestehender Begriffsbestimmungen in Form der Vereinzelung und zudem raum-zeitlich; der »Geist« ist wesentlich ein »Bei-sich-selbst-Sein«23 und geschichtlich. Vor allem aber ist »Geist« durch den genannten Selbstbezug24 ausEnz 1830, § 247. V, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/1823 – Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hg. von Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 1996 [im folgenden: V 12], 25. 23 »[…] die konkrete Freiheit ist, daß ich in der Bestimmtheit meiner – Schranke, Negation – nur bei mir selbst bin, das andere annihiliere« (V 13, 14). 24 »Der Geist ist Ich = Ich, das Ich, das sich ganz selbst erfaßt« (V, Bd. 16: Vorlesungen über die Philosophie der Natur. Berlin 1819/20 – Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier, hg. von Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 2002 [im folgenden: V 16], 141). 21 22

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gezeichnet, der durch nichts anderes gehemmt, getrübt, beschränkt oder eingeengt wird: also durch Freiheit. Im Hinblick auf die »Befreiung des Begriffs« (V 13, 24) aus dieser seiner Äußerlichkeit in der Natur ist die »Lebendigkeit […] die höchste Stufe, welche die Natur erreicht« (V 16, 10). Diese Stufe der Lebendigkeit nennt Hegel auch »Stufe des Idealismus« (V 16, 10), in der Ästhetikvorlesung von 1823 bezeichnet als »objektiver« oder »praktischer Idealismus« sowie als »Idealismus der Lebendigkeit« (Hotho 1823, 53 / Ms. 46). In der Vorlesung zur Naturphilosophie von 1819/20 heißt es25: »Lebendig ist Subjektivität, in der die Unterschiede nur als Glieder sind, getragen durch diese ihre Form, in der sie ideell sind.« Damit ist gemeint, daß im lebendigen Organismus die Unterschiede des Begriffs als Glieder bestehen, die unselbständig sind und nur durch die ideale Form zusammengehalten werden. So ist es einem Stein als Unlebendiges gleichgültig, ob er in einer Gartenmauer oder in einem Dom verwendet wird; der Hand als Glied eines Lebendigen hingegen bekommt es schlecht, wenn sie abgehackt wird. Die Natur (bzw. das Naturseiende) gelangt nach Hegel bestenfalls bis zur »Vereinzelung« des »organischen Körpers«, der über eine innerliche systematische Gliederung bestimmter Körperfunktionen verfügt, die sich nicht mehr auf etwas anderes als diesen Körper, sondern auf sich selbst beziehen. Hegel spricht sogar davon, in der »Organologie« sei »die Natur zu ihrer Freiheit gekommen, so weit sie kommen kann« (V 16, 139), und die »Vernünftigkeit der Natur« bestehe eben darin, »daß der Begriff die Seele der Natur ist, daß diese Verwirklichung aber die unwahre Existenz der Idee ist, der Abfall der Idee, denn der Begriff ist da nicht in der Weise, wie er selbst ist, bei sich seiend, sondern in der Form des Außersichseins« (V 13, 22). Dennoch sei der »Begriff das Zentrum, das sich treibt, an die Oberfläche zu kommen, das Außereinander aufzuheben, oder umgekehrt die Natur ist dies, in sich zu gehen, zu ihrem Zentrum zu gelangen« (V 13, 23 f.). Es gibt demnach in der Natur die Tendenz, qua Selbstverinnerlichung ihre Vereinzelung aufzuheben. Doch es sei eben das »Unglück der Materie«, dies »ewige Streben nach Einheit« zu sein, »die sie nicht erreicht« (V 13, 24). In der Enzyklopädie heißt es dementsprechend (Enz 1830, § 248): »Das Höchste, zu dem es die Natur in ihrem Daseyn treibt, ist das Leben, aber als nur natürliche Idee ist dieses der Unvernunft der Aeußerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendigkeit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr andern Einzelheit befangen.« Sosehr also die Natur auch danach streben mag, zu ihrem geistigen Zentrum, nämlich zur Idee bzw. zum »Begriff« zu gelangen, sosehr besteht doch die »Ohnmacht der Natur« genau darin, dies nicht zu erreichen. Die höchste Weise des Selbstbezugs qua organischer Vereinzelung nennt Hegel in der Naturphilosophie auch »Subjektivität« bzw. »natürliche Subjectivität« (Enz 1830, § 358), weil diese noch kein Wissen ihrer selbst impliziert. Hegel leugnet also keineswegs die qua Leben in der Natur bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Naturphilosophie – Bd. I. Die Vorlesung von 1819/20, in Verbindung mit Karl-Heinz Ilting hg. von Manfred Gies, Napoli 1982 (im folgenden: Gies), 11. 25

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existierende Subjektivität, diese ist aber noch nicht sich selbst denkende Subjektivität: Diese »Subjektivität kommt in der Natur nicht mehr dazu, daß sie sich Gegenstand ist« (V 16, 141). Verglichen mit der Freiheit des Geistes, wo »hingegen in jeder geistigen Aeußerung das Moment freier allgemeiner Beziehung auf sich selbst enthalten ist«, zeigt die Natur daher in ihrem Dasein »keine Freiheit, sondern Nothwendigkeit und Zufälligkeit« (Enz 1830, § 248).

III. Kunst Weil Kunst als erste Form des absoluten Geistes eine Form der »Selbsterkenntnis« des Geistes qua Selbstanschauung des Geistes darstellt, ist sie auch Selbstanschauung der Freiheit. Kunst ist eine »besondere Weise des Geistes, sich zur Erscheinung zu bringen, sich zu realisieren« (Aachen 1826, Ms. 3). Gemeinsam mit Religion und Philosophie ist sie eine spezifische Form, »die höchsten Forderungen des Geistes auszusprechen und zum Bewußtsein zu bringen« (Hotho 1823, 4 / Ms. 4), indem sie nämlich dieses »Höhere selbst auf sinnliche Weise darstellt und der empfindenden Natur so näherbringt« (Hotho 1823, 5 / Ms. 4). Obwohl Kunst aber auf Anschauung als mediale Form und auf Sinnliches als Material der Darstellung angewiesen ist, wird das Sinnliche nicht als solches vom Geist ergriffen und dargestellt. Obgleich der Geist »eine Befriedigung durch dies sinnliche Material finden« (Hotho 1823, 18 / Ms. 15) soll, will der Geist nicht das Sinnliche der »konkreten Materiatur« (Hotho 1823, 20 / Ms. 17), sondern nur das erscheinende Sinnliche, d. h. »nur die Oberfläche des Sinnlichen«. Das Sinnliche wird auf diese Weise »in der Kunst zum Schein erhoben [...] Es ist der rein sinnliche Schein und in näherer Form die Gestalt« (Hotho 1823, 20 f. / Ms. 17 f.). Diese Gestalt aber ist ein »vom Geiste Produziertes« (Hotho 1823, 123 / Ms. 112), keinesfalls eine aus der Natur oder der Alltagswirklichkeit entnommene bzw. mimetisch abgebildete Gestalt. Das Sinnliche des Kunstwerks hat den Interessen des Geistes zu dienen, es »ist nur für den Geist und soll nur für ihn sein« (Hotho 1823, 18 / Ms. 16). Wenn ein solches Sinnliches aber den Interessen des Geistes dienen soll, dann darf es keine nur der Begierde sich anbietende, bloß »äußerlich empirische Ausbreitung der konkreten Materiatur«, d. h. das »in sich Selbständige des Materiellen, wie Stein, Pflanze und organisches Leben« sein, sondern es muß ein bereits vergeistigtes Sinnliches sein, und zwar als »die sinnliche Oberfläche, das Erscheinen des Sinnlichen als solchen«. Dieses aber ist schon ein »Ideelles«, wenn auch noch »nicht das abstrakt Ideelle des Gedankens« (Hotho 1823, 20 / Ms. 17). Der erwähnte »rein sinnliche Schein« der Kunstgestalten präsentiert sich für die kunstrelevanten Medien des Hörens und Sehens als »das bloße Aussehen und Klingen der Dinge«, also als vergeistigtes, bereits idealisiertes Sinnliches, als »Schattenreich des Schönen« – und diese »sinnlichen Schatten« erst sind für Hegel die Kunstwerke (Hotho 1823, 21 / Ms. 18). Das Kunstwerk besteht dementsprechend nur als Geistiges, es »hat die

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Taufe des Geistes erhalten«, es »stellt ein Geistiges dar« und es ist »nach dem Anklang des Geistes gebildet«; kurz: »Das Kunstwerk also ist aus dem Geist und für den Geist« (Hotho 1823, 11 / Ms. 10).26 Das Schöne als jener sinnliche Schatten ist »der Geist, enthoben der Endlichkeit äußerer Zufälligkeiten«, und der »Apparat, den die Natur gebraucht, ist zurückgeführt bis zu der Grenze, wo er Manifestation der geistigen Freiheit sein kann« (Hotho 1823, 81 f. / Ms. 72). Die Natur bzw. ein Natürliches kann demzufolge nur dann Gegenstand der Kunst sein, wenn »ihm ein Geistiges eingehaucht ist, der Geist irgendeine seiner Bestimmungen darin findet, dadurch angeregt ist, sich erkennt«. Als Unmittelbares kann ein Natürliches also kein Gegenstand der Kunst sein. Es ist gewissermaßen so, daß »der Geist den Fuß in das Sinnliche setzt, ihn zu sich zurückzieht, auf sich beruhend, frei […] im Äußerlichen sich habend […] sich nie verlierend, immer bei sich bleibend« (Hotho 1823, 82 / Ms. 72 f.). Obwohl also die Kunst für ihre vom Geist produzierten Anschauungen »eines äußerlichen gegebenen Materials, worunter auch die subjectiven Bilder und Vorstellungen« sowie die »gegebenen Naturformen nach deren Bedeutung« (Enz 1830, § 558) gehören, bedarf, werden diese nicht als solche aufgegriffen, sondern sie werden gleichsam entmaterialisiert bzw. vergeistigt27, damit der Geist im Medium der Anschauung zu einer Objektivation seiner selbst und damit zu einer ersten Form der Selbsterkenntnis gelangt. Die Kunst »gebraucht den Inhalt der ganzen Natur« (Hotho 1823, 4 / Ms. 3 f.), aber nur »als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform« (Enz 1830, § 558). Insofern »erledigt« sich für Hegel dann auch das »Princip der Nachahmung der Natur in der Kunst« (ebd.), weil eine lediglich in ihrer bloßen Äußerlichkeit abgeschilderte Natur bzw. Wirklichkeit den Geist nicht zur Erscheinung zu bringen vermag, sondern lediglich auf bloße »Geschicklichkeit« hinausläuft, »das hervorzubringen, was die Natur hervorbringt«, wohingegen der Inhalt doch »ein Geistiges sein« soll (Hotho 1823, 25 / Ms. 22). Letztlich bliebe der Mensch dann beim Natürlichen stehen, wobei »auch die beste Kunst hinter dem Natürlichen zurückbleiben [müsse] und bei aller Geschicklichkeit dazu eine größere Ungeschicklichkeit des Menschen sich zeige bei solchen Darstellungen« (Kehler 1826, 10 / Ms. 16). Weil die Gestaltungen der Natur selbst in der höchsten Weise des Selbstbezugs qua organischer Vereinzelung im Hinblick auf die Selbstanschauung des Geistes notwendig unvollkommen sind, entsteht für Hegel »erst die Notwendigkeit der Kunstschönheit« (Hotho 1823, 73 / Ms. 64). Hegel nennt in den Berliner ÄsthetikIn Enz 1830 (§ 556) spricht Hegel von »[…] der aus dem subjectiven Geiste gebornen concreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Z eich en der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; – die Gestalt der Sch ö n h ei t.« 27 Hegel faßt diesen Gedankengang in einer bekannten Formulierung zusammen: »Die Kunst also hat vergeistigtes Sinnliches sowie versinnlichtes Geistiges zum Material. Das Sinnliche tritt in ihr als ideelles, als abstraktiv Sinnliches ein« (Hotho 1823, 21 / Ms. 18). 26

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vorlesungen zahlreiche Mängel des Natürlichen, die im wesentlichen in dem Widerspruch zwischen der »Bedürftigkeit«, der »Notwendigkeit der Selbsterhaltung« der Natur (Hotho 1823, 76 / Ms. 67 f.) einerseits und der Freiheit des Geistes andererseits begründet sind. Aufgrund dieses Widerspruches vermögen die Naturgebilde es auch nicht, die »lebendige Seele«, d. h. die logische bzw. geistige Innenseite der Natur aus sich selbst heraus zur Erscheinung zu bringen: »Im Natürlichen kann sich die Seele als solche nicht erkennbar machen, da sie noch nicht für sich ist« (Hotho 1823, 59 / Ms. 51 f.) – denn, so Hegel an anderer Stelle: »Die Natur selbst weiß sich nicht« (V 12, 39). Die Naturgestalten als besonderte »sinnliche Erscheinungen« gewähren demnach »nicht die Anschauung des Geistes für sich«. Dies vermag allererst die Kunst – diese ist überhaupt »nur als das anschauende Bewußtsein des absoluten Geistes« (Kehler 1826, 33 / Ms. 55). Dementsprechend hat die Kunst Hegel zufolge die Aufgabe, »das Erscheinende an allen Punkten der Oberfläche zum Auge zu erheben [...], welches der Sitz der Seele ist, den Geist erscheinen läßt« (Hotho 1823, 79 / Ms. 70). Der Geist, der sich in der Kunst zur Erscheinung bringen soll, kann dies aber nur in der Weise der ihm eigentümlichen »Tätigkeit«, und zwar als gestaltende Tätigkeit, die sich ins Werk setzt, konkret ins Kunstwerk. Hegel bestimmt das Kunstschöne in diesem Sinne als »gestaltete Idee« (Kehler 1826, 26 / Ms. 45) und diese als »Ideal«. Wenn Hegel vom Schönen, vom »Ideal« oder gar von der »Idee der Schönheit«28 spricht, dann nur aus der Perspektive des absoluten Geistes, in der die Idee weder als »die sich selbst denkende«, als die »speculative Idee« der Logik, noch als die Idee in der Form, »in die sie sich selbst versenkt«, nämlich als die »physische Natur«, sondern in der »Form des Geistes überhaupt« (V 12, 25 f.), nämlich als »gestaltete Idee«, d. h. als vom und für den Geist produzierte sinnlich-anschauliche Gestalt zu begreifen ist. Die Idee des Schönen ist gestaltete Idee.29 Diese gestaltende Tätigkeit des Geistes liegt in dessen grundsätzlicher Entzweiungs- bzw. Objektivations- bzw. Verdoppelungsstruktur begründet. Denn der »Zweck des Geistes […] ist dies, sich zu produzieren, zum Gegenstand zu machen, damit er sich als Dasein habe, damit er Hegels Rede von einer »Idee des Schönen« ist mit zahlreichen Problemen verbunden, auf die zuletzt Jaeschke: Hegel-Handbuch [Anm. 20], 422 ff., hingewiesen hat; vorher aber haben bereits Annemarie Gethmann-Siefert, Bernadette Collenberg-Plotnikov und Lu de Vos an mehreren Orten einige dieser Schwierigkeiten benannt. 29 Als eine solche anschaubare Gestalt des absoluten Geistes ist diese aber keine notwendige Gestalt, sondern aufgrund ihrer Äußerlichkeit nur »Zeichen« der Idee und damit »weder der Form und dem Inhalt nach mit der Idee gleichzusetzen. Vielmehr ist das Kunstwerk als Ideal die wegen der Vermittlungsbedürftigkeit des Absoluten zwar unverzichtbare, aber wegen ihrer Äußerlichkeit – in dem dreifachen Sinne der Kontingenz sowohl des Zeichens, des Gestalters als auch der Rezeption des Symbols – zufällige Gestalt der Idee« (Annemarie Gethmann-Siefert: Die Kunst [§§ 556-563], in: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830) – Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hg. von Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hakkenesch, Walter Jaeschke, Wolfgang Neuser und Herbert Schnädelbach, Frankfurt/M. 2000, 317374, hier: 339). 28

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sich wisse; sein Sein ist, sich zu wissen. So ist er nur wirklicher Geist, indem [er] sein Ansichsein als Objekt, als Werk, Tat vor sich gebracht hat« (V 12, 45). Überhaupt ist Geist »nur das, zu was er sich durch seine Tätigkeit macht« (V 12, 30). Nur in dieser Form als Werk bzw. Tat »will sich der Geist als Tat vor sich haben, er will Bewußtsein über sich haben, er muß sich also als Tat gegenüberstehen« (V 12, 44). Im Unterschied zum Tier vermag der denkende Mensch »innerlich bei sich« zu sein und »ein Äußeres dem Innern entgegen« zu setzen, d. h. sich zu entzweien. Diese grundsätzliche Entzweiungsstruktur des Geistes erklärt denn auch, warum der Mensch überhaupt Kunstwerke produziert und diese nicht nur »ein zufälliges Spiel« (Hotho 1823, 12 / Ms. 11) sind; das »Bedürfnis der Kunst« (Hotho 1823, 12 / Ms. 12) ist im Gegenteil eine »große Notwendigkeit der Vernünftigkeit des Menschen« (Hotho 1823, 13 / Ms. 12). So muß der Mensch qua geistiges Wesen das, »was er ist und was überhaupt ist, vor sich hinstellen, zum Gegenstand für sich haben« (Hotho 1823, 12 / Ms. 11). Der »Mensch als Bewußtsein verdoppelt sich, ist einmal, dann ist er für sich, treibt, was er ist, vor sich, schaut sich an, stellt sich vor, ist Bewußtsein von sich; und er bringt nur vor sich, was er ist« (Hotho 1823, 13 / Ms. 11). Die natürlichen Dinge hingegen »sind nur, sind nur einfach, nur einmal« (Hotho 1823, 12 f. / Ms. 11). Das »Vernünftige« der Kunst besteht Hegel zufolge also in der Verdoppelung des Bewußtseins, damit es sich »zur Anschauung für sich und Andere bringt«, damit es »sich selbst zum Gegenstande werde« (Hotho 1823, 13 / Ms. 12). Die Natur selbst vermag es nicht, sich selbst in diesem Sinne zu verdoppeln, sondern sie kann nur verdoppelt werden durch die Kunst, die das empirische sinnlich Gegebene in einem anderen Medium als dem der bloßen Sinnlichkeit und Natürlichkeit wiederholt, verdoppelt, indem sie das Natürliche »vom Gerüst der Materiatur« befreit, es »für uns« gestaltet und somit ins Geistige transformiert. Nach allem Gesagten mag es nicht mehr verwundern, daß Hegel das »Schöne«, um das es ja traditionell in der Kunst geht, nur und ausschließlich als »Kunstschönes aus dem Geiste«, als das »aus dem Geiste erzeugte Schöne« bezeichnet – das Naturschöne hingegen ist lediglich ein »Reflex des Geistes […] eine Weise, die selbst im Geiste enthalten ist, aber eine in ihm nur unselbständige Weise«. Das »Naturschöne kann seinen Namen nur erhalten in Beziehung auf das Geistige« (Kehler 1826, 2 / Ms. 3). Die Rede von einem Schönen der Natur ist daher letztlich eine »uneigentliche« Rede, weil das, was Hegel unter »Ideal« versteht, Produkt einer Gestaltung, also eines intendierten Eingriffs in die Natur zum Zwecke der Vergeistigung von Sinnlichem und damit der Veranschaulichung bzw. Versinnlichung von Geistigem ist. Das bedeutet aber auch, daß das Naturschöne für Hegel nichts faktisch Vorfindbares, Gegebenes ist wie etwa ein Stuhl, ein Stein oder ein Haus. Eine Blume ist ein Naturseiendes, das faktisch gegeben ist; die schöne Blume als Naturschönes hingegen ist für Hegel ein »Reflex des Geistes«. Ansonsten verfängt Ästhetik sich allzuleicht in den Fallstricken der platonisch-abendländischen Tradition, derzufolge das Schöne ein vorfindbares Seiendes in der Natur ist, das sich einem Abbildungsverhältnis verdankt (platonisch: der Idee des Schönen; christlich: dem Urglanz Got-

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tes). Dieser Tradition zufolge ist Kunst die sinnliche Repräsentation dieses vorgegebenen Ideellen oder Göttlichen. In der Natur als natura naturata manifestiert sich göttlicher Wille in der durch Gottes Handeln entstandenen Schöpfung, oder Natur wird qua natura naturans als göttliches Wirkprinzip verstanden. Das Naturschöne als »Handschrift Gottes«30, das ist es, worum es diesem Traditionsstrang – noch mit Kant an der Spitze – beim Naturschönen letztlich geht. Für Hegel geht es in der Kunst insbesondere um die Vermittlung eines geschichtlichen Bewußtseins31 durch den absoluten Geist qua (Selbst-)Anschauung, nicht aber um Nachahmung vorgegebener, göttlich beseelter Natur. Für Hegel entspringen die Gestaltungen der Kunst der Tätigkeit des produktiven Geistes; Kunst ist für ihn gewissermaßen die ›Handschrift‹ des (absoluten) Geistes. Wenn man Hegels Diktum, das Ideal sei »gestaltete Idee« und diese Idee sei in der »Form des Geistes überhaupt«, ernst nimmt, dann kann das, was wir schön nennen, nicht etwas sein, was gewissermaßen an den Bäumen der Natur wächst, um vom ästhetisch erfahrenden, betrachtenden oder genießenden Geist nur gleichsam »abgepflückt« werden zu müssen. Ein solches Verständnis würde die geistige (kulturelle, kulturgeschichtliche, soziale, ästhetische usw.) Vermitteltheit jeder ästhetischen Erfahrung, ja selbst noch des Leibes mit dessen Affektionen, Gefühlen, Empfindungen usw. übersehen. Auch in diesem Sinne läßt sich kein rettender Goldgrund der Unmittelbarkeit ausmachen.

IV. Landschaft, Landschaftsmalerei und Landschaftsgestaltung Hegels Stellungnahme zum Naturschönen überhaupt und zur Bedeutung der Natur, des Naturseienden, der Naturgestalten in der Kunst ist also eindeutig: Als Unmittelbares kann ein Natürliches kein Gegenstand der Kunst sein. Es kann nur dann zum Gegenstand der Kunst gemacht werden, wenn »ihm ein Geistiges eingehaucht ist, der Geist irgendeine seiner Bestimmungen darin findet, dadurch angeregt ist, sich erkennt«. Dann aber muß der »Apparat, den die Natur gebraucht« zurückgeführt werden »bis zu der Grenze, wo er Manifestation der geistigen Freiheit sein kann«. Das heißt also, daß die gegebenen Naturformen nicht als solche aufgegriffen werden können, sondern gleichsam entmaterialisiert bzw. vergeistigt werden müssen. Nur dann kann ein Kunstwerk die generelle Aufgabe der Kunst erfüllen, daß der Geist im Medium der Anschauung zu einer Objektivation seiner selbst und damit zu einer ersten Form der Selbsterkenntnis gelangt. Insofern können Naturgestalten Jens Kulenkampff: Metaphysik und Ästhetik: Kant zum Beispiel, in: Falsche Gegensätze – Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 49-80, hier: 78. 31 So haben in der Kunst »die Völker ihre höchsten Vorstellungen niedergelegt, und sie [ist] oft der einzige Schlüssel, die Religion des Volkes zu erkennen« (Hotho 1823, 4 f. / Ms. 4). Das »Interesse« der Kunst ist es insbesondere, die »substantielle Weise des Bewußtseins eines Volks darzustellen [...]. Dies sind Weltanschauungen, Religionen eines Volks« (Hotho 1823, 203 / Ms. 188). 30

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nur »als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform« vom Künstler aufgegriffen werden. Die Frage ist dann aber, auf welche Weise und in welcher Gestalt Naturgestalten, die umgangssprachlich als Naturschönes bezeichnet werden, dennoch zum Gegenstand der Kunst werden können. Die Frage ist auch, wie weit Hegels Rehabilitierung des Naturschönen in der Kunst geht bzw. gehen kann.

A. Natur als gestaltete Anschauung: Landschaft Die Möglichkeit, das Prädikat »schön« auch Phänomenen und Gestalten der Natur zuzuschreiben und damit als eine Form der Wahrheitsvermittlung zu bestimmen, hängt nach dem bislang Gesagten im wesentlichen davon ab, diese im Kunstwerk zu repräsentieren. Da diese Repräsentation für Hegel ausdrücklich nicht als Nachahmung gefaßt werden soll, müssen jene Naturphänomene »analog zum Kunstschönen aus dem menschlichen Vollzug rekonstruiert werden«32. An einer Stelle in den Berliner Ästhetikvorlesungen spricht Hegel nun über eine besondere Gestalt der Natur, und zwar über Landschaft. Er spricht ausdrücklich von der »Schönheit einer Landschaft« (Hotho 1823, 62 / Ms. 54), d. h. er prädiziert »Schönheit«, die nach allem Gesagten der Sphäre der Kunst, also des Geistes vorbehalten ist, einem Wahrnehmungsausschnitt der den Menschen umgebenden Natur. Wie aber ist es möglich, daß hier, wie von der Kunst gefordert, »der Geist irgendeine seiner Bestimmungen darin findet, dadurch angeregt ist, sich erkennt« ? Hegel verweist nun darauf, daß diese Naturerscheinungen nur deshalb ein Interesse für den menschlichen Geist haben können, weil sie sich »auf das Gemüt« beziehen. Die Bedeutung landschaftlicher Natur liegt demnach nicht in dieser selbst, sondern nur »in der erweckten Gemütsstimmung«; beispielhaft spricht er von der »Stille der Mondnacht, Erhabenheit des Meers«. Eine solche Gemütsstimmung »gehört diesen Gebilden der Natur selbst nicht mehr an, sondern ist in einem anderen zu suchen« (ebd.). Dieses »andere« ist nun dasjenige, was Hegel »Empfindung« nennt und für ihn von ambivalentem Charakter ist. Aber nur durch einen solchen Bezug auf das »Gemüt« kann Natur, genauer: Natur qua Landschaft, als eine Form vergeistigter Natur, nicht aber als bloße Natur aufgefaßt werden. Die unmittelbar wahrgenommene Landschaft, d. h. die noch nicht stimmungsmäßig aufgefaßte, also empfundene Landschaft, ist dem menschlichen Geiste gleichgültig. Erst über den ›geistanalogen‹ Vollzug der Empfindung gewährt Natur dem Geist eine gewisse »Befriedigung«, indem sie Stimmungen, Empfindungen, Affekte und Gefühle, und das heißt: ursprüngliche, erste Formen bzw. Erscheinungen des Geistes, letztlich also geistige Reflexe hervorzurufen vermag, die der Betrachter nicht nur in der Landschaft, sondern auch im gemalten Landschaftsbild wiedererkennen kann. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels Ästhetik – Stationen der Transformation der Berliner Vorlesungen zur Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 2, 132-150, hier: 147 f. 32

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In die gleiche Richtung zielen dementsprechend die Überlegungen, die Hegel im Malereikapitel vorträgt. Hier definiert er als das Ideal der Malerei das Romantische, in dem die für sich seiende Subjektivität die »Grundbestimmung« ausmache, d. h. die »geistige Innigkeit« (Hotho 1823, 253 / Ms. 236). Diese geistige Innigkeit differenziert Hegel nach ihrem »verschiedenen Inhalt«: 1. »Die substantielle Innigkeit ist die der Religiosität« (ebd.); 2. »Die Innigkeit der Seele mit der Natur« (Hotho 1823, 255 / Ms. 238); 3. »Die Innigkeit [...] bei für sich ganz unbedeutenden Gegenständen« (Hotho 1823, 256 / Ms. 239). Die »Innigkeit« kann sich demnach auch »bei bloß natürlichen Gegenständen einfinden« (Hotho 1823, 255 / Ms. 238). Damit dies aber möglich ist, muß die Natur »nach irgendeinem Bedürfnis erfaßt« (ebd.) werden, damit sie in der beschriebenen Weise empfunden werden kann. Auf diese Weise haben dann auch die natürlichen Gegenstände »ein Verhältnis zur Seele. Sie nimmt in ihnen einen Charakter wahr, der ihr entspricht« (Hotho 1823, 255 / Ms. 239). So kann das Natürliche Gegenstand der Kunst werden, auch wenn »es nur ein allgemeiner Klang ist, der hervorgebracht wird« (Hotho 1823, 249 / Ms. 233). Letztlich kann Hegel aber sagen: »Die Landschaftsmalerei faßt die Natur mit Seele und Geist auf und ordnet ihre Gebilde nach dem Zweck, eine Stimmung auszudrücken. Somit darf sie keine bloße Nachahmung der Natur werden und bleiben« (Hotho 1823, 255 f. / Ms. 239). Natur als Landschaft wäre in diesem Sinne als gestaltete Anschauung zu beschreiben. Die Anschauung der Landschaft wird also im künstlerischen Schaffensprozeß so gestaltet, daß sie eine geistig erzeugte Ordnung in das Bild der Landschaft bringt, die eine ursprüngliche Form des Geistes qua Stimmung auszudrücken vermag. Nun zeigt die Landschaft aber klare sichtbare Strukturen, die für bestimmte Naturdinge charakteristisch sind. So weisen z. B. Blätter und Zweige eine typische Zeichnung auf, die nicht einfach von der Landschaftsmalerei übergangen werden darf, sondern »beibehalten« werden muß. Falsch wäre es aber auch, wenn die Landschaftsmalerei sich sklavisch an diese natürlichen Vorgaben hielte. Die »Hauptsache« ist für Hegel vielmehr nur »die Stimmung des Ganzen [...] Ihr muß das übrige untergeordnet sein« (Hotho 1823, 256 / Ms. 239). Das »Ganze« ist eine bestimmte auszudrückende Stimmung, der sich die Details in ihrer Charakteristik und in ihrer Auswahl unterzuordnen haben. Eine so dargestellte Landschaft ist vom Geist durchdrungen und geordnet. Keineswegs ist sie etwas bloß Nachgeahmtes. Diese Vorgehensweise vermag also immerhin, eine einer Stimmung verpflichtete geistige Ordnung in die wahrgenommene Natur als Landschaft zu bringen. Allerdings führt der Bezug auf »Empfindung« zu einem Folgeproblem. Empfindung und Gefühl bergen Hegel zufolge stets die Gefahr in sich, in das »Extrem der substanzlosen Reflexion seiner in sich selbst«33 zu verfallen. Hegel befürchtet, daß sich die Betrachtung der Schönheit einer Landschaft lediglich in einer ästhetizistiGW, Bd. 9: Phänomenologie des Geistes, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, 12. 33

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schen, an Stimmungen, Empfindungen, Affekte und Gefühle geknüpften Sicht erschöpft, ohne etwas Substantielles zu erfassen. Wenn man aber Landschaft als gestaltete Anschauung wahrnehmungsästhetisch als »Vorform«34 eines Kunstwerks und die Landschaftsmalerei als Kunstwerk fassen will, dann muß diese Hegel zufolge durch Substantialität ausgezeichnet sein. Die »Befriedigung« des Geistes qua Bezug auf Empfindung, d. h. die Rückspiegelung des Ich in sich im Durchgang durch eine Natur qua Gemütserregung, ist aber durch einen Mangel an Substantialität gekennzeichnet und unterliegt insofern Hegels Kritik der »substanzlosen Subjektivität« der Romantik35 bzw. der »romantischen Innerlichkeit«. Es droht die Gefahr einer ›leeren Träumerei‹, in der das Subjekt in bloß privaten Stimmungen schwelgt. Eine Parallele zeigt sich in Hegels Kritik an der Instrumentalmusik, die ebenfalls in dieser Gefahr steht sowie in Hegels Skepsis gegenüber der Lyrik, insbesondere der »Idylle«, die sich seines Erachtens meistens auf einen »Privatzustand« (Hotho 1823, 297 / Ms. 275) beschränkt. Das, was Hegel in seiner Kritik an der Romantik anspricht, kehrt im Landschaftserlebnis der sogenannten »Postmoderne« in ähnlicher Weise wieder. Werner Bätzing hat darauf hingewiesen, daß eine Ästhetisierung der Landschaft, die den Menschen in eine abstrakte, unvermittelte Opposition von durch Arbeit genutzter Landschaft einerseits und von Arbeit und Nutzung freigehaltener und durch »interesseloses Wohlgefallen« betrachteter Landschaft andererseits stellt, ebenfalls in einen substanzlosen Ästhetizismus münden kann. Er fordert daher, Natur- und Landschaftsästhetik müsse »die Produktionsinteressen des Menschen mitumfassen«36, um nicht einer postmodernen Ästhetisierung von Natur bzw. Landschaft Vorschub zu leisten, die durch jene oben angesprochene romantische Innerlichkeit und Rückspiegelung des Ich in sich im bloßen empfindsamen Durchgang durch Natur qua Gemütserregung gekennzeichnet ist. Dem postmodernen »Erlebnis« von Landschaft mangelt es ebenfalls an Substanz. Natur dient nur der ästhetischen Form der Selbstinszenierung des »gestimmten« Subjekts, ohne inhaltliche Vermittlung mit Natur. Des weiteren scheint mit Natur qua Landschaft eine Wiederholung der symbolischen Kunstform in der romantischen vorzuliegen. Hier ist beispielsweise an den romantischen Kult der »Empfindsamkeit« zu denken, deren Vertreter in einer Gegenbewegung zum Prozeß der Aufklärung und der damit verknüpften EntzaubeGeorg Simmel: Philosophie der Landschaft, in: ders.: Brücke und Tür – Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susman hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, 141-152, hier: 148. Simmel führt weiter aus: »Wo wir wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi« (ebd., 147); ja, Landschaft ist »selbst schon ein geistiges Gebilde« (ebd., 150). 35 Vgl. grundlegend zu dieser Kritik: Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik, München 1999. 36 Werner Bätzing: Postmoderne Ästhetisierung von Natur versus ›schöne Landschaft‹ als Ganzheitserfahrung – Von der Kompensation der ›Einheit der Natur’ zur Inszenierung von Natur als ›Erlebnis’, in: Hegel-Jahrbuch 2000, Berlin 2000, 196-201, hier: 200. 34

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rung der Natur dieser entzauberten, enttheologisierten Natur wieder »Heiligkeit« und damit Göttlichkeit zusprachen. Es wurde ein Empfindsamkeits- und Gefühlskult inszeniert, der eine sehnsüchtig erstrebte Übereinstimmung von Natur und menschlicher Empfindung gewährleisten sollte. Diese Sehnsucht nach Übereinstimmung von Natur und menschlicher Empfindung ist für Hegel aber ein »mehr symbolisches Verhältnis«, denn hier »ist die Bedeutung ein gläubiges, sich sehnendes Gemüt« (Hotho 1823, 189 / Ms. 175), und zwar nach einem »Einssein« mit Natur im Medium subjektiver Stimmungen.Wenn zudem das Natürliche als das »an ihm selbst […] Göttliche« betrachtet wird, dann ist das für Hegel keine moderne, sondern eine »orientalische Weltanschauung« (Hotho 1823, 203 / Ms. 188). Im Gegensatz aber zur von Hegel unter die romantische Kunstform versammelten Kulturepoche war diese »orientalische Weltanschauung« charakterisiert durch Substantialität, durch einen affirmativen Weltbezug – wenn auch in Form einer Substantialität, die noch nicht Subjekt geworden ist, eine sozusagen »subjektlose Substantialität«. Die strukturelle Wiederholung des Naturvollzuges, wie er für die symbolische Kunstform als Ganze kennzeichnend war, enthält aber für die moderne Welt – in unsere Zeit und Kunst versetzt – die Gefahr, unter den geänderten geistigen bzw. kulturellen Bedingungen der modernen Welt in das der »subjektlosen Substantialität« der symbolischen Kunstform entgegengesetzte Extrem zu fallen, nämlich in die bereits erwähnte weltlose, um sich selbst kreisende »substanzlose Subjektivität«. Hegel kann also in seiner Ästhetik auf der einen Seite ein Verständnisraster für den Vollzug der Natur durch die Rekonstruktion der Natur als Landschaft, d. h. als durch subjektive Innerlichkeit vollzogener Natur, entwickeln. Andererseits aber hat er für diese subjektive Innerlichkeit in Reinkultur in seiner Kritik der Romantik die entsprechende Problematisierung vorgelegt. Anders als andere Versionen der Wiederholung von Gestaltungsmöglichkeiten der symbolischen in der romantischen Kunstform, führt diese Weise der Darstellung der Natur als Landschaft vorderhand nicht über die Konzentration auf die subjektive Innerlichkeit – hier noch in einem vorbewußten Vollzug der Empfindung präsentiert – hinaus.37

37 Hegel findet andere Formen der Revitalisierung von Elementen der symbolischen in der romantischen Kunstform, die zu einer subjektiv vermittelten Substantialität zurückführen, so daß sich seine Kritik an der Konzentration auf Empfindung in der Landschaftsmalerei in ein wohldurchdachtes systematisches Konzept einfügen läßt. Solche Elemente subjektiver Substantialität oder substantieller Subjektivität finden sich beispielsweise im objektiven Humor und in der Reaktivierung des objektiven Humors durch den Rekurs auf die orientalische Welt in Goethes West-östlichen Divan. Darauf hat erst Otto Pöggeler in seinem Aufsatz Hegel und Heidelberg hingewiesen (in: Hegel-Studien 6 (1971), 65-133). Näher analysiert ist diese Form der Revitalisierung symbolischer Gestaltungsmöglichkeiten in der romantischen Kunstform bei Annemarie Gethmann-Siefert u. Barbara Stemmrich-Köhler: Faust: Die »absolute philosophische Tragödie« und die »gesellschaftliche Artigkeit« des West-Östlichen Divan, in: Hegel-Studien 18 (1983), 23-64; sowie bei Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst, München 2001.

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B. Darstellung einer Weltgestaltung und Weltanschauung: Landschaftsmalerei Positiv bewertet Hegel das Landschaftsbild als »Rückkehr des Geistes zu sich«, wenn Landschaft selbst ausdrücklich nicht als bloße Natur, sondern als kulturell gestaltete Landschaft aufgegriffen und dargestellt wird. In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts findet Hegel in diesem Sinne eine weitere Funktion der Landschaftsmalerei, die über den bloß stimmungsmäßigen Bezug auf Natur hinauszugehen vermag. In den niederländischen Genre- und Landschaftsbildern tritt die »ganze empirische Umgebung« ein. Das »Unorganische, Himmel, Sonne, Gestirne, das Landschaftliche, der ganze Organismus mit allen Partikularitäten« (Libelt 1828/ 29, Ms. 79) kann nun dargestellt werden. Aber, so Hegel, es muß auch »Gehalt, Stoff, innere Idee bey’m Kunstwerk gefordert werden, daß der innere Gehalt wahrhaft substantiell an und für sich sey« (ebd.). Dann aber stellt sich zwangsläufig die Frage, was bei »dieser Art von Kunstwerken, die an und für sich uninteressante Gegenstände behandeln« (Libelt 1828/29, Ms. 152), dieses Substantielle sein soll ? Hegel sagt ausdrücklich, »die Gegenstände für sich selbst haben den Gehalt nicht« (Pfordten 1826, 172). Worin also liegt dann der »Gehalt« ? Hegels Antwort lautet: Sie zeigen »keinen großen Sinn, aber es zeigt sich in ihnen der Sinn der Behaglichkeit, Bequemlichkeit. […] Im Genusse dieser Behaglichkeit« sei es, »daß sie diese Liebe haben zu den äußerlichsten, unmittelbarsten Gegenständen« (Kehler 1826, 152 f. / Ms. 285). Der »Stoff« dieser Bilder »ist aus ihrem Leben« (Libelt 1828/29, Ms. 59). Die Niederländer haben »das Ihrige zum Zweck ihrer Darstellung gemacht, ihre Freude davon gehabt« (ebd.). Es handelt sich um einen »Frohsinn, der aus dem Selbstgefühl, es sich verschafft zu haben, hervorgeht« (ebd.). In diesem »Frohsinn«, in solch »objektiver Heiterkeit« bei den Dingen, die typisch ist für die orientalische Weltanschauung mit ihrem affirmativen Verhältnis zur Welt mit ihren Dingen, zeigt sich eine »substantielle« Realisierung der neuzeitlichen Subjektivität insofern, als hier die romantische »subjektive« Subjektivität des modernen Selbstbewußtseins durch die »Heiterkeit« des Gemüts und deren affirmativen Weltbezug in eine »substantielle« Subjektivität transformiert wird. In diesen Bildern zeigt sich ein geschichtliches, politisches und sittliches Selbstbewußtsein in der Darstellung des Alltäglichen, des Wirklichen, des Äußerlichen und Natürlichen manifestiert, das sich zugleich in diesem Äußerlichen wiederfindet. Die Niederländer stehen in so enger Beziehung zu ihrer selbstgestalteten Welt, daß sie sich darin heimisch fühlen können. Bereits 1823 sagte Hegel: Der »Mensch muß zu Hause in der Welt sein, frei in ihr haushalten, heimisch umgeben sich finden« (Hotho 1823, 105 / Ms. 94). Dann sei es möglich, »daß zwischen der Subjektivität und ihrer Welt, von der sie umgeben wird, eine wesentliche Zusammenstimmung vorwalte« (Hotho 1823, 106 / Ms. 95). Die »schwachen Holländer« haben nicht nur gegen die mächtigen Spanier »sich ihre Freiheit erkämpft. Ebenso haben sie vom Meer sich die Existenz ihres Landes errungen« (Kehler 1826, 153 / Ms. 285). Dieses

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Bewußtsein der errungenen Freiheit gegenüber einer ungebändigten menschenfeindlichen Natur kommt in ihren Landschaftsbildern zur Anschauung, in ihnen manifestiert sich ein affirmatives Weltverhältnis der neuzeitlichen Subjektivität, die Stand in der Welt der angeeigneten Natur gefunden hat, diese aber nicht als ein Fremdes, sondern als das »Ihrige« betrachtet. Der bei der Rückspiegelung des Ich in sich im bloßen empfindsamen Durchgang durch Natur qua Gemütserregung fehlende substantielle Gehalt liegt bei der niederländischen Landschaftsmalerei also darin, daß in diesen Bildern die »substantielle Weise des Bewußtseins eines Volkes« (Hotho 1823, 203 / Ms. 188), das heißt das geschichtliche Selbstbewußtsein und die Weltanschauung dieses Volkes, insbesondere im Hinblick auf ein historisch spezifisches Mensch-Natur-Verhältnis anschaulich vermittelt und präsent gehalten werden. Die in diesen Kunstwerken dargestellten Landschaften sind Kulturlandschaften, in denen Natur und Geist bzw. Natur und Menschenwelt eine sich den Sinnen präsentierende Einheit bilden. Im Gegensatz zur lediglich stimmungsmäßig erfaßten Natur als Landschaft qua Empfindung, die sich auf bloße, anscheinend ungestaltete Natur beziehen und deren Schönheit und nur deren Schönheit genießen will, letztlich aber auf vorbewußter, also undurchschauter subjektiver Projektion beruht, ist die dargestellte Natur als Kulturlandschaft ausdrücklich als gestaltete Landschaft dargestellt, also als Werk des Menschen, der sich seine Welt selbst zu bauen hat.

C. Zum »Dialog« mit Natur qua Landschaft: Landschaftsgestaltung Gar nicht äußert sich Hegel in den Ästhetikvorlesungen zu einem anderen möglichen Aspekt, der im Hinblick auf das Verhältnis von Natur und Geist thematisiert werden könnte: zur Natur als das den Menschen bzw. seine Kultur Aufhebende. Was hiermit gemeint sein könnte, läßt sich vielleicht auch unter das Schlagwort ›Triumph der Natur über Kultur‹ fassen. Mit diesem ›Triumph der Natur über Kultur‹ hängt ein Problem zusammen, das Hegel in der Einleitung zu seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie behandelt. Er unterscheidet dort ein theoretisches und praktisches Verhältnis zur Natur, um deren jeweilige Defizite aufzuzeigen. Das theoretische Verhältnis setzt Natur als substantiell Seiendes, als eigenen Gesetzen unterstelltes Selbständiges voraus, das Subjekt bleibt demgegenüber unfrei; das praktische Verhältnis faßt die Naturdinge als unselbständig auf und ordnet sie menschlichen Nützlichkeitszwecken unter, das Subjekt ist frei, die Dinge unfrei. Diesen Antagonismus gilt es insofern aufzulösen, als die am Ende der Vorlesungen angestrebte Versöhnung von Mensch und Natur weder einseitig in einer Unterwerfung der Natur unter die Herrschaftsansprüche des Geistes noch in einer Abdankung des Geistes zugunsten der Natur bestehen kann. Es geht um eine Gratwanderung zwischen Respektierung der Natur und Respektierung des Menschen (Geistes), um eine philosophische Einstellung zur Natur, die die jeweils defizitären Einstellungen

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des praktischen und theoretischen Naturverhältnisses zu korrigieren hat. Der in Hegels Ästhetikvorlesungen nicht zur Sprache gebrachte ›Triumph der Natur über Kultur‹ bestünde vor diesem Hintergrund darin, daß sich die Naturkräfte, die der Mensch qua Kultur zu bändigen weiß, im Zuge überzogener Instrumentalisierung verselbständigen, sich gegen ihn richten und seine Kultur zerstören. Aktuell wird diese Problematik des Natur-Mensch- bzw. Natur-Kultur- bzw. Natur-Geist-Verhältnisses insbesondere unter dem Schlagwort »Ökologie versus Ökonomie« diskutiert. Signifikant bei vielen Stellungnahmen ist eine in Anspruch genommene Antithetik, derzufolge nach der einseitigen Herrschaft des Menschen über die Natur und deren offenkundig schädlichen Auswirkungen auf die natürlichen Existenzgrundlagen der Gattung Mensch nunmehr ebenso einseitig die Rettung in einer Ausrichtung des Menschen an der Natur und deren ökologischen Kreisläufen bestehen soll. Es versteht sich von selbst, daß Hegel noch nichts von den Auswirkungen einer entfesselten globalisierten Industrialisierung und Technologisierung mit ihren Umweltschäden in ihrer heutigen Dimension auch nur erahnen konnte; es wäre daher weit überzogen, ihn nun im Gegenzug zu denen, die Hegel als Vollstrecker der Herrschaft des Geistes über Natur denunzieren, als Vorreiter der heutigen Ökologiebewegungen anzusehen.38 Aber eines kann immerhin festgestellt werden: Zwar philosophiert Hegel in der Perspektive des Geistes, ja er will den Gegensatz von Natur und Geist gerade in die »Einheit zurückbringen, die ich selbst bin« (V 16, 3), also den Gegensatz in die Einheit des denkenden Ich, d. h. in den Geist integrieren. Aber diese Einheit löst den genannten Gegensatz nicht auf, sondern bewahrt ihn im Sinne einer sich ergänzenden Beziehung, innerhalb der Natur keineswegs erneut einseitig unter die Herrschaft des Geistes geriete. Zudem muß daran erinnert werden, daß Hegel gerade keinen Monismus des Geistes vertritt, sondern einen Monismus der absoluten Idee, die kein Seiendes, sondern ein »allumfassender Prozeß«39 ist. Als »Phasen des einen Prozesses, der die absolute Idee ist«40, sind Natur und Geist ebenfalls nicht voneinander verschiedene Seiende, sondern Prozesse. Insofern kann man von der »Dualität von Natur und Geist«41 sprechen, die gerade keinen cartesianischen Substanzen-Dualismus, aber auch keinen Spiritualismus begründet, sondern »als eine differenzierte Einheit« angesehen werden muß, die allerdings »unter dem Primat der Idee«42 verbleibt. Für das Verhältnis von Natur und Geist bzw. Natur und Mensch hat diese Prämisse des Hegelschen Denkens dann aber zur Folge, daß – wie es Werner Bätzing einmal forderte – »an die Stelle eines absoluten Grundes (Mensch oder Natur) die Dynamik und wechselseitige Abhängigkeit einer Beziehung zu Grunde 38 Vgl. hierzu Manfred Gies: Naturphilosophie und Naturwissenschaft bei Hegel, in: Hegel und die Naturwissenschaften, hg. von Michael John Petry, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 65-88. 39 Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, 168. 40 Ebd. 41 Ebd., 152. 42 Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch [Anm. 20], 334.

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zu legen«43 ist. Dementsprechend erwiese sich das Verhältnis Natur-Mensch »als erheblich komplizierter und ist auf mehrfache Weise miteinander vermittelt«.44 Auch bei Hegel ist festzustellen – und das nicht nur nach unserem knappen Hinweis auf die Dualität von Natur und Geist –, daß das Natur-Mensch-Verhältnis von ihm wesentlich differenzierter dargestellt wird als es manchem Kritiker möglich scheint. Nachdem im Hinblick auf die Relevanz der Natur für die Kunst und im Hinblick auf deren Funktion für die Veranschaulichung von Geistigem vorrangig die Defizite der Natur gegenüber dem Geist herausgearbeitet wurden, kommen nun Überlegungen zum Tragen, die zwar nicht den Primat geistiger Vollzüge leugnen, aber davor warnen, diesen Primat so mißzuverstehen, als ob damit ein Freibrief für Naturverachtung oder gar hemmungs- und gedankenlose Naturvernutzung ausgestellt sei. So kann Hegel beispielsweise in der ersten Berliner Vorlesung zur Naturphilosophie von 1819/20 behaupten, die Natur könne als »verkörperte Vernunft« betrachtet werden, wodurch sie aufhöre, »ein Fremdes, Starres gegen mich zu sein, denn ihr Wesen ist ein Vernehmliches; darin sehen wir uns selbst«; und in der »vernünftigen Erkenntnis lasse ich es [das Natürliche] frei und ›bin‹ ohne Furcht, es zu verlieren. Es ist ein in sich Geschlossenes und Vernünftiges, dessen Freiheit für mich nichts Furchtbares hat, da sein Wesen das meinige ist.«45. Andererseits ist der Mensch sogar »nur insofern frei, als noch andere neben ihm frei sind. Die Naturphilosophie ist also die Wissenschaft der Freiheit.«46 In dem Vorlesungsfragment Das Wesen des Geistes aus dem Jahre 1803 47 sagt Hegel, der Geist sei nur als »das Aufheben seines Andersseyns«, d. h. der Natur. Diese Aufhebung ist aber nur möglich, wenn der Geist »erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist [...] Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist erst der Geist«48. Auch könne der einzelne zwar die Natur verachten, denn es sei »der einzelne nur insoweit groß und frey, als groß seine Naturverachtung ist«. Aber als der Natur bloß entgegengesetzter einzelner Geist bliebe er dann eine »bestimmte Individualität«, darum »ein besonderes«, und insofern sei er »darin nicht wahrhaffter Geist«. Daher kann Hegel sagen: »Das Bild seiner selbst, das der Geist in der Natur anschaut, ist darum allein seine Befreyung von der Natur, eben indem er sich sich selbst gegenüber stellt; darin hört er auf, Natur zu seyn«49.

Werner Bätzing: Ökologische Stabilität und menschliche Arbeit – Naturphilosophische Überlegungen zur Mensch-Natur-Beziehung aus geoökologischer Sicht, in: Hegel-Jahrbuch 1990, Bochum 1990, 455-460, hier: 455. 44 Ebd. 45 Gies, 6. 46 Ebd. 47 GW, Bd. 5: Schriften und Entwürfe (1799-1808), unter Mitarbeit von Theodor Ebert, hg. von Manfred Baum und Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, 370-373. 48 Ebd., 370. 49 Ebd., 371. 43

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Hegel versteht also das Verhältnis von Natur und Geist dergestalt, daß der Geist sich als Geist nur entwickeln und erkennen kann, wenn er im ihm Entgegengesetzten das Bild seiner selbst, sein eigenes Wesen erblicken kann; dadurch erst gewinnt er Freiheit von Natur und dadurch überhaupt erst ist er. Wenn der Geist aber derart von Natur befreit ist, dann kann er zugleich Natur in ihre Freiheit entlassen, weil sie ihm nicht mehr als etwas Feindliches, sondern als das »Meinige« erscheint. Die so verstandene Freiheit der Natur ist – in Analogie zu Hegels an Intersubjektivitätsverhältnissen entwickelter Anerkennungstheorie – sogar erst die Voraussetzung seiner eigenen Freiheit, insofern er nämlich dann, wenn er die von ihm qua praktisches Verhalten einseitig genutzte Natur als »eine Art Mit-Subjekt«, als Dialog»Partner«50 in ihre Freiheit entläßt, es vermeidet, seinerseits zum Knecht der Natur zu werden, dann nämlich, wenn diese ihre Energien gegen seine Kulturalisierungsmaßnahmen, die die Naturseite der zu gestaltenden Welt ignorieren, richtet. Wenn demnach in dieser Weise Hegels Bestimmung der Landschaft als gestaltete Natur aufgegriffen und mit dem Verhältnis von Natur und Geist in Beziehung gesetzt wird, dann drängt sich die Einsicht auf, daß Kulturlandschaft zugleich Natur und Geist ist. Landschaft als gestaltete und erscheinende Natur ist stets zugleich ein Produkt des menschlichen Geistes qua Gestaltung und der Natur qua Naturgestaltung.51 Hegel spricht dies hinsichtlich der Landschaft zwar nicht explizit aus, so daß eine solche Inanspruchnahme Hegelscher Gedanken nur aus dem Gesamtzusammenhang seines Werkes erschlossen und gerechtfertigt werden kann; aber er äußert sich unmißverständlich bei einem kulturellen Gebilde, wo man es gerade von Hegel vielleicht am allerwenigsten erwartet hätte, nämlich beim Staat. So fordert er in den Vorlesungen zur »Philosophie der Weltgeschichte«, der Staat müsse als Einheit des Geistes und der Natur begriffen werden, weil der Staat nicht nur eine geistig-kulturelle, sondern eben auch eine natürliche Seite habe – diese erörtert er dann im Abschnitt zur Geographie.52 Von der inzwischen solcherweise entwickelten Position aus soll nun eine Brücke geschlagen werden zu aktuellen Diskussionen um »Landschaft«. Diese spitzen sich insbesondere zu auf einen Streit zwischen solchen Positionen, die an dem traditionellen Gegensatz bzw. an der Differenz von Stadt und Land festhalten und solchen, die diesen Gegensatz einebnen oder einseitig auflösen wollen. Ein Bezugspunkt dieses Streites ist die berühmte These von Joachim Ritter, Landschaft vergegenwärWolfgang Kluxen: Landschaftsgestaltung als Dialog mit der Natur, in: Technologisches Zeitalter oder Postmoderne ?, hg. von Walther Zimmerli, München 1988, 73-87, hier: 74. 51 So auch Wolfgang Kluxen, ebd.: »Auch die gestaltete Landschaft, das Kunstprodukt, ist deshalb immer zugleich Produkt der Natur«. Selbst im Barockgarten, so Kluxen, »der nur durch ständige Pflege, durch Neupflanzung und Beschneidung seine Gestalt behält, ist die lebendige Erfüllung dieser Gestalt immer noch Leistung des Lebendigen« (ebd.). 52 Vgl. die Vorbemerkung der Herausgeber von V 12, VIII: »So soll der Staat als eine Einheit des Geistes und der Natur begriffen werden« sowie das entsprechende Kapitel Die Natur des Staats, insbesondere 91 ff. 50

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tige unter den Bedingungen einer wissenschaftlichen Welt das dem metaphysischen Begriff entzogene »Naturganze«.53 Hier geht der Streit nicht nur darum, ob diese These historisch richtig sei, sondern insbesondere darum, ob ein »transcensus« in das »Außerhalb« der Städte, in Landschaft also, überhaupt noch möglich sei, wenn der deutliche Gegensatz zwischen Stadt und Land empirisch immer mehr eingeebnet werde, es statt dessen zum Befund einer »Zwischenstadt« als »verlandschaftete Stadt« und »verstädterte Landschaft«54, zu »Agglomerationen«55 oder zur »fractalisation«56 komme. Manche Autoren behaupten sogar, durch die realen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehe Landschaft als Referenzraum für Natur verloren.57 Hier wäre mit Aristoteles, Hegel und Joachim Ritter aber an die Bedeutung dessen zu erinnern, was mit Begriffen wie »Stadt« und »Landschaft« ehedem verbunden war. Die Stadt ist der Ort der Kultur, gleichsam des Geistes, die Landschaft der Ort der erscheinenden Natur. Je mehr dieser Unterschied vergessen und verwischt wird, um so mehr geraten sowohl die humane Bedeutung der Stadt und damit der Städtebau als auch die humane Bedeutung ästhetisch vermittelter Natur qua Landschaft und damit die Landschaftsarchitektur in eine schwere Krise ihres Selbstverständnisses und ihrer Aufgabenstellung. Der Mensch verlernt sowohl, humane Städte zu bauen, als auch den »Dialog mit der Natur«58 qua Landschaft offen zu halten. Einen solchen »Dialog« mit Natur fordert sinngemäß auch Hegel in der Einleitung zu seiner Naturphilosophie. Hegel gibt keine Handlungsanweisungen, wie ein solcher Dialog mit Natur konkret vonstatten gehen könnte. Was sich aber seinem Werk insgesamt sowie seiner Ästhetik im Besonderen entnehmen läßt, ist die bereits erwähnte fundamentale These, daß Natur niemals unvermittelt dem Menschen gegenübersteht, sondern jeder Zugang zu ihr – sei er naturwissenschaftlicher, technischer, agrikultureller oder ästhetischer Art – bereits kulturell (durch Ideen, Vorstellungen, Joachim Ritter: Landschaft – Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963), in: ders.: Subjektivität – Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974, 141-190. 54 Thomas Sieverts: Zwischenstadt – Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig / Wiesbaden 21998, sowie ders.: Die verstädterte Landschaft – Die verlandschaftete Stadt. Zu einem neuen Verhältnis von Stadt und Natur, in: Neue Kulturlandschaften, hg. von Hans Friesen und Eduard Führ, Cottbus 2001, 37-43. 55 Hermann Lübbe: Agglomerationen und Regionen – Über die Zukunft der Stadt-Land-Differenz, in: Die Architektur, die Tradition und der Ort: Regionalismen in der europäischen Stadt, hg. von Vittorio Magnago Lampugnani, Wüstenrot Stiftung Ludwigsburg und Stuttgart 2000, 31-42. 56 Fundamental Principles of Urban Growth, ed. by Klaus Humpert, Klaus Brenner, Sibylle Bekker, Wuppertal 2002; vgl. auch Klaus Humpert: Das Phänomen der Stadt: ›Natur und Stadt‹, in: Zum Naturbegriff der Gegenwart: Kongreßdokumentation zum Projekt ›Natur im Kopf‹, Stuttgart, 21.-26. Juni 1993, hg. vom Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 401417. 57 So Rolf Peter Sieferle in einer Diskussion mit Jakob Hans Josef Schneider und Jean-Pierre Wils über »Hat es einen Sinn, über den Sinn von Natur zu reden ?«, in: Natur als Erinnerung ? – Annäherung an eine müde Diva, hg. von Jakob Hans Josef Schneider, Rolf Peter Sieferle und JeanPierre Wils, Tübingen 1992, 159-200, hier: 177. 58 Wolfgang Kluxen: Landschaftsgestaltung als Dialog mit der Natur [Anm. 50]. 53

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gesellschaftliche Bilder, individuelle und kollektive Affektlagen usw.) vermittelt ist. Und ›anschaulich‹ präsent wird und bleibt Natur nur qua reflektiert vollzogene und reflektiert gestaltete Landschaft, die für Hegel Kulturlandschaft ist. Als gestaltete Natur des die Natur zur Welt transformierenden Menschen ist Landschaft aber charakterisiert durch geistige bzw. kulturelle Substanz. Diese Substanz der Landschaft ist das Verhältnis des Menschen zur Natur als dem unverfügbaren Substrat aller Kultur; sie ist Produkt der kollektiven gesellschaftlichen Arbeit von Generationen, Ausdruck ihrer Bemühungen, sich Welt zu bauen und zu gestalten und solcherweise überhaupt Stand in dieser zu finden, und zwar gegen die ungebändigten, menschenfeindlichen Gewalten der Natur. Paradigmatisch hat Hegel dies – wie aufgezeigt – am Beispiel der Niederländer des 17. Jahrhunderts erörtert. Als Version des Kunstschönen, d.h. zum einen als gestaltete Anschauung, zweitens als gemaltes Bild der Landschaft, aber auch drittens als Landschaftsgestaltung qua Landschaftsarchitektur, verdankt Landschaft sich dem Zusammenspiel von Arbeit und Sprache59 bzw. Arbeit und Deutung. Der planerische Umgang des Menschen mit und dessen Gestaltung von Landschaft ist stets mehr als die bloße Bearbeitung von Natur zu Ackerflächen, Weiden und Fischweihern, zu Straßen, Schienen und Kanälen zum Zwecke der Daseinssicherung. Landschaftsgestaltung, die mehr ist als bloße Daseinssicherung, verlangt einen durch Arbeit und Produktion vermittelten Deutungszugriff auf die Substanz der Landschaft, auf das Verhältnis des gestaltenden Menschen zur gestalteten Natur. Da aber dieses komplizierte Beziehungsgefüge geschichtlich vermittelt ist, sich der jeweils historisch variablen Geistigkeit einer Epoche verdankt, die ihrerseits mehrfach vermittelt ist und teilweise undurchschaut bleibt, zeigt sich dieses Verhältnis dem deutenden Geist als ein Unbestimmtes. Die Unbestimmtheit dieses Verhältnisses zeigt sich beispielsweise in dem erwähnten Streit um den Gegensatz von Stadt und Land, der entweder als empirisch eingeebnet betrachtet wird, oder gar einseitig in Richtung Natur oder Stadt aufgelöst werden soll. Wenn Landschaftsgestaltung also auch als Landschaftsarchitektur und damit im weitesten Sinne als Kunstvollzug verstanden werden soll, dann bleibt der so verstandenen Landschaftsarchitektur qua Kunst im Hinblick auf die Unbestimmtheit des Natur-Mensch-Verhältnisses nur ein ahnender, ein suchender, d. h. ein symbolischer Zugang im Sinne einer symbolischen Gestaltungsweise offen. Damit wäre eine dritte Form der Reaktivierung der symbolischen Kunstform in der romantischen angesprochen, die allerdings schon mit Hegel über Hegel hinaus geht. Nur geht es bei dieser symbolischen Gestaltungsweise nicht um jene Sehnsucht nach Natur, die nur beim in sich kreisenden Subjekt landet, und auch nicht um jenen Frohsinn, jenes Heimischwerden der Niederländer in ihren der ungebändigten Natur 59 Vgl. hierzu die umfassende Einführung in Hegels Ästhetik von Annemarie Gethmann-Siefert: Die Rolle der Kunst in Geschichte und Kultur, publiziert zuerst als Studienbrief der FernUniversität in Hagen, erschienen als Buch unter dem Titel Einführung in Hegels Ästhetik, Müchen 2005 ; insbesondere Kap. 1.3: Das Kunst-Werk als Resultat von Arbeit und Sprache.

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abgerungenen Landschaften, die sie in ihren Landschaftsbildern abbildeten und damit ihr geschichtliches Selbstbewußtsein zur Anschauung und Selbsterkenntnis brachten. Bei der Landschaftsgestaltung bzw. Landschaftsarchitektur geht es in unserer aktuellen historischen Situation, in der Natur gegen den maßlosen Verwertungszugriff des Menschen rebelliert und der Mensch ratlos nach einem neuen Verhältnis zur Natur sucht, darum, daß Natur und Landschaft, daß der Mensch als Teil und zugleich Gegenüber der Natur und daß das ›Verhältnis‹ von Natur und Mensch erneut zum Rätsel, also fraglich werden, ohne feste Antworten und ohne festgestellten Sinn. Dieser Sinn wird gesucht. Dieser Sinn kann sich – wie in der symbolischen Kunstform – erneut in Natur versenken. Er kann sich auch in einem hemmungslosen Streben nach weiterer Kulturalisierung aussprechen, eine »totale Landschaft«60 diagnostizieren oder gar ahnungsvoll über eine Virtualisierung der Landschaft61 spekulieren. Er kann schließlich aber auch in gesellschaftlich akzeptierten und prinzipiell offenen Experimenten mit Symbolcharakter62 gesucht werden, die nur die Bedingung erfüllen sollten, bei der Gratwanderung zwischen »Triumph des Subjekts« (Hartmut Böhmes Kritik) und »Triumph der Natur« (Hegels Mahnung) nicht eilfertig und einseitig diesen Gegensatz aufzulösen, sondern ihn in der Perspektive des menschlichen Geistes offenzuhalten. Eine Rehabilitierung des Naturschönen bestünde auch darin, eine Welt zu gestalten und zu erhalten, in der vermittelte Natur als schöne erfahren werden kann, ohne daß der Mensch zum Wohle der Natur daraus verbannt werden müßte, oder – umgekehrt – ohne die Landschaft und die Erde so zu vernutzen, daß es keine Natur qua Landschaft mehr geben kann, in der der Mensch noch leben und vermitteltes Naturschönes erfahren könnte – weder real noch in der Kunst. Hierzu müßten Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung ihre Aufgabe in der humanen Gestaltung63 der Landschaft wahrnehmen und ihre vermittelnde Rolle innerhalb des Stadt-Land- bzw. Geist-Natur- bzw. Kultur-Natur-Gegensatzes ernst nehmen. Rolf Peter Sieferle: Die totale Landschaft, in: ders.: Rückblick auf die Natur, München 1997, 205-223. Vgl. dagegen aber schon vor über 50 Jahren Martin Schwind, der betonte, eine »absolute Kulturlandschaft« könne es nicht geben, statt dessen sei diese »nur der gradmäßig extreme Fall einer gegenseitigen Durchdringung von Natur und Kultur« (Martin Schwind: Kulturlandschaft als objektivierter Geist, in: Deutsche Geographische Blätter 46 [1951], 5-28; hier: 24). 61 Sieferle: Natur als Erinnerung ? – Annäherung an eine müde Diva [Anm. 57], 178: »Man begibt sich damit auf eine Bahn, die von der Repräsentation der erscheinenden Landschaft zur Konstruktion imaginärer Räume verläuft. Dieser Prozeß erscheint zwingend, ohne wirkliche Alternative. An seinem Ende steht die Landschaft als bloße Erinnerung […] die vollständige Intellektualisierung der Ästhetik«. 62 So hat beispielsweise Gabriele Pütz im Hinblick auf die »Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land« vorgeschlagen, »die Niederlausitz zum Experimentierfeld für Kunst zu machen« (Gabriele Pütz: Die Lausitz als Idee einer Landschaft, in: Neue Kulturlandschaften, hg. von Hans Friesen und Eduard Führ [Anm. 54], 45-53, hier: 53). 63 Hier sei nochmals auf den Aufsatz von Kluxen: Landschaftsgestaltung als Dialog mit der Natur [Anm. 50] verwiesen. 60

Hegel über das Portrait und die spezifisch moderne Konzeption des Ideals Von Giovanna Pinna

I. Dem Portrait wird in Hegels Vorlesungen über Ästhetik keine ausführliche Darlegung gewidmet. Zu dem Thema äußert sich Hegel an manchen Stellen mit knappen Definitionen und aufgrund von Bildmaterialien, die sich auf einige rekurrierende Beispiele beschränken. Im folgenden werde ich jedoch zu zeigen versuchen, daß Hegels Auseinandersetzung mit dem Portrait von beträchtlichem theoretischem Gewicht für die Bestimmung des Romantischen in seiner Philosophie der Kunst ist. Die Relevanz dieser stets unter dem Verdacht der Nachahmung stehenden Gattung stellt sich heraus, wenn man ihre Stellung in der Abhandlung der historischsystematischen Entwicklung der Kunstformen beobachtet. Vom Portrait ist dort die Rede, wo die Auflösung des Interesses am Substantiellen bzw. die Trennung von Stoff und Subjektivität den künstlerischen Ausdruck des geistigen Gehalts bestimmt und das wirkliche Individuum zum hauptsächlichen Gegenstand der Kunst wird. So kommt das Portrait bzw. »das Portraitartige« in den Vorlesungen quasi als Kennzeichen für die abstrakt-subjektive Tendenz der letzten Phase der romantischen Kunst vor und wird teilweise mit dem Charakteristischen identifiziert. Es ist offensichtlich, daß das Portrait in einem komplexen Verhältnis zu Begriffen wie Subjektivität, Identität, Individualität steht, und genauso klar erscheint, daß die Darstellung eines menschlichen Gesichts ganz andere Eigenschaften aufweist, wenn es sich um das Bild einer Madonna oder um das Bildnis einer jungen Frau handelt. Denn das Portrait enthält »eine Beziehung auf den Dargestellten, in die man es nicht erst rückt, sondern die in der Darstellung selber ausdrücklich gemeint ist und sie als Porträt charakterisiert«.1 Genau diese Beziehung, auf die es ankommt, daß ein Portrait »als Porträt verstanden werden« will, »selbst dann noch, wenn die Beziehung auf das Urbild von dem eigenen Bildgehalt des Bildes fast erdrückt wird«,2 ist in den dem Idealisierungsprinzip verpflichteten Ästhetiken durchaus problematisch zu erfassen. Die Spuren der empirischen Subjektivität sind denn in dieser oft als nicht im höchsten Sinn künstlerisch bzw. als wenig ideell bezeichneten Gattung unverwischbar und werden sogar zum konstitutiven Bestandteil des Kunstwerks. Auf diese problematische Präsenz des Individuell-Empirischen weist z. B. Friedrich Schlegel hin, wenn er bemerkt, daß »das Portrait eben so abgöttisch

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Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, 137. Ebd., 138.

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mit der Individualität des Menschen, wie die Landschaft mit der Natur« ist.3 Trotz der ausgesprochenen Zentralität des Begriffs des Charakteristischen in seinem Werk mußte für die transzendental-platonische Position Schlegels nicht nur die empirisch-subjektive Seite des Bildnisses, sondern auch der beträchtliche soziale Aspekt der Portraitkunst in der Neuzeit ästhetisch irrelevant bleiben.4 So wird die konkrete Bestimmtheit des wirklichen Subjekts, das in den modernen Portraits explizit als historisches, gesellschaftlich-bedingtes Individuum zum Vorschein kommt, zugunsten der symbolischen Bedeutung der Figur ausgeblendet. Anders als die Frühromantiker hat Hegel in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen beide Aspekte der Portraitkunst, die Aporie des Individuellen sowie die sozialhistorische Bestimmung des Bildes, berücksichtigt und in der systematischen Konstruktion der subjektiven Kunst der Moderne produktiv integriert. Er hat dem Portrait eine wichtige Bedeutung zugeschrieben und es über die Grenzen der Genremalerei hinaus als eine Hauptrichtung der neuzeitlichen Kunst betrachtet, so daß die »portraitartige« Darstellungsweise, wie sich aus verschiedenen Textstellen entnehmen läßt, zur allgemeinen Tendenz des Romantischen avanciert.5 Das hängt nur teilweise von seinem ausgeprägten Interesse für die künstlerische Darstellung des Charakteristischen in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts ab. Eine theoretische Begründung läßt sich vielmehr in der systematischen Entwicklung der unendlichen Subjektivität als Gehalt der romantischen Kunst finden.

II. Das Einzelne ist das Allgemeine. Zum systematischen Ort des Portraits A. Das Portrait kommt in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik hauptsächlich an drei Stellen vor: in der Diskussion über das Naturschöne mit Bezug auf den Nachahmungsbegriff, in dem Malereikapitel und vor allem in dem der Auflösung der romantischen Kunstform gewidmeten Abschnitt, der jeweils als »das Formelle« (1820-21, 1829) bzw. als »Formalismus der Subjektivität« (1823) oder als »Die Parti3 Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Paderborn / München /Wien 1975 ff., XVI, 257. 4 Zum Vergleich der Portraitauffassungen von Hegel, Schlegel und Schelling möchte ich auf meinen Aufsatz: Das Symbolische und das Einzelne – Zur Theorie des Portraits bei den Frühromantikern und bei Hegel, in: Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert (in Vorb.) hinweisen. 5 Einschränkend ist daher m. E. die Interpretation des Portraits bei Hegel als »aus der Darstellung der Nebenfiguren religiöser Motive« erwachsenes Genrebild, in dem »das Problem des bedeutungslosen Subjekts« noch nicht auftaucht, wie in: Konrad Schüttauf: Die Kunst und die bildenden Künste – Eine Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik, Bonn 1984, 172 f.

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kularität des Charakters« (1826) bezeichnet wird. Sowohl in den Nachschriften aus den verschiedenen Vorlesungsjahrgängen als auch in der gängigen Edition Hothos (1835, 21842) wird das Portrait nicht bloß als Gattung der Genremalerei oder der modernen Skulptur betrachtet, sondern vielmehr als spezifischer Ausdrucksmodus einer verinnerlichten, naturentfremdeten, als Charakter geformten Subjektivität interpretiert.6 Hegel nimmt zunächst die traditionelle Bestimmung des Portraits als eine Form von Nachahmung auf, bezieht aber dieses spezifische Nachahmungsverfahren auf das Freiwerden der gemeinen Äußerlichkeit in der romantischen Kunst, das der geistigen Verfassung der späten Moderne entspricht: »Die Kunst geht nach der Seite der Gegenständlichkeit zur Darstellung der Gegenstände, wie sie sind, fort; andererseits geht sie zum Humor, zum Verrücken alles Substantiellen durch eine subjektive Ansicht, über. Was das erste anbetrifft, so sind bei der Nachahmung der Natur die Gegenstände nicht die der Idee, sondern der Unmittelbarkeit, mit dem der Geist sich versöhnt hat, wodurch er das Substantielle jenseits [gelassen] hat. Es wird mit der gemeinen Gegenwart vorlieb genommen. Notwendig ist hier, daß das Portrait überhaupt hervortritt«.7 Was in der modernen bildenden Kunst nachgeahmt wird, ist nicht mehr Teil eines sinnbeladenen Naturganzen, eines organischen Zusammenhangs, sondern die selbständige Äußerlichkeit, die mit der substantiellen Innerlichkeit, auf die sie hinweist, theoretisch unvermittelt bleibt. Das mündet daher nicht in einen als treue Mimesis des Vorhandenen verstandenen Realismus. Vielmehr handelt es sich um eine Hervorhebung der sinnlichen Eigenschaften der Gegenstandswelt, die durch den Glanz der Farbe und die Faszination des Lichtes die prinzipielle Inadäquatheit der Form zum geistigen Inhalt kompensiert. Hier denkt Hegel unter anderen an die freie BeDa die neuere Forschung die Gültigkeit der von Hotho edierten Vorlesungen über die Ästhetik (Studienausgabe der Werke, Frankfurt M. 1986, im folgenden zitiert als Ästhetik, I, II, III) als Textgrundlage für die Erforschung der Kunstphilosophie Hegels weitgehend relativiert hat, habe ich die Vorlesungszeugnisse in Betracht gezogen und sie mit der Edition Hothos systematisch verglichen. Es wird hier aus folgenden Vorlesungsnachschriften zitiert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über Ästhetik – Berlin 1820-21. Eine Nachschrift – I. Textband, hg. von Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1995 (im folgenden: Ascheberg 1820/21); ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823 – Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte 2) (im folgenden: Hotho 1823); Philosophie der Kunst oder Ästhetik – Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004 (im folgenden: Kehler 1826), sowie die Nachschriften Griesheims (Philosophie der Kunst – Von Prof. Hegel. Sommer 1826. Nachgeschrieben durch Griesheim [Ms. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin]) (im folgenden: Griesheim 1826) und Karol Libelts (Aesthetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29 [Ms. Jagiellonische Bibliothek, Krakau]) (im folgenden: Libelt 1828/29). Annemarie Gethmann-Siefert danke ich für die freundliche Genehmigung, aus den sich an der Universität Hagen befindenden Transkriptionen der Manuskripte zu zitieren. 7 Hotho 1823, 199 / Ms. 184 f. (Herv. G.P.) 6

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handlung der Farben in der niederländischen Malerei, in der der Künstler mittels seiner individuellen Ausdrucksform den verborgenen Reiz einer niedrigen, objektiven Alltagswelt aufschließt und somit ihr ideelles Terrain, die gegen Natur und politische Umstände schwer erkämpfte Freiheit eines Volkes zum Ausdruck bringt.8 Ist also die romantische Kunst im allgemeinen subjektiv, sei es in dem auf den »Prozess der göttlichen Versöhnung mit sich« konzentrierten religiösen Kreis, sei es in der Darstellung des Selbstgefühls einer bürgerlichen Gesellschaft, so kann man eigentlich im Portrait, wo die Subjektivität auch auf der Ebene des unmittelbaren Kunstgehalts eine komplexe Rolle spielt, eine Zuspitzung dieser Tendenz erkennen. Die Hauptbestimmung des Portraits besteht darin, die Persönlichkeit eines wirklichen Menschen und seine innere geistige Haltung durch die Wiedergabe seiner äußeren Züge ans Licht treten zu lassen. Bei aller Verschönerung bzw. Idealisierung der Gestalt muß die Besonderheit des abgebildeten Subjekts erhalten bleiben, so daß im Portrait nicht nur die Einzelheit des Bildes, wie es im allgemeinen im Kunstwerk der Fall ist, sondern auch die Einzelheit des Dargestellten qua wirklicher Mensch in Frage kommt. Das Interesse für die reelle Identität der abgebildeten Person bleibt trotzdem aus ästhetischer Sicht nebensächlich. Auch die geschichtliche Relevanz solcher Identität, falls es sich um einen berühmten Menschen oder sogar um ein »welthistorisches Individuum« handelt, trägt zum künstlerischen Wert des Bildnisses und somit zu seiner Fähigkeit, das Allgemeine zu bedeuten, keineswegs bei. Es ist jedoch wesentlich, daß die geschichtliche Bestimmtheit des Subjekts als Abstraktum im Bild sichtbar bleibt. Als zweites Charakteristikum des Portraits kann man gleichsam den subjektiven Status des Darstellungsobjekts nennen. In den meisten modernen Portraitbildern stellt sich der Abgebildete als ein Selbst dar, das die Darstellung aktiv mitgestaltet und sich in einem bestimmten symbolischen oder sozialen Kontext als Individuum inszeniert. Das erfordert für die Konstitution des Bildes ein intersubjektives Verfahren. Der Künstler zielt darauf, durch die Nachahmung der äußeren Merkmale des Gesichts die innere geistige Form des Abgebildeten auszudrücken, so daß das Bild sich als Resultat einer Interpretation der Gestalt erweist. Nur aufgrund eines solchen Interpretations- und Verstehensaktes kann er die Elemente des Gesichts auswählen, die den Charakter des Abgebildeten und zugleich die abstrakte allgemeine Subjektivität (was Hegel in den Vorlesungen aus dem Jahre 1823 den Humanus nennt) ans Licht bringen sollen: Das Porträt muß »Ausdruck der geistigen Eigentümlichkeit, der Partikularität des Charakters« sein und »dazu ist nicht genug, daß der Künstler das Gesicht nur einmal sieht, sondern daß er mehr oder weniger die Manier des Menschen kennt, es gehört eine nähere Bekanntschaft der Art der Empfindungen und wie sie sich in der Physiognomie ausdrücken«.9 Hegel übernimmt hier ein 8 Siehe Bernadette Collenberg: Hegels Konzeption des Kolorits, in: Phänomen versus System – Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1992, 91-164. 9 Kehler 1826, 39 / Ms. 65 f.; Griesheim 1826, Ms. 67.

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traditionelles, schon von Porphyrius in »Plotins Leben« verwandtes Argument, nach dem die genaue physiognomische Wahrnehmung, die das Portrait selbst ermöglicht, einen rationellen intersubjektiven, nicht nur sinnlich-anschaulichen Erkenntnisprozeß voraussetzt, dessen Resultat auf der bildlichen Ebene reflexiv übertragen wird.10 Solche reflexive Vermittlung bildet das Kriterium der visuellen Konstitution des Bildes, wenn die »Äußerlichkeit ein mehr gleichgültig Äußerliches« geworden ist und sich »für einen dritten, den Zuschauer« gibt.11 Das abgebildete Subjekt, hinter dem immer ein wirklich existierendes Individuum steht, kommt also zugleich als ein Selbst und als ein Anderes vor. Seine besondere, endliche Wirklichkeit ist das Medium, in dem der Künstler das Allgemeine als menschliche Lebendigkeit erscheinen läßt: »[D]er Künstler in seinem Stoff ist eine tabula rasa; als das Interessante bleibt der Humanus, die allgemeine Menschlichkeit, das menschliche Gemüt in seiner Fülle, in seiner Wahrheit«. Er »ist gleichsam Dramatiker, der fremde Gestalten auftreten läßt, in sie sein Genie legt, sie zum Organ macht, so aber, daß sie ihm zugleich fremde sind. […] Darum ist auch die Portraitmalerei am Brette«.12 Die über seinem Stoff stehende Subjektivität des Künstlers manifestiert sich also in der Auseinandersetzung mit Subjekten, die er als Objekte in Szene setzt, die aber als selbständige Charaktere auf die universelle Subjektivität hinweisen.

B. Bekanntermaßen hat nach Hegel der Schönheitsbegriff seine Vollendung in der klassischen Kunst gefunden, in welcher die natürliche Gestalt idealisiert wird und als Verkörperung des Geistes erscheint. In der romantischen Kunst hingegen bleibt die Seele der Leiblichkeit fremd, sie versucht nicht, den Leib zu durchdringen bzw. ihn zu idealisieren. So steht der Leib als gemeine Äußerlichkeit einer Innerlichkeit gegenüber, die sich als den einzigen Grund setzt: Die Kunst kann folglich »die Spuren der Zeitlichkeit, der Bedürftigkeit der Natur, die Äußerlichkeit des Daseins« in sich aufnehmen und subjektiv gestalten.13 Einerseits ist die Wirklichkeit zum gleichgültigen Schein herabgesetzt, andererseits kann die absolute Subjektivität nur durch die eigentümliche Gestaltung des Einzelnen aufgefaßt und dargestellt Porphyrius erzählt, Amelius, ein Freund Plotins, wollte ein Portrait des Philosophen anfertigen lassen, der sich weigerte, zu posieren, »aber Amelius hatte Carterius zum Freunde, den derzeit besten Maler, und den brachte er mit in den Vorlesungen und ließ ihn so mit dem Meister zusammentreffen […]; durch langhaltendes Aufmerken gewöhnte er ihn daran den Seheindruck immer eindringlicher zu erfassen; so konnte er denn nach der in seinem Gedächtnis niedergelegten Vorstellung ein Bild malen, […] das sehr ähnlich war«. Porphyrius: Über Plotins Leben, in: Plotins Schriften Vc, hg. von Walter Marg, Hamburg 1958, hier: 5. 11 Hotho 1823, 185 / Ms. 171. 12 Hotho 1823, 204 / Ms. 189. 13 Hotho 1823, 185 / Ms. 171. 10

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werden. Die von Hegel behauptete Neigung der modernen Kunst zum Portrait, die Ausarbeitung von individuellen charakteristischen Zügen, ist mit der Auflösung des organischen Zusammenhangs von Idee und Naturformen verbunden: »Mit dieser Gleichgültigkeit gegen die idealisierende Einigung von Seele und Leib tritt für die speziellere Individualität der Außenseite wesentlich das Porträtartige auf, das die partikulären Züge und Formen, wie sie gehen und stehen, die Bedürftigkeit des Natürlichen, die Mängel der Zeitlichkeit nicht, um Gemäßeres an die Stelle zu setzen, verwischt«.14 Die Individualität als solche definiert also die romantische Kunst nicht; sie findet vielmehr ihren vollkommenen Ausdruck in der schönen klassischen Welt. In der antiken Kunst kann sich der geistige Inhalt vollständig in die endliche Form auflösen, weil in ihr das Moment der unendlichen Subjektivität im Grunde abwesend ist. Daher konnte Hegel sagen, daß schöner als die klassische Kunst nichts werden kann, aber »das Reich des Schönen ist für sich noch unvollkommen, weil der freie Begriff in ihm nur sinnlich vorhanden« ist.15 Das Klassische kennt im Prinzip nur allgemeine Individuen als Bestimmungen eines einheitlichen Ideals, das Romantische hingegen beruht auf dem logischen Zwiespalt zwischen der Allgemeinheit des abstrakten Subjekts und seiner notwendigen Existenz als einzelnes. Es sind die antiken Götter, in denen wir eigentlich »diese Kraft der Individualität, diesen Triumph der in sich konzentrierten konkreten Freiheit erkennen«, während in der modernen Kunst die unmittelbare Wirklichkeit des Menschen und die Besonderheit des Charakters zur Geltung kommen. Das Romantische entspricht also vielmehr dem logischen Moment der Einzelheit. Was auf der logischen Ebene als Einzelheit bezeichnet wird, erscheint in der künstlerischen Darstellung als die unmittelbare Wirklichkeit des Individuums, also als dessen partikulärer Charakter.16 Das asymmetrische Verhältnis von Inhalt und Form, die Grundbestimmung der romantischen Kunst, gibt es sich aber spezifisch in der von der »Abstraktheit des Charakters« geprägten Kunstepoche als das Hervortreten der substantiellen allgemeinen Subjektivität in der Äußerlichkeit des bestimmten wirklichen Menschen. In dieser Hinsicht macht das Einzelne, »welches in der Reflexionssphäre der Existenz als Dieses ist«, die Begriffsbestimmung der Persönlichkeit aus: »das wirkliche, einzelne Subjekt in seiner inneren Lebendigkeit ist es, was unendlichen Wert erhält, indem sich in ihm allein die ewigen Momente der absoluten Wahrheit, die nur als Geist wirklich ist, zum Dasein auseinanderbreiten und zusammenfassen«.17 Das Sichwissen des Geistes, die absolute Subjektivität als Abstraktion findet in der einzelnen Menschengestalt ihren Ausdruck. Ästhetik, II, 144 f. Hotho 1823, 179 / Ms. 166. 16 Siehe dazu Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs – Hegels Logik der Kunst, Hamburg, 1997, 203 ff. 17 Ästhetik, II, 131. 14 15

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Neben der weltlichen Sphäre der modernen bürgerlichen Gesellschaft, tritt im Diskurs über das Portrait der religiöse Grund des Romantischen zutage. Die Einzelheit bildet denn die Grundkategorie des »höhere(n) Anthropomorphismus«, der in der künstlerischen Darstellung des christlichen Glaubensgehalts herrscht. Das Menschliche erscheint in Christus als »ein Dieses, ein Einzelnes, in der einzelnen Zeitlichkeit«, in welchem die absolute Innerlichkeit sich offenbart. Daher kann der Mensch gewordene Gott im Kunstwerk nur als wirkliches Subjekt, als einzelne Person und nicht als verkörpertes Schönheitsideal, als ein griechischer Gott dargestellt werden: »Die Gestalt Christi als Gegenstand der Kunst ist kein Ideal, sondern Portrait, dieser Mensch«.18 Im »Gegensatz der substantiellen Allgemeinheit und der Persönlichkeit« kann das Portrait gleichsam als eine Figur der Einzelheit verstanden werden. Seine Bedeutung wird größer in einem historisch-kulturellen Zusammenhang, in welchem das Interesse des Geistes sich im Handeln der besonderen Individuen offenbart.

III. Idealisierte Körpergestaltung und moderne Gesichtsbildung A. Die Bildmaterialien, die Hegel in den verschiedenen Kollegienjahrgängen als Beweisstücke für seine Auffassung des Portraits anführt, beschränken sich auf einige in der Sammlung Boisserée und in der Dresdner Galerie enthaltene altdeutsche und niederländische Gruppenbilder, auf berühmte Werke der italienischen Renaissance und auf die Portraits von Dürer und van Dyck. Auf den modernen Ausdruck des Charakters in der Malerei geht Hegel zum ersten Mal in der Rezension der Werke des Malers Gerhard von Kügelgen (1821) ein.19 Die 1820 in Dresden ausgestellten »Brustbilder in Porträt-Größe und Format von Christus, Johannes dem Täuffer und den Evangelisten und vom verlorenen Sohn« geben ihm Anlaß, sich mit der Portraitcharakteristik zu befassen. Seine Überlegungen sind auf die »portraitsmässige« Behandlung der Gesichter sowie auf die Bestimmung der »wahren historischen Malerei« konzentriert. Relevant für das hier behandelte Thema ist vor allem die Bestimmung der spezifisch-modernen Darstellung der Gesichtszüge, die er in den Figuren der Heiligen betrachtet. Solche Überlegungen hat er später in die Vorlesungen integriert. In von Kügelgens Werken hebt Hegel eine prinzipielle Inkongruenz in der Darstellung der Heiligen hervor, insofern »sie nicht sowohl Charaktere, Physiognomieen eines anderen Volks, einer anLibelt 1828/29, Ms. 93. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über von Kügelgens Bilder, in: ders.: Schriften und Entwürfe I (1817 –1825), hg. von Friedrich Hogemann und Christoph Jamme (GW, XV) Hamburg 1990, 204 ff. 18 19

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deren Zeit, – einer anderen Welt, in sich ruhende eigenthümliche Gestalten ausdrücken, sondern den Grundton moderner Gesichtsbildung zeigen«.20 Die theoretische Pointe der Rezension, über die Kritik an Kügelgen hinaus, besteht in der Entgegensetzung der modernen Behandlung von Gesichtszügen und der Gestaltung des menschlichen Gesichts als Typus in der klassischen Kunst.21 Besonders die Darstellung der Mundpartie, die »eine Ausarbeitung der Muskeln, die moderne Reflexion, geistige Tätigkeit, Empfindung, – viel Gedacht-Gesprochenhaben, u.s.w. (spiegelt)«22, läßt die Bilder als »portraitsmässig« erscheinen, wodurch sie sich von der hieratischen Starrheit der antiken Statuen unterscheiden. Ein solches künstlerisches Verfahren, das, wie Hegel betont, nicht nur ein technisches ist, sondern die Zugehörigkeit des Abgebildeten zu einer Kultur der Reflexion und des intersubjektiven Sich-Bestimmens des Individuums ausdrückt, hat in den Portraits von Dürer und Holbein seinen Höhepunkt erreicht. Ein zweites Motiv der Rezension, das in den Vorlesungen noch stärker betont wird, betrifft die notwendige Einbeziehung der Figuren in ihre äußere Umgebung, die die Bedeutung des einzelnen, wirklichen Subjekts der Darstellung mitbestimmen soll. Eine solche intersubjektive Vernetzung der Figuren kommt in der antiken Kunst keineswegs vor: in ihr erscheinen die individuellen Göttergestalten isoliert, »unaufgeschlossen und nach außen nicht gerichtet«23, Formen eines kalten Ideals, die keinen Identifikationsprozeß, kein Sicheinfühlen des Betrachters auslösen können. Dazu trägt das vorwiegende Interesse der klassischen Kunst für den harmonischen Bau des ganzen Körpers bei, wobei das Gesicht, nach strengen verallgemeinernden physiognomischen Regeln geformt, zum Bestandteil eines idealtypischen Leibes reduziert wird. In der modernen, romantischen Malerei wird das Gesicht zum Fokus des Bildes, da in der Besonderheit der individuellen Züge sowohl eine auf sich selbst konzentrierte Innigkeit, als auch ein Komplex von Beziehungen zwischen Subjekt und Umwelt ans Licht kommt. Die theoretische Bedeutung, die Hegel dem menschlichen Gesicht zuspricht, weil in ihm »das Scheinen des Geistes« immer vorhanden ist, ist Grund dafür, daß es als Orientierungspunkt in der künstlerischen Darstellung einer entgötterten Natur dient. Der geübte physiognomische Spürsinn des Künstlers bewirkt im Portrait eine bildliche Synthese, die die Ausdrucksmöglichkeiten der natürlichen Gestalt weit übertrifft. Die Physiognomik ist denn ein Organ für die Auslegung der Veränderungen des Gefühls, der Empfindung, der Situation, insofern sie sich im Gesicht widerspiegeln.

Ebd., 204. Zum Kontext und zur Interpretation von Hegels Kügelgen-Rezension siehe Gregor Stemmrich: Das Charakteristische in der Malerei – Statusprobleme der nicht mehr schönen Künste und ihre theoretische Bewältigung, Berlin 1994, 126-136. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über von Kügelgens Bilder [Anm. 19], 204. 23 Hotho 1823, 180 f. / Ms. 167. 20 21

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B. Als Beispiel der gegenseitigen Abgrenzung von Idealisierung und Darstellung des wirklichen Subjekts in seiner Umgebung wird von Hegel der Dreikönigsaltar von Rogier van der Weyden, damals van Dyck zugeschrieben, angeführt.24 Im gleichen künstlerischen Raum findet man den religiösen Stoff und den Komplex der bürgerlichen Beschäftigungen und Gesinnungen, die sich auf dem Gesicht der Donatarien abspiegeln. »Die Männer sind Krieger, oder Geistliche, u.s.f.; die Frauen sind Hausfrauen, man verkennt ihre Frömmigkeit nicht, aber ebenso wenig, daß sie noch andere weltliche Qualitäten und Bestimmungen haben«.25 Der geschichtliche Kontext des autonomisierten Subjekts wird neben den idealen, in einer Ekstase der Zeit stehenden Figuren der heiligen Krippe dargestellt. In den heiligen Gestalten herrscht ausschließlich eine auf das Göttliche gerichtete Innigkeit der Seele, die das Ganze prägt. So waltet auf den Gesichtern ein einziger Zug, der das Abgewandtsein der Seele von der wirklichen, endlichen Welt offenbaren will. Eine solche Konzentration des Ausdrucks, die auf eine Permanenz des Zustands hinweist, gleicht weit mehr der Idealisierung der klassischen Gestalten als den modernen Portraits. Hingegen sieht Hegel in den Figuren der Donatarien das Veränderliche der Gesinnungen und der Situationen wiedergegeben, die die Identität und die Relationalität der Subjekte bestimmt. »Wird das Gesicht in einem Zuge der Empfindung dargestellt, so wird man doch immer sehen, daß es nur Portrait ist, das einer bestimmten Person gehört, und nicht ein Allgemeines, Innerliches abspiegelt«.26 Das Wesen des Portraits bzw. der abstrakt-subjektiven Kunst der Moderne besteht gerade darin, das Permanente in dem Zeitlichen, das Allgemeine in dem Einzelnen herauszubringen. Die massive Verbreitung der Gattung seit der Renaissance und die teilweise sehr hohe Qualität der Bilder, die von ihrer immer wichtigeren Position in der europäischen Kunst zeugt, steht in einer direkten Verbindung mit dem Prozeß der Emanzipation des Individuums, das sich zugleich als einzelnes Subjekt und als zu einem gesellschaftlichen Kontext gehörendes abbilden läßt.27 Denn Rang und soziale Rolle des Abgebildeten tragen zusammen mit den individuellen physiognomischen 24 Otto Pöggeler: Hegel und die Geburt des Museums, in: Kunst als Kulturgut – Die Bildersammlung der Brüder Boisserée, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Bonn 1995, 197-205. 25 Kehler 1826, 185 / Ms. 349. Siehe auch Hotho 1823, 258 / Ms. 241. 26 Libelt 1828 / 29, Ms. 32a 27 So Richard Brilliant: Portraiture. London 1991, 8: »The very fact of portrait’s allusion to an individual human being, actually existing outside the work, defines the function of the art work in the world and constitutes the cause of its coming into being. This vital relationship between the portrait and his object of representation directly reflects the social dimension of human life as a field of action among persons, with his own repertoire of signals and messages«. Zum Verhältnis von Portrait und Konstitution der Individualität in der europäischen Kultur der Neuzeit siehe

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Merkmalen zur Bestimmung der spezifischen Identität des Subjekts bei. Daß das Portrait für Hegel einen in der neuzeitlichen Kunst verbreiteten Darstellungsmodus eher als ein Genre bedeutet, sieht man auch in den Überlegungen über die moderne Bildhauerei: »Die Statuen der in neuern Zeiten lebenden Personen sind Portraite, und als solche müssen bei ihnen auch die äußern Umstände, ihr Hinaustreten ins äußere Leben, angedeutet seyn«. Dem Bildhauer stehen aber weniger raffinierte Mittel zur Verfügung als dem Maler (Gruppierung, Hintergrund), um das abgebildete Subjekt als eine in einem angegebenen gesellschaftlichen Kontext tätige Person darzustellen; so ist er auf die genaue Nachahmung der Kleidung, der sichtbarsten Zeichen sozialer Zugehörigkeit angewiesen: »Das Portrait muß in der Eigentümlichkeit seiner Kleidung erscheinen, denn sie gehört zu seiner Besonderheit«.28 Ist das Gewand der antiken Statuen eine leichte Hülle, die die harmonische Nacktheit eher betont als bedeckt und zur Idealisierung des Leibes gehört, so dient die moderne, körperfremde Kleidung zur Identifizierung der gesellschaftlichen Rolle des Individuums, die Teil seiner Identität ist. Um es kurz zu fassen: das eine gehört zur Sphäre des Mythos, das andere zur Geschichte. Das Moment der Intersubjektivität kommt also im modernen Portrait auf eine zweifache Weise zur Erscheinung: als Resultat einer Interaktion zwischen Künstler und abgebildetem Individuum, wie vorher angedeutet, sowie als Darstellung eines in einem kulturellen und sozialen Zusammenhang lebenden Menschen. Da seine konkrete Tätigkeit in einer bestimmten geschichtlichen Umwelt das Wesen des modernen Menschen ausmacht, kann er nicht »über diese {thätige, wirkende} besondere Form des thätigen, wirkenden Lebens erhoben werden; denn als Portrait ist es eine bestimmte Anschauung des Individuums in seiner bestimmten Umgebung«29. Die niederländische Malerei, die sowohl inhaltlich, durch die Wiedergabe der sinnlichen Konsistenz der Gegenstände, als auch strukturmäßig, durch ihren Polyperspektivismus, an der Darstellung des wirklichen Menschen orientiert ist, liefert noch einmal das adäquateste Beispiel solcher konstitutiven Geschichtlichkeit des modernen Individuums: »Große Porträts, wenn sie durch alle Mittel der Kunst in voller Lebendigkeit vor- und dastehen, haben an dieser Fülle des Daseins selbst schon dies Hervortreten, Hinausschreiten aus ihrem Rahmen. Bei van Dyckschen Porträts z. B. hat mir [sic!] der Rahmen, besonders wenn die Stellung der Figur nicht ganz en face, sondern etwas herumgewendet ist, angesehen wie die Tür der Welt, in welche der Mensch da hereintritt«.30 ferner Hans Robert Jauss: Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei, in: Individualität (Poetik und Hermeneutik XIII), hg. von Manfred Frank und Anselm Haverkamp, München 1988, 599-605; Enrico Castelnuovo: Das künstlerische Porträt in der Gesellschaft, Berlin 1988. 28 Hotho 1823, 245 f. / Ms. 229 29 Ascheberg 1820/21, 223 / Ms. 168. 30 Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik [Anm. 6], III, 85 f. Zur Bedeutung des Rahmens in der Malerei siehe Annemarie Gethmann-Siefert: Phänomen versus System, in: dies.: Phänomen versus System [Anm. 8], 3-39.

Hegel über das Portrait und die Konzeption des Ideals

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Daß das »Portaitartige« vorwiegend und vorbildlich, wenn auch nicht ausschließlich, in der Malerei vorkommt, hängt davon ab, daß sie durch die Abstraktheit ihrer Mittel, der Farbe und des Lichtes, das Sinnliche der menschlichen Wirklichkeit reflexiv als Manifestation des geistigen Lebens auszudrücken vermag: »Dies Suchen eines lebendigen menschlichen Ausdrucks, einer charakteristischen Individualität, dies Hineinsetzen jedes Inhalts in die subjektive Besonderheit und deren bunte Äußerlichkeit macht den Fortschritt der Malerei aus, durch welchen sie erst ihren eigentümlichen Standpunkt erlangt«.31 Die Konzeption der unendlichen Subjektivität als des prinzipiellen Gehalts der romantischen Kunst ermöglicht Hegel, im Gegensatz zu den frühidealistischen Positionen Schellings und Friedrich Schlegels, dem Portrait eine Rolle im Prozeß der Abstraktion und der darauf bezogenen Entgötterung der Naturformen in der romantischen Kunst zuzusprechen. Während im Rahmen einer transzendentalen Ästhetik das Portrait eine Rechtfertigung nur als symbolische Darstellung des absoluten Ich findet und daher die Präsenz des Wirklichen im Angesicht des abgebildeten Subjekts verneinen muß, um es als echtes Kunstwerk zu akzeptieren,32 sieht Hegel in dieser Kunstgattung und in der ihr zugrundeliegenden Aporie des im Einzelnen sich offenbarenden Allgemeinen die letzte Stufe der Entwicklung der abstrakten Subjektivität in der Kunst.

Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik [Anm. 6], III, 87. Vgl. Friedrich Schlegel: Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden in den Jahren 1802 –1804, in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe [Anm. 3], IV, 35-37; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, in: Sämmtliche Werke F. W. J. Schelling, Stuttgart 1856-61, V, 540. 31 32

La musique à la fin de l’histoire Von Alain Patrick Olivier

Hegel est présenté comme le représentant le plus décidé de la modernité dans son entreprise de clôture du savoir par une Encyclopédie spéculative qui vient récapituler à la fin de l’histoire la marche de l’esprit: cette prétention totalisante et finalement unilatérale contribue aujourd’hui à relativiser sa pensée. L’Esthétique, pourtant, est porteuse d’une tout autre actualité à une époque que nous définissons volontiers comme ›post-moderne‹ soit essentiellement comme une période post-historique. Car la fin de l’histoire n’y apparaît plus comme le moment du dévoilement ultime de la vérité (la fin appartenant encore à l’histoire comme sa culmination), mais inaugure une période d’épuisement du sens et d’une absence de cours historique déterminé (la fin marquant le passage dans une époque d’anhistoricité). Dans la philosophie de l’histoire, le philosophe se fait le chroniqueur de l’esprit. Dans la philosophie de l’art, il est confronté à une forme d’événementialité ouverte qui exclut tout discours métaphysique. L’art est défini dans le système encyclopédique, d’une part, comme une chose du passé, qui a fait place au discours religieux ou philosophique. Mais il appartient, d’autre part, à la sphère de l’esprit absolu: il est donc une manifestation par définition nécessaire, universelle et donc illimitée temporellement. L’art a déjà accompli sa fonction historique (comme art symbolique, classique puis romantique), mais il ne cesse d’exister et de subir des transformations. Or, ce développement contemporain intéresse au plus haut point le philosophe pendant tout le temps de son enseignement à Berlin. Lorsque Hegel a achevé et publié son système philosophique, il consacre une grande partie de son activité à observer les phénomènes artistiques de son époque, comme il ne l’avait jamais fait auparavant. Son point de vue n’est plus alors ni celui de l’historien ni celui du métaphysicien, mais plutôt celui d’un observateur critique. Le philosophe tente de comprendre ce que l’on peut encore considérer comme art dans une époque où ce medium n’est plus porteur de vérité ni d’absolu, où sa fonction historique demeure indéterminée, dans une époque où son existence est donc particulièrement problématique. Alors que le philosophe ne pose pas la question de la légitimité de la philosophie (elle se donne comme vérité au travers de son système), il pose en revanche de façon permanente la question de la légitimité de l’art. En cela réside sans doute l’actualité de son discours: l’histoire de l’art ne se réduit pas au grand récit d’une modernité. L’esthétique de la musique illustre exemplairement de cette problématique1. Hegel est tenu en suspicion par un certain discours de la modernité qui la disquaNous renvoyons ici à notre étude: Hegel et la musique. De l’expérience esthétique à la spéculation philosophique. Préface de Bernard Bourgeois, Paris 2003. 1

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lifie au nom même des principes généraux de sa philosophie, soit du principe de la légitimation historique. La plupart des thèses défendues dans les Cours d’esthétique de Berlin vont à contre-courant, en effet, d’une certaine conception progressiste et historisante de l’histoire de la musique. On reproche à Hegel sa nostalgie pour la musique religieuse ancienne et sa critique à l’égard de l’opéra allemand naissant, sa prédilection pour Rossini (la musique de la restauration) et son silence systématique à l’égard de Beethoven (la musique du progrès). Dans la confrontation avec les manifestations musicales de son temps, la position de Hegel est jugée ›classicisante‹ au point de paraître insoutenable. Les contemporains mêmes de Hegel ne comprennent ni sa prédilection pour le bel canto italien, ni ses réserves à l’égard des innovations de la musique allemande. Mais, au lieu de discuter les thèses hégéliennes, ils préfèrent souvent les disqualifier en arguant plus ou moins naïvement du manque de connaissance du philosophe en matière de musique, lorsqu’ils ne mettent pas en cause directement son goût musical. Pourtant, on ne peut pas dire que les critiques prononcées à l’endroit de l’esthétique hégélienne proviennent nécessairement d’esprits hostiles par principe à la philosophie hégélienne. Dans ce débat, les principaux adversaires de Hegel sont le plus souvent ses propres élèves, auditeurs ou admirateurs. Le premier d’entre eux étant le plus fidèle disciple, l’éditeur de ses Cours d’esthétique, l’hégélien absolument convaincu qu’était Heinrich Gustav Hotho. Hotho rapporte, par exemple, son embarras lorsque Hegel, de retour de Vienne en 1824, fait état devant lui de son enthousiasme pour la musique de Rossini et les chanteurs italiens2. Il ne comprend pas comment on peut se satisfaire d’une telle ›trivialité‹, puisque telle était l’opinion alors régnante de l’intelligentsia berlinoise dans son ensemble à l’égard de la musique de Rossini. Hotho tentera ainsi de ›corriger‹ le mauvais goût de son maître en minimisant dans la Druckfassung de l’Ästhetik l’apologie de Rossini, tout comme il ›rectifiera‹ beaucoup d’autres points d’une esthétique musicale par trop déviante à l’égard de l’opinion de son temps. Elle se trouve en quelque sorte censurée à la source. Pourtant, lorsque le disciple exprime son étonnement ou son embarras devant le goût de son maître, celui-ci ne s’en trouve nullement gêné. Hegel raille, au contraire, ›l’orthodoxie‹ de son disciple. Et le temps lui a d’ailleurs donné raison, puisque Hotho avoue qu’il aura pris goût luimême, quelques années plus tard, au bel canto italien. Cette anecdote montre, d’ailleurs, la position critique de Hegel à l’égard du ›connaisseur‹ en matière de musique. Il avouait, au contraire, volontiers devant ses auditeurs qu’il n’était pas Musikverständiger3: en s’excluant ainsi de la catégorie sociologique des connaisseurs, il feint toutefois une certaine naïveté qui relève aussi 2 Cf. Heinrich Gustav Hotho: Vorstudien für Leben und Kunst, hg. von Bernadette CollenbergPlotnikov, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 105. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitwirkung von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004, 194 / Ms. 366.

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bien de l’aveu d’ignorance que d’une forme d’ironie. Le connaisseur pense la musique dans les déterminations finies de l’entendement (Verstand) là où le philosophe restaure dans la raison le droit de la sensation. Cette attitude permet de comprendre la remise en cause hégélienne du statut de la musique instrumentale privilégiée par les connaisseurs, ou plus précisément de la musique savante telle qu’elle se constitue comme musique indépendante, c’est-àdire: le discours de l’autonomie de l’art. Lorsque la musique ›indépendante‹ (selbständige Musik) s’affranchit de toute hétérogénéité à l’égard du texte mais aussi de toute fonction sociale extérieure (comme de servir d’accompagnement au service divin, à la marche des armées, etc.) elle court le risque de s’adresser à l’entendement et non plus à la sensation. Seul le connaisseur en apprécie pleinement les enchaînements harmoniques, la virtuosité technique ou les subtilités contrapuntiques ; le profane se laisse aller, quant à lui, à la rêverie pour ne pas dire à l’ennui. L’art de l’intériorité absolue devient en même temps l’art de la subjectivité la plus creuse4. Hegel considère que ce mouvement est certainement nécessaire du point de vue historique, mais il se refuse pour autant à le légitimer du point de vue esthétique, ou plus exactement à l’absolutiser en le considérant comme l’unique voie possible pour l’évolution de la musique5. La démarche de Hegel n’est pas geschichtsphilosophisch en ce qui concerne la musique. Elle ne privilégie pas cette ›logique de la rigueur musicale‹ que prône Adorno en se référant paradoxalement à Hegel pour défendre l’idée du progrès et de la modernité6. C’est ce qui explique pour une grande part le silence du philosophe à l’égard de Beethoven. Il témoigne d’une attitude ambiguë que Carl Dahlhaus a justement comparé avec celle de certains musicologues lucides mais conservateurs du XXe siècle face à la musique de Schönberg, c’est-à-dire à cette forme de radicalisation plus récente de la même modernité musicale qui se fait jour au début du XIXe siècle avec Beethoven. La musique perd alors en substance ce qu’elle gagne en autonomie7. Elle n’intéresse que le cercle étroit des connaisseurs. Cf. Alain Patrick Olivier (Hg.): Das Musikkapitel aus Hegels Ästhetikvorlesung von 1826, in: Hegel-Studien 33 (1998), 39: »Indem die Musik auf diese Weise Vollkommenheit, Selbständigkeit erlangt hat, findet nur der theoretischer Kenner volle Befriedigung […] Wer sich dabei nicht beschäftigen kann, wird aber etwas betäubt, so läßt er seinen Vorstellungen und Phantasien freien Spielraum.« 5 »Vornehmlich in neuern Zeiten ist die Musik selbständig für sich geworden; die natürliche ist aber die zum Gesange begeleitende Musik. Indem sie so selbständiger wird, verliert sie an Macht über das Gemüth, sie wird mehr particulärer Genuß für Kenner, der die Fertigkeit des Künstlers und die schwierige Behandlung der Töne bewundern kann.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über Ästhetik – Berlin 1820-21. Eine Nachschrift – I. Textband, hg. von Helmut Schneider, Frankfurt/M. 1995), 281 / Ms. 223 6 Theodor Wiesengrund Adorno: Philosophie der neuen Musik, Köln 1958. 7 Cf. Carl Dahlhaus: Hegel und die Musik seiner Zeit, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg. von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1982 (Hegel Studien, Beiheft 22), 338 ff. 4

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Hegel n’écarte pas la possibilité d’une satisfaction au travers de la musique instrumentale parvenue à son autonomie, mais il la relativise du point de vue sociologique (elle ne s’adresse qu’à une élite) comme du point de vue esthétique (elle n’occupe pas tout l’esprit). La philosophie de l’art hégélienne est une esthétique de la sensation, la sensation désignant la spécificité de la sphère artistique, par opposition à la représentation religieuse ou au concept philosophique. Le fait que l’art ne soit (plus) astreint à l’énoncé d’une vérité religieuse ou philosophique libère dans le monde moderne une forme de jouissance sensible cultivée pour elle-même. Cette réhabilitation de la jouissance esthétique (Genuß) constituant l’un des traits caractéristique de la période post-historique8. Hegel oppose à la satisfaction intellectuelle procurée par la musique instrumentale (désignée implicitement comme art de l’entendement, qui s’attache aux rapports harmoniques), une autre forme de satisfaction: celle que produit la musique vocale, un art de la spontanéité, de l’immédiateté, qui cultive la mélodie pour elle-même. Dans la mesure où la musique vocale associe, par ailleurs, le chant avec la parole, la musique avec la poésie, un ›contenu‹ se trouve donné soit une forme de signification qui délivre du défaut attribué à la musique indépendante. Mais les formes musicales qui mêlent ainsi le chant et la parole se trouvent alors à mi-chemin des deux formes artistiques distinctes que sont dans l’esthétique hégélienne la musique et la poésie. De ce fait, même si l’esthétique semble instaurer une stricte classification des arts, celle-ci n’est qu’apparente et les passerelles sont multiples. La question de la musique se trouve ainsi abordée dans le chapitre qui lui est spécifiquement consacré ; mais elle intervient aussi bien dans le chapitre consacré à la poésie, qu’il s’agisse de la poésie épique, lyrique et surtout dramatique. Cette apparente incohérence ne disparaît que si l’on accepte de considérer le système hégélien moins comme une totalité strictement cloisonnée, que comme le résultat d’une pensée qui unifie aussi bien qu’elle abstrait. La réalité artistique peut être aussi bien homogène ou hétérogène. Le musical est ainsi pensé non seulement pour lui-même et en rapport avec la poésie (dans les chapitres sur la musique et sur la poésie, qui traitent tous deux d’une réalité artistique sonore), mais également, de façon transversale, au travers de la peinture, dès lors que la peinture, lorsqu’elle s’affranchit de la figuration caractéristique, est pensée comme ›musicale‹. La question de son autonomie se pose en des termes comparables: le contenu de la représentation tend à s’estomper au profit d’une musique abstraite de couleurs. La ›musicalité‹ (au sens de la selbständige Musik) devient ainsi une signature de la modernité dans son ensemble. La notion de genre artistique est d’autant plus relative chez Hegel que chacun des arts ne constitue dans sa vérité qu’un moment d’une totalité concrète qui prend la forme d’une œuvre dramatique, qu’il s’agisse de la tragédie grecque ou de l’opéra, Cf. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über Kunst und Alltäglichkeit. In: Hegel-Studien 28 (1993), 215 ff. 8

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dans une moindre mesure le drame moderne. Pour Hegel, la tragédie ancienne, et plus encore l’opéra moderne, se présentent comme des synthèses. Chacun des arts trouve en quelque sorte sa vérité dans sa combinaison théâtrale avec les autres arts: »Mit der Gebärde tritt sogleich die Umgebung ein, Szenen und Dekoration, und indem jede Seite der künstlerischen Behandlung fähig ist, und wenn es nach allen künstlerischen Seiten der Behandlung [ausgeführt] sein soll, so tritt die Musik ein und mit Gebärde verbunden der Tanz. Alle Künste sind da vereinigt: die Natur des Menschen [ist Thema], die Architektur, durch Malerei vorgestellt, oder das Lokal selbst [kommen hinzu, ebenso] Musik, Tanz und Pantomime.«9 L’esthétique trouve son objet dans ce ›système‹ artistique que constitue l’opéra des temps modernes. Mais l’opéra se distingue de la tragédie antique en ce que cette totalité tend vers une signification formelle. L’œuvre d’art totale a encore la vocation de rassembler ; elle n’a plus la fonction de dire l’absolu et surtout pas l’absolu religieux, comme au temps des Grecs. Elle se présente paradoxalement de ce fait comme une entité purement esthétique. Hegel insiste sur le fait que l’on peut faire aujourd’hui l’usage de mythes anciens, mais ils n’ont plus la même signification qu’ils avaient dans l’antiquité. Lorsque Goethe, par exemple, reprend le mythe d’Iphigénie, il en altère profondément la teneur. Le drame d’Iphigénie devient un drame moderne, qui véhicule plutôt un idéal de notre temps. Les mythes ne sont pas présentés comme tels, mais toujours avec une certaine forme de distance. Le fait même que les mythes anciens nous soient plutôt exotiques est d’ailleurs la raison même de leur utilisation dans l’opéra où le contenu disparaît au profit de la jouissance formelle10. De même que nous ne pouvons plus nous agenouiller devant les images religieuses anciennes, nous ne pouvons plus adhérer non plus aux mythes représentés par le théâtre. Hegel ne considère toutefois pas la tragédie antique comme le moment historique de culmination de la musique. La caractéristique (et la faiblesse) du drame antique consiste, au contraire, dans le fait que la parole (die Rede) y est l’élément prédominant, c’est-à-dire que le musical n’y ait pas développé, ce en quoi la tragédie reste en-deçà de l’opéra moderne. La musique en tant qu’art ›romantique‹ est lié, du point de vue de la philosophie de l’histoire hégélienne, à l’avènement du christianisme (puis à la modernité qui en est la conséquence). Hegel associe donc son développement (comme celui de la peinture) avec la période qu’il considère comme le déclin du catholicisme romain, soit dans l’art religieux italien de la Renaissance11. Les compositions de Palestrina, par exemple, constituent ainsi pour lui l’expression même de l’idéal en musique, soit la forme suprême de la beauté musi9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Kunst. Berlin 1826 (Mitschrift von der Pfordten), hg. von A. Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr. Frankfurt a.M. 2005, 89. 10 Cf. Annemarie Gethmann-Siefert: Das ›moderne‹ Gesamtkunstwerk: Die Oper, in: Phänomen versus System, hg. von ders., Bonn 1992 (Hegel Studien, Beiheft 34), 165-230. 11 Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. Eduard Gans und Karl Hegel, in: Sämtliche Werke, Bd. XI, 325.

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cale. (L’opéra apparaît aussi en Italie dans la continuation de cet idéal quoique dans une forme de libération à l’égard du discours proprement religieux.) Mais, dans la musique comme dans la peinture, toute tentative de vouloir composer à notre époque des œuvres imitées de cette période paraît parfaitement vaine et vouée à l’échec. La musique trouve son sens dans une religion du passé (c’est-à-dire fausse) qu’est la religion catholique. Dans le monde protestant, (soit dans la religion considérée comme ›vraie‹ car porteuse du système spéculatif), la nostalgie de l’art est aussi illusoire. Même si le monde protestant a fourni des grandes œuvres musicales, pleines de profondeur et de religiosité, telles que les oratorios de Bach et de Haendel, leur signification n’est plus, dans le monde contemporain, que purement esthétique, c’est-à-dire qu’elles ne peuvent être considérées que comme des œuvres d’art, destinées à la satisfaction esthétique, et non plus comme porteuses de l’absolu. Telle est la raison de la critique hégélienne adressée à la Passion selon saint Matthieu de Bach reprise à Berlin sous la direction de Felix Mendelssohn Bartholdy en 1829. Le fait même que le concert ait lieu dans une salle et non dans une église est révélateur du fait que l’œuvre a perdu sa fonction religieuse. Elle n’est plus qu’un objet d’admiration muséale. La ›modernité‹ exemplaire de cet événement consiste précisément dans le rapport nouveau de décalage et de réinterprétation établi avec l’ancien12. La critique porte donc moins sur l’œuvre elle-même que sur la modalité de sa réception dans un contexte où les disciples de Hegel sont les premiers à vouloir faire revivre au travers de Bach un art vivant chrétien-germanique. Ainsi Droysen qui salue dans l’œuvre de Bach à la fois un chef d’œuvre de l’art allemand et la musique de la foi libre évangélique13. Mais aussi Hotho qui attribue à Hegel dans l’Esthétique une louange de la »génialité grandiose vraiment protestante«14 de Bach dont on ne trouve aucune trace dans les cahiers et qui contredit le jugement désapprobateur exprimé par Hegel à l’issue du concert15. Bien que Hegel ait légitimé, dans son discours spéculatif, la forme politique et religieuse dans laquelle il vivait (l’Etat prussien et la religion protestante) et même s’il avait pu considérer ces formes comme le point d’aboutissement de l’histoire, sa position est radicalement opposée à toute tentative de faire intervenir de telles ›vérités‹ dans le domaine esthétique. Le fait que l’art n’a pas à dire la ›vérité‹ le dispense de cette fonction de prosélytisme dans laquelle ses disciples sont le plus souvent enclins de l’enfermer. Telle est la raison pour laquelle Hegel s’oppose à toute C’est en ce sens qu’il est cité, par exemple, par Jacques Rancière dans Le Partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000, 36. 13 Cf. Johann Gustav Droysen: Über die Passions-Musik von Johann Sebastian Bach. In: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung (1829), 98. 14 Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Studienausgabe der Werke), Frankfurt/M. 1986, Bd. 3, 211. 15 Cf. Carl Friedrich Zelter: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. M. Hecker, Leipzig 1913, Bd. II, 131. 12

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l’entreprise contemporaine d’un art national et religieux. Telle est l’origine de ses critiques à l’égard de l’art allemand (en particulier à l’égard de la musique de Weber considérée à cette époque comme musique partriotique) et son apologie délibérée de l’art italien. Le philosophe s’attache de préférence aux formes d’art qui ne sont liées ni à sa patrie ni à sa religion dans un mouvement de résistance à l’égard de la prétention de l’entendement prussien-protestant à s’absolutiser. Il s’oppose sur ce point radicalement aux jeunes Hégéliens. Rien n’est plus éloigné à l’esprit de son Esthétique que la proposition hégélianisante de Friedrich Theodor Vischer, par exemple, lorsque celui-ci propose, en 1844, comme projet d’opéra nouveau l’adaptation de la légende germanique des Nibelungen16. Vischer attend l’avènement comme »Resultat der ganzen Kunstgeschichte« d’un opéra national qui soit l’équivalent dans le domaine musical des drames politiques de Schiller. Dans ses cours d’esthétique, au contraire, Hegel propose que l’opéra, comme la littérature d’ailleurs, emprunte ses thèmes aux époques et aux contrées les plus reculées et s’attache de préférence à des contenus tout à fait merveilleux. Il critique le Nibelungenlied et l’idée même d’une mise en musique de Schiller. Il loue, au contraire, le livret féerique de Die Zauberflöte de Mozart, comme il loue également Goethe de se tourner vers la poésie orientale dans son Divan. L’art à la fin de l’histoire devient un art cosmopolite où les contenus sont empruntés à toutes les cultures, précisément parce que l’art n’est plus le véhicule d’affirmation d’aucune d’entre elles. Chacune est aperçue au travers d’un filtre esthétique. Il en va de la culture chrétienne-germanique comme des autres. Telle est la raison pour laquelle Hegel semble paradoxalement (lui le philosophe de l’histoire) indifférent aux sujets historiques dans le domaine de la musique comme dans le domaine de la peinture. Le sujet (Stoff) semble jouer, d’une façon générale, pour Hegel un rôle tout à fait secondaire dans l’art contemporain. Dans l’opéra, l’attention à la signification est même contraire à la jouissance musicale. La poésie n’a besoin en ce sens de n’être ni profonde ni intelligible. Hegel remarque d’ailleurs que le public italien, au contraire du public allemand, n’écoute pas les récitatifs et concentre toute son attention dans les moments purement musicaux de l’opéra. Dans les opéras de Mozart et de Rossini qu’il entend à Vienne, le philosophe ne prête donc pas la moindre attention au contenu, quand bien même il s’agit d’adaptations de Beaumarchais, de Voltaire ou de Shakespeare. En revanche, il accorde une attention extrême à l’art des interprètes. Hegel a entrepris le voyage de Vienne pour entendre les chanteurs napolitains qui se produisaient à cette époque dans la capitale viennoise plutôt que la musique que Rossini écrivit pour eux. Le grand art du compositeur a consisté précisément à libérer les chanteurs du joug de la situation dramatique et de la partition musicale, de leur offrir des moments d’improvisation qui apparaissent comme les moments de Friedrich Theodor Vischer: Vorschlag zu einer Oper. In: Kritische Gänge, Bd. 2. Tübingen 1844, 399 ff. 16

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suprême révélation musicale, où la mélodie se déploie librement, et où l’acte même de produire devient perceptible pour le spectateur. Hegel fait à Vienne l’expérience esthétique majeure de son esthétique musicale, dont l’actualité aujourd’hui demeure frappante. Le musical se révèle non pas au travers d’une partition mais dans le geste même de l’interprétation qui culmine dans la libre improvisation virtuose. La musique est ainsi pensée comme l’instauration d’une relation vivante entre l’interprète et le spectateur irréductible à toute dimension objectale. Le contenu de l’opéra, l’intrigue, la composition elle-même ne sont que des prétextes pour ce déploiement magique de l’interprétation. Cette expérience trouve sa répercussion immédiate dans les cours d’esthétique. En 1826, Hegel parvient ainsi à penser pour la première fois l’autonomie musicale en dehors de l’aporie d’une musique instrumentale savante. Et en 1829, une seconde expérience majeure, l’audition des concerts de Paganini lui permet d’appliquer cette esthétique de l’interprétation vivante au domaine de la musique instrumentale, de sorte que l’événement historique (puisque la virtuosité vocale et instrumentale au sens de Rossini et Paganini est à cette époque un phénomène radicalement nouveau) permet d’esquiver la thèse de la modernité et offre une solution au problème esthétique de l’autonomie de l’art indépendamment de toute notion d’histoire spéculative de la musique. On ne trouve d’ailleurs, dans l’esthétique de Hegel, aucun fondement pour une telle histoire de la musique, même si la métaphysique hégélienne de l’histoire n’a cessé d’inspirer à la postérité hégélianisante une telle entreprise. Le fait que la musique soit considérée comme un art du passé (un art lié au catholicisme italien) interdit de la considérer au travers d’une interrogation sur sa tendance historique. L’histoire de la musique est close, c’est-à-dire que l’œuvre musicale n’a à répondre ni d’une fonction au sein de l’histoire en général, ni même au sein d’une histoire de l’art qui tendrait vers une certaine forme musicale définitive. Pour de nombreux Hégéliens, (et cette conception s’est répandue chez de nombreux compositeurs allemands jusqu’au XXe siècle), l’histoire de la musique se présente en effet comme le récit de son émancipation, une émancipation qui se réalise principalement sur le sol allemand au travers des figures de Bach, de Haydn, de Mozart, puis de Beethoven, qui se prolongera ensuite avec Richard Wagner, Brahms, Richard Strauss ou Schönberg. Une telle conception historisante et progressiste est étrangère à l’esthétique de Hegel. Cela ne signifie pas pour autant qu’il faille considérer pour autant la position de Hegel comme ›classicisante‹ car le philosophe n’ignore aucunement les transformations artistiques de son temps. La situation post-historique de l’art n’implique aucun appauvrissement de la production artistique. Le phénomène de la virtuosité – éminemment contemporain pour Hegel - témoigne au contraire d’une vitalité incontestable de l’art et des surprises que révèle l’histoire dès lors qu’elle n’est plus considérée du point de vue métaphysique. Le fait même que l’art s’est libéré de sa fonction historique ouvre pour l’imagination esthétique les portes d’une créativité

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sans limites où la tendance à l’autonomie, comme l’affirmation patriotique ou la redécouverte de la musique ancienne ne sont que des phénomènes parmi d’autres dans un environnement musical riche en événements. Cette attention à la particularité et à la diversité des phénomènes artistiques est de plus en plus visible dans l’évolution des cours d’esthétique de Hegel. Elle culmine dans le cours de 1828/29 qui fait une très large part à la discussion des événements contemporains auxquels le philosophe est confronté, de sorte que le discours philosophique, loin de se figer dans une quelconque posture dogmatique semble plutôt enregistrer et interpréter les différentes mouvances artistiques. Souvent, le philosophe est amené ainsi à modifier son jugement, à revenir sur ces positions, à faire état de ses doutes ou de ses difficultés, ou à prendre parti arbitrairement, au contraire, à s’impliquer dans l’actualité du moment. Dans bien des cas, Hegel discute dans ses cours les exemples de l’actualité artistique la plus immédiate. Il ne semble pas alors que le philosophe parle à l’horizon d’une vérité métaphysique donnée. Cette dimension à la fois résolue et sinueuse, systématique et phénoménale qui fait l’ambiguïté et la richesse du cours d’esthétique apparaît pleinement à la lecture des différents cahiers plutôt que dans l’édition ›orthodoxe‹ de Hotho. Elle rend certainement mieux compte (d’une façon plus spéculative et moins intellectuelle) de l’ambiguïté et du foisonnement de la vie artistique contemporaine à laquelle le philosophe était confronté. L’esthétique tend alors à devenir un journal phénoménologique, une enquête (historia) de la situation post-historique de l’art, plutôt qu’un système métaphysique qui prophétiserait le discours d’une modernité musicale en progrès constant, ou qui se contenterait, au contraire, de proférer une mort de l’art déjà lointaine dont il s’agirait de refaire, au crépuscule, l’histoire spéculative.

Becketts ›Warten auf Godot‹ und Hegels ›Dramatische Poesie‹ Auf Entdeckungsreise mit Beckett in die Welten der Ästhetik Von Evelin Kohl

I. Warum Beckett, warum Warten auf Godot ? Dies ist sicherlich eine von vielen Fragen, die sich angesichts des vorliegenden Themas stellen, nicht zuletzt insofern zu diesem Autor und insbesondere zu diesem Werk inzwischen eine Vielzahl philosophisch inspirierter Beiträge vorliegen, es derer gar mehr als genug gibt. Doch bereits eben diese Vielzahl vermittelt als solche einen ersten Eindruck von dem Dilemma, in welchem die zeitgenössische Theaterkunst und ebenso die zeitgenössische Ästhetik stecken, in ihren Wurzeln verbunden und einander fremder denn je; einen Eindruck von der Tragikomödie eines Medienmarktes, auf dem beide gleichermaßen in ihrer Ohnmacht dahintrudeln. Es ist dies ein Spektakel, in dem Beckett eine entscheidende Rolle innehatte, bis heute innehat, indem er als erster diese sich zwischenzeitlich dramatisch vertiefende Ohnmacht offensichtlich machte und insbesondere mit seinem bekanntesten Werk Fragen aufwarf, an denen in den letzten 50 Jahren die kunsttheoretischen und philosophischen Deutungsversuche abglitten. Mit anderen Worten, Warten auf Godot bedeutet noch heute eine – wenn nicht gar die – Herausforderung für eine Ästhetik, die der Theaterkunst als solcher gerecht werden will. Es bleibt gleichermaßen eine Herausforderung für jeden Theaterkünstler, denn keinem Autor vor und nach Beckett ist es gelungen, mit einem einzigen Stück das traditionelle Theater auf so unumstritten umstrittene Weise in Frage zu stellen, »cette pièce a changé l’état du théâtre«1. Während z. B. seine Zeitgenossen Sartre und Camus im etablierten dramatischen Rahmen blieben, um ihre ideologischen Debatten zu führen, und ihr Erfolg vor allem auf die Inhalte und kaum auf formale Erneuerungen zurückzuführen ist, hat Beckett in seiner künstlerischen Annäherung an existentielle menschliche Probleme und insbesondere an die Wahrheitsproblematik mit den in Warten auf Godot eingeführten inhaltlichen wie formalen Veränderungen die Kritiker, Interpreten und Theatermacher in eine bis heute andauernde Verwirrung gestürzt. Diese Verwirrung ist paradigmatisch für die zunehmende Ratlosigkeit angesichts der Phänomene moderner Theaterkunst; einer Ratlosigkeit nicht nur auf Seiten der Rezipienten, sondern auch der Theaterschaffenden. Die Weise, in welcher 1

Lynda Bellity Peskine (Hg.): Roger Blin. Souvenirs et Propos, Paris 1993, 87.

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letztere ihrer eigenen Kunst gegenüberstehen, führt zunehmend zu einem Rückfall in reine Geschmacksurteile; mangelndes Urteilsvermögen verdichtet sich zu einer Hilflosigkeit angesichts der ›Krise‹, in der sich ihre Kunst befindet. Während die für jeden offensichtlichen Symptome dieser Krise eifrig diskutiert werden,2 schweigt man sich über deren mögliche Gründe zumeist aus oder sucht sie durch heteronome Größen, wie z. B. sinkende Subventionen, zu benennen und demzufolge heteronome Lösungen zu suchen. Diese Krise ist jedoch nur die Spitze eines Eisberges und die ihr zugrunde liegende Ratlosigkeit der Theaterrezipienten und schaffenden schreibt sich ein in eine allgemein herrschende Ratlosigkeit gegenüber moderner Kunst.3 Die Philosophie scheint dem nichts entgegensetzen zu können; hat man es in allen Kunstbereichen nahezu aufgegeben, die Philosophie als Gesprächspartnerin zu suchen,4 so erst recht von Seiten der Theaterkunst, die im Gegensatz zur Literatur, Musik und Malerei von der Philosophie nur selten als Kunst überhaupt beachtet wurde. Eine ästhetische Rechtfertigung derselben blieb zu fast allen Zeiten den Künstlern selbst überlassen; einige unter ihnen griffen denn auf ihre eigenen Erfahrungen zurück und erweiterten diese zu den sogenannten ›Künstlerphilosophemen‹,5 welche von philosophischer Seite teils arrogant abgewertet6, teils nachsichtig Zu den Symptomen zählen u. a.:rückgängige Besucherzahlen, Entzug der öffentlichen Unterstützung, Schließung der Institutionen, nicht zuletzt der Mangel an fähigen Nachwuchskräften, sei es auf der Autoren-, Inszenierungs- oder Darstellungsebene. 3 Eine Ratlosigkeit, für die in jüngster Zeit auch der so beliebte Begriff der Postmoderne steht, mit dem nicht nur das zeitgeschmäcklerisch ›Modische‹, sondern, gründend auf den Wurzeln des Begriffs der Moderne (modo als Ablativ von modus), das jetzt gegebene Moment, in welchem das Messen, die Regel gültig bleibt, erfaßt werden soll, eben hierin aber einen Widerspruch in sich bildet. 4 Rüdiger Bubner bringt dies treffend auf den Punkt: »Das Publikum hat sich so sehr daran gewöhnt, daß die Philosophie zu dem, was in den Künsten aktuell vor sich geht, nichts mehr zu sagen weiß, daß die Verwirrung und das rätselnde Staunen bereits zu einer festen Erwartungshaltung geronnen sind. Man ist der Schocks in einem solchen Maße gewärtig, daß aus ihnen der fruchtbare Anstoß zu theoretischer Bewältigung nachgerade verschwunden scheint. Sofern man überhaupt noch Aufklärung erhofft, hält man sich an die Protagonisten jener faszinierenden Bewegung und nicht an verspätete Theoretiker.« (Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt/ M. 1989, 9). Bubners Beobachtung aus der Sicht der Rezipienten läßt sich ohne weiteres auf die Künstler selbst erweitern. 5 Eine Zusammenfassung der ›Theaterkünstler-Philosopheme‹ findet sich in den Sammelbänden: Texte zur Theorie des Theaters, hg. von Klaus Lazarowicz u. Christopher Balme, Stuttgart 1991; Theater im 20. Jahrhundert, hg. von Manfred Brauneck, Hamburg 1989; Joachim Fiebach: Von Craig bis Brecht, Berlin 1975; diesen hinzuzufügen ist von dem Regisseur Peter Brook: Der leere Raum, Hamburg 1969, sowie Jacques Copeau: Appels, Paris 1985. 6 »Sind die Künstler zur permanenten Reflexion genötigt, so ist diese ihrer Zufälligkeit zu entreißen, damit sie nicht in beliebige und amateurhafte Hilfshypothesen, Rationalisierungen von Bastelei oder in unverbindliche weltanschauliche Deklarationen über das Gewollte ausarte« (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 13 1993, 508; vgl. ebd., 497). 2

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berücksichtigt7, teils, angesichts der unbefriedigenden Zugänge philosophischer Untersuchungen, für zumindest nicht »notwendig schlechter« als diese befunden wurden.8 Doch wie auch immer man sie bewerten mag, Dieter Henrich ortet sie zu Recht als »ein Indiz der Enge der philosophischen Theorie«, und dies in einer Situation, in der es nicht als Vorzug gelten kann, »daß kaum eine produktive Beziehung zwischen ihnen und der philosophischen Kunsttheorie besteht«.9 Waren die Beiträge zu solch einer Beziehung von jeher gering, so hat die postmoderne Philosophie die Ratlosigkeit nachgerade zum Programm erhoben, verweigert Antworten und balanciert auf ihren ›fragenden Randgängen‹. Die Theorie steht damit inzwischen vor den ›Spuren‹ der ›Spuren‹ des desintegrierten Subjektes, praktisch aber nimmt die Kunst und auch die Theaterkunst weiterhin einen Platz im Leben der Menschen ein, können sich die Kunstschulen des Andrangs Lernwilliger kaum erwehren. So kommen denn erneut viele Stimmen zur Ästhetik darin überein, daß diese nicht den Leichenredner der Kunst spielen dürfe, die konstruktiven Beiträge aber bleiben aus. Man möchte Roman Jakobson zustimmen, wenn dieser vermerkt: »[n]ach der Psychoanalyse und der Gestalttheorie ist die Semiotik der genuine Beitrag des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen Ästhetik«.10 Einen Beitrag zur Theaterkunst finden wir allerdings auch darin nur in äußerst beschränktem Maße.11 Soweit zu einer Ausgangssituation der Ratlosigkeit, für welche ein Werk paradigmatisch wurde, ein Werk, das zunächst im Papierkorb zu landen drohte, dann zu einem ›Klassiker der Moderne‹ avancierte und seinem Autor letztlich den Nobelpreis einbrachte: En attendant Godot. Daß das Warten auf Godot vergeblich ist, weiß man inzwischen, daß es eine der großen Stärken des Menschen ist, die Hoffnung nicht aufzugeben, auch. Und wenn der Theaterkünstler nun nicht nur wartet und hofft, sondern sich auf die Suche nach Antworten begibt, so stößt er früher oder später auf die Hegelsche Ästhetik.

»Als zureichende Deutung der Situation der Kunst können sie nicht gelten« (Dieter Henrich: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart [Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel], in: Wolfgang Iser [Hg.]: Poetik und Hermeneutik 2, München 31991, 11-32, hier 13). 8 Willi Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel, in: Philosophisches Jahrbuch, 73. Jg., Freiburg / München 1965/66, 75-94, hier 78. 9 Dieter Henrich: Kunst und Kunstphilosophie [Anm. 7], 13. 10 Roman Jakobson: Semiotik, Frankfurt/M. 1992, 30. 11 Einige Bezugspunkte liefern in Verlängerung der Semiotik die Untersuchungen Ecos zum »offenen Kunstwerk« (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977). 7

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II. Warum Hegel und die Hegelsche Ästhetik ? Dieser Frage wiederum kann man vorsichtig begegnen und Hegels Werk im allgemeinen mit Pöggeler zunächst als »Mittel der Bewußtseinsbildung« bezeichnen.12 Als solches vermag es mit Sicherheit Orientierungshilfen zu bieten und die Standpunkte im Rahmen einer künstlerischen wie ästhetischen Krise zu beleuchten. Hegel selbst beansprucht aber mehr, er beansprucht im Rahmen seiner Vorlesungen über die Ästhetik und näher in dem darin enthaltenen Teil über die »dramatische Poesie« wesentliche Bestimmungen und Begründungen der dramatischen Kunst herauszuarbeiten.13 Als wesentliche müssen sie zeitlos gültig sein. Eben diese Gültigkeit nun wurde man im Verlauf der Hegel-Rezeptionen nicht müde zu bestreiten und Hegels Kunstauffassung als überholt, da klassizistisch, abzutun.14 Zumindest letztere Abwertung haben Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert in vielen ihrer Arbeiten grundsätzlich überzeugend widerlegen können, doch hält der Anspruch Hegels konkret den mit Becketts Werk evident gewordenen Problemen stand ? Hier bietet sich Becketts Werk als Prüfstein, an dem sich die Suche nach einem grundlegenden Weg mit Hegel zu messen hat, an dem sich Hegels strukturelle Bestimmungen der Theaterkunst unter der Rücksicht ihrer Erkenntnisleistung als wesentliche und damit zeitlos gültige, m. a.W. als bleibend aktuelle zu bewähren haben. Ein Prüfstein somit auch, ob ein »Zurück« zu Hegel angesichts gegenwärtiger Probleme denn überhaupt bei mehr landen kann als lediglich bei »Hegelschen Versatzstükken«15. Vorweggegriffen sei ein dezidiertes Ja; zumindest manchem Theaterschaffenden wurde auf dem Weg zurück zu Hegel deutlich, daß uns dieser noch immer um viele Nasenlängen voraus ist.

Otto Pöggeler: Perspektiven der Hegelforschung, in: Hegel-Studien, Beiheft 11, Bonn 1974, 79102, hier 81. 13 Im Rahmen seines Berliner Wirkens hielt Hegel diese Vorlesungen bekanntlich vier Mal: 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29, wobei er den dritten »Individuellen Teil« der Ästhetik mit den Charakteristiken einzelner Künste und Kunstwerke erst in der Vorlesung 1828/29 als eigenständigen Teil behandelte. 14 Als stellvertretend für diese Richtung sei Helmut Kuhn genannt (ders.: Schriften zur Ästhetik, München 1966; ders.: Hegels Ästhetik als System des Klassizismus, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 40, Berlin 1931, 90-105; ders.: Die Gegenwärtigkeit der Kunst nach Hegels Vorlesungen über Ästhetik, in: Friedhelm Nicolin / Otto Pöggeler (Hg.): Hegel-Studien, Beiheft 11, Bonn 1974, 251-269. 15 »Sofern das ›Zurück zu Hegel‹ von den gegenwärtigen Problemen vorgezeichnet sein soll, wird man nirgendwo anders ankommen als bei den gegenwärtigen Problemen mit Hegelschen Versatzstücken« (Wolfhart Henckmann: Was besagt die These von der Aktualität der Ästhetik Hegels ?, in: Reinhard Heede / Joachim Ritter [Hg.]: Hegel-Bilanz, Frankfurt/M. 1973, 101-145, hier 144). 12

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III. Warten auf Godot – Ein Kunstwerk ? »›Was bedeutet dein Werk ?‹ so fragt ihr den Bildner des Schönen. Frager, ihr habt nur die Magd, niemals die Göttin gesehen.« Friedrich Schiller, Epigramme.

Begibt man sich auf den Weg, um Hegel und Beckett zusammenzuführen, so gilt es zunächst, all die Warnungen zu umgehen, die ein mögliches Zusammentreffen der beiden jenseits aller Möglichkeiten verbannen. Hier der Weg zum klassizistischen Reaktionär mit harmonistischen Bestrebungen16, dort zum Antikünstler, der sich den Dissonanzen widmet, dazwischen scheinbar nichts als Abgründe. Nur eines scheint ihnen gemein, die Umstrittenheit. Hier zeigt die Hinwendung zu Becketts Godot, daß es, ausgenommen Shakespeares Werke, wohl zu keinem anderen Theaterstück eine solche Vielfalt an bis heute nicht abreißender, zwischenzeitlich zum Teil in Sammelbänden aufgenommener Sekundärliteratur gibt. Versucht man einen Überblick über diese Arbeiten zu gewinnen, bieten sich verschiedene Ansatzpunkte für mögliche Gruppierungen. Da wären die ernst zu nehmenden Arbeiten und jene, in denen es, trotz ihres betonten Anspruchs, von Verwechselungen zwischen Begriffen wie Moral und Ethik, Philosophie und schlichter Weltanschauung, Logik und simplem Kalkül nur so wimmelt. Da wäre das Lager der Begeisterten, das sich unterteilen läßt in jene, die das Fazit eines nihilistischen Stückes ziehen, und jene, die es als positiv, sei es im religiösen, moralischen oder metaphysischen Sinne deuten. Im Gegensatz dazu die Gegner, welche (kurioserweise) dieselben Gründe wie erstere geltend machen. Zwei große Gruppen bilden sodann die, welche das Werk schlicht als Beleg für ihre jeweilige gesellschaftskritische Weltanschauung benutzen, und jene, die zumindest versuchen, eine Anschauungsweise daraus zu deduzieren; beiden Gruppen gemeinsam ist die Vorgehensweise, mit aus dem Zusammenhang gerissenen Textzitaten zu operieren. Eine chronologische Erfassung über die Zeitspanne von inzwischen 50 Jahren sodann zeigt ihrerseits, daß sich zwar das Gewicht von Versuchen einer Botschaftsinterpretation zu einer nüchterneren Betrachtung formaler Kriterien verlagert hat, sich jedoch die Kommentare jüngeren Datums grundsätzlich nicht eben durch eine Horizonterweiterung auszeichnen.17

16 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [Anm. 6], u. a. 119: »[…] blieb Hegels Ästhetik klassizistisch reaktionär.« 17 Ein gar erschreckendes Beispiel der zweiten Interpretationswelle in den 60er und 70er Jahren bieten Fränzi Maierhöfers Interpretationen (Fränzi Maierhöfer: Samuel Beckett. Warten auf Godot, München 1973; ders.: Becketts forcierte Negation, in: Stimmen der Zeit, 180. Bd., 105-118, Freiburg 1967).

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Die Gruppierungsversuche ließen sich fortsetzen, doch gleichgültig aus welcher Richtung man sie vornimmt, man endet jeweils auf einem Schlachtfeld.18 Es stellt sich die Frage, ob die Widersprüchlichkeit den Interpreten anzulasten ist oder ob Warten auf Godot nicht gar einen Willkürstreich Becketts darstellt, ein heterogenes Flickwerk und als Ganzes tatsächlich nicht faßbar. Zur Verdeutlichung des Problems seien im folgenden die Extrempositionen einiger Gegensatzpaare aufgeführt, zwischen denen jeweils ein breites Spektrum zum einen oder anderen Extrem tendierender Standpunkte zu finden ist.19 Die überwiegende Mehrzahl der Kritiken hat sich mit der Bedeutungs- bzw. der Botschaftsproblematik des Werks beschäftigt, so v.a. die philosophischen Beiträge. Diese bemühen sich um die Herausarbeitung philosophischer Grundlagen, philosophischer Einflüsse, um eine Sicht des Werkes selbst als eine philosophische Stellungnahme: es ist die Rede von der »weithin philosophischen Tendenz des Stoffes«, von der Möglichkeit, das Stück »als eine anti-cartesianische Meditation« zu interpretieren, von der Beobachtung, daß »Augenblicke der Clownerie zu einer dramatisierten Philosophie« werden, und sogar eine Hutnummer »nimmt philosophische Bedeutung an«. Was aber den einen eine metaphysische Grundlage, ist den anderen die reine Absurdität: Die philosophische Ortung bewegt sich zwischen einer »platonisch-gotischen Parabel«, einem »Variété-Sketch der Pensées von Pascal«, »Bekketts Existentialismus […] Heideggerscher Spielart« und einem »Skeptizismus, der die Welt der menschlichen Prätentionen auf eine nihilistische Absurdität reduziert«. Oft erwähnt wird »die Dialektik« des Werks, zumeist verstanden als ein Zweischritt: Negation – Position oder vice versa.20 Unter näherhin religionsphilosophischer Rücksicht finden wir das Stück in seiner religiösen Problematik entweder dem auf Kierkegaard basierenden »christlichen Existentialismus« oder aber einem »nihilistischen Existentialismus« nach Sartre 18 Literarische Zeitschriften erlebten in der Tat wahre Schlachten zwischen veröffentlichten Interpretationen, diese abwehrenden Antworten und Rückantworten: so z. B. zwischen B. Dukore und T. Markus in Ausgaben des Drama Survey von 1962/1963. Eine kämpferische Verhartnäckigung auf das richtige Verständnis zeigte auch Norman Mailer, der nach einer Veröffentlichungsreihe über die ›Impotenz‹ als Verständnisparameter des Stücks vom Verleger entlassen wurde und selbst eine ganzseitige Anzeige zum Thema bezahlte. (Norman Mailer, in: The Nation, 10.11.1956). Vgl. Melvin J. Friedman, in: Modern Drama IX – 1966, 300 f. 19 Es wird hierzu als repräsentativ für das Echo im deutschsprachigen Raum v.a. auf die Materialien zu Warten auf Godot – Bd. 1 (Materialien zu Samuel Beckett ›Warten auf Godot‹, hg. von Ursula Dreysse, Frankfurt/M. 1973) und Bd. 2 (ebd., hg. von Hartmut Engelhardt u. Dieter Mettler) – zurückgegriffen, in denen namhafte Autoren mit philosophischen, theologischen, psychoanalytischen, literatur- und theaterkritischen Ansätzen nebeneinandergestellt werden und die mit 36 Beiträgen aus dem anglo-amerikanisch-, französisch- und deutschsprachigen Raum, verfaßt zwischen 1953 u. 1975, eine repräsentative Auswahl der meistvertretenen Ansätze und Standpunkte bieten. Im folgenden zitiert als MzWaG. 20 MzWaG, Bd. 2: Jerome Ashmore: Philosophische Aspekte in Godot, 9; Robert Champigny: Interpretation von ›En attendant Godot‹, 25; Darko Suvin: Becketts Purgatorium, 135; Edith Kern: Drama ohne Handlung, 73/79 f.

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zugeordnet. Während Beckett dabei für die einen »in Godot die ganze klassischchristliche Tradition verspottet«, bietet er für andere, die auf eine Kreuzessymbolik des Baums und biblische Dimensionen verweisen, eine »religiöse Allegorie« und Parabel, ein »modernes Moralitätendrama über bleibende christliche Themen« oder »das Anti-Mysterienspiel unserer Zeit […] eines der wenigen experimentellen Dramen, in denen Christus sowohl über Ödipus wie Priapus und Narcissus gesiegt hat«.21 Unter Rückgriff auf den Titel En attendant Godot versuchen sich viele Beiträge in einer Themenbestimmung; es bieten sich drei Möglichkeiten und alle drei werden verfochten: erstens das Warten, einerseits nihilistisch interpretiert, andererseits als »Geduld, passiver Widerstand«, als »die schweigende Rebellion des Geistes« und die »größere Tugend«; zweitens die Tätigkeiten während des Wartens als die eigentlichen Themen und drittens »Godot«. Die Auseinandersetzung zwischen den ›Godot-Jägern‹ reicht von der Gleichung »Godot gleich Gott« über Godot gleich der »Kartesianische Kentaure« zu Godot gleich die Negation von Gott.22 Gemeinsam ist letzteren, daß sie Becketts eigene Antwort tunlichst ignorieren.23 Ausgehend von der Themensuche bewegt sich das Spektrum der Botschaftsdeutungen sodann zwischen destruktiver, passiv pessimistischer und optimistischer Aussageabsicht Becketts.24 Dazwischen liegt z. B. die Bedeutungssuche mit Heidegger, die u. a. Pozzos Hilferuf und Heideggers »Ruf des Gewissens« in Analogie setzt und, darauf aufbauend, auf eine ethische Dimension des Werkes verweist, in welcher »das ›Gewicht‹ der Verzweifelung genau aufgewogen [wird] vom ›Gewicht‹ des Optimismus«25. Wendet man sich schließlich dem wesentlich kleineren Feld der Formanalysen zu, so bewegt man sich auch hier zwischen diametral entgegengesetzten Standpunkten und Folgerungen. Gelangen die einen zu dem Schluß: »die Form des Stücks ist streng und klassisch, es hält alle Einheiten ein«, ein »wirklich dichterisches Theater« mit »Vollkommenheit der Form«, da Beckett »das Ganze in die klassische Zusammengetragen wurden diese entsprechend obiger Reihenfolge von Charles McCoy, Frederick Hoffman, Katherine M. Wilson, Jacques Guicharnaud, Alain Robbe-Grillet, Ruby Cohn, G.S. Fraser und Heinz Politzer vertretenen Positionen von Melvin J. Friedmann: Krritik(er) !, MzWaG, Bd. 2, 357-368, hier 360 ff. 22 MzWaG, Bd. 2: Rosette Lamont: Becketts Metaphysik, 156; Bernard Dort: En attendant Godot, 243; Melvin J. Friedman: Krritik(er) !, 363; Jerome Ashmore: Philosophische Aspekte in Godot, 18; Hugh Kenner: Samuel Beckett – eine kritische Studie, 213; Edith Kern: Drama ohne Handlung, 80. 23 »J’ai demandé à Sam qui ou quoi était Godot, mais – heureusement – pas quelle en était la signification et il m’a répondu, après un moment de réflexion visible […], que s’il l’avait su, il l’aurait dit dans sa pièce.« (Alain Schneider: Comme il vous plaira, in: Tom Bishop u. Raymond Federman (ed.): Cahier de l’Herne – Samuel Beckett, Paris 1976, 75-102, hier 85. 24 MzWaG, Bd. 2: Darko Suvin: Becketts Purgatorium, 134; Jerome Ashmore: Philosophische Aspekte in Godot, 9; Edith Kern: Drama ohne Handlung, 81. 25 D.H. Hesla, Zeit, Grund und das Ende: das Drama, in: MzWaG [Anm. 19], Bd. 2, 51-72, hier 71. 21

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Reinheit der Form kleidet«, dann verkünden andere, ihre Untersuchung ergebe, die Regeln, die bislang das Drama beherrscht haben, erwiesen sich »als nicht anpassungsfähig genug«. Für wiederum andere ist das Werk die »Umkehrung eines klassischen Stücks« und vollkommen »anti-theatralisch«. Klassisch an Becketts Stück bleibt für Tynan nur die Erfüllung jener Definition des Dramas, die da besagt, »ein Stück […] ist im wesentlichen ein Mittel, zwei Stunden im Dunkeln zu verbringen, ohne sich zu langweilen«, und auch das wird von jenen bestritten, die darin eine Provokation zur Langeweile sehen wollen.26 Weiterführende Deutungen einer ›Ästhetik‹ Becketts spannen den Bogen von einem »Kunstcredo« Becketts, demzufolge er zeigen will, »daß jeder Mensch ein Künstler ist und Leben und Kunst eines sind«, über eine »Kritik« Becketts an der schauspielerischen Kunst, der zufolge »in diesem Stück die Handlung, die Kunst des Schauspielers, die dramatische Diktion abgebaut werden«, bis zu einem »ästhetischen Nihilismus« Becketts und seiner vermeintlichen Intention, »Kunst überhaupt als Versatzstück« gegen das Theater einzusetzen, mit Blick auf »eine Selbstabschaffung des Dramas, die ihm nicht erreichbar, aber zeigbar ist«.27 Diese Liste gegensätzlicher Deutungen ließe sich noch lange fortsetzen, sei es in der Bestimmung des eigentlichen Themas, in der Betrachtung der Figuren, der formalen Elemente oder z. B. übergreifend in der Auffassung von Becketts Spezifikation einer »Tragikomödie«. Hinsichtlich aller nur denkbaren Aspekte stößt man fast ohne Ausnahme auf eine Reduktion der komplexen Problematik des Werks, sei es durch klare Nichtberücksichtigung der evidenten Gegensätze oder aber durch Subsumierung der einen unter die anderen. Gemeinsam ist einer Vielzahl der Arbeiten, daß sie das Werk in politische, sozialkritische oder sonstige Kausal- und Finalzusammenhänge stellen, im Rahmen derer es sich dann als Ganzes immer wieder in Vagheit verflüchtigt.28 Zum Abschluß dieser kurz umrissenen Bestandsaufnahme sollen zwei für den vorliegenden Kontext relevante Auffälligkeiten hervorgehoben werden. Erstens berücksichtigt die Mehrheit der Beiträge in keiner Weise eine Bühnenverwirklichung des Werks – als Position klar in der Aussage formuliert: »Stücke werden heute ebensosehr für das große Lesepublikum geschrieben wie für die relativ wenigen, die die MzWaG, Bd. 2: A. Lewis: Contemporary Theatre, 366; M. Robinson: Das Theater, 301 f.; K. Tynan: Waiting for Godot, 105/107; Bernard Dort: En attendant Godot, 247; Robert Champigny: Interpretation, 25. 27 MzWaG, Bd. 2: L. E. Harvey: Kunst und das Existentielle in ›En attendant Godot‹, 49; Dieter Mettler: Formkategorien …, 277; R. Cormier u. J. L. Pallister: En attendant Godot, 240/242; Hartmut Engelhardt: Leute ohne Bedeutung, 352/356. 28 Hartmut Engelhardt und Dieter Mettler formulieren dies in einer Zusammenfassung der von ihnen herausgegebenen Materialien wie folgt: »Der höchst gemischte, theoretisch disparate Motive entsprechend verwischende Diskurs reagiert in seiner Vagheit auf ein Stück, das sich ihm anders zu entziehen scheint.« (MzWaG, Bd. 2, 369). 26

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Aufführung sehen«29. Die Aufführung dieses Werks wäre damit also ein überflüssiger Sahnetupfer auf einer (schlecht genießbaren) Torte. Das mit Abstand Auffälligste aber ist zweitens die Tatsache, daß der Begriff des Kunstwerks aus dem Vokabular der Interpreten gestrichen zu sein scheint. Während Begriffe wie Metaphysik, Ontologie, Dialektik, Ethik und Moral hemmungslos eingesetzt werden, ist bereits im Umgang mit dem Begriff Ästhetik große Vorsicht zu bemerken, nach dem des Kunstwerks sucht man so gut wie vergeblich. Die wenigen, die das Werk zumindest mit dem Kunstbegriff im allgemeinen konfrontieren, arbeiten ausschließlich mit den aristotelischen Maßstäben als höchster und einziger Instanz.30 Mag zwar der Beckett verliehene Nobelpreis einen wie auch immer gearteten Kunstcharakter garantieren, so bleibt doch auch dessen Begründung tunlichst für jedermann offen: »Récompensant une œuvre qui, sous de nouvelles formes romanesques et théâtrales, a transmué la misère de l’homme moderne en son élévation.«31 Bedeutet dies aus der Optik der Kunst, daß es tatsächlich keine gültigen Kriterien mehr für eine ästhetische Orientierung gibt, daß wir nur noch die Wahl zwischen Geschmacksurteilen und gesellschaftskritisch bestimmten Werturteilen haben ? Bedenklich stimmt eine Beteuerung, mit der Harvey seine Studie beschließt: »En attendant Godot in Begriffen der Kunst zu betrachten, heißt keineswegs, es vom Leben abzutrennen.«32 Doch bevor wir, in der Überzeugung, daß die Phänomene moderner Theaterkunst als solcher sehr wohl philosophisch erfaßbar sind und der Rückfall in hilflose Geschmacksurteile nicht unvermeidbar ist, den Weg einschlagen, auf welchem die durch Beckett aufgeworfenen Fragen ihre Antworten in den Hegelschen Bestimmungen finden könnten, gilt es, jenen Denker zu berücksichtigen, der eine solche Begegnung vehement negiert und meint, der geeignetere Gesprächspartner zu sein.

L.E. Harvey, Kunst und das Existentielle [Anm. 27], hier 31. So z. B. Robinson, Mettler, Transdale, Kenner. 31 Offizieller Text der Kommission anläßlich der Verleihung des Preises 1969, in: Deirdre Bair: Samuel Beckett, Paris 1990, 540. 32 L.E. Harvey: Kunst und das Existentielle [Anm. 27], 50. 29 30

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IV. Warum nicht Adorno ? Gemeinsam eingebunden in umfassendere ästhetische Betrachtungen finden sich Hegels Ästhetik und Becketts Werk bekanntermaßen bei zwei Philosophen: Lukács und Adorno. Doch wird Beckett bei Lukács mit Hegelianischen Mitteln als dekadent des Kunstweges verwiesen, so dient er dagegen bei Adorno als richtungsweisender Künstler-Gefährte auf einem Weg, an dessen Rande eifrig an Gräbern für die Hegelsche Ästhetik geschaufelt wird33. Sowohl bei Lukács als auch bei Adorno werden also beide gegeneinander ausgespielt, statt in irgendeiner Form aufeinander zugeführt zu werden. Und mehr noch, Adorno erhebt den Anspruch, in eben seiner Ästhetischen Theorie Aufschluß darüber zu geben, wie ein kunstnaher und zugleich kohärenter philosophischer Zugang zu Becketts Werk jenseits der Hegelschen Ästhetik möglich sein mag.34 Tatsächlich dient in der ÄT Becketts Schaffen, neben vereinzelten anderen Beispielen vor allem aus dem Bereich der Musik, als Paradigma moderner Kunst. An allen entscheidenden Stellen wird auf Becketts Arbeit verwiesen, allerdings – und dies ist ebenso verwunderlich wie die Tatsache, daß kaum andere Künstler und ihre Arbeiten herangezogen werden – zumeist auf seine Arbeit im allgemeinen. Verwunderlich, da Adorno Hegel immer wieder die Vorherrschaft des Allgemeinen über das Besondere vorwirft und als Schauplatz der Ästhetik die Erfahrung des einzelnen ästhetischen Gegenstandes fordert (vgl. ÄT, 513), denn »[d]er Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen« (ÄT, 193). Immerhin aber hat Becketts Schaffen hier einen Rahmen gefunden, in welchem es als Kunstschaffen ausgewiesen wird und seine Werke insgesamt als Kunstwerke. Doch betrachtet man näherhin die Rolle, die Becketts Werk in Adornos Betrachtungen erhält, so zeichnet sich die eines Statthalters ab, in einem unter der Regentschaft des Weder-Noch 35 stehenden Niemandsland moderner Kunst; freilich die eines wider Willen erkorenen, in Ketten gelegten Statthalters. Die Gefilde, in Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [Anm. 6]; im folgenden abgekürzt zitiert als »ÄT«. Zitate aus der ÄT werden mit Seitenangaben im laufenden Text vermerkt. 34 Vgl. u. a. den expliziten Anspruch Adornos: »Ein Fragment von F. Schlegel sollte der Ästhetischen Theorie als Motto dienen: ›In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst‹. Adornos Absicht war, das Werk Samuel Beckett zu widmen.« (ÄT, Editorisches Nachwort, 544). Adornos Interesse an Becketts Arbeiten wird des weiteren deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Lukács (Erpreßte Versöhnung – Zu G. Lukács ›Wider den mißverstandenen Realismus‹, in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur II, Frankfurt/M 1979, 152-187; im folgenden zit. als »EV«) sowie in seinem »Versuch Becketts Endspiel zu verstehen« (ebd., 188-236; im folgenden zit. als »VEV«). 35 So wird z. B. zum Verständnis des »anorganischen Aspektes der Dichtung Becketts« auf dieses »verborgene Gesetz« verwiesen: »Kunst, als antizipierende Reaktionsform, kann weder mehr – wenn anders sie es je konnte – unberührte Natur sich einverleiben noch die Industrie, die sie versengte« (ÄT, 325; Herv. E. K.). 33

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denen Beckett hier zu walten hat, sind scharf von allen bisherigen Ästhetiken abgegrenzt, welchen Adorno vorwirft, metaphysische, ontologische und epistemologische Substrate in die Kunst hineingepumpt zu haben.36 Aber es zeigt sich, je weiter er seine Theorie entfaltet, daß er mit seiner, als solcher streckenweise sicherlich berechtigten, gesellschafts- und kulturkritischen Weltanschauung genau dieses tut. Aus eben seiner Weltanschauung sowie aus den programmatischen Zielen einzelner künstlerischer Bewegungen deduziert er ›alleingültige‹ Überlebensmöglichkeiten der Kunst und verwandelt seine Deduktionen in Forderungen, macht sie normativ für Kunst und Ästhetik.37 Er postuliert den Sturz der Theologie, der Ontologie, der Metaphysik, dabei natürlich den des Hegelschen Systems,38 und räumt sich so den Weg frei in jenes Niemandsland, dessen Kunst und Ästhetik seiner Ansicht nach bedürfen; darin aber orientiert er selbst sich mit Hilfe von Wertprämissen,39 welche er wiederum normativ setzt für die Kunst. Adorno, für den das, was als Wahrheit gelten kann, geschichtlich-gesellschaftlich bedingt ist, duldet in der heutigen Gesellschaft keinerlei Affirmation, keinen Optimismus, keinerlei Art von Entwicklungs-, Versöhnungs-, Freiheits- oder sonstigen Glaubensformen mehr. Das zwingt ihn, alles Affirmative als »nicht mehr möglich« zu deklarieren40 oder aber, wie etwa Würde und Feierlichkeit in der Kunst, als ideologisch und zur Lächerlichkeit verurteilt (vgl. ÄT, 65). Seine eigene Kategorie des Neuen dagegen deduziert Adorno aus Postulaten, wie »der Katastrophe des Sinns«, als »keine subjektive Kategorie, sondern von der Sache erzwungen«, und gleich einem Zauberstück folgt sodann, daß durch das Neue »Kritik, der Refus, zum objektiven Moment der Kunst selbst wird« und somit kein Kunstwerk mehr ohne diesen gelingen kann (vgl. ÄT, 37 ff). Zu diesen Vorwürfen vgl. z. B. ÄT, 382 ff. / 493. Siehe u.v.a. Beispielen: »Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden. Sie muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht« (ÄT, 10; Herv. E. K); »Keine Wahrheit der Kunstwerke ohne bestimmte Negation« (ÄT, 195). Mit Berufung auf Sartre denunziert Adorno im Rahmen dieser seiner Postulate die Autonomie von Kunst im Prinzip des l’art pour l’art als ideologisch und als eine Neutralisierung der Kunst durch das Bürgertum (vgl. ÄT, 351). Er läßt hierbei keinerlei andere Zusammenhänge dieses Prinzips zu Wort oder gar zur Geltung kommen, was, um mit Benjamin zu sprechen, der Sache in keiner Weise gerecht wird, denn »[d]iese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, ist unerläßlich für eine Betrachtung, die es mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu tun hat«. (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 81975, 20). 38 Vgl. z. B. ÄT, 403 / 506/524, oder VEV [Anm. 34], 190. 39 Siehe u.v.a.: Humor ist »abstoßender als alles Abstoßende«, deshalb muß die Kunst ihm entsagen (vgl. ÄT, 79); oder: »›Das Bedürfnis nach Kunst‹ erniedrigt die Kunst zum Exempel des mundus vult decipi und deformiert sie […] seitdem die Bedürfnisse von der falschen Gesellschaft integriert worden sind und zu falschen gemacht« (ÄT, 34; Herv. E. K.); oder: »daß sie [die Kunst] aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf« (ÄT, 55; Herv. E. K.). 40 Das Tragische als »Affirmation des Todes«, als »Idee, im Untergang des Endlichen leuchte das Unendliche auf; der Sinn des Leidens« (ÄT, 49), ebenso wie die Komik fallen dem zum Opfer. 36 37

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Er wirft insbesondere Hegel vor, das Andere nicht gewürdigt, wegerklärt zu haben (vgl. ÄT, 516), er selbst aber macht einzig das Andere zur Norm und deklariert somit das dem Anderen Andere als unwesentlich weg. Damit führt sein einseitiger und darüber hinaus absolut gesetzter Zugang,41 wenn überhaupt, zu jeweils nur einer Seite der Beckettschen Widersprüchlichkeit. Zudem ist ihm Becketts Werk im Rahmen seiner alles überschattenden Forderung nach unversöhnlicher Negation mehr als nur das Paradigma moderner Kunst. Zieht man zur ÄT noch den Versuch, Becketts Endspiel zu verstehen, und seine Kritik an Lukács hinzu, wird deutlich, daß er Beckett zum Knappen macht in seiner Bekämpfung philosophischer Traditionen und Strömungen, v.a. des Idealismus, des Existentialismus und des sozialistischen Realismus. Adorno, für den der Idealismus zu harmonistisch, der Existentialismus zu konformistisch und der sozialistische Realismus u. a. zu objektivistisch ist, liest in Beckett alle ›Tugenden‹ hinein, um gegen diese Richtungen anzukämpfen, um v.a. die »Entfremdung« und »Depotenzierung« des Subjekts sowie dessen Unversöhnlichkeit mit dem Objekt herauszustellen und jeglichen Autonomie- und Seinsanspruch des Subjektes unglaubwürdig zu machen.42 Dies bedeutet, Becketts Werke in eine Richtung zu beugen, die, falls überhaupt in dieser Form vorhanden, keinesfalls deren einzige ist. Im Zuge seiner Sicht moderner Kunst deklariert er Beckett zum Meister des Unversöhnlichen, der es in der Gestaltung des Dramas schafft, die Absenz von Sinn auf entscheidenden Ebenen zu etablieren, somit das Drama in Opposition zu Metaphysik, Ontologie und auch Anthropologie zu bringen und die Möglichkeit von Philosophie bzw. Theorie überhaupt in Frage zu stellen.43 Meister auch der dramaturgischen Gestaltung konkreter Negation44, welche für Adorno in der Kunst eine Position wird, eine »Verzerrung der Verzerrung« (EV, 175), »objektive Polemik« (EV, 166). Damit und darüber hinaus erfüllt ihm Beckett alle gesellschaftskritischen und somit moralischen Pflichten. Ließe er allerdings Beckett wirklich zu Wort kommen, müßte er Diese Absolutsetzung ist nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, hat sie sich doch, nach Adornos eigener Aussage (vgl. Minima Moralia, Frankfurt/M. 91984, 8), an dialektischer Argumentationsweise geschult. Sich sehr wohl bewußt, daß er den Traditionen im Zuge einfacher Negation verfangen bliebe, begibt er sich, ähnlich wie Derrida, auf Randgänge, leugnet weder das reale noch das geistige Moment, weder das Schöne noch das Ideal in der Kunst, sondern reduziert sie entweder auf jeweils beiläufige Momente, auf Sprungbretter nur für ihr Anderes, um dieses Andere als wesentlich und absolut zu setzen, oder stellt sie, wie z. B. die Versöhnung, in eine schimärische, nur von Sehnsucht getragene Ferne (vgl. z. B. ÄT, 34 f. / 55 / 79). 42 Zum Beispiel: »[D]ie unversöhnte Realität duldet in der Kunst keine Versöhnung mit dem Objekt« (VEV, 200); oder: »Der Einzelne selbst ist als geschichtliche Kategorie, Resultat des kapitalistischen Entfremdungsprozesses und trotziger Einspruch dagegen, als ein wiederum Vergängliches offenbar geworden. Die individualistische Position gehörte polar zum ontologischen Ansatz eines jeglichen Existentialismus, auch dessen von ›Sein und Zeit‹. Becketts Dramatik verläßt sie wie einen altmodischen Bunker.« (VEV, 199). Vgl. auch ÄT, 52 f. 43 Vgl. z. B. VEV, 188-192, und 196 f. 44 Vgl. z. B. VEV, 234, oder EV, 166. 41

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hören: »Mais les valeurs morales ne sont pas accessibles. Et on ne peut pas les définir. Pour les définir, il faudrait un jugement de valeur, ce qui ne se peut. C’est pourquoi je n’ai jamais été d’accord avec cette notion de théâtre de l’absurde. Car là il y a jugement de valeur. […] La négation n’est pas possible. Pas plus que l’affirmation. […] C’est encore porter un jugement de valeur.»45 Daß Adorno Becketts Werk nur so sieht, wie er es will und braucht, zeigt wohl am deutlichsten das Phänomen des Beckettschen Humors, welcher den Begriff der »Tragikomödie« zu einer künstlerischen Instanz werden ließ. Nun ist aber Humor für Adorno »abstoßender als alles Abstoßende« (ÄT, 79) und besorgt das Mißlingen der Kunst (ÄT, 32), also deutet er ihn bei Beckett wieder einmal als etwas Negiertes: »das Urteil über ihn wird von Beckett exekutiert« (VEV, 211). Becketts Werken aber ihren Humor abzusprechen, bedeutet mehr als eine Reduktion, es kommt vielmehr einer vollständigen Kastration gleich. Beckett selbst hat gegen derartige Beschneidungen auf das schärfste protestiert. Aber auch für diesen Fall ist Adorno gewappnet, hat vorsichtshalber Inhalt und Stoff hypostasiert, diese sind »immer auch schon Subjekt« und der Gedanke einer Formung durch das ästhetische Subjekt eine gar »primitive Ansicht« (ÄT, 528). Dies verhindert jedoch nicht, daß sich die ÄT durch derart einseitige Auslegung zu der Mehrzahl jener Zugänge zu Warten auf Godot gesellt, die sich zwar oftmals durch in sich schlüssige Argumentationen kennzeichnen, aber letztlich Gedanken, Symboldeutungen und philosophische Positionen von außen in das Werk hineintragen und sich seines Reichtums und nicht zuletzt des ihm immanenten Humors gar nicht erst bewußt werden: »Une œuvre comme Godot risque de devenir une auberge espagnole ouverte à toutes les interprétations qu’on y apporte si on ne prend pas en compte l’ensemble de sa construction et un aspect ici dangereusement occulté, l’humour, fût il noir.«46 Und so bedeutet Warten auf Godot noch heute Warten auf Antworten seitens der Philosophie, Antworten, die uns ein »Zurück« bzw. ein »Nach Vorn« zu Hegel zu geben vermögen.

45 46

Charles Juliet: Rencontre avec Samuel Beckett, Montpellier 1986, 27/49. Jean-Pierre Ryngaert: Lire En attendant Godot de Beckett, Paris 1993, 147.

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V. Die dramatische Poesie »Die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene, wenn sie nicht für Eines wäre, für sich selbst sowohl als auch für den Geist überhaupt.« (Ä, I 21)

Aus der Optik des Beckettschen Werks fällt der erste Blick in die Vorlesungen über die Ästhetik 47 zweifelsohne auf erschreckende Formeln, trifft gar auf den ersten Seiten bereits auf die provozierende Feststellung: »Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist ›Philosophie der Kunst‹ und bestimmter ›Philosophie der schönen Kunst‹« (Ä, I, 13). Wenn Hegel somit die schöne Kunst ausdrücklich und programmatisch zum Thema seiner Untersuchung macht, bestätigt dies nicht von vorne herein die klassizistischen Vorwürfe, sollte also nicht auch Adorno Recht haben mit seiner abschätzigen Bemerkung, Hegel habe zwar das Schöne definiert, nicht aber die Kunst48 ? Zwar verwahrt sich Hegel deutlich gegen eine Reduktion des Schönen auf das nur Gefällige oder etwa dem Geschmacksurteil Unterwor47 Im folgenden zitiert als Ästhetik, abgekürzt als »Ä«. Zitiert wird nach der auf der Grundlage der Werkausgabe von 1832-1845 von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (1986) neu edierten Ausgabe in ihrer dritten Auflage von 1992 (Vorlesungen über die Ästhetik, Theorie Werkausgabe, Bd. 13/14/15). Im Zeichen eines ersten Einblicks in die spezifische Thematik fiel die Wahl auf diese Ausgabe als Textgrundlage, trotz der Bedenken, die sich durch die neueren Forschungen Annemarie Gethmann-Sieferts ergeben haben. – Gethmann-Siefert hat neben Hegels ästhetischen Grundlegungen im breiten Spektrum seiner Schriften die Vorlesungszeugnisse zu den Vorlesungen über die Ästhetik untersucht, zuletzt intensiv im Rahmen ihrer Herausgabe von Hothos Nachschrift der zweiten Berliner Vorlesung vom Sommersemester 1823. Aus ihren Forschungen resultiert, dokumentiert an zahlreichen Einzelbeispielen, daß der nach Hegels Tod von seinem Schüler Gustav Hotho 1835 herausgegebene, uns seit nunmehr 165 Jahren als Hegels Ästhetik bekannte Systemteil in einigen Punkten ein Meisterwerk der Fälschung ist. Gethmann-Siefert zeigt auf, daß in der begrifflichen Arbeit an den strukturellen Bestimmungen der Kunst, aber auch im dritten »Individuellen Teil« mit den Charakteristiken einzelner Künste und Kunstwerke, Hotho für die Druckfassung einschneidende Verfälschungen vorgenommen hat, was schon unter Zeitgenossen dazu führte, Hegels Verhältnis zur Kunst als schizophren zu kritisieren. Insbesondere zu vermerken ist der Bau dialektischer Übergänge, welche Hegel oft genug als dialektische Vergewaltigungen zur Last gelegt worden sind. (Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Kunst – Berlin 1823, hg. von Gustav Heinrich Hotho, hg. und eingeleitet v. Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998; Annemarie Gethmann-Siefert: Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst [Hegel-Studien, Beiheft 34], Bonn 1992; dies.: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik [Hegel-Studien, Beiheft 25], Bonn 1984; dies.: Hegels These vom Ende der Kunst und der »Klassizismus« der Ästhetik, in: Hegel-Studien, Bd. 19 [1984], 205-258, 205 ff.). – Bei den im vorangegangen und im folgenden zitierten Stellen aus der Ästhetik ist, nach Vergleich mit der von Gethmann-Siefert herausgegebenen Hotho-Nachschrift, welche den Hegelschen Wortlaut noch ohne Überarbeitungen wiedergibt, sowie den von Lasson herausgegebenen Vorlesungsteilen davon auszugehen, daß sie nicht einschneidend von derartigen Verfälschungen betroffen sind. 48 Vgl. Theodor W. Adorno, ÄT, 267.

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fene,49 der Begriff des Schönen aber steht allgewaltig im Raum. Und in Becketts Werk eine Darstellung des Schönen finden zu wollen, das scheint in der Tat einem Kategorienfehler gleichzukommen. Es folgen Begriffe wie der des »Ideals« oder gar der »Heroen« als »ideale Kunstgestalten« und mit Blick auf Becketts Antiidealismus und seine Antihelden scheint es denn mehr als unwahrscheinlich, daß Hegels Kunstverständnis an diese Form moderner Kunst heranreichen soll. Doch in der näheren Auseinandersetzung mit eben dieser Begrifflichkeit verflüchtigen sich die Schreckensmomente schnell. In seinem Ringen um das Erkennen künstlerischer Phänomene verwendet Hegel viel Mühe darauf, eine Begrifflichkeit zu prägen, die sich sowohl sachbezogen als auch kontextuell in immer neuen Konstellationen bewähren muß. Und so zeigt sich zunächst grundlegend, daß die in der Thomasischen Tradition des omne ens est verum stehenden Bestimmungen in Hegels Auffassung des Schönen nicht von vorn herein auf einen »idealistischen Hochmut« reduzierbar sind50, sieht man sie in eben dieser Tradition der Annahme einer transzendentalen Wahrheit als Erkenntnisbezogenheit des Seienden im verum und bonum und somit die Besonderung des Ideals nicht mehr und nicht weniger als eine Erkenntnishandlung des Geistes.51 Hegels Begriffe des »Schönen« und der »schönen Kunst« zielen nicht auf eine gefällige Darstellungsart, sondern vielmehr auf die Übereinstimmung zwischen einer Idee an sich und ihrer Verwirklichung im Element des Sinnlichen, eine Übereinstimmung, in der auch und gerade die heutigen dissonanten Darstellungsweisen ihren Platz finden. Im Rahmen eben dieser grundsätzlichen Verortung künstlerischen Handelns ist es Hegel näherhin keineswegs darum zu tun, einzelne Phänomene wie die Heroen als »ideale Kunstgestalten« zu ›idealisieren‹ und etwa in eine Moderne hinüberzuretten,52 unbeschadet seiner Überzeugung, daß solche Gestalten bedeutsam bleiben: Vgl. z. B. Ä [Anm. 47], I, 67 f. Derart reduziert findet sie sich z. B. bei Adorno, ÄT, 116-119. 51 Vgl. hierzu z. B. Ä, I, 190: »Wir sprachen vom Schönen als Idee im gleichen Sinne, als man von dem Guten und Wahren als Idee spricht.« 52 Es geht nicht um eine nostalgische Verherrlichung und erst recht nicht um ein Hinüberretten, gar »in die Ideale von redlichen Männern und braven Frauen«, in die »Hausväterlichkeit und Rechtschaffenheit«, wie Hegel in Bezug auf den Weltzustand seiner Zeit als der bürgerlichen deutlich macht, im Gegenteil, es würde »unpassend sein, auch für unsere Zeit noch Ideale […] aufstellen zu wollen« (Ä, I, 253 ). Denn wenn auch in den Weisen moderner Freiheit und Selbständigkeit die »moderne Persönlichkeit in Gemüt und Charakter sich als Subjekt unendlich ist«, lebt doch der Einzelne in einer bereits etablierten Ordnung der Gesellschaft und die substantiellen Zwecke sind ihm in dieser bereits als objektiver Gehalt der Ordnungsverhältnisse gegeben, sie finden ihren Ursprung nicht mehr in seiner Individualität (vgl. Ä, I, 254 f.). Aus seiner Charakterisierung der »gegenwärtigen prosaischen Zustände« folgert Hegel für den künstlerischen Zugang zu einem prosaischen Weltzustand: »so muß denn die Art und Weise, wie [der objektive Gehalt] in den Individuen und ihrer inneren Subjektivität, Moralität u.s.w. erscheint, das wesentlichste Interesse bleiben« (Ä, I, 253). In diesem Sinne ist dann auch Hegels Rede von der »Rekonstruktion der individuellen Selbständigkeit« in keiner Weise ein nostalgisch-klassizistisches Credo, sondern vielmehr ein Aufweis des vielfachen Mißlingens solcher Rekonstruktionsversuche. 49 50

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»Das Interesse nun aber und Bedürfnis solch einer wirklichen, individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen« (Ä, I, 255). Und in der Tat, die Sehnsucht nach den ›wahren‹ Helden hat uns nicht verlassen, auch die Beckettschen Gestalten nicht.53 Gleich welchen Begriff man herausgreift, folgt man Schritt für Schritt der Hegelschen – einerseits in Abgrenzung der Kunst als Erkenntnisform zu den anderen Erkenntnisformen, andererseits begriffsimmanent herausgearbeiteten – Bestimmung der Kunst, und insbesondere der Erfassung der ihr immanenten Struktur als Handlungsstruktur, so erweist sich die Drohung, ein Weg zwischen Hegel und Bekkett sei durch den unüberwindbaren Abgrund des Hegelschen Klassizismus verbaut, als nicht haltbares Vorurteil. Aus der zunächst in Abgrenzung zu anderen Erkenntnisformen gewonnenen Bestimmung der Kunst als Erkenntnishandlung seien in aller gebotenen Kürze hier nur einige der Aspekte angesprochen, die uns zunächst und grundlegend erlauben, dem Beckettschen Werk als im Rahmen der fiktiven Bühnenrealität lebendig werdendes Kunstwerk zu begegnen. Erstens bedeutet die Abgrenzung gegenüber den vor der Kunst liegenden Bewußtseinssphären für Hegel die konsequente und kompromißlose Entbundenheit der Kunst aus allen endlichen Zweckbestimmungen, aus denen der Unterhaltung oder des Wohlgefallens ebenso wie aus moralischen oder anderen ›ernsten‹ Zwekken. Wann immer gleich welche äußerlichen Zwecke bestimmend werden, verwandeln sie die Kunst in eine »dienende Kunst«; Kunst im eigentlichen Sinne aber ist für Hegel einzig »die auch in ihrem Zwecke wie in ihren Mitteln freie Kunst« (Ä, I, 20). Die Kunst als in ihren Mitteln frei zu bestimmen, da ist der Blick nicht nostalgisch klassizistisch nach hinten gerichtet, sondern öffnet die Perspektiven auch und gerade auf neue Mittel und Wege; die Kunst wesentlich als zweckfrei zu verstehen, bedeutet keine Verfechtung des ohnehin zumeist falsch verstandenen l’art pour l’art-Prinzips54, verweist auch nicht auf ein anderes im Nebulösen liegendes ExMit ›heldischen‹ Träumen beginnt gar das Stück: »La main dans la main on se serait jeté en bas de la tour Eiffel, parmi les premiers.« (11). Als Textgrundlage für dieses und alle folgenden Zitate aus dem Stück dient die französische Originalausgabe, da sich die deutsche Übersetzung in vieler Hinsicht als mangelhaft erwies (En attendant Godot, Editions de Minuit, Paris 1952; im folgenden zit. als EaG). 54 Die neuere Diskussion entzündete sich v.a. an der auf Novalis und Mallarmé aufbauenden Konzeption Roman Jakobsons und der russischen Formalisten, die als formalistische Konzeption der Poesie immer wieder mit einer Doktrin der l’art pour l’art verwechselt wurde, wogegen sich Jakobson selbst allerdings aufs Schärfste verwahrte: »Ni Tynianov, ni […], ni moi, nous ne prêchons que l’art se suffit à lui-même« (Roman Jakobson in: Tzvetan Todorov: Théories du symbole, Paris 1977, 341). Die ursprünglich romantische Definition der Poesie als Ausdruck um des Ausdrucks willen erlebte nach ihrer Degradierung als Topos eine Wiederbelebung in den meisten poetischen Schulen des 20. Jh. und wurde v.a. von Sartre proklamiert: »Les poètes sont des hommes qui refusent d’utiliser le langage« (Jean Paul Sartre in: Todorov, ebd.). Fürchten sich in dieser Diskussion die meisten vor dem Vorwurf idealistischer Tendenzen, so nicht Kandinsky; für 53

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trem, sondern auf den der Kunst eigenen, in ihrem Wesen als Erkenntnishandlung begründeten Zweck. In dieser Optik zeigt sich die die Mehrzahl der Kommentare zu Godot beherrschende Botschaftssuche denn auch als das, was sie ist: müßig und völlig ungeeignet, sich einer künstlerischen Dimension in Becketts Schaffen zu nähern. Weitergehend befreit Hegel die Kunst aus jener Unterordnung unter die Empirie, die sich darauf gründet, die Kunst sei in ihren Mitteln wie in ihrem Dasein lediglich »Täuschung«, »bloßer Schein«. Er befreit sie aber nicht nur aus der Unterordnung55, sondern erhebt sie vielmehr (auch) in dieser Hinsicht über die Empirie, denn »[w]eit entfernt […] bloßer Schein zu sein, ist den Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben«.56 Dies ist die Basis, auf der das ›Als-ob‹ der Kunst im allgemeinen und näherhin der Bühnenkunst eine, von Hegel in vielen Momenten herausgearbeitete, ontologische Begründung findet, die sich dann u. a. in der Deduktion des Scheines wiederfindet: der Schein ist eben nicht »das Nichtseinsollende«, im Gegenteil: »der Schein selbst ist dem Wesen wesentlich« (Ä, I, 21).57 Hegels Zuordnung der Kunst zu dem Bereich der absoluten Erkenntnis als Fähigkeit eines umgreifenden Erfassens von Gegensätzen in Abgrenzung gegenüber der verstandesmäßigen Erkenntnis macht nachvollziehbar, warum die Beckett-Interpretationen, in unserer von verstandesmäßig dissoziierender Analyse geprägten Zeit, zumeist einseitigen Sezierungsversuchen verfallen und dabei Becketts Theaterwerk nicht als solches zu erfassen vermögen: Die Kunst bedarf einer umfassenden vernunftmäßigen Betrachtung.58 ihn ist die Kunst »unentbehrlich und zweckmäßig», da sie ein »Ziel« besitzt: »die durch das Summieren bestimmter Komplexe vor sich gehende Verfeinerung der Seele« und »ein letztes Ziel, die Erkenntnis»; diesem Ziel untergeordnet ist für ihn das Ziel eines Werkes sowie der einzelnen Kunstmittel (Wassily Kandinsky: Über Bühnenkomposition, in: ders.: Essays über Kunst und Künstler, Bern 1963, 49 f.). 55 Vgl. u. a.: »Die Kunst bringt deshalb von seiten des Sinnlichen her absichtlich nur eine Schattenwelt von Gestalten, Tönen und Anschauungen hervor, und es kann gar nicht die Rede davon sein, daß der Mensch, indem er Kunstwerke ins Dasein ruft, aus bloßer Ohnmacht und um seiner Beschränktheit willen nur eine Oberfläche des Sinnlichen, nur Schemen darzubieten wisse.« (Ä, I, 61). 56 Denn, »gerade diese ganze Sphäre der empirischen inneren und äußeren Welt ist nicht die Welt wahrhafter Wirklichkeit, sondern vielmehr in strengerem Sinne als die Kunst ein bloßer Schein und eine härtere Täuschung zu nennen. Erst jenseits der Unmittelbarkeit des Empfindens und der äußerlichen Gegenstände ist die echte Wirklichkeit zu finden. Denn wahrhaft wirklich ist nur das Anundfürsichseiende, das Substantielle der Natur und des Geistes, das sich zwar Gegenwart und Dasein gibt, aber in diesem Dasein das Anundfürsichseiende bleibt und so erst wahrhaft wirklich ist.« (Ä, I, 22, vgl. auch u. a. ebd. 164). 57 »Die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene, wenn sie nicht für Eines wäre, für sich selbst sowohl als auch für den Geist überhaupt« (Ä, I, 21). 58 »Jeder möchte die Kunst verstehen, […] wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es verstehen.« (Pablo Picasso: Über Kunst, Zürich 1982, 72, Herv. im Original).

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In der durch systemimmanente Abgrenzung gewonnenen und somit negativen Bestimmung der Kunst wird sodann ein insbesondere für die nähere Bestimmung der Theaterkunst entscheidender Aspekt bedeutsam: es kommt dem Handlungsbegriff eine grundlegende Funktion zu, insofern Hegel die Art und Weise, in welcher der menschliche Geist in seinem Streben nach Freiheit sich selbst bewegt und die Formen endlicher Erkenntnis überwindend sich selbst bestimmt, als Handlung definiert59, ja mehr noch als wesentliche Handlung. »Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zu seinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat er sich als ein Dasein vor sich.«60 Zeigt sich also in dieser Optik der Handlungsbegriff als der Kunst wesentlich, muß er sich auch positiv in der immanenten Strukturierung des Kunstbegriffs aufweisen lassen61; ein Aufweis, den Constanze Peres in ihrer ausführlichen Untersuchung geleistet hat, indem sie von eben dieser Grundlage ausgeht: »Wenn ›Handlung‹ die kunstspezifische Erkenntnistätigkeit des Geistes bezeichnet, und Kunst überhaupt als Bewußtseinweise oder bestimmter Modus des Wissens-von-sich ihre Geltung im System Hegels beansprucht, dann muß der ästhetischen oder künstlerischen Handlung in der Ästhetik eine grundlegende Bedeutung zukommen.«62 Die strukturelle Bestimmung der Kunst durch den Begriff der Handlung läßt sich im Verlauf des Hegelschen Umkreisens der Kunstphänomene in allen grundlegenden und besonderen Bestimmungen der Kunst, der einzelnen Kunstformen und der einzelnen Künste nachverfolgen und erlaubt uns – insbesondere durch den Einbezug des »allgemeinen Weltzustandes« und der »konkreten Situation« als notwendige Möglichkeiten und Voraussetzungen der übergreifenden ästhetischen Handlung sowie durch den Einbezug des Künstlers als konkretes Subjekt dieser Handlung – die Erfassung sowohl der Beckettschen Vgl. Enz. § 235 / WL II 547 / PdG 578 f. (hg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, [Theorie Werkausgabe Bd. 8-10], Frankfurt/M. 31992.) Für einen detaillierten, hier zu weit führenden Aufweis der Handlungsstruktur, wie Hegel sie in der WL durch das Handeln der praktischen Idee als Aufhebung des Theoretischen und des Praktischen in die absolute Idee entwickelt, sowie der diesbezüglichen Entsprechung zwischen der logischen und den realsystematischen Sphären, sei auf die Arbeit von C. Peres verwiesen (Constanze Peres: Die Struktur der Kunst in Hegels Ästhetik [Diss.], Bonn 1983, insb. 32-37). 60 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I: Die Vernunft der Geschichte, hg. von Georg Lasson, Leipzig 31930, 44; Herv. E. K. 61 Der von Hegel selbst nicht benutzte Begriff der Struktur wird hier in Anlehnung an Peres und Puntel im Sinne der ›Bestimmtheit der Bewegung des Begriffs‹ verwendet, also analog zu Hegels Charakterisierung der »Methode« in der WL: »Was hiermit als Methode hier zu betrachten ist, ist nur die Bewegung des Begriffs selbst, deren Natur schon erkannt worden, aber erstlich nunmehr mit der Bedeutung, daß der Begriff alles und seine Bewegung die allgemeine absolute Tätigkeit, die sich selbst bestimmende und selbst realisierende Bewegung ist.« (WL II 551). Puntel folgert: »Es kann auch gesagt werden, daß die Methode die Struktur-in-Bewegung oder die Bewegung-der-Struktur und daß die Struktur die Bestimmtheit oder Konkretheit der Bewegung bzw. Methode ist.« (L. Bruno Puntel, Darstellung, Methode, Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels [Hegel-Studien, Beiheft 10], Bonn 1973, 229). 62 Constanze Peres: Die Struktur [Anm. 59], 55. 59

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Absichten als auch der konkreten materialen wie geistigen Gesellschaftsbedingungen, in die sich sein Stück einschreibt, als Momente des Gestaltungsprozesses. Damit kann wichtigen Bestandteilen konkreter Theaterarbeit entsprochen werden, wie z. B. der ständigen Überprüfung der Bühnenarbeit durch Rückfragen an die Absichten des Autors. Als wohl wichtigster Aspekt der mit Hegels Bestimmungen ins Blickfeld gelangenden Momente kann hierbei gelten, daß durch sie die Kunst, und näherhin die Bühnenkunst, als lebendiger Prozeß begreifbar wird. Im Vollzug des Handlungsprozesses legt Hegel einer jeden Konkretionsstufe den Maßstab der Lebendigkeit zugrunde,63 und diese Lebendigkeit, die als Lebendigkeit sowohl des Erkenntnissubjektes als auch des Erkenntnisobjektes und der Totalität des Prozesses eine Lebendigkeit als Voraussetzung jeglicher Erfahrung ist, führt ihn zu der Verortung der »Dramatischen Poesie« als »die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt«, ist doch die »Handlung selbst endlich in der Totalität der inneren und äußeren Wirklichkeit […] einer schlechthin entgegengesetzten Auffassung fähig« (Ä, III, 474). Es verwirklicht sich in einem dramatischen Werk der reflexive Handlungsprozeß des Kunstgeistes als konkrete Handlung in der Darstellung einer solchen, und zwar als allgemeinen Zustand und konkrete Situation voraussetzende, konfliktreiche Interaktion zwischen einzelnen Individuen: »Das echte Ideal aber bleibt nicht beim Unbestimmten und bloß Innerlichen stehen, sondern muß in seiner Totalität auch bis zur bestimmten Anschaulichkeit des Äußeren nach allen Seiten hin herausgehen. Denn der Mensch, dieser volle Mittelpunkt des Ideals, lebt, er ist wesentlich jetzt und hier, Gegenwart, individuelle Unendlichkeit, und zum Leben gehört der Gegensatz einer umgebenden Natur überhaupt und damit ein Zusammenhang mit ihr und eine Tätigkeit in ihr. Indem nun diese Tätigkeit nicht nur als solche, sondern in ihrer bestimmten Erscheinung durch die Kunst soll aufgefaßt werden, hat sie an und in solchem Material ins Dasein zu treten.« (Ä, I, 318).64 63 Sei es das »nur als einzelnes Lebendiges« existierende Leben (Ä, I, 191), der Weltzustand der Heroenzeit, in welcher die Kunst in unmittelbarer Einheit »mit der Partikularität und deren Lebendigkeit« ist (Ä, I, 243), die Lebendigkeit der konfliktvollen Situation (Ä, I ,268), seien es v.a. die ewigen Mächte als »Götter der lebendigen Wirklichkeit« (Ä, III, 480), »die ideale Subjektivität als lebendiges Subjekt (Ä, I, 235), der lebende Mensch als der »volle Mittelpunkt des Ideals« (Ä, I, 318) und das Ideal »als lebendige Individualität« (Ä, I, 207), Maßstab der Kunst ist die Lebendigkeit eines jeden ihrer Handlungsmomente. 64 Stellen wir diese Betrachtung in den Kontext einiger umgreifender Bestimmungen – erstens der Struktur der Kunst als einer Handlungsstruktur; zweitens dieser Handlungsstruktur als einer reflexiven des sich auf seine Tätigkeit zurückbeugenden Geistes, die erst dann ihre Vollendung findet, wenn er auf sich als in seiner Erkenntnissuche Handelnden reflektiert und sich als solchen anzuschauen vermag; drittens der Struktur eines jeden »Begriffs« als sich erst in der Vermittlung des Allgemeinen und Besonderen in der Einzelheit verwirklichender und viertens der auf diese Bestimmungen gründenden Klassifizierung der einzelnen Künste nach der in ihrem Inhalt-Form-Verhältnis erfaßten, inneren und äußeren Entfaltung des Ideals, d. h. als Konkretionsstufen der Erkenntnistätigkeit des Geistes – so wird deutlich, warum Hegel die dramatische Poesie strukturell folgerichtig als »höchste Kunst« verortet, gelangt der Geist doch erst in ihr der

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Damit führt diese Lebendigkeit in das Zentrum des Theatergeschehens als »lebendige Wirklichkeit« des Ideals, d. h. als »lebendige Wirklichkeit von Situationen, Zuständen, Charakteren und Handlung« (Ä, III, 499)65, eine Wirklichkeit, in welcher in Hegels Betrachtungen der Autor ebensowenig fehlt wie sein Werk, der Theaterkünstler sowenig wie seine Arbeit oder deren Rezeption durch das Publikum. Soweit einige Eckpunkte in einer Skizze, die im Rahmen eines kurzen Beitrags natürlich nur einige Beispiele und Verweise zu geben vermag auf Hegels umfangreiche und umfassende Bestimmung der Kunst, aus welcher seine Bestimmung der Theaterkunst als systemimmanente Konsequenz hervorgeht,66 und letztlich in der Neuzeit das einzige philosophisch-systematische Fundament bietet, auf dem die Theaterkunst eine notwendige Begründung findet und auf dem sie, aus einem theoretischen, ihrer historischen Wirklichkeit niemals entsprochen habenden Zwitterdasein befreit, nicht mehr als bloßes Anhängsel anderer Kunstformen gerechtfertigt werden muß;67 auf dem selbst jenes Moment der Theaterrealität, welches die Kunst des Schauspielers ausmacht, eine ästhetische Begründung erfährt, »als Moment der Kunst selber« bestimmt ist (Ä, III, 505). Es ist ein Fundament, auf dem wir nicht Form wie dem Inhalte nach zur Darstellung seiner als Handelnder: »Dies ist das Kunstwerk, in dem das Schöne, in seiner höchsten Entwickelung, Vollkommenheit, in vollständiger Bewegung erscheint. Andere Kunstwerke sind abstrakter, z. B. das Bild der Skulptur, bei dem, wenn es eine Handlung darstellt, die großen geistigen Mächte nicht zum Vorschein kommen. Auch die Malerei stellt Handlungen vor, aber nur in einem Moment, nicht die Explikation der Tat in ihrer ganzen Folge; das Geistige aber ist wesentlich tätig und handelnd.« (Vorlesungen über die Ästhetik, Erster Halbband: Einleitung und erster Teil, 1. Abt. Die Idee und das Ideal, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1931, 285). 65 Vgl. hierzu auch u. a.: »Diese Vermittlung des Epischen durch die Innerlichkeit des Subjekts als gegenwärtig Handelnden erlaubt es dem Drama nun aber nicht, die äußere Seite des Lokals, der Umgebung sowie des Tuns und Geschehens in epischer Weise zu beschreiben, und fordert deshalb, damit das ganze Kunstwerk zu wahrhafter Lebendigkeit komme, die vollständige szenische Aufführung desselben.« (Ä, III, 474). Am Maßstab der Lebendigkeit müssen sich nicht zuletzt alle Künste messen lassen: »In der Skulptur und Malerei haben wir das Kunstwerk als das objektiv für sich dastehende Resultat künstlerischer Tätigkeit vor uns, nicht aber diese Tätigkeit selbst als wirkliche lebende Produktion. Zur Gegenwärtigkeit des musikalischen Kunstwerks hingegen gehört, wie wir sahen, der ausübende Künstler als handelnd, wie in der dramatischen Poesie der ganze Mensch in voller Lebendigkeit darstellend auftritt und sich selbst zum beseelten Kunstwerke macht.« (Ä, III, 218). 66 Insofern im Rahmen dieses Beitrags nur beispielhaft einige Aspekte herausgestellt werden können, sei hinsichtlich der grundlegenden Parameter der Hegelschen Kunstphilosophie erneut auf die zahlreichen aufschlußreichen Arbeiten von Gethmann-Siefert [Anm. 47] und Pöggeler [Anm. 12 u. 91] verwiesen. 67 Hiermit soll nicht gesagt sein, die Kunst wäre von Hegel als ein ontologisierter und verdinglichter Natur- oder Wirklichkeitsbegriff definiert worden; einen solchen Versuch kritisiert Hegel als den eines verdinglichten Bewußtseins, das die Kunst aus einer mimetischen Zweckbeziehung heraus bestimmen will (vgl. z. B. Ä, I, 82/94).

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nur den Kunstwerk-Charakter,68 sondern auch die Widersprüchlichkeit des Bekkettschen Werkes in all seinen religiösen, ethischen und künstlerischen Momenten zu betrachten vermögen, seine erbärmlichen ›Helden‹ in ihrer Tragikomik, den Handlungsreichtum hinter der scheinbaren Handlungsarmut begreifen können. Nicht zuletzt ist es ein Fundament, in dessen Rahmen das literarische Werk von seiner Konkretion in der Theaterrealität unterschieden wird; eine Realität, die für Hegel als »äußere Exekution« dem dramatischen Werk wesentlich ist und als solche unter verschiedenen Rücksichten ihre Begründung findet. (Ä, III, 504 ff): Die Totalität der Handlung ist das Prinzip der dramatischen Poesie. Nun ist dem Hegelschen Begriff des Prinzips die Ausrichtung auf seine Realisierung immanent, es geht von einer solchen aus und zielt auf sie hin. Für das Prinzip der Totalität der Handlung bedeutet eine, dem Inhalte wie der Form nach, vollendete Totalität69 die Realisierung der »für das vorstellende Bewußtsein in […] sprachlicher Äußerung« beschriebenen Handlung als einer ausgeführten (Ä, III, 475). Hegel unterscheidet also gezielt »die poetische Seite als solche des dramatischen Werks« von der ihr wesentlichen »äußeren dramatischen Exekution« (Ä, III, 506); der Dichter muß, »um wahrhaft dramatisch zu werden, wesentlich die lebendige Aufführung vor Augen haben« (Ä, III, 508). Diese Forderung ankert u. a. und nicht zuletzt in der grundsätzlich der Struktur eines jeden Begriffs immanenten Forderung Hegels, daß sich derselbe im Einzelnen verwirkliche, d. h. auch der als Totalität der Handlung bestimmte Begriff der dramatischen Poesie verlangt nach seiner Realisierung in der wirklichen Einzelheit konkreter Menschen,70 »[d]enn nur Individuen […] können wirklich handeln« (Ä, III, 359). Im Allgemeinen wie im Konkreten gelangt Hegel im Verlauf seiner Betrachtungen stets unter mehrfacher Rücksicht weitergehend zu Differenzierungen, welche all jene Unterschiede einbeziehen, vor denen die heutige Kunstbetrachtung zumeist, und exemplarisch im Falle Godots, versagt, wie z. B. zwischen einem Kunststück und einem Kunstwerk (Ä, I, 67), zwischen dem Aspekt der Amoralität der

Besitzt die Bezeichnung »Kunstwerk« auch heute noch die Konnotation einer ›höheren‹, ›besseren‹, über das Mittelmaß einer Darstellung hinausgehenden Arbeit, so wagt doch kaum jemand eine positive Bestimmung dieser Dimension bzw. wenn, dann so vage, wie Adorno mit seiner Forderung nach dem »Gelingen« eines Werkes: »Der Begriff des Kunstwerks impliziert den des Gelingens. […] Fürs Gelingen ist Stimmigkeit ein wesentliches Moment«, des weiteren dann »Objektivität« und das »Neue« (vgl. ÄT, 64/280). Daß gerade bzgl. des Gelingens aber Künstler wie Rezipienten Orientierungshilfen suchen, davon zeugt das wuchernde Geschäft des ›Bildungskultur-Marktes‹ mit seiner Unzahl an Schulungen und Kursen. 69 »Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.« (Ä, III, 474). 70 »Diese Objektivität, die aus dem Subjekte herkommt, sowie dies Subjektive, das in seiner Realisation und objektiven Gültigkeit zur Darstellung gelangt, ist der Geist in seiner Totalität und gibt als Handlung die Form und den Inhalt der dramatischen Poesie ab.« (Ä, III, 324). 68

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Kunst und ihrer ethischen Dimension,71 zwischen ihrer Zweckfreiheit und ihrem oftmaligen Auftragscharakter, u.s.f.;72 Unterschiede, die in der heutigen Zeit wieder in die Diskussion eingebracht und aus einem oberflächlichen Verständnis heraus als ›unverständliche‹ Widersprüche dargestellt werden.73 Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit eben diesen Dimensionen zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß Hegels Ästhetik gerade in heutigen Krisensituationen der Kunst eine Fruchtbarkeit besitzt, die in den noch im Aufbruch begriffenen Zeiten Hegels noch gar nicht zur Geltung kam. Dies soll im folgenden am Beispiel des für Becketts Werk wesentlichen Begriffs der Tragikomödie verdeutlicht werden.

VI. Warten auf Godot – eine »Tragikomödie« Zum Arbeitsweg des Theaterkünstlers gehört es, die Welt eines Werkes lebendig werden zu lassen, diese Welt anschaulich zu formen. In diesem Formungsprozeß verfügt er zunächst über einen kleineren ›Spielraum‹ als der Dichter, schreibt ihm dieser doch bereits vor, wie die Welt des Werks zu betrachten sei. Mit anderen Worten, die allgemeine Weltanschauungsform des Dichters bestimmt die konkrete Betrachtungsweise des Bühnenkünstlers; sie bestimmt die konkrete Weise, in der die hinter der Dialogform oftmals verborgenen Inhalte des Werks für ihn zur Erscheinung gelangen. Wie aber erkennt der Bühnenkünstler die Weltanschauungsform des Dichters und wie gelingt es ihm, sich dieselbe zu eigen zu machen ? Keine große Hilfe bieten ihm die literarischen Formkategorien: daß Godot als Parabel, Allegorie oder näher als Fabel, daß viele Passagen des Werks als symbo-

Vgl. u. a. Ä, I, 77 ff. Vgl. u. a. Ä, I, 372 / Ä, II, 235 f. / Ä, III 269 f. 73 Dies nicht zuletzt auch im Rahmen der Hegel-Interpretationen: So wird z. B. die systemimmanent begründete Notwendigkeit der »äußeren Exekution« von Schlunck gar nicht erst erwähnt (Wolfgang Schlunck: Hegels Theorie des Dramas [Diss.], Heidelberg 1936), von Seidl mit wenigen Worten als zu vernachlässigende Größe abgetan (Franz Johannes Seidl: Hegels Dramentheorie [Diss.], Wien 1953, 25 ff.), von Herrmann und Schultze als Widerspruch betrachtet, als »methodischen Bruch« eines in zunehmende Geistigkeit einbrechenden Sinnlichkeitsmomentes (Hans Herrmann: Der Gegenwärtigkeitsgedanken in der theoretischen Behandlung des dramatischen Kunstwerks bei Lessing, A. W. Schlegel und Hegel, in: Sprache und Kultur der germanischen und romanischen Völker, Breslau 1934, insb. 51-59; Gerhard Schultze: Die Poesie im Urteil deutscher Gehaltsästhetik von Schelling bis Fichte [Diss.], Markranstädt 1916, insb. 58). Zu Recht tritt Constanze Peres solchen Auslegungen entgegen: »Während Herrmann den Widerspruch als Folge von Hegels persönlicher Vorliebe für die klassische Kunst sehen will, ihn also biographisch begründet, liegt den anderen Auffassungen letztlich eine quantitative Interpretation des systematischen Einteilungsprinzips der Künste zugrunde: Die ›Höhe‹ von Kunst und ihr damit verbundener Ort im System der Künste wird dort nach dem Verhältnis der ›Geistesanteile‹ gegenüber den ›Sinnlichkeits- und Materialanteilen‹ bemessen.« (Constanze Peres: Die Struktur [Anm. 59], 145) 71 72

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lisch gelten, könnte allenfalls auf die Gestaltung des Raumes oder der Kostüme einen Einfluß nehmen, hätte nicht Beckett auch diesbezüglich alles genauestens festgelegt. Ebenso betrifft die Symbolik gewisser Handlungen den Schauspieler nur dann, wenn sie auf der eigentlichen Handlungsebene den Figuren selbst bewußt wird, wie z. B. wenn ihr Spiel in eine Kreuzessymbolik mündet, auf die sie reagieren (EaG, 107), wenn Vladimir sich als »Monsieur Albert« ausgibt (EaG, 68) oder wenn Estragon sich nach seiner Rückkehr von der »pente« als verflucht bezeichnet (EaG, 103)74. Das Wissen um eine derartige Symbolik muß sich der Schauspieler in seiner Vorarbeit aneignen, es trägt dazu bei, daß er sich die Handlung im Sinne des Dichters zu eigen machen kann. Darüber hinausgehend mögen Kategorien wie die der Allegorie oder Parabel als Aspekte der Weltanschauung des Dichters für die literarische Betrachtung eines Werks von Bedeutung sein, der Bühnenkünstler aber findet seinen Zugang zu dieser Weltanschauung nur darin, wie der Dichter dieselbe in seiner Darstellungsart der Handlung äußert: im Falle Godot spezifiziert Beckett diese Darstellungsart explizit im Untertitel der englischen Fassung als »tragicomedy«75. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Spezifizierung, die v.a. in diesem konkreten Fall nicht nur auf der literarischen, sondern auch auf der Realisationsebene heftigste Diskussionen hervorgerufen hat, die also statt zu klären, die Konfusion eher noch verstärkte. In den diesbezüglichen Diskussionen lassen sich vier Gruppen unterscheiden: Die erste hat sich entschlossen, die genannte Werkbestimmung zu ignorieren, und optiert für ein »weder (Tragödie) – noch (Komödie)«,76 die zweite sieht eine Verbindung von Komödie und Tragödie als Vorherrschaft der je einen oder anderen species, wie z. B. Robinson, der Godot in Analogie zu Shakespeares König Lear setzt und als »grausame Komödie« definiert,77 oder Janvier, der es als »optimistische Tragödie« bezeichnet78. Eine dritte Gruppe tendiert dazu, den Inhalt als tragisch und die Formgebung als komisch zu bestimmen, v.a. im Sinne einer oberflächlichen Komik komischer Effekte, hinter der eine »potentielle Tragik« verborgen liegt,79 und eine vierte sieht, »La pente«, in der deutschen Ausgabe als »Rand des Abhangs« (WaG, Frankfurt/M. 1971, 183) übersetzt, ist ein Schlüsselwort der Göttlichen Komödie Dantes, die Becketts Gesamtwerk nachweislich beeinflußt hat. Ein Verständnis für Estragons Entsetzen, ebenso wie für »les voix mortes« und »le charnier« (EaG, 87/90), bietet folgende Schilderung Dantes: »Vero è che in su la proda mi trovai / della valle d’abisso dolorosa, / che tuono accoglie d’infiniti guai. / Oscura, profonda era e nebulosa« (La divina comedia. Inferno. Canto IV). 75 Samuel Beckett: Waiting for Godot, London 1955. 76 Wie z. B. Theodor W. Adorno (ÄT, 505), Schoell (in: MzWaG, Bd. 1, 28 f.), Maierhöfer (Warten auf Godot [Anm. 17], 21) oder Martin Esslin (Das Theater des Absurden, Reinbek b. Hamburg 1985, insb. 45). Cormier und Pallister bescheiden sich damit, Becketts Angabe zumindest als ernstzunehmend zu erwägen: »Das Stück ist vielleicht wirklich eine ›tragicomedy in two acts‹« (in: MzWaG [Anm. 19], Bd. 2, 231). 77 M. Robinson: Das Theater, in: MzWaG, Bd. 2, 298. 78 L. Janvier: Warten auf Godot, in: MzWaG, Bd. 2, 177. 79 Vgl. Cormier / Pallister: EaG – Tragödie oder Komödie, in: MzWaG, Bd. 2, 231-242. Vgl. z. B. 74

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mit unterschiedlichen Rückschlüssen auf die Formgebung, die Verbindung von Komödie und Tragödie auf der Inhaltsebene selbst angesiedelt, z. B. in dem Sinne: »das Tragische an diesem Dasein besteht darin, daß ihm noch nicht einmal mehr Tragik vergönnt wird, daß es immer zugleich als Ganzes Farce ist […]: also daß man es nur als Farce darstellen kann: als ontologische Farce; nicht als Komödie.«80 Die meisten dieser in die Diskussion eingebrachten Beiträge setzen explizit oder implizit die von ihnen als tragisch bestimmten Dimensionen des Werks mit dem Ausdruck einer pessimistischen, die komischen mit dem einer optimistischen Weltanschauung gleich und kommen letztlich darin überein, der ›tragisch-pessimistischen‹ Dimension die größere und gültigere Bedeutung zuzusprechen. Dagegen nun aber protestieren große Regisseure wie Peter Brook ihrerseits vehement: »Quand on monte une pièce de Beckett, tout de suite on pousse de hauts cris: ses pièces sont tellement négatives ! C’est ce mot qui revient le plus souvent. […] à mon avis, nous n’avons rien de plus positif que les œuvres de Beckett.«81

A. Das Tragische und das Komische als dramatische Prinzipien Was bedeutet nun diese Diskussion für den Schauspieler ? In der Bühnenhandlung muß er als Figur seine Handlung ernst nehmen, seien deren Kontexte und Effekte komisch oder tragisch. Und doch bewegt er sich in Komödie und Tragödie als je gänzlich anderen Welten. Er muß seine Handlungsgestaltung diesen Welten anpassen; er weiß, daß er völlig unterschiedliche Effekte erzielen und hierzu unterschiedliche Mittel, z. B. in der rhythmischen Gestaltung, anwenden muß. Er muß also wissen, auf welchem Boden er sich in Godot befindet. Hilft ihm hierbei das Verständnis des Tragischen als pessimistischer und des Komischen als optimistischer Weltanschauung ? Nein, denn er kann seine Figur als pessimistische gestalten und damit doch äußerst komische Effekte erzielen, wie viele der Charaktere Molières belegen und wie z. B. Estragons mürrisch-pessimistischer Umgang mit den Schuhen zeigt. auch Grossvogel: »Seine Kargheit legt die Tragödie fest […], sein Aufbau ermöglicht die Komödie« (D. Grossvogel, zit. nach Friedmann, in: MzWaG, Bd. 2, 366). 80 Günter Anders: Sein ohne Zeit, in: MzWaG, Bd. 1, 34. Vgl. auch Ashmore: »Der Mensch ist eine komische Figur, die auch tragisch ist, wobei seine tragische Seite darin besteht, daß er sich nicht davor schützen kann, komisch zu sein« (J. Ashmore: Philosophische Aspekte in Godot, in: MzWaG, Bd. 2, 17) 81 Peter Brook: Dire oui à la boue, in: Cahier de l’Herne [Anm. 23], 233. In diesem Streit berufen sich die Vertreter der ›tragischen These‹ gerne auf Becketts Aussage: »L’optimisme n’est pas de mon fort. Je serai toujours dépressif, mais ce qui me réconforte, c’est de pouvoir aujourd’hui admettre ce côté sombre comme l’aspect dominant de mon caractère. En l’admettant, je m’en servirai.« (Samuel Beckett, in: Deirdre Bair: Samuel Beckett [Anm. 31], 321); die Verfechter des Komödiencharakters stützen sich dagegen auf die folgende: »Je me suis mis à écrire des pièces pour me sortir de la dépression noire où me plongeait le roman. Ma vie à cette époque était trop éprouvante, trop affreuse; je pensais que le théâtre ferait diversion.« (ders.: ebd., 328).

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Ebensowenig wie die literarischen Formkategorien helfen ihm also optimistische oder pessimistische Stimmungskategorien, die für ihn doch maßgebliche Form der Beckettschen Weltanschauung zu erfassen. Hilfe findet er bei Hegel; wider Erwarten, wenn man dessen, wie er selbst sagt, »strengen Begriff der Tragödie« oder der Komödie vor Augen hat (Ä, III, 501), denn z. B. tragische Helden nach griechischem Vorbild wird man in Godot vergeblich suchen. Komödie und Tragödie als solche sind aber für Hegel weder Ausgangspunkt seiner Betrachtung noch entwickelt er die Begriffe des Tragischen und des Komischen reduktiv aus ihnen heraus. Im Gegenteil, für ihn sind das »Tragische« und das »Komische« zunächst die grundlegenden »Auffassungsweisen«, Formen der Weltanschauung (Ä, III, 519), d. h. näherhin »entgegengesetzte Anschauungsarten des menschlichen Handelns« (Ä, III, 538). Als solche sind sie in allen Künsten wirksam, erlangen aber erst in der dramatischen Poesie eine prinzipielle Bedeutung, indem sie erst in ihr »zum Prinzip des Kunstwerks« werden.82 Als Prinzipien konstituieren sie die drei »Arten« der dramatischen Poesie: in ihrer Gegensätzlichkeit die »Tragödie« und die »Komödie«, in ihrer Vermittlung das »Drama« im engeren Sinn (vgl. Ä, III, 519). Als artbestimmend, begründen sie jene dem poetischen Werk je unabdingliche Dimension, die ermöglicht, daß »die Handlung […] in die […] äußere Realität [der theatralischen Exekution] eingehen könne« (ebd.). Der Unterschied zwischen beiden Anschauungsweisen bestimmt – auf der poetischen Ebene wie auf jener der theatralischen Realisierung – den Unterschied, »in welchem sowohl der Zweck als die Charaktere sowie der Kampf und das Resultat der ganzen Handlung zur Erscheinung gelangen« (ebd.), beide Anschauungsweisen bestimmen demnach als je unterschiedliche Modi die Totalität der Handlung als Handlung, denn »[d]ie Handlung selbst endlich in der Totalität ihrer inneren und äußeren Wirklichkeit ist einer schlechthin entgegengesetzten Auffassung fähig« (Ä, III, 474 f.); sie konkretisieren sich u. a. in der Formgestaltung des Dialogs als Handlung, in dem als solcher der Ausdruck eines je subjektiven oder objektiven Pathos möglich ist (vgl. Ä, III, 493). Nun könnte man versucht sein, diese Anschauungsweisen auch bei Hegel im stimmungs- bzw. gefühlsmäßigen Sinn zu deuten, sieht er doch im Rahmen dieser Artbestimmung die differentia specifica in dem jeweiligen Verhältnis, »in welchem die Individuen zu ihrem Zwecke und dessen Inhalt stehen« (Ä, III, 520). Dieses Verhältnis aber bestimmt Hegel eben nicht als ein emotionales, sondern als ein existentielles Verhältnis, d. i. der Gegensatz zwischen den Individuen als das Besondere, Subjektive, Endliche und dem Substantiellen als das Allgemeine, Objektive, unendlich Göttliche. Im Rahmen dieses Verhältnisses bringt das menschliche Handeln die Veräußerung des Substantiellen in den allgemeinen Mächten des menschlichen Wollens sowie seine Besonderung zum Pathos zum Ausdruck, als Pathos bildet es den »Zweck« des Ä, III, 526: »Aus diesem Grunde habe ich auch jetzt erst von der tragischen Anschauungsweise zu sprechen Gelegenheit genommen, obschon sie, wenn zwar in geringerem Grade, ihre Wirksamkeit auch über die anderen Künste vielfach ausdehnt.« 82

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Individuums bzw. den Inhalt dieses Zwecks. In dieser Bestimmung bilden das Individuum als das Subjektive und das Substantielle als das Objektive die beiden »Grundmomente« des menschlichen Handelns,83 das Verhältnis zwischen ihnen ist ihrem jeweiligen Wesen gemäß ein widersprüchliches, konfliktreiches (vgl. Ä, III, 520 f.). Die Gestaltung und Darstellung dieses Verhältnisses nun bestimmt sich insofern durch die Anschauungsweise, als je eines der beiden Grundmomente als das herrschende betrachtet werden kann, m.a.W. das Verhältnis läßt sich von je einem der Momente her aufbauen. Für den Schauspieler bedeutet dies, daß er zwar in beiden Fällen wahrhaftig handeln muß, d. h. »[d]as an und für sich Wahrhafte erweist sich zwar in der dramatischen Poesie, in welcher Form sie auch immer das Handeln zur Erscheinung herausführen mag, als das eigentlich Durchgreifende; die bestimmte Art aber, in welcher diese Wirksamkeit zur Anschauung kommt, erhält eine unterschiedene, ja entgegengesetzte Gestalt, je nachdem in den Individuen, Handlungen und Konflikten die Seite des Substantiellen oder umgekehrt die Seite subjektiver Willkür, Torheit und Verkehrtheit als die bestimmende Form festgehalten ist.« (ebd.). In der tragischen Anschauungsweise sehen wir den Konflikt von Seiten des Substantiellen, zu dem das Individuum in Widerspruch gerät und ob der Einseitigkeit seines individuellen Zweckes untergeht. Die komische Anschauungsweise aber stellt sich auf die Seite des Individuums, es wird in seiner Besonderheit als frei betrachtet, und die Anschauung läßt es, die Substantialität der Zwecke abwertend, siegreich aus dem Konflikt hervorgehen. Beide Anschauungsweisen wirken als je maßgebliche Prinzipien der dramatischen Arten und erst infolge dieser Prinzipien ergeben sich die je spezifischen Forderungen an die Tragödie und Komödie als solche, wie z. B., daß der Held der Tragödie sich der substantiellen Größe des Zwecks würdig erweise und mit seiner ganzen Individualität für das Ganze seiner Tat einzustehen vermöge,84 der Held der Komödie dagegen dadurch in Widerspruch zu seinem Zweck gerät, daß er entweder solche Zwecke ernst nimmt, die sich »durch ihre eigene Wesenlosigkeit zerstören« (Ä, III, 527), oder solche wählt, die sich, da ihm nicht angemessen, als bloße Einbildung entpuppen (vgl. Ä, III, 529). Geht also in der tragischen Anschauung der Welt das Substantielle als Sieger aus dem Konflikt hervor, so ist in der komischen Anschauung »[d]ie komische Subjektivität […] zum Herrscher über das geworden, was in der Wirklichkeit erscheint« (Ä, III, 531). Die Tragikomödie, die sich dem »Drama« im engeren Sinn zuordnen läßt, und damit der dritten species der dramatischen Poesie zugehörig, ist nun keine Mischform aus Tragödie und Komödie, also keine Mischform auf der Ebene des Resultats, wie jene Untersuchungen annehmen, die verwirrt meinen, Godot wäre keine Tragikomödie, da es ja ebensowenig »wirkliche Tragödie« wie »wirkliche Komödie« sein könne85. In der Tragikömodie suchen sich vielmehr die tragische und die komische AuffassungVgl. Ä, III, 527 sowie 482. Vgl. Ä, III, 522/Ä, I, 246. 85 Zum Beispiel: »En attendant Godot läßt sich nicht auf eine Gattung festlegen. Es kann ebensowenig wirkliche Tragödie sein wie wirkliche Komödie …« (K. Schoell, Beckett. EaG, in: MzWaG, 83 84

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weise in ihren Gegensätzen zu vermitteln oder »ohne sich als einander schlechthin entgegengesetzte zu isolieren, zusammen[zu]treten« (Ä, III, 531 / 519). Mit dieser Bestimmung ist m.E. der einzig stimmige Zugang zu Becketts Spezifizierung von Godot und der damit implizit spezifizierten Form seiner Weltanschauung gefunden. Die tragische Anschauung sieht die Charaktere, v. a. die der Hauptfiguren Vladimir und Estragon, als Verlierer gegenüber dem Substantiellen, das tragische Moment liegt hierbei in ihrer Orientierungslosigkeit, ihrem Nicht-Wissen, ihrer Gottlosigkeit, ihrer im endlichen, defekten Körper verfangenen Ohnmacht gegenüber Zeit und Tod; es liegt überall dort, wo diese Charaktere der Übermacht des Substantiellen erliegen. Komisch betrachtet, bedeutet der Konflikt einen Sieg des Individuums in eben all seiner Beschränktheit: in dieser Dimension finden wir die kleinen Siege Vladimirs und Estragons über Hüte, Schuhe, Gebrechen, über ihre eigene Kleinlichkeit, ihre Gemeinheiten und über all die Momente der ›LangeWeile‹, v. a. aber ihre Art, mit dem Nichtwissen, mit ihrer Ohnmacht umzugehen, einfach ständig zu vergessen, immer wieder und wieder neu anzusetzen.

B. Die Vermittlung der tragischen und der komischen Auffassungsweise Hegel präzisiert die »tiefere Art«, in der sich beide Auffassungsweisen vermitteln, als »sich wechselseitig abstumpfende[ ] Ausgleichung«, eine Bestimmung, die, frei von jeder pejorativen Konnotation, m.E. den Kern der tragik-komischen Dimension Godots trifft und damit die außerordentlich beeindruckende Art, in der Beckett beide Anschauungsweisen verknüpft: »Die tiefere Vermittlung aber der tragischen und komischen Auffassung zu einem neuen Ganzen besteht nicht in dem Nebeneinander oder Umschlagen dieser Gegensätze, sondern in ihrer sich wechselseitig abstumpfenden Ausgleichung.« (Ä, III, 532; Herv. E. K.). Beckett stumpft beide Auffassungen aneinander ab, indem er die Figuren den Unterschied zwischen eben diesen Auffassungen nicht erkennen, sie ständig durcheinanderwerfen läßt, und auch der qualitative Unterschied der Konflikte, den der Unterschied zwischen beiden Anschauungsweisen impliziert (auf der einen Seite die ›Größe‹ des Substantiellen, an der das Individuum scheitert, auf der anderen die Zufälligkeit des Individuums, das wesenlose Zwecke meistert), keine unterschiedliche Wertung erfährt. Das Werk beginnt mit einer ebensolchen Situation: Estragon versucht, sich seiner Schuhe zu entledigen, es gelingt ihm nicht. Erste Replik des Stücks: »Rien à faire.« Vladimir nimmt diese Folgerung (bzw. Klage oder Nörgelei) auf, bezieht sie aber seinerseits auf den Kampf mit dem Leben; die Auseinandersetzung mit diesem Kampf wird nun durch ein Begrüßungsritual unterbrochen und erst 13 Repliken Bd. 1, 28). Im entgegengesetzten Sinn dann Hesla: »Komödie und Tragödie […] stehen in einer dialektischen Affirmation und Negation« (D. H. Hesla, in: Zeit, Grund und das Ende [Anm. 25], 71 f.).

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weiter, scheinbar zusammenhanglos, erneut aufgenommen und von Estragon sofort wieder mit dem Kampf um seine Schuhe vermischt. Desgleichen wird z. B. die angstvolle Frage einer möglichen Abhängigkeit von Godot einerseits verbunden mit der Erkenntnis, alle Rechte verschleudert zu haben, und der somit erforderlichen Sühne, andererseits mit den Beschäftigungen und Kommentaren zu einer Karotte, über welche die Frage dann vergessen wird (EaG, 24 ff.). Die Auffassungen und Dimensionen schlagen nicht um, sie stumpfen aneinander ab. Den Figuren gelingt es auf diese Weise, ihre Ohnmacht gegenüber dem Substantiellen zu vergessen und zu verdrängen; es gelingt ihnen, sich und ihrem Handeln immer wieder eine Bedeutung zu verleihen. Da, wo ihre Bedeutungslosigkeit zu Tage treten könnte, versuchen sie zu ›tricksen‹.86 Ebenso wie Bouvard und Pécuchet, Charlot, die Figuren Buster Keatons, die Narren in Shakespeares Tragödien und die Clowns, gelangen die beiden nicht dazu, an ihrem ständigen Versagen zu leiden, sie setzen immer wieder aufs Neue an, schließen Kompromisse und es gelingt ihnen, in ihrem Zustand zu existieren. »Kannst Du von Nichts keinen Gebrauch machen, Gevatter ?« wird Lear von seinem Narren gefragt – Vladimir und Estragon beherrschen eben dies. Es herrscht der Schein, daß »sich eine in sich einklangsvolle Wirklichkeit dennoch durch das menschliche Handeln zustande bringe« (Ä, III, 532). Die Figuren behandeln das Tragische ihrer Existenz komisch, indem sie es entweder nicht erkennen oder zu besiegen meinen; sie erscheinen in dieser ihrer Komik tragisch, da sich das Substantielle nicht ›austricksen‹, nicht besiegen läßt. Indem Beckett sie in ihrer komischen Dimension ausdrücklich in Form der traditionellen Clowns und der Stummfilmhelden gestaltet, widerlegt er jene Interpretationen, die in seiner Weltanschauung einen grotesken, bitteren und zynischen Humor orten wollen,87 haben doch, wie auch Günter Anders in seiner Studie über den clownesken Charakter des Werks bemerkt,88 wenige Figuren in unserem Jahrhundert soviel Dankbarkeit erregt wie jene Chaplins und deren ›Brüder‹. Für den Schauspieler bedeutet die Erkenntnis dieser unterschiedlichen Anschauungsweisen, die sich in Godot verknüpfen, daß er z. B. Estragons Sieg über seine Schuhe als triumphal und nicht als nebensächlich erkennt, daß er die Vergeßlichkeit der Figuren nicht psychologisierend und mitleiderregend, sondern in ihrer Komik gestaltet.89 Dank einer solchen Erkenntnis steht er dann auch jenen Handlungen, 86 So antwortet z. B. Vladimir auf die Frage des Boten, ob er Monsieur Albert sei, keck, er sei es (EaG, 68). Nun, Beckett war Pfeifenraucher und »Prinz Albert« der Name einer bekannten englischen Tabakmarke, verkauft in Dosen mit einem Abbild dieses Prinzen, der in England den Prototypus des distinguierten, geschmackvollen Herren verkörperte. 87 Diesen Interpretationen widerspricht nicht zuletzt auch der Beckett am engsten verbundene Regisseur Roger Blin: »[Dans Godot] l’humour existe de façon primordiale« (in: Cahier de l’Herne [Anm. 23], 113) 88 Günter Anders: Sein ohne Zeit in: MzWaG [Anm. 19], Bd. 1, 48. 89 Genau dieses forderte Beckett von den Inszenierungen: »Une chose m’inquiète: le pantalon d’Estragon. J’ai naturellement demandé à Suzanne s’il tombait bien, elle m’a répondu: à moitié. Il ne faut pas. A aucun prix. Ça ne colle pas avec les circonstances. Estragon n’y songe pas, à ce

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von denen Beckett eine clowneske oder slapstickartige Ausführung verlangt, wie z. B. der ›Hutnummer‹ (EaG, 101 f.), nicht hilflos als sinnlos eingebauten ›Nummern‹ gegenüber, sondern kann sich diese als sinnvollen Teil seiner Figur zu eigen machen. Becketts und Hegels ästhetische Auffassungen kommen darin überein, daß das tragische Pathos der Antike nicht mehr wahrheitsgetreu ist. Dies hat für beide aber nichts an der tragischen Anschauungsweise geändert, auch wenn die Tragödie nicht mehr das ihr angemessene Ausdrucksfeld sein kann. Das Weltbild hat sich zwar partikularisiert, ist kleiner geworden, nicht aber die tragische Dimension, d. i. die Ohnmacht des Individuums gegenüber dem Substantiellen, der Konflikt zwischen dem Leben und unserer subjektiv individuellen Auffassung vom Leben. Mit der ohnmächtigen Auffassung verbunden bleibt die Furcht: »[w]as nun der Mensch wahrhaft zu fürchten hat, ist nicht die äußere Gewalt und deren Unterdrückung, sondern die sittliche Macht« (Ä, III, 525). Und so fürchtet auch Estragon nicht jene, die ihn allnächtlich verprügeln, sondern Furcht erweckt die Vision einer ›höheren‹ Strafe: »Et si on le laissait tomber ? – Il nous punirait.« (EaG, 132). Beckett veranschaulicht eben diese Tragik durch die oftmals ironische Verknüpfung der tragischen und der komischen Anschauungsweise. Wie wohl Hegels geschmacksbestimmtes Urteil, welches er ja in seine kunsthistorischen Betrachtungen wiederholt einfließen läßt, über dieses Werk ausgefallen wäre, ist zwar letztlich eine müßige Frage, soll aber insofern kurz angesprochen werden, als zumeist aus seiner Ablehnung einiger zeitgenössischer Romantiker auf eine grundsätzliche Abwertung moderner Poesie, insbesondere auf eine grundsätzliche Verurteilung ironischer Ausdrucksmittel geschlossen wird. Hegel polemisiert in der Tat gegen die v.a. von Friedrich Schlegel und Wilhelm Tieck vertretene, für ihn »sogenannte« Form der Ironie, näher gegen eine darin zum Ausdruck kommende »Eitelkeit« sowie »krankhafte Schönseelischkeit und Sehnsüchtigkeit«. In Gegenüberstellung verteidigt er ausdrücklich das ironische Kunstprinzip Karl Wilhelm Ferdinand Solgers, der ohne den letzten dialektischen Schritt der Versöhnung zu vollziehen, »bei dieser Seite der Negativität, die mit dem ironischen Auflösen des Bestimmten wie des in sich Substantiellen Verwandschaft hat […] stehengeblieben« ist.90 Ohne hier auf Hegels Unterscheidungskriterien und die Verfälschungen durch Hotho näher eingehen zu können, möchte man doch, nach allem bisher Gesagten, Becketts Formgestaltung derjenigen Solgers zuordnen. Für einen Platz der durch Godot vertretenen modernen dramatischen Poesie im Rahmen des Hegelschen Gemoment-là. Il ne se rend même pas compte qu’il perd son pantalon. […] J’ai beaucoup d’autres raisons de ne pas renoncer à ça, mais je t’en ferai grâce. Sois gentil de le retablir tel que c’est dans le texte, et tel que nous l’avons toujours prévu aux répétitions. Que le pantalon tombe entièrement, jusqu’aux chevilles. Ça peut te paraître idiot, mais pour moi c’est capital.« (Beckett in einer Notiz an Blin nach der Premiere. In: Deirdre Bair: Samuel Beckett [Anm. 31], 387; Herv. E. K.). 90 Vgl. Ä, I, 93-98, insb. 96/98 f. Zu Hegels Ansicht des »Prinzips der modernen Ironie« als berechtigt vgl. auch Ä, I, 210 f.; zu einer allgemein positiven Bewertung ironischer Mittel vgl. u. a. Ä, III, 368.

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Evelin Kohl

schmackshorizontes spricht zudem sein Verweis auf den letztlich ironischen Charakter der Kunst als solcher: »Gegen die vorhandene prosaische Realität ist daher dieser durch den Geist produzierte Schein das Wunder der Idealität, ein Spott, wenn man will, und eine Ironie über das äußerliche natürliche Dasein.« (Ä, I, 215). Dank der Forschungen Gethmann-Sieferts können inzwischen viele der Diskussionen um Hegels kunsthistorische Betrachtungen oder einen möglichen strukturimmanenten Widerspruch in diesen Betrachtungen als überholt gelten,91 doch auch, wenn man weiterhin um einige der Hegelschen Ansätze streiten kann, seine näheren Bestimmungen der Theaterkunst jedenfalls, zu denen die Differenzierung des Tragischen und des Komischen als grundlegende ästhetische Weltanschauungsweisen zählt, bieten entscheidende Zugänge zu einem modernen Werk wie Godot und zeigen sich hierbei als ästhetische Bestimmungen in zeitloser Aktualität. Über das hier angeführte Beispiel eines ersten Zugangs zu den Momenten der Theaterkunst in der konkreten Bestimmung eines Begriffs wie dem der Tragikomödie hinaus finden sich wesentliche Mittel der Schauspielkunst, mit denen es gelingen kann, ein Werk wie Godot zu ›meistern‹, von Hegel in den näheren Untersuchungen der dramatischen Prinzipien verankert. Es bedarf zwar eines genaueren Hinsehens, aber im Zuge eines solchen zeigen sich eben diese Mittel verborgen in der Vermittlung des epischen und des lyrischen Prinzips, finden ihre ästhetische Begründung in der Schwebe zwischen diesen Prinzipien (Ä, III, 477 ff.). Wie auch die Studien Gethmann-Sieferts belegen, gilt es, noch vieles an der Hegelschen Kunstphilosophie neu zu entdecken, deutlich wird bei näherer Betrachtung aber bereits jetzt, daß Hegel in der strukturellen Bestimmung der Bühnenaufführung als Realisation des Prinzips der dramatischen Poesie, d. i. das Prinzip der Totalität der Handlung in »ihrer inneren und äußeren Wirklichkeit« (Ä, III, 474), das Wesen der Theater- und näherhin der in den Rang einer selbständigen Kunst erhobenen Schauspielkunst zu begründen vermag. Auch wenn er der Beschreibung derselben explizit nur wenig Raum einräumt, so ist doch m.E. das Wesen dieser Kunst, sowohl in der grundlegenden Bestimmung ihres Handlungscharakters als auch in der ihrer Besonderheiten, z. B. des Schauspielers als gestaltender Künstler und gleichzeitig als Material seiner Gestaltung, vor und nach Hegel philosophisch niemals präziser erfaßt worden.

Zur Diskussion um diese Betrachtungen sei u. a. verwiesen auf die Studien von Wolfgang Heise: Gedanken zu Hegels Konzeption des Komischen und der Komödie; Peter Szondi: Zu Hegels Bestimmung des Tragischen; Otto Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie, in: Hans-Georg Gadamer (Hg.): Heidelberger Hegeltage 1962, in: Hegel-Studien, Beiheft 1, Bonn 1964, 285-306. Einen sowohl strukturimmanenten als auch struktural-historischen Widerspruch sieht z. B. Peres zwischen Hegels expliziter Hochschätzung der antiken dramatischen Poesie und seiner negativen Haltung gegenüber den Romantikern, da sie letztere als negative Bewertung der modernen dramatischen Poesie überhaupt betrachtet (Constanze Peres: Die Struktur [Anm. 59], 138 ff.). 91

Hegel und die Hegelianer über das Hässliche: eine kontroverse Rezeption * Von Francesca Iannelli

In der Hegelliteratur wird weitgehend die These vertreten, daß der ›Klassizist‹ Hegel keinen bemerkenswerten Beitrag zur Konsolidierung und Gestaltung der ästhetischen Kategorie des Häßlichen geleistet habe. Diese These stützt sich auf die von dem Hegelschüler und Kunsthistoriker Heinrich Gustav Hotho zwischen 1835 und 1838 posthum veröffentlichte und 1842 neu aufgelegte Ästhetik Hegels. Ob man nämlich die Geschichte des Häßlichen mit Friedrich Schlegels berühmter Schrift Über das Studium der griechischen Poesie beginnen läßt1 oder ihren Ursprung in Lessings Laokoon 2 oder im französischen Klassizismus3 zu finden meint, man ist sich allgemein darüber einig, daß die Geschichte der Legitimierung der ästhetischen Kategorie des Häßlichen nicht weiter auf die Hegelsche Ästhetik eingeht. Eher sieht es so aus, als sei die Reflexion über das Häßliche mit Hegel unterbrochen und erst später von seinen Schülern wieder aufgenommen und ausgearbeitet worden, hauptsächlich von Karl Rosenkranz. Daß diese These unzutreffend ist, soll hier anhand der zahlreichen überlieferten Nach- und Mitschriften von Hörern der Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels dargelegt werden.4 * Für die Unterstützung bei der sprachlichen Überarbeitung dieses Beitrages danke ich Frau Maria Böhmer – Eine leicht abweichende Textversion mit dem Titel Hegel e gli Hegeliani sul brutto: una ricezione controversa erscheint auf Italienisch in der Zeitschrift Materiali di Estetica 10, Milano 2004, 9-28. 1 Vgl. Günter Oesterle: Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen – Die Geschichte einer ästhetischen Kategorie von Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz bis zu Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen als Suche nach dem Ursprung der Moderne, in: Zur Modernität der Romantik, hg. von Dieter Bänsch, Stuttgart 1977, 217-297. Max Schasler: Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1872), II, Aalen 1971, 791 ff. György Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin 1955. 2 Mit Lessing endet laut G. Scaramuzza die »Vorgeschichte« und beginnt die »Geschichte« des Theoretisierens des Häßlichen. Vgl. Il brutto nell’arte, a cura di Gabriele Scaramuzza, Napoli 1995, 8. Die erste thematische Betrachtung des Häßlichen und Abstoßenden findet sich laut Paolo D’Angelo genau in Lessings Laokoon von 1766. Paolo D’Angelo: Brutto, in: Dizionario di Estetica, a cura di Gianni Carchia / Paolo D’Angelo, Roma-Bari 1999, 47. 3 Carsten Zelle stellt die privilegierte Rolle, die von dem größten Teil der Interpreten Schlegel zugeteilt wird, stark in Frage und behauptet, daß die Geschichte des Häßlichen als »negative Geschichte des Schönen spätestens mit dem französischen Klassizismus beginnt«. Vgl. Carsten Zelle: Ästhetik des Häßlichen – Friedrich Schlegels Theorie und die Schock- und Ekelstrategien der ästhetischen Moderne, in: Ästhetische Moderne in Europa – Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, hg. von Silvio Vietta und Dirk Kemper, München 1997, 197-233. 4 Nur einige dieser Nach- und Mitschriften sind veröffentlicht worden. Die Mehrzahl davon ist noch unveröffentlicht. Auf diese stützt sich die folgende Arbeit. Es folgt hier die Liste der berücksichtigten Texte und der Abkürzungen, mit denen sie erwähnt werden. Georg Wilhelm

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Hält man sich ausschließlich an die von Hotho in Druck gegebenen Vorlesungen über die Ästhetik, so kann man die Thematik des Häßlichen als solche schwerlich in ihrer ganzen Tragweite untersuchen. Nach dem plötzlichen Tod Hegels im November 1831, der eingetreten war, bevor er in einem einzigen endgültigen Text seine zahlreichen, in den letzten zehn Lebensjahren angestellten Überlegungen zur Kunst zusammenfassen konnte, gab Hotho eine Fassung von Hegels Ästhetik heraus, die eine vorwiegend klassizistische Auffassung der Philosophie der Kunst widerspiegelt und damit das Erhabene, das Charakteristische und das Häßliche in seiner Bedeutung und seiner Funktion eher zurücktreten läßt.5 Dagegen zeigen die Nach- und Mitschriften seiner Hörer, wie Hegels Interesse für die klassische (schöne) Kunst von Jahr zu Jahr nachläßt, das für die (noch nicht schöne) symbolische zunimmt,6 während er sich immer mehr den Erscheinungsformen der (nicht mehr schönen) romantischen Kunst der Gegenwart öffnet, womit die äußerst umstrittene These vom Ende der Kunst entkräftet wird.

Friedrich Hegel: Vorlesung über Ästhetik – Berlin 1820/21. Eine Nachschrift, hg. von Helmut Schneider, Frankfurt/M. / Berlin / Bern / New York / Paris /Wien 1995 (im folgenden: Ascheberg 1820/21); ders.: Vorlesungen über Philosophie der Kunst – Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 (im folgenden: Hotho 1823) ders.: Philosophie der Kunst oder Ästhetik nach Hegel – Im Sommer 1826. (Mitschrift von Hermann von Kehler), hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Bernadette Collenberg-Plotnikov unter Mitarbeit von Francesca Iannelli und Karsten Berr, München 2004 (im folgenden: Kehler 1826); ders.: Philosophie der Kunst – Berlin 1826 (Mitschrift von der Pfordten), hg. von Annemarie GethmannSiefert, Jeong-Im Kwon und Karsten Berr, Frankfurt/M. 2005 (im folgenden: von der Pfordten, 1826); ders.: Ästhetik nach Prof. Hegel, 1826, Anonym (Ms. Stadtbibliothek Aachen; im folgenden: Aachen, 1826); ders.: Philosophie der Kunst – Von Prof. Hegel. Sommer 1826. Nachgeschrieben durch Griesheim (Ms. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin; im folgenden: Griesheim 1826); ders.: Aesthetik nach Hegel – 1826. Löwe. (Ms. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin; im folgenden: Löwe 1826); ders.: Ästhetik nach Prof. Hegel im Winter Semester 1828/29 (Mitschrift Karol Libelt) (Ms. Jagiellonische Bibliothek, Krakau; im folgenden: Libelt 1828/29). Die auch als Buch veröffentlichten Nachschriften werden zitiert mit der Angabe der Buch- sowie der Manuskriptseite (Ms.). Nähere Erläuterungen zum Problem der Quellen der Ästhetikvorlesungen Hegels finden sich bei Annemarie Gethmann-Siefert: Ästhetik oder Philosophie der Kunst – Die Nachschriften und Zeugnisse zu Hegels Berliner Vorlesungen, in: Hegel-Studien 26 (1991), 92-110. 5 Die Revisionsbedürftigkeit der edierten Ästhetik wird inzwischen durch zahlreiche Studien belegt, siehe z. B. die Aufsätze in dem Sammelband: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen im Kontext der Diskussion um die Grundlagen der philosophischen Ästhetik, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Lu De Vos und Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2005.

Hegel und die Hegelianer über das Häßliche

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I. Die Hegelsche Konzeption des Häßlichen: das Häßliche in der Kunst In den vier Vorlesungsreihen, die Hegel an der Berliner Universität über die Ästhetik gehalten hat (1820/21, 1823, 1826, 1828/29), läßt sich sein Interesse am Häßlichen in der Malerei und der Musik, hauptsächlich aber in der Poesie aufspüren. Es ist nämlich nicht das Häßliche in der Natur, die ›Naturhäßlichkeit‹, um die es Hegel geht, als vielmehr das Häßliche in der Kunst, denn die Ästhetik erforscht die Schöpfungen der menschlichen Subjektivität und nicht die zufälligen Erzeugnisse der Natur. Für Hegel ist das Häßliche folglich Kunsthäßlichkeit. Das von Natur aus Häßliche interessiert ihn höchstens dann, wenn es charakteristisch ist, z. B. beim Porträt. Im Porträt kann das Naturhäßliche in Betracht gezogen werden, in diesem Fall aber wird es verwandelt und zu Kunst erhoben. Sonst erhält das natürlich Häßliche, wie Hegel jedes Jahr zu Beginn seiner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst erklärt, keinen Platz in seiner Ästhetik, weil es der Kunst fremd ist.7 Wie wir sehen werden, ist dies ein entscheidender Punkt, an dem sich Hotho und mit ihm die Hegelianer überhaupt radikal von der Ästhetik des Meisters entfernen, sei es, weil sie sich auf den von Hotho veröffentlichten Hegelschen Text oder auf Hothos persönliche Reflexionen über die Ästhetik berufen. Da es hier nicht möglich ist, dem Interesse Hegels für das Häßliche in seiner ganzen Breite nachzugehen, werden wir uns nun ausschließlich mit seinen Reflexionen über das Häßliche in der christlichen Malerei befassen, um an diesem Beispiel zu zeigen, wie groß der Unterschied zwischen der Ästhetik Hegels und der seiner Schüler ist.8 Die Malerei ist für Hegel »die christliche Kunst«, weil sie »ihre zweckmäßigste Anwendung«9 im Prinzip der christlichen Religion findet: in dem der Innerlichkeit.10 Die Subjektivität ist also der bevorzugte Inhalt der Malerei. Nicht mehr die statuarische, unerschütterliche Schönheit der kalten griechischen Skulpturen, sondern die zerrissene und vielgestaltige romantische Subjektivität. Jeong-Im Kwon: Hegels Bestimmung der Kunst – Die Bedeutung der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik, München 2001, 147 ff. 7 Es reicht, den Beginn der dritten Ästhetikvorlesung von 1826 zu lesen. Vgl. Kehler 1826, 1 f. / Ms. 1, 2. 8 Für eine weitere Vertiefung dieser komplexen Thematik und vor allem für das Häßliche in der Poesie, die hier nicht geleistet werden kann, wird auf die Recherchen von Annemarie Gethmann-Siefert verwiesen, die das Verdienst hat, in den Nachschriften der Hörer der Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels eine Ästhetik des Häßlichen ausgemacht zu haben, die in dem von Hotho veröffentlichten Text so nicht feststellbar ist. Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der Kunst, in: Hegel-Jahrbuch (Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – Die Politik der Kunst) II (2000), 21-24. Eine nähere Untersuchung von Hegels Deutung des Häßlichen findet sich auch in meiner Dissertation: Francesca Iannelli: Die Bestimmung des Häßlichen in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik und ihre Rezeption bei den Hegelianern. (Phil. Dissertation in co-tutelle de thèse, Hagen / Roma (erscheint voraussichtlich 2006). 9 Kehler 1826, 181 / Ms. 341. 10 Griesheim 1826, Ms. 278. 6

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In seiner Auseinandersetzung mit der Malerei läßt sich die graduelle Öffnung Hegels gegenüber dem Häßlichen beobachten, die sich im Laufe der Vorlesungsjahre wandelt und zunimmt. Hegel stimmt zwar mit Lessing überein, daß es in der Poesie und noch nicht in der Malerei so ist, daß »die Diskrepanzen bis zur Häßlichkeit fortgetrieben werden«11, aber er denkt seit seiner ersten Berliner Ästhetikvorlesung über die Ausdrucksmöglichkeiten des Häßlichen im Bereich der christlichen Malerei nach. Im Wintersemester 1820/21 bestätigt Hegel nämlich, daß in der modernen Kunst der Charakter in seiner ganzen Mannigfaltigkeit dargestellt wird, weshalb die Schönheit nicht mehr »Hauptgesetz« ist. Der Maler darf jedoch das »Gräßliche« nicht übertreiben.12 Hegel fordert daher zu einem vorsichtigen Gebrauch des Häßlichen in der Malerei auf und merkt an, daß die Künstler die häßlichsten Gestalten für die Sünder in der Hölle und für den Teufel vorbehalten haben.13 Bei der Betrachtung der Darstellung des Ecce-Homo hebt Hegel hervor, wie die Italiener für den Christus ein in der Natur nicht existierendes Kolorit zu realisieren vermochten, eine dunkle Farbe, ein außergewöhnliches Braun und Schwarz, das die »Nacht des Geistes« am besten zum Ausdruck bringt. Diese »gräßliche Verzerrung« des am Kreuze gedemütigten Gottes wird für Hegel jedoch noch nicht zum Anlaß, auf das Häßliche zurückzugreifen.14 Auch im Sommersemester 1823 denkt Hegel weiter über die Rolle nach, die das Häßliche in der Malerei einnimmt. Er scheint es immer noch der Gestalt des Bösen vorzubehalten, während er es für unzulässig hält, den Heiland der Welt auf diese Art darzustellen. Das Häßliche ist also das Sichtbarmachen der Sünde und der inneren Bosheit. Im Falle der Darstellung einer Bekehrung ist für Hegel z. B. »die äußerliche Handlung leicht ein Unschönes, denn Sünde und Verbrechen und Böses muß dargestellt werden.«15 Aber schon in der Ästhetikvorlesung von 1823 Kehler 1826, 50 / Ms 89. Aus diesem Grund behauptet Annemarie Gethmann-Siefert, daß hier seitens Hegels ein Zögern gegenüber dem Häßlichen in der Malerei vorliege, das dann in der Poesie überwunden wird. Vgl. A. Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der Kunst [Anm. 8], 30. 12 Ascheberg 1820/21, 264 / Ms. 207. 13 Vgl. ebd. – Dieser Passus über die Kriegsknechte, die Sünder und den Teufel wird – wie es öfter widerfährt, wenn man Stellen aus den Nachschriften der Berliner Ästhetikvorlesungen mit der herausgegebenen Ästhetik vergleicht – in der veröffentlichten Fassung von Hotho überarbeitet und dann wieder aufgenommen; ihm gehen aber Überlegungen voraus (siehe die Überlegungen über »das an und für sich Hässliche« in Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, 2 Bde, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin / Weimar 1965 [2. durchgesehene Auflage, redigiert nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos von 1842], II, 236 f.), die nicht mit der Nachschrift Aschebergs von WS 1820/21 übereinstimmen, sondern deren Sinn ändern. 14 Ascheberg 1820/21, 258 / Ms. 202. Die Nicht-Übereinstimmung zwischen der Hegelschen Abhandlung des Kolorits in der von Hotho veröffentlichten »Ästhetik« und den Nachschriften wird im Aufsatz von Bernadette Collenberg analysiert: Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, in: Phänomen versus System – Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesung über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1992, (Hegel-Studien, Beiheft 34), 91-164. 15 Hotho 1823, 189 / Ms. 175. 11

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tauchen einige Komplikationen auf. Im Falle der Darstellung der Märtyrer gerät die Gleichsetzung des Häßlichen mit dem Bösen ins Wanken. Diese Gestalten, auch wenn von Hegel noch nicht klar und deutlich als häßlich definiert, desorientieren jedenfalls unseren Sinn für das Schöne und verletzen ihn. Diese Beleidigung unseres Schönheitsbegriffs und -sinns16 ist jedoch durch keinerlei innere Bosheit begründet, im Gegenteil. Der immense Schmerz und das von den Märtyrern empfundene Leiden, um die Heiligkeit zu erreichen, erscheint in unseren Augen jedoch als gräßlich:17 »Man sieht hier Henker, Qualen aller Art, leibliche Verzerrungen, so daß in betreff auf die Darstellung die Entfernung von der Schönheit zu groß ist, als daß von einer gesunden Kunst dergleichen Gegenstände sollten gewählt werden können. Die Behandlung des Künstlers kann dann wohl andererseits vortrefflich sein, aber das Interesse bleibt dann doch nur immer subjektiv, und die Behandlung bemüht sich vergebens, mit dem Stoffe sich in Einheit zu bringen.« 1826 wird Hegel dies als »ein sehr gefährlicher Stoff«18 für die Kunst scheinen: »Diese Qualen sind häßliche Gegenstände für sich selbst«19, aber er muß anerkennen, daß es sich trotz allem um echte Kunstwerke handeln kann. Auch wenn nun die romantische Kunst das Äußere als gleichgültig ansieht, darf sie deshalb trotzdem nicht bis »zu dieser ganz widrigen Zerrissenheit«20 vordringen. Das Ausschlaggebende aber ist hier, daß die äußere Häßlichkeit in diesem Fall keine Konsequenz des Bösen ist. Ein regelrechter Riß in der Überlagerung des Häßlichen und des Bösen sollte aus der Reflexion über den am Kreuz sterbenden Christus entstehen. Nach und nach beginnt Hegel zu akzeptieren, daß auch das absolut Gute durch eine häßliche Form geschaut werden kann. Das Häßliche kann also nicht tout court mit dem Bösen gleichgesetzt werden. Es handelt sich um eine langsam fortschreitende Reflexion, in der sich die Hegelsche Konzeption der Ästhetik allmählich wandelt, vor allem in den letzten zwei Vorlesungszyklen von 1826 und 1828/29. Im Sommersemester 1823 ist davon noch nicht viel zu spüren, auch wenn es in dieser zweiten Berliner Ästhetikvorlesung bereits wichtige Andeutungen gibt, z. B. über den Anthropomorphismus der griechischen Götter und das Überwiegen der Sinnlichkeit, die in der klassischen Kunst »nicht gestorben und nicht getötet«, sondern »geblieben« ist21 – Andeutungen, die einen späteren Reifeprozeß und eine Evolution des Hegelschen Denkens in bezug auf das Unschöne ankündigen. Hegel hält es nämlich 1823 für unangemessen, in die Christusdarstellung das Häßliche als solches zu mischen22 und schlägt statt dessen eine Zwischenlösung des Ausdrucks vor. Auch wenn er noch 16 17 18 19 20 21 22

Hotho 1823, 188 / Ms. 174. Ebd., 188 f. / Ms. 174. Kehler 1826, 138 / Ms. 254. Griesheim 1826, Ms. 227. Kehler 1826, 139 / Ms. 255. Hotho 1823, 159 / Ms. 145. »Häßlichkeit darf der Gestalt nicht beigemischt sein.« (Ebd., 186 / Ms. 172)

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nicht akzeptiert, daß die Häßlichkeit zur Darstellung des Gottessohns herangezogen wird, schließt Hegel andererseits jedoch aus, daß die Schönheit und das Erhabene angemessen seien, dem Mensch gewordenen Gott der Christen23 die äußere Form zu verleihen und unterstreicht: »Christusköpfe sind hiermit kein klassisches Ideal. Die Schönheit Apolls ihnen einzubilden, würde als höchst unpassend erscheinen«24. Die Darstellung Christi muß sich daher von der idealen Schönheit entfernen, darf aber auch nicht ins Gegenteil und in das, was gemein ist, herabsinken.25 Im Jahre 1823 fürchtet Hegel also noch einen zu bedenkenlosen und zu ausgedehnten Gebrauch des Häßlichen und begrenzt daher dessen Anwendung auf ganz bestimmte Fälle, in denen sich diese ästhetische Form als angemessen erweist, um äußerlich eine innere und moralische Häßlichkeit auszudrücken; Christus bleibt davon ausgeschlossen. Dies ändert sich dann im Sommersemester 1826. Hegel unterstreicht im dritten Vorlesungsjahr nochmals, daß »die Person Christi« nicht nach dem klassischen Ideal dargestellt werden darf. Und: »Die Christusköpfe, die teils große Meister der Skulptur und Malerei erfunden haben, oder die mehr nach einem sehr allgemeinen, traditionellen Typus gemacht sind, sind sehr verschieden von den griechischen Idealen, ein solches würde nur störend, fremdartig sein, wenn ein Christus dargestellt wäre«.26 Auch wo Christus als Meister gezeigt wird, bemerkt er, daß diese idealisierten Darstellungen auch bei lobenswerter Ausführung etwas Mangelhaftes haben, was nicht zu dem fleischgewordenen Gott paßt.27 Gerade deshalb hält Hegel van Eycks Darstellung von Jesus als Meister für unbefriedigend.28 Einen idealisierten griechischen Kopf zu wählen, um die »göttliche Innigkeit« und »Liebe« darzustellen, ist »zuwider«29. »Die Größe, Milde, Hoheit und Freundlichkeit kann dadurch wohl ausgedrückt werden, nicht aber das Göttlich-Menschliche.«30 Das menschliche und göttliche Wesen von Jesus läßt sich in keiner Weise durch eine ideale Darstellung, wie sie für die griechischen Götter üblich war, erfassen. Aber insbesondere darf der gekreuzigte Christus nicht idealisiert werden. Hegels Ansicht nach ist es den italienischen Malern gelungen, das göttliche Leiden Christi, das in keiner Hinsicht mit den Schmerzensschreien Laokoons zu vergleichen ist, auf hervorragende Art zu erfassen. Auch die Farben sind in der italienischen christli»[…] aber sie verschmäht die ideale Schönheit und die Erhabenheit.« (Ebd.) Ebd. 25 »Die Gestalt darf weder zum Gemeinen herabsinken noch die klassische Schönheit erreichen.« (Ebd.) 26 Kehler 1826, 136 / Ms. 249. 27 Ebd., 183 / Ms. 346. 28 »Hoheit, Milde, Freundlichkeit ist besonders ausgedrückt in den Köpfen von E y k , doch kann man nicht sagen, daß hier eine befriedigende Darstellung eines Christuskopfes vorhanden sei.« (Griesheim 1826, Ms. 282). 29 Ebd. 30 Kehler 1826, 184 / Ms. 347. 23 24

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chen Malerei wunderbar stimmig, vor allem das Grau, das Gelb und die dunklen Farben, die auf den bleiernen, wolkigen, sturmverkündenden Himmel anspielen. Es folgt dann eine wichtige Reflexion über den leidenden Christus: »Man hat die Christusköpfe dieser Art auch häßlich-verklärt dargestellt.«31. Das ist der Punkt, an dem Hegel in seiner Betrachtung der Malerei feststellt – und akzeptiert –, daß Christus auch vom Häßlichen verklärt dargestellt werden kann, womit er den Begriff der Häßlichkeit von dem der Bosheit loslöst. Das Bedürfnis, für Christus eine angemessene Darstellung zu finden, die den Ausdruck der »unendlichen Dissonanz«32 trifft, nimmt Hegel in der Vorlesung von 1828/29 unter einem etwas anderen Gesichtspunkt wieder auf, wenn er sagt: »Die Gestalt Christi als Gegenstand der Kunst ist kein Ideal, sondern Portrait, dieser Mensch.«33 Es ist vor allem das Nachdenken über den Tod und den christlichen Schmerz, das diese Entwicklung möglich macht: Es wäre ein unüberwindbarer und unpassender Widerspruch, zu versuchen, durch eine schöne harmonische Form den Ernst und die Würde, die das dramatische Leben Christi umgeben, darzustellen. Wie in dem allgemeinen, der romantischen Kunst gewidmeten Teil von 1826 zu lesen ist, erklärt Hegel, daß dort, wo der Schmerz auftaucht, das Häßliche unvermeidlich in die Kunst eindringt:34 »Dieses Natürliche ist hier als ein Schmerz, ein Aufzuhebendes, wesentlich zu Verletzendes. Daher tritt das Gleichgültige oder sogar das affirmative Unschöne in die Kunst ein, indem Schmerz, körperliches Leiden auftritt.« Ein »affirmatives« Häßliches tritt in die Kunst ein, um dem Leid einen angemessenen ästhetischen Ausdruck zu verleihen und damit nehmen »die vielfachen Darstellungen in der romantischen Kunst, worin sich diese Innigkeit des Geistigen ausdrückt«35, Form an. Dies bestätigt auch ein Passus aus Hegels letzter, im Wintersemester 1828/29 gehaltener Vorlesung:36 »Es ist die Innerlichkeit, die der Schmerz durchgearbeitet hat, was dann auch in der Äußerlichkeit erscheint. Das wird Gegenstand der Malerei. Die Kunst geht zur Ausführung über, und da ist das Schmerzliche, Furchtbare, Gräßliche, Gräuelhafte dargestellt.« So wird also die christliche Kunst zur nicht-mehr-schönen Kunst. Dies ist auch deshalb möglich, weil die religiösen Darstellungen als Gegenstand der Andacht äußerlich nicht schön zu sein brauchen.37 Die Frömmigkeit »will nur an den Gegenstand überhaupt erinnert werden. Das Übrige tut das Gemüt hinzu, und diese Innerlichkeit ist dabei das Bestimmte«38. Den Gläubigen interessiert also nicht das Aachen 1826, Ms. 97. Libelt 1828/29, Ms. 91a 33 Ebd., 1828/29, Ms. 93 34 Kehler 1826, 136 / Ms. 250. 35 Aachen 1826, Ms. 136. 36 Libelt 1828/29, Ms. 93a. 37 »Die Frömmigkeit hat genug an irgendeinem Bilde. Das schlechteste Bild ist ihr genug« (Hotho 1823, 176 / Ms. 162). »Die Frömmigkeit ist mit schlechten Kunstwerken zufrieden.« (Hotho 1823, 236 / Ms. 220.) 38 Ebd., 236 / Ms. 220. 31 32

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schöne Aussehen, sondern vielmehr die tiefere Bedeutung des angebeteten Gottes: »Bei der christlichen Kunst sind es nicht die schönen Bilder, welche die Gläubigen suchen, sondern die alten statuarischen Bilder. Beim Schönen kommt durch den Reiz des dargestellten Daseins eine Entfernung vom allgemeinen Gedanken hervor und von dem, was die tiefere Andacht befriedigt. Dieser Gegensatz im Allgemeinen ist es, der auch hier eintritt und die schöne Götterwelt untergehen läßt. An die Stelle der klassischen Kunst muß die romantische christliche Kunst eintreten.«39 Diese Thematik einer christlichen Kunst wird in der letzten der Ästhetik gewidmeten Vorlesung von 1828/1829 wieder aufgenommen. Die Bilder, die Gegenstand der Andacht sind, dürfen auch »die häßlichsten«40 sein, bestätigt Hegel. Diese zunehmende Öffnung dem Kunsthäßlichen gegenüber ist im Ergebnis aus der Druckfassung der Ästhetik 41 ebensowenig ablesbar wie hier Hegels Interesse für das Nicht-mehr-Schöne in der Poesie und in der Musik hinreichend zu überprüfen ist. Die Nachschriften der Hörer der Hegelschen Vorlesungen gestatten uns dagegen, die Entwicklung seiner ästhetischen Lehre genau zu verfolgen und festzustellen, daß das Unschöne dank dem Dissonanten und dem Disharmonischen in der Musik seinen Raum erhält, während das Häßliche seinen legitimen Ort vor allem in der Poesie findet, insbesondere in der Poesie Shakespeares und Schillers: auf der einen Seite in den schönen Seelen der Shakespeareschen Poesie (wie Julia, Miranda und Hamlet), die innerlich gespalten und unfähig sind, zu handeln, und auf der anderen Seite in den großen Individuen der Poesie Schillers, die erfolglos gegen das Schicksal kämpfen und ihr Handeln bis zu dem Punkt treiben, wo es zum Verbrechen wird. Die moralische Absicht ist gut und recht, aber die Durchführung der Vorsätze scheitert, bis sie kriminell wird. Trotzdem sieht Hegel in den Berliner Vorlesungen gerade in diesen Gestalten den Höhepunkt der modernen Poesie und nicht in Goethes Faust, wie es die Druckfassung der Ästhetik nahelegt42. Daß im Laufe weniger Jahre eine bedeutende Fortentwicklung in Hegels ästhetischem Denken möglich ist, ist unter anderem aus den zahlreichen Reisen zu erklären, die er zum Vergnügen unternommen hat, aber auch und vor allem aus »leidenschaftlichem Kunstinteresse«, das »allem Anderen voranleuchtet«43, sowie aus Ebd., 176 / Ms. 162. Libelt 1828 / 29, Ms. 129. 41 In der Druckfassung der Ästhetik scheint Hegel für die Darstellung Christi die Lösung vorzuziehen, die er 1823 vorgeschlagen hatte. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik [Anm. 13], I, 516. 42 Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der Kunst [Anm. 8], besonders 34 ff. sowie auch Francesca Iannelli: Hegels Konzeption der nicht-schönen Kunst in der Vorlesung von 1826, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste [Anm. 5], sowie demnächst dies.: Die Bestimmung des Häßlichen in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik [Anm. 8]. 43 Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1844 / mit einer Nachbemerkung zum Nachdr.1977 von Otto Pöggeler, Darmstadt 1977. Über Hegels Reisen siehe 362-367, hier 365. 39 40

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der außergewöhnlichen Neugierde, die Hegel für das kulturelle und künstlerische Leben in Berlin empfand. Rosenkranz berichtet von den Jahren, die sein Meister in Berlin verbrachte: »Mit unablässigem und dauerndem Behagen besuchte er Concert, Theater, Galerien und Ausstellungen«44. Außerdem muß daran erinnert werden, daß die Kunst in jenen Jahren einer der wenigen nicht der Zensur unterworfenen Bereiche und daher einer der lebhaftesten sozialen Kontexte war, in dem freier Ausdruck möglich war, wie Rosenkranz hervorhebt: »Das ästhetische Interesse war damals in Berlin das einzig öffentliche. Ein politisches existierte nicht.«45 Es ist uns hier nicht möglich, diesen Gedankengängen im einzelnen nachzugehen; es ist jetzt jedoch wichtig zu verstehen, daß das (Kunst)Häßliche von Hegel auf keinen Fall, wie dann in der nachhegelschen Ästhetik, als das ›Gegenteil des Schönen‹ aufgefaßt wird, sondern als eine der vielen Formen, die die moderne Kunst annehmen kann und muß. Annemarie Gethmann-Siefert unterstreicht im Blick auf Hegels Interpretation von Schillers Dramen, daß für Hegel das Häßliche in der Kunst zum Bedeutungsträger wird, da es die Vermittlung des wahren ethischen Pathos ermöglicht. Es ist die einzige akzeptable Art und Weise, kritisches Nachdenken zu bewirken.46 Das Häßliche ist also kein relativer oder untergeordneter Begriff, nie spricht Hegel in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen davon in diesen Termini. Man kann schon in der Vorlesung über die Philosophie der Kunst von 1823 lesen:47 »Die romantische Kunst hat eine musikalische Grundlage, ein Schweben und Tönen über einer Welt, welche nur einen Gegenschein aufnehmen kann dieses Insichseins der Seele und immer eine heterogene Materie gegen das Wahre ist. Dieser heterogenen Materie ist es daher freigegeben, partikulär aufzutreten. Sie darf jetzt unschön erscheinen.« Die moderne romantische Kunst durchläuft alle möglichen Ausdrucksformen und nimmt sie alle an – vom Charakteristischen über das Interessante bis hin zum Nicht-Schönen –, kann also auch häßlich erscheinen. Das Prinzip der romantischen Kunst ist nun »das der absoluten Innerlichkeit«. Die »Strenge der Sinnlichkeit«48 und der Äußerlichkeit der schönen idealisierten klassischen Kunst wird überwunden und damit »erhält die Erscheinung auch ein anderes Verhältnis, das über die Schönheit hinausgeht«49.

Ebd., 350. Ebd., 349 46 Annemarie Gethmann-Siefert: Il significato storico dell’arte e la sua vocazione. La più grande potenzialità dell’arte non consiste nella bellezza ma nella trasmissione di una coscienza che rifletta i valori etici di una comunità, in: Prometeo, XX, 80, (2002), 38-49, hier 48. 47 Hotho 1823, 182 / Ms. 169. 48 Ebd., 185 / Ms. 171. 49 Ebd., 180 / Ms. 166. 44 45

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II. Die Konzeption des Häßlichen in der Ästhetik der Hegelianer A. Das Naturhäßliche Wie schon angedeutet, hat Hegel in seinen Berliner Reflexionen die Abhandlung des Naturschönen (und -häßlichen) kategorisch aus seinen Untersuchungen ausgeschlossen und niemals einen Abschnitt seiner Ästhetikvorlesungen dieser Thematik gewidmet. Ganz anders ist dagegen die Rolle, die dem Naturschönen in der veröffentlichten Ästhetik zuteil wird.50 Die einige Jahre nach Hegels Tode von Hotho besorgte Ausgabe der Ästhetik hat beträchtlich dazu beigetragen, Verwirrung in der Rezeption von Hegels Ästhetik zu stiften, indem sie eine irrige und tendenziöse Auffassung des Naturschönen (und -häßlichen) verbreitete. Diesbezüglich genügt es daran zu erinnern, daß Benedetto Croce in seinem Werk Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik aus dem Jahr 1902 Hegel als inkonsequent beurteilt, gerade weil er zuerst das Naturschöne ausgeschlossen, es dann im veröffentlichten Text der »Ästhetik« analysiert und ihm ein ganzes Kapitel gewidmet habe.51 In bezug auf die Hegelsche Abwertung des Naturhäßlichen wahrten die Hegelianer also in keiner Weise den Berliner Lehren ihres Meisters die Treue. Am wenigsten Hotho, der in seiner ersten Vorlesung über die Ästhetik, nur zwei Jahre nach Hegels Tod, die Untersuchung der Naturschönheit (und -häßlichkeit) als wesentlichen Bestandteil seiner Forschung ansah. Es ist also gerade die Natur, in die Hotho das Häßliche als unerwünschte Frucht der Zufälligkeit verbannt, indem er die Häßlichkeit als einen Lapsus auffaßt, der nur in einem natürlichen Bereich Platz finden kann, nicht aber in der Kunst.52 In der im Sommersemester des Jahres 1833 gehaltenen Vorlesung über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst 53 entwickelte Hotho ein geschlossenes äsHegel: Ästhetik [Anm. 13], I, 121- 155. Benedetto Croce: Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale [1902], Milano 1990, 435. 52 Vgl. Francesca Iannelli: Das Häßliche – Ein Lapsus oder das ›Ferment der Differenzierung‹ ? – Zu F. Th. Vischers Diskussion mit H. G. Hotho, in: Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Bernadette Collenberg-Plotnikov und Lu De Vos (in Vorb.). 53 Diese erste Vorlesung Hothos über die Ästhetik wird durch die Nachschrift Immanuel Thomas Christian Hegels dokumentiert, dessen Ausgabe von Bernadette Collenberg-Plotnikov innerhalb des von der DFG geförderten Projektes Ästhetik und spekulative Kunstgeschichte – Philosophische Grundlagen der Kunstgeschichte als historischer Wissenschaft im Hegelianismus (1999-2001) unter der Leitung von Prof. Annemarie Gethmann-Siefert (FernUniversität Hagen) besorgt wurde. Heinrich Gustav Hotho: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst, Berlin 1833. Nachgeschrieben und durchgearbeitet von Immanuel Hegel, hg. von Bernadette Collenberg-Plotnikov, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (im folgenden: Immanuel Hegel 1833). In diesem Kontext ist auch die Edition der fragmentarischen Notizen der von Hotho gehaltenen Vorlesung über die Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer besorgt worden. Vgl. Notizen von Friedrich Theodor Vischer zu Aesthetick-Vorlesungen gehalten von Heinrich Gustav Hotho in Berlin seit dem Sommer 1833, hg. von Francesca Iannelli, in: Hegel-Studien 37 (2002), 11-28. 50 51

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thetisches System (1. Das Schöne seinem reinen Begriffe nach, 2. Das Naturschöne, 3. Das Kunstschöne), demzufolge die Idee der Schönheit sich in einem dialektischen und kreisförmigen Prozeß entwickelt. Zuerst kehrt sich die Idee des Schönen in die Objektivität um: dies ist das Moment der extremen Negativität, es ist das Reich des Naturschönen, in dem das Schöne wie auch das Häßliche erscheinen können. Dann geht die Idee ins Kunstschöne über, wo das Schöne bedingungslos herrscht, mit einer einzigen Ausnahme, wie wir sehen werden, und zwar im Falle des Infernalen und des Diabolischen. Im zweiten Teil des Systems (und zwar im Teil über das Naturschöne) wird das Vorhandensein des Häßlichen also von Hotho als »Rest der Zufälligkeit« akzeptiert. Die Tätigkeit der Idee des Schönen in der Natur ist noch bewußtlos54 und agiert daher noch nicht mit der Absicht, Schönheit hervorzubringen. Die Natur kann deshalb sowohl schön als auch häßlich sein,55 nicht aber die Kunst. Die genaue und gewissenhafte Analyse der unorganischen und organischen Natur (das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich) und vor allem die Überlegungen über die Häßlichkeit der Tiere,56 die wir in Hothos Vorlesung von 1833 finden, sollten Schule machen. Das Interesse für das Naturhäßliche wird besonders im ästhetischen Denken von Friedrich Theodor Vischer wiederkehren. Nach einer ersten kritischen Auseinandersetzung mit der ästhetischen Lehre Hothos57 stimmt der junge Vischer – auch wenn er besonders bei der Betrachtung des Erhabenen und des Komischen neue persönliche Gedanken einfließen läßt – der von Hotho entwickelten Metaphysik des Schönen bei. Dies bestätigt die erste Vorlesung über die Ästhetik, die Vischer im Sommersemester 1835 als Repetent in Tübingen hielt. In wesentlicher Übereinstimmung mit der metaphysischen Anlage des Schönen, die zwei Jahre zuvor vom Herausgeber der Hegelschen Ästhetik ausgearbeitet worden war, faßte Vischer die Naturschönheit als einen wesentlichen Teil der Ästhetik auf, in dem die »objektive Existenz des Schönen« erforscht wird. In diesem Zusammenhang untersucht Vischer die Natur in ihrer Schönheit wie in ihrer Häßlichkeit und nimmt damit das ästhetische System seiner Reifezeit vorweg. Diese philosophische Analyse der Natur wird das Denken Vischers nämlich über lange Jahre begleiten. Selbst Croce hielt die Ausführungen, die Vischer später in Übereinstimmung mit seiner allerersten Vorlesung von 1835 in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846-1857) Immanuel Hegel 1833, 39 / Ms. 27. Ebd., 40 / Ms. 28. 56 Ebd., 50 f. / Ms. 35 ff. 57 Die in Hothos Vorlesung von 1833 auftauchende Abwertung des Häßlichen scheint der junge Vischer (vgl. Vischer 1833, Ms. 3v) nicht zu teilen. Diesbezüglich sei hingewiesen auf Francesca Iannelli: Friedrich Theodor Vischer zwischen Hegel und Hotho, in: Hegel-Studien 37 (2002), 28-53, vgl. besonders 44 f. Da Vischer zwischen 1835 und 1857 der Metaphysik des Schönen zustimmte, entwickelte er jedoch diese jugendliche Intuition des Häßlichen als Moment nicht weiter. Im Alter setzte er sich wieder mit der ästhetischen Kategorie des Häßlichen auseinander, blieb allerdings ziemlich negativ. Dazu siehe Iannelli: Das Häßliche [Anm. 52], bes. den letzten Paragraphen: Das Ferment der Differenzierung: Vischers Spätdeutung des Häßlichen. 54 55

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machen sollte, für »die berühmteste und meist verbreitete Abhandlung«58 über die Naturschönheit. Auch in der Ästhetik des Häßlichen von Rosenkranz59 und in Diotima. Die Idee des Schönen von Kuno Fischer60 wird später die Frage der Naturschönheit bzw. häßlichkeit der Pflanzen und Tiere leidenschaftlich erörtert. Rosenkranz spürt der ursprünglichen Häßlichkeit einiger Tiere wie »Quallen, Sepien, Raupen, Spinnen, Rochen, Eidechsen, Frösche, Kröten, Nager, Pachydermaten, Affen« nach, die seiner Ansicht nach »positiv häßlich«61 sind, bzw. dem Häßlichwerden anderer Tiere durch Verstümmelung, Krankheiten oder durch Entfernung der Tiere von ihrer Grundgestalt (ein Schaf mit acht Füßen wäre z. B. monströs häßlich)62. Kuno Fischer behauptet sogar: »Vielleicht könnte man das Tierreich überhaupt häßlich nennen, wenn es erlaubt wäre, einen ästhetischen Begriff auf eine ganze Welt von Erscheinungen auszudehnen.«63, und er stimmt mit den anderen Hegelianern darin überein, daß die Untersuchung der natürlichen Häßlichkeit eine fundamentale Aufgabe der Ästhetik ist, mit der sich natürlich vor allem Hegel selbst auseinandergesetzt hat. Mit Ausnahme von Arnold Ruge, dem Einzigen, der das Naturhäßliche (-schöne und -erhabene) abwertet, da er es für bloßes »Gleichniß« hält. Er erweist in diesem Punkte der Berliner Lehre Hegels mehr Treue als die übrigen Hegelianer. Nicht jedoch infolge einer direkten Kenntnis der vier Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels, sondern vielmehr, weil er die Abwertung des Natürlichen dem Geistigen gegenüber, die Hegel in seiner Philosophie zum Ausdruck bringt, übernimmt. Ruge äußert sich zu diesem Punkt wie folgt:64 »Die Häßlichkeit in der Natur ist daher in derselben Art nur Gleichniß, wie ihre Schönheit und Erhabenheit. […] Das Leben selbst der reichsten Natur ist nur ein besseres Gleichnis des Geistes.« Von daher kommt Ruge zu dem Schluß, daß »die erste Verwirklichung« des Häßlichen »in der menschlichen Gestalt« zu suchen ist. Um die Jahrhundertwende haben dann das Verschmelzen und die Übertragung der eigenen Gefühle auf das Naturobjekt, die von der Ästhetik der Empathie verlangte ›Einfühlung‹ (Robert Vischer, Theodor Lipps, Johannes Volket), wie auch die für den Ästhetizismus typische extreme Vorliebe für das Künstliche und das Unnatürliche (Joris Karl Huysmans, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Gabriele D’Annunzio) sehr dazu beigetragen, daß das Naturschöne an BeBenedetto Croce: Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale [Anm. 51], 437. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853 (Faksimile-Neudr. hg. von Walther Gose und Walter Sachs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968), 15 ff. 60 Kuno Fischer: Diotima – Die Idee des Schönen. Philosophische Briefe, Pforzheim 1849 (repr. Verlag von Philipp Reclam, Leipzig 1928), 237. 61 Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 59], 22 62 Ebd., 23 f. 63 Kuno Fischer: Diotima – Die Idee des Schönen [Anm. 60], 237 64 Arnold Ruge: Neue Vorschule der Ästhetik – Das Komische mit einem Komischen Anhange, Halle 1837 (Nachdr. Olms, Hildesheim / New York 1975), 94 f. 58 59

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deutung verlor. Abgesehen von einigen seltenen Ausnahmen setzte sich dieses Desinteresse für das Naturhäßliche (und -schöne) auch im zwanzigsten Jahrhundert fort, bis die Umwelt-Ästhetik vor ungefähr zwei Jahrzehnten die Aufmerksamkeit wieder auf die natürliche Schönheit und Häßlichkeit lenkte65 und die philosophische Debatte sich an einer Frage neu entzündete, die den Hegelianern so am Herzen lag, nicht jedoch ihrem Meister.

B. Das Gegenteil des Schönen Obwohl sie vom ehrgeizigen Streben beflügelt waren, die Hegelsche Philosophie zu verbessern und zu vervollständigen66, gelang es den Hegelianern jedoch eher, eine klassizistische Ästhetik zu erarbeiten, in der das Häßliche als ein gefährliches Element angesehen wird, das beherrscht und beseitigt werden muß, um zu einer neuen Schönheit zu gelangen. Sie proklamierten nämlich eine weniger innovative und weit traditionellere Ästhetik des Häßlichen als die, die in den Nachschriften der Hörer der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst Hegels dokumentiert ist. Das Häßliche wird nämlich von den Hegelianern einfach als ein ›Relatives‹ angesehen, das ohne das Schöne keine autonome Existenz hat. Der erste unter den Hegelianern, der diese, im übrigen in der Geschichte der abendländischen Philosophie67 tradierte Auffassung vertritt, war Weisse, der sein System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit 1830, noch zu Lebzeiten Hegels, veröffentlichte. Ohne Kenntnis der Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels gab Weisse nach dem Studium der Phänomenologie, vor allem jedoch der Logik eine Interpretation des Häßlichen als der verkehrten oder auf den Kopf gestellten Schönheit68 und erinnerte an den Zusammenhang, den Hegel in der Logik zwischen dem Sein und dem Nichts herstellte, wodurch jeder Ausdruck, in seiner Unmittelbarkeit genommen, sich ins Gegenteil kehrt. Für Weisse kann die Häßlichkeit nicht unabhängig von der Schönheit aufgefaßt werden, da das Häßliche nichts anderes sei als »das unmittelbare

Vgl. Paolo D’Angelo: Estetica della natura. Bellezza naturale, paesaggio, arte ambientale, Roma / Bari 2001, 67 ff. 66 So wie Friedrich Theodor Vischer es sich seit Über das Erhabene und das Komische (1837) vornahm oder wie Christian Hermann Weisse es wünschte, der seine Überlegung als »Schülerin und Tochter der Philosophie von Hegel« ansah, jedoch auch als seine »Gegnerin«. Christian Hermann Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit, Leipzig 1830 (Repr. Hildesheim 1966); hier: 3 f. 67 Über die Deutung des Häßlichen in der Geschichte der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart vgl. Ursula Franke: Häßliche (das) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, 1003-1007; vgl. die Einleitung von Gabriele Scaramuzza zu Il brutto nell’arte, [Anm. 2], 5-28 und Paolo D’Angelo: Brutto, in: Dizionario di Estetica [Anm. 2], 44-51. 68 Christian Hermann Weisse: System [Anm. 66], 179. 65

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Dasein der Schönheit«69. Es ist dieser »absolute Widerspruch«70, der im Schönen gegenwärtig ist, der nicht einfach akzeptiert, sondern überwunden werden muß, auf daß die Schönheit siege. »Anerkennung, Bekämpfung und Überwältigung der Häßlichkeit«71 ist also das Programm Weisses, das auch Hotho, Vischer und selbst Rosenkranz mit ihm teilen werden. Letzterer meint diesbezüglich, daß »eine unendliche Heiterkeit, die uns zum Lächeln, zum Lachen erregt« sich in unserer Seele erhebe, wenn das Schöne »die Empörung des Häßlichen«72 sich gefügig mache. Während im späten ästhetischen Denken Vischers das Häßliche im wesentlichen zugelassen wird, um die Schönheit zu beleben und zu verstärken,73 im Bewußtsein, daß es »einfach das Gegenteil des Schönen, wie das Böse das des Guten«74 ist, und daß es sofort überwältigt werden muß. Daß die Kunst sich vom Häßlichen befreien müsse, war im übrigen die feste Überzeugung Hothos75, der 1833 in seiner ersten, der Ästhetik gewidmeten Berliner Vorlesung die Häßlichkeit klar und deutlich als »das Gegenteil des Schönen«76 definierte und sie in der Kunst nur zuließ, um dem Bösen Ausdruck zu verleihen. In der Einleitung zu seiner berühmten Ästhetik des Häßlichen erklärt auch Rosenkranz, daß das Häßliche das »Gegenteil des Schönen«77 sei, und um dessen vom Schönen abgeleiteten Ursprung zu unterstreichen, spricht er mit einem treffenden Ausdruck von einer »Secundogenitur« des Häßlichen, eben weil es »in seinem Begriff von dem des Schönen«78 abhänge. Das Häßliche wird also von Rosenkranz als Negation der Schönheit aufgefaßt und hat infolgedessen eine sekundäre und relative Existenz, die ohne die Schönheit undenkbar wäre.79 Diese Abhängigkeit ist jedoch nicht gegenseitig, da das Schöne im Gegensatz zum Häßlichen ein Absolutes ist, das nichts anderes benötigt als sich selbst und das von nichts anderem abhängt. Das Häßliche wird demnach von Rosenkranz als Negation des Schönen, die ihrerseits vom Komischen negiert wird, verstanden.80 Die Komik stellt also für Rosenkranz »die Aufheiterung des Häßlichen ins Schöne« dar81. Das Komische »fraternisirt mit dem Häßlichen, nimmt ihm aber zugleich das Abstoßende Ebd., 173 Ebd. 71 Ebd. 72 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 60], 7. 73 Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst – Zur Einführung in die Aesthetik. Vorträge, hg. von Robert Vischer, Stuttgart ²1898, 175. 74 Ebd., 173 75 Vgl. Immanuel Hegel 1833 [Anm. 53], 111 / Ms. 79. 76 Ebd. 77 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 60], 5. 78 Ebd., 386 f. 79 Ebd., 7 und 164 80 »Im Komischen ist ein Häßliches als Negation des Schönen mitgesetzt, die es jedoch wiederum negirt.« (ebd., 53) 81 Ebd. 69 70

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dadurch, daß es, dem Schönen gegenüber, seine Relativität und Nullität erkennen läßt.«82 Wir können an diesem Punkt wohl behaupten, daß in der Ästhetik der Hegelianer, trotz einiger interpretativer Divergenzen, durch die Reduktion der Häßlichkeit zum bloßen ›Gegenteil der Schönheit‹ dem Häßlichen keinerlei Selbständigkeit zuerkannt wird. Sicherlich liefern uns die nachhegelschen Ästhetiker eine ganz treffende Darstellung der unschönen industrialisierten und proletarisierten Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie fassen aber in ihren Werken das Häßliche noch sehr traditionell: wo es in die Kunst aufgenommen wird, wird es nämlich sogleich beherrscht und untergeordnet – in erster Linie beherrscht vom Komischen –, um seine gefährliche Verführungskraft in Schach zu halten. In den Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels ist demgegenüber nichts derartiges aufzuspüren. Hier ist das Häßliche, zusammen mit dem Erhabenen, dem Charakteristischen, dem Interessanten und dem Schönen eine der vielfältigen und ihnen ebenbürtigen anderen Ausdrucksformen der romantischen modernen Kunst.83

C. Das Häßliche und das Böse Eine andere grundlegende Diskrepanz zwischen der Ästhetik Hegels und der der Hegelianer ist in der Auffassung des Häßlichen als Erscheinung des Bösen zu sehen. Daß das Häßliche nicht einfach die äußere Form des Bösen oder des Dämonischen sein kann, war die Auffassung, zu der Hegel, wie wir gesehen haben, im Laufe der Jahre seiner Berliner Ästhetikvorlesungen gelangte. Das Infragestellen der Gleichsetzung von moralischer und physischer Häßlichkeit machte daher schon bezüglich der christlichen Malerei – vor allem aber der Poesie – eine Erweiterung des Hegelschen ästhetischen Horizontes möglich. Das Häßliche war nicht mehr tout court das Dämonische oder das Böse, sondern vielmehr eine der verschiedenen Ausdrucksformen, die der modernen Kunst und ihrem unendlichen Inhalt Leben zu geben vermochten. Die Häßlichkeit konnte also auch dort erscheinen, wo sie nicht als Ausdruck des Bösen verstanden werden konnte oder durfte, wie z. B. in der malerischen Darstellung des leidenden Gottessohnes, aber auch im Falle der schönen Seelen Shakespeares oder in der Poesie Schillers. Ebd., 9 f. Schon der junge Vischer, auch wenn er die Schönheit anders als Rosenkranz faßt, als einen Kreis, in dem das Erhabene, das Komische (und noch nicht ausdrücklich das Häßliche) die inneren Kontraste darstellen, betrachtete in seiner Habilitationsschrift von 1837 das Komische als Negation der Negation, die gestattete, die Schönheit zurückzugewinnen. Mit dem Unterschied jedoch, daß das Komische nach Vischer nicht jene Negation des Schönen, die – wie Rosenkranz es fordert – die Häßlichkeit ist, negiert, sondern das Erhabene. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik. Einleitung von Willi Oelmüller. Frankfurt/M. 1967, 211. 83 Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Häßliche in der Kunst [Anm. 8], 22. 82

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Die Ergebnisse dieser Entwicklung werden jedoch in der von Hotho veröffentlichten Ästhetik nicht ohne weiteres deutlich. Hotho – wir erinnern nochmals daran – war der einzige unter den Hegelianern, der eine komplette Übersicht über die Hegelsche Ästhetik hatte, da er nicht nur persönlich den Berliner Vorlesungen von 1823 und 1826 beigewohnt hatte, sondern für seine editorische Arbeit auch die Nachschriften der Hörer aller vier Vorlesungen, die Hegel über die Philosophie der Kunst gehalten hat, eingesehen hat. Die von Hotho nach dem Tode des Meisters ausgearbeitete Metaphysik des Schönen hat außerdem nicht wenig dazu beigetragen, die Rezeption der Hegelschen Deutung des Häßlichen weiter zu erschweren. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik an der Berliner Universität hat Hotho tatsächlich das Häßliche aus der Kunst ausgeschlossen, außer in einem Falle, nämlich als Ausdruck des Dämonischen und des Bösen. Das wird in der ersten Ästhetikvorlesung von 1833 deutlich zum Ausdruck gebracht. In der romantischen Phantasie kann das Häßliche laut Hotho erscheinen, aber nur, um dem Bösen, dem Dämonischen und dem Infernalen Ausdruck zu verleihen. Die Innerlichkeit des Subjektes kann, so Hotho, »göttlich« oder »böse«84 sein. Um also eine derartige Bosheit auszudrücken, gesteht er den Rückgriff auf das Häßliche zu. Das Vorhandensein des Häßlichen ist also nur begründet, weil es das Böse gibt.85 Es handelt sich jedoch um ein Böses, das wie Hotho erläutert, nicht als ein solches gelten kann, sondern das nur als schwindend verstanden werden darf, das also das Gute siegen läßt. Hotho erklärt später genauer, daß das Dämonische, dessen äußerlicher Ausdruck das Häßliche ist, »als notwendige Seite der Totalität«86 in die Ästhetik eingeht. Die gleiche Überlegung wird genau zwanzig Jahre später auch von Rosenkranz wiederaufgenommen, der zu der Frage, aus welchem Grunde die Kunst die Häßlichkeit zulasse, wenn doch das Schöne des Häßlichen nicht bedürfe, antwortet, daß die Kunst darauf hinzielt, die Totalität der Idee und nicht ihre Einseitigkeit darzustellen:87 »Will also die Kunst die Idee nicht blos einseitig zur Anschauung bringen, so kann sie auch des Häßlichen nicht entbehren. Die reinen Ideale stellen uns allerdings das wichtigste Moment des Schönen, das positive, hin. Sollen aber Natur und Geist nach ihrer ganzen dramatischen Tiefe zur Darstellung kommen, so darf das natürlich Häßliche, so darf das Böse und Teuflische nicht fehlen.« Die Künstler verleihen also dem Häßlichen – allerdings nur – als einem Moment einer vollständigen und allumfassenden Weltdeutung Ausdruck:88 »Das Häßliche kann also neben dem Schönen, gleichsam unter seinem Patronat, accidentell erscheinen; es kann uns die Gefahr vergegenwärtigen, der das Schöne in der Freiheit seiner Beweglichkeit beständig ausgesetzt ist, aber es kann nicht directer und exclusiver Gegenstand der Kunst werden. […] In der Totalität der Weltanschauung 84 85 86 87 88

Immanuel Hegel 1833, 110 / Ms. 79. Vgl. ebd. Ebd., 64 / Ms. 45. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 59], 38 f. Ebd., 40.

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macht das Häßliche, wie das Kranke und das Böse, nur ein verschwindendes Moment aus und in der Verschlungenheit mit diesem großen Zusammenhang ertragen wir es nicht nur, sondern kann es uns interessant werden. Nimmt man es aber aus diesem Zusammenhang heraus, so wird es ästhetisch ungenießbar«. Die Kunst, behauptet Rosenkranz in Übereinstimmung mit Hotho, kann also nicht beim Häßlichen stehenbleiben. Dasselbe gilt, laut Hotho, auch für das Komische. Die Komik, sagt der Herausgeber der Hegelschen Ästhetik im Jahre 1833, darf absolut nicht bei der Verkehrung stehenbleiben, »denn sonst wäre sie in Betreff der Gestalt das schlechthin Häßliche; und in Betreff des Inhalts das nur schlechthin Niederträchtige.«89 Dieser enge Zusammenhang zwischen dem Bösen und dem Häßlichen, der in der metaphysischen Ästhetik Hothos vorhanden ist, erscheint dann auch in dem ästhetischen Denken Arnold Ruges. In seinem 1837 in Halle veröffentlichten Text Neue Vorschule der Ästhetik. Das Komische mit einem Komischen Anhange stellen das Böse wie auch das Häßliche als ein Sich-im-Widerspruch-Versteifen dar, ein Hindernis für die Vermittlung, ein Hemmnis für den Geistesfluß, eine Art, sich zu verschließen und das Verhältnis mit dem Anderen, dem ewigen und göttlichen Geist zu verweigern.90 »Die echte Häßlichkeit« ist nur im Bösen, behauptet dann Friedrich Theodor Vischer ungefähr zehn Jahre später, im Jahre 1846, im ersten Teil der sogenannten »großen Ästhetik«91, während der junge Kuno Fischer in seiner im Jahre 1849 veröffentlichten Diotima. Die Idee des Schönen das Böse, das Häßliche und den Irrtum als »dunkle Phänomene, die in dem Lichte der wandellosen Vernunft als flüchtige Nebelflecken zerfließen«92 nebeneinanderstellt.

Immanuel Hegel 1833, 104 / Ms. 74 f. »Wenn sich der endliche Geist in seiner Endlichkeit gegen seine Wahrheit den absoluten Geist festhält und geltend macht, so wird dieser sich selbst genügenwollende Geist als Erkenntniß die Unwahrheit, als Wille, der sich lossagt und in seiner Endlichkeit nur sich beabsichtigt, das Böse, und beides, wenn es zur Erscheinung kommt, das Häßliche. Das Häßliche wäre also die erscheinende Idee, welche sich selbst an die Endlichkeit verliert, die von sich abgefallene Schönheit, oder die Erscheinung des endlichen Geistes, welche ihm die Vermittelung mit der Idee, seiner Wahrheit, verweigert, d. h. der endliche Geist, der in seiner Erscheinung nicht mit seinem Begriff vermittelt ist, vielmehr sich in seiner Absonderung festhält, und sich darin den Schein der Selbstständigkeit giebt.« Es ist interessant zu bemerken, daß diese Verweigerung der Vermittlung an die berühmte Verschlossenheit der schönen Seelen am Ende des sechsten Kapitels der »Phänomenologie des Geistes« von Hegel erinnert, als richtendes Bewußtsein gegenüber dem handelnden Bewußtsein. In dem von Ruge zitierten Passus (Neue Vorschule der Ästhetik, [Anm. 64], 93 f.) will der endliche Geist sich selbst genügen, erlebt deshalb das Verlassen des absoluten Geistes und gerade deswegen wird er böse und häßlich, wie es dem richtenden Bewußtsein Hegels geschah, das ein »hartes Herz« wird, weil es die Kontinuität mit dem Anderen verweigert und deshalb auch selbst »vom Geiste verlassen« wird. 91 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Erster Teil: Die Metaphysik des Schönen [1846], hg. von Robert Vischer, München ²1922, 278. 92 Kuno Fischer: Diotima.– Die Idee des Schönen [Anm. 60], 232. 89 90

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Die Paarung des Schönen mit dem Guten und des Häßlichen mit dem Bösen ist außerdem auch in den Reflexionen von Rosenkranz zugegen, der, um die der Kategorie des Häßlichen innewohnende Abhängigkeit zu erklären, genau auf die Parallele mit dem Bösen zurückgreift. Rosenkranz bemerkt in einem Passus der Einführung zur Ästhetik des Häßlichen:93 »Das Schöne ist also, wie das Gute, ein Absolutes, und das Hässliche, wie das Böse, ein nur Relatives«; das Häßliche hat also eine relative Existenz, ist nur die Negation der Schönheit, wie es das Böse vom Guten ist,94 und benötigt daher das Schöne, weil es darin »seine positive Voraussetzung«95 findet. Rosenkranz stellt in seinem berühmten Werk von 1853 nicht nur die beiden Begriffe nebeneinander, sondern erkennt im »ethisch Häßlichen« bzw. im Bösen den Ursprung des »ästhetisch Häßlichen«96 und meint, daß »das Böse, das radicale, das absolute, das ethische und religiöse Häßliche ist«97. Daß das Häßliche sich zum Schönen verhält so wie das Böse zum Guten, ist daher ein Gedanke, der von allen Hegelianern geteilt wird. Auch von Christian Hermann Weisse. In seinem System bestätigt Weisse, hierin, trotz aller Bemühung, Ethik und Ästhetik getrennt zu halten,98 nicht von Hotho beeinflußt, daß, so wie das Böse das abgefallene Gute ist, das Häßliche das verkehrte Schöne darstelle. Es besteht daher eine ursprüngliche Identität zwischen der Häßlichkeit und der Schönheit, die dann, nach Weisse, der Ursprung jener Anziehungskraft des Häßlichen99 sowie der zahlreichen Mißverständnisse ist, weshalb dieses, zu Weisses Zeit, oft fälschlicherweise mit dem Schönen verwechselt wird.100 Gerade wegen dieser Anziehungskraft bemerkt Weisse, würde man den meisten das Häßliche wie auch das Böse am liebsten verstecken, um zu verhindern, daß sie moralisch verdorben werden.101 Die Verflechtung von Ethik und Ästhetik führt so weit, daß Weisse, auch ohne es zu wollen, gerade im Bösen die Ursache des Häßlichen sieht.102

Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 59], 8. Ebd., 176 95 Ebd., 7 96 Ebd., 62. Es ist jedoch klar, daß Rosenkranz nicht unbedingt im Bösen den Ursprung des Häßlichen erkennt, sondern er sieht vielmehr im Bösen eine der möglichen Ursachen des Häßlichen, nicht aber die einzige. Deshalb erklärt er: »Das Häßliche kann sich auch ohne das Böse erzeugen« (ebd., 165). 97 Ebd., 325. Er fordert aber auf, diese Identität nicht zu weit auszudehnen (ebd., 325 f.). 98 Christian Herrmann Weisse: System [Anm. 66], 179. 99 » … so ist in dem Häßlichen dieselbe Substanz des absoluten Geistes gegenwärtig, welche das Schöne zum Schönen machte; und sie ist es, welche dem Häßlichen jene sirenartig anziehende und fesselnde Kraft ertheilt, die auf Viele nicht minder mächtig, ja mächtiger wirkt, als die Macht der Schönheit selbst« (ebd., 180). 100 Ebd.: »Das Häßliche« wird, laut Weisse, »wegen jener seiner positiven Verwandschaft und ursprünglichen oder abgezogenen Identität mit dem Schönen, auch in seiner empirischen Erscheinung, nur allzu leicht mit diesem verwechselt«. 101 Ebd., 187. 102 Ebd., 206. 93 94

Hegel und die Hegelianer über das Häßliche

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Ausschlaggebend bleiben dann jene Überlegungen Weisses über die infernale Dimension der Häßlichkeit. Im System empfiehlt Weisse eine Unterweisung, die die Verdammung und den Verfall, die das Häßliche unvermeidlich mit sich bringt, zum Gegenstand hat und möchte auf die Gefahr hinweisen, in die man sich begibt, wenn man sich der häßlichen Kunst ergibt. Gespenstisch und verwirrend ist die Häßlichkeit, »ein bodenloser Abgrund der Finsternis und der Qual, in welchem der göttliche Lichtstrahl der Schönheit nur als das verzehrende Feuer einer unübersehbaren Zerstörung und eines ewig ungestillten Verlangens lodert, und in welchem alle Gestalten jener Lichtwelt verzerrt, zerrissen oder auf den Kopf gestellt wiedererscheinen.«103 Diese Beschreibung, die in Wahrheit Hegel wenig entspricht, wird viel Anklang finden. Gespenstisch, im Sinne von scheinbar und nur erscheinend, ist das Häßliche auch für Ruge, der behauptet:104 »Das Scheindasein, die Nichtwirklichkeit und die Auflehnung des Häßlichen gegen seinen Begriff wird noch deutlicher hervorgehoben durch den Begriff des Gespenstes, den Weiße mit Recht hieher zieht, und welcher wenn auch nicht alle Wirklichkeit des Häßlichen ist, doch in der That die ganze Natur dieser unwirklichen und in sich zerfallenen Wirklichkeit an seinem Beispiel aufs genaueste und anschaulichste darlegt.« Es wird aber vor allem Karl Rosenkranz sein, der mehr als zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Systems mit Weisse noch einige grundlegende Auffassungen teilt, die von letzterem in seinem Werk aus dem Jahre 1830 erörtert wurden, darunter vor allem die feste Zuversicht auf eine Befreiung aus der ästhetischen Hölle des Häßlichen,105 die sich im Komischen realisiert, und die Sicherheit, daß auf diese Art eine neue und erneuerte Schönheit erreicht werden kann.106 Wir können also abschließend sagen: Wenn es auch sicher stimmt, daß in der modernen Ästhetik das Schöne nach und nach historisiert, relativiert und auf diese Weise zu einer ästhetischen Kategorie neben den anderen wird, geschieht dies jedoch vermittels der Ästhetik der Hegelianer nur relativ. Zweifellos untersuchen sie – wie nie zuvor – das Häßliche mit größter Aufmerksamkeit und unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten, bekräftigen jedoch weiterhin den absoluten Vorrang des Schönen, demgegenüber das Häßliche immer und auf jeden Fall untergeordnet und minderwertig bleibt. »Allein das Häßliche ist« laut Rosenkranz »vom Begriff Ebd., 182 f. Arnold Ruge: Neue Vorschule der Ästhetik [Anm. 64], 106. 105 Die Anspielung Weisses auf eine vom Häßlichen hervorgerufene ewige Verdammung (vgl. Christian Herrmann Weisse: System [Anm. 66], 74 f.) kehrt auch am Anfang der »Ästhetik des Häßlichen« von Rosenkranz wieder, der eben von einer ästhetischen Hölle spricht, in die wir eingetaucht sind und die uns mehr oder weniger stark quält, je nach unserer Empfindlichkeit: »Die Hölle ist nicht blos eine religiös-ethische, sie ist auch eine ästhetische« (Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 59], 3). Es soll hier aber klargestellt werden, daß Rosenkranz mit Weisses Deutung des Gespenstischen nicht übereinstimmt, siehe: ebd., 355 f. 106 Auch Arnold Ruge (Neue Vorschule der Ästhetik [Anm. 64], 107), Kuno Fischer (Diotima [Anm. 60], 249) und Friedrich Theodor Vischer [Anm. 74] konzipieren das Komische als eine Rückkehr zum Schönen. 103 104

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des Schönen untrennbar, denn dies hat in seiner Entwicklung dasselbe beständig als diejenige Verirrung an sich, in die es mit einem oft geringen Zuviel oder Zuwenig verfallen kann«107. Es ist die Nichtverwirklichung des Geistes nach Ruge,108 die von Weisse befürchtete Lüge,109 oder das Salz des Schönen, das Vischer mit extremer Vorsicht benutzt und, nachdem er es als Todfeind des Schönen eingestuft hat, sofort einzudämmen versucht.110 Eher als die Lücken im ästhetischen System des Meisters aufzufüllen, wie Hartmann es gerne hätte,111 entfernten sich folglich die Hegelianer, mehr oder weniger bewußt, von den Perspektiven, die die Hegelsche Ästhetik eröffnet hatte, und nahmen damit dem Häßlichen jede Valenz und kritische Kraft. Demnach taten sie einen offensichtlichen Schritt zurück zu einem ästhetischen Platonismus, den Hegel, wie die Berliner Ästhetikvorlesungen zeigen, in Wirklichkeit nicht geteilt hätte.

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Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen [Anm. 59], 5. Arnold Ruge: Neue Vorschule der Ästhetik [Anm. 64], 105. Christian Herrmann Weisse: System [Anm. 66], 199. Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst [Anm. 73], 174. Eduard von Hartmann: Die deutsche Ästhetik seit Kant, Leipzig 1886, 211.

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