Systemkritik!: Essays für eine Kulturpolitik der Transformation 9783839466551

Bereits vor der Corona-Pandemie waren unterschiedliche gesellschaftliche Krisen auszumachen: Soziale Ungleichheiten, der

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Systemkritik!: Essays für eine Kulturpolitik der Transformation
 9783839466551

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik
Zeit für Transformation(en)
Neustart Kulturpolitik 2.0!
Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?
Willkommen in der Neuen Deutschen Welt
Handschlag mit der Realität
Eine Krise der Konzepte
Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann!
Transformieren statt transformiert werden
Nachhaltigkeit als Problem
New Culture Deal
Nahhalt und Nachhaltigkeit
(R)Evolution statt Repetition!
Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung
In welchem System relevant?
Über den eigenen Status hinaus
Künstlerischer Aktivismus als politische Bildung
The Artist Is Broke
Was mache ich eigentlich hier?
Eine neue Sprache
Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen
Kunst kann Barrieren versetzen
Eine gerechte und inklusive Stadt durch Kulturpolitik
Info-Proletarier*innen of the world, unite!
»Zurück in die Zukunft IV«
Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe
Kollaboration als Arbeitsweise
#Do-it-ourselves
»There is a crack in everything – that’s how the light gets in« (Leonard Cohen)
Nur die Bretter, die die Welt bedeuten
Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem!
Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen
Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen
Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation
Warum auf die Not warten, um erfinderisch zu werden?
Im Zweifel für die Quote
Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar
Autor*innenverzeichnis

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Svenja Reiner, Simon Sievers, Henning Mohr (Hg.) Systemkritik!

Edition Umbruch - Texte zur Kulturpolitik Band 35

Die Reihe wird herausgegeben von Henning Mohr.

Svenja Reiner ist Gründerin und künstlerische Leiterin des Insert Female ArtistLiteraturfestivals und Initiatorin des Literarischen Forums für feministische Stimmen (2022-2024). Sie lehrt und forscht in den Bereichen Kulturwissenschaft, Musikwissenschaft, Kulturpolitik und Kulturmanagement. Simon Sievers ist wissenschaftlicher Projektassistent am Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. (Bonn). Seine Themenschwerpunkte sind Kulturpolitik für ländliche Räume, klimagerechte Kulturpolitik und transformative Kulturpolitik. Henning Mohr (Dr.) leitet das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. (Bonn). Der Kultur- und Innovationsmanager arbeitete u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und die Zukunftsakademie NRW.

Svenja Reiner, Simon Sievers, Henning Mohr (Hg.)

Systemkritik! Essays für eine Kulturpolitik der Transformation

Dieser Sammelband und der Blog #neueRelevanz wurden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Katharina Stahlhofen Lektorat: Svenja Reiner, Simon Sievers, Henning Mohr Mitarbeit & Korrektorat: Stefanie Schlößer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466551 Print-ISBN: 978-3-8376-6655-7 PDF-ISBN: 978-3-8394-6655-1 Buchreihen-ISSN: 2702-9085 Buchreihen-eISSN: 2702-9093 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort Kulturpolitik als Systemkritik Tobias J. Knoblich................................................................... 11 Einleitung Svenja Reiner, Simon Sievers & Henning Mohr........................................ 15

Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik Zeit für Transformation(en) Notwendige Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik Henning Mohr ...................................................................... 23 Neustart Kulturpolitik 2.0! Schluss mit Kulturverwaltung, stattdessen Mut zur Gestaltung! Susanne Keuchel ................................................................... 29 Status quo ante oder transformierte Kulturförderung? Resilienz erfordert eine verteilungsgerechtere Kulturpolitik Kurt Eichler ........................................................................ 33 Willkommen in der Neuen Deutschen Welt Mithu Sanyal ........................................................................ 41

Handschlag mit der Realität Gedanken zur Überholung des Kulturbetriebs Fatima Çalışkan & Johanna-Yasirra Kluhs........................................... 45 Eine Krise der Konzepte Warum Kulturförderung neu denken und sprechen lernen sollte Jens Badura & Martin Zierold ....................................................... 49 Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann! Melmun Bajarchuu & Mona Louisa-Melinka Hempel .................................. 55 Transformieren statt transformiert werden Chancen für den Kultursektor Philippe Bischof..................................................................... 61 Nachhaltigkeit als Problem Über die Defizite innovationsorientierter Projektförderung Jasmin Vogel & Henning Mohr ...................................................... 69 New Culture Deal Anica Happich & Jakob Arnold ..................................................... 75 Nahhalt und Nachhaltigkeit Verstehen und Erklären Juliane Moschell ................................................................... 83 (R)Evolution statt Repetition! Vera Hefele & Teresa Trunk......................................................... 87

Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung In welchem System relevant? Şeyda Kurt ......................................................................... 93

Über den eigenen Status hinaus Produktive Irrelevanzerfahrungen Christina Dongowski ............................................................... 97 Künstlerischer Aktivismus als politische Bildung Oder: Lasst uns den Mut-Muskel trainieren! Friederike Landau-Donnelly & Cesy Leonard.........................................105 The Artist Is Broke Kulturarbeit zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung Sandra Gugić .......................................................................111 Was mache ich eigentlich hier? Eine Rechtfertigung Karosh Taha ....................................................................... 117 Eine neue Sprache Sarah Elisabeth Braun............................................................. 123 Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen Donat Blum ........................................................................129 Kunst kann Barrieren versetzen Katrin Bittl .........................................................................137 Eine gerechte und inklusive Stadt durch Kulturpolitik Daniel Deppe....................................................................... 141 Info-Proletarier*innen of the world, unite! Eva Tepest .........................................................................145 »Zurück in die Zukunft IV« Fabian Saavedra-Lara .............................................................. 151

Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe Kollaboration als Arbeitsweise Zwischen Selbstoptimierung und Strukturwandel Paulina Seyfried ...................................................................159 #Do-it-ourselves Institutionen machen als künstlerische Praxis Fadrina Arpagaus ..................................................................167 »There is a crack in everything – that’s how the light gets in« (Leonard Cohen) Neue Kollaborationen für den Kulturbetrieb Nelly Gawellek & Katharina Klapdor Ben Salem......................................173 Nur die Bretter, die die Welt bedeuten Jessica S. Weisskirchen ............................................................ 177 Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem! Julian Stahl ....................................................................... 193 Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen Kate Brehme .......................................................................197 Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen Für einen gerechteren Kulturbetrieb Joshua Kwesi Aikins, Sophie Ali Bakhsh Naini, Daniel Gyamerah, Lucienne Wagner & Deniz Yıldırım ....................................................................201 Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation Eine Einladung zur Vertiefung Tabea Golgath..................................................................... 207 Warum auf die Not warten, um erfinderisch zu werden? Lea Stöver .........................................................................213

Im Zweifel für die Quote Demba Sanoh ...................................................................... 217 Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar Sebastian Quack .................................................................. 223 Autor*innenverzeichnis .......................................................... 227

Vorwort Kulturpolitik als Systemkritik Tobias J. Knoblich

Die Corona-Pandemie war für eine auf gesellschaftliche Relevanz und Wirksamkeit orientierte Kulturpolitik eine besondere Krisenerfahrung, aber zugleich auch eine Chance, die Lage besser einschätzen und auf sie reagieren zu können. Schon lange wurden vielerorts Instrumente konzeptbasierten Arbeitens erprobt, mehr und differenziertere Beteiligungsprozesse initiiert oder Debatten über die Ausgestaltung der von der UNESCO inzwischen besonders geschützten kulturellen Vielfalt geführt. Transformation als Leitbegriff für sich überlagernde Veränderungsprozesse und die notwendigen Reaktionen darauf waren also schon vorher zu einem wahrnehmbaren Thema geworden: Klimawandel, Migration, Digitalität und Diversität oder auch die Wirkungen einer ambivalenten Globalisierung, etwa in Hinblick auf das Erstarken des Populismus. Diese Prozesse, ja Veränderungstreiber fordern die westlichen Gesellschaften, so auch deren Kulturpolitik, fundamental heraus. Viele Akteur*innen im Kulturfeld hatten das begriffen und versuchten, in Theorie und Praxis darauf einzugehen. Doch lenkten die Alltagsroutinen und Pfadbindungen, die sich in institutionellen Logiken, Förderpraxen oder Verwaltungshandeln über Jahrzehnte niedergeschlagen haben, von mutigen Veränderungen noch ab. Corona brachte diese Defizite zum Vorschein und zwang uns, unmittelbar und schnell zu reagieren, Gewissheiten als solche zu erkennen und Risse im gesellschaftlichen Gefüge deutlicher zu benennen. Handeln geriet zu etwas Dringlichem, es galt, gewissermaßen aus der Spur zu treten. Die Corona-Pandemie gefährdete zunächst die Wirksamkeit kultureller Praxis sowie die Existenz zahlreicher Akteur*innen, denn sie kappte die Verbindung zwischen Kulturbetrieb und Publikum, also den Nutzer*innen. Politik reagierte anfangs mit einem typischen Reflex: Freizeitvergnügen gelte nachrangig, man fasste Kultur als Mußestunde auf, wo doch plötzlich die

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wichtigen, notwendigen, »systemrelevanten Aufgaben« evident schienen. Die hohe Rede vom Kulturstaat Deutschland, davon, dass Kultur Lebens-, ja Überlebensmittel sei, wich dem Pragmatismus des Krisenmanagements. In der Krise schien die Kultur verzichtbares Vergnügen, sie wurde zunächst nicht als Methode oder kreativer Hebel aufgefasst, Krisen bewältigen zu helfen, die Menschen in Verbindung zu halten und tieferliegende Verwerfungen zu erkunden, die durch Corona sichtbarer geworden waren. Sie wurde wieder das, was wir in volkswirtschaftlicher Hinsicht immer bestritten: ein rein konsumtiver Akt. Deshalb war Verzicht angesagt – und in der Folge ein »Neustart«. Investition bedeutet die längerfristige Bindung von Kapital. Kultur – etwa ein Theaterbesuch – scheint in dieser Perspektive lediglich Verbrauch, keine Wertschöpfung, ein Verzicht wäre nicht systemschädigend. Was aber, wenn Kultur tatsächlich Kapital binden würde, etwa Humankapital in Form substanzieller Kultureller Bildung, was, wenn sie zur Herausbildung einer robusten, resilienten Gesellschaft beitrüge und bestimmte Einstellungen beeinflusste, die in der Wertschöpfungskette Postwachstum, Adaption und Nachhaltigkeit begünstigen – dank einer Kulturpolitik, die für den mentalen Wandel wesentliche Anlässe schafft, Motor und Treiber für Wandel ist? Nicht nur Unterhaltungs-, Distinktions- und Selbstverwirklichungsinstanz, sondern jene Verbindung zwischen den Menschen, die auf kreative Weise auch Grundsätze des Zusammenlebens verhandelt, neu skaliert – all dies könnte und sollte auch Kultur sein. Wir meinten einst mit der Rede von einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik: auf das Alltägliche eingehen, Kultur an der Basis der Gesellschaft immer wieder neu einüben und Veränderungsimpulse setzen. Kultur ist nicht das Museum, das Theater oder die Musikschule an sich, Kultur ist, was diese Einrichtungen und andere Akteur*innen verbindet, worauf sich ihre kreative Arbeit richtet, von welchen Werten sie in einer vielfältigen, vielstimmigen Gesellschaft getragen wird. Finden wir ein zeitgemäßes Narrativ, diese Verbindung zu gestalten, erhöhen wir die Wirksamkeit, den gesellschaftlichen Impact der Kultur. Das bedeutet dann in einem etwas freien ökonomischen Sinne auch Investition in eine gelingende Gesellschaft von morgen. Zusammenhalt, gemeinsames Gestalten von Lebensräumen und Nutzen der Kraft des Ästhetischen. Alles andere wäre das bloße Weiterführen des Ererbten, Kulturpflege in einem traditionellen, von der Lebenswelt abgekoppelten Sinne. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie Kultureinrichtungen oder Kulturakteur*innen eine besondere Kraft aus der Coronakrise bezogen, neue Konzepte, Vermittlungs- und Beteiligungsformate entwickelten und gestärkt aus dieser Depression schrit-

Tobias J. Knoblich: Vorwort

ten – gewappnet für weitere Transformationen. Sie machten die sprichwörtliche Erfahrung, dass jeder Krise eine Chance innewohnt und dass man nachdenken, unverzagt handeln, Dinge ändern können muss. Von neuen digitalen Angeboten bis hin zur Aktivierung des Publikums, sich finanziell in dieser schwierigen, experimentellen Phase zu beteiligen, reichten die Ansätze. Wer präsent, attraktiv, erfindungsreich und originell war, hatte die Möglichkeit, der Lethargie zu entkommen. Ansonsten griffen auf allen Ebenen des Systems umfassende Hilfsleistungen. Systemkritik setzt an dem Punkt der Manövrier- und Anschlussfähigkeit an: Welche Bilder und Stereotype von Kultur, Kulturpolitik und Kulturakteur*innen prägen eigentlich unser Land, die Künstler*innen, unsere Präferenzen, wenn wir an die Gestaltung der Kulturlandschaft denken? Sind wir Verbraucher*innen oder Gestalter*innen des Gemeinwesens, Hüter*innen institutioneller Gewissheiten oder folgen wir einem evolutiven Impuls, der Kultur in Entwicklung hält, ihre Emergenz geradezu heraufbeschwört? Vor diesem Hintergrund muss man sich den Machtstrukturen, die Institutionen und ihr hierarchischer Aufbau immer bedeuten, zuwenden, nach ihren Leitbildern und Funktionsmodellen fragen, Repräsentation und Mitbestimmung einfordern, wo gesellschaftliche Wirklichkeit und institutionelle Reproduktion auseinanderklaffen und Menschen auch ausschließen. Gerade im kreativen Bereich, wenn er Vorhut von Entwicklung, visionär und impulsgebend sein will, kommt es auf zeitgemäße Gestaltung und Gestaltungsmöglichkeiten an. Systeme geben Stabilität, Systeme ändern sich aber auch; danach gilt es zu fragen und gezielte Veränderungsanstöße zu geben. Dabei geht es nicht um pure Dekonstruktionen, sondern nach wie vor systemisch wirksame Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Was systemrelevant oder systemimmanent ist, hängt von der Position der Kultur im System und seinen Gravitationsfeldern ab. Dabei gerät im Prinzip alles in den Blick: etwa die Frage, wie wir Kultur fördern und mehr Verteilungsgerechtigkeit erreichen können – und damit sicher auch mehr Wirksamkeit in der Breite der Gesellschaft –, welche Rolle Nachhaltigkeit als revolutionäre Kraft in und mit Kultur spielen kann (förderbar etwa mit Hilfe eines die Sinne involvierenden »Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit«, wie ihn Adrienne Goehler vorschlägt) und wie wir schließlich eine aktive Transformation mit allen Menschen und Menschengruppen ins Werk setzen können. Wie können wir miteinander »kollaborieren«, Brücken schlagen und Verbindungen schaffen, die Vielfalt fördern, doch in wichtigen Wertegrundsätzen konvergieren? Aus dieser Debatte erhoffen wir uns Aufschluss über die

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Weiterentwicklung von Governance-Strukturen, kulturpolitischen Leitbildern und guter Praxis. Es geht nicht um Kritik um der Kritik willen, um Zerschlagung der Strukturen, sondern um Erkenntnis und Umsteuerung. Die Summe der Kritik erlaubt uns modellhaftes Denken, trägt auch zur Theoriebildung bei. Die kulturelle Praxis allein richtet es nicht oder, wie Kant einmal sinngemäß sagte: Die Praxis ist häufig schlecht, weil ihr die Theorie fehlt. Wir müssen beobachten, diskutieren und einordnen, dann sehen wir besser, was zu tun ist. Auf diese Weise konturieren wir vielstimmig eine transformatorische Kulturpolitik.

Einleitung Svenja Reiner, Simon Sievers & Henning Mohr

Viele gesellschaftspolitische Krisen können, aktuell entstehenden Texten zum Trotz, bereits vor den Beginn der Corona-Pandemie datiert werden. Als zentrale gesellschaftliche Herausforderungen der vergangenen 15 Jahre lassen sich etwa die globale Finanz- und Wirtschaftskrise identifizieren, die soziale Ungleichheiten, Armut und Diskriminierung verschärften und es immer noch tun, die Konsequenzen, die der menschengemachte Klimawandel bereits heute verursacht sowie der internationale Aufstieg bzw. die globale Akzeptanz von rechtsextremistischen und rassistischen Positionen, Politiker*innen und anderen Vertreter*innen (vgl. Reckwitz/Rosa 2021: 12–13). Die Krise der Kulturinstitutionen, die sich etwa in Publikumsrückgang und größer werdender Kritik an veralteten bis hin zu machtmissbräuchlichen Führungsstilen abzeichnet, kann als eine Reaktion auf den Umgang mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Herausforderungen gewertet werden. Viele Einrichtungen wurden und werden dem Wandel gesellschaftlicher Erwartungen an sie nicht gerecht und müssen sich vorwerfen lassen, die neuen Relevanzen nicht rechtzeitig erkannt oder nicht ausreichend darauf reagiert zu haben. In dieses Spannungsfeld wirkte die Corona-Pandemie als Krisenverstärker. Trotz aller bisherigen Hilfs- und Neustartmaßnahmen traf der zweite CoronaLockdown den Kulturbereich und alle darin Tätigen mit voller Härte. Es wurde deutlich, wie weitgreifend die strukturellen Schwachstellen der Kulturbetriebe waren und wie lange die Auseinandersetzung mit ihnen gescheut, wie oft sie verschoben worden war. Das Ergebnis zeigte sich, als während der weltweiten Gesundheitskrise auch die mehr als 258.000 Freiberufler*innen und Selbstständigen im deutschen Kulturbereich ins Straucheln gerieten (Deutscher Bundestag 2021). Die Krisenforschung unterscheidet dabei zwei Formen von Problemen: »Funktionskrisen,« so die Politikwissenschaftler Matthias Dembinski und Dirk Peters, »bestehen dann, wenn Mitglieder bezweifeln, dass

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eine Institution ihren Zweck noch erreicht. […] Legitimitätskrisen bestehen dann, wenn die Verbindlichkeit einer Institution von ihren Mitgliedern in Zweifel gezogen wird, weil zum Beispiel die Machtverteilung innerhalb einer Institution missbilligt wird oder Verfahren als unangemessen, zum Beispiel undemokratisch, kritisiert werden« (2020: 139). Während große Institutionen durch die Führungsstile ihrer Leitungen in Legitimitätskrisen gerieten, weil sich die resultierenden Arbeitsweisen vielfach sehr grundsätzlich von den Inhalten unterschieden, die auf den Bühnen verhandelt wurden, konnte man unter dem Stichwort Systemrelevanz auch die Diskussion um die Funktionskrise der Kulturorganisationen in Deutschland verfolgen. Teil dieser Auseinandersetzungen war nicht nur die Frage, ob bzw. in welcher Auslastung Kultureinrichtungen geschlossen oder teilgeöffnet werden sollten, sondern auch die Frage, zu welchem Grad Soloselbstständige und kulturelle Kleinbetriebe in dieser Zeit durch Rettungsschirme und Einnahmeausfallzahlungen mittels öffentlicher Gelder und Förderprogramme unterstützt werden sollten.

Institutionelles Eigenleben Die Legitimitätskrise des Kulturbereichs, so ist anzunehmen, wurde nicht unwesentlich von der Funktionskrise der Kulturinstitutionen befeuert, die sich seit Jahren zeigt. Vielmehr führt die Verquickung der Krisenformen zu umfassenden institutionellen Krisen und damit zu Situationen, die grundlegender Entscheidungen bedürfen. Schon 2012 diagnostizierten Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz: »Die Erneuerung der Kunst, alle gesellschaftlichen Bewegungen, welche Veränderungsdruck erzeugen, kommen von jenseits des Kunsthorizons: Einwanderung, globaler Austausch, Medienrevolutionen. Sie verändern den Alltag, aber nicht den Kulturbetrieb. Die Programme werden zwar etwas bunter, doch am Anspruch, die eigene, abgegrenzte Kultur zu verteidigen, ändert sich nichts. Institutionen sind nicht nur Gefäße, in denen Kunst produziert und mittels Vorführung in Kultur verwandelt wird. Das Gefäß selbst ist eine Aussage […]« (14). Doch die Gefäße blieben, ihrer Anlage auf Dauer entsprechend, gleich. Die Kulturinstitutionen der Gegenwart beschreibt Fabian Burstein zehn Jahre später immer noch als Orte von »Machtmissbrauch, Macho-Kult und Gutsherrendenken« (2022). Kulturinstitutionen haben, so Burstein, als moralische Anstalten einer wehrhaften Demokratie ausgedient. Bürokratische Betriebsformen, hierarchische Führungsstrukturen, Intendanz-Ssysteme stehen im Weg von Partizipations-

Svenja Reiner, Simon Sievers & Henning Mohr: Einleitung

und Inklusionsaufträgen. Denn die institutionellen Strukturen und Abläufe führen zu interner Stabilität, verhindern aber durch ihre unflexible Pfadabhängigkeit (Dembinski & Peters, 2020: 146) Innovation und Experimente. Durch die fehlende Auseinandersetzung mit Diskriminierung durch Rassismus, Sexismus, Ableismus, Queer-, Trans- und Homofeindlichkeit sowie Klassismus stabilisieren Kultureinrichtungen mittlerweile ein institutionelles Eigenleben (Young 1982: 278), das von Einzelakteur*innen alleine nicht mehr verändert werden kann. Krisen bergen die Gefahr des institutionellen Zerfalls, führen aber nicht zwangsläufig dazu. Der deutschsprachige Kulturbereich steht an einer Schwelle und muss in den nächsten Jahren komplexe Transformationen bewältigen. Für diese Entwicklung ist die Unterstützung der Kulturpolitik unabdingbar. Dieser Band versammelt Beiträge, die vielfältige Perspektiven auf die Strukturen, Mechanismen und Krisenherde im Kulturbereich einnehmen, um so die bestehenden Förderlogiken und Produktionssysteme einer kritischen Revision unterziehen.

Interdisziplinäre Perspektiven Die Krisenforschung gilt als interdisziplinäres Vorhaben. »Keine Einzeldisziplin verfügt über die Begriffe und die Methoden, das komplexe Wechselspiel aus ökologischen, technischen und gesellschaftlichen Dynamiken in allen Facetten zu erfassen, zu analysieren und Handlungsempfehlungen hieraus abzuleiten,« konstatieren die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, der Politikwissenschaftler Thorsten Thiel und die Historiker Frank Bösch und Stefan Kroll (2020: 4). Einer ähnlichen Überlegung folgt die Zusammenstellung der Texte in diesem Buch. Im ersten Jahr der Corona-Pandemie sahen wir viele Ein- und Umbrüche im Kulturbereich: Künstler*innen, Mitarbeiter*innen und die vielfältigen Akteur*innen im Veranstaltungsbereich waren durch Veranstaltungsabsagen und Schließungen in ihrer Existenz bedroht. Nachdem die damalige Beauftragte für Kultur und Medien (BKM), Monika Grütters, mit NEUSTART KULTUR ein zwei Milliarden schweres Rettungs- und Zukunftsprogramm für den Kultur- und Medienbereich auf den Weg gebracht hatte, nahmen wir diesen Titel auf und dachten ihn noch einmal größer: Was benötigt der Kulturbereich in Deutschland für einen wirklichen Neustart – und wie könnte dieser aussehen? Unter dieser Fragestellung forderten wir Künstler*in-

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nen, Kreative und kluge Köpfe aus der Kulturpolitik auf, uns Essays zu senden, die wir dann auf dem Blog unter www.kupoge.de/blog mit dem Hashtag #NeueRelevanz veröffentlichten und diskutierten. Eine Auswahl dieser Texte findet sich in diesem Buch wieder.

Beiträge im Band Im ersten Teil fordert die Schriftstellerin Mithu Sanyal einen zentralen Paradigmenwechsel der Kulturpolitik, »eine Institutionalisierung von antirassistischem Wissen sowie eine anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen«. Anti-Rassismus ist kein Nischenthema und bedarf einer ganzheitlichen Bearbeitung in allen Sparten des Kulturbereichs. Das bedeutet etwa, wie Melmun Bajarchuu und Mona Louisa-Melinka Hempel in ihrem Beitrag weiter ausführen, dass kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen nicht weiter einzelne Positivbeispiele als Tokens integrieren, sondern die Sichtbarkeit von marginalisierten Personen über kulturpolitische Trends hinaus in den Strukturen verankert werden. Daraus folgt, dass auch die Logiken der Projektförderungen angepasst werden müssen (Fatima Çalışkan und Johanna-Yasirra Kluhs). Überhaupt: Dass Kulturförderung und Kulturverwaltung enger und inhaltlicher zusammenarbeiten und ineinandergreifen sowie Verteilungsfragen neu diskutieren müssen, machen sowohl die Beiträge von Susanne Keuchel, Kurt Eichler als auch Jens Badura und Martin Zierold klar. Welchen Spielraum sollte die Kulturpolitik bei inhaltlichen Themen, bei der Auswahl und Gestaltung des Kulturbereichs einnehmen? Welche Form von Impact Measurement (Jasmin Vogel und Henning Mohr) braucht es? Wie können diese Prozesse nachhaltig gestaltet werden (Philippe Bischof) und welche neuen Kompetenzen brauchen Kulturmanager*innen (Vera Hefele und Teresa Trunk). Kurz: Wie sieht ein New Cultural Deal (Anica Happich und Jakob Arnold) aus? Zu Beginn des zweiten Teils fragt Şeyda Kurt pointiert: »In welchem System relevant?« und untersucht die toten Winkel der kulturpolitischen Gegenwart. Christina Dongowski nimmt mit ihrer Analyse vom institutionellen Selbstverständnis diesen Faden auf. Dabei wird deutlich, wie schnell und gründlich durch Kanonisierung und Kolonialisierung Ästhetiken von BIPoC-Künstler*innen unbeachtet bleiben (Sarah Elisabeth Braun), wie schnell sie und ihre

Svenja Reiner, Simon Sievers & Henning Mohr: Einleitung

Arbeit zur Nischenkunst gezählt werden (Karosh Taha). Die vermeintliche Singularität von queeren Themen (Donat Blum) muss ebenso überwunden werden wie die Produktionsbedingungen, die mehrheitlich noch auf alleinstehende, junge, flexible und gesunde Künstler*innen ausgerichtet sind (Sandra Gugić; Katrin Bittl). Um gesellschaftliche Auseinandersetzungen wieder in die Kultureinrichtungen hinzueintragen, gehört in das Spektrum der kulturpolitischen Aufgaben sowohl die Ermöglichung von inklusiven Räumen in der Stadt (Daniel Deppe), von politischer Bildung (Friederike Landau-Donnelly und Cesy Leonard) sowie die Auseinandersetzung mit den Arbeits-, Denkund Gestaltungsräumen der Digitalität (Eva Tepest; Fabian Saavedra-Lara; Sebastian Quack). Im dritten Teil des Buches betrachten Paulina Seyfried und Fadrina Arpargaus kollektive und künstlerisch-teilhabende Arbeitsprozesse in den Institutionen und zeigen, wie sich Institutionen als »Werk-in-progress« verstehen lernen müssen. Dabei wird deutlich, dass kreative Kooperationen (Tabea Golgath) auch durch Konkurrenzdruck und Vereinzelungen verhindert werden (Nelly Gawellek und Katharina Klapdor Ben Salem), die vielfach Ausdruck von prekären Arbeitsbedingungen sind. Sehr anschaulich zeigt Jessica S. Weisskirchen diese Vorgänge anhand der Assistierenden im Theaterbetrieb und fordert, dass das Theater selbst der Austragungsort für gesellschaftliche Strukturkämpfe wird. Aus kulturpolitischer Sicht braucht es dafür sowohl gesetzliche Rahmenbedingungen (Kate Brehme), weitere Daten (Joshua Kwesi Aikins, Sophie Ali Bakhsh Naini, Daniel Gyamerah, Lucienne Wagner und Deniz Yıldırım) als auch neue Formen der intersektionalen Datenerhebungen (Demba Sanoh), Evaluationsprozesse (Julian Stahl) und neue Formen der Förderung und -auflagen (Lea Stöver).

Literatur Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan; Thiel, Thorsten (2021): »Für eine reflexive Krisenforschung – zur Einführung«, in: Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan (Hg.): Handbuch Krisenforschung, Springer VS, S. 3–16. Burstein, Fabian (2022): Eroberung des Elfenbeinturms: Streitschrift für eine bessere Kultur. Edition Atelier. Hier: aus der Leseprobe unter https://www.

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editionatelier.at/inhalte/eroberung-des-elfenbeinturms-leseprobe/ (letzter Zugriff 15.04.2023). Dembinski, Matthias; Peters, Dirk (2021): »Krise internationaler Institutionen«, in: Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan (Hg.): Handbuch Krisenforschung, Springer VS, S. 135–154. Deutscher Bundestag (2021): »Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie auf das kulturelle Leben in Deutschland. Entwicklungen des Kultur- und Kreativsektors in den Jahren 2020–2021«, Sachstand, WD 10 – 3000 – 027/21, Berlin. Haselbach, Dieter; Klein, Armin; Knüsel, Pius; Opitz, Stephan (2012): Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Albrecht Knaus Verlag. ebook. Koalition der Freien Szene Berlin (2022): »Koalition der Freien Szene Berlin fordert umfassende Aufklärung der Vorwürfe gegen Ulrich Schreiber und Konsequenzen beim Literaturfestival Berlin«, online unter https://www.k oalition-der-freien-szene-berlin.de/pm-auefklaerung-lib/ (letzter Zugriff 7.12.2022). Reckwitz, Andreas; Rosa, Hartmut (2021): Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp Verlag. Schaper, Rüdiger (2021): »Machtmissbrauch im Kulturbetrieb: Oberenders Abgang«, in: Tagesspiegel, online unter https://www.tagesspiegel.de/kultur/ oberenders-abgang-4296511.html (letzter Zugriff 7.12.2022). Statista (2023): »Deutschland: Entwicklung der Einkommensungleichheit auf Basis des Gini-Index im Zeitraum 2009 bis 2021«, online unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184266/umfrage/einko mmensungleichheit-in-deutschland-nach-dem-gini-index/ (letzter Zugriff 16.03.2023). Young, Oran R. (1982): »Regime dynamics: The rise and fall of international regimes«, in: Cambridge University press (Hg.): International Organization, 36(2), S. 277–297.

Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Zeit für Transformation(en) Notwendige Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik Henning Mohr

Die Kulturpolitische Gesellschaft positioniert sich seit Anfang 2021 als ThinkTank für die Transformation des Kulturbereichs. Es geht dem Verband darum, den Diskurs über Zukunftsfragen und die notwendige Orientierung an gesellschaftlichen Veränderungen zu stärken. Angesichts einer Zunahme existentieller Krisen (Klimawandel, CoronaPandemie) und sich verändernder Produktions- oder Rezeptionsgewohnheiten im Kontext vielfältiger, digitalisierter Lebenswirklichkeiten, können wir uns die Aufrechterhaltung eines veralteten Status quo im Handlungsfeld der Kultur schlicht nicht mehr erlauben. Die von vielen traditionsbewussten Führungskräften zurückgewünschte Normalität führt mehr denn je in Richtung Bedeutungslosigkeit. Es braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Arbeitsweisen und die damit verbundene progressive Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen. Aus diesem Grund ist es durchaus ein positives Signal, dass sich in vielen Kulturorganisationen bereits mehr oder weniger ernsthafte Reformbemühungen abzeichnen. Allerdings vollziehen sich diese in der Regel nur auf der programmatischen Ebene und haben selten nachhaltige strukturelle Konsequenzen in Bezug auf den Abbau von Hierarchien oder Machtasymmetrien, sich verändernde kollaborative Arbeitsabläufe im Querschnitt und die Etablierung neuer (Schnittstellen-)Funktionen. Dabei sind gerade diese strukturentwickelnden Maßnahmen notwendig, um dauerhaft neue Arbeitsergebnisse möglich zu machen. Da derartige Strukturanpassungen in der Regel mit einer Neuverteilung von Macht, Kontrolle, Status und Deutungshoheit in den Institutionen verbunden sind, versuchen Führungskräfte diese zu vermeiden, um ihre eigene Stellung im System nicht zu gefährden. Derartige Veränderungen müssen deshalb von den jeweiligen kulturpolitischen Instanzen von außen eingefordert und begleitet werden.

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Für diese Entwicklung der (Infra-)Strukturen braucht es eigenständige Fördermittel, Unterstützungsleistungen und Anreize. An dieser Stelle offenbart sich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels – hin zu einer Kulturpolitik der Transformation. Der Begriff der Transformation beschreibt den gestaltenden Prozess der Veränderung. Entgegen eines veralteten Begriffsverständnis geht es dabei nicht mehr darum, dass sich ein System vom vorherrschenden Ist-Zustand zu einem ebenfalls fixen Soll-Zustand entwickelt. Angesichts der Schnelllebigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeiten bedarf es vielmehr dauerhaft lernender Kulturverwaltungen oder -organisationen, die sich und ihre Arbeitsergebnisse immerwährend im Kontext verändernder Erwartungen reflektieren und diese entsprechend anpassen. Die mit der Transformation verbundenen Prozesse sind dann nicht mehr temporär, sondern müssen zu einem eigenständigen Bestandteil des Organisationszwecks werden. Dafür braucht es in den Systemen nicht nur entsprechende Funktionsstellen, Handlungskontexte und Methoden, sondern auch ein Wissen über ein transformationsorientiertes Management. Letzteres ist besonders wichtig, da es im Kulturbereich an Kompetenzen und an einem gemeinsam geteilten Begriffsverständnis für die hier beschriebenen Prozesse der Neuausrichtung mangelt. Viele Kulturmacher*innen diffamieren Transformationsthemen aufgrund einer angeblichen neoliberalen, rein wirtschaftsorientierten Geisteshaltung. Aus diesem Grund sind auch andere Begriffe aus diesem Feld – wie etwa Innovation, Kreativität oder Fortschritt – verpönt, und werden kaum bis nie verwendet. Nicht selten lautet der Vorwurf, dass es letztlich nur um Effizienzgewinne und damit um mögliche Begründungen einer Kürzung von Fördermitteln geht. Diese Kritik ist insofern paradox, da Prozesse der Erneuerung von den unterschiedlichen Stakeholdern (etwa dem Publikum, der Politik oder der Verwaltung) positiv bewertet werden. Tendenziell ließe sich somit eher eine zusätzliche Legitimation der Förderung(en) argumentieren. Die Abwertung von Transformationsthemen dient in vielen Fällen vielmehr der Absicherung des Status quo. Gerade öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind besonders anfällig für strukturkonservative Haltungen. So führen unter anderem die dauerhafte Förderung, die hohe Machtzentrierung durch das Ideal künstlerischer Universalgenies, ein falsch verstandenes Konzept künstlerischer Freiheit sowie der ausgeprägte akademische Kanon zu einer enormen Selbstbezüglichkeit und einer Entkopplung von gesellschaftlichen Fragestellungen.

Henning Mohr: Zeit für Transformation(en)

Für die Vertreter*innen von Kulturorganisationen gibt es keine wirklichen Verpflichtungen, die eigene gesellschaftliche Verantwortung zu reflektieren und sich dementsprechend zu positionieren. Davon profitieren derzeit insbesondere die oftmals rein fachlich ausgebildeten Führungskräfte, die in den Systemen noch zu oft entsprechend ihrer programmatischen Eigeninteressen agieren können. Mit ernsthaften – von Akteur*innen aus Kulturpolitik und Kulturverwaltung gleichermaßen eingeforderten – Transformationsbestrebungen ließe sich diese Innenorientierung aufbrechen. Die sich stattdessen etablierende Außenorientierung wäre mit einer stärkeren Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und damit zusammenhängend mit einer Ausrichtung an sich verändernden Bedarfen verbunden. Nicht ohne Grund wurde in den vergangenen Monaten viel über die gesellschaftliche Relevanz von Kulturproduktionen gesprochen. Diese ist der Kultur auf einer gesellschaftlichen Metaebene durchaus immanent, muss in der alltäglichen Praxis unter Berücksichtigung der Teilhabe möglichst vieler Menschen und unter der Bedingung einer Nutzung digitaler Technologien immer wieder neu unter Beweis gestellt bzw. verhandelt werden. Hier offenbart sich die Aktualität der Forderung einer »Kultur für alle von allen«, die eine radikalere Publikumsorientierung voraussetzt. Daran anknüpfend muss eine transformationsorientierte Kulturpolitik einfordern, dass Kulturproduktionen viel deutlicher aus der Vermittlungsperspektive gedacht werden, da dieses Handlungsfeld den Wissenstransfer zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen organisiert. Trotz jahrzehntelanger Debatten seit den 70er Jahren ist dieser Paradigmenwechsel nie ernsthaft eingeleitet worden. Der Vermittlungsbereich ist bis heute fast immer der schwächste Organisationsteil, verfügt in der Regel über wenig Einfluss innerhalb der Institutionen und leidet unter prekärer Beschäftigung. Es ist an der Zeit, dass Kulturpolitiker*innen ihren Gestaltungsauftrag für eine Kulturpolitik der Transformation annehmen und die notwendige Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen einfordern. Daran anknüpfend müssen dauerhaft geförderte Institutionen in Bezug auf eine Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel stärker in die Pflicht genommen und durch daran angepasste Förderprogramme entsprechend begleitet werden. Ganz offensichtlich reicht es nicht mehr aus, einen großen Teil der nicht bereits gebundenen Finanzmittel alleine für künstlerisch-kreative Inhalte auszugeben. Gleichzeitig zeigt sich, dass eine projektförmige Transformationsförderung, die oft ebenfalls auf der Ebene des Programms ansetzt, viel zu sel-

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

ten nachhaltige Effekte erzielt. Stattdessen braucht es eine Strukturoffensive zur Stärkung von Transformationen im Kulturbereich. Es ist bereits deutlich geworden, dass es dem Handlungsfeld der Kultur an Wissen über Transformationsthemen und die damit verbundenen Herangehensweisen mangelt. Im Kontext einer sich rasant verändernden Gesellschaft ist es durchaus problematisch, dass es in diesem Bereich keine Kultur der Weiterbildung gibt und in vielen Kulturorganisationen deshalb kaum Budgets dafür vorhanden sind. Neben einer systematischen Förderung der Weiterentwicklung organisationaler Strukturen – etwa durch neue Funktionsstellen zur Strukturentwicklung – sind deshalb auch entsprechende Programme der Kompetenzentwicklung im Sinne von (kollegialen) Beratungen, Coachings oder Weiterbildungen notwendig. Daran anknüpfend wäre es durchaus sinnvoll, wenn flächendeckend intermediäre Organisationen aufgebaut oder gestärkt würden, die Kulturmacher*innen bei der Neuausrichtung ihrer Kulturarbeit unterstützen. Diese neuen Institutionen könnten als Wissensspeicher dienen, Transformationsprozesse begleiten, das notwendige Methodenwissen vermitteln und themenspezifische Vernetzungen unterstützen. Durch den Aufbau derartiger Strukturen ließe sich zudem verhindern, dass diese Aufgaben an teure Agenturen aus der Wirtschaft ausgelagert werden. Darüber hinaus sollte eine Strukturoffensive für Transformationen auch Maßnahmen zur Stärkung des Cultural Leaderships unterstützen. Bis heute existieren in Deutschland keine staatlich finanzierten Weiterbildungsangebote für Führungskräfte im Kulturbereich – und das obwohl das Leitungspersonal in der Regel oftmals deutlich zu programmatisch entsprechend eines akademischen Fachkanons ausgebildet ist und die Steuerung von Organisationen erst in der Praxis erlernt. Dadurch sind die aktuell notwendigen Transformationskompetenzen für die infrastrukturelle Weiterentwicklung der eigenen Systeme nach wie vor unterrepräsentiert. Die Strukturoffensive sollte auch die Stärkung kommunaler Kulturverwaltungen als Trägerinstanzen vieler Kulturorganisationen beinhalten. Im Kontext der New Public Management-Bewegung der 1990er-Jahre wurde dieser Bereich in vielen Fällen an die Grenze der Arbeitsfähigkeit konsolidiert. Gerade in finanzschwachen Städten und Gemeinden mangelt es an Schnittstellenfunktionen, die Kulturmacher*innen (aus den Institutionen) bei der Qualifizierung und inhaltlichen Neuausrichtung begleiten. Durch entsprechende Unterstützungsleistungen könnten sich Kulturverwaltungen deutlich stärker als Moderator*innen des Wandels positionieren.

Henning Mohr: Zeit für Transformation(en)

Lange Zeit spielte das Thema der Transformation auf der kulturpolitischen Agenda nur eine untergeordnete Rolle. Die Corona-Pandemie wirkte hier allerdings als Katalysator, da viele altbekannte Problemstellungen des Kulturbereichs wieder in den Blick geraten sind und neue Herangehensweisen erforderlich machen. Die Kulturpolitik muss nun die richtigen Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, um zukunftsweisende Reformen unterstützend zu begleiten.

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Neustart Kulturpolitik 2.0! Schluss mit Kulturverwaltung, stattdessen Mut zur Gestaltung! Susanne Keuchel

Die Pandemie hat Gesellschaft und auch das Selbstverständnis von Kultur verändert! Die Krise hat Schwachstellen offengelegt und damit zugleich Zukunftsfragen zur gesellschaftlichen Transformation aufgeworfen. Die Krise hat unter anderem verdeutlicht, dass • •

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Teilbereiche der Kultur unterfinanziert sind, öffentlich geförderte Kultur, aufgrund der Erwirtschaftung von Teilnahmegeldern und Projektmitteln, in Krisenzeiten auf Rettungsschirme angewiesen ist, kulturelle Bereiche in Krisenzeiten nur eingeschränkt in der Lage gewesen sind, Zielgruppen zu erreichen, aufgrund fehlender digitaler Formate und es an sozialer Absicherung für Künstler*innen fehlt.

Gießkannenprinzip und Ökonomisierung fordern ihren Tribut … Prekäre Verhältnisse sind möglicherweise ein Symptom für fehlenden kulturpolitischen Gestaltungswillen. Sehr sinnbildlich zeigte sich dies in Berlin, wo 2.000 Sonderstipendien für Künstler*innen in der Krise einfach verlost wurden. Hier offenbart sich die Achilles-Ferse der letzten Jahrzehnte Kulturpolitik: Dem stetigen Wachstum an kultureller Vielfalt wurde kein Mut entgegengesetzt, Rahmenförderkriterien entgegenzuzustellen. Stattdessen dominiert das Gießkannenprinzip. Die Ökonomisierung der öffentlich geförderten Kultur und Bildung, wie die zunehmende Mischfinanzierung öffentlich geförderter Bereiche, hat

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

gleichfalls ihren Tribut gefordert. Die Übernahme wirtschaftlicher Erfolgskriterien wie die Quote oder Besucherzahlen, haben zu einem vermehrten Rückgriff der öffentlich geförderten auf publikumsnachgefragte Angebote, die auch auf dem kulturwirtschaftlichen Markt angeboten werden, geführt und so Konkurrenzen geschaffen, die zugleich die Kulturwirtschaft schwächen. Fehlende finanzielle Spielräume und künstlerische Experimentierräume führen vielfach auch zu vermehrten prekären und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen und auch dazu, dass Zukunftsaufgaben wie der digitale Wandel noch nicht adäquat umgesetzt wurden.

Notwendige Konkretisierung der Ziele und Aufgaben öffentlicher Kulturförderung … Wie können die Aufgaben von öffentlich geförderter und privatwirtschaftlicher Kultur klar abgegrenzt werden? Hier gibt es Grundprinzipien wie Wahrung des Kulturerbes, Freiraum für künstlerische Weiterentwicklung oder kulturelle Teilhabe sowie in der Vergangenheit immer wieder Versuche der Abgrenzung wie E- und U-Kultur, die sich jedoch als wenig hilfreich erwiesen haben. Ein Kriterium ist dabei auch die Frage: Was kann am Markt nicht bestehen? Ein Förderbedarf besteht beispielsweise, wenn die Strukturen, um spezifische Genres zu produzieren, wirtschaftlich nicht tragbar sind, ein anderer, wenn ein künstlerischer Beitrag nicht durch Publikumsinteresse getragen wird. Darüber hinaus bedarf es jedoch weiterer Eingrenzungen. So wächst das kulturelle Erbe stetig. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung liegt darin, Kulturgeschichte zu bewahren und gleichzeitig dem kommenden kulturellen Erbe Raum zu geben. Umgekehrt bringt kulturelle Vielfalt die Herausforderung mit, sich über konkrete Kriterien der Avantgarde zu verständigen. Hier bedarf es den Mut, diese sichtbar zu machen. Dann gibt es noch das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe. Eine Begründung aus Bürger*innenperspektive abzuleiten, ist ebenfalls schwierig: Wie viel Kultur braucht der Bürger, die Bürgerin? Und natürlich welche? Geht es bei kultureller Teilhabe stärker um Bildung, also die Vermittlung von Kunst jenseits des Mainstreams? Oder soll jede/r die Kultur bekommen, die sie/er möchte? Diese schwierigen Fragen stellen sich auch bei der Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags bezogen auf den Auftrag der Grundversorgung. Dass

Susanne Keuchel: Neustart Kulturpolitik 2.0!

Kulturpolitik in der Vergangenheit einer konkreten Festlegung von Inhalt und Umfang öffentlicher Kulturförderung eher ausgewichen ist, liegt nicht zuletzt auch in der vielleicht nicht unberechtigten Angst begründet, wieder einen Kulturkanon zu manifestieren.

Wie könnte eine gestalterische Kulturpolitik 2.0 aussehen? Anschaulich durchdekliniert werden kann dies am Beispiel der Forderung nach einer kommunalen Pflichtaufgabe Kultur, die in der Vergangenheit immer wieder gestellt wurde und aktuell in der Krise wieder an Fahrt aufnimmt. Mit der Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe ist nur ein kleiner erster Schritt getan. Stabilisierend kann diese Verankerung erst sein, wenn sie auch einen Bezugsrahmen erhält: Was bedeutet kulturelle Grundversorgung? Dabei eröffnen sich viele gestalterische Fragen: Wäre es im Sinne der kulturellen Daseinsvorsorge denkbar, den Zugang zum Museum kostenfrei für Bürger*innen einer Stadt zu ermöglichen, ähnlich, wie dies mittlerweile einige Städte für den ÖPNV praktizieren? Und dabei Eintritt nur von Zugereisten wie Touristen verlangen? Sollen kulturelle Bildungseinrichtungen, statt Dienstleistungsangebote wie der Instrumentalunterricht, nur noch gemeinwohlorientierte Angebote entwickeln? Beispielsweise die Integration der Musikschularbeit flächendeckend in Form von Modellen wie Klassenmusizieren in der Schule oder Musikinstrumentenkarussell in der Kita? Und warum nicht auch Mut für neue Wege bei der inhaltlichen Ausgestaltung aufbringen, beispielsweise prozentual gleichberechtigt die Perspektiven lokal, global, kulturelles Erbe und künstlerische Innovation in der Förderung abbilden? All dies sind Fragen, die es gilt, mit einer gestalterischen Kulturpolitik zu beantworten und vielleicht müssen diese Fragen in einem dynamischen Prozess angesichts des gesellschaftlichen Wandels in Zeitabständen immer wieder neu gestellt und beantwortet werden, um eine Agenda zur Transformation unter dem Motto »fordern« und »fördern« für eine gestalterische und nachhaltige Kulturpolitik zu ermöglichen!

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Status quo ante oder transformierte Kulturförderung? Resilienz erfordert eine verteilungsgerechtere Kulturpolitik Kurt Eichler

Wenn von den Lehren aus der Pandemie die Rede ist, dann fällt fast immer der Begriff der Resilienz, die die Kultur entwickeln muss. Darunter wird gemeinhin die Widerstandfähigkeit verstanden, Krisen durch den Rückgriff auf gesammelte Erfahrungen und Ressourcen für Weiterentwicklungen zu nutzen, eben Krise als Chance. In der Medizin und der Physik hat Resilienz eine etwas andere Bedeutung, nämlich die Wiederherstellung einer früheren Situation: Druck aufnehmen zu können, ohne zu zerbrechen, und in den Ursprungszustand zurückkehren – so wie ein Ball oder ein Stoßdämpfer. Bei den Szenarien, die der Kulturbereich derzeit für die Post- Corona- Ära entwirft, dominiert eher diese zweite Interpretation von Resilienz. Das ist nicht abwegig: Kunst- und Kulturschaffende und die Institutionen wollen – wie auch andere gesellschaftliche Sektoren – in den gewohnten Arbeitsmodus zurückkehren. Vermutlich entspricht das auch der Erwartungshaltung ihres Publikums. Aber war dieser ursprüngliche Zustand so erstrebenswert? Kultureinrichtungen in kommunaler und Landesträgerschaft und -finanzierung werden dies überwiegend bejahen: Ihr Status sichert ihnen Resilienz, und auch während der Pandemie waren sie nie wirklich existenziell gefährdet. Bei aller Kritik an den Corona-bedingten Restriktionen im Kulturbereich ist zu konstatieren, dass nie so viel Empathie und staatliches Geld vorhanden war – sogar für die freie, zivilgesellschaftlich getragene Kultur. Das tat gut. Aber wie ist die Perspektive? Wie beurteilen die Künstler*innen und andere Betroffene sowie die freien, zivilgesellschaftlich getragenen Kultureinrichtungen ihre Existenzbedingungen vor der Pandemie? Und was erwartet sie für die Zeit danach?

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Ungelöste Förderarithmetik Corona hat das Brennglas auf die Lage dieses Kultursegments gelenkt, das neben den öffentlichen Institutionen als eine zweite Säule des kulturellen Lebens in Deutschland durchaus geschätzt wird. Für ihre künstlerischen Innovationen und Qualitäten wird sie gelobt. Auch die Publikumszahlen der Freien Szene sind im Vergleich mit etablierten Kulturbetrieben beachtlich: Beispielsweise verzeichneten 2017 die soziokulturelle Zentren 12,6 Mio. Besuche, öffentliche Theater 20,5 Mio.1 Ihre materiellen Rahmenbedingungen halten jedoch mit ihrer Wirksamkeit nicht Schritt. Bis Anfang der 1970er Jahre konzentrierte sich die öffentliche Kulturpflege in der alten Bundesrepublik auf die Finanzierung der eigenen Theater, Museen, Bibliotheken, Musikschulen und andere, überwiegend kommunale Institute. Daneben gab es ein bisschen Hilfen für Künstler*innen und die Unterstützung kultureller Gemeinschaften. Ganz wenige Einrichtungen wurden kontinuierlich gefördert wie etwa die Kunstvereine. Mit der Entstehung einer freien und soziokulturellen Szene und ihrer Forderung nach einer Beteiligung am Kulturkuchen öffnete sich das System. Zunächst waren es vor allem Projektzuschüsse, später auch dauerhafter angelegte Förderprogramme insbesondere für Einrichtungen wie soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen oder freie Theaterspielstätten. Stets fielen diese Förderungen im Vergleich mit dem etablierten Kulturbetrieb geringer aus und es wurden im Laufe der Zeit auch immer mehr, die sich in diesem neuen und differenzierten, Möglichkeiten und Distinktion versprechenden Kulturfeld zuwandten. Die Kulturpolitik selbst formierte sich alternativ: Sie war den neuen Entwicklungen, die einen Modernisierungsschub für den traditionellen Kulturkanon versprachen, gegenüber aufgeschlossen und tat das in ihrem Rahmen Mögliche zur Unterstützung. Neue Themen wie Zielgruppen, Interkultur, Partizipation, Dezentralisierung und Alltagskultur(orte) fanden Eingang in die kulturpolitische Agenda. Diese Neue Kulturpolitik half der Bewegung auf die Beine, indem sie einen ideologischen Überbau und zusätzliche Finanzmittel für das Feld organisierte. Kritik hielt sie sich vom Leibe,

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Liersch, Anja: Bildung und Kultur. Spartenbericht Soziokultur und Kulturelle Bildung (Stand: 04.03.2020). https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bild ung-Forschung-Kultur/Kultur/Publikationen/Downloads-Kultur/spartenbericht-sozi okultur-5216101209004.pdf;jsessionid=9ADAC4EF7450BEEC6CBEB7C8739D5C49.live 742?__blob=publicationFile [08.11.2022].

Kurt Eichler: Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?

indem sie den Besitzstand der alten Kulturkohorten nicht angriff. Diese Strategie hatte den Nebeneffekt, dass die Kulturetats seit fast 50 Jahren beständig anwachsen und mit dem Aufwuchs der öffentlichen Haushalte durchaus Schritt gehalten haben. Allerdings kam und kommt der Großteil der Steigerungsraten den Konten der öffentlich getragenen, personal- und damit kostenintensiven Kultureinrichtungen zugute. Trotz vieler guter und durchdachter Förderansätze und -konzepte in den vergangenen Dekaden ist das Gefälle zwischen etabliertem Kulturbetrieb und freiem Kulturbereich immer noch eklatant, obgleich seine gesellschaftliche Wirksamkeit, sein künstlerisches Potential und seine Teilhabezugänge unstrittig sind. Prekäre und unzureichende Arbeitsbedingungen, fehlende finanzielle Planungssicherheit, Raumprobleme, Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung und letztlich um Mitgestaltung der öffentlich verantworteten Kulturentwicklung, und zwar auf Augenhöhe und nicht als Bittsteller: Das sind nach wie vor zentrale Herausforderungen für diese zweite Kultursäule.

Normallfall Projektförderung Wer die Forderung nach Resilienz für die freie und soziokulturelle Szene nach Corona ernst nimmt, muss die Frage nach der Angemessenheit und Zukunftsfähigkeit des Kulturfördermodells in Deutschland beantworten. Das betrifft die kulturpolitische Relevanz der großen gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel und nachhaltige Ökonomie, Globalisierung, Armut und Teilhabe, Diversität oder die Digitalität, aber eben auch ganz banal die Finanzierungsungleichheiten im Kultursektor. Wenn durch die Pandemie die Verletzlichkeit der nichtstaatlich oder kommunal verfassten Kultur überdeutlich hervorgetreten ist, wäre jetzt der Zeitpunkt eines grundlegenden Systemwechsels, der sich primär an die Sachwalter der Kulturfinanzierung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene richtet. Es gilt Abschied zu nehmen von einem Förderverständnis, das die freie Szene vor allem auf Maßnahmen reduziert, die zeitlich befristet und jederzeit rückholbar sind. Auf den Prüfstand müssen u.a. die Praxis der Kettenprojekte für die Finanzierung von Einrichtungen, institutionelle Förderungen, die aber auf dem Regelwerk für die Projektförderung basieren, Optionsförderungen, die besonders qualifizierten Trägern für einige Jahre ein Auskommen ermöglichen, danach aber keine weitere Perspektive eröffnen, das Primat von Produk-

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

tions- gegenüber Prozessergebnissen sowie Anteilfinanzierungen, bei denen erfolgreiche Eigenerwirtschaftung und Drittmittel die Förderung reduzieren und unflexibel und bürokratisch zu handhaben sind. Selbst die großzügigen Corona-Hilfen staatlicher und kommunaler Herkunft spiegeln die Asymmetrie zwischen einer zeitlich eingegrenzten und einer nachhaltigen Förderung wider, denn die allermeisten Zuwendungen werden projektbezogen vergeben. Das bedeutet für die Projektverantwortlichen, dass sie antragsbasiert und (innovations)orientiert an definierten Kriterien für ein erwartetes Ergebnis arbeiten, verwendungsnachweispflichtig entsprechend der geltenden Allgemeinen Nebenbestimmungen sind, sowie der Notwendigkeit unterliegen, nach einem erfolgreich durchgeführten Projekt sogleich das nächste zu platzieren, um durch die anhaltende Krise zu kommen. Auch wenn viele Akteur*innen diesen Modus als Normalzustand kennen, hätte man sich doch wenigstens während des pandemischen Ausnahmezustands eine beständigere Unterstützung gewünscht. Die Frage der qualitativen Bewertung – wer sie nach den Regeln von Zugänglichkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit sowie eigener Fachkompetenz vornimmt und letztlich die Förderentscheidungen trifft – ist konstitutiv für die Akzeptanz jeder Kulturförderung. Doch gerade die Qualitätsfrage wird in Deutschland ungern offen diskutiert und kommuniziert; teilweise wird sie sogar als zu subjektivistisch bei Förderprozessen ausgeklammert. Dabei mag ein starkes Ausstattungs- und Finanzierungsgefälle zwischen öffentlichen und freien Trägern auch zukünftig durch qualitative Unterschiede durchaus begründbar sein, vielfach aber auch nicht. Wenn beide Welten einmal aufeinanderstoßen wie beim Berliner Theatertreffen, bei dem seit einigen Jahren auch freie Produktionen zugelassen werden, sind die vielfach bemühten Qualitätsunterschiede nicht auszumachen. Im Jahr 2021 kamen schon drei von zehn eingeladenen Inszenierungen aus dem frei-produzierenden Bereich. In der kulturellen Bildung räumen besonders viele zivilgesellschaftliche Institutionen wie etwa Jugendkunstschulen oder Medienwerkstätten renommierte Preise ab. Was die freie Szene an neuen Methoden und Formaten erprobt und entwickelt hat wird oft vom öffentlichen Kulturbetrieb adaptiert – allerdings unter deutlich besseren Rahmenbedingungen.

Kurt Eichler: Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?

Dynamische Fördersysteme Manchmal lohnt der Blick nach außen, z.B. in die Niederlande. Mit der Aktion Tomate (Aktie Tomaaat)2 protestierten 1969 (!) junge Theaterleute gegen eine verkrustete Theaterstruktur, was in der Folge die niederländische Kulturlandschaft insgesamt dauerhaft verändert hat. Für die vierjährigen Legislaturperioden legt ein Kunstplan die staatlichen Förderungen für die öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Kulturinstitutionen und -organisationen fest. Nicht das für Kultur zuständige Ministerium oder eine staatliche Behörde bewerten die Förderanträge und treffen die Förderentscheidungen, sondern ein Rat für die Kultur aus Fachleuten. Ebenfalls alle vier Jahre wird die Förderperiode evaluiert und unter Berücksichtigung der Ergebnisse ein neuer Kunstplan aufgelegt. Mit seiner Umsetzung sind häufig Stiftungen und Fonds betraut (»Förderung auf Armlänge«). Gesetzlich ist das Verfahren, das vergleichbar auch in den Provinzen und Kommunen praktiziert wird, im Cultural Policy Act (1993) geregelt.3 Dieses System hat zu einer Flexibilisierung, Diversifizierung, Transparenz und Öffnung der Förderstrukturen geführt, die Förderzugänge der unterschiedlichen Kulturträger weitgehend gleich- und Erbhöfe infrage gestellt. Obwohl bis zu 30 % der staatlichen Kulturmittel in den vergangenen Förderperioden umgeschichtet worden sind, geht es nicht um maximale Flexibilität oder eine neoliberale Marktidee. Die Erfahrungen zeigen, dass auch die kulturelle Substanz des Landes nicht verloren hat; ganz im Gegenteil wird sie durch die permanente Anpassungsdynamik gestärkt. Die skizzierte Konzeption folgt keinem additiven Kulturpolitikmodell, das an seine finanziellen und infrastrukturellen Grenzen kommt, auch nicht einem reduktiven Ansatz, der aufgrund begrenzter Mittel oder Einsparszenarien neuen Entwicklungen restriktiv begegnet oder sie ausschließt. Vielmehr geht es um einen regelmäßig geführten Diskurs über künstlerische und kulturelle Herausforderungen im Kontext gesellschaftlicher Prozesse, bei denen auch die Nachfrageseite und veränderte Kulturinteressen einbezogen sind.

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Vgl. Müller, Maria: XII. Aktie Tomaat (Stand: 03.2011). https://www.uni-muenster.de/ NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/70er/tomaat.html [08.11.2022]. Compendium: Cultural Policies & Trends: 4. Law and Legislation (Stand: 2021). https:/ /www.culturalpolicies.net/database/search-by-country/country-profile/category/?id= 28&g1=4 [08.11.2022].

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Das Modell privilegiert weder die öffentlichen noch die freien Kulturträger, die den gleichen Maßstäben von Qualität, Wirksamkeit und Effizienz unterliegen. Risiken und Verluste werden bewusst in Kauf genommen, müssen aber fachlich begründet sein. Auf der anderen Seite werden mit einer transformierten Förderkonzeption nachvollziehbare Verfahren und mehr Verteilungsgerechtigkeit erreicht. Die ihr innewohnende Dynamik befördert zudem Veränderungsprozesse bei den Kulturangeboten und ihren Trägern. Denn: Wer Transformation ernst meint, muss auch die materiellen Grundlagen in den Blick nehmen.

Elemente einer verteilungsgerechteren Kulturförderung Die Forderung nach Resilienz richtet sich vor allem an die Förderinstitutionen und ihre Förderarchitektur. Auch wenn das niederländische System der Kulturfinanzierung in seiner Gänze nicht auf Deutschland übertragen werden kann, so lassen sich doch zentrale Elemente im Förderbereich umsetzen und finden sich in einigen Kommunen und Ländern, bei öffentlichen und privaten Stiftungen sowie den selbstverwalteten Kulturfonds auf Bundesebene, wenn auch bisher überwiegend im Rahmen einer Projektförderung. Eine Neujustierung der Kulturförderung durch deutsche Kulturadministrationen erscheint also durchaus möglich. Dazu gehören für Einrichtungen und künstlerische Kollektive vor allem eine verlässliche mehrjährige Förderung, Festbetragsfinanzierungen, unabhängige fachliche Expertisen bei Förderentscheidungen, mediatorische Förderfonds, Kombiförderungen durch Land und Kommune, vereinfachte Regeln für Anträge und Mittelverwendungen sowie – ganz wichtig – ein Vertrauensvorschuss (in den Niederlanden sind bis zu Förderbeträgen von 25.000 € keine Verwendungsnachweise erforderlich). Auf der Seite der Betroffenen bedeutet Resilienz: Diversifizierung der Angebotspaletten, unaufwändige und flexibel einsetzbare Veranstaltungsformate, kleinere und dezentrale Kulturorte, neue Vertriebswege und Vermarktung, Fortsetzung der Digitalstrategien, Diversitäts- und Vermittlungsprogramme, gesellschaftsbezogene Kollaborationen und Vernetzungen, Koproduzieren mit anderen Ensembles und Einrichtungen, subsidiäre Dienstleistungen für Kulturverwaltungen, vor allem aber auch die Stärkung der spartenbezogenen und übergreifenden Interessenvertretungen – denn ohne diese werden Veränderungen der Fördersysteme nicht durchsetzbar sein.

Kurt Eichler: Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?

50 Jahre nach der Gründung der ersten freien und soziokulturellen Initiativen dürfte es an der Zeit sein, diesem Bereich mittelfristige Finanzierungsperspektiven zu eröffnen. Das erfordern die erreichte Professionalität sowie der Generationenwechsel in den Einrichtungen, der nur gelingen wird, wenn verlässliche Förderstrukturen die sozialen Standards und Gestaltungsmöglichkeiten sichern. Die Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn wie jetzt im Entwurf des NRW- Kulturgesetzbuches führt in die falsche Richtung. Weiterhin auf die intrinsische Motivation der Kunst- und Kulturschaffenden zu setzen, wird nach den negativen und positiven Erfahrungen mit der Pandemie, den existenzgefährdenden Schließungen und den existenzsichernden Hilfspaketen, nicht ausreichen. Die zahlreichen privaten Theaterund Museumsgründungen im vorvergangenen Jahrhundert haben weniger Zeit gebraucht, um sogar den Ewigkeitsstatus öffentlicher Einrichtungen zu erlangen. Wenn in Deutschland schon die Klimaschutzziele bis zum Jahr 2030 nicht erreicht werden: Könnte nicht bis zu diesem Zeitpunkt zumindest eine nachhaltige Kulturförderung verwirklicht sein?

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Willkommen in der Neuen Deutschen Welt Mithu Sanyal

In den 80er Jahren gab es keinen Rassismus. Wir lernten in der Schule, dass Menschenrassen ein faschistisches Konzept waren, und wenn es Rasse nicht gibt, folgt daraus nur logisch, dass es auch keinen Rassismus geben konnte. Entsprechend war es nicht möglich, darüber zu sprechen, ohne so zu wirken, als wolle man Menschen erneut aufgrund von äußerlichen Merkmalen wesenhaft unterscheiden. All das ändert sich gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit. Deutschland entdeckt (Anti-)Rassismus und (Post-)Kolonialismus. Plötzlich sprechen wir über PoCs und über BiPoCs. Und das ist wichtig. Es ist aber auch gleichzeitig beängstigend. Wirkt es doch so, als gäbe es jetzt mehr Rassismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wir sind an einem gesellschaftlichen Punkt, an dem wir uns dem endlich stellen können. Nur wenn wir etwas benennen können, können wir es auch ändern. Mehr noch, brauchen wir Sprache, um über Sachverhalte überhaupt nachdenken zu können.1 Rassismus hat nicht nur eine äußere Dimension, sondern auch viel mit Ich-Werdungs-Problemen zu tun. In Bezug auf den Kulturbereich heißt das, dass der Wunsch Schriftsteller*in zu werden für meine weißen Freunde so ähnlich war, wie im oberen Management arbeiten zu wollen, ehrgeizig aber ein Berufswunsch. Für mich war er wie der Wunsch, zum Mond zu fliegen, ein unerreichbarer Traum. Rassismus macht etwas mit unserer Phantasie, mit der Vorstellung davon, wo unser Platz in dieser Gesellschaft und wieviel Bewegungsspielraum dort für uns ist. Die Aussiebungsprozesse setzen viel früher an. Und sie sind unsichtbar. Kulturförderungen, Residenzen und Stipendien bedenken das jedoch in der Regel nicht. Und sie tun das nicht, weil sie von rassistischen Menschen betrieben werden, im Sinne von Menschen, die andere Menschen vorsätzlich und

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Vgl. Gümüsay, Kübra. Sprache und Sein, München: Hanser Verlag, 2020.

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

bewusst auf Grund ihres Phänotyps diskriminieren wollen. Das ist die landläufige Definition von Rassismus und sie ist falsch. Missversteht sie doch den Kampf gegen Rassismus als Kampf gegen böse Menschen. Wenn jeder Rassismus ein bewusster, individueller und absichtlicher wäre, wäre alles super. Dann könnten Menschen nämlich in der Tat einfach damit aufhören. Dabei ist der meiste Rassismus unbewusst, weil er internalisiert ist. Nebenbei ist es unmöglich, keine rassistischen Stereotype verinnerlicht zu haben – egal auf welcher Seite der race divide wir stehen. Rassismus ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Wir alle bekommen das so genannte rassistische Wissen2 bereits mit der Muttermilch eingeflößt. Und das ist jetzt sexistisch, weil das natürlich nicht die Schuld der Mütter ist. Das Gegenteil von rassistisch ist nicht nicht-rassistisch, sondern antirassistisch, erklärt der Historiker und Gründungsdirektor des Anti Racist Research and Policy Center der American University Ibram X. Kendi.3 Denn wenn wir uns damit begnügen, Rassismus einfach nur abzulehnen, bleibt die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit dieser Strukturen aus. Das können wir an den hilflosen Versuchen vieler Institutionen – von der Polizei, über die Medien bis zum Gesundheitssystem – sich zu diesem Thema zu positionieren, sehen, die häufig nach dem Motto verläuft: Wir finden Rassismus ganz schrecklich, deshalb kann es bei uns auch keinen Rassismus geben. Anti-Rassismus dagegen geht von der Analyse aus, dass wir in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen sind, das auf rassifizierten Hierarchien basiert – auf der Ausbeutung anderer Länder durch Kolonialismus, auf rassistischen Menschenbildern, die unsere Philosophie durchdringen und so weiter und so fort.4 Deshalb wäre es höchst verwunderlich, wenn ein Gesellschaftszweig davon frei bliebe, als wäre er abgeschnitten vom Rest der Wissensproduktion. Und das ist die gute Nachricht! Der Prozess, in den wir gerade eintreten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und kein Zeichen davon, dass bei uns etwas nicht stimmt. Die kulturpolitischen Handlungsempfehlungen

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Vgl. Terkessidis, Mark. Die Banalität des Rassismus, Bielefeld: transcript Verlag, 2004. Vgl. Kendi, Ibram X. How to be an Antiracist, London: Bodley Head/Penguin, 2019. Vgl. Goldberg, David T. Racist Culture. Philosophy and the Politics of Meaning, Oxford: Blackwell,1993.

Mithu Sanyal: Willkommen in der Neuen Deutschen Welt

von Interkultur Ruhr5 sind eine Orientierungshilfe im scheinbar unendlichen Meer der Anti-Rassismus-Ansprüche. Doch mehr noch sind sie eine Entlastung. Es geht nicht darum, sich anzustrengen, so nette Menschen wie möglich zu werden. Spoiler: Selbstverpflichtungen funktionieren nahezu nie, weil dabei jede*r das Rad selbst erfinden und es, um im Bild zu bleiben, durch eine Welt aus Quadern rollen muss. Selbstverpflichtungen sind im besten Fall Selbstüberforderungen – im schlechtesten Fall sind sie leere Worte. Was wir brauchen, ist eine Institutionalisierung von anti-rassistischem Wissen sowie einer anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen. Das entspricht übrigens auch den Forderungen des Europarats, der von Deutschland aktive Maßnahmen gegen Rassismus fordert, allem voran mehr »Aufklärungsarbeit in Institutionen« und die Verankerung von in die »Bildungsgesetze und in die Lehrpläne«.6 Neben Aufklärung/Wissen geht es vor allem um Teilhabe und Repräsentation. Nun machen mehr BiPoCs noch nicht unbedingt anti-rassistische Kunst und Kultur. Was sie jedoch tun ist, ein Signal auszusenden. An andere BiPoCs und an die Institutionen. Wie häufig habe ich gehört: Ach, Frau Sanyal, Ihre Erfahrungen sind ja faszinierend, aber doch eher so Spartenthemen. Sprich: Nicht repräsentativ. Dabei sind sie genau das. Und das würden Menschen auch eher sehen, wenn wir angemessen repräsentiert wären, wenn wir als Teil dessen wahrgenommen würden, was ›echte‹ Kultur ist, was das ›echte‹ Leben ist, was ›echte‹ Deutsche sind. Schließlich ist eine der zahlreichen Funktionen von Kultur, kollektive Erinnerungen aufzubewahren und zu gestalten: Wie funktioniert Erinnern in der Bundesrepublik? Wer ist Teil der Erinnerungskultur, und damit auch Teil des Bildes, das wir von uns in die Zukunft projizieren? Im Kern: Wer sind wir? »Wir sind Viele« ist kein Slogan, es ist die Beschreibung einer Lebensrealität, die wir produktiv machen können. Und das bezieht sich nicht nur auf die Sender*innen, sondern auch auf dem Adressaten*innen. Wenn wir bestimmte Positionen unterrepräsentieren, werden sich auch nur bestimmte Menschen

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Vgl. Interkultur Ruhr: Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet. Kulturpolitische Handlungsempfehlungen (Stand: 10.09.2020). https://interkultur.ruhr/notiz/interkulturell e-arbeit-im-ruhrgebiet-kulturpolitische-handlungsempfehlungen [08.11.2022]. ZEIT ONLINE: Europarat fordert von Deutschland Maßnahmen gegen Rassismus (Stand: 17.03.2020). https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/diskri minierung-rassismus-europarat-aufklaerungsarbeit-polizei-schulen [08.11.2022].

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

von unseren kulturellen Produkten angesprochen fühlen. Wie kann die Kultur dann aber ihrem Anspruch als fünfte Kraft in einem demokratischen Staat nachkommen? Als Ort der Rede- und Imaginationsfreiheit? Aber auch als gesellschaftlicher Raum der Begegnung und Berührung? Kultur ist der Ort, an dem Empathie entsteht und geschult wird, ein Labor für die Auseinandersetzung mit dem Anderen, auch mit dem Anderen im Eigenen. Das Besondere an Kultur ist, dass hier Utopien nicht nur gedacht, sondern experimentell bereits erlebbar gemacht werden können. Die kulturpolitischen Handlungsempfehlungen sind aus einem kollektiven Prozess entstanden. Sie (und die Erfahrungen, die aus ihrer Umsetzung entstehen) werden das kulturelle Leben in Deutschland nachhaltig bereichern – für uns alle! Und sie werden nicht nur die Inhalte bereichern, sondern auch die Arbeitsprozesse. Diversität bedeutet, dass wir nicht in alten Strukturen festgefahren bleiben müssen. Anti-Rassismus bedeutet ein Mehr an Menschlichkeit in Kunst und Kultur und damit in dem, wie unsere Gesellschaft sich selbst erklärt.

Dieser Text erschien als Geleitwort zur Publikation »Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet. Kulturpolitische Handlungsempfehlungen (2020)«, Autor*innen Fatima Çalışkan & Miriam Yosef, Redaktion: Johanna-Yasirra Kluhs, Jola Kozok, Fabian Saavedra-Lara.

Handschlag mit der Realität Gedanken zur Überholung des Kulturbetriebs Fatima Çalışkan & Johanna-Yasirra Kluhs

These 1: Die Professionalisierung von Ein-/Ausschlussverfahren ist konstitutiv für den Kulturbetrieb. Interkultur Ruhr1 arbeitet im Auftrag des Regionalverbands Ruhr seit 2016 daran, freie Kulturakteur*innen zu fördern, zu vertreten und sichtbar zu machen, die sich als BiPoCs, diasporisch, migrantisch oder migrantisiert positionieren. ODER: die aufgrund von Rassismus und damit auch häufig Klassismus diskriminiert werden. ODER: deren Kunst- und Kulturarbeit sich bewusst in den Zusammenhang einer grundsätzlichen migrantischen Situiertheit unserer Gesellschaft stellt. Dabei sind es nur manchmal die Akteur*innen selbst, die ihre Arbeit so verstehen. Öfter ist die Bezeichnung Interkulturelle Arbeit eine Reaktion auf die Markierung von außen. Zwar ist das Ruhrgebiet ohne Migration nicht zu denken – aber auch immer noch nicht ohne das konstruierte Migrations-Andere. Das Wir des Projekts Interkultur Ruhr ist eine Reaktion auf das von den Regelsystemen konstruierte Ihr. Denn Ausschluss wird hier zum Identitätsprinzip erklärt und manifestiert eine Nische in der ansonsten weiß dominierten Kulturlandschaft. Das zeigt sich auch in der Ausstattung des Projekts: Im Hinblick auf die Vielzahl von Akteur*innen und Formaten, stellen wir das wohl größte Feld kultureller Praxis dar, sind aber im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen das kleinste Projekt der Nachhaltigkeitsmaßnahmen der RUHR.2010.

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Interkultur Ruhr. https://interkultur.ruhr/ [08.11.2022].

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Die meisten der engen Kolleg*innen leben unter kontinuierlicher Bedrohung. Hanau. Halle. Duisburg. Solingen. Krefeld. Vor langer Zeit, gestern, heute, morgen. Und die, die bestellt sind, zu schützen, sind oftmals auch gefährlich. Die institutionalisierten Kulturräume sind weiß: Angefangen von den Leitungsetagen der Häuser, den Angestellten in der Administration, den Programm- und Förderjurys, bis hin zu den etablierten Akteur*innen der Freien Szene. Hier ist der strukturelle Ausschluss und damit einhergehende permanente Vorgang von Othering und Exklusion Alltag. Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet ist also nicht zu denken, ohne dass rassistische und antisemitische Gewalt angesprochen wird. Das betrifft auch die Erinnerung. Nach wie vor ist die Kontinuität dieser Gewalt nicht in das kollektive Gedächtnis der Region eingetragen. Wir müssen über Ungerechtigkeit reden. Über Vorteile, Vorurteile und Versäumnisse. Darüber, wer meistens viel bekommt. Darüber, in welcher Kontinuität das steht. Darüber, was es bedeutet, weiß zu sein. Über Kolonialismus, Zwangsarbeiter*innen und Gastarbeiter*innen. Und wer wen verwaltet.

These 2: Arbeitsrealitäten von Mikrostrukturen handeln außerhalb der Förderlogik. Doch: Es ändert sich langsam etwas. Wir profitieren jetzt von der Arbeit der sozialen Bewegungen, der organisierten Minderheiten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie haben ihre Arbeit mit geringster institutioneller Unterstützung verwirklicht, ohne strukturelle Förderung und medialem Konfettiregen. Der Wunsch und die Dringlichkeit nach künstlerischem Ausdruck und die Selbstsorge-Notwendigkeit von Communities führen dazu, dass ohnehin prekäre Arbeitsrealitäten historisch und aktuell an den äußersten Rand der Selbstausbeutung geraten. Lokale Projekte und Mikrostrukturen erledigen grundlegende Arbeit an Ort und Stelle. Sie verfügen über Netzwerke, für die große Institutionen ansonsten Outreach-Kurator*innen und CommunityManager*innen temporär einstellen. Und doch erleben sie selten genügend (monetäre) Entlohnung.

Fatima Çalışkan & Johanna-Yasirra Kluhs: Handschlag mit der Realität

Denn: In der Logik bürokratisch aufgeladener Projektförderung ist dieses Tätigsein kaum abzubilden. Spontane, bedarfsorientierte Kulturarbeit dieser Gruppen kann weder sprachlich noch formal dem Regelwerk öffentlicher Förderrichtlinien entsprechen. (Beispiele und Erhebungen zum Thema unbezahlter Arbeit sind in der Dokumentation zum Förderfonds Interkultur Ruhr zu finden).2 Auch hier zeichnen sich erste Veränderungen ab: Im vergangenen Jahr haben diverse Maßnahmenpakete Stipendien zur Unterstützung der Kunst- und Kulturarbeiter*innen ausgelobt. Sie motivieren dazu, die eigene Praxis jenseits von konkreten Projekten als förderwürdig zu verstehen. Selten hat ein so breites Spektrum von Akteur*innen die gleiche Förderung erhalten. Einen Moment lang wurde kaum selektiert, sondern vergeben. Das Anliegen und der Bedarf selbst werden eher vorausgesetzt als beurteilt.

These 3: Entscheidungen sollten auf Dissens und Heterogenität basieren. Was es jetzt braucht, ist die gleichzeitige Reformation von Regelinstrumenten und -institutionen, sowie die Stärkung der Selbstorganisationen. Wenn das Interesse daran wirklich ernst gemeint ist, dann muss in diesen Bereichen wesentlich mehr Geld in die Hand genommen werden. Mehr Mut gesammelt werden, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Wie sieht eine Kulturförderung aus, die unterschiedliche ästhetische Vorstellungen anerkennt? Ist die Grenzziehung zwischen professionellem und amateurhaftem Kunstund Kulturschaffen dann überhaupt noch aufrechtzuerhalten? Wir brauchen anti-hegemoniale und kontroverse Verfahren, um über die Verteilung von Ressourcen und Jobs zu entscheiden. Das heißt: Viele sehr verschiedene Leute sollten an diesen Entscheiungen beteiligt sein.

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Vgl. Ritter, Patrick: Dokumentation Förderfonds. Interkultur Ruhr 2018. https://interk ultur.ruhr/sites/default/files/public/downloads/INTERKULTUR_RUHR_FF2018_web. pdf, S. 16 [08.11.2022]. Und: Çalişkan, Fatima: Dokumentation Förderfonds. Interkultur Ruhr 2019. https://interkultur.ruhr/sites/default/files/public/uploads/Dokumentatio n_Foerderfonds_Interkultur-Ruhr_2019_web.pdf, S. 13 [08.11.2022].

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Wir müssen die angstvolle Vorstellung davor verlieren, dass eine Praktik des Vertrauens in die Breite existierender künstlerischer Formen und Qualitätsvorstellungen im Chaos endet. Das tut es nicht: Im Gegenteil könnte so eine Kulturlandschaft entstehen, die der Pluriversatilität der Gesellschaft entspricht, in der wir leben. Und mal ehrlich: Die Arbeit wird ohnehin gemacht. Es ist jetzt an der Zeit, dass die, die über die Ressourcenverteilung entscheiden, lernen, hinzusehen und als Arbeit anerkennen, was sich vielleicht den etablierten Kategorien von Wert in der Kultur entzieht. Ankunft in der Gegenwart! Wir müssen ein genaues Hinschauen und Zuhören organisieren. Vielleicht sollten Fördermittel sozialräumlich vergeben werden, nicht genrespezifisch. Vielleicht können Stadtviertel Verfahren entwickeln, wie die dort lebenden Kunst- und Kulturakteur*innen die Ressourcen verteilen. Um hier fair miteinander umzugehen, ist viel Arbeit an der Selbsteinschätzung gefragt: Diskriminierungskritische Qualifizierung und Stärkung marginalisierter Strukturen sind Schlüssel, um neu hören und sehen zu können, um eingeübte Bewertungsaffekte zu überwinden. Deswegen müssen Auswahlgremien ihre künstlerisch-ästhetischen Kriterien enger an gesellschaftliche und politische Realitäten anknüpfen. Es ist ein guter Moment um grundsätzlich zu werden, Zögerlichkeit zu überwinden und den eigenen Standpunkt zu konsolidieren. Dazu gehört auch: Eine permanente Überprüfung der Ausschlüsse, die man selbst produziert. Das Ziel ist: Die institutionalisierten Verhältnisse poröser zu machen und die Potenziale und Praktiken selbstverwalteter und -organisierter Arbeit zu stärken und einzubringen. Für eine gemeinsinnige Kulturlandschaft, die Platz für Viele schafft.

Eine Krise der Konzepte Warum Kulturförderung neu denken und sprechen lernen sollte Jens Badura & Martin Zierold

Alle reden von Transformation – ohne aber die Rede von »Transformation« zu transformieren. Wer die Debatten über »Kultur« und »Gesellschaft« selbst während des oft konstatierten »Ausnahmezustands« der Pandemie verfolgt, dem begegnen immer wieder Begriffe, Bilder und Argumentationsmuster, die über die Jahre bemerkenswert konstant geblieben sind. Ja, bisweilen konnte der Eindruck entstehen, der vermeintliche Ausnahmezustand wurde als Einladung verstanden, die Positionen, die man auch vorher schon hatte, nun lediglich mit noch mehr Lautstärke und Dramatik zu vertreten – als Amplifikation des Bekannten. Die Krise der Pandemie fügte sich so diskursiv recht nahtlos ein in gleich mehrere gefühlte Dauerkrisen »der Kultur«: So sahen sich gleichermaßen die bestätigt, die schon immer den Eindruck hatten, dass die herausgehobene Bedeutung »der Kultur« von »der Gesellschaft« oder »der Politik« zu wenig anerkannt werde – und andererseits auch die, die schon seit langem fordern »die Kultur« müsse endlich in plausibler Form ihren Relevanznachweis liefern, um ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und ihre Förderung zu legitimieren – um nur zwei Standardpositionen des vertrauten Diskurses zu nennen. So berechtigt diese Positionen in sich auch sein mögen, so unbefriedigend ist der diskursive Stillstand, der sich in der Wiederkehr und Form der Argumente zeigt. Erstens gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass die bloße mantraartige Wiederholung wohlvertrauter Positionen plötzlich eine Veränderung der Situation bewirkt, wenn dies über Jahre hinweg bisher nicht gelungen ist. Zusätzlich schal wirkt die diskursive Trägheit durch den inneren Widerspruch, dass viel über »Transformation«, »Wandel« oder gar »Disruption« gesprochen wird, ohne dass sich dieser behauptete oder geforderte Wandel in den Diskur-

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sen selbst grundlegend widerspiegelt: Wenn die Diagnose zutrifft, dass wir in einer Zeit tiefgreifender technologischer, sozialer und kultureller Veränderungen leben – müsste sich dies nicht auch ebenso tiefgreifend auf unsere Leitbegriffe auswirken, auf die Methoden, mit denen wir Evidenzen schaffen, auf die Formate, in denen wir miteinander kommunizieren, auf die Darstellungsweisen, in denen wir unsere Positionen dokumentieren?

Krise des Denkens und Sprechens Vor diesem Hintergrund erscheint die in dieser Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen verhandelte Krise der Kulturförderung zuvorderst als eine Krise des Denkens und Sprechens. Dies zeigt sich exemplarisch an dem ganz grundlegenden kulturpolitischen Diskurs zur Frage, warum es Kultur braucht und warum diese öffentlich gefördert werden sollte. In der Pandemie wie schon davor kommt regelmäßig eine zweiteilige Strategie zum Einsatz: Zum einen wird das humanistische Motiv »der Kultur« als »Lebensmittel« aktiviert und in zuweilen beschwörender Form mit dem Nutzen der Kultur für das (individuelle wie kollektive) gute Leben argumentiert. Zum anderen kommt das BIPArgument zum Einsatz, bei dem auf die mehr oder weniger erhebliche ökonomische Wertschöpfung der Kulturbranche hingewiesen wird. Zusammengeführt mündet man dann seit jüngster Zeit vermehrt beim Begriff der »Systemrelevanz«, der inzwischen zu einer Art Leitvokabel wurde und für die Forderung steht, dem Kultursektor einen gesellschaftlichen Status zuzuschreiben, der anderen zentralen Feldern wie der Wirtschaft nicht nachstehen soll. Beide Argumentationslinien jedoch sind problematisch und mit ihnen auch die Rede von der vermeintlichen »Systemrelevanz«: Die humanistische Perspektive hat den Hang zur Sonntagsredengeste und bleibt meist appellativ und notorisch vage, das BIP-Argument neigt zu einer Anbiederung an eben jene Herrschaftslogik der Ökonomie, die gerade im Kulturbereich vielseitig kritisiert wird. Diese Problematik wird nicht geringer, wenn »die Kultur« argumentativ mit weiteren Nutzenfunktionen zusammengebracht wird: Prominent sind beispielsweise Hinweise auf die sozial-integrierende Funktion »der Kultur« – gern verbunden mit der Metapher, »die Kultur« sei der »Kitt« der Gesellschaft – bis hin zur Preisung positiver gesundheitlicher Auswirkungen von Kulturrezeption im Kontext von Achtsamkeits- und anderen Wellnesstrends.

Jens Badura & Martin Zierold: Eine Krise der Konzepte

All diese Versuche, »der Kultur« ein Set an festen und mehr oder minder konkreten Nutzeneffekten und -funktionen zuzuschreiben, führen letztlich dazu, sie entweder als sakrosankten Selbstzweck gegen jegliche Infragestellung ihrer Bedeutung zu immunisieren (prototypisch hier das einstige Motto des Bühnenvereins: »Theater muss sein«) oder als unverzichtbares Mittel für andere, vermeintlich wünschenswerte Zwecke zu instrumentalisieren. Weder zur Orientierung von Kulturpolitik noch für die strategische Ausrichtung von Kulturorganisationen lässt sich mit diesen Ansätzen fruchtbar arbeiten. Stattdessen müssen wir uns – so unser Plädoyer – einmal mehr ans Eingemachte wagen, tiefenscharf neu nachdenken und über den spezifischen Nutzen des Kulturbetriebs debattieren, über die Kompetenzen, die diesen Nutzen in Wirkung bringen und über die Grenzen dessen, was dem Kulturbetrieb zugeordnet wird oder nicht. An dieser Stelle sei lediglich auf zwei Kernfragen in diesem Zusammenhang hingewiesen, die für eine nicht als krisenhaft empfundene Kulturförderung zentral sind: die Frage der Spezifikation und die der angemessenen Honorierung von Kulturarbeit.

Grenzziehungen Keine Kulturförderung ohne Grenzziehungen: Was ist förderungswürdig und was nicht? Am Anfang einer Verhandlung dieser Frage steht der unspektakuläre Befund, dass die Kulturbranche in sich längst nicht mehr durch verstaubte Hierarchisierungen von »E« und »U«-Kultur differenziert werden kann. Doch allein diese Diagnose ist längst nicht in der Kulturförderung der Gegenwart angekommen, die bis heute die Großinstitutionen der Hochkultur gegenüber den freien Szenen und Popkulturen begünstigt und dies letztlich nur durch historische Pfadabhängigkeiten begründen kann. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass das kulturelle Feld längst uneinheitlich und vielfältig mit Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion – um nur einige zu nennen – verschränkt ist. Gerede die wachsende Bedeutung der »Kultur- und Kreativwirtschaft« mag hier als Beispiel dafür dienen, dass sich Grenzen verschieben bzw. durchlässig werden. Die lange Zeit dem Kunst- und Kultursektor als Spezifikum zugeschriebene »Kreativität« – repräsentiert insbesondere in der Figur der Künstler*in – hat sich bekanntermaßen längst zu einem Leitbild für nahezu alle Lebensbereiche entwickelt. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass »die Kultur« einerseits gesellschaftlich so erfolgreich war, dass sie heute mit allen Feldern Schnittmengen bilden kann und bildet, und andererseits

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gerade dieser Erfolg dazu führt, dass ihre unterstellte Eigenart viel schwerer zu behaupten ist, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten möglich gewesen sein mag.

The Business of Culture is also Business Der Siegeszug der Figur der Künstler*in vom Rand hin zum Leitbild der Gesellschaft hat sich zeitlich parallel entwickelt zur Prekarisierung zahlreicher Arbeitsmärkte. Schon in den 1990er Jahren wurde problematisiert, dass die Kulturalisierung der Wirtschaft diese nur in der Rhetorik »weicher« gemacht hat, nicht aber in der Sache und ihrer Orientierung an den Erfolgslogiken neoliberaler Strategien. Die wirtschaftliche Lage im Kulturmilieu ist im Vergleich dazu noch ambivalenter. Die im »soften« Kapitalismus geförderte Bereitschaft zu Selbstausbeutung ist unter den Kulturschaffenden ebenfalls vorhanden, doch sie paart sich mit einer milieueigenen Betonung der Ablehnung von Orientierung an wirtschaftlichen Eigeninteressen: Allzu laut über individuelle Verdienstansprüche zu sprechen, scheint gewissermaßen die Glaubwürdigkeit des eigentlich vor allem intrinsischen Motiviertseins zu kompromittieren. Solange aber nicht auch auf der Ebene des individuellen Verdienstes Klartext gesprochen werden kann, kann kaum eine offene Diskussion darüber geführt werden, wie sich das Verhältnis von Arbeit und Lohn im Kultursektor zu jenem in anderen Feldern verhält. Diese Diskussion wird notwendig sein, wenn man hier nicht immer wieder auf die genannten Motive von Kultur als Selbstzweck zurückfallen und in immer noch gut geschmierten Vorurteilsautomatismen der Art »Warum sollten wir Steuerzahler denen ihre Selbstverwirklichungsambitionen finanzieren« münden will.

Wege aus der Krise der Begriffe Ein neues Denken und Handeln der Kulturförderung wird ohne neue Antworten auf diese Fragen nicht möglich sein, und dazu ist ein neuer Typ von Debatte dringend nötig: Es ist höchste Zeit, der Rede von Transformation auch eine Suche nach neuen Begriffen, Konzepten und Modellen folgen zu lassen, die die verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen des Kulturbetriebs, seine porös gewordenen Ränder in andere sozioökonomische Felder, die heterogenen Interessenlagen und Erwartungshaltungen der in ihm

Jens Badura & Martin Zierold: Eine Krise der Konzepte

tätigen Akteur*innen und anderer Stakeholder*innen möglichst unvoreingenommen und differenziert zur Verhandlung bringen. Es wird keinen Weg aus der Krise der Kulturförderung geben, wenn wir die Stagnation im Reden und Denken über »die Kultur« nicht überwinden.

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Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann! Melmun Bajarchuu & Mona Louisa-Melinka Hempel Die Initiative für Solidarität am Theater (ISaT)1 gründete sich 2017 aus dem Bedürfnis heraus, bestehende Ungleichverhältnisse und hierarchische Machtstrukturen im Theaterkontext anzusprechen und gemeinsam zu bekämpfen. Die ISaT versteht sich als ein intersektionales2 Bündnis, das zum Ziel hat, strukturelle Ausschlussmechanismen zu identifizieren, Räume für Austausch, auch über Disziplingrenzen hinaus, zu schaffen und dadurch der vielfach gemachten Erfahrung von Vereinzelung entgegenzutreten. Dabei ist das zentrale Anliegen die Thematisierung von Mehrfachdiskriminierungen im Theaterbereich, sowohl in der Freien Szene wie im Stadt- und Staatstheater. So möchten wir die zumeist getrennt voneinander geführten Debatten der letzten Jahre u.a. #metoo oder #BlackLivesMatter, als zusammenhängende Symptome einer strukturell ungleichen Gesellschaft betrachten. Als besonders hilfreich erscheint uns die Betrachtung gegenwärtiger Diskriminierungsformen im Kulturbereich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Wir sehen hier keine lineare Entwicklung, sondern vielmehr ein komplexes Knäuel an Verstrickungen.

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Vgl. Initiative für Solidarität am Theater (Stand: 2022). https://www.solidaritaet-am-t heater.org/en [08.11.2022]. In diesem Text finden sich einige Begriffe, die wir in unserer Arbeit und Kommunikation regelmäßig gebrauchen. Als einen Orientierungsrahmen schlagen wir das Glossar Was tun? Sprachhandeln – aber wie? vor (AG Feministisch Sprachhandeln: Was tun? Sprachhandeln – aber wie? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit [2. Auflage 214/2015]. http://feministisch-sprachhandeln.org/wp-content/uploads/2015/10/spr achleitfaden_zweite_auflage_281015.pdf [08.11.2022]).

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Wie hat sich die Kunst- und Kulturpraxis in Deutschland entwickelt? Entlang welcher Linien, mit welchen Verästelungen und basierend auf welchen Werten und Erzählungen? Im musealen Kontext finden vermehrt Restitutionsdebatten statt und in den Bildenden Künsten werden zunehmend Fragen von Aneignung und Zuschreibungen gestellt. In unserer Arbeit in den Darstellenden Künsten beschäftigen wir uns mit kolonialen Kontinuitäten3 , die sich im ästhetischen Verständnis, Erzähltraditionen, Körperbildern und anderem zeigen. Für uns stellen die meist separat geführten Debatten um Rassismus, Sexismus, Ableismus und Audismus, Transfeindlichkeit et cetera die rein fragmentarische Auseinandersetzung mit einem eigentlich zusammenhängenden Problem4 dar, nämlich dem kolonialen Erbe, das sich im Kulturbereich in der Ausbildungs-, Arbeits- und Kurationspraxis zeigt. Hier werden koloniale Praktiken auch im Ästhetischen fortgeschrieben: Menschen in privilegierten Positionen entscheiden, wer am Kunstproduktionsprozess beteiligt ist und in welcher Funktion. Sie entscheiden, welche Themen behandelt werden und auf welche Weise das geschieht, mit welchen Mitteln, und an wen sich die Ergebnisse richten. Wenn wir uns also mit antirassistischem Handeln befassen wollen, müssen wir überlegen, wo rassistisches Denken seinen Anfang nahm: Im nationalistischen Denken, das Menschen aufgrund einer vermeintlichen Herkunft bestimmte Wertigkeiten und Fähigkeiten zuschreibt und ausgrenzt. Antirassistisch handeln heißt daher, nationalistischen Denkweisen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen kritisch zu begegnen. Koloniale Bestrebungen funktionierten über nationalistisches und rassistisches Denken: Ziel war die Beherrschung anderer Menschen, die aufgrund

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Für eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Themenbereich empfehlen wir: Ha, Kien Nghi/al-Samarai, Nicola Lauré/Mysorekar, Sheila. re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus. Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: UNRAST6, 2016. Zur vertiefenden Auseinandersetzung verweisen wir auf ein Interview mit Asha Rajashekhar, das 2020 in der Deutschen Gehörlosenzeitung erschienen ist (Die Neue Form: »Weiße Menschen sollen nicht stumm bleiben« [Stand: 09.09.2020]. https://dieneue norm.de/gesellschaft/weisse-privilegien-rassismusdebatte/ [08.11.2022]).

M. Bajarchuu & M. L.-M. Hempel: Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann!

konstruierter Merkmale5 und vorurteilsbehafteter Behauptungen als weniger wert angesehen wurden und denen die Möglichkeit, eigene Entscheidungen für ihre Lebensgestaltung vorzunehmen, genommen wurde.

Koloniale Herrschaft funktionierte auch über die Separierung marginalisierter Gruppen Eine Solidarisierung von unterdrückten Gruppen wurde verhindert, damit sie nicht gemeinsam gegen die Herrschenden rebellieren. Diese Teile- und Herrsche-Praxis wird im kulturellen Bereich oft reproduziert. Wir meinen damit: Anstatt sich der strukturellen Ungleichheitsbedingungen anzunehmen und diskriminierende Ausgangssituationen zu verändern, fördern kulturpolitische Akteur*innen und Kulturinstitutionen einzelne Positivbeispiele, die sie als Tokens6 in den Kulturbetrieb integrieren. Oder es werden Positionen ohne direkten Bezug zu Deutschland eingeladen, die das Andere darstellen sollen. Dadurch wird die eigene koloniale Geschichte nicht aufgearbeitet und gleichzeitig werden die diversen lokalen und regionalen Stimmen vor Ort mit pluralen deutschen Hintergründen außer Acht gelassen. Um diese Dynamiken zu überwinden, muss die Sichtbarkeit von marginalisierten Personen, von Menschen, die Mehrfachdiskriminierungen erfahren, in den kulturpolitischen Strukturen verankert werden. Eine fortlaufende Präsenz von Menschen mit Marginalisierungserfahrungen muss gewährleistet werden – auch über kulturpolitische Trends hinaus. Wenn sich marginalisierte Personen durch die Erzählung von einem Ressourcenmangel (z.B. bei der Kulturförderung) gegeneinander ausgespielt werden beziehungsweise sich gegeneinander ausspielen lassen, erfüllen sie die ihnen zugedachte Objektposition.

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Zu Rassismus und seiner Funktionsweise in der Gesellschaft vgl. Auma, Maureen Maisha. Rassismus (Stand: 30.11.2017). https://www.bpb.de/themen/migration-integratio n/dossier-migration/223738/rassismus/?p=all [08.11.2022]. Es gibt keine direkte Übersetzung ins Deutsche. Weiterführende Informationen unter: https://missy-magazine.de/blog/2016/11/29/kein-unterdrueckungssystem-ohne-t okens/ [31.03.2023].

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Es gibt nicht DIE Kulturpolitik Aus unserer Perspektive können wir durch unsere Handlungen alle kulturpolitische Akteur*innen sein oder werden. Kulturpolitik entsteht, wenn sich Menschen mit spezifischem Wissens- und Erfahrungshintergründen kulturpolitisch engagieren beziehungsweise kulturpolitische Verantwortungspositionen übernehmen. Von denjenigen, die (temporär) Entscheidungsgewalt über Strukturen und Finanzen haben respektive eine diskursiv machtvolle Position bekleiden, wünschen wir uns folgende Maßnahmen beziehungsweise Berücksichtigung folgender Aspekte, um Transformationsprozesse im Kulturbereich machtkritisch, diskriminierungssensibel und diversitätsorientiert gestalten zu können:

Echte Teilhabe ermöglichen Das bedeutet: Zugänge schaffen und Handlungsmöglichkeiten geben. Können Menschen, die Marginalisierung(en) erfahren, Verantwortung übernehmen? Wird ihnen der Raum gegeben, zu scheitern und es erneut zu versuchen? Gegebenenfalls erneut zu scheitern?

Unterschiedliche Formen von Wissens- und Kunstproduktion anerkennen Das umfasst auch das Zulassen unterschiedlicher Auffassungen von Ästhetik sowie einen kritischen Blick auf vermeintlich allgemeingültige Gütestandards und einen hegemonialen Qualitätsbegriff. In diesem Kontext bedeutet das auch: Singuläre Erzählungen vermeiden. Marginalisierte Menschen nicht auf einfache Identitätsmarker wie »migrantisch«, »Schwarz«, »mit Fluchterfahrung« reduzieren, sondern ihre komplexen Biografien wertschätzen.

Differenziert auf Arbeitsbedingungen schauen Zentral ist hier die Frage nach Zugängen zum Kulturbereich: Welche Voraussetzungen müssen Akteur*innen erfüllen, um teilhaben und mitgestalten zu können? Wer kann es sich leisten und wünscht sich überhaupt, unter prekä-

M. Bajarchuu & M. L.-M. Hempel: Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann!

ren Bedingungen zu arbeiten? Warum werden Ergebnisse und nicht Prozesse hervorgehoben? Welche Instrumente stehen für Konfliktlösung und die Thematisierung von Ausgrenzung und Diskriminierung zur Verfügung?

Den eigenen Handlungsspielraum nutzen Das bedeutet: Ausschreibungstexte inklusiv gestalten, Anforderungen reflektieren, Jurybesetzungen diverser gestalten und alle Mitarbeitenden, auch in der Verwaltung, regelmäßig schulen. Altbewährtes infrage stellen. Formate überdenken und die Diversifizierung des eigenen Personals über einen längeren Zeitraum planen, begleiten und auswerten.

Eigene Privilegien reflektieren Dazu gehört auch, die eigenen Ressourcen ehrlich und kritisch zu benennen. Zugänge schaffen für andere, Privilegien teilen beziehungsweise auf diese verzichten und dadurch die kulturelle Teilhabe für einen größeren Anteil der Bevölkerung ermöglichen.

Dekoloniale Praktiken entwickeln Darunter verstehen wir auch eine Entschleunigung von Arbeitsprozessen, gegenseitige Wertschätzung und den Abbau von Konkurrenzdruck. Zudem müssen Künstler*innen die kapitalistische Verwertungslogik und die Praxis der Hyperindividualisierung, die auch den Kulturbereich auszeichnet, in einem selbstkritischen Prozess reflektieren: Wo werden Positionen und Arbeitsschritte unsichtbar gemacht und tragen somit zu Ungleichheit und Ausbeutung bei?

Also: Wie kann Kulturpolitik antirassistischer handeln? Durch die Unterstützung und Förderung unterschiedlicher und bislang weniger vertretener Perspektiven. Durch Öffnungsprozesse und Schaffung von Zugängen, damit kulturpolitische Entscheidungsträger*innen und einfluss-

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reiche Positionen im Kulturbereich diverser besetzt werden und differenzierte Haltungen einnehmen können. Durch Infragestellung bisheriger Praktiken und die Entwicklung von neuen, die historische Verantwortung übernehmen. Durch diese Veränderungen wird Kulturpolitik nicht nur gleichberechtigter, sondern kann auch die Pluralität unserer Gesellschaft(en) auch in Theater und Kulturlandschaft zum Ausdruck kommen.

Transformieren statt transformiert werden Chancen für den Kultursektor Philippe Bischof

Wir erleben einen Epochenwechsel. Das globale Kultursystem ist lahmgelegt und überwintert nach jahrelanger Überhitzung in bedrohlicher Kühle. Seit Monaten leben Tausende von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen mit existenziellen Unsicherheiten. Die Pandemie zeigt die Ungleichheit und die Prekarität des Kultursektors ebenso schmerzhaft wie seinen Nachholbedarf in Sachen Lobbying und Digitalisierung. Und sie beginnt bereits die künftigen Strukturen zu prägen. Die einzige Möglichkeit, aus dieser belastenden Situation eine Chance zu machen, liegt darin, die Bedingungen für die Zeit nach der Krise mitzugestalten. Wagen wir daher einen Blick in die Zukunft. Lernen wir von den Errungenschaften, die in vielen künstlerischen Aktionen aus Not entstanden sind. Nicht umsonst hat der Bund im Covid19-Gesetz1 Finanzhilfen für Transforma1

Mit diesem Gesetz hat der Schweizer Bundesrat finanziellen Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie beschlossen (vgl. Fedlex. Die Publikationsplattform des Bundesrechts. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/711/de [26.01.2021]). Art. 11 regelt die Maßnahmen im Kulturbereich u.a. auch die sog. Transformationsprojekte: »Kulturunternehmen mit Sitz in der Schweiz können für Projekte, welche die strukturelle Neuausrichtung oder die Publikumsgewinnung zum Gegenstand haben, bei den Kantonen dafür Finanzhilfen beantragen. Bitte beachten Sie: Die Finanzhilfen decken höchstens 80 Prozent der Kosten eines Projekts. Sie betragen maximal 300 000 Franken pro Kulturunternehmen.« (Vgl. Bundesamt für Kultur. Kulturveranstaltungen. https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/themen/covid19/massnahmen-cov id19/kulturelle-unternehmen.html [26.01.2021]) Transformationsprojekte umfassen zwei Kategorien von Vorhaben: Zum einen sind Vorhaben förderfähig, die eine strukturelle Neuausrichtung des Kulturunternehmens zum Gegenstand haben. Damit sind Vorhaben wie organisatorische Verschlankungen, Kooperationen verschiedener Kulturunternehmen oder Zusammenschlüsse (Fusionen) gemeint. Zum anderen können Projekte unterstützt werden, welche die Wiedergewinnung von Publika oder die Er-

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tionsprojekte zur Verfügung gestellt, die gemeinsam mit den Kantonen unterstützt werden können. Denn Transformieren oder transformiert werden, das ist die entscheidende Frage für den Kultursektor. Fünf Themen sollten Kulturpolitik, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende dabei berücksichtigen.

Bessere soziale Absicherung der kulturellen und kreativen Berufe Der Kultursektor ist wesentlich geprägt von Freischaffenden2 , die sich in höchster Verwundbarkeit und Abhängigkeit befinden. Etwa 15.000 Kulturschaffende sind in der Schweiz mit hohem Einsatz und wenig Absicherung tätig, ihr Status ist in gängigen Berufskategorien schwer zu erfassen und

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schließung neuer Publikumssegmente bezwecken. Die Kantone haben bei der Auswahl der Projekte respektive der Beurteilung der Kriterien nach Artikel 8 einen großen Ermessensspielraum. Der Begriff »Freischaffende*r« ist in der Schweiz seit langem Gegenstand politischer Diskussionen rund um die Frage der sozialen Absicherung von Kunstschaffenden. Dies hat damit zu tun, dass die freischaffenden Berufsbilder jenseits des eindeutigen, offiziell anerkannten Selbständigen-Status oft nicht klar definiert bzw. erfasst sind und dementsprechend auch nicht anspruchsberechtigt im Zusammenhang mit sozialen Leistungen, Arbeitslosenversicherung. In Diskussionen wird oft auf den Status der Intermittence in Frankreich oder auf die Künstlersozialkasse Bezug genommen. Im Covid-19-Gesetz gilt folgendes: Unter den Begriff der Kulturschaffenden fallen alle Personen, die hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind. Dazu zählt insbesondere auch technisches Personal (Ton, Beleuchtung usw.). Nicht erforderlich ist eine ausschließlich selbständige Tätigkeit. Erfasst sind auch Kulturschaffende, die eine Kombination aus selbständiger und angestellter Tätigkeit ausüben. Um den zahlreichen atypischen Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich Rechnung zu tragen, können auch Kulturschaffende mit befristeten Anstellungen eine Nothilfe erhalten. Die Definition der hauptberuflichen Tätigkeit stützt sich auf Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 der Kulturförderverordnung (KFV; SR 442.11) ab. Hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind damit Kulturschaffende, die mit ihrer künstlerischen Tätigkeit mindestens die Hälfte ihres Lebensunterhaltes finanzieren oder mindestens die Hälfte der Normalarbeitszeit für die künstlerische Tätigkeit einsetzen. Maßgebend sind dabei auch künstlerische Tätigkeiten flbständig erwerbend oder angestellt) außerhalb des Kunstsektors gemäß vorliegender Definition (z.B. Tanzlehrerin an einer Tanzschule). Das Vorliegen einer hauptberuflichen Tätigkeit ist im Einzelfall gestützt auf die durch die Kulturschaffenden beizubringenden Unterlagen zu beurteilen (z.B. Steuerabrechnungen, Liste von Engagements, Ausstellungen usw.).

Philippe Bischof: Transformieren statt transformiert werden

folglich schlecht geschützt: Musiker*innen und Tontechniker*innen, Tänzer*innen oder Kurator*innen, allesamt Angestellte im Kulturbereich mit befristeten Arbeitsverträgen bei häufig wechselnden Arbeitgeber*innen. Dies ist die Realität einer sehr dynamischen Branche, die kaum Festanstellungen bietet. Die Freischaffenden tragen in unzähligen Projekten zum Reichtum unseres Kulturlebens bei – leider bleibt auf ihrer Seite wenig davon hängen, selbst wenn sie erfolgreich arbeiten, fallen sie durch die Maschen der Vorsorge-, Hilfs- und Absicherungssysteme und stehen am unteren Ende der Lohnskala. Ihnen verdanken wir einen Großteil der Festivals, Bücher, Tanzprojekte, Ausstellungen und Clubabende. Abgesehen von angemessenen Honoraren ist es dringlicher denn je, die Besonderheiten dieser Berufsgattungen endlich im Sozialsystem abzubilden und ihnen einen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung zu sichern. Die Schweiz hat hier Nachholbedarf, die bisherigen Nothilfemaßnahmen zeigen dies eindrücklich. Mögliche Teilmodelle aus Deutschland oder Frankreich können als Diskussionsgrundlage dienen, Suisseculture und andere Verbände sind ideale Gesprächspartner, um eine tragfähige Lösung zu entwickeln: Die Pandemie hat die beschriebene Problematik verdeutlicht und für viele Betroffene schmerzhaft gezeigt, wie schwierig es ist, in einem staatlichen Nothilfesystem die zahlreichen freischaffenden Kulturberufe angemessen und fair zu erfassen. Es scheint daher absolut naheliegend und zwingend, die Frage der sozialen Absicherung von freien Kulturschaffenden in einem größeren Kontext anzugehen und auf eine politische Lösung hinzuwirken. Gelingt dies nicht, droht ein Segment an Kreativen wegzubrechen, das in unzähligen zeitgenössischen Formaten das Kulturleben der Zukunft wesentlich mitprägen würde.

Nachhaltige Prozesse statt kurzlebige Produkte fördern Die gegenwärtige Krise zeigt in zugespitzter Form, in welchem Maße der Kultursektor ein Output-orientiertes System ist, das international eine wachsende Produktionsdichte bei abnehmender Präsentationsdauer fördert: Heute ist ein Werk hier, morgen dort und übermorgen wird es durch ein neues ersetzt. Dies ist ökonomisch und ökologisch wenig nachhaltig und führt zu großem Verschleiß. Unter der Hektik leiden auch die kreativen Prozesse. Wer je einem

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Orchester beim Proben zugehört hat, weiß, wie wichtig die Momente des Suchens sind, denn Klang ist nicht gleich Klang, er muss gefunden werden. Kulturmarkt und Subventionspolitik haben Institutionen und Kunstschaffende über Jahre auf Outputsteigerung, Hypermobilität und Kurzlebigkeit gepolt. Der Kultursektor braucht aber mehr Nachhaltigkeit, bessere Verwertungs- und Wirkungsketten. Dafür muss er auf die Langfristigkeit von Prozessen setzen, zum Schutz der Ressourcen, Kreativität und Natur. Die Pandemie hat dafür eine Art »in vivo«-Experimentierlabor geschaffen: Im Zentrum der kulturellen Arbeit steht momentan zwangsläufig der künstlerische Prozess, die Recherche, und weniger das fertige Produkt und dessen Präsentation. Dadurch hat auch das Lokale und der direkte Einbezug der Menschen vor Ort an Bedeutung gewonnen. Kurze Wege sollen aber nicht Provinzialisierung bedeuten, denn gerade mit bewusster lokaler Verankerung muss es weiterhin darum gehen, einen internationalen Austausch zu pflegen: Kunst und Kultur entstehen aus dem Dialog mit anderen Realitäten. Für die Kulturförderung wird es künftig darum gehen, die Förderempfänger*innen nicht nur an Produktions-Ergebnissen, sondern auch an Prozessen zu messen. Recherchen, technologische Experimente oder offene Austauschprozesse sollten dezidiert Teil des Auftrags sein. Der Kulturbereich wird dadurch wesentlich an Qualität und Nachhaltigkeit gewinnen.

Raum schaffen für Transdisziplinarität und neue Sprachen Lange Zeit wurde der Begriff der künstlerischen Qualität von Institutionen nach bestimmten ästhetischen Filtern diktiert, die einer disziplinären Logik folgen und bis heute die Kulturförderung bestimmen. Mit zunehmender Popularität digitaler Praktiken entstehen neue soziale Konstruktionen von Qualität, die mit jenen der Institutionen konkurrieren. Im Reich von TikTok & Co. findet sich hierzu endloses Anschauungsmaterial. Theaterregisseur Arne Vogelgesang experimentiert schon lange mit NetzFormaten: »Man traut sich Live-Streams von den Proben oder Opern-Kommentare auf Twitch – wo beide Seiten erstmal verwirrt sind, sowohl das Internet-Laufpublikum als auch die Opern-Besucher. Diese Überkreuzung von Welten finde

Philippe Bischof: Transformieren statt transformiert werden

ich das Spannendste im Moment: mit dem zu experimentieren, was Publikum und Publikumsbeziehung bedeutet.«3 Für die institutionelle Kultur und ihre Förderung stellt sich die Frage, wie und von wem das künftige Verständnis von Qualität erarbeitet wird. Das Verhältnis zum Publikum, auch der Einbezug von und die Interaktivität mit neuen Publika sind hier wichtige Herausforderungen. Transdisziplinäre Formate bereichern darüber hinaus den künstlerischen und außerkünstlerischen Dialog indem sie Kompetenzen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten einbeziehen. Dies kann zu hybriden Produktionsformen und Prozessen führen. Der Tänzer, die VR-Spezialistin und der Modedesigner für eine Modeschau, der Klangforscher und die Geologin für ein Landschaftsprojekt interagieren und suchen eine gemeinsame, vielleicht neue Sprache. Transdisziplinarität fordert dazu heraus, die eigenen Verständnisräume und Denkkategorien zu verlassen und sich auf unvertraute Zusammenhänge einzulassen. Für Kulturinstitutionen liegt die Herausforderung darin, nicht in beliebige Aktivismen zu verfallen, sondern gezielt neue Sprachen zu lernen und die relevanten Akteure außerhalb ihrer ursprünglichen Bestimmung einzubinden.

Das Publikum findet seine Kultur nicht nur dort, wo die Kultur ihr Publikum sucht Untersuchungen aus der Zeit der Pandemie belegen, dass die Menschen nicht weniger Kultur konsumiert haben, sie haben sie bloß anderswo gesucht und gefunden als bisher. Eine Studie des Unternehmensberaters Deloitte weist für Deutschland eine erhöhte Mediennutzung zwischen 38 % (Konsolen) und 55 % (Mediatheken) aus.4 Dabei wirkt die Pandemie wie ein Katalysator: Digitale, qualitativ hochwertige Inhalte wurden stärker genutzt, zugleich beschleunigte sich der Rückgang bei traditionellen Medienangeboten. Es gibt also entgegen unbelegten Gerüchten einen großen Appetit nach Kultur. Nur wird dieser Appetit nicht unbedingt dort gestillt, wo traditionellerweise die kulturellen Speisen offeriert werden. So stellt sich die entscheidende Frage, von wem und für wen künftig was angeboten und verbreitet wird. Das 3

4

Wildermann, Patrick. Die Theater in der Krise: »Es ist eine große Experimentierzeit, darin liegt die Chance«, (Stand: 11.01.2021). https://www.tagesspiegel.de/kultur/es-ist -eine-grosse-experimentierzeit-darin-liegt-die-chance-4221166.html [08.11.2022]. Vgl. ebd.

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Geschäft mit der Veränderung des Publikumsverhaltens wird meist von Instanzen betrieben, die nicht zum herkömmlichen Kulturbetrieb gehören und sehr viel Einfluss auf das Kulturleben der Zukunft haben. Amazon verdreifachte im 3. Quartal 2020 seinen Gewinn auf den bisherigen Rekordwert von 6,3 Mrd. Dollar. Aber was kann der Kultursektor tun, statt den Plattformkapitalismus zu beklagen und zugleich mangels Alternativen Youtube, Twitch und Spotify zu nutzen? Die Antwort ist etwas unbequem und lautet: Akzeptieren, dass das Netz für den herkömmlichen Kulturbetrieb kein feindlicher Raum ist und daran arbeiten, die Verteilverhältnisse zu verändern. Eine zentrale Aufgabe künftiger Kultur- und Institutionenpolitik könnte es sein, alternative, selbstorganisierte Plattformen zu ermöglichen, auf denen die Mittel- und Informationsverteilung, die Produktion und Distribution eigenständig und produzentenfreundlich organisiert wird. Das ist machbar und reizvoll, auch in der Schweiz. Die Erfahrungen während der Pandemie haben gezeigt, dass dies keine Utopie sein muss, es gibt Menschen in den Startblöcken.

Die Grenze des Digitalen beginnt bei der Realität des Körpers Mit dem Zuwachs an digitalen Angeboten im Web kann das Bedürfnis nach Inhalten zeitgleich lokal und international sehr viel breiter bedient werden, auch partizipatorischer, als dies Kulturinstitutionen auf analoge Art schaffen. Die digitale Kulturwelt ist populär, divers und zugänglich, jederzeit und überall verfügbar. Diese Potentiale sind es, die sich die analoge Kultur vermehrt aneignen muss, um ihre inhaltlichen Stärken beim Publikum auszuspielen. Das Bedürfnis nach physischem Zusammenkommen, das Verlangen nach körperlicher Begegnung wird die zentrale Realität des Kultursektors bleiben, denn der Sinn von gelebter Kultur ist direkte Interaktion. Alles zu Digitalisieren oder in virtuelle Formate zu bringen, wünschen wir uns nicht, es geht um ergänzende oder hybride Formate. Die Möglichkeiten der Interaktion zwischen analog und digital sollten deshalb vorurteilsfrei ausgebaut werden, so dass aus der noch platten Idee des Streamings mehr wird als eine Notlösung für die nächste Pandemie. Nur der direkte, gleichberechtigte Kontakt zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort – ob analog oder digital – ermöglicht offenen Dialog oder Widerspruch, die beide für unsere Gesellschaft existenziell wichtig sind. Kultur ist immer auch ein Angebot für

Philippe Bischof: Transformieren statt transformiert werden

Demokratiebildung. Kann man sich dabei nicht in die Augen schauen, fehlt etwas Entscheidendes zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitstreiten. Die bereits begonnene Transformationsphase wird eine Gelegenheit sein, uns darauf zu verständigen, welche kulturellen Werte wir als Gesellschaft fördern wollen. Für uns alle, hoffe ich, ob als Publikum, Kulturschaffende, Veranstalterinnen oder Kulturförderer, wird es darum gehen, den Weg zu öffnen zu einem Kulturbetrieb, der nachhaltiger, prozesshafter und verteilgerechter wird.

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Nachhaltigkeit als Problem Über die Defizite innovationsorientierter Projektförderung Jasmin Vogel & Henning Mohr

Gerade öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind massiv vom disruptiven gesellschaftlichen Wandel betroffen und müssen an der eigenen Innovationsfähigkeit arbeiten. Die aktuellen Megatrends – wie etwa Digitalisierung, Individualisierung oder Globalisierung – verändern vormals dominante Produktions- sowie Rezeptionsbedingungen und steigern damit den Bedarf an neuen, technisch hochwertigen Prozessen, Produkten oder Dienstleistungen. Damit verbunden ist auch die Erwartungshaltung an eine Anpassung in der gesellschaftlichen Funktion von Kulturinstitutionen, die stärker zu dritten Orten des Austausches über gesellschaftliche Lebensbedingungen, kollektive Werteorientierungen und Communities werden müssen. Aufgrund vielschichtiger Verflechtungen zwischen den unterschiedlichsten Verwaltungs- und Politikebenen erweisen sich aber gerade die Institutionen des Kultursektors als wandlungsunfähig und veränderungsresistent. Aus diesem Grund versuchen kulturpolitische Entscheidungsakteure (auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene) in den vergangenen Jahren verstärkt durch neue Programme in der Projektförderung gegen zu steuern, um gezielt soziale Innovationen und digitale Transformationsprozesse in Kulturorganisationen zu erreichen. Noch nie wurden so viele Mittel für den Versuch der institutionellen Anpassung kultureller Infrastrukturen zur Verfügung gestellt. Allerdings gelingen dadurch bisher nur kurzfristige, eher programmatische Veränderungen, da die Mittel keinerlei ernsthaften Handlungsdruck in Bezug auf nachhaltige strukturelle Veränderungen erzeugen und regelrecht an der traditionellen Ablauforganisation abprallen. Dies liegt zu einem großen Teil am dominanten Status quo der Organisationsform. Die Strukturen der meisten Kulturinstitutionen stehen aufgrund ihrer langen Tradition zwar für Stabilität, tendieren aber deshalb auch zur Trägheit.

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Insbesondere die starken Verflechtungen mit den Trägern – verbunden mit strikten Vorgaben und Anweisungen – blockieren oftmals eine flexible Adaption zukunftsweisender Herangehensweisen. Gleichzeitig wurden die Entscheider*innen auf Leitungsebene größtenteils in den vorherrschenden Machtstrukturen sozialisiert, haben die Handlungslogik der Routinen verinnerlicht und sind deshalb häufig nicht bereit, auf die schwer erreichten Pfründe zu verzichten. Zudem schafft die starke Hierarchisierung scheinbar klare Verantwortlichkeiten, Rechtssicherheit und entspricht auch dem Wunsch nach einer Personalisierung der Organisation in der Öffentlichkeit. Die Veränderung von etablierten Arbeitsprozessen und Zuständigkeiten durch kurzfristige, weil projektbasierte Maßnahmen werden von den Systemen daher als nicht zielführend abgewehrt. Die zusätzlichen Mittel gehen aus diesem Grund eher in Maßnahmen zur programmatischen Weiterentwicklung oder in die Bereitstellung zusätzlicher Programmangebote, die keine langfristige Anpassung in der Organisation induzieren. Viele innovationsorientierte Prozesse und Aufgaben, wie etwa eine fortschreitende Digitalisierung der Institution, aber auch die zunehmend notwendige Community- oder Netzwerkbetreuung und das Einbinden des Publikums (auch im Sinne systematischer Audience-Engagement-Maßnahmen) können aus diesem Grund nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Gespür für gesellschaftliche Veränderungen Es ist, vereinfacht gesagt, eine dauerhafte Anpassung der Steuerungsstrukturen notwendig, die neue Räume für die inhaltliche Weiterentwicklung gemeinsam mit allen relevanten Entscheidungs- oder Arbeitsebenen innerhalb der Kulturorganisationen ermöglicht. Um diesen Schritt tatsächlich durchsetzen zu können, bedarf es eines organisationalen Wandels innerhalb der jeweiligen Institutionen, das offenere Strukturen mit agilen Prozessen der Neuorientierung institutionalisiert. Denn eigentlich sind Kulturinstitutionen nicht per se innovationsfeindlich. Im Gegenteil: Kultureinrichtungen sind in vielen Fällen early adopters und haben ein feines Gespür für gesellschaftliche Veränderungen. Allerdings zeigt sich diese Antizipationsfähigkeit in erster Linie auf inhaltlicher Ebene und hat geringen bis gar keinen Einfluss auf die Organisationsstrukturen. Dies liegt häufig an der fehlenden Balance zwischen der Verwaltungs-, Vermittlungs- und Programmperspektive sowie der übergeordneten künstlerischen Gesamtentwicklung der jeweiligen Ein-

Jasmin Vogel & Henning Mohr: Nachhaltigkeit als Problem

richtung und den damit verbundenen unterschiedlichen Entscheidungs- und Kommunikationskulturen. Sicherlich stellen viele praxisnahe Forschungs- oder Kulturförderprogramme in ihren Ausrichtungen die richtigen Fragen. Es geht immer wieder um die Gestaltung von Transformationsprozessen, die Adressierung der digitalen Herausforderung, Audience Development/Engagement, die Entwicklung kollaborativer und partizipativer Formate, Förderung der Diversität und Demokratie oder die Bereitstellung kultureller Infrastrukturen in strukturschwachen Regionen. Allerdings mangelt es sowohl auf Seiten der Fördermittelgeber als auch auf Seiten der Institutionen an eindeutigen Messgrößen, die sich auf die oben genannten Fragestellungen beziehen und diese bewertbar machen. Damit entstehen auch keine modellhaften und verbreiteten Erkenntnisse, die von anderen Akteuren aufgegriffen, genutzt und weiterverarbeitet werden können.

Fehlender Handlungsdruck zur Nachhaltigkeit Es bedarf nach Ansicht der Autoren*innen ein Umdenken hin zu klaren Zielvorgaben der innovationsorientierten Projektförderung, verbunden mit einem intensiven Coaching, Controlling und Reporting des Erfolgs der Aktivitäten. Während dieser Aspekt bei der klassischen projektbasierten Programmförderung aufgrund der Autonomie künstlerischer Arbeit nur bedingt zum Tragen kommen darf, wird er bei Förderungen struktureller Anpassungen kultureller Infrastrukturen zur notwendigen Gelingensbedingung. Die Förderung von Programmangeboten oder strukturellen Anpassungen basieren auf unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, die auch das Anforderungsprofil der mittelgebenden Instanzen mitbeeinflussen sollten. Daran anknüpfend bedarf es auch einer Ausweitung der Evaluierungskriterien, die nicht mehr nur quantitative Kennzahlen berücksichtigen, sondern ein auf gesellschaftliche Relevanz basiertes Impact Measurement vornimmt. Langfristige Prozesse brauchen einen anderen Messrahmen, der die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt und in einen der Institution entsprechenden Kontext setzt. Daran anknüpfend bedarf es spezifischer Korrekturinstrumente, die bei einem Abweichen von vorher definierten Projektzielen regulierend eingreifen. Bisher gilt bei der Projektförderung oftmals der Grundsatz: wenn der Zuschlag einmal da ist, dann kann das Geld für alle Bereiche der Organisation genutzt werden, solange die Mittelverwendung passt und ordentlich

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nachgehalten werden kann. Welche langfristigen Effekte allerdings die Förderung auf den operativen Betrieb und insbesondere auf die strategische Ausrichtung der Organisation hat, bleibt fast immer außen vor. Gerade vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht der Autor*innen die Kulturpolitik gefragt. Denn angesichts fehlender Auflagen sowie eines begleitenden Coachings und Monitorings auf Basis vorher für das Projekt definierter Fragestellungen, ergibt sich keinerlei Handlungsdruck bei der langfristigen institutionellen Anpassung für ein agiles Management.

Scheinaktivitäten am Rande der Systeme Eine noch weiterführende Durchökonomisierung des Kultursektors darf dabei allerdings nicht die Antwort sein. Die fortschreitende Neoliberalisierung kultureller Infrastrukturen hat ganz im Gegenteil zu einer Überforderung geführt, die durch den Druck einer ständigen Selbstevaluation und -legitimation sowohl aus dem Kultur- als auch dem Entertainmentsektor in den vergangenen Jahren in einer Systemkrise mündete. Um den vielen neuen Herausforderungen zu begegnen werden deshalb nicht selten Berater, Coaches, IT-Dienstleister oder Agenturen engagiert, die häufig zu horrenden Tagessätzen standardisierte Lösungen aus dem Wirtschaftssektor anbieten, obwohl ein maßgeschneiderter und ermächtigender, aus den Eigenlogiken der Kulturorganisationen entwickelter Ansatz, deutlich zielführender wäre. Angesichts der starken Blockadehaltung für ernsthafte strukturelle Veränderungen etablieren sich legitimationsbedingt häufig veränderungsbezogene Scheinaktivitäten am Rande der Systeme, die von den beauftragten wirtschaftlichen Agenturen durchgeführt werden. Das für öffentlich geförderte kulturelle Infrastrukturen eingesetzte Geld verschwindet somit ohne Effekt in wirtschaftlichen Kanälen.

Innovationsorientierung im Kulturbetrieb Angesichts der existierenden Defizite innovationsorientierter Projektförderung sind die Autor*innen davon überzeugt, dass wir einen Diskurs über die zukünftige Ausrichtung derartiger Programme benötigen. Kultur- und haushaltspolitische Entscheidungsträger*innen sind aufgerufen, für derartige Maßnahmen der Projektförderung klarere Zielvorgaben zu definieren

Jasmin Vogel & Henning Mohr: Nachhaltigkeit als Problem

und diese von den mittelgebenden Instanzen ernsthaft begleiten zu lassen. Darüber hinaus scheint es notwendig, über andere Formen der Forderung bzw. Förderung einer stärkeren Innovationsorientierung im Kulturbetrieb nachzudenken. Es gibt in einigen Bundesländern erste Coaching und Trainthe-Trainer-Programme, die für die Kulturorganisationen dauerhafte Unterstützungen (durch intensive Beratungen, Prozessbegleitungen und einen passgenaueren Wissenstransfer) bei Veränderungsbestrebungen bereitstellen. Derartige intermediäre Unterstützungsleistungen scheinen eine sinnvolle Ergänzung zu sein, um die gewünschten Ziele im Bereich der Transformation zu gewährleisten.

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New Culture Deal Anica Happich & Jakob Arnold

Anmerkungen für eine neue Kulturpraxis in den Darstellenden Künsten In der aktuellen, einzigartigen Situation zeigt sich der Wert von Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft wie nie zu vor. Die Krise ermöglicht uns gleichzeitig einen Moment des Innehaltens und Reflektierens, des Abstands. Wir können eine ehrliche Bestandsaufnahme wagen. Denn die Corona-Pandemie hat die Lage der Kulturschaffenden im Bereich der Darstellenden Künste, insbesondere der freiberuflichen Künstler*innen, in ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein gerückt. Zahlreiche Fehlstellen, die bereits vor der Pandemie deutlich waren, treten hierbei umso klarer hervor: Die vernachlässigte Modernisierung der Betriebs- und Arbeitsstrukturen in den institutionalisierten Theatern, die nicht auf die Lebensrealität abgestimmte Gesetzgebung für freischaffende Künstler*innen mit ständig wechselnden Beschäftigungsformen, den lückenhaften und schwachen Tarifvertrag für künstlerische Mitarbeiter*innen. Seit Jahren bemühen sich etablierte Interessenverbände der Kulturschaffenden, die Entscheidungsträger*innen in der Politik, die Träger kultureller Einrichtungen und die Gewerkschaft mit Handlungsempfehlungen zu versorgen und das Theaterpublikum für ihre Bedürfnisse und widersprüchlichen Arbeitsrealitäten zu sensibilisieren.

Die Krise als Chance! In der Krise haben alle Stakeholder wie Mitarbeiter*innen, Communities, Zuschauer*innen und Interessenverbände der Darstellenden Künste die Möglichkeit, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam eine Absicht zur verfolgen: Die Transformation in eine relevante Kulturpraxis. Den Wunsch, nach der Pande-

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

mie in eine ›Normalität‹ zurückzukehren, alles beim Alten zu belassen, lehnen wir entschieden ab – das Letzte, was wir tun sollten, wäre, alles wieder genauso so zu machen, wie wir es vor der Pandemie getan haben. Doch wie können wir den historischen Moment der Krise nutzen, um die Theaterwelt zu transformieren? Welche Maßnahmen müssen wir entwickeln, damit Arbeitnehmer*innen, Vertreter*innen, Freischaffenden oder Theaterinstitutionen die notwendigen Kapazitäten, Mittel, Einkommen und Instrumente zur Verfügung haben? Im Folgenden werden wir drei Punkte beleuchten: Die Notwendigkeit, dass darstellende Künstler*innen besser über ihre Rechte fortgebildet werden. Das Erfordernis, dass Kulturorganisationen ihre Betriebs- und Arbeitsstrukturen modernisieren. Und die Pflicht, dass die Gesetzgebung die besonderen Arbeitsvoraussetzungen und Bedingungen der darstellenden Künstler*innen – insbesondere der freischaffenden darstellenden Künstler*innen – besser widerspiegelt.

1) Darstellende Künstler*innen müssen besser über Rechte fortgebildet werden! Das neue New York ist die hybride Interessenorganisation Die Gründung von neuen Netzwerken und Interessenvertretungen ist laut der Soziologin Dr. Alexandra Manske »Ausdruck einer neuen, kreativen Mitbestimmungsfantasie«.1 Hier vernetzen sich Künstler*innen in etablierten Interessenverbänden, hier bilden sie sich fort, um ihre Ziele zu formulieren. Sie lösen die etablierten Gewerkschaften – allen voran die GDBA – zwar nicht ab, aber können als Symptom einer Gewerkschaftsvertretung gesehen werden, die die besonderen Arbeitsbedingungen von künstlerischen Berufen nur mangelhaft erfasst hat. Durch die kontinuierliche Bildungsarbeit der Interessenverbände mit Veranstaltungen wie UTOPIA.JETZT: Der Bundeskongress der freien Darstellenden Künste (BFDK)2 der Bundesweiten Ensemble-

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Manske, Alexandra: Sternenstaub und Volkswirtschaft (Stand: 09.03.2016). https://taz .de/Debatte-Kreative-im-Kapitalismus/!5280749/ [10.11.2022]. Weitere Informationen zum Bundeskongress der freien Darstellenden Künste unter: https://utopia-jetzt.de/de/bfdk.

Anica Happich & Jakob Arnold: New Culture Deal

Versammlung (ensemble-netzwerk)3 oder der digitalen Fortbildungsreihe out and about (dancers connect)4 ist das Bildungsniveau der darstellenden Künstler*innen deutlich gestiegen. Sie nutzen das Wissen und nehmen die Rolle von Kulturlobbyist*innen ein, die meist mit ihren ästhetischen Mitteln für ihre Bedürfnisse kämpfen. Sie üben Demokratie und Selbstwirksamkeit mit Aktionen wie 40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordnete,5 die mit dem FAUST Theaterpreis6 ausgezeichnet wurde, oder mit der Verleihung des Bühnenheld*innen-Preises7 des Aktionsbündnisses Darstellende Künste.8 Politik, Theaterbetriebe und Bildungseinrichtungen müssen erkennen, dass die politische Bildung, das zunehmende sozialpolitische Engagement und Eigenverantwortung für verbesserte Arbeitsbedingungen eine entscheidende Voraussetzung darstellt für die Vitalität und Qualität des kulturellen Lebens in unserem Land – und deshalb im Interesse aller liegt! Daher sind folgende Schritte notwendig: •





3 4 5 6 7

8

Der Aufbau eines Weiterbildungszentrums für Fragen des Arbeitsrechts, Ethik und Soziales für den Bereich der Darstellenden Künste und die gesamte Kultur- und Veranstaltungsbranche Aufbau digitaler Bildungsformate und Bildungskonferenzen der Darstellenden Künste in enger Zusammenarbeit mit relevanten Kulturschaffenden und Vermittler*innen der Darstellenden Künste Die Einbeziehung von mehr fachbezogenen Exper*tinnen bei der Besetzung von Leitungspositionen als verpflichtenden Bestandteil von Findungskommissionen und Auswahlgremien

Weitere Informationen zum ensemble-netzwerk unter: https://ensemble-netzwerk.d e/enw/bundesweite-ensemble-versammlung/. Weitere Informationen zum dancers connect unter: https://www.dancersconnect.de/. Weitere Informationen zur Aktion 40.000 des ensemble-netzwerk unter: https://ense mble-netzwerk.de/enw/aktion-40-000/. Weitere Informationen zum Deutschen Theaterpreis »DER FAUST« des Deutschen Bühnenvereins unter: https://www.buehnenverein.de/de/der-faust.html. Weitere Informationen zur Verleihung des Bühnenheld*innenpreises unter: https://d arstellende-kuenste.de/aktuelles/verleihung-des-buehnenheldinnenpreises-2022-d en-fonds-darstellende-kuenste. Weitere Informationen zum Aktionsbündnis Darstellende Künste unter: https://ense mble-netzwerk.de/enw/about/aktionsbuendnis/.

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2) Etablierte Kulturorganisationen brauchen Unterstützung durch Know-how und finanzielle Mittel zur Modernisierung ihrer Betriebs- und Arbeitsstrukturen! Transformationsbedarfe in den Kulturorganisationen Prof. Dr. Thomas Schmidt bietet in seiner Forschung zu modernem Theatermanagement Ansätze für die Ausrichtung einer modernen künstlerischen Organisation, die die künstlerische Qualität und das kreative Potenzial ihrer Mitarbeiter*innen besser erkennt und fördert.9 Er beschreibt, dass eine zukunftsweisende Transformation nur gelingen kann, wenn die Kulturminister*innen und Kulturämter der Kommunen ihre Regeln, Verwaltungsvorschriften und Finanzierungsklauseln lockern und Prozesse der Transformation finanziell fördern. Sie müssen den Theaterinstitutionen ermöglichen, ihren Betrieb im Sinne der Wirksamkeit, Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Stabilität besser zu führen. Die Handlungsempfehlungen von Schmidt aufzugreifen, hieße: • • •

Die Transformation des bestehenden Intendantenmodells hin zu dem Modell eines Direktoriums (entsprechend den künstlerischen Sparten) Die Transformation der Organisationskultur der Stadttheater hin zu einer kreativen Multi-Funktions-Organisation Die Umgestaltung des Theaters in eine lernende Organisation, in der »Lernen gefördert und belohnt, und vor allem dafür eingesetzt wird, strukturelles, konzeptionelles und praktisches Wissen für einen Umbau des Theaters zu sammeln und allen Mitarbeiter*innen dauerhaft zur Verfügung zu stellen.«10

Entscheidend ist der Gedanke, dass die Qualität von Kunst und seiner Wirkung wesentlich bestimmt wird durch gegenseitigen Respekt und kommunikatives Geschick der am künstlerischen Schaffen Beteiligten. Dieser Aspekt, der zwar nicht allein-, aber sicherlich mitentscheidend für das künstlerische Gelingen ist, wurde in der Vergangenheit zu wenig bedacht. Eine Transformation der 9 10

Vgl. Schmidt, Thomas. Modernes Management im Theater. Praxis Kulturmanagement, Wiesbaden: Springer VS Verlag, 2020. Vgl. ebd., S. 30.

Anica Happich & Jakob Arnold: New Culture Deal

künstlerischen Praxis hätte den Einfluss, die Kommunikationsstrukturen im Sinne eines stärkeren Miteinanders auch in den komplexen Verhältnissen einer Kulturinstitution besser zu gestalten. Konkret könnte dies heißen: Es braucht ein Theaterlabor, das in den kommenden fünf Jahren von Bund und Ländern in ausreichender Weise gefördert wird, um zukunftsfähige Modelle in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen zu erproben, zu evaluieren und die Erkenntnisse den bundesweiten Theatern und ihren Trägern zur Verfügung zu stellen.

3) Die Gesetzgebung muss die Arbeitsrealitäten der darstellenden Künstler*innen widerspiegeln! Hybride Was? Freiberufliche Künstler*innen sowie Kunstschaffende mit hybridem Erwerbsstatus, die sowohl in freien als auch in institutionellen Strukturen arbeiten, sind am härtesten von der Pandemie betroffen. Gerade diese Gruppe hat in den letzten Jahrzehnten für einen erheblichen künstlerischen Innovationsschub in der freien Szene und am Stadttheater gesorgt – und das bei einem Durchschnittseinkommen von knapp 14.000 Euro im Jahr. Die Erfahrungen, die diese Gruppe in der Krise macht, legen gleich mehrere systemische Fehlstellen offen: Gastdarsteller*innen an öffentlich geförderten Theatern wurden bei abgesagten Vorstellungen und Projekten nur zu einem geringen Teil oder gar nicht entlohnt. Ihr ungeklärter Status – sozialversicherungsrechtlich angestellt aber arbeitsrechtlich selbständig behandelt – sowie ein reformbedürftiger Gastvertrag an den Theatern erlauben diese Praxis. Die Soforthilfemaßnahmen zeigen, wie wenig Kenntnis die Bundes- und Landespolitik über den Erwerbstatus und die Arbeitsrealität von Solo-Selbstständigen oder hybrid arbeitenden Künstler*innen besitzt, und dass die gesetzlichen Regelwerke an der Arbeitsrealität dieser Gruppe häufig vorbei gehen. Hier könnte ein Lösungsansatz sein: •

Zusammenarbeit stiften zwischen verschiedenen Stakeholdern wie dem Ministerium für Arbeit und Soziales (Gesetzliche Regelungen) und den etablierten Interessenverbänden (Branchenkenntnis) unter Einbeziehung von Wissenschaftler*innen (Fakten und Daten)

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Aus diesen Synergien einen fundierten Maßnahmenkatalog entwickeln, der die hybride Arbeitsrealität der freischaffend arbeitenden Künstler*innen anerkennt Nutzbarmachung dieser Ergebnisse durch den Gesetzgeber, um tatsächliche Verbesserungen in den Bereichen Arbeitsrecht, Sozialrecht und Steuerrecht zu erwirken

Es braucht neue Modelle und einen NEW CULTURE DEAL Der Soziologe Pascal Gielen macht bereits vor der Corona-Krise ein gedankliches Angebot für einen Bewusstseinswandel im Sinne der Transformation der Künste.11 Er fragt, auf welcher Basis gesellschaftliches Miteinander möglich sein kann. Seine These: Nicht die Ökonomie ist die Basis, auf der Kultur möglich ist, sondern die Kultur ist die Basis, auf der Ökonomie möglich ist. Kultur schaffe eine Vertrauensbasis unter Individuen und damit eine Basis für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kulturelle Praxis sei das Fundament und der Kitt der Gesellschaft. Insofern braucht Deutschland, folgen wir Gielens These, einen New Culture Deal, der ein grundlegenderes Selbstverständnis und die Anerkennung des kulturellen Lebens voraussetzt, also Strukturen und Angebote schafft für eine lebendige, partizipative, kulturelle Vielfalt ermöglichende und vermittelnde Kulturpraxis – insbesondere jenseits der etablierten Kunsttempel. Tatsächlich scheint aktuell aber das Gegenteil der Fall zu sein. In der Pandemie werden Kultur und Kulturelle Bildung plötzlich wieder unter den Sammelbegriff »Freizeitaktivität« subsumiert. Erste Kommunen setzen in Anbetracht drastisch gesunkener Einnahmen bereits den Rotstift bei den freiwilligen Ausgaben für Kunst, Kultur und Bildung an. Um das Theater als Kulturinstitution und potentiell immaterielles kulturelles Erbe zu erhalten, besteht aktuell mehr denn je dringender Handlungsbedarf. Deshalb schlagen wir vor: •

Wertschätzung und Förderung der Kultur als ein zentraler Bereich unserer Gesellschaft, der für seine Erhaltung und vor allem in seinem dringenden Reformbedarf mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird

11

Vgl. Gielen, Pascal. No Culture, No Europe. On the Foundation of Politics, Amsterdam: Valiz Verlag, 2015.

Anica Happich & Jakob Arnold: New Culture Deal







Für die Kommunen muss es ein finanzielles Entlastungprogramm aus dem Bundeshaushalt geben – ähnlich dem DigitalPakt Schule,12 der eine Mitfinanzierung der Bildung durch den Bund ermöglicht, ohne in die Bildungsautonomie der Länder einzugreifen Kulturförderung muss zur Pflichtaufgabe aller Ebenen der Politik (Kommune, Land, Bund) werden. Als ein wichtiger Schritt dafür wird eine entsprechende Verankerung im Grundgesetz angesehen Ein solches Kooperationsgebot muss als KulturPakt mit der Verpflichtung der Kommunen einhergehen, das Geld zweckgebunden in Kultur und Bildung zu investieren und gleichzeitig ihre Eigenanteile zu leisten

Die notwendige Transformation erfordert von allen Akteur*innen eine enge Zusammenarbeit und Offenheit zur Veränderung bisheriger Verhaltensmuster und Strukturen. Diese wäre eine angemessene Antwort nicht nur auf die Corona-Krise, sondern auf die grundlegenden Änderungen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens jetzt und in Zukunft.

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Weitere Informationen zum DigitalPakt Schule des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter: https://www.digitalpaktschule.de/.

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Nahhalt und Nachhaltigkeit Verstehen und Erklären Juliane Moschell

Warum wir uns gerade in der Krise mit Nachhaltigkeit beschäftigen müssen Kein Text zu den wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen könnte heute geschrieben werden, ohne auf den Bruch in unserer Geschichte einzugehen, den die weltweite Pandemie als Naturkatastrophe ausgelöst hat. Die Langzeitfolgen lassen sich heute nur schwer prognostizieren, sicher scheint aber, dass die Auswirkungen in vielen Ländern und Gesellschaften noch jahrzehntelang und in ganz unterschiedlichen Bereichen spürbar sein werden – in Wirtschaft und im Sozialwesen, in der Bildung und auch in der Kultur. Gleichzeitig erkennen wir, dass die Lockdown-Regelungen in Deutschland an einigen Stellen etwas geöffnet haben, Verkrustungen und Verhärtungen gelöst wurden und Unvorstellbares innerhalb kürzester Zeit möglich schien. Die Digitalisierung hat einen Schub erfahren. Menschen sind – zumindest virtuell – näher zusammengerückt, obwohl sie sich weiter denn je voneinander entfernen mussten. Bürger*innen in vielen Ländern haben gezeigt, dass sie bereit sind, auf jahrhundertelang umkämpfte Freiheitsrechte zu verzichten, um ein höheres Ziel zu verfolgen: die Eindämmung der Pandemie. Ist es also möglich, dass sich in unserer Gegenwart eine Verhaltensänderung Bahn bricht, die große Teile der Wissenschaft schon seit mindestens den 1970er Jahren einfordern? Nämlich: ein tatsächliches Umdenken hin zu einer nachhaltigeren Lebensweise? Trotz einiger weniger Initiativen und Publikationen, zum Beispiel derer der Kulturpolitischen Gesellschaft, insbesondere der von Hildegard Kurt

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

und Bernd Wagner,1 verhandeln wir einen Nachhaltigkeitsdiskurs in Kunst und Kultur erst seit wenigen Jahren. Dazugehörige große Narrative werden womöglich später (nach der Krise?) in den Künsten entwickelt. Warum?

In Grenzsituationen öffnen sich unsere Seelen Nachhaltigkeit ist ein sperriger Begriff und lässt sich kaum in unser emotionales Verständnis übersetzen. Der Philosoph Karl Jaspers hat, Bezug nehmend auf seinen Kollegen Wilhelm Dilthey (»Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«),2 die Naturwissenschaft in ihrer Eigenschaft des Erklärens von den Geisteswissenschaften als verstehende Lehre und Forschung unterschieden. Jaspers, der sich in seiner Philosophie insbesondere mit den Grenzen des Seins beschäftigte, stellte weiter fest: Erklären ließe sich alles. Oder: Dem Erklären sind keine Grenzen gesetzt. Das Verstehen allerdings sei begrenzt (z.B. durch die Grenzen der Einfühlbarkeit). Die Grenzen des Verstehens gelte es immer wieder zu erweitern. Unsere Seele werde offen an den Grenzen, hier könnten wir untersuchen, was wir der Möglichkeit nach selber sind.3 In Bezug auf Nachhaltigkeit heißt das, die Naturwissenschaften haben den Zustand der Umwelt und die Dringlichkeit zum nachhaltigen Denken und Handeln längst erklärt und die entsprechenden Ableitungen zu weiteren Entwicklungen publik gemacht. Wir hingegen haben diese Erkenntnisse noch nicht in der Art verstanden, als dass wir dringend notwendige Veränderungen in unserer Lebensweise vornehmen würden. Der Philosoph David Hume nahm an, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung würde man nicht durch Vernunft, sondern durch Erfahrung entdecken – folglich würde menschliches Verhalten in erster Linie durch Gefühle und Affekte gesteuert. Humes Ansatz hält als Erklärung für den Umstand her, dass sich eine nachhaltige Lebensweise, wie sie bereits viele Jahre von den Wissenschaftler*innen 1 2

3

Vgl. Kurt, Hildegard/Bernd Wagner (Hg.). Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Die Bedeutung von Kultur für das Leitbild Nachhaltige Entwicklung, Essen: Klartext Verlag, 2002. Dilthey, Wilhelm. Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Bd. 5, 8. Aufl., Wien/Köln: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2009. Siehe u.a. Jaspers, Karl. Allgemeine Psychopathologie, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH, 1923; Die Psychologie der Weltanschauungen, 2. Aufl. Berlin: J. Springer, 1922; Einführung in die Philosophie, Michigan: ArtemisVerlag, 1950.

Juliane Moschell: Nahhalt und Nachhaltigkeit

gefordert wird, noch nicht ausreichend aus der Vernunft heraus durchsetzen konnte.

Kunst und Kultur im Nahbereich Wie sollten wir uns auch einfühlen können in Ereignisse, die doch – zumindest für uns in Deutschland – oft in so weiter Ferne, also außerhalb unseren unmittelbaren Alltages liegen? Wenn sich Veränderungen direkt in unserem Nahbereich, also in dem, was wir mitunter auch als Heimat verstehen, in einem Ausmaß abzeichnen, dass wir sie nicht mehr unbemerkt lassen können (etwa: Dürreperioden, Abnahme der Artenvielfalt oder Armut), würden wir beginnen unseren Nahhalt, das, was uns im Nahen hält, sichern zu wollen. Aus diesem Bedürfnis würden sich Veränderungen ganz natürlich ergeben – gerade um das, was war und ist, zu bewahren. Unser Nahhalt hat freilich mit Kunst und Kultur zu tun, denn diese wirken direkt hinein. Über künstlerische Erlebnisse finden Verbindungs- und Verständnisprozesse statt und unser Mitgefühl wird angeregt. Der bereits erwähnte David Hume hat darauf hingewiesen, dass Mitgefühl gleichrangig zur Vernunft die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bestimmt. Wenn sich Kunst und Kultur mit Nachhaltigkeit beschäftigen – und diese Entwicklung lässt sich glücklicherweise derzeit an vielen Initiativen und künstlerischen Projekten erkennen – dann kann es uns gelingen, in den Nahbereich der Menschen hineinzuwirken, Mitgefühl zu wecken und Verstehensprozesse anzuregen und die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit dauerhaft anzulegen. Verstärkt wirkt dieser Vorgang durch die Krise, wie wir sie derzeit erleben. In dieser Grenzsituation öffnen wir unsere Seelen, erweitern unser Verstehen und können zukünftig die Grundlage für einen anderen Umgang mit dem ermöglichen, was uns die Naturwissenschaften bereits als Problem erklärt haben: dem Klimawandel.

Wandel im Nötigen – Anknüpfung an Bewährtes An einigen Stellen kann man (noch) Skepsis hören gegenüber strukturellen Veränderungen im Kulturbereich: Die Unvereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Kunstfreiheit wird postuliert. Die Vermutung, dass der eigene Sektor bei Umweltbelastungen im Vergleich zu anderen Sektoren unbedeutend sei.

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Aspekte wie Kostensteigerung oder rechtliche Hürden und Hindernisse etwa im Vergaberecht. Erstes Argument ist ein vorgeschobenes, denn niemand stellt in Bezug auf Nachhaltigkeit die Kunstfreiheit in Frage. Diese Frage werfen eher diejenigen auf, die unter Nachhaltigkeit vorschnell Verzicht oder Einschränkung verstehen, anstatt eine kritisch abwägende Haltung zum Einsatz von Ressourcen. Zweites Argument mag zutreffen, kann aber doch nicht weiterführend sein, wenn Nachhaltigkeit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist und jede*n von uns betrifft. Kostensteigerungen sind womöglich kurzfristig tatsächlich zu erwarten, können aber langfristig zu Kostenminderungen führen. Weitere Hindernisse und Hürden werden bereits in Angriff genommen, beispielsweise gibt es schon interne Überlegungen, wie das Vergaberecht im Hinblick auf nachhaltige Aspekte verändert werden muss. Wichtig ist, sich in eine ehrliche Selbstbefragung zu begeben, keine vorgeschobenen Gründe gelten zu lassen, und vielmehr zu schauen: Was ist möglich und was nicht? Etwa: Trennen wir Müll im Theater? Wie sieht die Mobilität in meiner Kultureinrichtung aus? Wo könnten kleine Veränderungen vorgenommen werden, und wo große? Und: Wie kann meine Kultureinrichtung zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich dem zukünftigen guten Leben für alle, beitragen? Den gesamtgesellschaftlichen Wandel mitzugestalten und im Nahhalt zu wirken, liegt auch in der Verantwortung von Kunst und Kultur. Dabei sollte immer hinterfragt werden, was gut ist und was erhalten bleiben muss. Wir müssen an dem anknüpfen, was bereits war und das Nötige dafür vornehmen, um besser als bisher zu werden. Erst dann kann Kultur ihre Aufgabe erfüllen und die »Beschaffung einer Vorstellung von den Fernwirkungen«4 mit dem unentbehrlichen Handeln im Nahbereich verknüpfen.

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Jonas, Hans. Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Berlin: Insel-Verlag, 1979.

(R)Evolution statt Repetition!1 Vera Hefele & Teresa Trunk

Von der Corona-Pandemie in den Schatten gestellt, ist und bleibt der Klimawandel trotz allem das drängendste Thema unserer Zeit. Wir alle wissen, dass die nächsten neun Jahre entscheidend sind für den Verlauf des Klimawandels und alles darangesetzt werden muss, die Klimaziele 2030 zu erreichen.2 Im Rahmen unserer Masterarbeit haben wir uns seit Anfang 2020 intensiv mit Nachhaltigkeit in der Kultur auseinandergesetzt. Innerhalb unseres Forschungszeitraumes konnten wir beobachten, wie das Thema in verschiedenen Veranstaltungen, Kongressen, Web-Talk Reihen oder Nachhaltigkeitsforen zunehmend in den Mittelpunkt rückte und einen wachsenden Zuspruch seitens der Kulturschaffenden erfährt. Auffällig ist bis heute, dass der Wille, aktiv zu werden, bei den Teilnehmenden überwiegend sehr groß ist, ebenso aber auch die Ratlosigkeit über das Wie?. Um diese Frage zu beantworten, braucht es dringend den Aufbau von Handlungswissen. Da in den öffentlich geförderten Institutionen vor allem die Leitungsebene Themen setzt, ist sie es, die einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Nachhaltigkeit strukturell in das Haus integriert wird. An diesen Stellen müssen also Bewusstsein und Absicht vorhanden sein, nachhaltige Produktionsweisen voranzutreiben und zu implementieren. Die eigenen Überzeugungen und Denkmuster stellen dafür die entsprechenden Weichen.

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Der Artikel wurde am 22. April 2021 auf dem Blog #neue Relevanz (der KuPoGe) erstveröffentlicht. Vgl. Die Bundesregierung: Klimaschutzprogramm 2030 (Stand: 09.10.2019). https:// www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/massnahmenprogramm-kli ma-1679498 [04.04.2023].

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Reaktionen auf die Krise(n): Neustart in der Kulturpolitik

Die Rolle der Ausbildung – »business as usual«? Beim Blick zurück in unseren Studienverlaufsplan mussten wir feststellen, dass auch die nachkommenden Generationen von Kulturmanager*innen nicht für diese zukünftigen Herausforderungen ausgebildet werden. Bisher basiert – ähnlich wie in Kulturbetrieben – die Auseinandersetzung mit dem Thema immer noch größtenteils auf Eigeninitiative. Die Lehre verfolgt bisher das Credo »mehr, öfter, größer« – als wäre alles wie immer. Würden wir Grafiken zur Erderwärmung als Maßstab für unser Handeln setzen, wäre jede Form von business as usual unmöglich. Und das, obwohl wir im Diskurs bereits weit über den Punkt hinaus sind, an dem der Klimawandel und seine Konsequenzen Aspekte sind, mit denen man sich beschäftigen kann, sofern sie im eigenen Interessensbereich liegen. Stattdessen sollte in der Ausbildung zukünftiger Kulturschaffender viel stärker hinterfragt werden, inwiefern bestehende Systeme und Strukturen noch zeitgemäß und mit der bevorstehenden Transformation vereinbar sind. Dabei wäre das Studium genau der richtige Ort, um sich mit der Bedeutung des Klimawandels für den Kulturbereich auseinanderzusetzen.

Fragen, auf die es Antworten braucht Hier könnte gefragt und erforscht werden, was der Klimawandel für das eigene Schaffen bedeutet oder welche Modelle es für nachhaltige Kulturproduktion gibt. Wie geraten Internationalität und Interkulturalität unter Einhaltung von CO2 -Neutralität in keinen Widerspruch? Wie sehen die Orchester der Zukunft aus, wenn Touren rund um den Globus nicht mehr zum Alltag gehören? Wie sind hochwertige Produktionen ressourcenschonend möglich? Wie kommt man von Materialverschwendung zu Materialkreislauf? Diese und andere Fragen müssen diskutiert werden! Dafür braucht es Raum für Experimente und Zeit zum Ausprobieren, Offenheit und Mut. Das Studium könnte ein Labor für solche Gedankenspiele und Beispielprojekte werden. Fehlende zeitliche und personelle Ressourcen sind unter anderem Gründe, die es Kulturinstitutionen erheblich erschweren, Nachhaltigkeit zu integrieren. Forschungsprojekte, die sich mit oben genannten Fragen beschäftigen, können hier wichtige Impulse für Kulturinstitutionen liefern. Neben diesen grundlegenden Betrachtungen müssen auch fachliche Kompetenzen vermittelt werden. Zum Handwerkszeug aller Kulturmana-

Vera Hefele & Teresa Trunk: (R)Evolution statt Repetition!

ger*innen sollte Wissen über nachhaltiges Wirtschaften im Rahmen des derzeitigen Vergabe- und Zuwendungsrecht gehören. Mittelfristig bedarf es in diesem Verwaltungsbereich selbstverständlich größerer Veränderungen durch eine (Kultur-)Politik, die Nachhaltigkeit aktiv fördert und unterstützt. Leider benötigen diese politischen Prozesse aber Zeit, deswegen ist es umso wichtiger, im bereits heute möglichen Rahmen Handlungsspielräume für Nachhaltigkeit wahrzunehmen. Ebenso werden Datenerhebung und Reduzierung der eigenen Emissionen immer wichtiger werden. Ohne Status quo des Verbrauchs können keine Strategien zur Reduzierung ausgearbeitet werden. Welche Handlungsfelder und Stellschrauben in einem Kulturbetrieb bestehen, wie eine CO2 -Bilanz erstellt und der eigene Verbrauch dokumentiert wird, sollten daher auch zu den Grundlagen des Studiums gehören. Denn es ist eine Frage der Zeit, bis auch Kulturinstitutionen Auflagen hinsichtlich der Einhaltung (ökologisch) nachhaltiger Kriterien gesetzt werden.

Utopien denken lernen Kulturschaffende sehen sich heute mit der Nachhaltigkeitstransformation konfrontiert, zu der ihnen schlichtweg das Know-how fehlt. Veränderungen in den Curricula brauchen natürlich Zeit, aber für die Zukunft würden wir uns wünschen, dass die Ausbildungsinhalte nicht mehr dazu anleiten, die bestehenden Modelle zu repetieren. Stattdessen könnte die Lehre innovative Denkanstöße für die nachhaltige kulturelle Transformation geben. Es ist zu spät, sich erst im Berufsleben mit den Fragen von nachhaltiger Kunst- und Kulturproduktion auseinanderzusetzen. Nachhaltigkeit sollte keine Option mehr sein, sondern das Fundament, auf das eine zukunftsfähige Kulturbranche aufbaut. Der Klimawandel gehört sicherlich zu einer der herausforderndsten Aufgabe der Menschheit. Aber genau in der Findung von kreativen Lösungen steckt bekanntlich die Stärke von Kunst und Kultur: Utopien denken, Fragen stellen und Experimente wagen, sind schließlich Kernkompetenzen von Künstler*innen und Kulturschaffenden. Warum also nicht daran anknüpfen und der Frage nach dem Wie? mit zukunftsfähigen und mutigen Ideen begegnen?

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

In welchem System relevant? Şeyda Kurt

Ich beginne mit einer Frage. Sie ahnen es vielleicht schon. Sie lautet: Ist Kultur systemrelevant? Kulturschaffende und Politiker*innen sind seit Beginn der Pandemie in schier unendlichen Debatten gleichsam an ihr kleben geblieben wie ein vertrockneter Kaugummi an einer Museumswand. Es wurde gerufen, debattiert und geschrieben. Aber kaum jemand kam auf die Idee, eine wichtige Gegenfrage zu stellen: Welche Kultur ist überhaupt gemeint?

Für welches System relevant? Denn es gibt nicht bloß eine Kultur, der diese oder jene Eigenschaft zukommt. Ich beobachte in unserer Gesellschaft Kulturen. Und ich beobachte, dass manche von ihnen äußerst systemrelevant zu sein scheinen, wie beispielsweise das Humboldt-Forum. Selbst die Pandemie sollte die für Dezember 2020 angesetzte (digitale) Eröffnung im wiederaufgebauten Berliner Schloss nicht verhindern. Die notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die planmäßige Fortführung der Baumaßnahmen ließen laut Bundesinnenministerium die Gesamtkalkulation von 644 Millionen auf 677 Millionen Euro steigen. Warum ist das Humboldt-Forum also systemrelevant? Zumindest in dem Maße, dass die politisch Zuständigen 33 weitere systemrelevante Millionen Euro zur Verfügung stellen? Und für welches System ist es relevant? Eine Antwort lautet: Das Humboldt-Forum fügt sich nahtlos in ein System kolonialer Kontinuitäten und weißer Vorherrschaft ein. Und legitimiert sie im Gegenzug. Dazu gehört die Weigerung Deutschlands, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen (oder aus ihr Konsequenzen zu ziehen). Bei vielen Exponaten, die auf den 1.500 Quadratmetern ausgestellt werden, handelt es sich um koloniale Raubkunst.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Auf der anderen Seite existiert eine Vielfalt an offensichtlich nicht-systemrelevanter Kulturen, die von solch einem Geldregen nur träumen können: Festivals, Kulturstätten, Initiativen und Veranstaltungsreihen, die sich queer, feministisch, inklusiv oder dekolonial verorten und jährlich um Förderzusagen bangen. Diese Kulturen adressieren kein breites bürgerliches, weißes und anders dominanzgesellschaftliches Publikum. Sie hinterfragen rassistische oder sexistische Kontinuitäten. Nicht systemrelevant also: Die freie, alternative, marginalisierte Kulturszene – und marginalisierte Künstler*innen. Die prekäre Situation vieler Solo-Selbstständigen hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Daran haben auch die halbgaren Hilfen durch Bund und Länder kaum etwas geändert. Und mehrfachmarginalisierte Kulturschaffende sind auch in der Corona-Krise mehrfachbelastet. Geflüchtete oder behinderte Künstler*innen fallen ebenso häufig aus dem Raster solcher Zuschüsse heraus wie ihre Arbeit oftmals von der Künstlersozialkasse nicht anerkannt wird. Von der ungerechten Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft – von etwa Geld, Sicherheit und Zeit – ist die Kulturbranche nicht ausgenommen.

Relevanz über das System hinaus Dabei war 2020 nicht nur das Jahr der Corona-Krise. Es war auch das Jahr des anti-feministischen, antisemitischen und rassistischen Terrors, der am 19. Februar in Hanau seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Auch deswegen brauchen wir die Perspektiven marginalisierter und machtkritischer Künstler*innen für den Entwurf eines neuen, solidarischen Miteinanders dringender denn je. Sie sind konstitutiv für die Pluralität in unserer Gesellschaft. Etwa, weil sie Diversität nicht nur als Marketing-Gag und optischen Trend verstehen, sondern als Ausgangspunkt und Ziel ihres Handelns setzen. Sie sind vielleicht nicht-systemrelevant. Doch gerade deshalb umso wichtiger. Sie gefährden vorgezeichnete Grenzen, ritualisierte Handlungen und althergebrachtes Relevanzdenken von Systemen. Und deshalb sind sie umso gefährdeter. Wie kann also eine machtkritische Kulturpolitik aussehen? Das ist die Leitfrage dieses Essays. Und die Antwort ist so einfach wie komplex: Wir brauchen eine Kulturpolitik, die sich den Schutz und die Förderung marginalisierter Kulturen und Künstler*innen als Maxime setzt.

Şeyda Kurt: In welchem System relevant?

Eine machtkritische Kulturpolitik Ich verstehe unter Macht nicht nur die bereits erwähnte Akkumulation ökonomischer und sozialer Ressourcen. Macht wirkt auch im Hintergrund, sie naturalisiert diskriminierende Ausschlüsse und Hierarchien und erhebt sie zu einer scheinbar unumstößlichen Norm. Eine machtkritische Kulturpolitik spürt daher zwangsläufig nach, wie diese Ausschlüsse zustande kommen. Wie wirken Kapitalismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und andere Diskriminierungsstrukturen in der Kulturbranche zusammen? Welchen Anteil haben sie an der Gestaltung von Inhalten? An der Repräsentanz von Künstler*innen? Welche Themen werden durch diese Machtstrukturen legitimiert? Und welche gelten als irrelevant? Diversität kommt in der Führungsriege des Humboldt-Forums übrigens nicht einmal als Marketing-Gag vor. Intendanz, Kuration und Leitung verantworten vier weiße Männer. Und damit befinden sie sich in der Kulturbranche in bester Gesellschaft. Ein Blick auf die Theaterhäuser zeigt etwa, dass rund drei Viertel in (meist weißer) Männerhand sind, während laut Zahlen des Deutschen Kulturrats Niedriglohnjobs wie des Soufflierens zu 80 % weiblich besetzt sind. Eine machtkritische Position darf sich jedoch nicht auf der Frage ausruhen, wie mehr nicht-weiße oder nicht-cis-männliche Personen etwa in die Führungsriege des Humboldt-Forums aufsteigen. Sie muss weiterbohren, unbequem werden: Warum strukturieren sich Kulturinstitutionen überhaupt derart hierarchisch? Entsteht so die beste Kunst? Die wichtigsten Diskurse? Die relevanteste Kultur? Überhaupt: Ist es gerechtfertigt, ein Projekt in kolonialer Tradition mit so viel Geld zu subventionieren?

Relevante neue Systeme »Wie positionieren wir uns [als marginalisierte Künstler*innen] gegenüber von Macht?« Diese Frage stellte die bildende Künstlerin Moshtari Hilal kürzlich in einer Podiumsdiskussion. Das Gespräch drehte sich um Ausschlüsse marginalisierter Künstler*innen aus Institutionen. Um Fremdzuschreibungen und die Instrumentalisierung von rassifizierten Künstler*innen für rassistische Debatten. Um den Umgang mit antisemitischen, kapitalistischen Strukturen innerhalb der Kunstwelt. Auch Galerien, Theaterhäuser und andere Bühnen müssen sich positionieren. Sie brauchen eine konsequente Auseinandersetzung und einen konsequenten Bruch mit rassistischen, an-

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

tisemitischen, heteronormativen, sexistischen, ableistischen, klassistischen Strukturen und Logiken. Sie müssen sich neuorientieren, vorgezeichnete Grenzen verlassen, ritualisierte Abläufe neu choreografieren und ihr eigenes System überdenken. Diese Arbeit kann nicht wie ein weiterer vertrockneter Kaugummi an marginalisierten Künstler*innen kleben bleiben. Wenn Künstler*innen wie Hilal sich fragen, wie sie sich gegenüber von Macht positionieren – etwa mit welchen Institutionen sie zusammenarbeiten und wem sie ihre Kunst verkaufen wollen – müssen sie eine Chance haben, sich positionieren zu können. Sie brauchen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht. Das erfordert einerseits ein Mitspracherecht auf allen Ebenen der Kulturpolitik, in den Institutionen, Jurys und Ministerien. Hilals Frage lässt sich jedoch andererseits kaum ohne den Blick auf ökonomische Freiheiten und Zwänge beantworten: Eine machtkritische Kulturpolitik braucht Allianzen, um die materiellen Verhältnisse in unserer Gesellschaft von Grund auf anders zu denken. Die Corona-Krise habe bewiesen, dass es höchste Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen sei, kommentierte der Theatermacher Milo Rau in einem anderen Podiumsgespräch. Es sind Ideen wie diese, die Teil kulturpolitischer Reflexionen sein müssen, damit nicht nur Künstler*innen selbstbestimmt auf diese Fragen antworten können: Wie positionieren wir uns gegenüber von Macht? Welche Ausstellungen wollen wir? Welche Kunsträume brauchen wir? Wer gehört aktuell zum System? Und was ist für eine pluralistische Gesellschaft wirklich relevant?

Über den eigenen Status hinaus Produktive Irrelevanzerfahrungen Christina Dongowski

Wann immer Kürzungen oder Umschichtungen in den Kulturetats von Städten und Gemeinden, auf der Landes- oder Bundesebene anstehen, beschwört jemand das Gespenst der gesellschaftlichen Verödung, die durch eine Verknappung kultureller Angebote oder gar der Schließung kultureller Institutionen entstehe. Das verrückte Jahr 2020 hat uns ermöglicht, so eine Situation zu erleben – und das ganz ohne Kürzungen in den Kulturetats. Oder wahrscheinlich: vor den Kürzungen in den Kulturetats. Wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der es keine klassischen Kulturveranstaltungen mehr gibt, kein Theater, Oper, Ballett und Konzert, in der Museen geschlossen sind und Vorträge nicht stattfinden können, erleben wir nun seit mehreren Monaten, und ziemlich sicher noch weit bis in den Sommer 2021. Für mich und viele andere kulturaffine Menschen ist eine der interessantesten Erfahrungen im Shutdown kultureller Präsenzveranstaltungen, wie gut man mit ihm zurechtkommt – wenn man einen funktionierenden Internetzugang hat. Die Rhetorik von der Kultur als »geistigem Lebensmittel« oder »geistiger Tankstelle«, mit der sich die Staatsministerin für Kultur und Medien und andere Interessenvertreter*innen des Kulturbetriebs zu Wort meldeten, stand und steht im deutlichen Gegensatz zur eigenen persönlichen Erfahrung in der Pandemie.

Die Reichweite der Relevanz-Rhetoriken Während ich der Relevanz-Rhetorik von Grütters et al. etwas irritiert gegenüberstehe, prallen an den Verantwortlichen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die Appelle und Hinweise auf den bedeutsamen Beitrag, den Kunst und Kultur in dieser tiefgreifenden Krisensituation leisten könnte,

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

weitgehend ab. Der ein oder andere Kulturmensch schaffte es zwar in eine Talkshow, wo er/sie an den Hygiene- und Kontaktreduzierungsvorschriften Kritik üben durfte, im Krisenmanagement oder in zentralen Entscheidungsprozessen werden diese Menschen aber offensichtlich nicht konsultiert. Die großen Worte von der »Systemrelevanz der Kultur«, von »Kultur als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung«, erweisen sich in der Krise zwar immer noch als wirkmächtig genug, um finanzielle Mittel zu aktivieren – immerhin –, sie klingen aber im Angesicht der sich bereits im Oktober dynamisch steigenden Infektions- und Sterbezahlen und der intensiven Diskussion darüber, wie sie wieder eingedämmt werden können, für viele auch nach Selbstüberschätzung. Natürlich ist es unfair, Theateraufführungen mit dem zu vergleichen, was auf Intensivstationen getan und geleistet wird. In die Situation gebracht haben sich aber prominente Vertreter*innen des Kulturbetriebs selbst: Wer sich in einer lebensbedrohlichen Pandemie als »systemrelevant« behauptet, manövriert sich selbst in die paradoxe Situation, existenzielle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ausgerechnet in dem Moment zu behaupten, in dem deutlich wird, wie wenig man für den Großteil der Gesellschaft tatsächlich bedeutet. Denn es geht ohne Theater, Oper, Ballett und Konzert. Es geht sogar ohne öffentliche Bibliotheken – deren Schließung sehr viel mehr Menschen betrifft, die kaum Zugang zu mit Eintrittsgeld bewährtem Kulturkonsum haben. Massenhafter Protest ist ausgeblieben – und offensichtlich waren sich die Entscheider*innen dessen sehr sicher, so resolut wie man sich im Oktober für einen Shutdown der auf Präsenz ausgerichteten Kulturinstitutionen entschloss. Tobias J. Knoblich interpretiert diese Nonchalance der Politik in seinem Essay »Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung«1 nicht nur als Hinweis auf den tatsächlich untergeordneten politischen Stellenwert von Kultur, sondern auch als Indiz für die kommenden Debatten um die post-pandemische Neuordnung von Kommunal-, Landes- und Bundeshaushalten – hier würden die Kulturetats zu den ersten Opfern gehören, – und prognostiziert, dass es wohl nicht gelingen werde, mittels der seit Jahren eingespielten kulturpolitischen Rhetorik der eigenen gesellschaftlichen Relevanz massive Kürzungen zu verhindern. Ich halte diese Voraussage für zutreffend: 1

Knoblich, Tobias J.: Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung (Stand: 11.11.2020). https://kupoge.de/blog/2020/11/11/kultur-ist-mehr-als-freize itgestaltung-vergnuegen-und-unterhaltung/ [10.11.2022].

Christina Dongowski: Über den eigenen Status hinaus

Zwar hat die Relevanzargumentation 2020 zwar noch einmal ausgereicht um erhebliche Einmalbeträge beim Bund frei zu machen, aber spätestens ab 2022, wenn es nach der Bundestagswahl um strukturelle Entscheidungen in Kommunen und auf Länderebene geht, wird die Rhetorik der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Kultur nicht weit tragen. Schließlich haben wir gerade erfahren, wie wackelig dafür die Faktenbasis ist.

Man wird nicht dümmer ohne Theater Heavy User des prä-pandemischen kulturellen Präsenzangebotes wie ich haben seit dem 19. April 2020 die Erfahrung gemacht, die der größere Teil der Gesellschaft schon immer hat: Man wird nicht dümmer ohne Theater, Oper, Konzert oder Museum. Man wird auch kein schlechterer Mensch. Man verpasst auch keine wichtigen gesellschaftlichen Debatten. Man langweilt sich noch nicht einmal. Digitale Angebote sind für die Bedürfnisse, die ich (und wahrscheinlich nicht nur ich) mit dem Besuch von Museen, Theater und Vorträgen befriedige, nicht nur ein guter Ersatz. Stattdessen ermöglichen sie oft ganz eigene Formen von Konsum und Teilhabe, mit denen viele klassische Präsenzformate nicht mithalten können. Zeitsouveränität ist nur eines davon. Wichtiger, weil dem Anspruch von Kultur an sich selbst viel näher: Digitale Formate haben eine deutlich niedrigere Zutrittsschwelle – und hier spreche ich nicht primär über Eintrittsgelder. Es sich auf dem Sofa oder am Küchentisch mit Laptop oder Tablet gemütlich zu machen und sich eines von Igor Levits Pandemie-Mini-Recitals anzuhören oder gleich eine komplette Opernaufführung, die sich in mystischer Weise plötzlich auf den Webseiten oder YouTube-Kanälen mancher Häuser oder Musiklabels finden, ist eine sehr andere, (und für viele Menschen wahrscheinlich auch sehr viel positivere) Erfahrung, als der Besuch eines Konzertsaales oder Opernhauses, bei dem bereits Architektur und Ambiente der Location verdeutlichen, welche Rezeptionshaltung und welcher Habitus hier gefordert werden. Das lässt sich selbst für Museen festhalten, die tendenziell bei der Öffnung gegenüber nicht-bildungsbürgerlichen Zielgruppen schon viel weiter sind als die performativen Kulturinstitutionen. Dass Einübung, Affirmation und Privilegierung bestimmter Habitusformen (und damit Stabilisierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Hierar-

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

chien gegen andere soziale Gruppen und Praxen) dem Präsenzkulturbetrieb leider nicht nur äußerlich sind und sich durch ein paar Diversity-Maßnahmen in den Inhalten begradigen ließen, zeigt sich in der Pandemie erstaunlich unverstellt: Keine der Stellungnahmen oder Kritiken am Shutdown der Präsenzkultur kam ohne den Hinweis aus, dass man doch schließlich etwas ganz anderes sei als ein Friseurbetrieb oder Bordelle. Diese Spitze ist nicht überall gut angekommen.

Überparteiliche Finanzkritik Die Debatten darüber, für welche Art von Kultur in Zukunft überhaupt staatliche Mittel budgetiert werden sollen, werden nicht nur vor dem Hintergrund angeblich beschränkter Finanzmittel geführt werden. Sie werden sich auch in einem diskursiven politischen Raum abspielen, in dem die Besonderheit und Förderungswürdigkeit von Kunst und Kultur in ihren traditionellen Formen grundsätzlich in Frage gestellt werden kann – und das nicht nur aus dem kulturellen Feld selbst heraus, durch die jeweiligen Avantgarden. Schon vor der Pandemie sind große Kulturprojekte wie die Sanierung oder der Neubau von Opern- und Konzerthäusern (Bonn, Köln, Stuttgart) ins argumentative Schlingern gekommen, als aus bürgerlichen Kreisen und quer zum bekannten politischen Spektrum Stimmen laut wurden, dass man hier kein ausgeglichenes Kosten-/Nutzenverhältnis erkennen könne. Beispielsweise konnten sich in der Debatte um die Totalsanierung der Stuttgarter Oper schon vor der Covid19-Krise Menschen aus allen im Gemeinderat und in Landtag vertretenen Parteien hinter dem Argument versammeln, dass hier das Unterhaltungsbedürfnis einer sowieso schon privilegierten kleinen gesellschaftlichen Gruppe überproportional gegenüber anderen Gruppen gefördert wird. Mit einigem Erfolg: Nicht nur haben sie den verantwortlichen Kultur- und Finanzpolitiker*innen überhaupt einmal eine Debatte über Sinn, Zweck und Umfang der Sanierungen aufgezwungen, sondern auch die Veröffentlichung einer einigermaßen realistischen Finanzplanung erreicht. Nachdem die Hausnummer der Sanierung all-inclusive auf eine Milliarde Euro beziffert wurde, steht die Debatte auf ganz anderen Füßen. Man merkt den Vertreter*innen aus Kultur und Kulturpolitik an, wie schwer es ihnen für diese Summe mit neun Nullen fällt, den gesamtgesellschaftlich bildenden und erhebenden Besuch einer Verdi-Oper glaubhaft zu machen, wenn für dieselbe Summe jede Schule

Christina Dongowski: Über den eigenen Status hinaus

Stuttgarts mit einer üppigen Bibliothek und alle Schüler*innen mit PremiumLaptops plus Internet Flatrate ausgestattet werden könnte. 2021, wenn die Debatte nach überstandener Pandemie weitergehen wird, steht neben dieser Milliarde auch noch die Zeit im Raum, die alle ohne Oper, Ballett und Konzerte überstanden haben. Welche Folgen dies zum Beispiel für die Abo-Abschlüsse haben wird, bleibt spannend. Vielleicht waren vor allem kulturtouristisch beworbene Großprojekte wie Elbphilharmonie und Humboldtforum die letzten ihrer Art.

Mangelnde Transformationsbereitschaft Man kann die Stuttgarter Opernsanierungsdiskussion, die bereits eine Verfahrensänderung erreichte, beispielhaft als positives Zeichen für eine lebendige, wenn auch stellenweise ruppig geführte kulturpolitische Debatte verstehen, die vor allem auf kommunaler Ebene geführt wird und quasi ein Vorschein gibt auf die zukünftigen Auseinandersetzungen über Erhalt und Erneuerung der Kulturlandschaft, die Tobias J. Knoblich im Start-Essay dieser Reihe2 bereits fordert und anmahnt. Pessimistisch stimmt mich aber die Sprachlosigkeit der Vertreter*innen des Kulturbetriebs, die zu diesem Gespräch bislang kaum mehr als unhinterfragte Besonderheits-Rhetorik von (traditioneller) Kultur beitragen konnten. Die Erfahrungen, die ich hier in Stuttgart bisher in der Debatte um die Sanierung der Oper gemacht habe, sprechen eher gegen die Transformationsfähigkeit und -bereitschaft des kulturellen Feldes. Zumal sie nicht die einzigen sind, die einen skeptisch werden lassen. So kann man über die Ignoranz und die Sturheit nur erstaunt sein, die ausgerechnet Vertreter*innen des bundesdeutschen Kultur-Leuchtturm-Projektes Humboldt Forum in der Debatte um den angemessenen Umgang mit kulturellen Artefakten an den Tag gelegt haben, die durch kolonialistische Praktiken in die Berliner Sammlungen gelangt sind. Ein absoluter Tiefpunkt war ein Interview im Deutschlandfunk zum Thema, in dem Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten des Humboldt Forums, bestritt, dass es überhaupt deutschen Kolonialismus gegeben habe. Fairerweise ist zu sagen, dass es gerade in diesem Feld aber auch positive Gegenbeispiele gibt: So haben das Land Baden-Württemberg und das Linden-Museum 2019 die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois an dessen 2

Vgl. ebd.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Familie zurückgegeben. Witbooi war einer der Anführer des Aufstandes gegen die deutschen Kolonialherren im heutigen Namibia, die es laut Bredekamp gar nicht gab. Bibel und Peitsche wurden 1902 an das Stuttgarter Museum gegeben. Sie waren beim Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama von deutschen Soldaten erbeutet worden. Das Linden-Museum und Landespolitiker*innen geben hier ein gutes Beispiel in Sachen Offenheit für Veränderungen und zeigen ein neues Verständnis für museale Artefakte und ihre kulturellen Bedeutung. Trotzdem befürchte ich, dass sich die Tendenz der etablierten, auskömmlich finanzierten Institutionen eher verstärkt, die von außen angemahnten Veränderungsprozesse zu ignorieren. Ich befürchte, dass sie sich Forderungen nach mehr Diversität bei den präsentierten Inhalten und den Arten der Präsentation, aber vor allem beim Fach- und Führungspersonal weiterhin verweigern und meinen, sich für diese Verweigerungshaltung auf die grundgesetzlich garantierte Autonomie und Freiheit der Kunst berufen zu können. Die Virtuosität, mit der die Gründungsintendanten des Humboldt Forums die sowieso hohe institutionelle Trägheit behördlicher Apparate wie sie Kulturbürokratien sind, genutzt haben, um die Debatte über eine Neukonzeption des Projektes museumspraktisch im Sande verlaufen zu lassen, ist für mich so ein Zeichen. Genauso wie der defensive Ton, der gerne in den Newslettern des Deutschen Kulturrates angeschlagen wird, wenn man sich – natürlich ganz selten offen aggressiv – mit Forderungen nach mehr Diversität oder nach deutlicher Positionierung kultureller Institutionen gegen diskriminierende Politikentwürfe auseinandersetzt. Oder dass Kulturstaatsministerin Grütters zu Fragen einer Kultur der Digitalität wenig mehr einfällt als die Klage über die Verrohung des Diskurses durch soziale Medien. Ganz praktisch und strukturbildend zeigt sich diese defensive Haltung gegenüber den Transformationen, die ja bereits ohne Budgetierung und Segen der obersten staatlichen Kulturrepräsentantin ablaufen, dann in den überschaubaren Beträgen, die Grütters in ihrem Etat 2021 für die Digitalisierung und den Aufbau digitaler Strukturen im Kulturbereich vorsieht: circa 22 Millionen Euro.3

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Vgl. Tepest, Eva: Info-Proletarier*innen of the world, unite!, S. 145–149 in diesem Band.

Christina Dongowski: Über den eigenen Status hinaus

Funktionale Spaltung des Kulturbetriebs Hier gäbe es also viele Ansatzpunkte zur Transformation. Stattdessen werden die Bereiche im kulturellen Feld, die bereits aktuell unter deutlich prekäreren Finanzierungs- und Arbeitsbedingungen, programmatisch und personell diverser und inklusiver zu arbeiten versuchen, noch stärker unter Druck geraten. Sie haben viel weniger Ressourcen und entsprechende Netzwerke, sind viel einfacher angreifbar – und vor allem sitzen sie nicht in einer gebauten Infrastruktur, die man nicht so einfach leer stehen lassen oder umwidmen kann. Gerade durch die institutionelle Kulturförderung mit festen Budgets für etablierte Häuser auf der einen Seite und einem großen, tendenziell intransparentem Projektmittelwesen auf der anderen, hat sich die funktionale Spaltung des Kulturbetriebs mittlerweile als reale bürokratische, finanzielle und bauliche Infrastruktur materialisiert: (relativ) gut finanzierte Traditionsbetriebe, die sich am Kunst- und Kulturbegriff des letzten Jahrhunderts festhalten, und flexible, von der Hand in den Mund lebende Innovationslabore, die sich ständig neu erfinden müssen, weil die Förderperiode beendet ist und die Gelder einen neuen thematischen Schwerpunkt bekommen. Damit sich diese tief in das kulturelle Feld, seine Inhalte und sein Selbstverständnis versenkte Struktur nicht durch massiven ökonomischen Druck verstärkt, bräuchte es Netzwerke und Diskussionsräume, in denen sich Vertreter*innen aus beiden Sphären gleichberechtigt begegnen können. Gleichberechtigt hieße hier vor allem: In denen sich auch Opernintendanten und Museumsdirektorinnen der Frage nach der Existenzberechtigung ihrer Häuser und ihrer Arbeit stellen lassen, ohne dass das professionelle Konsequenzen für die Fragenden hat. (Die Intransparenz der tatsächlichen ökonomischen und finanziellen Verhältnisse innerhalb des Kulturbetriebs und die daraus folgenden Abhängigkeiten sind der große Gorilla im Raum dieser ganzen Debatte.) Für solche offenen Räume sehe ich, vor allem oberhalb der kommunalen Ebene, bisher wenige Anzeichen. Aber wer weiß: Um die Debatte herum kommt der Kulturbetrieb sowieso nicht. Und vielleicht eröffnet die schockhafte Erfahrung der eigenen gesellschaftlichen Irrelevanz doch Räume, in denen offener über die Funktionen von Kultur in einer Gesellschaft gedacht werden kann – und nicht nur über den Erhalt des eigenen Status.

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Künstlerischer Aktivismus als politische Bildung Oder: Lasst uns den Mut-Muskel trainieren! Friederike Landau-Donnelly & Cesy Leonard

Kunst, Demokratie, Aktivismus – ein geladenes Trio Kunst, Demokratie und politischer Aktivismus stehen in einem komplizierten und manchmal auch konfliktreichen Verhältnis. In Dreiergespannen bestehen unter zwei von drei Elementen oft stärkere, unter jeweils anderen schwächere Verbindungen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Kunst und Aktivismus relevanter oder offensichtlicher verbündet sind als Kunst und Demokratie, oder auch, dass Demokratie und Aktivismus ein politischeres Paar wären im Gegensatz zu harmloser Kunst. Schließlich kann auch Politik eine Kunstform sein – sei es in Wahlkampagnen, die auf ästhetische oder emotionale Ansprache durch Bilder und Atmosphären setzen, oder drastischere Formen von Propaganda, die mit visuellen Narrativen von Uniformität, Ausgrenzung oder politisierten Farbspektren agieren etc. Statt Konflikte oder eindeutige Abgrenzungen zwischen Kunst, Demokratie und Aktivismus heraufzubeschwören, interessieren uns hier einerseits die gegenseitigen Verschränkungen, Potenziale für Allianzen und auch wechselseitigen Abhängigkeiten dieser drei politische Aktionsfelder. Andererseits betrachten wir Konflikte oder Spannungen zwischen ihnen nicht als generell problematisch oder unangenehm.1 Kurz gesagt halten wir Konflikte für unerlässlich und produktiv für die Entwicklung hin zu einer stärkeren, vielfältigeren und in diesem Sinne auch demokratischeren Demokratie.2

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Landau, Friederike/Pohl, Lucas/Roskamm, Nikolai (Hg.): [Un]Grounding. Post-Foundational Geographies, Bielefeld: transcript Verlag, 2021. Marchart, Oliver: Conflictuals Aesthetics. Artistic Activism and the Publich Sphere, Berlin: Sternberg Press Verlag, 2019.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Durch eine konfliktorientierte Perspektive, wollen wir im Folgenden anhand des künstlerisch-politischen Kollektivs Radikale Töchter 3 (RT) zeigen, wie sowohl institutionalisierte Wege von Demokratie und Politik als auch Formen des politischen Engagements und künstlerischen Schaffens weiterentwickelt werden können. Insbesondere will das Kollektiv jungen Menschen Möglichkeiten für eigenes kreatives politisches Handeln vermitteln. Ohne weiter auf die unzähligen Facetten künstlerischen Schaffens mit dem Ziel der gesellschaftlichen Kritik einzugehen, arbeiten die RT mit künstlerischen Ansätzen und Aktionen, die den konkreten Umbau von bereits als demokratisch bezeichneten Systemen vorantreiben und in diesem Sinne Demokratie(n) mit, durch und vor allem Demokratie als Kunst beleben. Weiterhin sei vorangestellt, dass wir nicht davon ausgehen, dass Kunst per se politisch ist, wohl aber davon, dass die radikale Vielfalt künstlerischer und kreativer Ausdrucksformen politisch werden kann. Das politische Potenzial von künstlerischen Aktionen kommt zum Beispiel dann zum Vorschein, wenn sich dies konkret auf eine Veränderung hegemonialer Verhältnisse richtet (z.B. Abschaffung des Patriarchats, Umverteilung zugunsten nachhaltiger und fürsorglicher Mensch-Umwelt-Beziehungen etc.). Für uns ist Kunst somit stets potenziell konfliktuell, also einerseits konfliktgeladen in ihren eigenen Ansätzen von Kritik, Transformation und dem Ruf nach Alternativen sowie andererseits in der Rezeption, die nicht immer positiv oder wertschätzend ist.

Radikale Töchter – Legal Stress machen! Die Gründerinnen von Radikale Töchter, die Aktionskünstlerin Cesy Leonard und die Performancekünstlerin Katharina Haverich, lernten sich 2014 bei künstlerischen Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) kennen. Leonard reiste als Künstlerin und Sprecherin des Kollektivs jahrelang durch Europa, um fortbestehende Verhältnisse von Rassismus, Antisemitismus und dem menschenunwürdigen Umgang mit Migrant*innen zu dokumentieren

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Der Begriff »Tochter« wird gezielt genutzt, um den Anbruch einer neuen, nicht-patriarchalen Zeit zu markieren. Bei dem Begriff geht es nicht um ein konkret identifizierbares weibliches biologisches (oder durch Operationen angenommenes) Geschlecht, sondern eine politische Positionalität, die sich für queer-feministische Politik stark macht.

F. Landau-Donnelly & C. Leonard: Künstlerischer Aktivismus als politische Bildung

und mit künstlerischen Mitteln anzuprangern und sichtbar zu machen. Mit Haverich entwarf Leonard neben den ZPS-Aktionen Workshop- und Begegnungsformate sowie performative Lesungen. Während dieser Veranstaltungen beobachtete Leonard, wie viele junge Menschen sich danach sehnten, selbst politisch tätig zu werden. Gerade das Künstlerische, Selbstorganisierte und -gemachte abseits des offiziellen und organisierten Politikbetriebs schien dabei einen besonderen Reiz auszuüben: Politik neu denken, und zwar originell, öffentlichkeitswirksam und herausfordernd, aber auch verbunden mit Spaß, Spiel und Lust auf etwas radikale Veränderung. Zahlreiche positive Reaktionen und Anfragen bestärkten Leonard darin, ihr Erfahrungswissen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus in einer neuen Form weiterzugeben, und zwar nicht nur an jene, die ohnehin schon politisch engagiert sind. Aus eigener Erfahrung wusste sie, welche Überwindung es gerade als Frau kosten kann, sich über immer noch vorherrschende, meist heteronormative und männlich dominierte Rollenmuster hinweg zu setzen (und gezielt persönliche Angriffe abzuwehren). Auch in dieser Hinsicht setzte sie ein Zeichen, als sie 2019 Radikale Töchter gründete.

Radikale Töchter als Künstler*innenkollektiv für radikalere Demokratie Seitdem inspirieren die RT in ein- oder mehrtägigen Workshops mit jungen Erwachsenen zwischen 16 und 29 Jahren zu wirkungsvollen, außergewöhnlichen und kreativen Formen des politischen Aktivismus mit Hilfe eines Trainings des sogenannten Mut-Muskels. Mit Fokus auf Erstwähler*innen und solche, die aktuell nicht oder noch nicht wählen dürfen, wenden sich Radikale Töchter an Mädchen* und junge Frau*en, denn trotz Vorbildern wie Pussy Riot, Greta Thunberg oder Luisa Neubauer sind diese in politischen Diskursen immer noch stark unterrepräsentiert. Genauso sprechen die RT aber auch Jung*en und junge Männ*er an, denn einen politischen Unterschied zu machen wird nur gemeinsam gelingen. In Summe ist der Ansatz also, künstlerisch-aktivistische politische Bildung für alle jungen Menschen anzubieten, unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft oder sexueller Identität. Der MMT-Trainingsplan besteht aus politischer Aktion, Kunst und Grundbegriffen von Demokratie und Politik im engeren als auch weiteren Sinne. Ziel der Trainings ist, Menschlichkeit, politische Haltung und Leidenschaft zu fördern und jungen Menschen zu befähigen, ihre eigene Handlungsfähigkeit und

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-wirksamkeit zu entdecken. Mittels künstlerischer Tools und Methoden lernen Teilnehmende, mit Unsicherheiten umzugehen und andere Menschen mit ihren Ideen zu begeistern. Das Training soll Funken entfachen und zeigen, wie einfach und gleichzeitig auch wie schwer es sein kann, ins politisch-kreative Handeln zu kommen – und es trotzdem zu wagen! Deshalb sind die Workshops auch mehr als die üblichen Angebote politischer Bildung. Sie sind Beiträge zur Persönlichkeitsbildung, die die Teilnehmenden auch beim Einstieg ins Berufsleben und bei der Entwicklung eines sozial verantwortlichen, kritischen Alltagshandeln prägen. Radikale Töchter treten an, um eine kritische Masse junger Menschen zu mobilisieren, die (wieder) leidenschaftlich für Demokratie und politische Themen wie sozial-ökologische Gerechtigkeit brennen, Freiheit, Gleichheit und Solidarität verteidigen, einklagen, beschützen, neu interpretieren – rebellisch und radikal demokratisch. Die Workshops vermitteln Ansätze der Aktionskunst und des künstlerischen Aktivismus, ausgerichtet auf die Grundwerte des demokratischen gesellschaftlichen Zusammenlebens und die sozial-ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Grundlagen politischer Systeme und Prozesse, und was das mit einem selbst zu tun hat, werden nicht in langwierigen Vorträgen, sondern im interaktiven Dialog erörtert, immer angebunden an die konkreten Interessen der Teilnehmenden und ihre Erfahrungen. Bemerkenswerterweise geht aus den Mut-Workshops oft kein Kunstwerk hervor – stattdessen steht die Bildung von Beziehungen im Sinne von Nicolas Bourriauds relationaler Ästhetik im Vordergrund.4 Die genuine Praxis Radikale Töchter könnte mensch vorläufig als relationale politische Aktionskunst bezeichnen – für die Bildung, Pflege und Fürsorge von Beziehungen, in denen Raum für politische und persönliche Unterschiede ist und Konflikte umarmt werden können. Letztlich sind die Trainings Möglichkeiten der Inszenierung für und von Mut für radikal ehrliche – und damit gleichzeitig auch verletzliche – politische Begegnungen und Aktionen. Radikale Töchter und solche, die es werden wollen, laufen mit Megaphonen durch öffentliche und privatisierte Räume und Orte, Großstädte und Dörfer und transformieren diese verschiedenen Räume mit Mitteln aus ihren Koffern – bunte Stoffe, grelle Materialien, anfassbare Politik, krasse Begegnungen, Geräusche, Gefühle.

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Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon: les presses du réel Verlag, 2002.

F. Landau-Donnelly & C. Leonard: Künstlerischer Aktivismus als politische Bildung

Ausblick: Für mutigere Kunst und künstlerische Demokratie Das Training für und von Mut ist jedoch nur der Anfang für eine künstlerische(re) Praxis von Demokratie und Politik. Radikale Töchter begreifen ihr kreativ-politisches Handeln als offenen Prozess, der pirat*innenhaft von anderen Gruppen und Initiativen gern kopiert werden kann. Somit verkörpern sie Politik und Demokratie im Sinne des Politischen und verbreitern die Plattformen, Akteur*innen und Bedeutungen davon, was Politik ist, wo diese stattfindet und wer sie macht. Radikale Töchter wollen selbst Praktizierende der Demokratie sein, bleiben und mit einem stets anwachsenden Schwarm neuer Töchter mit weiteren Demokrat*innen künstlerischer Formen von politischer Bildung in die Gesellschaft tragen. Von der Kunst in die politische Praxis und für eine lebendige, intersektionale und inklusive Demokratie. Als Nächstes steht dann vielleicht das Demokratie-Muskel-Training auf dem Programm.

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The Artist Is Broke Kulturarbeit zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung Sandra Gugić

In letzter Zeit schlafe ich schlecht. Ich will auch nie schlafen gehen. Es ist stressig, sich zu entspannen, die Gedanken rasen auf der Suche nach einer möglichen Ordnung, ich gehe alle Szenarien durch, verwerfe sie wieder. Wenn ich endlich in den Schlaf falle, träume ich von der Arbeit. Die Kulturlandschaft in einer Kälteschlafkapsel. Entschlossene bis verzweifelte Gesichter flimmern auf Bildschirmen. Kannst du uns hören? Wir können dich hören, aber nicht sehen. Wir können dich sehen, aber nicht hören. Es rauscht in allen Leitungen. Es ist so verdächtig still hier. Ich wache auf, und alles ist wahr. Wir befinden uns in einer Warteschleife. Wir haben viele Namen: Ein-Personen-Unternehmen, Ich-AG, Soloselbstständige. Dass der Ausnahmezustand der Pandemie bereits vorhandene Missstände und Ungleichheiten vertieft und sichtbarer macht, wurde schon gesagt, und es wird immer wieder gesagt werden müssen. Ich erinnere mich an die Zahl, die ich im Dezember 2019 als geschätztes Jahreseinkommen 2020 in das Onlineformular der Künstlersozialkasse eingetragen habe. Bücher sind Lebensmittel, hieß es im März 2020, die Berliner Buchhandlungen durften offenbleiben. Im Juni ging ein Bild durch die Medien: das größte Opernhaus in Barcelona, auf der Bühne ein Streichquartett. Das Eröffnungskonzert vor vollen Rängen, 2.200 besetzte Plätze, – aber nicht mit Menschen – das Publikum besteht aus Pflanzen. Das grüne Publikum im Kontrast zum roten Plüsch und Gold. Die Schlussverbeugung der Musiker*innen vor den Pflanzen.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Nicht einfach zurück zum Alten Im Dezember 2020 sagt Jagoda Marinić: »Auch in der Kultur können wir nicht einfach zurück zum Alten. Der Kulturbetrieb wird sich einer Selbstüberprüfung stellen müssen, statt über die eigene Relevanz zu predigen.«1 Das Publikum ist nicht verschwunden, aber es gibt keinen analogen Raum, in dem Künstler*in und Publikum einander begegnen dürfen. Die Politik hat bereits entschieden, dass Kulturarbeit keine systemrelevante Arbeit ist. Sascha Lobo schreibt, dass die wahre Staatsreligion die Festanstellung sei und der Staat für Selbstständige und Kreative kaum mehr als Verachtung übrig hat.2 Wir befinden uns also hier: zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung. Aber wer sind wir eigentlich, wir Kulturarbeiter*innen, wie sehen unsere Lebensrealitäten aus?

The Artist is jung, flexibel, ungebunden Der Bereich, den ich am besten kenne, ist der der Literatur: Wenn wir uns die Kriterien für Literaturförderungen ansehen, waren diese schon vor der Krise schwierig genug. Um überhaupt die Möglichkeit zu haben, diese in Anspruch nehmen zu können, sollten alle Schreibenden weitgehend ungebunden, flexibel, frei von sozialen Verantwortungen und Verpflichtungen sein, dabei selbstverständlich reisefreudig, stets in der Lage, Hauptwohnsitz und gegebenenfalls Brotjob für ein Aufenthaltsstipendium in XYZ aufzugeben oder on hold zu stellen. Am besten sind Schreibende also jung, flexibel, ungebunden. Gut vernetzt unter unseresgleichen, aber dabei gern allein. Wir kommen selbstverständlich mit wenig Mitteln zurecht, wir brauchen nicht viel (alles für die Kunst!) oder haben ein Netzwerk (Angehörige, Partner*innen etc.), das uns wirtschaftlich am Leben hält. Und auch wenn wir nicht nur in Krisenzeiten und überhaupt sehr überschaubare staatliche Unterstützung bekommen, werden wir bei jeder Zuwendung gern pejorativ als Staatskünstler*innen bezeichnet. Wir müssen hochproduktiv sein, auch wenn wir und die Allgemeinheit in einer pande-

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Gesprochenes Wort, Ort unbekannt. Vgl. Lobo, Sascha: Der deutsche Staat verachtet Selbstständige und Kreative (Stand: 09.12.2020). https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-hilfen-der-deutsch e-staat-verachtet-selbststaendige-kolumne-a-49d0ce81-8b0b-4ee7-ada1-5a6f38382e a9 [10.11.2022].

Sandra Gugić: The Artist Is Broke

mischen Krise stecken. Gleichzeitig sind wir persönlich verantwortlich dafür, local business zu retten, auf unsere Gesundheit zu achten und uns um unsere Nächsten oder Familien zu kümmern sowie Sorgearbeit zu leisten. Und das Wichtigste: Wir sind weiß, cis, hetero, abled, männlich. Oder? Es muss sein, denn kaum jemand ist sichtbarer als Menschen, die unter diesem Label laufen. Im Frühling 2020 fand das Bachmannpreis-Wettlesen erstmals online statt. Ein wichtiges Echo auf diese Veranstaltung findet sich in der Aussage der Autorin und Bachmannpreis-Gewinnerin Helga Schubert, dass sie sich freue, dass der Wettbewerb in diesem Jahr im Netz stattgefunden habe und sie nicht nach Klagenfurt reisen musste, weil sie ihren bettlägerigen Mann pflegt. Eine 80-jährige Autorin, die aus jedem Literaturbetriebsklischee herausfällt und diesen Wettbewerb unter den üblichen strukturellen Bedingungen (der analogen Anwesenheitspflicht) nicht gewinnen hätte können, weil ihr schon die Teilnahme unmöglich gewesen wäre. Ein im Kulturbetrieb lang vernachlässigtes Thema wird hier zur Sprache gebracht: die durch die bestehenden Strukturen erzeugte Unvereinbarkeit von Sorgearbeit und künstlerischer Arbeit. Wird die Zeit der Pandemie ein Umdenken schaffen, was Sorgearbeit leistende Menschen angeht? Wird es ein inkludierendes Umdenken geben, was Literaturveranstaltungen und Aufenthaltsstipendien angeht? Darf sich das Bild der Schreibenden vielfältiger zeigen, weg vom abgehobenen Geniekult? Wird uns endlich ein wunderbar profanes Privatleben zugestanden, das Sorgearbeit einschließt? Und wird dieser Tatsache auch entsprechend Raum gegeben und Respekt gezollt werden? Nein, wir sind nicht alle weiß, cis, hetero, abled, männlich. Wir sind auch alles Andere, alles Mögliche. Wir fordern Sichtbarkeit und eine längst überfällige gesellschaftliche Wertschätzung. Schreiben ist Arbeit. Literatur ist Arbeit. Sorgearbeit ist Arbeit. Wir sind keine Genies, wir leben nicht in Elfenbeintürmen, wir sind Kulturarbeitende. Viele von uns können ihren Lebensunterhalt nicht allein durch die Kunst bestreiten, dennoch ist die Produktion von Literatur und Kunst keine Liebhaberei und muss dementsprechend fair und transparent vergütet werden. Aber, einmal mehr, bevor wir uns überhaupt an die Arbeit machen können: Welchen Produktionsbedingungen sind wir unterworfen?

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

The Artist is exzellent Die Initiative Mehr Mütter für die Kunst 3 hat ein Manifest in Form eines Forderungenkatalogs ins Netz gestellt, der auf die Schieflagen im Kunstbetrieb aufmerksam macht: den Mangel an Präsenz und Förderung von Frauen und Müttern. Und dass selbst dort, wo Frauen in gehobenen Positionen agieren, die strukturellen Benachteiligungen weiterbestehen. Und dass wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen in der Kunstproduktion ihrer Mutterschaft wegen disqualifiziert. Im Rahmen der Vergabe eines Stipendiums für Künstler*innen mit Kindern unter 7 Jahren,4 dem Sonderförderprogramm 20/21 des Kunstfonds Bonn, wurde die verteilungspolitische Schieflage besonders deutlich: Das Stipendium wurde an 47 Männer, drei diverse Bewerber*innen und 44 Frauen vergeben. Das klingt gar nicht so schlecht? Sehen wir uns die Zahlen etwas genauer an. Aus dem offenen Brief der Initiative »Mehr Mütter für die Kunst« an den Kunstfonds Bonn geht hervor: Gestellt wurden 826 Anträge: 497 von Frauen, 323 von Männern, sechs von diversen Personen. »[…] 94 jener Anträge werden bewilligt. Entsprechend der Zahlen auf Ihrer Homepage erhalten 44 Frauen, 47 Männer und 3 diverse Bewerber*innen den Zuschlag. Das bedeutet, dass 8,6  % der Anträge von Frauen, 14,6  % der Anträge von Männern und 50  % der Anträge von diversen Bewerber*innen erfolgreich waren. […].«5 Der komplexe Sachverhalt, der hinter dem in der Ausschreibung festgemachten Elternschaft-Kriterium steckt, wurde in der Auswahl außer Acht gelassen. Denn was bedeutet Elternschaft? Dass ein Teil seine künstlerische Produktion einschränken muss, also quantitative Arbeitszeit verliert, um den Sorgepflichten nachkommen zu können. Sollte es nun tatsächlich so sein, dass die Anträge der männlichen Bewerber qualitativ hochwertiger waren, könnte dieser Umstand damit zusammenhängen, dass die Aufgaben der Sorgearbeit nach wie 3 4

5

Weitere Informationen zur Initiative »Mehr Mütter für die Kunst« unter: www.mehrmütterfürdiekunst.net/. Weitere Informationen zur Vergabe des Stipendiums unter: https://www.kunstfonds. de/aktuelles/foerderprogramm/details/11-millionen-euro-als-neustart-kultur-stipen dien-fuer-bildenden-kuenstlerinnen-mit-kindern-unter-7-jahren. Mehr Mütter für die Kunst: 2. Offener Brief an die Stiftung Kunstfonds aufgrund der Vergabe der »Stipendien für Künstler*innen mit Kindern unter 7 Jahren (Sonderförderprogramm 20/21 NEUSTART KULTUR)« (Stand: 20.11.2020). http://mehrmütterfür diekunst.net/index.php?s=news [10.11.2022].

Sandra Gugić: The Artist Is Broke

vor überproportional von Frauen übernommen werden? Machen Männer qualitativ bessere Kunst als Frauen? Oder haben sie einfach mehr Zeit? Ist diese vermeintlich mangelnde Qualität vielleicht ein temporärer Einbruch in Produktion und Output? Und sollte ein Stipendium nicht vielmehr diesen Missstand fördern statt Genie und Exzellenz zu bemühen? Einmal mehr fallen wir rückwärts durch die Jahrhunderte. Es rauscht in den Leitungen. Wir können euch hören, aber nicht sehen. Wir können euch sehen, aber nicht hören. Die Arbeits- und Produktionsbedingungen sind oftmals eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Und dann? Aus welchem Material sind die Auswahlkriterien gemacht? Was wird für repräsentationswürdig befunden und dementsprechend repräsentiert? Welche Arbeiten schaffen es durch die offensichtlich von struktureller Ungleichheit bestimmten Auswahlfilter? Und welche Künstler*innenbilder werden dadurch als relevant in die Welt und damit an ein Publikum gebracht? Unter welchen Bedingungen werden Preise vergeben: Sind sie ›Belohnung‹ oder sollten sie nicht viel eher als Fördermöglichkeit im Hinblick auf ein zukünftiges Schaffen eingesetzt werden? Die Kulturpolitik kann an der Besetzung von Entscheidungspositionen ansetzen, die Zusammensetzung von Jurys ebenso überdenken wie die Fragestellungen hinter den Auswahlprozessen und deren notwendige Transparenz. Künstlerische Exzellenz ist ein Kriterium, dass sich unhinterfragt durch künstlerische Biografien zieht: An die staatliche Kunst- oder Musikhochschule kommt, wer exzellent ist. Meisterschüler*innen werden die, die noch exzellenter sind. Literaturpreis, Schreibkurs, Stipendium? Bitte nur bei herausragender Leistung. Und an dieser Stelle treffen wir uns wieder bei der Frage: Wer beurteilt diese Leistungen? Und nach welchen Kriterien und Filtern? Wahrscheinlich existieren wir gar nicht. Wie denn auch? Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir sind nicht alle gleich, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, Berufe, Lebenspositionen et cetera. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Lebenswirklichkeit für alle gilt, für ein Wir. Wo beginnt Sichtbarkeit, Präsenz und Präsentation? Hier klaffen entsetzliche Leerstellen. Aber geht es nicht gerade in der Kunst- und Kulturarbeit um das Abbilden und Vermitteln von vielschichtigen Lebenswirklichkeiten und unterschiedlichen Erfahrungshorizonten? Und nicht nur in der Theorie, sondern in einer vielstimmigen Praxis. Was nur möglich ist, wenn wir die Räume und unsere Perspektiven öffnen, uns von Zuschreibungen und Klischees trennen. Vielfalt nicht im Sinne eines Exot*innenstatus, sondern aus der Notwendigkeit und

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

der Erkenntnis heraus, dass wir die Unvollständigkeit begriffen haben, mit der wir die Welt künstlerisch erzählen.

The Artist is einsam Schreiben ist Arbeit, eine oftmals einsame Arbeit. Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es braucht die Eigeninitiative, das Aufstehen und ein vielstimmiges, solidarisches Lautwerden von Künstler*innen, um die Strukturen, Produktionsbedingungen und Bilder zu verändern. Auch wenn jede*r von uns für sich allein künstlerisch arbeitet, verbindet uns im besten Fall das Begehren nach Gerechtigkeit, nach einer Kulturlandschaft, die alte Selbstverständlichkeiten verwirft und in ihrer Vielschichtigkeit überraschende gemeinsame Räume schafft. In einer Diskussionsrunde auf die Frage hin, mit welchen Erkenntnissen oder Begriffen ich das krisengeschüttelte Jahr 2020 rahmen würde, höre ich mich spontan antworten: »Eigenverantwortung und Solidarität«. Es wird gesagt, der Text ist klüger als die Autorin, aber oft scheint der Text hinauszulaufen, hinter den Fragen her, ohne ein Ende zu finden. Die Lösung beginnt in der Suchbewegung, im unermüdlichen Stellen von unbequemen Fragen, die Ungleichheiten sichtbar machen und endlich auch Veränderung herbeiführen können.

Was mache ich eigentlich hier? Eine Rechtfertigung Karosh Taha

Mein Schriftstellerinnendasein in diesem deutschen Literaturbetrieb ist so unwahrscheinlich, dass ich immer wieder meinen Werdegang, diese unmögliche Strecke, gedanklich zurücklaufe. Die Vergangenheit ist eine Abfolge der mir bekannten Schritte, in der Gegenwart stehe ich und bekomme manchmal keine Luft, wenn ich an die Zukunft denke: Kann ich diesen Beruf weiterhin in Würde ausüben? Kann ich mir den Luxus erlauben, vom Schreiben zu leben?

Ich denke an den Satz von Guy Debord: »Paris war eine so schöne Stadt, daß viele [Künstler*innen] lieber hier arm sein wollten als anderswo reich.« Ich denke: Guy Debord musste in seinem Leben nie hungrig ins Bett gehen. Ich denke: Selbstgewählte Armut ist keine Armut. Ein ehemaliger Mitstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin fragte oder schlug vor – ich weiß es nicht so genau – ich sollte nach Berlin ziehen und so wie er Teil der Bohème werden, weil er um meine schriftstellerischen Ambitionen wusste. Ich wusste damals nicht, wo ich mit meiner Erklärung anfangen sollte. Heute weiß ich: Sein Vater ist Chirurg. Wer begibt sich freiwillig in existenzielle Not, wenn er damit aufgewachsen ist, wenn er davor geflüchtet ist? Eigentlich bist du Lehrerin, fragt man, oder sagt man, und dann weiß ich, ich muss erklären, warum ich Lehramt studiert habe: Kompromiss zwischen mir und meinen Eltern, aber das ist nur die Hälfte von dem, was wahr ist, denn der Kompromiss ist auch zwischen mir (heute) und mir (damals), meiner Angst vor Armut und meinem Wunsch zu schreiben.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

In der achten Klasse lesen wir Sonia Levitins Buch Die Tote im Wald – in der Autor*innenvita steht, dass sie Lehrerin und Schriftstellerin ist. Meine Klassenlehrerin weiß, dass ich Schriftstellerin werden möchte; meine Eltern wissen, dass ich schreibe, aber beide Parteien wissen auch: Ich werde nicht davon leben, ich muss mir etwas Anständiges suchen – das sind die Worte meiner Lehrerin; das muss ich mit meinen Eltern erst gar nicht besprechen. Levitins Doppelberuf suggeriert, ich könnte als Lehrerin nebenbei schreiben. Wer sollte wo lernen?, werde ich gefragt. Ich finde es unangenehm darauf zu antworten, weil meine Antwort nur vermessen sein kann. Wie könnte ich darüber urteilen, wer wo lernen sollte, selbst wenn ich dies – im Rahmen dieses Essays – theoretisch könnte, als Gedankenexperiment. Die Implikation dieser Frage ist wahrscheinlich, dass ich als migrantisches Arbeiterkind schreiben soll: Wir brauchen mehr migrantische Arbeiterkinder im Kulturbetrieb, weil der Kulturbetrieb in Deutschland eine homogene Masse ist – zumindest kann ich das dem Literaturbetrieb attestieren. (Der Literaturbetrieb, auch im Jahr 2020, ist immer noch elitär, weiß, bürgerlich und sehr geschlossen, obwohl aufgeschlossener als zum Beispiel die Kunstszene, aber deutlich biederer als die Musikszene).

Wer sollte wo lernen? Ich habe keine Antwort, aber ein paar Gedanken. Ich denke: Zumindest gibt es einen sehr schmalen Korridor für solche Schriftstellerinnen wie mich, die kein Kreatives Schreiben studiert haben und ohne Netzwerk, trotzdem in der deutschen Gegenwartsliteratur einen Platz zugewiesen (!) bekommen. (Die Besprechungen meiner Bücher, die Interviews und Lesungen, die Anfragen lassen mich zu dem Schluss kommen: Ich bin eine Vertreterin einer Art Nischenliteratur, aber nicht der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und jede weitere Erwähnung und Auseinandersetzung damit führt nur zu weiteren Verstrickungen.) Wie kommt es, dass der Literaturbetrieb in Deutschland aus einer homogenen Masse besteht?, könnte eine selbstkritische Frage sein, die man sich stellte, würde einem die Homogenität auffallen. Auf der Bühne scheint zumindest seit den letzten Jahren die Homogenität aufgebrochen worden zu sein, aber hinter der Bühne werkeln immer noch ähnliche Akteure wie vor zwanzig und dreißig Jahren.

Karosh Taha: Was mache ich eigentlich hier?

Ich denke: Würde man den Kanon abschaffen, würde man Goethe und Schiller und Büchner für eine Dekade aus dem Gedächtnis löschen, würde auch der Betrieb aufhören, nach der Stimme einer Generation zu suchen, endlich aufhören junge Männer, die nichts zu sagen haben, diese jungen Bohémien, diese Chirurgensöhne, zu feiern. Ich kenne die Gefühls- und Gedankenwelt dieser jungen Männer, in wie vielen Variationen soll ich das noch lesen? Keiner wird den nächsten Werther schreiben, er wurde schon geschrieben. Wenn ich auf meine eigene Schreibbiographie schaue, sehe ich nur Frauen, die dafür gesorgt haben, dass ich schreibe, angefangen bei meiner Mutter bis Sandra Cisneros, dann Toni Morrison und Zadie Smith bis hin zu Shida Bazyar.

Ich weiß: Diversität als Marketingtool ist zu verachten, weil es die reelle Struktur nicht verändert, sondern kosmetische Veränderung ist. Senthuran1 schreibt mir: Das Austauschen des Personals in einem Text, und der Marker, ist keine neue Literatur sondern nur Repräsentationspolitik. Ich like seine Nachricht. Wenn statt Kaffee Chai getrunken wird, wenn statt Alex Ahmet da steht, wenn Alltagsrassismus den Text schmückt, aber der Text in seiner Grundstruktur sich kaum von anderen Texten unterscheidet, stellt sich die Frage: Warum schreiben? Stell dir vor, du schreibst nicht für ein deutsches Publikum, sondern du schreibst. Wie würdest du schreiben? Stell dir vor, niemand wird deinen Text lesen, stell dir vor, du bist die einzige Person, die den Text lesen würde, würdest du immer noch deinen Text dir selbst erklären? Ich habe mich dessen auch schuldig gemacht: In meinem Roman »Beschreibung einer Krabbenwanderung« erzählt die Protagonistin, im Irak würde man wegen der erdrückenden Sommernächte auf dem Dach schlafen, und man könnte auf den Dächern schlafen, weil diese flach sind.2 Als ich das geschrieben habe, schrieb ich für ein deutsches Publikum, das möglicherweise (!) nicht weiß, dass Menschen im Irak auf dem Dach schlafen und dies auch architektonisch möglich ist. In dem Moment habe ich verraten, für 1 2

Weitere Informationen zu Senthuran Varatharajah unter: https://www.fischerverlag.d e/autor/senthuran-varatharajah-1007630. Vgl. Taha, Karosh: Beschreibung einer Krabbenwanderung, Köln: DuMont Verlag, 2018.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

wen ich schreibe, zu wem ich spreche; nämlich zu einem ausschließlich eurozentrischen Publikum, das sich nicht die Mühe macht, herauszufinden, wie die Architektur in Westasien ist. Ich sehe das bei vielen Kolleg*innen, die etwas erklären, was sie nicht erklären müssten, wenn sie zu mir sprechen würden. Unbewusst schreiben wir also für ein Publikum, das uns nicht verstehen wird. Die Rezeption der Arbeit von migrantischen Schriftsteller*innen entlarvt, wie diese Literatur verstanden wird. (Und auch dieser Essay richtet sich größtenteils an ein ignorantes Publikum.) Es ist völlig egal, worüber ich schreibe, das deutsche Publikum wird immer darin eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen lesen – die Abwesenheit ›deutscher‹ Figuren, der deutschen Geschichte und Diskurse ist eine sehr bewusste Entscheidung von mir als Schriftstellerin, es ist keine politische Entscheidung, sondern eine dramaturgische, für die Themen, die ich behandle (nicht Integration, nicht Rassismus, nicht Ankommen, nicht Fremdgefühle) brauche ich schlicht und ergreifend nichts spezifisch Deutsches außer Deutsch. Eine Rezensentin schreibt über mein zweites Buch und über mich, ich müsste als Schriftstellerin noch beweisen (sic!), dass ich über andere Figuren und Themen schreiben kann als über junge Migrantinnen, die zwischen den Kulturen und Geschlechterstereotypen ihre Identität suchen. Das, worüber ich schreibe, wird nicht gesehen, weil migrantische Figuren ohne den Kulturkonflikt nicht existieren können. Die Abwesenheit des ›Deutschen‹ scheint das Publikum derartig zu stören, dass sie diese Abwesenheit als Konflikt lesen, als eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen. Eine Redakteurin verrät mir, ihre Kollegin wollte mein zweites Buch nicht lesen, weil es wieder um ›Kurden‹ geht. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schreibt, der Wissenschaftsbetrieb vernichtet die Wissenschaft, ich denke: Auch der Literaturbetrieb vernichtet die Literatur.

Karosh Taha: Was mache ich eigentlich hier?

Angefangen bei den berühmten Ärztekindern in Schreibschulen (s. KesslerDebatte3 ) bis hin zu einem sehr primitiven Verständnis von Literatur als Identitätspolitik in der Rezeption. Ich schicke die Rezension meiner befreundeten Kollegin Rasha,4 sie antwortet mir lang und ausführlich – erzählt von ihren Erfahrungen und zwischen all ihren Sätzen stechen zwei besonders hervor:

Du schreibst, was du schreiben musst. Es ist zu viel Arbeit, um Kompromisse einzugehen. Wenn es einen Grund zum Schreiben gibt, dann um eine neue Sprache, einen neuen Ausdruck für das zu finden, was da ist oder was nicht da ist. Toni Morrison schreibt, Literatur sei eine »alternative language« als die Sprache, die uns tagtäglich umgibt. Wir müssen in die Lage versetzt werden, in einer anderen Sprache zu schreiben, in die Grammatik einzudringen, nicht der Alltagssprache zu verfallen, die Sprache, wie sie gesprochen wird zu brechen, in den Spalt zu schauen und das Gebrochene zu entdecken, gebrochen Deutsch zu schreiben. Mittlerweile haben auch die Verlage verstanden, dass man nicht Kreatives Schreiben studiert haben muss, um schreiben zu können, aber es hilft für ein zukünftiges Netzwerk, es hilft auch, um diesen Betrieb zu verstehen und dann lese ich einen Tweet von dem Lektor Florian Kessler, der sich als Gatekeeper bezeichnet, weil er einen Debütroman über Obdachlosigkeit als »zu intrinsis ch und umfangreich und zu kompliziert«5 empfand und deswegen ablehnte. Intrinsisch bedeutet hier: Es bedient nicht meine Vorstellung davon, was Obdachlosigkeit ist oder auch meine Vorstellung davon, was die Kaufkräfte sich unter Obdachlosigkeit vorstellen: Es bedient nicht meine Vorurteile.

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Vgl. Kessler, Florian: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! (Stand: 16.04.2014). https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch [16.11.2022]. Weitere Informationen zu Rasha Khayat unter: https://www.dumont-buchverlag.de/a utor/rasha-khayat/. Kessler, Florian (Datum unbekannt) [Tweet]. https://twitter.com/f_kess/status/135006 8291679776769 [27.01.2021].

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Wie viele Schriftsteller*innen wurden und werden verhindert, weil ihre Arbeit als ›intrinsisch‹ beurteilt wird? Wahrscheinlich so viele wie es Chirurgensöhne in den Verlagen gibt. We hunger for a way to articulate who we are and what we mean. Toni Morrison, wieder. Ich denke an die kurdische Künstlerin Zehra Doğan, die im türkischen Gefängnis mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, malte.6 Kunst war für sie kein Luxus, sondern ihre Rettung, vielleicht sogar Rettung davor wahnsinnig zu werden, ganz sicher. Kunst ist eine Notwendigkeit, für diejenigen, die es erschaffen. Kunst ist Ausdruck, keine Pose. Das Beispiel soll nicht zu dem Vorurteil beitragen, leidende Künstler*innen wären die besseren Künstler*innen. Trotz der widrigsten Umstände entsteht Kunst, aber möchte das »Land der Dichter und Denker« wirklich die widrigsten Umstände als Arbeitsalltag für Künstler*innen akzeptieren? Ich weiß: Kunst ist kein Luxus, den ich mir erlaube, sondern eine Notwendigkeit; Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.

Das Essay von Karosh Taha wurde bereits 2021 im Band »Literatur & Brotjobs«, herausgegeben von Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt und Christoph Wenzel, abgedruckt.

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Vgl. Gast ArbeiterIn: Blut macht erfinderisch. Über die Journalistin und Malerin Zehra Doğan (Stand: 29.04.2019). https://renk-magazin.de/zehra-dogan/ [16.11.2022].

Eine neue Sprache Sarah Elisabeth Braun

Neu. Relevant. UND divers. Das sind Adjektive, derer sich die Kulturpraxis gerne bedient. Ob derartige Beschreibungen zutreffen und wenn ja, aus wessen Perspektive, das sind Fragen, die ich mir beim Blick auf die deutschsprachige und größtenteils weiße Kunstund Kulturszene regelmäßig stelle. Neu? Vielleicht. Relevant – für wen? Divers – weshalb/inwiefern? Dass ein Transformationsbedarf besteht, um Kunst und Kultur für verschiedene Gruppen relevant und zugänglich zu gestalten, steht für mich außer Frage. Die Frage danach, wie sich eine kulturpolitische Neuausrichtung gestalten ließe, bedarf allerdings einer eingehenden Auseinandersetzung. Meine Einschätzung dazu, was konkret getan werden muss, damit marginalisierte Gruppen in der Kulturpraxis sichtbarer und hörbarer werden, ist keine, die nicht schon viele betroffene Menschen vor mir vorgenommen hätten. Ich werde mich im Verlauf dieses Textes daran versuchen, über eine Handlungsanleitung hinaus meine Utopie für diese Freiräume zu formulieren. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als seien Utopien leicht zu formulieren, jedoch wenig zielführend. Aus meiner Perspektive ist es so, dass wir auch in der Kunst nichts anderes tun: Wir schaffen Möglichkeitsräume, um damit Perspektiven auf eine Welt zu öffnen, die zu gestalten immer wieder neu möglich ist. Wenn ich hier also meine Utopie formuliere, dann, weil ich davon überzeugt bin, dass sich innerhalb der schriftlichen Auseinandersetzung schon Strukturen und Arbeitsansätze etablieren lassen, die in der Praxis wünschenswert wären.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Kurz: Die Zukunft lässt sich beeinflussen, indem mensch die Utopie jetzt zu denken und zu formulieren vermag. Damit verlangt die Zukunft der Gegenwart stets viel ab. Möglichkeitsräume zu imaginieren hat für mich also immer etwas mit Mut zu tun, nie mit Naivität. Mut in der Gegenwart, an den »äußersten Rand« (May Ayim, 1990, S. 92) des Möglichen zu gehen, um damit die bestmögliche Zukunft greifbar werden zu lassen. Diesen Mut sollten vor allem jene, die das Privileg haben, diese Räume und Arbeitswelten neu zu definieren, finden. Mein Blick auf diesen Themenkomplex ist erneut ein privilegierter. Beinahe bin ich geneigt, mich als zu deutsch, zu reich, zu heteronormativ einzuordnen, um mich an diese Fragestellung zu wagen. Beinahe. Denn natürlich liegen auch für mich als junge Schwarze Frau, die sich in entsprechenden Kontexten bewegt, Betroffenheiten und Erfahrungswerte vor. Einen meiner Erfahrungswerte hat Nayyirah Waheed bereits wie folgt auf den Punkt gebracht: »in your arrogance you presume that i want your skinny language. that my mouth is building a room for it in the back of my throat. it is not.« 1 In eurer Arroganz nehmt ihr an, dass ich eure dünne Sprache möchte. Dass mein Mund einen Raum dafür in seinem Rachen bildet. Er tut es nicht. Dieses Zitat der afro-amerikanischen Poetin fasst meine persönlichen Erfahrungen im Kulturbetrieb perfekt zusammen. Es geht in diesem Zitat zwar ganz konkret um alltägliche Sprache – doch lässt es sich auch gut auf die Sprache, den Diskurs übertragen, auf den sich der deutschsprachige Kulturbetrieb geeinigt zu haben scheint.

1

Waheed, Nayyirah. salt., North Charleston: CreateSpace Independent Publishing Platform, 2013.

Sarah Elisabeth Braun: Eine neue Sprache

Der normative Kulturbegriff ist innerhalb dieses Diskurses scheinbar immer noch Teil des Selbstverständnisses. Das geltende Verständnis davon, was Kunst ist, wer sie wie in welchem Rahmen schafft und wer eben auch nicht, fußt auf der Annahme, es gäbe nur einen Diskurs, eine Sprache in der zu erschaffen ›richtige Kunst‹ möglich sei. Zu erwarten, Menschen mit verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten seien daran interessiert, sich in einem von einer homogenen Masse geformten Raum zu bewegen, den dort geltenden Regeln zu folgen und sich nach ihnen bewerten zu lassen, ist tatsächlich arrogant. Davon auszugehen, dass sich nicht-weiße Künstler*innen an ein westliches Kunstverständnis anpassen und ihre Perspektiven dankbar in ein Narrativ zwängen, das sie in eindimensionaler Weise zeigt, ist absurd. Zu glauben, dass die Aneignung von Worten, Praktiken und Ästhetik mit Freude aufgenommen und als Annäherung und respektvolle Begegnung wahrgenommen wird, ist sprechend. Es ist sprechend für das neokoloniale Gedankengut, dass viele weiße Menschen auch im Kulturbetrieb verinnerlicht haben.

Doch wie ist dem beizukommen? Ich könnte jetzt vorschlagen, andere Gruppen in die Räume einzuladen, die staatlich gefördert werden, innerhalb derer mensch Kunst schaffen kann. Das sei wichtig, da Kunst sich immer denjenigen öffnen sollte, die eines Schutzraumes bedürfen. Ich könnte an dieser Stelle außerdem formulieren, dass es unabdingbar ist, neue Stoffe auf die Spielpläne zu setzen, damit sich endlich auch die Geschichte(n) migrantischer Menschen auf den Bühnen wiederfinden. Ich könnte fordern, die Leitungsebenen divers zu besetzen und die Regieund Dramaturgie-Teams sowieso, damit die Machtgefälle endlich schrumpfen. Ich könnte verlangen, dass es Workshops geben muss. Und Expert*innen an jeder Kultureinrichtung, die dafür bezahlt werden, dass sie die Strukturen, auf denen die Diskriminierung(en) fußen, sichtbar machen und an ihrer Auflösung arbeiten. Sodass dadurch eine ganz direkte Umverteilung der (finanziellen) Ressourcen stattfinden könnte. Dass für solche Umverteilungsprozesse zusätzliche Stellen geschaffen und besetzt! werden müssen, ergibt sich daraus ebenfalls.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Ich könnte auch formulieren, dass ich von Ausbildungsstätten erwarte, dass sie es sich zur Aufgabe machen, marginalisierende Strukturen zu erkennen und ihnen in Form von Quoten entgegenzuwirken. Dass es IMMER mehrsprachige Angebote geben muss, dass sich auch künstlerische Studiengänge darum bemühen müssen, zugänglich für Menschen mit Fluchtgeschichte zu sein, dass Klassismus und intersektionale Betroffenheit immer eine Rolle dabei spielen, wie zugänglich (Ausbildungs-)Orte sind und deshalb stets beides mitgedacht werden muss; dass kulturelle Einrichtungen auch finanziell zugänglich sein müssen (und dass das nicht den Wert der Kunst mindert!); dass ein ermäßigtes Studierendenticket keine Lösung ist, sondern erneut Klassismus reproduziert; dass, dass, dass…

Das alles wurde aber schon oft formuliert. Für mich ergibt sich: Eine Gesellschaft, die sich so zögerlich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem daraus resultierenden Rassismus auseinandersetzt, hat kein übergroßes Interesse an derartigen Veränderungen. Kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen, die sich bezüglich der Rückgabe von Raubkunst so zurückhaltend oder gar unwillig zeigen, sind keine Instanz, der ich eine tatsächliche Auseinandersetzung zutraue. Dennoch hoffe ich genau darauf.

Ich hoffe – oder bestehe auf meine Utopie, denn: Ich werde keinen Raum mehr für euren dünnen Kunstbegriff in meinem Rachen oder in meinem Geist bilden. Ich fordere ein Neudenken dessen, was Kunst ist. Eine neue Definition, die von all denen mitgestaltet wird, die sich vorher außerhalb des Rahmens bewegen mussten. Die sogenannten »Problemkinder«, die »Migrant*innen«, die »Armen«, die Nicht-binären und die Transpersonen, die, die be_hindert werden, die Rom*nja und Sinti*zze. Weiße, bürgerliche, intellektuelle Kulturschaffende: Hört auf, den Raum zu vereinnahmen. Und dann gütig eine Nische zur Verfügung zu stellen, als gelte es, ›Entwicklungshilfe‹ zu leisten. UND als wüsstet ihr nicht, dass sich Kunst eben nicht in zugewiesenen Nischen schaffen lässt. Künstler*innen wissen doch am besten, dass sich Kunst Bahn brechen muss, Raum braucht, sich

Sarah Elisabeth Braun: Eine neue Sprache

nie endgültig definieren lässt, sondern mäandert und immer wieder neu sein wird. Mehr diverse Menschen in die bestehenden Räume einzuladen, kann helfen. Ihnen Raum zu geben, sie dort mit einzubeziehen, wo Entscheidungen getroffen werden und ihnen die Möglichkeit zu geben, Einfluss zu nehmen, ist sicher ein Teil der Lösung. Wichtiger als all das ist jedoch das Eingeständnis, dass die Deutungshoheit darüber, was Kunst ist, sich nicht weiterhin auf eine privilegierte Klasse beschränken darf. Da wo entschieden wird, welches Narrativ dominiert, da wo entschieden wird, wer diese Deutungshoheit innehat und da, wo die Entscheidung fällt, eine höchst subjektive, historisch gewachsene Wahrnehmung zum Maßstab dessen werden zu lassen, was zu bewerten niemals objektiv möglich ist, da stoßen wir auf die Wurzel des Problems. Da stoßen wir auf White Supremacy. Meine ganz banale Utopie ist also die Überwindung dieses Überlegenheitsgefühls. Die Dekolonialisierung des Geistes mit allem, was dazugehört.

Relevante Kunst entsteht da, wo Menschen Dinge verarbeiten, den Schmerz, die Wut, die Liebe mit Inbrunst zu etwas formen. An den Gefühlen und Erfahrungen herummeißeln. Dieser Vorgang begegnet mir so viel mehr da, wo Menschen tatsächlich betroffen sind. Der einzig schlüssige Weg, um der Kulturpraxis nicht ihre Relevanz abhandenkommen zu lassen, ist dorthin zu gehen, wo die Kunst passiert, die so oft übersehen wird. Und dort ein Theater zu bauen, dass den Schauspieler*innen und dem Schauspiel entspricht. Eine Konzerthalle für die Musik, der so oft die Musikalität aberkannt wird, die angeeignet, vereinnahmt und ausgebeutet wurde. Eine Fläche für die Performance, die für viele weiße Menschen nicht lesbar erscheint, bedient sie sich doch anderer Codes, einer anderen Sprache. Also: Lernt eine neue Sprache. Jede neue Sprache eröffnet ja bekanntlich eine neue Welt. Lernt eine neue Sprache. Lauscht aufmerksam auf die neuen Laute, habt Geduld, lasst euch Zeit zu erkennen, dass die neue Sprache nur neu für euch und mindestens genauso komplex ist, wie die, derer ihr euch sonst bedient.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Und verlernt die Arroganz, zu glauben, marginalisierte Menschen würden weiterhin Raum für euer Kunstverständnis und eure Begrifflichkeiten bilden. Das tun wir nicht. Unsere Sprache. Unsere Welt. Unsere Kunst. Deutungsräume für alle. Deutungshoheit für niemanden.

Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen Donat Blum

Ich sitze am Schreibtisch, arbeite an »Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften« und ärgere mich, dass sich schreibende Kolleg*innen nicht stärker kulturpolitisch engagieren. Ich ärgere mich, weil auch ich lieber an meinem Roman arbeiten würde und weil ich mich mal wieder allein fühle im Kampf für mehr (queere) Vielfalt in der deutschsprachigen Literatur. In manchen dieser Momente bin ich wohl vor allem neidisch. Neidisch, dass sich meine Kolleg*innen auf ihre Kunst konzentrieren und ihre Energie ganz in ihre eigenen Bücher stecken können.

»Können«? Wer sagt denn, dass ich das nicht genauso tun kann? Ist es nicht meine Entscheidung, wie ich meine Prioritäten setze? Kann ich nicht frei entscheiden, wie sehr ich mich aufs literarische Schreiben konzentrieren möchte und wie sehr auf Kulturpolitik? Ich könnte sowohl mit Ja als auch Nein antworten. Die präziseste Antwort dürfte folglich wohl in der Mitte liegen oder noch wahrscheinlicher: im Sowohl-als-auch. Natürlich kann ich meine Prioritäten frei setzen. Aber genauso natürlich gibt es neben meiner Sozialisierung auch Strukturen, die mich (in meiner Wahlfreiheit) einschränken: Heterosexuelle cis Lektor*innen und Journalist*innen glauben sich mit queeren Texten nicht identifizieren zu können: Wenn queer, dann vielleicht wenigstens bisexuell? Natürlich werde ich mit einem queeren Roman nicht in ländliche Gegenden eingeladen, wenn dort nicht gerade eine queere Person federführend organisiert. Natürlich sagt die Buchhändlerin der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einem Bekannten vor wenigen Tagen beim Kauf

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

meines Buchs Opoe1 ins Gesicht: »Dieses Gender-Thema interessiert mich nicht. Und ich sage Ihnen eines: Ich habe gegen die Ehe für Alle gestimmt.« Und natürlich wurde ich von Eltern, der Schule, Jugendorganisationen und dem öffentlichen Diskurs erzogen, meine Queerness nicht an die große Glocke zu hängen.

»Einzelfall! Subjektive Erfahrung! Nabelschau!« Viel lieber würde ich denn auch schlagkräftige Statistiken oder Forschungsergebnisse anführen. Aber selbst da wirkt die strukturelle Diskriminierung von Queerness: Natürlich scheint kein Mensch im Literaturbetrieb auf die Idee zu kommen oder sich dafür zuständig zu fühlen, in kulturpolitischen Untersuchungen – noch nicht mal in Studien zu Geschlechtergerechtigkeit2 – auch Autor*innen, Figuren und Narrative außerhalb eines binär-heteronormativen Schemas zu berücksichtigen. Rundherum scheint zu gelten: Queeres geht nur Queere etwas an.

Beginnen wir beim Begriff »natürlich«. »Queer« kann als Sammelbegriff für die Identitäten aller LGBTIQ+-Personen verwendet werden. Noch viel mehr beschreibt queer aber den Akt, Strukturen und Normen zu reflektieren und hinterfragen. In der schriftstellerischen Arbeit. Im privaten Tun (das Private ist politisch!). Und im folgenden Versuch eines Queering des literaturpolitischen Diskurs: Natürlich ist es nicht natürlich, dass queere Menschen und Themen ausgeschlossen werden. Nicht nur aus moralischen Gründen sollte es grundsätzlich nie natürlich sein, Menschen aufgrund von tatsächlicher oder fiktionaler Gruppenzugehörigkeit auszuschließen. Menschen sind Rudeltiere, soziale Wesen,

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Vgl. Blum, Donat. Opoe, Berlin: Ullstein Verlag, 2018. Vgl. Deutscher Kulturrat: Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien – Deutscher Kulturrat legt Forderungskatalog vor. (Stand: 10.08.2020). https://www.kultu rrat.de/presse/pressemitteilung/geschlechtergerechtigkeit-in-kultur-und-medien/ [10.11.2022].

Donat Blum: Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen

veranlagt zu Solidarität und Gemeinschaft. Menschen wollen Teil sein, geliebt werden und dazugehören. Sagen cis-heterosexuelle Menschen »natürlich«, meinen sie in der Regel auch eher »normal«. Aber auch hier gilt: So normal, wie es sein sollte, dass ich als queere*r Schriftsteller_in künstlerische Entscheidungen eigenständig nach meinem inneren Kompass fällen kann, so sehr ist es unserer Gesellschaft über Jahrhunderte zur Norm geworden, queere Menschen daran zu hindern, sich und ihre Narrative zu entfalten. Es sei mir erlaubt, hier einen kleinen Exkurs einzufügen, der an dieser Stelle genau so queer zur Norm stehen soll, wie die gesetzliche Diskriminierung von Queers der breiten Bevölkerung fremd sein dürfte: Der Paragraph 175, der homo- und bisexuelle Männer in nationalsozialistischer Tradition für »widernatürliche Unzucht« kriminalisierte, wurde in Deutschland erst 19943 und in Österreich sogar erst 2002 abgeschafft. Das bevormundende sogenannte Transsexuellen-Gesetz4 ist in Deutschland weiterhin in Kraft. Und in der Schweiz wurde erst letztes Jahr mit voller Absicht Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität aus dem neuen Antidiskriminierungsgesetz5 gestrichen.

Um Normen zu hinterfragen, müssen wir sie zu aller erst erkennen und benennen. Zum Beispiel die im Kern konservative DNA des Literaturbetriebs: Der Literaturbetrieb ist eine der letzten gerade noch wirksamen gesellschaftlichen Institutionen, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Nicht wenige Verlage blicken auf eine über hundertjährige Tradition zurück. Das Buch als Medium presst (Sprach-)Kunst in eine stark reglementierte Form, die sich Zeit ihres 3

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Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: 1994: Homosexualität nicht mehr strafbar (Stand: 07.03.2014). https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/180263/199 4-homosexualitaet-nicht-mehr-strafbar/ [10.11.2022]. Vgl. Darida, Muri: »Die Message ist: Eure Existenz ist nicht genug wert« (Stand: 21.05.2022). https://www.zeit.de/zett/politik/2021-05/transsexuellengesetz-bundes tag-ablehung-groko-gesetzentwurf-gruene-selbstbestimmungsgesetz-tsg [10. 11.2022]. Vgl. Ziegler, Rita: LGBTIQ*-Menschen erleben in der Schweiz trotz politischer Entwicklungen immer noch Diskriminierung (Stand: 14.12.2020). https://nachrichten.idw-onl ine.de/2020/12/14/lgbtiq-menschen-erleben-in-der-schweiz-trotz-politischer-entwic klungen-immer-noch-diskriminierung [10.11.2022].

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Bestehens kaum verändert hat. Entsprechend hinkt progressives Denken in aller Regel selbsterhaltenden Maßnahmen hinterher.

Selbst Publikumsverlage wagen der existenziell bedrohlichen Zukunft6 wegen nur ein Minimum an Risiko. Feuilletonist*innen, Buchhändler*innen und Autor*innen sind ganz damit beschäftigt, für den Erhalt ihres Wirkungsbereiches zu kämpfen: die Zeit zum Schreiben, den Erhalt der Buchläden, die Finanzierung des Kulturressorts. Nahezu in allen Bereichen des Literaturbetriebs fehlt es an Raum zum Scheitern und für Wagnisse, selbst für Wagnisse, die nicht größer wären, als über den eigenen binären, heteronormativen Tellerrand hinaus zu blicken. Die meisten Leute, die ich im Literaturbetrieb kennen gelernt habe, meinen es im Grunde gut. Sie wollen aufgeschlossen sein und sind es oft auch stärker, als es ihnen der Betrieb erlaubt. Bei Queerness endet allerdings auch bei ihnen meistens die Fantasie – um absolut aus dem Zusammenhang gerissen und nur sinngemäß Christian Lindner zu zitieren. Und es fehlt das grundlegendste Wissen: 1. »Queer« ist eine politische Selbstbezeichnung. Die LGBTIQ+-Community hat sich die einst abwertend gemeinte Fremdzuschreibung in einem Akt der Selbstermächtigung angeeignet.7 2. »Queer« kann als Sammelbegriff alle LGBTIQ+-Identitäten beschreiben oder aber die gesellschaftspolitische Haltung beziehungsweise den politischen Akt, aus einer marginalisierten Position heraus binäre Heteronormen infrage zu stellen, mit ihnen zu spielen oder sie über den Haufen zu werfen – insbesondere, was gesellschaftliche Reglementierung von Liebe, Sexualität, Beziehungen und Geschlechtsidentität angeht.8

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Vgl. Franzen, Johannes: Das Ende vom Buch (Stand: 23.12.2019). https://www.zeit.de/ kultur/literatur/2019-12/lesen-app-blinkist-allgemeinbildung-digitalisierung-bueche r-klassiker [10.11.2022]. Vgl. Diversity Arts Culture: Queer. https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/q ueer [10.11.2022]. Vgl. Queerulant_in e.V.: Vielfalt verstehen. Eine kleine Einführung in queere Begriffe (Stand: Dezember 2019). https://www.queere-jugendarbeit.de/wp-content/uploads/2 020/10/QueereFibel_148x148_final_Web.pdf [10.11.2022].

Donat Blum: Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen

3. Spreche ich von »queerer Literatur« ist insbesondere Letzteres gemeint. Und damit sind wir bei der Ursache allen Übels angelangt: Bei der vorherrschenden Vorstellung, Queeres gehe nur Queere etwas an.

Wird die Queerness eines Buches oder einer Autor*innenstimme ignoriert, wie es letzten Herbst (Anm. d. Red.: 2021) wieder in geschätzt neun von zehn Besprechungen von »Blaue Frau« – mit dem Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis gewonnen hat – getan wurde, wird eine zentrale sozialpolitische Dimension des Werkes ausradiert. »Blaue Frau« ist nicht nur ein Buch über die »feine Linie zwischen Ost und West«.9 »Blaue Frau«, wie Strubels gesamtes Werk, ist auch wesentlich davon geprägt, dass es gegen großen Widerstand angeschrieben wurde: gegen oder trotz des Patriarchats und der ihm immanenten Queerfeindlichkeit.

Gegen die Ignoranz der Dominanzgesellschaft Queerness und uns queeren Menschen gegenüber. Glücklicherweise hat sich Antje Rávik Strubel – eine der wenigen nun etablierten öffentlich queeren deutschsprachigen Autor*innen – von dieser Gleichgültigkeit nie definitiv abschrecken lassen. Im Gegenteil: Sie hat sich jahrzehntelang immer wieder Raum erkämpft – der weder von der Gesellschaft noch vom Literaturbetrieb für sie als queere Frau, ihren queeren Blick und ihre erzählten queeren Lebensrealitäten vorgesehen war. Und falls doch, dann höchstens in der Nische, im berühmt-berüchtigten LGBT-Regal, das noch heute neben den Erotika oder den Psychische Gesundheitsthemen hinten in der Schmuddelecke des einen oder anderen Buchladens zu finden ist. Strubel hat gekämpft. Sich mit der Hilfe von wenigen Verbündeten immer wieder selber ermächtigt. Und schon vor 20 Jahren gemacht, wozu Michelle Obama heute in der Netflix-Dokumentation »Becoming«10 marginalisierten Jugendliche ermutigt: »[…] share our stories, our real stories, that’s what bre aks down barriers. But in order to do that you have to believe it has value.«11 9

10 11

Schellbach, Miryam: Hopphopp, weiterleben (Stand: 18.10.2021). https://www.zeit. de/2021/42/blaue-frau-antje-ravik-roman-europa-zweiklassengesellschaft-literatur [10.11.2022]. Hallgren, Nadia: Becoming [Film], United States: Netflix, 2020. Shand-Baptiste, Kuba: Watching Michelle Obama’s ›Becoming‹ film is a reminder that we need to keep vital conversations going (Stand: 16.05.2020). https://www.ind

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Für cis-heterosexuelle Autoren ist es selbstverständlich, dass sie Bücher schreiben. Sie sind vom Wert ihrer Geschichte überzeugt und kriegen das täglich so bestätigt: Ob sie stehend oder sitzend pinkeln entscheidet über das Glück dieser Welt. Ob sie sich durch einen Gender-Stern im Lesefluss gestört fühlen oder es anstrengend finden, Menschen nach ihren bevorzugten Pronomen zu fragen, erst recht. Dass wir queeren Menschen schreiben und uns von all den Widerständen – insbesondere der vorherrschenden Gleichgültigkeit – nicht abschrecken lassen, ist es nicht.

Mir geht es aber längst nicht nur um (Selbst-)Ermächtigung. Die Annahme »Queeres gehe nur Queere etwas an« stimmt auch schlicht und einfach nicht. Wir alle leben im Patriarchat und werden von Normen bestimmt, die unserem persönlichen Glück im Weg stehen und uns als Gesellschaft auseinanderdividieren statt aufeinander zu zuführen. Dagegen helfen würde die herausragende gesellschaftspolitische Stärke von Literatur: Sie vermag es erwiesenermaßen, Empathie zu fördern.12 Und sich in die Haut des Gegenübers versetzen zu können ist die Grundlage jeglicher Verständigung. Queere Literatur behandelt Geschlechter- und Beziehungsnormen, die vom klassisch heteronormativen Mann-Frau-Kind-Muster abweichen. Das betrifft uns alle, oder Hand aufs Herz: wer fühlt sich tatsächlich wohl im 50er-Jahre Idyll der vermeintlich gewaltfreien, patriarchalen Kleinfamilie? Als Queers können wir aus Erfahrung berichten, dass sich von Normen zu lösen, um Platz für Lebensentwürfe zu schaffen, die tatsächlich zu einem passen, sich befreiend und ausgesprochen lustvoll anfühlt. Würde der deutschsprachige Literaturbetrieb in Zukunft vermehrt mit all diesem Wissen an queere Konzepte, Manuskripte und Bücher herantreten, würde sich nicht nur uns queeren Autor*innen endlich mehr Spielraum für Selbstermächtigung und Zeit zum literarischen Schreiben (statt kulturpolitischem Rechtfertigen unserer Existenz) eröffnen. Die deutschsprachige Literatur würde – davon bin ich überzeugt – auch wesentlich bereichert:

12

ependent.co.uk/voices/michelle-obama-becoming-documentary-netflix-coronavirus -bame-inspiration-a9518126.html [10.11.2022]. Vgl. Oberhauser, Lia: Einfühlsame Bücherwürmer (Stand: 04.10.2013). https://www.sp ektrum.de/news/einfuehlsame-buecherwuermer/1209260 [10.11.2022].

Donat Blum: Warum queere Geschichte*n uns alle betreffen

Um neue Dimensionen von Historizität, um lustvollen Verbindungen, um gesellschaftlicher Relevanz und vor allem um ungehörte, tiefgreifende und leidenschaftliche Geschichten.

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Kunst kann Barrieren versetzen Katrin Bittl

Die Kunst brauche ich wie ein Fisch das Wasser. Einige Jahre hat es mich gekostet herauszufinden, weshalb das so ist. Weshalb es für mich keine andere Möglichkeit gab, als Künstlerin zu werden. Lange glaubte ich, ich könnte nur durch eine soziale Tätigkeit die Inklusion von Menschen wie mir verbessern, für meine Rechte als Frau mit Behinderung einstehen. Vor meiner Zeit an der Akademie der Bildenden Künste München war ich blind für die Rolle der Kunst im Zusammenhang mit Behinderung und Inklusion. Ich war den offensichtlichen Weg gegangen und hatte mich verirrt. Das Studium der sozialen Arbeit wurde zur Sackgasse. Ich erlebte die meiste Diskriminierung und Ausgrenzung genau dort, wo ich es am wenigsten erwartete: Unter Sozialarbeiter*innen und solchen, die es werden wollen. Unter diesem Druck brach ich mein Studium ab, kehrte zur Kunst zurück. Die Kunst, der Mensch als kulturelles Wesen und das Thema Behinderung stehen im Inklusionsdiskurs in einem engen Bezug zueinander. Weshalb schafft Kunst eine Brücke in eine inklusive Welt, die dennoch so utopisch und fern erscheint? Welche Rolle nehmen Künstler*innen mit Behinderung hierbei selbst ein und welche Aufgaben müssen der Kulturpolitik zugeschrieben werden? Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Anfänge an der Akademie der Bildenden Künste. Voller Ungläubigkeit, aber auch mit einer großen Portion Verbitterung war ich damals aufgenommen worden. Mit all meinen diskriminierenden Erfahrungen aus dem Sozialarbeitsstudium im Gepäck kam ich an und zweifelte an meiner Entscheidung, mich der Kunst hinzugeben: »Wie komm ich bloß dazu, Kunst zu studieren? Wieso habe ich alles hinter mir gelassen, um Künstlerin zu werden?«. Schon zu meinen Förderschulzeiten hatte man mir mit der Kunst keine rosige Zukunft vorausgesagt. Meine übermäßige Ehrfurcht und Respekt vor diesem Ort spiegelten sich auch in dem wider, was ich damals von der Kunst

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

und mir selbst hielt. Eine Mischung aus »Wahnwitzig, sein Hobby zum Beruf machen zu wollen« und »Was habe ich als behinderter Mensch schon zu verlieren?«. Zunächst musste ich mich also einleben und meinen Platz an der Akademie, in einem kleinen Universum voller Freigeister, Provokateur*innen und voller Andersartigkeit finden. Meine Behinderung trat in dieser Welt schnell in den Hintergrund, denn ich war nichts Besonderes mehr, lediglich eine von vielen Verschiedenen. Und obwohl ich mich in meinen Arbeiten mit meiner Behinderung beschäftigte, erhielt ich überwiegend Aufmerksamkeit für meine Fertigkeiten. Von Kindesbein an hatte ich mich über meine Behinderung definiert und wollte ein Augenmerk auf meinen politischen Kampfgeist legen. Doch niemand interessierte sich für meine defizitäre Selbstwahrnehmung oder meine politischen Absichten. Was mir zunächst unheimlich widerstrebte, wurde später zum Schlüssel dafür, was ich heute über mich, meinen Körper, aber vor allem über mein Leben als Künstlerin mit Behinderung denke. Mein Kunststudium befreite mich gewissermaßen davon, mich selbst um das immerwährende Thema meiner Behinderung zu drehen. Meine Behinderung, zentrales Merkmal meiner selbst, abzuschaffen, ist mir durch meine künstlerische Tätigkeit gelungen. Was in den Fokus geriet, war mein Können, weil meine Behinderung zur Selbstverständlichkeit wurde. Mein Alleinstellungsmerkmal war plötzlich nicht mehr mein Körper mit seinen Defiziten, sondern meine künstlerische Tätigkeit. Und genau das ist es, was die Kunst zu so einem starken Mittel gegen all die toxischen Vorurteile über Menschen mit Behinderungen macht. Vor dem Hintergrund der Ressourcen, die Kulturschaffende mit Behinderungen mitbringen, tritt die Behinderung in den Hintergrund. Der Mensch hinter der Behinderung wird sichtbar. Sichtbarkeit öffnet Türen in das Verständnis jener Menschen, die keine Berührung mit dem Thema Behinderung haben. Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass mein Nummer-eins-Eisbrecher meine Homepage ist. Lerne ich jemanden kennen, der*die mir gegenüber Berührungsängste zeigt, ist meine Homepage ein wahres Heilmittel. Ein kurzer Blick auf meine Leidenschaft und mein Gegenüber begreift, dass es keinen Grund gibt, mich zu bemitleiden: Es gibt hinter meinem Erscheinungsbild plötzlich mehr als das eindimensionale und flache Bild einer Behinderung. Die Sängerin mit Glasknochen und der Schauspieler mit Downsyndrom wären also ein wahrer Katalysator für ein neues Menschenbild. Es ginge dann

Katrin Bittl: Kunst kann Barrieren versetzen

beispielsweise um deren Musikalität oder darum, dass der Schauspieler die Rolle eines erwachsenen Familienvaters spielen könnte, ohne dass sein Downsyndrom zwingendermaßen Inhalt seiner Rolle sein muss. Die Kunst ist also durchaus in der Lage, Einblicke in den tatsächlichen und wahren Alltag dieser Menschen zu geben. Frei vom »Behindertenfilter«, der sich auf alles legt und vom ersten Augenblick an die Wahrnehmung verzerrt! Während im sozialen Bereich immer noch allzu oft ein medizinischer Blick von oben auf Menschen mit Behinderung geworfen wird, könnte man unter Kulturschaffenden gerade jetzt Morgenluft schnuppern. Die Vernetzung von Künstler*innen mit Behinderung und Institutionen nimmt zu. Das Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen wächst und die sozialen Medien richten ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf sie. Es wirkt geradezu, als würde die Stunde der Behindertenbewegung schlagen, weil die Solidarität untereinander ebenfalls steigt. Es täte sich also was! Wäre da nicht dieser täuschende Konjunktiv. Haben Sie ihn bemerkt? Er hat sich über die letzten Abschnitte hinweg eingeschlichen. Denn in den ausschlaggebenden Punkten hinken wir noch immer hinterher. Das Attribut ›inklusiv‹ geht zu leicht über die Lippen und bedeutet eben nicht ›all inclusive‹. Die Trägheit der Barrieren scheint schier endlos, sie selbst: stählern und betonschwer. Der Hype um Inklusion hat keinen langen Atem, denn die Mühe muss ernst gemeint sein! Die Kluft zwischen dem Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen und der Anpassung ihrer Umwelt wird immer größer. Nirgends bin ich auf mehr Offenheit, Bereitschaft an Veränderung mitzuwirken und auf Verständnis getroffen als im Kunstkontext. Leider reine Glückssache, denn oft hängt der gute Wille an Einzelpersonen. Die Benachteiligungen, behindert und Künstlerin zu sein, wiegen doppelt schwer. Viele Menschen, die eine Behinderung haben, sind gewohnt, sich im Alleinkampf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Eine unterstützende Familie, Bildung und finanzieller Rückhalt sind dabei absolute und entscheidende Privilegien, über die nur wenige verfügen. Genau hier muss sich politischer Einsatz noch deutlicher zeigen. Denn der Wille seitens der Institutionen zeigt sich durchaus! Aber eben viel zu selten. Künstlerin mit Behinderung zu sein, birgt also ein großes Gefühl der Unsicherheit, fordert viel Mut und kommt mir manchmal geradezu dekadent vor. Seinen Traum durchzusetzen, benötigt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, das mehr Zuspruch und weniger Bürokratie verlangt. Denn die

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Untiefen der Kunst bergen unfassbares Potential und viel Raum für noch viel mehr Inklusion!

Eine gerechte und inklusive Stadt durch Kulturpolitik Daniel Deppe

In der Serie Pretend It’s a City spricht die Autorin Fran Lebowitz mit Martin Scorsese in sieben Episoden darüber, was es für sie bedeutet, in New York City zu leben. In einer Folge sagt sie: »Wenn die Leute fragen: ›Warum lebst du in New York?‹, kannst du ihnen nicht wirklich antworten, außer dass du weißt, dass du Verachtung für Leute hast, die nicht den Mut dazu haben.«1 Es erfordert Mut, in einer Stadt zu leben. Die Stadt ist eine Dauerprovokation. Die Stadt bringt jede*n Einzelne*n dazu, die eigene Komfortzone zu verlassen. Mit anderen Bewohner*innen der Stadt kann die einzige (offensichtliche) Gemeinsamkeit der zufällig selbe Wohnort sein. Aber gerade das stellt auch den Reiz dar, in einer Stadt zu leben.

Kultur ermöglicht Begegnungen Dem Kontakt mit Fremdem wird eine wichtige Funktion in der persönlichen Entwicklung des Menschen zugesprochen. Es gehört zum Leben dazu, sich der Unvorhersehbarkeit auszusetzen und dem, was zunächst als ›anders‹ wahrgenommen wird, so lange zu begegnen, bis es vertraut wird. Kulturpolitik kann solche Begegnungen ermöglichen und vor allem kann sie sie unterstützen. Indem sie Räume schafft, in denen Menschen mutig sein können. Es muss daher kulturpolitisch oberste Priorität haben, Künstler*innen, Projekten und Initiativen, Räume der Begegnung und des Experiments zu schaffen. Bestehende Räume bewahren und retten allein genügt jedoch nicht. Es gilt, die Orte zu stärken, die durch ihre Niedrigschwelligkeit zur sozialen Inklusion beitragen und damit letztlich die Stadt gerechter machen. 1

Scorsese, Martin: Pretend It’s A City, New York: Netflix, 2021.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Insbesondere in den Städten außerhalb von Metropolregionen, in Kleinund Mittelstädten, muss Kulturförderung einen höheren Stellenwert einnehmen. Fördermittel sind dabei natürlich hilfreich. Viel entscheidender ist es aber, Künstler*innen und Kultureinrichtungen bei kommunalpolitischen Fragestellungen einzubeziehen: Wie können wir die Stadt für mehr Menschen attraktiver machen? Was muss die Stadt Jugendlichen nach ihrem Schulabschluss bieten? Wie lässt sich der Leerstand in den Innenstädten begegnen? Wie können Partizipation und bürgerliches Engagement gefördert werden? Auf all diese Fragen können Künstler*innen Antworten geben – durch Mut zum Experiment und durch unkonventionelle, agile Ansätze. Es braucht hierfür den Willen der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, einen offenen Austausch mit den Künstler*innen zu suchen. Es braucht eine Haltung der Stadtverwaltung, die vorgibt: Ihr seid willkommen mit euren Ideen. Wir unterstützen euch bei der Umsetzung. Um gehört zu werden, muss aber auch der Kulturbereich über den eigenen Tellerrand hinausblicken und ganz gezielt und vorurteilsfrei Allianzen mit anderen Gesellschaftsbereichen suchen. Nun, da der Einzelhandel in vielen Innenstädten brachliegt und Leerstand grassiert, sind mehr denn je neue Ansätze an der Schnittstelle von Kultur- und Wirtschaftsförderung notwendig.

Stadtentwicklung mit der Kultur Kultur darf in Kommunen nicht als nice to have gesehen werden, sondern muss wie selbstverständlich in allen Prozessen der Stadtentwicklung mitgedacht werden. Dazu gehört, dass sich die bestehenden Kulturorte für die Stadtgesellschaft öffnen und gezielt in die Städte, Kieze und Nachbarschaften wirken. Beispielhaft ist das Berliner EFRE-Programm »Bibliotheken im Stadtteil« (BIST), das Projekte in öffentlichen Bibliotheken, die Partnerschaften im Kiez schließen und dadurch neue Besucher*innen gewinnen, fördert. Es ist notwendig, solche an die Stadtgesellschaft gerichteten Förderprogramme zu eruieren und zu verstetigen. Junge Menschen sollten konkret in die Ausgestaltungsprozesse vor Ort durch auf sie zugeschnittene Beteiligungsformate, wie zum Beispiel Jugendparlamente, eingebunden werden, um über das Konzept und die Ausgestaltung von neuen oder bestehenden Kulturorten mitzuentscheiden. Dabei müssen vor allem aber nachhaltige, klimagerechte Ansätze gefunden werden, die die Interessen aller Bevölkerungsgruppen in der Stadt abwägen. Auch

Daniel Deppe: Eine gerechte und inklusive Stadt durch Kulturpolitik

hier können Kultur- und Kreativschaffende mit ihren Fähigkeiten in der Lösungsfindung einen wichtigen Beitrag leisten. Margarete Stokowski plädiert in ihrer Spiegel-Kolumne »Erst die Wohnung renovieren, dann die ganze Stadt«2 für einen stadtpolitischen Ansatz, der nicht die Steigerung der Konsumangebote, sondern das Schaffen von Begegnungsorten im städtischen Umfeld an erster Stelle positioniert. »Wer Komfort [wie einen Toilettengang, Anm. d. Red.] will, muss meist konsumieren«, schreibt sie. Zugängliche Orte, an denen Menschen ihre Freizeit verbringen können, brauche es. Für diese Orte gibt es vor allem in den Kleinund Mittelstädten viel Raum, der erobert werden will. Basale Kultureinrichtungen wie Öffentliche Bibliotheken, Musikschulen, Jugendkunstschulen und kommunale Museen, aber auch Volkshochschulen sind solche Orte, die Menschen von Klein bis Groß anregen, sich mit ihrer Umgebung zu befassen. Es sollte kommunalpolitischer Anspruch sein, diese Kulturorte so auszustatten, dass sie ihre Potenziale entfalten können. Dass dies in vielen Bundesländern nicht allein durch kommunale Ressourcen funktionieren kann, liegt auf der Hand. Hier müssen die kommunalen Verantwortlichen sich ganz gezielt um Fördermittel für ihre Kulturorte bei den Ländern, beim Bund, aber auch bei der EU bemühen. Insbesondere Bibliotheken wirken in die Stadtgesellschaft hinein. Sie ermöglichen Begegnungen in einem Raum, der von Vertrautheit geprägt ist, und sind Treffpunkt für Nachbarschaft und Kiez. Sie sind dabei viel mehr als Orte des Lesens und des Ausleihens von Büchern, sondern fungieren als Dritte Orte, in denen jede*r in gleichem Maße Zugang zu Bildung und Informationen hat. Durch das Treffen auf das/die Fremde/n in der Bibliothek sind Aushandlungsprozesse notwendig, die im besten Fall zu neuen Formen und Strukturen des Zusammenlebens und letztlich zu mehr sozialer Inklusion und Gerechtigkeit führen. Die Öffentliche Bibliothek steht in diesem Sinne charakteristisch für andere Kultureinrichtungen, die sich an die Stadtgesellschaft richten. Dabei sind die Mitarbeitenden in den Einrichtungen von zentraler Bedeutung. Sie sind die Seismografen für die gesellschaftliche Situation in der Stadt. Sie treffen auf Besucher*innen, die mit ihren Ängsten, Wünschen, Träumen und Hoffnungen in die Bibliothek, die Musikschule oder das städtische Museum

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Stokowski, Margarete: Erst die Wohnung renovieren, dann die ganze Stadt (Stand: 01.12.2020). https://www.spiegel.de/kultur/soziale-stadtplanung-erst-die-wohnung -renovieren-dann-die-ganze-stadt-a-8f42b4b4-d3fb-45ae-87a9-cb458742c6ae [10.11.2022].

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

kommen. Diese Stimmungen können die Mitarbeitenden in den Kultureinrichtungen wiederum in die Stadtgesellschaft transferieren.

Neue Relevanz für die Kulturpolitik in der Stadt Wenn die Kulturpolitik sich dieser bestehenden Ressourcen bewusst ist und sie gezielt einbindet, entsteht #neueRelevanz. Sie entsteht, wenn Kulturpolitik sich uneingeschränkt dafür einsetzt, die Stadt inklusiver und gerechter zu gestalten und wenn sie ihre Forderung nach einer mutigen Stadtpolitik, die alle einbindet, auch in Fragen der Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung deutlich macht.

Info-Proletarier*innen of the world, unite! Eva Tepest

Als es noch möglich war, sah ich den Darsteller*innen in Kay Voges’ »Don’t be evil« dabei zu, wie sie sich in der Volksbühne mal so richtig übers Internet auskotzten und dabei eine Reihe männlicher Medientheoretiker zitierten. »Das ist eine schlechte Parodie darauf, wie man sich in den 10er-Jahren Digitalität vorgestellt hat«, resümierte meine Begleiterin. Ein Jahr später sitze ich verzweifelt in einem Anfänger*innen-Kurs für die Programmiersprache Python. Ich weiß nicht, was das sein soll: ein Datentyp, eine Variable oder eine Schleife. Ich brauche eine Stunde, um meinen Namen zu schreiben. Beide Erfahrungen sind eng verknüpft – und sie sagen etwas darüber aus, mit welchen Vorannahmen wir uns dem sogenannten Digitalen nähern.

Mythos Big Tech Dass ich Berührungsängste vor Coding habe, liegt auch an den Mythen rund um digitale Technologien. Die ehemalige Google-Mitarbeiterin Meredith Whittaker kämpft für die Demystifizierung von Big Tech.1 Dazu zählt Whittaker den Mythos vom (zumeist männlichen) Genie. Oder magische Formeln, die normale Menschen (und besonders Frauen) niemals begreifen können. Oder sogar eigenständige Entitäten, die menschliche Arbeitskraft überflüssig machen. Zur digitalen Mythenbildung passt, dass sich auch Kulturarbeiter*innen von digitalen Technologien allzu oft Rettung oder Untergang erhoffen. Und

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Vgl. Taylor, Astra/Whittaker, Meredith: Demystifying Big Tech with Meredith Whittaker [Audio-Podcast], in: the Dig, 25. September 2020. https://thedigradio.com/pod cast/demystifying-big-tech-with-meredith-whittaker/.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

während sie in der semantischen Unschärfe zwischen AI, Algorithmus und Robotics versacken, produzieren sie staatlich gefördert eine Vielzahl sehr unterschiedlicher digitaler Produkte auf der Skala von »Kolonialwarenladen als digitales Erlebnis« bis zu einem von »tief lernende[n] Algorithmen und Künstliche[r] Intelligenz (KI) generierte[n] Tanzstück«. Dabei ist die Lernkurve in Sachen Tech-Mythen überraschend steil. So weiß ich schon nach ein paar Wochen Python-Kurs, dass Code != Algorithmus ist. Ich weiß, dass die Künstliche Intelligenz in Wahrheit ziemlich dumm ist und extrem viele Ressourcen braucht, um am Ende gefährliche sexistische und rassistische Muster zu reproduzieren.2 Und ich weiß, dass wir uns gegen die privatwirtschaftliche Vereinnahmung von Informationen stemmen3 und miteinander solidarisieren müssen.

Irgendwas mit Digitalität Vielleicht sollte Monika Grütters auch mal einen Python-Kurs besuchen. Die ehemalige Kulturstaatsministerin stand der Digitalität jedenfalls hoffnungslos emotional gegenüber. Im letzten Jahr warnte sie beim Digital-Gipfel der Bundesregierung vor der »Allgegenwart der Algorithmen« und der daraus folgenden »Verrohung des öffentlichen Diskurses«.4 Einen ganz anderen Tonfall schlug sie Anfang Dezember in einer Pressemitteilung an, in der sie forderte, »jetzt künstlerische und künstliche Intelligenz zusammenzudenken«.5 Von 2

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Vgl. Anyangwe, Eliza: Algorithms that run our lives are racist and sexist. Meet the women trying to fix them (Stand: 10.03.2020). https://thecorrespondent.com/339/al gorithms-that-run-our-lives-are-racist-and-sexist-meet-the-women-trying-to-fix-th em/2780342400-b3a2696a [10.11.2022]. Google macht einen Großteil seines täglichen 400-Millionen-Dollar-Umsatzes mit personalisierter Werbung, die auf den Daten der User*innen basiert. Wer seit zwanzig Jahren Google genutzt hat, hat dem Unternehmen somit ca. 350 US-Dollar Gewinn erwirtschaftet (vgl. Yitzhak, Yaron: Here’s how much money you made Google by staring at its ads for 20 years [Stand: 4.02.2020]. https://thenextweb.com/news/heres-h ow-much-money-you-made-google-by-staring-at-its-ads-for-20-years [10.11.2022]). Die Bundesregierung: Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Digital-Gipfel der Bundesregierung (Stand: 29.10.2019). https://www.bundesregierung.de/breg-de/ aktuelles/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-beim-digital-gipfel-der-bundes regierung-1687142 [10.11.2022]. Die Bundesregierung: Bundeskabinett beschließt Fortschreibung der Strategie Künstliche Intelligenz – Kulturstaatsministerin Grütters: »Kultur und Medien sind wichtige

Eva Tepest: Info-Proletarier*innen of the world, unite!

Kultur und Medien erwarte sie »wichtige Impulse für die Debatte über Chancen und Grenzen dieser so vielversprechenden Technologie.« Um diese Pläne in die Tat umzusetzen, sind in Grütters’ Haushaltsplan für 2021 weniger als 20 Millionen Euro für »Aufträge und Dienstleistungen im Bereich Informationstechnik« eingeplant. Gemeint ist hiermit die Digitalisierung im engeren Sinne, also die Verfügbarmachung der Bestände in den Museen und Archiven, und die digitale Struktur (WLAN, Software) in den Einrichtungen. Für »Digitalpolitik und Strategische IT-Steuerung« sind zusätzlich zwei Millionen Euro vorgesehen. Dass damit eine durchschlagende strategische Positionierung möglich ist, ist zweifelhaft.6 Ein eigener Posten für eine kritische Auseinandersetzung mit Datenökonomie fehlt. Insgesamt machen die im Bereich Digitalisierung ausgewiesenen Mittel nur rund einen Prozent des Kulturetats aus. Zum Vergleich: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss kostet Stand heute 677 Millionen Euro.

Informationsarbeiter*innen of the world »Künstlerische und künstliche Intelligenz« sind schon lange in eins gefallen und haben dabei die Arbeitsbedingungen von Kulturarbeiter*innen umfassend verändert. Ein Beispiel: Der Streaming-Dienst Spotify zahlt offenbar nur 0,00318 US-Dollar pro Stream – Tendenz sinkend.7 Und während Musiker*innen gerade angesichts der Corona-Krise mehr Geld fordern, hat der

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Impulse« (Stand: 02.12.2020). https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregi erung/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/aktuelles/bundeskabinett-beschlies st-fortschreibung-der-strategie-kuenstliche-intelligenz-kulturstaatsministerin-gruet ters-kultur-und-medien-sind-wichtige-impulsgeber--1824408 [10.11.2022]. Vgl. die Bedarfe, die im Bericht des Wissenschaftsrats zur Stiftung Preußischer Kulturb esitz (S. Wissenschaftsrat. Strukturempfehlungen zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz [SPK] [Stand: 10.07.2020]. https://www.wissenschaftsrat.de/download/2020/852 0-20.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [10.11.2022]) genannt werden. Von den Beständen der Staatlichen Museen zu Berlin waren Mitte 2019 nur 4 % digital zugänglich. Einige der Museen verfügen nicht über WLAN. 2019 waren – auch »ohne Berücksichtigung größerer, zukünftiger Veränderungen im Rahmen der Digitalen Transformation« – rund 4 Mio. Euro der Kosten für das IT-Rahmenkonzept der SPK unterfinanziert. Sycha, Lisa: Musiker fordern mehr Geld von Spotify (Stand: 20.03.2020). https:/ /www.rollingstone.de/coronakrise-musiker-fordern-mehr-geld-spotify-1922353/ [10.11.2022].

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

Konzern angekündigt, dass die Personen, die einen Großteil seiner Inhalte generieren, sich Reichweite erkaufen können,8 indem sie einer geringeren Tantieme zustimmen. Parallel dazu hat Spotify ein Patent für ein Programm9 eingereicht, das Musik-Plagiate aufdecken soll – zum großen Unmut von Musiker*innen, die fürchten, dass künftig nur große Firmen in der Lage sein werden, copyrightkornforme Musik auf den Markt zu bringen. Konzepte für diese Zusammenhänge liefert McKenzie Wark in ihrem Buch »Capital Is Dead. Is This Something Worse?«10 Darin argumentiert sie, dass die Mächtigsten nicht mehr die Produktionsmittel besitzen, sondern die Macht über die Informationen haben. Etwa die Kontrolle über den Warenstrom, das Eigentumsrecht über einen Code oder das Copyright einer mächtigen Marke. Den Profit macht diese neue »vectoralist class« aber streng genommen nicht qua ihrer Informationskontrolle, sondern, weil sie die Arbeitskraft des »Info-Proletariats« ausbeutet. Auf den Kulturbetrieb gemünzt sind das die Musiker*innen, die für ihre Plattenfirmen geistiges Eigentum produzieren, die Programmierer*innen die den Recommendation-Code schreiben11 und all diejenigen, die auf Twitter ihre Spotify-Bestenlisten posten. Doch bis zu

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Rixecker, Kim: Spotify: Musiker können Algorithmus beeinflussen – gegen Geld (Stand: 03.11.2020). https://t3n.de/news/spotify-algorithmus-pay-to-play-kritik-13329 89/ [10.11.2022]. Stassen, Murray: Spotify just invented AI technology that will police songwriter plagiarism (Stand: 01.12.2020). https://www.musicbusinessworldwide.com/spotify-justinvented-ai-technology-that-will-police-songwriter-plagiarism/ [10.11.2022]. Wark, McKenzie: Capital Is Dead. Is This Something Worse? London/New York: Verso Books, 2019. Der Ruf der kreativen Selbstverwirklichung, der früher »the young, particularly young women, a feeling of going places« im Kreativbereich gab, tönt inzwischen analog aus Richtung Tech. »Women into Tech« ist somit die Kurzformel für ein neues Allheilmittel. Dabei sind die Arbeitsbedingungen von Coder*innen und Programmierer*innen nicht unbedingt geil, was z.B. ausgebeutete Gamer*innen (vgl. Semuels, Alana: Every Game You Like Is Built on the Back of Workers. Video Game Creators Are Burned Out and Deperate for Change [Stand: 11.06.2019]. https://time.com/5603329/e3-video-ga me-creators-union/ [10.11.2022].) unter Beweis stellen und die vielen Berichte über sexuelle Belästigung und Rassismus in der Tech-Industrie (vgl. Wiener, Anna. Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley. New York: MCD Books/Farrar, Straus & Giroux, 2020.) Zur Geschichte von Arbeitskämpfen in der Tech-Industrie siehe auch Marie Hicks in The Verge (Hicks, Marie: The long history behind the Google Walkout [Stand: 09.11.2019]. https://www.theverge.com/2018/11/9/18078664/google-walkout-history-t ech-strikes-labor-organizing [10.11.2022].)

Eva Tepest: Info-Proletarier*innen of the world, unite!

einem gemeinsamen Klassenbewusstsein von Musiker*innen, Programmierer*innen und Twitter-Nutzer*innen ist es noch ein weiter Weg.

Kulturpolitik olé, Kulturpolitik adé Fairerweise wäre es ziemlich unangebracht von Monika Grütters den digitalen Umsturz zu erwarten. Aber die Kulturpolitik könnte Rahmenbedingungen schaffen, die die Emanzipation der Kulturarbeiter*innen befördern. So könnten z.B. Instagram, Facebook und Co in die VG-Wort und -Bild einzahlen, so dass alle Nutzer*innen an dem durch ihre Posts erwirtschafteten Gewinn beteiligt werden. Ein Ministerium für Informationsarbeit könnte (mitsamt einer Zusammenführung der bisher getrennten Ausschüsse für Kultur und Medien/ Digitale Agenda) via Bundesförderung in den öffentlichen und privaten Informationssektor hineinwirken. Denkbar wäre auch ein umfassendes Weiterbildungsangebot im Rahmen der Corona-Hilfen – Python-Kurse für alle! Zugegebenermaßen: Revolutionen finden nicht in Behörden statt. Der digitale Klassenkampf bedarf einer gemeinsamen Anstrengung – es reicht nicht, wenn wir zwar alle coden lernen, aber nicht die kollektive Macht über die von uns produzierten Informationen haben.12 Das Info-Proletariat kann sich nur vereinigen, wenn es unwahrscheinliche Allianzen bildet.13 6 Umso tragischer ist es, wenn sich eine Autorin, deren Bücher zu 20 % auf Amazon verkauft werden, sich nicht solidarisiert mit der Gig Workerin, die ihre Bücher im AmazonWarencenter verpackt – zumal diese, wie in Heike Geißler es in ihrem Roman »Saisonarbeit« vormacht, sehr wohl dieselbe Person sein können. Info-Proletarier*innen of the world, unite!

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Beispiele für auf die Besitzverhältnisse abzielende Projekte an der Schnittstelle von Kunst und digitalem Aktivismus sind »Collectivize Facebook« von Jonas Staal und Jan Fermon (https://collectivize.org/), sowie »Google will eat itself« des schweizerisch-österreichisch-amerikanischen Medienkunstduos Ubermorgen. Vgl. Wark, McKenzie. Capital Is Dead. Is This Something Worse? London/New York: Verso Books, 2019, S. 96.

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»Zurück in die Zukunft IV« Fabian Saavedra-Lara

Was liegt jenseits von Big Tech? In den frühen 1970er Jahren entstand in Chile zur Zeit Salvador Allendes eines der ersten Computernetzwerke überhaupt: Fabriken und Lagerbestände wurden mit einem System von Fernschreibern ausgestattet, die miteinander verbunden waren und ihre Daten an einen Computer in Santiago übermittelten. So sollte die Effizienz der zentral gesteuerten Wirtschaft in einer Zeit, in der es aufgrund von politischen Spannungen einen Mangel an alltäglichen Waren gab, gesteigert werden. Eine Gruppe junger, idealistischer Forscher*innen unter der Leitung des Ingenieurs Fernando Flores entwickelte dieses Projekt. Als Berater und Experte für Netzwerke wurde der britische Kybernetiker Stafford Beer an Bord geholt. Der geplante zentrale Steuerungsraum des Netzwerks in Santiago, in dem die Daten aus den Fabriken ausgespielt und durch Filmprojektoren grafisch dargestellt werden sollten, wurde vom Gestalter Gui Bonsiepe konzipiert. In seinem futuristischen Design spiegeln sich die Techno-Utopien und der Fortschrittsoptimismus der Zeit wider: Betrachtet man heute die Entwürfe, fühlt man sich unweigerlich an die Star Trek-Serie oder Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker 2001Odyssee im Weltraum erinnert.

Doch warum dieser Exkurs ins tiefe 20. Jahrhundert, wenn es um heutige digitale Transformationen geht? Während der Lektüre von Eva Tepests Essay,1 in dem sie unter anderem vorschlägt, die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung vor dem Hintergrund

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Vgl. Tepest, Eva: Info-Proletarier*innen of the world, unite!, S. 145–149 in diesem Band.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

von Arbeitskämpfen und Klassenbewusstsein zu lesen, fühlte ich mich unweigerlich an diese historische Episode erinnert. Das Cybersyn (»cybernetic synergy«) genannte chilenische Computernetzwerk – im Zuge des Militärputsches von 1973 stillgelegt – kann als ein erster Vorläufer des heutigen Internet gesehen werden. Doch es erinnert sich kaum jemand daran. Hätten nicht Wissenschaftler*innen und Künstler*innen im Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur wie Eden Medina dazu publiziert und gearbeitet (und Autor*innen wie Sascha Reh in seinem Roman Gegen die Zeit), wäre dieser frühe Versuch der Vernetzung heute vergessen. Aufgabe einer Kulturpolitik im Kontext der gegenwärtigen digitalen Transformationen sollte es sein, dieses differenzierte und kritische Wissen fruchtbar zu machen und Räume für eine öffentliche Diskussion zu schaffen, in der – ähnlich wie von Eva Tepest gefordert – technischer und sozialer Fortschritt zusammengedacht werden. Durch meine Familiengeschichte habe ich zugegebenermaßen ein besonderes, persönliches Interesse am kulturellen und auch technischen Aufbruch in dieser Zeit, der für einen kurzen historischen Moment andere Perspektiven eröffnete als diejenigen, die sich im digitalen Kapitalismus unserer Gegenwart manifestieren. Doch auch über die individuelle Biografie hinaus stehen Cybersyn und viele andere Projekte für mich sinnbildlich für die vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichten im Kontext der Digitalisierung.

Die Geschichtlichkeit digitaler Medien In der öffentlichen Debatte ist die Tendenz erkennbar, technische Entwicklungen als disruptive Phänomene in einer scheinbar geschichtslosen Gegenwart zu verstehen und sie mithilfe von Innovationsrhetoriken in eine lineare, unvermeidbare Zukunft hinein zu projizieren. Die digitalen Medien jedoch, die für uns heute so selbstverständlich geworden sind, haben eine Geschichte, die unmittelbar verwoben ist mit politischen und ökonomischen Entwicklungen und Entscheidungen. Sie lassen sich nicht isoliert davon betrachten. Und somit stellen sie auch nur eine von vielen Möglichkeiten dar, was Technologie sein kann. Ein Beispiel: Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen haben schon seit geraumer Zeit offengelegt, auf welchen, teils biologistischen Annahmen die Algorithmen der so wirkmächtigen sozialen Netzwerke basieren, über die ein Großteil der sozialen Kommunikation unserer Gegenwart läuft. Die Grundthese besagt, dass die Vernetzung nach dem Muster von Ähnlichkeit funktionieren soll – seien dies nun Klasse, Hobbies, Interessen, Positio-

Fabian Saavedra-Lara: »Zurück in die Zukunft IV«

nierung im politischen Spektrum oder der Beruf. Doch welches Gesellschaftsverständnis liegt dem zugrunde? Ließe sich nicht auch ein anderes, weniger nach Homogenität suchendes und in sich geschlossenes Ordnungsprinzip dieser Plattformen denken? Wäre dies nicht auch ein möglicher Weg, um die Abkopplung der gesellschaftlichen Milieus voneinander zu verhindern? Anhand dieses recht simplen Beispiels lässt sich gut nachvollziehen, dass die gegenwärtigen Technologien immer auch politisch sind und einen Teil der Ideologie, die sie hervorgebracht haben, mittransportieren. Verändert man nur ein Element in der Gleichung, ist man manchmal schon in einer anderen Realität – mit sehr manifesten Konsequenzen und Möglichkeiten. Alternative Technologieentwürfe gibt es nicht nur in der Science-Fiction: Der Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur stellt in diesem Zusammenhang ein enormes Wissensreservoir dar. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts experimentieren und forschen Künstler*innen mit den Möglichkeiten digitaler Medien als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel. Dabei entsteht ein differenziertes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Technologie und Gesellschaft. Und es entwickelten sich selbstermächtigende technologische Praxen, zum Beispiel im Bereich der Hacker*innenkultur, der Open Source-Bewegung und des Critical Engineering – der Umgang mit Technologie also als Aneignung und kritische Auseinandersetzung. Die frühen Netz-Avantgarden propagierten einen selbstbestimmten Umgang mit Technologie, der sich nicht mit den Voreinstellungen der damals gängigen Software und Hardware begnügte. Ähnlich der Umnutzung von Plattenspielern als Musikinstrumente und künstlerische Werkzeuge, zum Beispiel im Hip-Hop, ging es der kritischen Medienkultur stets darum, Technologie »gegen den Strich zu bürsten«, sie nach den eigenen Regeln umzufunktionieren und zu verändern, um auf diese Weise Potentiale freizulegen, die nicht nur einer kommerziellen Verwertbarkeit nützlich sind. Stets ging es darum, Grenzen auszutesten – manchmal auch die Grenzen der Legalität. Doch durch diesen Aktivismus konnten viele politische und technische Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Technologie offengelegt werden, beispielsweise Fragen zu Datensouveränität und -missbrauch, Privatsphäre und Anonymität, Sicherheitslücken und viele weitere. Die alten Ideale dieser Avantgarde wie der dezentrale Wissensaustausch, der freie Zugang zu Technologie, die Überwindung alter Diskriminierungsmuster im Netz, die Unabhängigkeit von wenigen, dominierenden Konzernen, die Fähigkeit Code zu lesen und ihn zu bearbeiten, sind heute wichtiger denn je, auch wenn sich in den Filterblasen und Echokammern der Fake News

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und Hate Speech heute das Gegenteil dieser Ideale zu manifestieren scheint. Critical Engineering und vergleichbare Praxen stammen aus einer Zeit, in der die Kommerzialisierung der digitalen Sphäre noch nicht völlig abgeschlossen war. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich an sie zu erinnern, sie auch im Kontext von Kunst und Kultur neu zu lesen und zu fragen, was sie heute bedeuten könnten. Eine solche Diskussion lässt sich nicht bloß als nachträgliche künstlerischkulturelle Aufarbeitung oder Illustration von »cutting edge« technologischen Innovationen betreiben, sondern sie sollte – insbesondere vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Idee von grenzenlosem Wachstum – die Frage stellen, welcher Fortschritt für die globale Gesellschaft eigentlich wünschenswert ist. Sie sollte die durch »Convenience« und wolkige Wordings vernebelten neuen Ausbeutungsverhältnisse zum Beispiel in der Logistik und Rohstoffindustrie oder der Fertigung von Hardware sichtbar machen, die eine sehr materielle Grundlage dessen darstellen, was wir heute unter »Digitalisierung« verstehen. Sie sollte die Frage aufwerfen, welche neuen Begriffe von Arbeit, Sinnstiftung und Anerkennung wir brauchen, wenn sich das Versprechen auf Vollbeschäftigung durch die fortschreitende Automatisierung nicht mehr einlösen lässt. Und welche Logiken und Annahmen hinter den Diskriminierungsmustern und Machtverhältnissen stecken, die sich in den Algorithmen heutiger sozialer Medien und Plattformen manifestieren. Rassismuskritischer Aktivismus hat in den letzten Jahren sichtbar gemacht, welche Körper in den digitalen Plattformen als Norm gelten und welche nicht. Der Grund liegt in der nach wie vor weitgehend homogenen Struktur der Gruppe der Autor*innen dieser Plattformen und Programme. Nicht zuletzt sollte es – neben vielen anderen Fragen – auch um das Verhältnis von privater und öffentlicher Hand im Zusammenhang mit der kritischen digitalen Infrastruktur gehen. Soll die Gestaltung der öffentlichen Räume im Digitalen und in den Smart Cities der Zukunft gänzlich wenigen Unternehmen mit vornehmlich kommerziellem Interesse überlassen werden? Die aktuelle Pandemie hat unter anderem auch gezeigt, welche Brüche es beim Zugang zu Technologie entlang der Linien von Klasse, Herkunft, Einkommen und weiteren Determinanten gibt – können wir uns damit begnügen, dass dies nicht zu ändern ist?

Fabian Saavedra-Lara: »Zurück in die Zukunft IV«

Jenseits von Big Tech Eines der wesentlichen Anliegen der Arbeit im Mediennetzwerk.NRW,2 einem Netzwerk von Institutionen und freien Akteur*innen in Nordrhein-Westfalen, die sich mit Medienkunst und digitaler Kultur beschäftigen, besteht in der Pluralisierung der Erzählungen über Technologie. In individuellen und kooperativen Projekten gehen viele der beteiligten Partner*innen unter anderem der Frage nach, welche Technoimaginationen jenseits der libertär-kapitalistischen Erzählungen und Gründungsmythen von »Big Tech« liegen (vereinfacht gesagt, die Idee, dass in freien Märkten und Unternehmen allein die besten Ideen für gesellschaftlichen Fortschritt entstehen, der Staat sich am besten heraushalten sollte und Technologie in der Lage ist, so gut wie alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen, wenn man sie nur machen lässt). Und nach welchen anderen Prämissen – jenseits von kommerziellen Interessen und Expansion – Technologien gestaltet werden können. Cybersyn, revisited, aber eben auch als Auseinandersetzung mit Medienkulturen in vielen weiteren Gegenden der Welt, die oftmals übersehen oder nicht ernst genommen werden. Dies alles sind gesamtgesellschaftliche Fragen, die sich natürlich nicht allein im Kulturbereich diskutieren lassen. Eine gute Nachricht dabei ist, dass viel Wissen darüber bereits existiert und Kulturpolitik mit ihren Mitteln dabei helfen kann, es mit anderen Gesellschaftsbereichen zu verknüpfen und zu übersetzen. Natürlich braucht es einen angemessenen technischen Standard, um Institutionen und Bildungseinrichtungen zukunftsfähig zu machen. Hier ist selbstverständlich noch einiges nachzuholen. Eine offene, debatten- und experimentierfreundliche Kulturpolitik im Bereich des Digitalen hätte aber eben nicht nur mit der Anschaffung neuester (bald veralteter) Technik zu tun, sondern mit der Entwicklung neuer Schnittstellen für dieses Wissen, der Ermöglichung neuer Allianzen mit dem Ziel von Selbstermächtigung und Emanzipation im Kontext von Technologie und einer langfristigen und vielstimmigen Auseinandersetzung. In vielen Kunst- und Kulturbereichen sind bereits seit Jahren und Jahrzehnten wesentliche Anliegen zur Stärkung der kulturellen Landschaft in der Region formuliert worden, die mit Möglichkeiten zu tun haben, längerfristig an Themen und Fragestellungen arbeiten zu können und somit Produktionsdruck herauszunehmen. Die Basis hierfür wäre wohl eine Kultur des Vertrauens in die Kulturproduzent*innen, die sich in einer größeren Zugänglichkeit 2

Weitere Informationen zum Mediennetzwerk.NRW unter: https://medien.nrw/en/.

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Warum eigentlich Relevanz? Kultur(en) gesellschaftlicher Verantwortung

zu strukturellen Förderungen und in einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands bei Förderungen auf Seiten von Akteur*innen und Fördergeber*innen niederschlagen müsste. Auch die Stärkung von diverser Repräsentanz in Jurys, Gremien, Institutionen, Verwaltung und Positionen mit Entscheidungsmacht ist eine Forderung, die unbedingt unterstützenswert ist, um Künste und Kultur zu fördern, die in einem stetigen Stoffwechsel mit der vielfältigen gesellschaftlichen Realität stehen. Wenn ich diesen bereits seit Längerem existierenden Ideen etwas aus Sicht von Medienkunst und digitaler Kultur hinzufügen dürfte, wäre es, die Debatte über Technologie nicht auf die bloße Anwendung von Technik zu verengen, sondern sie als lebendige soziale und politische Diskussion zu verstehen, die alle etwas angeht und auch für alle zugänglich sein sollte. Technologie ist zu einem Teil der Natur geworden, die uns umgibt und längst schon auch unsere Körper und unser Bewusstsein durchdringt. Wir sollten versuchen, diese Prozesse zu verstehen und zu gestalten – nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sehr viele der aktuell drängenden Fragestellungen lassen sich als technologische Fragestellungen diskutieren. Eine Öffnung der Debatte und eine Verknüpfung zum Beispiel mit den aktuellen sozialen und ökologischen Bewegungen wird uns dabei helfen, uns im Dickicht der Gegenwart zu orientieren und unsere Vorstellungskraft für das, was möglich ist, zu trainieren.

Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Kollaboration als Arbeitsweise Zwischen Selbstoptimierung und Strukturwandel Paulina Seyfried

Die Schlagwörter ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ werden, wie das Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft selbst hervorragend verdeutlicht,1 in Kulturmanagement und -politik zunehmend als Wege aus den veralteten Strukturen des Kulturbetriebs angepriesen. Trotz der zunehmenden und oftmals synonymen Begriffsverwendung fehlt es in der Praxis an konkreten Handlungsweisen und Orientierungsmodellen. Vielmehr bleibt es bei vielversprechenden Hymnen wie beispielsweiser dieser: »Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind.«2 Es scheint, als wären die Transformationsvorstellungen längst klar formuliert, als wären zukunftsfähige Unternehmen längst nicht mehr linear und hierarchisch strukturiert, sondern netzwerkartig organisiert. Als würden interne Strukturen in hybriden Arbeitsgruppen immer wieder neu beleuchtet, Abläufe hinterfragt und optimiert, neue Produkte aus der Zusammenführung unterschiedlicher Zuständigkeitsfelder und Wissensformen entwickelt.

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Weitere Informationen zum Netzwerk: »AGILE KULTUR – das Netzwerk für den Wandel« der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. unter: https://kupoge.de/agile-kultur/. Mohr, Henning: Selbstbezüglichkeit statt Relevanz. Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen (Stand: 23.12.2020). https://kupoge.de/blog/2020/1 2/23/selbstbezueglichkeit-statt-relevanz-transformationsdefizite-oeffentlich-gefoer derter-kulturorganisationen/ [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Insbesondere die Digitalisierung ist dabei eine große Hilfe und ermöglicht dezentrale Zusammenarbeit, Selbstorganisation und häufigere Korrekturschleifen. Aber ist das wirklich so? Der folgende Beitrag möchte den Herausforderungen des strukturellen Umbaus im Kulturbetrieb nachgehen und handlungsorientiert Probleme aufzeigen. Grundannahme ist, dass viel zu lange die Trennung in Theorie und Praxis auf der einen Seite und die Vermischung von Inhalt und Struktur auf der anderen Seite aufrechterhalten wurde – statt konzeptuelle Ansätze auf ihre Umsetzbarkeit zu befragen. Wie lässt sich diese vielgeforderte Neugestaltung praktisch umsetzen? Und welche Idee von Kollaboration als Begriff und als Arbeitsweise werden dabei imaginiert? Dem folgend möchte ich mich vor allem auf bereits vorhandene Ansätze und Thesen des Blogs beziehen, um offenzulegen, dass sie einerseits viele wichtige Standpunkte offerieren, andererseits aber stärker aufeinander Bezug nehmen sollten, um nicht repetitiv, sondern transformativ zu wirken. Wir alle kennen mittlerweile die Parolen und Utopien eines zukünftigen Kulturbetriebes. Doch wie diese umzusetzen sind, ist bisher unklar und führt schnell zu Resignation oder Gesprächsversandung. Klar: Alte Hierarchien sollen zugunsten von einem solidarischen miteinander endlich über Bord geworfen werden – doch wie funktioniert das? Der folgende Beitrag baut auf Erkenntnissen vorheriger Beitragenden auf und skizziert Herausforderungen und Ansätze kollaborativer Arbeit.

Agilität durch Kollaboration Bleiben wir zunächst im vertrauten Umfeld der theoretischen Erörterung, so fällt auf, dass die Begriffe ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ mit sehr unterschiedlichen Beigeschmäckern zu kämpfen haben. Obwohl sie eigentlich dieselbe Problematik von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Beide Begriffe beschreiben eine Abwendung von tradierten Arbeitsmodellen, wobei ›Agilität‹ eher auf der strukturellen Ebene und im Managementjargon benutzt wird und ›Kollaboration‹ als eine alternative Form des Zusammenarbeitens verstanden werden kann.3 Darüber hinaus stammen beide Konzepte aus der Zeit des 3

Vgl. Seeger, Tom: Das agile Team steuert sich selbst. Kompetenzen und Fähigkeiten zur Eigenentwicklung selbstorganisierter Teams, Wiesbaden: Springer Fachmedien Verlag, 2020.

Paulina Seyfried: Kollaboration als Arbeitsweise

Umbruchs von fordistischen zu postforstischen Arbeitsverhältnissen. Unter zeitgenössischen Informations- und Wissensregimen sind sie zu Imperativen immaterieller Arbeit herangenwachsen und damit für kulturelle Arbeitsfelder interessant geworden.4 Während ›Agilität‹ im neoliberalen Image dabei eher im konkreten Projektmanagement auftaucht und mit Prekarisierung und Überforderung von Arbeiter*innen durch Top-Down Belehrungen verbunden wird, werden ›Kollaborationen‹ zunehmend als neue Form der solidarischen und hierarchiefreien Zusammenarbeit angepriesen. Da der Begriff ›Kollaboration‹ von älteren Generationen vor allem im Kontext des Zweiten Weltkrieges als Zusammenarbeit mit dem Feind verstanden und nach wie vor durch den Duden entsprechend definiert ist,5 liegt die Vermutung nahe, dass im deutschsprachigen Kontext häufig von ›Kooperation‹ gesprochen wurde, selbst wenn kollaboratives Arbeiten gemeint war. Im englischsprachigen Raum – somit auch in der deutschen Start-up -und Kunstszene – hat sich spätestens seit den 2000er Jahren ›collaboration‹ als Mantra der projektbasierten Arbeit etabliert.6 Im Kulturbereich scheint sich eine immer breiter werdende Gruppe von Akteur*innen dem Begriff der ›Kollaboration‹ unter einem allgemeinen Transformationswillen anzunähern, was jedoch vor allem zu inflationärer Schlagwortverwendung denn zu konkreter Bedeutungszuschreibung und Praxisanwendung führt. In aktuellen Debatten versprechen Kollaborationen die Flexibilität und Individualisierung von Arbeitsrealitäten auf der einen, neue Stabilität und Zusammenhalt in Kontext von unsicheren Strukturen und neoliberalem Leistungsdruck auf der anderen Seite.7 Doch welche Wirkungen können in der Realität eingelöst und welcher Rahmen muss für erfolgreiche Kollaborationen geschaffen werden? Nicht überspielt werden sollte die Tatsache, dass auch kollaborative Arbeitsweisen 4 5 6

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Vgl. Boltanski, Luc/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2006. Vgl. Duden, Definition »Kollaboration«. https://www.duden.de/rechtschreibung/Koll aboration. Vgl. Marchart, Oliver: Das kuratorische Subjekt. Die Figur des Kurators zwischen Individualität und Kollektivität, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 86, 2012. https://www.textez urkunst.de/de/86/das-kuratorische-subjekt/, S. 29–42. Vgl. Gawellek, Nelly/Katharina Klapdor Ben Salem: »There is a crack in everything – that’s how the light gets in« (Leonard Cohen). Neue Kollaborationen für den Kulturbetrieb (Stand: 23.03.2021). https://kupoge.de/blog/2021/03/23/there-is-a-crack-in-ev erything/ [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

schnell in Selbstausbeutung und Prekarisierung abrutschen können, basieren sie doch auf einem hohen Maß an Selbstorganisation und Verantwortung aller Akteur*innen. Während strukturkritische Autor*innen wie Tara McDowell8 von prekären, post-beruflichen Bedingungen im Kulturbereich sprechen und damit insbesondere jüngere Generationen meinen, für die ein Vierjahresvertrag Sesshaftigkeit bedeutet, sind ein Gros der Stellen in deutschen mittelgroßen Kulturinstitutionen noch immer unbefristet besetzt. Folglich kann die selbstbestimmte Freiheit einer kollaborativen Organisationsstruktur innerhalb eines institutionellen Transformationsprozesses für Mitarbeiter*innen, die jahrzehntelang nach dem Top-Down-Prinzip gearbeitet haben, zu Verunsicherung führen – stützt sie sich schließlich auf den Ansatz des lebenslangen Lernens und hinterfragt damit stets erlernte Expertisen zugunsten neuer Erkenntnisse und Anpassungen von rostigen Strukturen. Das bedeutet auch, dass Mitarbeiter*innen und Führungspersonen ihre Stärken, Schwächen und Interessen kennen und kommunizieren müssen, und sich nicht mehr auf Routine verlassen können. Das mag zunächst mehr Arbeit, vor allem mehr Kommunikation, mit sich bringen, eine Transformation lässt sich jedoch nur durch aktive Umstrukturierung von Praktiken und Abläufen und nicht nur durch inhaltlich-programmatische Progression umsetzen.

Neue Erkenntnisse durch Querverbindungen Ein schönes Beispiel aus der Praxis stellt das kollaborative Projekt »Öffne die Blackbox der Archäologie! Museum als CoLabor«9 von dem Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Herne, dem LWL-Römermuseum in Haltern am See und dem Deutschen Bergbau-Museum in Bochum dar. Auf der Seite des Hauptförderers, der Kulturstiftung des Bundes, wird das Vorhaben folgendermaßen beschrieben. »Nach einem Open Call der drei Museen wurde im Frühjahr 2021 dafür ein Beirat gegründet, der in diesem Fall nicht aus Fachleuten, sondern aus fast 100 Menschen verschiedener Hintergründe und Generationen besteht. […] 8 9

Vgl. McDowell, Tara: The Post-Occupational Condition, in: Australian and New Zealand Journal of Art Volume 16, 2016. Weitere Informationen zum Projekt des Museums für Archäologie des LWL unter: htt ps://www.blackbox.game/.

Paulina Seyfried: Kollaboration als Arbeitsweise

Die Partner orientieren sich an Methoden des agilen Managements wie z.B. Design Thinking und arbeiten kollaborativ, prozessorientiert und co-kreativ im Sinne einer Kultur der Digitalität.«10 Konkret hat sich hierfür eine übergreifende Projektsteuerungsgruppe der Museen gebildet, die gemeinsam mit einem Beirat aus engagierten Bürger*innen in regelmäßigen, moderierten Workshops zusammenkommt und mit Hilfe eines externen Coachings spielerisch neue Konzepte und Arbeitsweisen entwickelt. Kollaboration wird hier somit zunächst in einem Pilotprojekt mit zusätzlicher Hilfestellungen erprobt. Interne Strukturen werden nicht direkt auf den Kopf gestellt, sondern es wird gemeinsam mit dem gemischten Team aus Museumsmitarbeiter*innen und Bürger*innen überprüft, welche Methoden für die museale Struktur im internen Team anwendbar sind und welche in experimentellen Projekten verortet bleiben sollten. Gerade das Arbeiten mit freiwillig partizipierenden Mitarbeiter*innen, die einige Stunden ihrer Arbeitszeit in kollaborative Ansätze investieren möchten und aus Interesse agieren, scheint eine sinnvolle Vorgehensweise, um Überforderung und hierarchische Festsetzung von unsicheren Angestellten zu vermeiden.11

Von der Theorie in die Praxis – und zurück Neben globalen Vernetzungsbewegungen und der akademisch-theoretischen Auseinandersetzung bedarf es zudem Transformationsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene: Innerhalb der Institutionen sollten Arbeitsprozesse nach Interessen und Fähigkeiten anstatt nach künstlerischen Disziplinen und Hierarchien fokussiert werden. Denn Strukturen und Zuständigkeiten lassen sich immer dann am leichtesten verändern, wenn sich alle Beteiligten weiterhin mitgenommen fühlen, wenn Flexibilisierung nicht Verunsicherung bedeutet, sondern Lernprozesse in bekannte Abläufe integriert und honoriert werden.

10

11

Kulturstiftung des Bundes: Blackbox.game. Museum als Co-Labor. Öffne die Blackbox Archäologie! https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/film_und_neue _medien/detail/museum_als_co_labor.html [15.11.2022]. Vgl. Mohr, Henning/Christoph Constantin Niemann/Katharina Knapp: Hidden Potential. Intrapreneurship in Museumsorganisationen, 2019. https://doi.org/10.5281/zenod o.3553721.

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Kollaboration kann dann als Arbeitsweise interessant sein, wenn sie gezielt eingesetzt und nicht nur als Synonym für verschiedenste Formen der Zusammenarbeit benutzt wird. Hierzu könnten etwa die von Anke von Heyl angeschnittenen »iterativen Prozesse«12 fruchtbar sein. In diesen werden Abläufe und Feedbackschleifen so oft wiederholt und angepasst, bis sie den intern zuvor definierten Zielvorstellungen des Teams entsprechen. Würde man Kulturorganisationen zu dieser Optimierung von Abläufen zudem eine außenstehende, vermittelnde Person langfristig zur Seite stellen, könnten Verschiebungen unaufdringlich, im alltäglichen Arbeitsablauf ohne Neustrukturierung von außen oder ständige Selbstevaluation herbeigeführt werden. Es könnte dann um die Aktualisierung von Strukturen und Beziehungen statt um die selbstoptimierende Prüfung des individuellen Leistungsvermögens der Arbeitenden gehen, wie es von kritischen Akteur*innen wie Ulrich Bröckling13 prognostiziert wurde. Wird dieses Vorhaben noch mit Zeit für die Teilnahme an regelmäßigen internen Gesprächsformaten14 und Workshops – etwa zu digitalen Organisationstools wie Trello oder Slack und kollaborativer Erkenntnisgenerierung15 – unterstützt, könnten sich veränderte Arbeitspraktiken auch nachhaltiger festsetzen, als es aktuell der Fall ist. Denn bedingt durch den Umstand, dass eine Vielzahl von Veränderungsversuchen in Projektförderstrukturen an den vorhandenen zeitlichen und finanziellen Mitteln scheitern, führen Transformationsforderungen oftmals zu Pauschallösungen und Überlastung der einzelnen Akteur*innen, statt zu einer langfristigen Verschiebung innerhalb der spezifischen Strukturen.

12

13 14 15

Von Heyl, Anke: Hype oder Rettung? Agilität im Kulturbereich (Stand: 16.02.2021). https://kupoge.de/blog/2021/02/16/hype-oder-rettung-agilitaet-im-kulturbereich/ [15.11.2022]. Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Berlin: suhrkamp Verlag, 2019. Vgl. Kaltenecker, Siegfried: Selbstorganisierte Teams führen. Arbeitsbuch für Lean & Agile Professionals, Heidelberg: dpunkt.verlag, 2021. Vgl. DesignThinkingCoach: Neue Arbeit: Mit Design Thinking die Krise meistern und fit für die New Work Culture werden (Stand: 2022). https://designthinkingcoach.de/n eue-arbeit-mit-design-thinking-die-krise-meistern-und-fit-fuer-die-new-work-cultu re-werden/ [15.11.2022].

Paulina Seyfried: Kollaboration als Arbeitsweise

Qualifizierte Coachingansätze und Modellarbeit Ein Grundsatz von Kollaboration ist nicht, bekanntes Wissen zu reproduzieren, sondern durch Querverbindungen und assoziatives Denken neue Erkenntnisse zu generieren, die auf unterschiedlichsten Wissensformen und Fähigkeiten aufbauen. Gerade deshalb scheint es umso wichtiger, Erkenntnisse von Plattformen wie dieser zu nutzen, zu vertiefen und in der Praxis modellhaft zu erproben, anstatt sich innerhalb eines kleinen Fachkreises gegenseitig zu bestärken und dieselben großen Begriffe und Ansätze zu proklamieren. Ein Vorschlag wäre daher, eine Modellentwicklung für konkrete Transformationsarbeit an Kulturinstitutionen auszuschreiben und zu finanzieren. Ein erster Schritt wäre, verschiedene Stimmen und Ansätze in einem gemeinsamen Think Tank zusammenzuführen und diesen Austausch in einen praxisnahen Projektentwurf umzuwandeln, mit und an dem gearbeitet und praxeologisch geforscht werden kann. Denn auch wenn Modelle und Leitfäden allein nicht ausreichen werden, könnten so dennoch vorhandene Ansätze wie infrastrukturelle Förderungen und begleitendes Mentoring auf ihre Umsetzbarkeit erprobt werden. Kollaboration und Flexibilisierung sollten somit nicht nur als Aufgabe gestellt werden, sondern in übergreifenden Arbeitsgruppen von Forschung, Kulturinstitutionen und kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen vorgelebt werden. Schließlich könnten daraus auch qualifizierte Coachingansätze oder Fortbildungsmodelle entstehen, die zeitweise weitaus effektiver ansetzen könnten als progressiv klingenden Verschriftlichungen oder sich um sich selbst kreisende Diskussionen.

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#Do-it-ourselves Institutionen machen als künstlerische Praxis Fadrina Arpagaus

Wer soll Ihrer Meinung nach ein Theater leiten: ein violetter Oktopus oder ein weißes Pferd? Am Ende dieses Textes finden Sie eine Antwort. Möglicherweise. 2021 ging in den deutschsprachigen Theatern immer mal wieder eine Türe auf, aus der ein Mensch aus den Tiefen des Betriebs in die Öffentlichkeit trat, manchmal vielstimmig orchestriert von einem »Skandal«: Zum Beispiel ein Intendant mit schwerwiegenden Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung im Gepäck, oder ein Schauspieler, der für sich beschlossen hatte, nicht mehr in einem strukturell rassistischen System Stadttheater funktionieren zu wollen. Manchmal öffnete sich diese Back Door auch bloß, um sich gleich wieder zu schließen, nachdem die theaterinteressierte Öffentlichkeit einen kurzen Blick auf das Innenleben des Betriebs werfen konnte, in dem Stimmen laut und nachdrücklich auf Machtmissbrauch, disfunktionale Kommunikation und mangelnden Schutz von Integrität der Mitarbeitenden hingewiesen hatten. Wir reden vom Ex-Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr, vom Schauspieler Ron Iyamu, von der Ikone des postmigrantischen Theaters und Intendantin des Gorki Theaters Shermin Langhoff. Und mit ihnen von Vorfällen in Berlin, Düsseldorf oder Karlsruhe. Die so genannten »Skandale« haben vor allem etwas geschafft: zu verschleiern, dass eigentlich niemand von ihnen überrascht war. Sie zeigen in der Analyse vor allem eines: einen unüberwindbaren Graben zwischen einer Leitung und den Mitarbeitenden, die sich zusammenschliessen, um Missstände in der Führung und Etablierung einer Betriebskultur aufzuzeigen. Durch die Türen ausgeschleudert werden Einzelpersonen; entweder, weil sie in der Leitung nicht mehr tragbar sind (wie Dörr), oder weil sie als Arbeitnehmer*innen beschließen, nicht mehr Teil solcher Strukturen sein zu wollen (wie Iyamu). Doch während Künstler*innen, Theatermitarbeitende, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren Reformbedarf

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

und Transformationsdringlichkeit des deutschsprachigen Stadttheaters aufzeigen, bleibt dieses wider besseren Wissens eine zum Verzweifeln zähe Institution; weiß, bürgerlich und männlich dominiert. Wenn »der Fisch vom Kopf her stinkt«, wie im Theater so oft und gerne gesagt wird, macht es dann Sinn, die Transformation auch von der Spitze des Organigramms aus zu denken? Neue Intendanzmodelle lassen das vermuten. Größere und kleinere Häuser treten mit Co-Leitungen an, die insbesondere in der Schweiz, dem Land, das ebenfalls von einer 7-köpfigen Exekutive geführt wird, kulturpolitisch mit grossem Elan installiert werden: das Neumarkt Zürich wird seit 2019 von einem weiblichen Dreier-Direktorium geleitet, auch das Theaterhaus Gessnerallee ist 2020, das Schlachthaus Bern 2022 mit einer weiblichen Dreier-Leitung gestartet. Das Schauspielhaus Zürich operiert seit 2019 mit einer männlichen Doppelspitze, und die Leitung Schauspiel vom Theater Basel liegt seit 2020 in den Händen eines Vierer-Direktoriums, das seinem Schauspiel-Ensemble erweiterte Kompetenzen in der Programmation und bei künstlerischen Entscheidungen einräumt.

Mehr als Symbolpolitik? Doch sind Co-Leitungen mehr als bloße Symbolpolitik und effizientere Arbeitsteilung bei dem immensen Workload, der für eine Theaterdirektion anfällt? Wie verändern sich die Strukturen tatsächlich und erwirken Transparenz, reale Diversifizierung auf allen Ebenen des Betriebs und eine ausgeglichenere Verteilung von Entscheidungsgewalt? Hier lohnt es sich, den Blick im Organigramm nach unten zu richten und den Bewegungsmelder einzuschalten. Wer die kollektive Agency von Mitarbeitenden mitschneiden möchte, braucht Seismografen und Taschenlampe, denn viele institutionstransformierende Initiativen, Projekte und Verbindungen laufen unter dem Radar einer Leitung. Es lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie arbeiten Kolleg*innen an der Transformation ihrer Organisation mit: kollaborativ, eigeninitiativ, informell, anti-patriarchal, diskriminierungskritisch, queer, partikular, konspirativ, feiernd, elaborierend, aktivistisch, empathisch, verbindend, progressiv…? Vielleicht hilft es hier auch, in einem schnellen Gedankentest den Begriff des (männlichen, weißen) »Intendanten«, der sich auf ungeklärte Weise aus französischen und deutschen Militär- und Verwaltungszusammenhängen in den Bereich der Kunst geschmuggelt hat und in erster Linie Durchsetzung

Fadrina Arpagaus: #Do-it-ourselves

und Direktive meint (und im absolutistischen Frankreich sogar »Steuereintreiber«)1 , mit dem Begriff der »Autor*in« zu ersetzen. Autor*innen einer Institution sind diejenigen Akteur*innen, die diese schaffen, schöpfen, gestalten – und damit zu Urheber*innen eines produktiven Zusammenhangs werden. Wenn wir nämlich eine Institution nicht als eine in Stein gemeißelte Struktur, sondern als eine von diversen Akteur*innen betriebene stetige Praxis begreifen, lässt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft stellen: Wer betreibt diese instituierende Praxis, wer ist also der*die Produzent*in der Institution, wer arbeitet an ihrer Veränderbarkeit, wer gestaltet sie mit welchen künstlerisch-kritischen Intentionen? Was, wenn die diversen Akteur*innen eines Theaters die Institution genauso als Werk-in-progress begreifen wie eine Inszenierung oder ihre künstlerische Theaterpraxis generell? Wenn »Theater machen« und »Institutionen machen« keine getrennten Angelegenheiten sind, sondern zum gleichen Tätigkeitsfeld gehören: der Gestaltung eines künstlerischen Produktionszusammenhangs? Hier wird es Zeit für ein, frei nach Leslie A. Fiedler, »cross the borders, close the gaps«. Ein Theater produziert nicht nur Werke für ein Publikum, sondern auch Kommunikationsstrukturen und Verhältnisse des sich-gegenseitig-aufeinander-Beziehens, des sich-Zeigens, sich-ausgesetzt-Seins, die als politisch zu begreifen sind, weil sie auf die Lebensbedingungen, Fertigkeiten, Potentiale und die psychische Disposition der Mitarbeitenden einer Organisation zurückwirken. In diesem Sinne wird der Betrieb zu einem binnenpolitischen Raum, in dem sich diejenigen bewegen und ihn gestalten, die sich als seine »Autor*innen« begreifen, zu einem »Raum mit Öffentlichkeitsstruktur«2 (Paolo Virno), der beansprucht, was früher dem Feld der Politik vorbehalten war: das Verhandeln der Bedingungen der Zusammenarbeit und des betrieblichen Zusammenlebens. »Institutionelle Autor*innen« agieren innerhalb einer Organisation als Doppelagent*innen: Sie sind meist als ausgebildete professionelle Theaterschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie oder Kulturmanagement angestellt – gleichzeitig übernehmen sie informell häufig institutionstransformative Aufgaben. Damit gemeint sind Tätigkeiten, die nicht nur einen kritischen Diskurs über die Verfasstheit einer Institution 1 2

Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Intendant. https://www.dwds.de/w b/Intendant [15.11.2022]. Virno, Paolo: Grammatik der Multitude, Wien: Turia + Kant, 2019.

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etablieren und aufrechterhalten, sondern auch in der Verschränkung von strukturellen Maßnahmen und künstlerischen Praxen institutionelle Veränderungen prozessieren. Für diese Tätigkeiten gibt es bis anhin weder Berufsbezeichnungen und noch finanzierte Positionen, sie bewegen sich fluide zwischen künstlerischer und organisatorischer Praxis und sind in einem traditionellen Organigramm nicht lokalisierbar. Trotzdem finden in Theatern gegenwärtig zahlreiche kollaborative, institutionstransformierende Prozesse statt, die diverse Themen, Ziele und Ausprägungsformen haben.

Ein Beispiel: Schauspielhaus Zürich Fokus Schauspielhaus Zürich: Dort zeigen sich zurzeit verschiedene Formen einer möglichen »institutionellen Autor*innenschaft«. Mit der Intendanz von Stemann/von Blomberg hat 2019 am Schauspielhaus Zürich das Projekt eines Theaters begonnen, das Diskriminierungen jeglicher Art entgegenarbeiten und geschützte Räume für künstlerische Entfaltung jenseits traditioneller Machtverhältnisse schaffen möchte. Ein solches Projekt, das die Betriebskultur und -struktur von Grund auf mit neuen Prämissen unterlegt und ideell durchdringt, ist langfristig angelegt und muss auf vielen Ebenen stattfinden. Einige der transformativen Ziele des Hauses bedürfen direktiver struktureller Massnahmen: Die Zugänglichkeit für alle Körper zu Positionen, Strukturen und Räumen der Institution kann zum Beispiel top down über eine diskriminierungssensible Einstellungs- und Lohnpolitik, eine fest angestellte Diversitätsagentin, Anpassungen in der Infrastruktur, neue Standards in der Kommunikation und weitere Strategien, die Ungleichheiten aller Art auffangen, vorangetrieben werden. Institutionelle Autor*innen interessiert hingegen, wie diskriminierungssensible Strategien von den Mitarbeitenden selbst initiiert, praktiziert und vergrössert werden und bottom up in eine Institution hineinwachsen können. Alle hier skizzierten Vorstöße, Projekte und Versuche am Schauspielhaus zeichnet aus, dass sie eigeninitiativ und informell sind, sie entstehen jenseits der offiziell vereinbarten Aufgaben der Mitarbeitenden im Betrieb und außerhalb von Sitzungsstrukturen. Sie sind oft abteilungsübergreifend und kollaborativ organisiert. Einige der Bewegungen diffundieren noch nicht in die Gesamtstruktur des Hauses, erobern sich aber ständig mehr Raum. Ein paar Beispiele:

Fadrina Arpagaus: #Do-it-ourselves









Eine Kostümassistentin treibt die Dekolonisierung des Kostümfundus voran und durchforstet die Kostümteile nach tradierten kolonialen, rassifizierten Stereotypen, katalogisiert Bleibendes und entsorgt Überkommenes. Die fünf festangestellten Produktionassistent*innen haben ein Manifest verfasst, in dem sie nicht nur ihre Aufgaben neu definieren und ihre Grenzen markieren, sondern sich auch von der traditionellen Rolle als Dienstleistende der Regie verabschieden. Das Manifest ist für Probenprozesse am Haus mittlerweile bindend. Produktionen mit sensiblen Themen, die sich um Intimität, Sex, Machtmissbrauch und Körperbilder drehen oder auf der Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen basieren, erhalten nun auf Initiative der Dramaturgie eine Begleitung durch diskriminierungssensible Coaches und/oder eine*n Intimacy Coordinator, die*der verantwortlich ist für die Schaffung eines diskriminierungsarmen Probenraums. So werden Produktionen nicht nur körpersensitiv begleitet, sondern auch der hausinterne Diskurs über die Themen Safer Spaces und Consent, Verletzlichkeit und Vertrauen abteilungsübergreifend vertieft. Eine Gruppe von Dramaturg*innen, Assistent*innen und Ensemblemitgliedern erarbeitet zur Zeit eine »Praxis der Fürsorge«, ein kollaboratives Projekt, das sich zum Ziel setzt, für die Mitarbeitenden des Hauses ein Bündel von Strategien zu entwickeln, die einen bewussten und sorgsamen Umgang mit unterschiedlichen Körpern, anti-diskriminatorisches Sprechen und machsensitives Handeln im Betrieb nachhaltig verankern. Sie fragen, wie Praktiken der Fürsorge alle Körper mitdenken und ihrer Verletzlichkeit und Gefährdung durch Krankheit, Erschöpfung und Diskriminierung gerecht werden können; wie sich ein sorgsames Sprechen in Arbeitssituationen – zum Beispiel in Proben, Sitzungen, im Austausch mit dem Publikum – an einem Haus etablieren kann. Wie aktiv ein Selbst-Bewusstsein für das eigene Handeln, die eigenen Grenzen, das eigene Sprechen und das der anderen entwickelt und in Proben- und Arbeitssituationen Consent hergestellt und abgelehnt wird. Wie Mitarbeitende eine gegenseitige Sorgfaltspflicht wahrnehmen können. Das Team bietet Räume für Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen und entwickelt ein regelmässiges Angebot an Übungen, Trainings und Tools für den Berufsalltag.

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Fazit In all diesen Projekten wird eine »institutionelle Autor*innenschaft« sichtbar, die ein Theater als Organisation als veränderbar begreift und im Rückgriff auf tradierte Strukturen kritisch beleuchtet und transformiert. So wirken die Initiativen auf Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein, denken Repräsentationspolitiken mit – und prägen eine neue Kultur des Produzierens und Zusammenarbeitens am Theater. Der Begriff der »institutionellen Autor*innenschaft« eröffnet demnach ein neues Terrain innerhalb der Institution (und der konkreten Organisation), den es auszuloten gilt. Mit ihm treten die Mitarbeitenden eines Theaters auf neue Weise in die Sichtbarkeit. Indem sie Handlungsmacht auf institutioneller Ebene erlangen, Prozesse initiieren und gestalten und ihre Potentiale besser ausschöpfen können, verändern sich ihr Status und ihre Handlungsfähigkeit in einer Organisation und damit traditionelle Berufsbilder. Das Bündel dieser institutionstransformierenden Prozesse steht für ein emanzipatorisches Theater, das es, wie alles am Theater, kollaborativ zu erproben und nachhaltig in der entlohnten Arbeitszeit zu verankern gilt. Und weil es wichtig ist, steht es am Ende: Ohne Geld und ohne Zeit gibt es keine institutionstransformierenden und emanzipatorischen Vorgänge – egal, auf welcher Ebene eines Betriebs sie stattfinden. Nur wenn Praxen des Instituierens, wie auch immer sie aussehen und wo auch immer sie stattfinden, Teil der Berufsbilder am Theater und anerkannter Teil vertraglich vereinbarter Aufgaben werden, kann »institutionelle Autor*innenschaft« tradierbares Wissen generieren und nachhaltig wirksam und sichtbar sein. Darum ist dieser Text ein Plädoyer für den Oktopus statt für das weiße Pferd, auf dem ein meist männlicher Ritter-Intendant die Zügel straff in der Hand hält. Für den Oktopus, bei dem der eine Arm vielleicht nicht weiß, was der andere macht, einen violetten Oktopus, wie er seit Antritt der neuen Leitung als Maskottchen in der Zürcher Gessnerallee lebt.3 Und damit ein Plädoyer für eine Institution, die in ihrem Kopf Platz für neun Gehirne hat und viele Arme braucht, um mit der Wirklichkeit ihrer Mitarbeitenden in Berührung zu kommen. Theater ist ein wildes Tier mit mehr als einem pulsierenden Herzen.

3

Vgl. Busz, Stefan: Im Wendekreis des Kraken (Stand: 17.09.2020). https://www.tagesa nzeiger.ch/im-wendekreis-des-kraken-420805617767 [15.11.2022].

»There is a crack in everything – that’s how the light gets in« (Leonard Cohen) Neue Kollaborationen für den Kulturbetrieb Nelly Gawellek & Katharina Klapdor Ben Salem

Zum Ende des Corona-Jahres 2020 erreichte uns die Frage: »Welche Kollaborationen wünscht ihr euch für die Zukunft?« Wir, das ist die Initiative And She Was Like: BÄM!,1 die sich für einen intersektionalen Feminismus, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Solidarität einsetzt. Was also sind »Kollaborationen« für uns und wie sollen diese künftig aussehen? Und zunächst vielleicht: Was bedeutet überhaupt der gerade in jüngster Zeit oft gelesene und gehörte Begriff für den Kulturbetrieb? Tatsächlich handelt es sich ursprünglich um eine Bezeichnung aus der Kriegsrhetorik, der die strategische Zusammenarbeit mit einer feindlichen Partei beschreibt, sodass wir uns nun eigentlich zuallererst fragen müssen: Wer sind diese vermeintlichen Feind*innen? Wer soll sich verbünden? Oder besser: Wie können wir Kollaborationen als Mittel gegen Feindschaft und Konkurrenz einsetzen? Denn als feministische Initiative und als Akteur*innen im Kunst- und Kulturbetrieb wünschen wir uns, dass dieser offener, durchlässiger und transparenter wird. Wir wünschen uns, dass die Institutionen, die Kunst- und Kultur präsentieren, ihre Aufgabe als öffentlich getragene Häuser ernst nehmen – und damit in Programm, Publikum und eigenem Personal die Gesellschaft repräsentieren, die sie trägt. Doch auch wir sehen durch das Brennglas, das die Pandemie auf herrschende Missstände im Kulturbetrieb gelegt hat. Bereits existierende Konkurrenzverhältnisse wurden verstärkt, prekäre Bedingungen verschärft – und eine Verbesserung der Lage ist vorerst nicht in Sicht. Wie wollen wir also

1

Weitere Informationen zur Initiative: »And She Was Like: BÄM! e.V.« unter: https://an dshewaslikebam.de/.

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zukünftig im und als Kulturbetrieb zusammenarbeiten, um mehr Verständnis und Akzeptanz zu erzeugen, um uns gegenseitig und somit den Kulturbetrieb insgesamt zu stärken? Seit dem Bestehen von And She Was Like: BÄM! (2015) haben wir mit vielen vermeintlich gegensätzlichen Akteur*innen gearbeitet, auf Podien diskutiert, Weiterbildung betrieben, Texte und Magazine publiziert, Stammtische, Workshops und Abendschulen veranstaltet, also kurz »kollaboriert«. Unser Ziel dabei ist es stets, Orte zu erproben und Räume zu eröffnen, in denen ein offener Austausch stattfindet, der uns inspirieren, uns verändern und uns vom Denken zum gemeinsamen Handeln bringen kann. Aus unseren eigenen Erfahrungen der letzten Jahre können wir nur fordern, dass wir mutig sein und uns gegenseitig zuhören müssen: Die institutionell geförderten Häuser den Menschen in ihrer Stadt, die Akteur*innen in diesen Häusern, jenen in der sogenannten freien Szene, die Kulturpolitik, den Vereinen und Initiativen, lokale Künstler*innen, jenen, die neu hinzukommen, Feminist*innen der ersten Stunde, jenen, die heute aktiv sind – es gibt so viel Wissen zu teilen und so viele Möglichkeiten, daran zu wachsen!

Kultur der Konkurrenz Noch vor wenigen Jahrzehnten befand sich der Kunst- und Kulturbetrieb fest in der Hand weißer, heteronormativ geprägter cis-Männer. Vieles hat sich seither verändert und ist in Bewegung geraten. Eine Kulturlandschaft ganz ohne Frauen in entscheidenden Positionen kann sich heute glücklicherweise kaum noch jemand vorstellen. Wenngleich Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Gender-Pay-Gap und Sexismus immer noch traurige Aktualität haben und wir zukünftig an vielen kleinen und größeren Rädern werden drehen müssen, bedeutet tatsächliche Gleichstellung jedoch noch viel mehr als eine Männer-Frauen-Balance. Unsere Gesellschaft besteht aus Personen mit wesentlich komplexeren Identitäten als der Binarität männlich-weiblich, sie ist geprägt von unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven. Um diese Gesellschaft zusammen zu halten und gerechter zu machen, müssen wir Wege finden, diese Diversität anzuerkennen und zu vermitteln. Eine lebendige, aktive, visionäre Kunst- und Kulturlandschaft kann nur entstehen, wenn nicht eine relativ kleine und homogene Gruppe von Menschen »Kultur für« eine sehr viel größere und sehr viel hetero-

Nelly Gawellek & Katharina Klapdor Ben Salem: Neue Kollaborationen für den Kulturbetrieb

genere Gruppe macht. In der Zukunft hat daher Intersektionalität #neueRelevanz.

Kernproblem: Das eigene Haus Genauso wie ein erfolgreicher Feminismus kein Kampf von Frauen gegen Männer sein kann, kann die Forderung nach Teilhabe und Diversität nicht auf Konkurrenzkämpfen beruhen. Genau dies scheint jedoch ein Kernproblem zu sein. Eine Studie zur Relevanz und Umsetzung von Diversität2 in 262 vom Land geförderten Kulturinstitutionen NRW zeigte 2019, dass Diversität zwar als wichtig erachtet wird, Anspruch und Realität in vielen Fällen jedoch weit auseinanderklaffen. Ausgerechnet bei den eigenen Strukturen bleibt man zögerlich und so wird Kultur an den entscheidenden Positionen weiterhin größtenteils von Menschen gemacht, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Warum ist das so? Die Erklärung scheint gerade in der aktuellen Situation auf der Hand zu liegen: Neben den prekären Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb und dem daraus entstehenden kapitalistisch geformten Konkurrenzdruck, der Solidarität verhindert und Akteur*innen vereinzelt, liegt es möglicherweise auch in einem Ausschluss nicht-eigener Perspektiven. In einem Kulturbetrieb, der von Akteur*innen getragen wird, deren Fokus schon allein bedingt durch die universitäre und akademische Ausbildung ein eurozentrischer ist, bedeutet Diversität auch eine Verschiebung dessen und möglicherweise eine Marginalisierung der eigenen Perspektive und Expertise. Die im Verborgenen wirkenden Ablehnungsmechanismen gründen auf der Angst, dass sowieso schon begrenzte Ressourcen, wie zum Beispiel Fördermittel, mediale Aufmerksamkeit oder Publikum geteilt werden müssen, auf der Angst, dass das eigene Wissen an Bedeutung verliert. Der fehlende Mut, eigene Privilegien und die Deutungshoheit abzugeben, verstellt auch hier, wie in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, den Blick auf das Potential von Veränderung.

2

Vgl. Barz, Heiner (Zukunftsakademie NRW): Vielfalt im Blick. Diversität in Kultureinrichtungen (Stand: 2019). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/1 2/zak_nrw_vielfalt_im_blick.pdf [15.11.2022].

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Kollaborationen der Zukunft Unsere Forderung nach mehr Offenheit geht deshalb dringend einher mit der Forderung, unseren Blick auf die Chancen zu richten. Was wäre, wenn nicht nur die Programmabteilung des Konzerthauses Stücke aussuchen würde, sondern auch Mitarbeiter*innen und Musiker*innen? Oder wenn ethnologische Museen in Deutschland sich bei den zahlreichen migrantischen Selbstorganisationen darüber erkundigen würden, wie die nächste Dauerausstellung zu gestalten sei? Stellen wir uns vor, in den Theatern würden divers besetzte Teams, ganze Ensembles, ihre Intendant*innen, Regisseur*innen und Autor*innen gemeinsam Stücke auf die Bühne bringen, die nicht ausschließlich zu einer weißen, europäischen Identitätskonstruktion gehören, sondern auch solche, die für andere Teile der Bevölkerung maßgeblich Kulturgeschichte geprägt haben. Wie sähen die Theater, Museen, Konzerthäuser, die Archive und Bibliotheken der Zukunft aus und wer würde sie besuchen? Welche Institutionen, Netzwerke und Räume gäbe es, die wir heute noch gar nicht denken können? Unser Wunsch ist es, dass wir diese Potenziale erkennen und nutzen. Wir plädieren also für Risse und Öffnungen, für ungewöhnliche Gespräche, ungeahnte Begegnungen, formellen und informellen Austausch, für das Hereinlassen vieler unterschiedliche Perspektiven – voller Vertrauen darin, dass nur gemeinsam etwas Neues entstehen kann.

Nur die Bretter, die die Welt bedeuten Jessica S. Weisskirchen Von »den Brettern, die die Welt bedeuten«1 schrieb Friedrich Schiller in seiner Ode An die Freude, die seither als Synonym für die Theaterbühnen stehen. Oft zitiert, klingen diese Worte für mich nach einer abgedroschenen und romantischen Vorstellung von rauschenden Premieren, gefeierten Künstler*innen und einem begeisterten Publikum. Wieviel Impact diese Worte aber tatsächlich Tag für Tag auf mich, meine Arbeit als Regieassistentin am Stadttheater und die Theaterwelt haben, beginne ich erst langsam im vollen Umfang zu begreifen. Schiller betrachtete die Schaubühne als eine immerwährende Institution mit zeitlosen Idealen – als eine moralische Anstalt: »Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt […]«.2 Schiller in allen Ehren, versuche ich diese von ihm beschriebenen Ideale in den deutschen Theaterbetrieben zu finden, finde sie nicht und entdecke im Gegenteil ein strukturelles System höchster Doppelmoral auf den Bühnen, hinter den Kulissen und in den Rängen und frage mich, ob der moralische Zusammenbruch im Theater bereits stattfindet und ob er umzukehren ist. Beide Fragen beantworte ich mit Ja und dies führt mich zum Wie. In meinem Essay untersuche ich das System Stadttheater auf seine inneren Strukturen, überprüfe den Stellenwert der demokratischen Werte und nehme hierfür besonders Bezug auf den Berufsstand der Theaterassistierenden. Ich stelle die These auf, dass das Stadttheater ein System falscher Werte ist und sich selbst abschaffen wird, wenn es seine hierarchischen Strukturen 1

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Friedrich Schiller Archiv: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. https://www.friedrich-schiller-archiv.de/philosophische-schriften/die-schaubueh ne-als-eine-moralische-anstalt-betrachtet/ [15.11.2022]. Ebd.

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nicht reformieren und seinen elitären Herrschaftsgedanken nicht ablegen wird. Die Assistierenden stellen die Krücke eines kranken Systems dar. Ferner verfolge ich die These, dass eine Heilung der Basis die Lösung für die aufgeführte Problematik bereitet. Diese Basis bilden die Assistierenden.

Die systematische Abschaffung »Der Apparat triumphiert immer noch, sinkende Besucherzahlen drohend im Nacken«,3 schrieb die Theater Heute. Laut der aktuellen Statistik des Deutschen Bühnenvereins 2017/2018, stieg die Anzahl der Neuinszenierungen und die des theaternahen Rahmenprogramms, bei gleichzeitig sinkenden Besucherzahlen. Das Theater bangt um seine Relevanz innerhalb der Gesellschaft und kämpft um seine Sichtbarkeit, vor allem beim jüngeren Publikum und scheitert bisher in der Konkurrenz zu den Neuen Medien. Den Zuschauerraum füllen, auch über die deutschen Grenzen hinweg, hauptsächlich die treuen Abonnent*innen, von einem diversen Publikum kann allerdings keine Rede sein. Der Wunsch nach einem diversen Ensemble und Diversität innerhalb der Leitungsteams besteht zwar, findet aber in der Realität kaum Umsetzung. Dies wäre aber angesichts der Erstarkung von Rechtspopulisten in Deutschland und Europa eine der wichtigsten Maßnahmen. Diese Tragödie stürzt die Theater in ein Dilemma, das unter anderem direkte Auswirkungen auf die inneren Strukturen der Betriebe hat. Es gilt: In kürzerer Zeit mehr Produktionen auf die Bühnen bringen, die sich gegenseitig in ihrer Komplexität und in ihren technischen Anforderungen überbieten sollen. Die Hoffnung: Das Publikum bei Laune zu halten und die eigene Finanzierung zu sichern. Überarbeitete und unterbezahlte Mitarbeiter*innen, finanziell ausgebeutete Künstler*innen und technische Abteilungen mit überlasteten Werkstätten sind die Folge. Zunehmend gelangen Informationen über schlechte Arbeitsbedingungen, Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit. Der Verdacht kommt auf, dass sich die Stadttheater zunehmend zu problematischen Orten entwickeln, die in ihrer Außenwirkung so gar nicht mit einem liberalen und demokratischen

3

Wille, Franz: Die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins zählt die Gaben, in: Theater Heute. Nr. 12, 2019, S. 1

Jessica S. Weisskirchen: Nur die Bretter, die die Welt bedeuten

Kunstverständnis übereinstimmen. Überkommene Hierarchien und der unerschütterliche Glaube an das künstlerisch autonome Regiewerk sind die Realität. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, gilt es in die neue Generation – die Assistierenden – zu investieren und diese zu selbstreflektierten und verantwortungsvollen Theatermacher*innen auszubilden, die im Bewusstsein eines inklusiven, weltoffenen und inspirierenden Theaters des 21. Jahrhunderts handeln.

Theaterassistent*innen – die faulende Basis Ich möchte mich im weiteren Verlauf auf die Assistierenden konzentrieren in dem Bewusstsein, dass die Situation für Schauspielanfänger*innen ähnlich prekär ist. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Assistierenden wird unmittelbare positive Effekte auf die Arbeitsbedingungen der jungen Spieler*innen haben und darüber hinaus das gesamte Theatersystem von unten nach oben reformieren. Die Assistierenden sind die Zugpferde der Theater. Trotzdem oder gerade deswegen sind sie in der Regel kaum vertraglich geschützt. Im Gegenteil: Die Häuser erhöhen zusätzlich den Druck auf ihre Assistent*innen, indem sie meist nur die Mindestgage erhalten, im Verhältnis aber die meisten Arbeitsstunden leisten und ohne vertragliche Absicherung oder berufliche Perspektiven sind. So entziehen die Theater ihren Assistierenden jegliche Grundlage für ein erfüllendes Berufs- und intaktes Sozialleben.4 Dies hat zur Konsequenz, dass die Betroffenen ihren Lebensmittelpunkt in den Betrieben verordnen, was zu einem positiven Abhängigkeitsverhältnis für die Häuser führt, die nun noch einfacher über ihre Assistierenden verfügen können. Das Schwächen der Basis hat System: Die Häuser haben kein Interesse an der Ausbildung, Förderung oder Ermächtigung ihrer Assistierenden, nicht zuletzt, weil für eigene Arbeiten, ein Mentoring durch die Dramaturgie oder Regie keine Zeit vorgesehen ist. Mündige und verantwortungsvolle Partner*innen auszubilden, würde faire Löhne, angemessene Arbeitszeiten und -bedingungen erfordern – dies nicht im Sinne der Häuser. Für sie scheint es finanziell rentabler zu sein, die Assistierenden in regelmäßigen Abständen auszutauschen, da viele von ihnen ohnehin von einer Vertragsverlängerung absehen. 4

Vgl. Schmidt, Thomas: Macht und Struktur im Theater – Asymmetrien der Macht, Wiesbaden: Springer Fachmedien Verlag, 2019, S. 156.

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Zeitgleich wird eine neue Assistent*innen-Generation an die Theaterküste gespült. Es wird kein Mehrwert erzeugt: Wissen wird nicht weitergegeben, Erfahrungen verbleiben bei Einzelpersonen. Die Assistierenden nehmen diese Umstände in Kauf, in der Hoffnung auf Wertschätzung, eine künstlerische Ausbildung und eine anschließende Theaterkarriere, mit der sie nicht selten in den Beruf gelockt werden. Dieser Tradeoff zwischen Zeit, Geld, Erfolg und Sicherheit ist vollkommen irrational aufgebaut. Dies führt zu Frustration, Wut, Angst und Unsicherheit bei den Theatermacher*innen und Leitungsteams von morgen. Versagensängste werden geschürt und so tief verankert, dass sie sich durch die gesamte Berufslaufbahn ziehen – keine guten Grundvoraussetzungen für das potentielle Mitglied einer zukünftigen Theaterleitung. Die überholten Werte und asymmetrischen Machtstrukturen werden auf perfide Weise auf die nächste Generation übertragen.5 Das System sichert sich selbst und verhindert eine Reformierung der Theater. Daher gilt es, den Assistenzberuf hinsichtlich seiner Nutzen-KostenAbwägung neu zu balancieren, um so einen fruchtbaren Nährboden für das Theater der Zukunft zu generieren.

Die Ausbeutung durch Nicht-Ausbildung Wie sieht der Arbeitsplatz eines Theaterassistierenden aus? Die wenigsten Kolleg*innen bekommen eine Einführung in ihren zukünftigen Tätigkeitsbereich oder eine Stellenbeschreibung ausgehändigt. In den meisten Fällen gibt es keine festen Ansprechpartner*innen, die für Assistierende zuständig sind. Wissen über strukturelle Abläufe während des Probenprozesses, der Umgang mit den verschiedenen Gewerken und den Gastkünstler*innen, sowie das Voranbringen der eigenen künstlerischen Karriere wird nicht weitergegeben und bewusst zurückgehalten, um den Berufsstand zu schwächen. Die meisten Kolleg*innen gehen daher durch eine harte Schule, in der sie nach dem Trial-And-Error-Prinzip auszuloten versuchen, was ihre Aufgaben, Pflichten, und seltener ihre Rechte sind. In dem hierarchischen System haben sie als letztes Glied der Kette keine Autorität, keine Autonomie und müssen als Kommunikator*innen der Produktionen alle Aufgaben von unten nach oben delegieren, was einen Widerspruch in sich bildet. Dieses Arbeitsumfeld verhindert aktiv, dass sich die Assistierenden zu fähigen Mitarbeiter*innen ent5

Vgl. ebd., S. 7.

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wickeln, was nicht selten zu Mobbing und einem respektlosen Umgang mit den Betroffenen führt. Dazu kommt ein enormes Arbeitspensum: Die Arbeit der Theaterassistent*innen umfasst die komplette Organisation und Koordination einer Produktion, spätestens ab dem ersten Probentag. Sie sind Dreh- und Angelpunkt in der Kommunikation innerhalb und zwischen den externen Regieteams, den Darsteller*innen, den verschiedenen Gewerken, der Disposition und der Leitung. Sie sind verantwortlich für einen reibungslosen Probenprozess und verpflichtet, zu jeder Zeit für alle Produktionsbeteiligten und deren Bedürfnisse Ansprechpartner*innen zu sein. Bei einer durchschnittlichen Produktion eines Bühnenstücks bedeutet dies die Koordination von 30 bis 40 Mitarbeiter*innen rund um die Uhr. Bei einer Projektdauer von durchschnittlich vier bis acht Wochen und einer Produktionsdichte von nicht selten fünf bis sieben pro Spielzeit. Assistierende gleichen fehlerhafte Ressourcenplanung und Personalmangel aus, indem sie den verschiedenen Abteilungen zuarbeiten. Sie betreuen den Abendspielplan des laufenden Repertoires sowie Wiederaufnahmen, Umbesetzungen und Gastspiele. Ein komplexer und verantwortungsvoller Job, der innerhalb des Systems nur eine geringe Wertschätzung erlangt. In der Regel ist dieses Arbeitspensum ohne die Unterstützung von Hospitierenden nicht zu bewältigen. Diese arbeiten in der Regel unbezahlt und übernehmen nicht selten hauptverantwortlich die Arbeit der Assistierenden, wenn diese nicht auf den Proben sein können. Das System fußt demnach auf unbezahlten und nicht ausgebildeten Arbeitskräften. Die offizielle Wochenarbeitszeit der Assistierenden von circa 44 Stunden berechnet sich wie folgt: 5 Tage à 8 Arbeitsstunden plus 4 Stunden durchschnittlicher Wochenendarbeit. Der realistische Arbeitsaufwand, beläuft sich allerdings auf mindestens 54 Stunden pro Woche: 5 Tage à 10 Arbeitsstunden plus 4 Stunden durchschnittlicher Wochenendarbeit. Während der Endproben, die im Durchschnitt zwei Wochen vor der geplanten Premiere beginnen, erreicht das tägliche Arbeitspensum der Assistent*innen Spitzenwerte von 14 bis 16 Stunden und mehr. Die Zahlen berücksichtigen die 1,5 freien Tage der Sonderregelung des NV Bühne Solo-Arbeitsvertrages. Als Beispiel liste ich im Folgenden einen Endprobentag auf, wie er im Tagesplan des künstlerischen Betriebsbüros verfasst werden könnte:

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• • •

10:00-14:00 Szenische Bühnenproben 14:00-17:30 Beleuchtungsproben 18:00-22:45 Szenische Bühnenproben

Daraus ergibt sich ein von der Disposition geplanter Arbeitstag für Assistierende von 12 Stunden 15 Minuten, ohne vereinbarte Pausen. Zusätzliche Arbeiten, die nicht auf den Tagesplänen gelistet sind: • • •

09:00-10:00 Vorbereitung und Organisation der Bühnenprobe 17:30-18:00 Vorbereitung und Organisation der Bühnenprobe 22:45-0:00 Kritik des Regieteams, Planung des folgenden Probentags

Es ergeben sich weitere 2 Stunden 45 Minuten ohne geplante Pause. Die Dunkelziffer der Arbeitsstunden könnte höher liegen, da bei der Auflistung keine Zeit für Telefonate, Schriftverkehr und Meetings berücksichtigt wurde. Die Frage nach der Einhaltung von Ruhe- und Nachtruhezeiten erübrigt sich in der Darstellung. Da im Durchschnitt fünf bis sieben Produktionen pro Spielzeit betreut werden, ist davon auszugehen, dass geleistete Mehrarbeit nicht ausgeglichen werden kann, da kein zeitlicher Rahmen dafür vorgesehen ist. Durch das Überschreiten der täglichen Arbeitszeit von 10 Stunden, dem nicht gegebenen Freizeitausgleich und der Verkürzung der Nachtruhe sowie der vertraglich festgelegten Ruhezeiten, verstoßen die Betriebe gegen das Arbeitszeitgesetz und bewegen sich im illegalen Bereich. Selten werden verkürzte Ruhezeiten und verkürzte Nachtruhe in Form eines »Schweigegeldes« beglichen. Dafür müssen die geleisteten Überstunden auf dem Tagesplan der Disposition nachvollziehbar sein. Zusätzliche Mehrarbeit, die nicht auf dem Tagesplan vermerkt wird, fällt unter den Tisch. Die Crux dabei: Das künstlerische Betriebsbüro entscheidet, welche Personen und Tätigkeiten auf dem Tagesplan vermerkt werden, somit liegt die Beweispflicht bei den Assistierenden, die nun mehr über eine privat erstellte Arbeitszeiterfassung ihre Überstunden nachzuweisen versuchen. Ein Versuch, der oftmals ins Leere läuft. Nicht alle Assistierenden sind Berufsanfänger*innen, ebenso besitzen viele von ihnen ein abgeschlossenes Hochschulstudium, trotzdem entspricht ihr Gehalt in den meisten Fällen einer Einstiegsgage von 2.000 Euro bis 2.100 Euro brutto. Schauspielanfänger*innen steigen ebenfalls in dieser Gehaltsklasse ein.

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Das Weiße Theater für alle »›Wir kriegen das Geld vor allem, um Widerstand zu leisten gegen die Mächtigen, gegen die schlechten Sitten, gegen die Korruption, gegen das Verbrechen, gegen den Faschismus, gegen den Antisemitismus‹, hat Claus Peymann bewusst provokant aber unverändert aktuell formuliert.«6 Als finanzierte Kulturinstitution steht das Theater in der Pflicht, für alle Bevölkerungsgruppen und -schichten zugänglich zu sein – unabhängig von Herkunft, sozialem oder wirtschaftlichem Background. Um das zu erreichen, müsste der Spielplan ein breites Spektrum an Themenkomplexen verhandeln und so vielfältig werden wie unsere Gesellschaft. In der Realität aber kämpfen die Theater mit sinkenden Besucherzahlen, die gesellschaftliche Relevanz von Theater nimmt ab und in endlosen Debatten geht es um die Fragen, wie mehr Diversität auf der Bühne und im Zuschauerraum geschaffen werden kann und wie man das Interesse beim jungen Publikum weckt. Denn leider sind Theater noch immer Orte der Stände und Klassen: Es kommt ins Theater, wer es sich leisten kann und wer sich angesprochen fühlt. Viele der am Theater arbeitenden Künstler*innen haben einen akademischen Background und kommen aus der wohlhabenden Mittelschicht. Dies ist nicht sehr verwunderlich, wenn man sich verdeutlicht, dass Berufsanfänger*innen aufgrund der geringen Einstiegsgage von 2.000,- Euro brutto oftmals auf den finanziellen Rückhalt ihres Umfeldes angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Theaterschauen und Theatermachen bleibt daher noch immer einer privilegierten Minderheit vorbehalten, die sich Theater leisten kann – allen anderen bleiben die heiligen Hallen verschlossen. Das Problem: Theater hat sich zunehmend zu einem intellektuellen Dunstkreis elitärer Selbstgerechtigkeit entwickelt. Die Tragik: Das Theater kennt die Problematik eines weißen Theaters im Innern und die Konzentration auf ein weißes bildungsbürgerliches Publikum nach Außen, zieht aber aus der Erkenntnis nur wenige künstlerische Schlüsse. Theater ist eine Organisation mit Moralkodex. Eine Organisation, die von einem patriarchalen, hauptsächlich weißen, abled, akademisierten und heterosexuellen System getragen wird. Die geprägt ist von Hierarchien, Machtmissbrauch und Selbstgerechtigkeit. Ein

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Reuther, Eva-Maria: Das öffentliche Theater als Spiegel der Gesellschaft – Sein Bildungsauftrag und sein Beitrag zum demokratischen Diskurs. https://opus-kulturmag azin.de/das-oeffentliche-theater-als-spiegel-der-gesellschaft/ [15.11.2022].

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solches Theater kann keine Institution für Gleichheit, Diversität, Inklusion und Partizipation sein. Wie können Theater wieder eine Kulturinstitution mit Bildungsauftrag werden und offen für alle Bevölkerungsschichten sein?

Diversität in Bezug auf die Ethnie Die Bretter, die die Welt bedeuten – ein Hort für die Kunst des weißen privilegierten alten Mannes? Der Anspruch nach Critical Whiteness ist kompliziert, wenn wir das Theater in seinen Grundstrukturen in einem rein weißen System gefangen halten. Diversität kann nur gelingen, wenn gezielt die künstlerische Bearbeitung von nicht-weißen Narrativen und Thematiken durch BIPoCs gefördert werden. Bereits werden Stimmen betroffener Personen laut, die von reverse discrimination sprechen: Kann es demnach die Lösung sein, Theater so weit zu beschneiden, dass die Bearbeitung bestimmter Stoffe nur den Künstler*innen vorbehalten ist, die direkt von der Thematik betroffen sind? Ein Blick in die Theatergeschichte beweist, dass in der Vergangenheit alle Stoffe ausschließlich von weißen Künstler*innen bearbeitet wurden. Ein System und sein Publikum, das zuvor nie nicht-diskriminierend war, sollte den eigenen Anspruch haben, zunächst seine inneren Strukturen und Sehgewohnheiten zu korrigieren, bevor es von Gleichberechtigung sprechen kann. Die Zeit drängt, sich genau auf dieses konträre Experiment einzulassen, eine Neustrukturierung voranzutreiben und das überkommene Wertesystem von innen heraus zu revolutionieren. Auch hier sehe ich den Lösungsansatz in der Ausbildung der Assistierenden: Wird der Weg frei für junge Theatermacher*innen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und -schichten, werden diese im Umkehrschluss neue Bedürfnisse an das Theater und seine künstlerischen Ansprüche stellen und mit ihrem Wissen und Erfahrungen neue Formate und Narrative formen. Dieser neue künstlerische Ansatz wird in der Lage sein, ein neues Publikum für sich begeistern zu können.

Systemrelevanz und Neue Medien Seit Februar 2020 legt der Ausbruch von Covid-19 die gesamte Theaterbranche lahm. Laut Politik gilt das Theater als nicht systemrelevant. Im Stufenfahrplan Baden-Württembergs beispielsweise, zur schrittweisen Lockerung der Coro-

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na-Beschränkungen, finden sich die Theater auf der 5. Stufe und fallen unter »nicht absehbar«. Auch von Seiten der Bevölkerung gibt es außerhalb des traditionellen Publikums und jenen, die am Theater arbeiten, nur wenige Stimmen, die eine schnelle Wiedereröffnung der Betriebe fordern. Es scheint, als habe das Theater seine Relevanz nicht nur innerhalb der Politik, sondern auch innerhalb der Gesellschaft verloren. Covid-19 und seine Folgen decken diese Realität lediglich auf. Das Versammlungsverbot entzieht den Theatern die existentielle Grundlage, trotz ausgefeilter Hygienekonzepte, und deckt die mangelnde Investition der vergangenen Jahre in Neue Medien auf. Mit dem Hochladen von laienhaften Homevideos der Darsteller*innen und der Veröffentlichung von qualitativ minderwertigen Mitschnitten, versuchen die Theater über das Netz präsent zu bleiben. Dabei wirken die wenig repräsentativen Formate eher abschreckend auf Nicht-Theatergänger*innen, anstatt diese von einem zukünftigen Theaterbesuch zu überzeugen. Über das Streaming von archivierten Inszenierungen freut sich derweil wohl eher nur das Fachpublikum. Im Vergleich zu den hippen Videos der Digital Natives, fällt das Theater weit zurück. Dabei gilt es gerade diese Generationen als zukünftigen Publikumsstamm zu begeistern. Das Theater gerät zunehmend unter den Druck, sich gegen die Neuen Medien zu behaupten. Der eigene Anspruch wächst, tagesaktuelle Diskurse auf der Bühne quasi sofort verhandelbar zu machen. Der Wunsch, sich immer wieder neu erfinden zu können, wird zur Belastungsprobe. Das Theater fürchtet um nichts Geringeres, als um seinen Platz in einer schnelllebigen Welt, der es nicht hinterherkommt und lässt sich auf einen ungleichen Wettkampf ein, den es nicht gewinnen kann. So fallen die Institutionen dem eigenen Trugschluss zum Opfer, ihre Existenz legitimieren zu müssen, indem sie sich in die Konkurrenz zu den Neuen Medien begeben. Dabei verliert das Theater seine Authentizität. Theater ist (noch) nicht dafür konzipiert, aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen ad hoc auf der Bühne umzusetzen, sondern dafür, Narrative und Formate zu entwickeln, die in ihrer Übersetzung zeitlos sind. Es gilt daher, den Theaterbetrieb auf allen Ebenen neu zu denken: Diskurse über das post-Corona Theater sind dringend notwendig. Ebenfalls könnte diese auferlegte Auszeit von den Theatern genutzt werden, die eigenen Strukturen zu reformieren und ins Gespräch darüber zu kommen, wie das Theater des 21. Jahrhunderts eine faire und gleichberechtigte Institution werden kann. Die wenigen Häuser, die diesen wichtigen Schritt wagen und bereits gezielt in neue Formen und digi-

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tale Medien investieren, werden als Gewinner aus der Krise hervorgehen und Teil einer neuen künstlerischen Bewegung und Ästhetik sein.

Die Heilung der Basis Weltweit liegt der Schlüssel für eine offene Gesellschaft in der Bildung, im Wohlstand und in der Sicherheit der Bevölkerung begründet. Gemäß der Redewendung man erntet was man sät, gilt es, die Assistierenden im Sinne eines liberalen Theatersystems auszubilden und positiv auf ihre Entwicklung einzuwirken, um zu ermöglichen, dass sie sich zu verantwortungsvollen Theatermacher*innen und fähigen Leitungsteams zu entwickeln, die diese Werte in das Theater von morgen weitertragen: Die junge Generation wird durch eine potenzielle Bildung für die Themen unserer Zeit sensibilisiert, ist offen für alternative Vorgehensweisen und hat ein geschultes Auge für veraltete whiteness-Strukturen. Egozentrisches Vorgehen und Machtanspruch nehmen ab. Die Theater werden entriegelt und machen den Weg frei für das Theater der Zukunft, das für Gleichheit, Diversität und Partizipation steht. Eine Investition in diesen Bereich würde ganzheitliche positive Auswirkungen auf das gesamte System bedingen: Die Basis wird gestärkt, Arbeitsbedingungen und Arbeitsklima verbessern sich. Davon profitiert das Ensemble. Ein starkes Ensemble wird einen angstfreien Raum für gute Probenbedingungen schaffen. Gute Probenbedingungen bieten den Nährboden für hochwertige künstlerische Projekte. Ein gutes Arbeitsklima erhöht das gegenseitige Verständnis für die verschiedenen Arbeitsabläufe innerhalb der Gewerke und den administrativen Abteilungen. Mehr Verständnis erleichtert die Kommunikation. Dies wirkt sich positiv auf den Produktionsprozess aus. Zeit und Kosten werden gespart – der Apparat läuft. Die Heilung nach innen bedingt die Öffnung der Theater nach außen: Neue Einflüsse können einströmen und bereiten den Weg für neue Visionen. Für diese Umsetzung braucht es fünf Stufen:

Stufe 1: Die Anpassung der Gagen Die erbrachte Leistung und die hohe Verantwortlichkeit des Assistierendenberufs stehen in keinem Verhältnis zur derzeit gezahlten Einstiegsgage von 2.000,- Euro brutto. Es ist notwendig, die Gehälter durch eine maßgebliche Erhöhung der Mindestgage anzupassen. Dies würde sich ebenfalls positiv auf

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den Berufsstand der Schauspielanfänger*innen und künstlerischen Mitarbeitenden auswirken, die in diesem Zuge ebenfalls eine Gagenanpassung anstreben könnten.7 Ferner ist es wichtig, Assistierende nicht per se als Berufseinsteiger*innen zu deklarieren, sondern die Vorteile und das Potential ihrer Berufserfahrung zu erkennen. Ihre Berufserfahrung ist für den Betrieb nützlich und sollte durch eine finanzielle Aufwertung gefördert werden. So könnten kompetente Kolleg*innen auch langfristig gehalten werden, was wiederum positive Auswirkungen auf den Produktionsprozess einer Inszenierung hätte und Kosten einsparen würde. Die Aufstockung der Gehälter setzt eine Umverteilung von Geldern voraus. Um in der Konsequenz andere Berufsfelder zu schützen, müssten verschiedene Stellschrauben neu justiert werden wie zum Beispiel die Anpassung von Spitzengehältern innerhalb des Systems, ein sehr gutes politisches Strategiekonzept zum Akquirieren von öffentlichen Geldern, sowie der schonende Umgang mit menschlichen Ressourcen, Material und Zeit. Letzteres ist nur durch eine Optimierung des Produktionsprozesses zu erreichen, welche eine exakte Planung durch Tages- und Wochenpläne voraussetzt (vgl. Stufe 2), an dessen Umsetzung nicht zuletzt die Assistierenden von heute und die Regieteams von morgen maßgeblich beteiligt sind.

Stufe 2: Generieren von Zeit Die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes ist nur durch eine Reduzierung des Arbeitspensums der Assistierenden zu gewährleisten. Die hohe Arbeitsbelastung und der große Zuständigkeitsbereich resultieren aus der chronischen Überarbeitung und Unterbesetzung des gesamten Apparats. Die Optimierung von Workflows, eine klare Aufgabenverteilung in Form einer Stellenbeschreibung, die Aufstockung des Personals oder die Förderung bereits bestehender Arbeitskräfte, sind Lösungsansätze. Die Standardisierung und die Effizienzoptimierung der innerbetrieblichen Arbeitsabläufe könnten vor allem im Hinblick auf aufwendige Kommunikationsstrukturen Zeit einsparen und dienen einem ökonomischen Probenprozess. Das Erstellen von verlässlichen Tages- und Wochenplänen 7

Durch den erfolgreichen Einsatz der GDBA hat sich das Gagengefüge stark verbessert. Dieser Text kommt aus der Zeit vor der Tariferhöhung.

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durch die Regie ermöglicht den Gewerken zuverlässig und mit ausreichendem Vorlauf, Anfragen zu bearbeiten und die Bereitstellung von Materialien zu gewährleisten. Redundanzen oder Fehlproduktionen könnten vermieden werden. Zusätzlich würden sie auch die effiziente Koordination von menschlichen Ressourcen ermöglichen. Produktionsbeteiligte könnten den Anforderungen entsprechend eingeplant werden. Lange Wartezeiten und Über- beziehungsweise Unterbesetzungen würden reduziert und Kosten eingespart. Auch das Zeitmanagement von Freizeit wäre reliabel. Die klare und ubiquitär zugängliche Dokumentation von sogenannten Standard Operating Procedures (SOPs) ist in anderen Betrieben und Institutionen ein bewährtes Mittel, um eine zuverlässige Sicherung und Weitergabe von ablaufrelevanten Informationen zu gewährleisten. Die Einführung einer solchen zentralen SOP-Struktur kann auch am Theater wesentlich zur Verbesserung der Effizienz sowie zur Vermeidung von Fehlern beitragen. Produktionsbeteiligte wären in einer solchen Struktur verpflichtet, die für sie relevanten Informationen selbstständig zu erfassen und umzusetzen. Zusätzlich sollten alle kurzfristigen Informationen durch die Assistierenden, via standardisierter E-Mailadressen, an alle Beteiligten verschickt werden. Der Arbeitgeber hat zu gewährleisten, dass alle Mitarbeiter*innen entweder ein internetfähiges Smartphone besitzen oder einen uneingeschränkten Zugang zu einem Rechner oder Laptop haben. Zuverlässiger Internetzugang im gesamten Theater ist unabdingbar. Die Verminderung von Redundanzen durch die Ermächtigung der Assistierenden als weisungsbefugtes Organ würde helfen, lange Kommunikationswege zu verkürzen und den Produktionsprozess zu beschleunigen. Mit der Aufstockung um eine Teilzeitkraft oder einen Minijob könnten sich die Assistierenden in den zeitintensiven Phasen der Endproben in einer Art Schichtsystem zuarbeiten. Hospitierende, die sich bereits in einer Zusammenarbeit qualifiziert haben, könnten für diese Stelle relevant sein. Diese indirekte Investition in die Hospitant*nnen wäre zugleich eine Investition in zukünftige hochqualifizierte Assistierende, welche wiederum den Produktionsprozess positiv beeinflussen würden. Ein reibungsloser und gut organisierter Ablauf spart Zeit, Geld und Nerven und würde sich in der Konsequenz positiv auf das Arbeitsumfeld auswirken. Die gewonnene Zeit sollte unter anderem in die Ausbildung der Assistent*innen investiert werden. Die Schaffung einer solchen Stelle hätte wiederum Auswirkungen auf die Umverteilung der Gelder.

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Stufe 3: Förderung und Ausbildung Der Grundstein für das zukünftige Theatersystem wird durch die Ausbildung der kommenden Generation gelegt, indem ein neues Wertesystem gefördert und neue Strategien vermittelt werden. Damit dies gelingt, müssen die Theater ihre Assistent*innen zu starken und emanzipierten Partner*innen formen, sowie sie künstlerisch und theaterpolitisch ausbilden und die Theaterassistenz als Ausbildungsberuf anerkennen. Für die künstlerische Ausbildung braucht es ein Mentoring durch die Dramaturgie oder die Hausregie und Formate, in denen sich die angehenden Künstler*innen ausprobieren können, konstruktive Kritik erhalten und ihre künstlerische Handschrift formen. Zudem sollten Weiter- und Fortbildungen angeboten werden. In eigenen Arbeiten lernen sie den Umgang mit dem Ensemble, sensibilisieren sich für strukturelle Vorgänge, einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und erkennen die Vorteile einer respektvollen und gleichberechtigten Arbeitsatmosphäre. Durch mehr Sicherheit werden Frustration und Versagensängste abgebaut und die Assistierenden entwickeln sich zu verantwortungsvollen Regisseur*innen, Ausstatter*innen und Dramaturg*innen und fähigen Leitungsteams. Es gilt, den Assistierendenberuf für Menschen zu öffnen, die, aufgrund unterschiedlicher sozio-politischer Strömungen und unterschiedlicher Expertisen, ein neues Bewusstsein für theaterrelevante Kontexte in das System einfließen lassen: Das Theater für alle, das durch Gleichheit, Diversität, Inklusion und Partizipation überzeugt, kann nur entstehen, wenn wir diese Werte in der Basis verankern. Dabei gleicht das Theater im positiven Sinne einer experimentellen Spielwiese, auf der die Auswirkungen und strukturellen Veränderungen durch demokratisches Handeln, Gleichberechtigung und Teilhabe direkt sichtbar werden und sich vom Kleinen auf das große Ganze übertragen lassen.

Stufe 4: Ermächtigung: Das assistierenden-netzwerk Zu den prägenden Erneuerungen des 21. Jahrhunderts gehören die Zusammenschlüsse der Ensembles zu Netzwerken, welche die Interessen der Berufsstände vertreten und als Gewerkschaften die Verbesserung der Arbeitssitua-

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tion vorantreiben. Dem ensemble-netzwerk8 nachempfunden, trägt das assistierenden-netzwerk9 im nationalen Austausch dazu bei, die Sichtbarkeit der Assistent*innen zu fördern, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, sowie erstmals eine gemeinsame Wertvorstellungen von gleichberechtigten Theaterstrukturen und fairen Bedingungen zu definieren. Das Netzwerk denkt Theater als soziale, solidarische, nicht-diskriminierende, faire Wirkstätte für alle Mitarbeitenden und bietet ein Forum zur Vernetzung zwischen den Assistent*innen. Es teilt Erfahrungen, Wünsche und Werte. Es tauscht sich über Arbeitsweisen, Gehälter, Vertragsverhandlungen, Fortbildungen, Debüt-Inszenierungen und Arbeitsbedingungen aus. Das Assistent*innen-Netzwerk fordert gerechte Strukturen, gute Arbeitsbedingungen und faire Vergütung sowie die Unterstützung zur eigenen künstlerischen Laufbahn von Assistent*innen ein. Ziel ist es, sich durch kollektives Wissen selbst zu ermächtigen und eine eigene Lobby zu bilden.

Stufe 5: Die Vision Zukunftsweisend wäre ein netzwerkbasiertes Ranking der attraktivsten Arbeitgeber*innen innerhalb der Theaterbranche, welches Auskunft über soziale Verantwortung, Chancengleichheit, Karriereperspektiven, Work-Life-Balance, Gehalt, Publikumsattraktivität und das künstlerische Profil der Häuser geben könnte und somit direkt auf die inneren Strukturen schließen ließe. Dieses Ranking würde sich aus Umfragewerten von Mitarbeitenden, Zuschauer*innen und unabhängigen Befragten, sowie einer Jury speisen. Ziel des Theater-Rankings wäre es, die Theaterwelt auf lange Sicht so umzugestalten, dass Theatermacher*innen ihren zukünftigen Arbeitsplatz nach den oben genannten Kriterien wählen. Ferner könnte ein solches Ranking die Theater auch im europäischen Vergleich gegenüberstellen. Dieses Wertesystem wäre nicht zuletzt auch für das Publikum interessant und könnte dabei helfen, die Politik auf die prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen.

8 9

Weitere Informationen zum ensemble-netzwerk unter: https://ensemble-netzwerk.d e/enw/. Weitere Informationen zum assistierenden-netzwerk unter: https://ensemble-netzwe rk.de/assistnw/.

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Das Theater des 21. Jahrhunderts Es steht nichts Weniger als die Gesellschaft selbst zur Debatte. Im Mittelpunkt steht der Mensch, der seine Gegenwart analysiert, seine eigene Individualität und Identität reflektiert und ausbildet, sich seiner gesellschaftlichen Lage bewusst werden kann und mittels der künstlerischen Auseinandersetzung am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt.10 Theater kann nur so demokratisch sein, wie es die Gesellschaft selbst ist. Daher muss das Theater des 21. Jahrhunderts Auflösungs- beziehungsweise Austragungsort für die Makel der gesellschaftlichen Strukturen sein. Um sich selbst zu reformieren, muss es durch die Kunst Wege der Reform innerhalb der Bevölkerung finden und diese auf den Bühnen verhandeln. Die Kraft des Theaters liegt darin, dass es sich in der Gesellschaft spiegelt – und umgekehrt. Es soll gleichermaßen beeinflussen und beeinflusst werden. Gesellschaftskritisches Theater ist demnach notwendig und stellt die eigenen Strukturen zur Debatte. Das Theater muss sich durch die Gesellschaft korrigieren und die Gesellschaft durch das Theater. In einem Zeitalter, in dem Nationalsozialismus, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus innerhalb Europas wieder an gesellschaftlichem Nährboden gewinnen und die Grenzen des Sagbaren sich verschoben haben, muss das Theater neue Narrative und Formate entgegensetzen. Dafür muss es als Ort maximaler Diversität für alle Ethnien, Geschlechter sein, für Menschen jeden Alters zugänglich sein, und unabhängig von Behinderung, sexueller Orientierung oder Weltanschauung zugänglich sein. Ein diverses Ensemble reicht nicht, wenn es nicht auch radikal besetzt wird, um die Sehgewohnheiten zu ändern und eine neue Normalität zu etablieren. Die absolute Durchmischung ist das Ziel. Im Theater des 21. Jahrhunderts geht es um Machtaufteilung, starke Partner*innen, neue Allianzen und faire Strukturen. Es geht darum, Kommunikation auf ein neues Level zu heben und darum, Kunst und technische Gewerke wieder zusammenzuführen und als einen Apparat zu begreifen. Dafür ist es notwendig, den NV-Bühne neu aufzulegen, Netzwerke zu fördern und Betriebsvereinbarungen zu verfassen.

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Vgl. Reuther, Eva-Maria: Das öffentliche Theater als Spiegel der Gesellschaft – Sein Bildungsauftrag und sein Beitrag zum demokratischen Diskurs. https://opus-kulturmag azin.de/das-oeffentliche-theater-als-spiegel-der-gesellschaft/ [15.11.2022].

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Die Theater müssen ihre alten Ordnungen aufbrechen, sich ihres kulturellen, sozialen und finanziellen Kapitals bewusstwerden und es neu anlegen: Offene Leitungsrunden für das Ensemble, offene Kantinen auch für Bürger*innen, offene Konflikte austragen, offene Dialoge führen, sich wieder der Gesellschaft öffnen. Dabei geht es um den Mut zur Lücke und keine Angst vor dem Scheitern zu haben, sodass Theater zu einem angstfreien Raum werden kann. Es geht darum, frecher, lauter und ungestüm zu sein, sich durch neue technologische Mittel und soziopolitische Einflüsse ästhetisch neu zu erfinden und strukturell weiterzuentwickeln, damit es den radikalen Umbruch unseres Lebens durch die invasive Technologie, den Konflikt Mensch versus Maschine, die Kritik, die Vorteile, Dystopien und Utopien in künstlerische Kontexte umwandeln kann. Dies alles können nur Bretter, die die Welt bedeuten. »Ich glaube fest daran, dass irgendwann ein neues Publikum dieses mutige, suchende, strauchelnde, verzweifelnde, brennende Theater für sich entdeckt und dass dieses Publikum, von dem wir heute nicht einmal zu träumen wagen, die Reihen langsam wieder füllt, bis sie bersten.«11

11

Rüping, Christopher: Mut zur Lücke, in: Theater heute, Januar 2020. https://www.dertheaterverlag.de/theater-heute/aktuelles-heft/artikel/mut-zur-luecke-1/, S. 1.

Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem! Julian Stahl

Die Pandemie macht die Unsicherheit und Dynamik unserer Zeit erfahrbar. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen – sei es Klimawandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder gesellschaftlicher Zusammenhalt. Auch für Organisationen im Kulturbereich werden die damit einhergehenden Veränderungen immer stärker spürbar, beispielsweise durch Fragen neuer gesellschaftlicher Legitimation, digitaler Technologien oder dem Wunsch nach anderen Formen der Zusammenarbeit. Um dieser Dynamik nicht nur passiv ausgesetzt zu sein, sondern sie aktiv mitzugestalten, braucht es in den Organisationen tiefgreifende Transformationsprozesse. Die Geschwindigkeit, mit der Wandel grundsätzlich möglich ist, zeigt die teilweise rasante Anpassung der Arbeitsabläufe in der aktuellen Krise. Warum brauchen Veränderungen im Kulturbereich dann dennoch oft so lange? Neben vielen guten Ideen braucht es ein erweitertes Verständnis von Transformationsprozessen in Organisationen, mit dessen Hilfe genauer justiert werden kann, an welchen Stellen Innovation gefördert werden kann.

Wandel als Evolutionsprozess Niklas Luhmann beschreibt in seinen organisationssoziologischen Arbeiten Wandel als evolutionären Prozess mit drei Stufen: Variation, Selektion und Restabilisierung.1 Mit dieser Dreiteilung lässt sich ein besseres Verständnis dafür gewinnen, warum gute Ideen und einzelne Veränderungen oft nicht zu 1

Vgl. Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH, 2000.

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wirklichen Veränderungen der Struktur und des Arbeitsalltags führen. Denn entscheidend für strukturelle Veränderungen ist erst die Restabilisierung und Integration von Neuerungen in den Arbeitsalltag. Was heißt das konkret? Variationen sind Abweichungen von bisherigen Routinen. Dabei spielt es keine Rolle, ob neue Ideen von Mitarbeiter*innen oder aus der Führungsebene kommen. Gleichwohl macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Ausprobieren neuer Ideen gefördert wird oder Abweichungen eher Skepsis hervorrufen. In Kultureinrichtungen mit starkem Traditionsbewusstsein und einem hohen Anspruch an Exzellenz werden Abweichungen von bestehenden Routinen oft eher als Störung wahrgenommen und sanktioniert. Mit der Konsequenz, dass sich Mitarbeiter*innen zweimal überlegen werden, eine neue Idee vorzuschlagen oder ein neues Projekt anzustoßen. Produktiver wäre es, Irritation zu fördern, den Austausch mit unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation zu suchen oder eine gesunde Fehlerkultur zu etablieren. Verläuft beispielsweise ein neues Digitalprojekt anders als gedacht (Variation), könnte das Projekt nach Abschluss in der internen Kommunikation als gescheitert kommuniziert und damit negativ selektiert werden. Eine innovationsfördernde Maßnahme wäre, differenzierter zu überlegen, welche Lerneffekte das Projekt und sein Verlauf haben können: Vielleicht hat die erstmals ins Leben gerufene Zusammenarbeit zwischen zwei Abteilungen besonders gut funktioniert? Konnten möglicherweise Erfahrungen mit der Nutzung neuer Technologien gesammelt werden? So findet eine positive Selektion einzelner Elemente statt, mit denen im Anschluss weitergearbeitet werden kann. Doch erst wenn die Neuerungen auch tatsächlich in den Arbeitsalltag integriert werden, findet auch auf struktureller Ebene eine Veränderung statt (Restabilisierung). Wenn beispielsweise die mit viel Aufwand entwickelte neue Nachhaltigkeitsstrategie zwar kommunikativ von der Leitungsebene genutzt wird, um die Organisation in einem guten Licht darzustellen, heißt das eben noch nicht, dass sich in der Breite der Organisation auch tatsächlich etwas verändert.

Innovation als sozialer Prozess Es braucht also alle drei Stufen, um nicht nur einzelne Experimente zu ermöglichen, sondern einen strukturellen Wandel in Organisationen voranzutreiben. (1) Die Förderung neuer Ideen, die Irritation bestehender Routinen

Julian Stahl: Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem!

und das Schaffen von Räumen zum Experimentieren, (2) die bewusste Selektion und Weiterentwicklung der Variationen und (3) die Integration, also Restabilisierungen, der Abweichungen in die Organisationsstrukturen. Erst dann werden Innovationen tatsächlich nachhaltig in der Organisation verankert. Mit Blick auf die aktuelle Krise und die großen Herausforderungen unserer Zeit wird immer deutlicher, dass ein Zurück in eine vermeintliche stabile Vor-Krisen-Normalität unmöglich der richtige Weg sein kann. Kultureinrichtungen dürfen nicht nur passiv auf diese Transformationsprozesse reagieren, sondern müssen sie aktiv mitgestalten, evaluieren und weiterdenken. Dabei wird ihre Transformationskompetenz sowohl während als auch nach der Krise zentral sein, um weiter gesellschaftlich relevant zu bleiben.

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Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen Kate Brehme

Das deutsche Feld der Disability Arts ist eine wachsende, lebendige und aufregende Sphäre. Trotzdem haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis wir Kulturschaffenden mit Behinderungen das gleiche Maß an Unterstützung erhalten wie unsere internationalen Kolleg*innen. Ich bin mir aber sicher, dass mit der richtigen Kulturpolitik die Disability Arts in Deutschland in der Lage sein werden, ihr Potenzial als international anerkannter und integraler Bestandteil unserer zeitgenössischen Kulturlandschaft zu entfalten. Diese Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung: Trotz des gestiegenen Bewusstseins und Interesses an Disability Arts in Deutschland gibt es immer noch eine tiefgreifende Unterrepräsentation und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in den Künsten – auch bekannt als Ableismus. Ein Weg, diese Diskriminierung zu überwinden, ist die Gründung von Kunstorganisationen für Menschen mit Behinderungen. Und insbesondere von Kunstorganisationen, die von Menschen mit Behinderungen geleitet werden, die die Solidarität zwischen Künstler*innen fördern und Ressourcen mit dem allgemeinen Kultursektor teilen. Solche Organisationen sind entscheidend, um den Bekanntheitsgrad behinderter Künstler*innen zu erhöhen.

Best Practice auf Organisationsebene Weil sie in der Lage sind, auf deren Zugänglichkeitsbedürfnisse einzugehen, können sie dies auf eine empowernde Weise tun. Sie arbeiten daran, die Chancen und die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung als Künstler*innen, Kunstschaffende und Publikum zu verbessern. Zum Beispiel bieten eine Reihe kleiner lokaler Organisationen wie Berlinklusion (Berlin), Diversity Arts Culture (Berlin), Platz Da! (Berlin) und EUCREA (Hamburg) dem deutschen

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Kultursektor Informationen, Beratung und in einigen Fällen auch Schulungen an, und geben Künstler*innen mit Behinderung eine Plattform, um sich Gehör zu verschaffen.1 In ähnlicher Weise haben eine Reihe von Konferenzen und Symposien, die sich in jüngster Zeit mit den Themen Behinderung, Zugänglichkeit und Inklusion befasst haben, die Möglichkeiten zum Austausch von Wissen, Best Practice und Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene verbessert, wie zum Beispiel Meeting Place (organisiert von Berlinklusion im Jahr 2017), Disability Art & Crip Spacetime (organisiert von Noa Winter und Dr. Nina Mühlemann für das NO LIMITS Festival im Jahr 2020) und ARTivismus von Künstler*innen mit Behinderung (organisiert von Linda Müller und Jana Zöll für das Grenzenlos Kultur Festival im Jahr 2020).2

Ableismus im Kultursektor Allerdings muss auf Landes- und Bundesebene mehr getan werden, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Kunst & Kultur zu erhalten und zu erhöhen. Organisationen, die durch behinderte Menschen geleitet werden und Disability Arts-Organisationen, haben enorm viel getan, um die Arbeit von Künstler*innen mit Behinderungen zu fördern und zu unterstützen. Es gibt aber im sogenannten »Mainstream«-Kultursektor einiges zu tun, um gegen Ableismus vorzugehen. Die Überarbeitung und Neuformulierung der Kulturpolitik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist ein Weg, um solche Veränderungen endlich auf den Weg zu bringen.

Inklusion in politischen und künstlerischen Entscheidungsprozessen Erstens müssen wir überprüfen, wie unsere gegenwärtige Kulturpolitik gemacht wird, und fragen, inwieweit dieser Prozess diejenigen einbezieht, 1

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Weitere Informationen zu den Organisationen, Berlinklusion, Diversity Arts Culture, Platz Da! Und EUCREA unter: https://www.berlinklusion.de/de/, https://diversity-arts -culture.berlin/, https://platzda.berlin/, https://www.eucrea.de/. Weitere Informationen zu den Konferenzen und Symposien Meeting Place, Disability Art & Crip Spacetime und ARTivismus unter: https://www.berlinklusion.de/de/meetin g-place/, https://www.grenzenlos-kultur.de/symposium/.

Kate Brehme: Transformationsforderungen von Kulturschaffenden mit Behinderungen

denen diese Politik angeblich dienen soll. Warum spielt Zugänglichkeit nicht eine stärkere und zentralere Rolle in unserer Kulturpolitik? Bestehen die Berater*innen der politischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene aus einem vielfältigen Team von Kulturschaffenden mit einem breiten Spektrum an Erfahrungen und mit unterschiedlichen Behinderungen? Wo dies noch nicht der Fall ist, müssen die Erfahrungen von Künstler*innen und Kulturschaffenden mit Behinderungen in künftige Kulturpolitik einfließen und diese mitgestalten. Insbesondere sollte unsere bestehende Kulturpolitik so umgeschrieben werden, dass die verschiedenen Arten der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Kulturbereich abgebaut werden – sei es beim Besuch von Kulturveranstaltungen als Teilnehmer*innen, bei der Suche nach einer Beschäftigung als Künstler*in oder Kunstschaffende*r, oder beim Erwerb einer Ausbildung oder Qualifikation in der Kunst oder Kultur.

Gesetzliche Rahmenbedingungen Zweitens kann Kulturpolitik mehr tun, um die bestehenden gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Zugang zur Kultur durchzusetzen. Während andere Länder wie Großbritannien und Australien weitaus strengere Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze haben, wie zum Beispiel die Kürzung öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen, die bestimmte Quoten bei der Teilnahme oder Beschäftigung behinderter Menschen nicht erfüllen, gibt es in Deutschland kaum Konsequenzen für Kultureinrichtungen, die Zugänglichkeit unzureichend umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, könnte die Kulturpolitik einen stärkeren Rahmen für die Rechenschaftspflicht öffentlich geförderter Kultureinrichtungen schaffen, um Barrierefreiheit für behinderte Zuschauer und Mitarbeiter*innen gleichermaßen umzusetzen. Abgesehen davon sollte Kulturpolitik auch bessere Unterstützung für Kulturorganisationen bereitstellen, damit diese den Übergang von der bisherigen Unzugänglichkeit zu zukünftig mehr Zugänglichkeit schaffen können. Beispielsweise können (vor allem kleinere) Kulturorganisationen dabei unterstützt werden, bauliche Zugänglichkeit zu verbessern, Schulungen für Mitarbeiter*innen durchzuführen und angemessene Vorkehrungen für Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zu treffen. Kulturelle Organisationen, die Werke von Künstler*innen mit Behinderungen in Auftrag geben, präsentieren und/oder Kulturschaffende

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mit Behinderungen in (vor allen Dingen!) Führungspositionen beschäftigen, sollten ermutigt werden und verstärkt Orientierungsangebote erhalten.

Ausschließlich barrierefreie Zugänge Schließlich kann Kulturpolitik dazu beitragen, die Kulturförderung des Bundes, der Länder und der Kommunen behindertengerecht zu verwalten und zu verteilen. Auch hier ist die Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderungen als Berater*innen in Fördergremien ein wichtiger Schritt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Barrierefreiheit und die damit verbundenen Kosten als integralen Bestandteil der Kunstproduktion betrachten – und nicht wie bislang als Sahnehäubchen oder nachträgliches Element? Auf lokaler Ebene hat es einige positive Schritte in die richtige Richtung gegeben. Zum Beispiel beinhalten sowohl die Förderungen der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin als auch des Hauptstadtkulturfonds Anforderungen zur Barrierefreiheit von Ausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Neue Förderlinien wie »Durchstarten« und »IMPACT-Fonds« bieten auch eine barrierearme Förderung für einzelne Künstler*innen mit Behinderungen in Berlin. Das ist schön und gut, aber: Die gesamte reguläre Kunstförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss für alle Künstler*innen und Kunstschaffenden zugänglich sein, die sich bewerben möchten – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Die Kulturpolitik könnte sicherlich über die bloße Bereitstellung von Mitteln für die Kunstvermittlung oder die bauliche Zugänglichkeit für ein Kunstpublikum mit Behinderungen hinausgehen. Sie muss damit beginnen, die Finanzierung qualitativ hochwertiger kultureller Arbeit zu fördern und zu erleichtern, die von Künstler*innen und Kunstschaffenden mit Behinderungen produziert wird.

Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen Für einen gerechteren Kulturbetrieb Joshua Kwesi Aikins, Sophie Ali Bakhsh Naini, Daniel Gyamerah, Lucienne Wagner & Deniz Yıldırım

Bei der Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten ist immer die Frage zentral, inwieweit strukturelle Diskriminierung stattfindet und welche Mechanismen bewirken, dass bestimmte Personengruppen ausgeschlossen werden bzw. andere für diese entscheiden und Kriterien der Arbeitsweise vorgeben. Ein Problem besteht darin, dass Diversität häufig mit Internationalität gleichgesetzt wird und strukturelle Diskriminierungsdimensionen so ausgeblendet werden. So wird beispielsweise selten die Frage gestellt, inwiefern Ableismus, also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, sich auf den Kulturbetrieb auswirkt oder inwiefern die Perspektiven von Künstler*innen of Colour vertreten sind.1 Und hier stellt sich dann nicht nur die Frage, inwiefern vielleicht die Kunst dieser Personen Eingang in die Institutionen findet, sondern vor allem auch ob die Personen, die diese Diskriminierungserfahrungen machen, auch Leitungspositionen innehaben. Es braucht Zahlen, um den Status quo im Kulturbetrieb besser beschreiben und datenbasiert Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit ergreifen zu können. (Auch für den Bereich des Kuratierens2 ist es wichtig, Daten darüber zu erheben, wessen Arbeiten eigentlich ausgestellt werden. Nur so kann an diesen Zahlenverhältnissen, die häufig strukturelle Diskriminierung widerspiegeln, etwas geändert werden.)

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Weitere Informationen zu den Wortbedeutungen von »Ableismus« und »of colour« unter: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/ableismus und https://diversityarts-culture.berlin/woerterbuch/poc-person-color. Vgl. Reilly, Maura: What Is Curatorial Activism? (Stand: 07.11.2017). https://www.artn ews.com/art-news/news/what-is-curatorial-activism-9271/ [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Unsere Erhebung fragt als erste in Deutschland differenziert nach Erfahrungen von Personen in Kunst- und Kultureinrichtungen entlang aller Diskriminierungsdimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Es geht also darum zu ermitteln, inwiefern Diskriminierung aufgrund von Behinderung, (zugeschriebener) Religion, (zugeschriebenem) Geschlecht, aufgrund des Alters oder der sexuellen Identität gemacht wird. Des Weiteren beziehen wir die Diskriminierungsdimension Ostsozialisierung, den sozialen Status sowie die Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts mit ein. Außerdem wird erhoben, inwiefern Personen rassistische Diskriminierungserfahrungen machen. Dabei können die Befragten angeben, aufgrund welcher Zuschreibung sie diskriminiert wurden. Denn bei Diskriminierung ist die diskriminierungsrelevante Fremdzuschreibung und nicht eine vermeintliche bzw. einzig wahre Gruppenzugehörigkeit relevant. Personen erleben Diskriminierung auch aufgrund von nicht zutreffenden Zuschreibungen – etwa wenn Sikhs aufgrund ihrer religiösen Tracht als Muslime diskriminiert werden. Eine solche Differenzierung ermöglichen wir in unseren Befragungen nach der Auto-hetero-Perspektive, bei der Diskriminierte die diskriminierende Zuschreibung, also als wer sie diskriminiert wurden, gesondert angeben können. Da dazu in Deutschland bisher keine Daten vorliegen, war unsere Pilotstudie3 zur Erhebung von Diversität in der Berliner Verwaltung, in deren Rahmen das beschriebene Erhebungsinstrument erstmals getestet wurde, hier wegweisend. Um Repräsentationsfragen differenziert stellen zu können, musste das Instrument für die teilnehmenden Kultureinrichtungen individuell, je nach Kontext in Bezug auf Sprache und Fragen, angepasst werden. So stellen sich in der Besucher*innnenforschung für Museen beispielsweise die Fragen: Wer kommt, wer kommt nicht? Wer kann es sich leisten, ins Museum zu gehen – finanziell, aber auch zeitlich? Wer findet dort ihre*seine Geschichten – Geschichten, die berühren? Wer wählt aus, was dort zu sehen ist – wer zu sehen ist? Solche Fragen lassen sich durch qualitative Forschung beantworten:

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Vgl. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership: Diversität in Verwaltung & Co. Antidiskriminierungs- und Geichstellungsdaten in der Praxis – Ergebnisse einer Piloterhebung unter Führungskräften der Berliner Verwaltung und Unternehmen mit Mehrheitsbeteiligung des Landes (Stand: 2018). https://vielfaltentscheidet.de/vielfalt-in-b erliner-oeffentlichen-einrichtungen/?back=101 [15.11.2022].

Joshua Kwesi Aikins et al.: Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen

Im Rahmen der Nichtbesucher*innenforschung, die das Team von Citizens For Europe. Vielfalt entscheidet ebenfalls im Auftrag von Diversity Arts Culture durchgeführt hat, war daher das Ziel, mithilfe von Fokusgruppengesprächen mit Personen, die intersektionale Diskriminierungserfahrungen machen, herauszufinden, warum Personen bestimmte Kunst- und Kultureinrichtungen nicht besuchen, inwiefern sie sich repräsentiert und/oder diskriminiert fühlen.

Welche Maßnahmen können ergriffen werden? Ein Best-Practice-Beispiel ist die Arbeit des Arts Council England, der Fördermittel inzwischen an Diversitätsquoten geknüpft hat, da klar wurde, dass gerade auch im Kunst- und Kulturbetrieb sich strukturelle Nachteile nicht von selbst ausgleichen. Bei der Eröffnung des Berliner Projektbüros für Diversitätsentwicklung,4 Diversity Arts Culture, stellte Abid Hussain, der Direktor für die Abteilung Diversity des Arts Council England, das Programm Creative Case for Diversity vor und machte deutlich: »Talent is everywhere, but opportunity isn’t.« Es gehe also darum, durch gezielte Maßnahmen unterrepräsentierte Communitys zu fördern. Dabei machte er auch deutlich, dass dies ein langfristiger Prozess sei, denn »um Dinge im Ballett, der klassischen Musik oder der Oper zu verändern, müssen wir mit den Kindern beginnen, die heute zwei oder drei Jahre alt sind«. Resultate werden also weder in zwei oder drei Jahren zu sehen sein noch in fünf: »Wenn es eine Veränderung bei den Talenten, die auf der Hauptbühne in der Oper stehen, geben soll, dann braucht das 10, 15, 20 Jahre. Diese Zeit müssen wir investieren.« Für den Arts Council England war es eine wichtige Voraussetzung, dass die strukturelle Dimension des Mangels an Diversität anerkannt wurde. Nur durch diese Erkenntnis konnten echte Veränderungen bewirkt werden. In Deutschland ist die Ausgangslage insofern eine andere, als Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten5 bisher hauptsächlich in Bezug auf die

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Vgl. Diversity Arts Culture: Eröffnung Diversity Arts Culture. Best Practice aus Großbritannien (Stand: 25.03.2019). https://diversity-arts-culture.berlin/magazin/eroeffnu ng-diversity-arts-culture [15.11.2022]. Vgl. Ahyoud, Nasiha/Joshua Kwesi Aikins/Bartsch, Samera/Naomi Bechert/Gyamerah, Daniel/Lucienne Wagner: Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs-

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Kategorie Geschlecht – und dabei einem binären Geschlechterverständnis folgend – erhoben wurden. Das bedeutet, dass es nicht möglich ist, quantitative Aussagen über den Status quo zu machen und zu sagen, wie viele Personen, die zum Beispiel rassistische Diskriminierung erfahren, in Einrichtungen arbeiten, ausstellen oder diese besuchen. (Dass es bei der Erhebung von Gleichstellungsdaten um die richtige Ansprache von People of Colour geht, zeigt auch dieser Artikel,6 der sicherlich eine gute Absicht hat, dann aber von »Zuwanderern« spricht.) Auch gibt es keine Aufzeichnungen darüber, wie sich die Diversität im Kulturbetrieb mit den Jahren verändert hat. Im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit gibt es bereits Strategien und Maßnahmen wie Gender Mainstreaming, Gender Budgeting und Quoten. Gerade im Bereich der Filmbranche wurde durch #metoo deutlich, wie weit Sexismus dort verbreitet ist. (Siehe auch die Debatte um #metoo. Citizens For Europe. Vielfalt entscheidet plant aktuell ein neues Projekt im Bereich Film.) Für den Abbau von strukturellem Rassismus bzw. der Förderung von Personen, die rassistische Diskriminierung erleben, gibt es in Deutschland bisher noch nicht einmal die entsprechende Datengrundlage. In der Realität stehen diese Dimensionen jedoch nicht nebeneinander, sondern wirken vielfach zusammen und bringen besondere Diskriminierungsrealitäten hervor. Deren Konturen lassen sich am differenziertesten durch die Erhebung intersektionaler Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten nachzeichnen. (Es geht hier keinesfalls um die »Erfassung« oder das Zählen von Personen. So zielt die Anfrage der AfD in Stuttgart,7 Zahlen über Migrant*innen in Kulturbetrieben zu veröffentlichen, in eine völlig andere Richtung. Gerade auch wegen der vielen Angriffe von rechts auf die Kulturpolitik braucht es die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten mit entsprechenden Standards bzw. festen Kernprinzipien.)

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und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, Berlin: Citizens für Europe UG, 2018. Vgl. Brusius, Mirjam: Wissenschaft und Museen dekolonisieren. Hand in Hand (Stand: 26.01.2020). https://www.sueddeutsche.de/kultur/wissenschaft-und-museen-dekolo nisieren-hand-in-hand-1.4772201 [15.11.2022]. Vgl. Maier, Sascha: AfD im Landtag. Vernichtende Kritik an Migranten – Zählung in Kulturbetrieben (Stand: 26.06.2019). https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.afd-i m-landtag-vernichtende-kritik-an-migranten-zaehlung-in-kulturbetrieben.976a51e7 -dbc4-45fb-9067-c64dc797af06.html [15.11.2022].

Joshua Kwesi Aikins et al.: Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen

Antidiskriminierung und Gleichstellung. Welche Daten braucht es? Die meisten Fördermaßnahmen für Frauen beziehen sich auf eine statistische Datengrundlage. Das zeigt: Ein differenziertes Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsmonitoring muss auch die Grundlage für Maßnahmen in anderen Diskriminierungsdimensionen sein. Es braucht daher mindestens Daten in Bezug auf alle Dimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, gerade auch in Bezug auf rassistische Diskriminierung. Mit Hilfe der Daten, die wir erheben, kann der Status quo in Bezug auf Diversität ermittelt werden, um wirksame Strategien zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit zu entwickeln. Dafür ist es essenziell, dass die Datenerhebung den folgenden sieben Kernprinzipien folgt: 1. Selbstidentifikation (Befragte können selbst angeben, als was sie sich identifizieren) 2. Freiwillige Teilnahme 3. Aufklärung über Sinn und Zweck der Datenerhebung 4. Anonymität der Befragten 5. Beteiligung von Vertreter*innen diskriminierter Gruppen am Prozess der Datenerhebung, -analyse und -verbreitung 6. Möglichkeit, mehrere Identitäten, Diskriminierungsgründe und Fremdzuschreibungen anzugeben, sowie eine intersektionale Auswertung 7. Prinzip der Nichtschädigung (Daten dürfen nicht missbraucht werden)8

Es wird also deutlich, dass jeweils kontextspezifisch der Status quo der Diversität betrachtet werden muss, um Aussagen darüber treffen zu können, welche Personengruppen von Ausschlüssen betroffen sind. Diese Zahlen und Erfahrungen können dann genutzt werden, um konkrete Fördermaßnahmen zu entwickeln. Ein besonders eindrückliches Beispiel sind die Blind Auditions: »Musikerinnen werden mit einer fünf Prozent höheren Wahrscheinlichkeit eingestellt als Männer, wenn Symphonieorchester Blind Auditions anwen-

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Siehe dazu: Chopin, Isabelle/Lilla Farkas/Germaine, Catharina: Ethnic Origin and Disability Data Collection in Europe: Measuring Inequality – Combating Discrimination, Berlin: Open Society Foundation, 2014. Und: european network against racism: Equality Data Collection: Facts and Principles, Berlin: Open Society Foundation, 2015.

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

den. Eine Studie an elf Orchestern zeigte, wie eine einfache Veränderung einen großen Einfluss hatte.«9 Gleichzeitig ist aber auch klar, dass anonyme Bewerbungsverfahren in manchen künstlerischen Bereichen, wie zum Beispiel bei Vorsprechen oder Vortanzen im Theater- bzw. Tanzbereich nicht umsetzbar sind. Darüber hinaus wird bei einer solchen Maßnahme nur eine von vielen Barrieren in den Blick genommen. Es kann sich aber nicht darauf verlassen werden, dass es an anderer Stelle im Bewerbungsverfahren nicht zu Ausschlüssen und diskriminierenden Situationen kommt. Auch bei Verfahren, die die Erhöhung von Chancengleichheit zum Ziel haben, kann es dazu kommen, dass gegenteilige Effekte entstehen. Dies zeigt beispielsweise eine Studie, die die Anwendung von Stimmverzerrern untersuchte, die der Diskriminierung von Frauen in Bewerbungsgesprächen entgegenwirken sollten. Die Studie ergab, dass die stereotyp als nachteilig angesehene Zurückhaltung von Frauen noch negativer ins Gewicht fiel, wenn das Geschlecht nicht zugeordnet werden konnte. Für die Entwicklung von Maßnahmen und Strategien ist es besonders sinnvoll, wenn Personengruppen, die mit Hilfe dieser Maßnahmen unterstützt werden sollen, danach gefragt werden, für wie wirksam sie diese halten. Die genannten Beispiele zeigen, dass Strategien und Maßnahmen nicht kontextunabhängig entwickelt werden können und von Personengruppen, die unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen machen, unterschiedlich bewertet werden. Die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten kann Aufschluss über die Repräsentation und Inklusion bestimmter von Diskriminierung betroffener Gruppen geben und zur diversitätsorientierten Organisationsentwicklung beitragen.

Erstveröffentlicht in: »Wir hatten da ein Projekt … Diversität strukturell denken«, herausgegeben von Diversity Arts Culture.

9

Vgl. Arts Council England: How to recruit diverse talent. Culture Change Guide. Manchester: Arts Council England, 2017. https://www.artscouncil.org.uk/sites/defau lt/files/download-file/How%20to%20recruit%20diverse%20talent_1.pdf.

Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation Eine Einladung zur Vertiefung Tabea Golgath

Wenn sich eines im Förderprogramm LINK der Stiftung Niedersachsen abgezeichnet hat, dann ist es die wachsende Notwendigkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit. Digitalität lässt tradierte Kultursparten und die Trennung zwischen Fachabteilungen zunehmend verschwimmen. Eine übergreifende Zusammenarbeit in neuen Teams und der Blick über den Tellerrand werden immer wichtiger. Begonnen haben wir 2018, indem wir jede Kultursparte einzeln in den Fokus genommen und nach aktuellen Projekten und zukünftigen Möglichkeiten der Anwendung von Künstlicher Intelligenz geschaut haben. Als Testballon luden wir gezielt Informatiker*innen und Kulturschaffende mehrerer Sparten aus Hannover ein, die teils konträren Denk- und Arbeitsweisen kennenzulernen und gemeinsam Projektideen zu entwickeln. Die so angestoßenen Prozesse der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, der Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf ungewohnte und teils unbequeme Vorgehensweisen einzulassen, legten den Grundstein für die zwei langfristig erfolgreichen künstlerischen Pilotprojekte von Philipp Henkel, Florian Kluger, Farhad Ilaghi Hosseini und Patrick Glandorf, die im Oktober 2021 (pandemiebedingt verspätet) in der Galerie Bohai unter dem Titel »AKUSTISCHE KI – ZWEI HAPPENINGS« in Hannover vorgestellt wurden. Die Ergebnisse hätten nicht fachintern und ohne die interdisziplinären Impulse von außen erreicht werden können.

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Innovation durch Kunst und Technologie Bei der Betrachtung von Kultur- und Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen fällt auf, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen einer großen Mehrheit und einigen wenigen Leuchtturmprojekten wie dem europäischen Knowledge Innovation Center1 gibt, die ganz im Sinne von Cross-Innovation den Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken. Die Erkenntnisse zum Nutzen dieser Formate sind also nicht neu, nur leider weder in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Kultur flächendeckend bekannt. Im Perspektivpapier der Bundesregierung »Kulturen im digitalen Wan del«2 wird u.a. neben dem Thema Personalentwicklung für möglichst breit aufgestellte Teams auch das Thema Vernetzung durch Plattformen, Verbundstrukturen und Kompetenznetzwerke angesprochen. Das Impulspapier der DFG »Digitaler Wandel in den Wissenschaften« betont ebenfalls die Bedeutung des fachlichen und interdisziplinären Austauschs als »entscheidend für die Bewertung der Entwicklung, die Chancennutzung und die Bewältigung der Herausforderungen.«3 Ähnliche Ziele verfolgt das europäische STARTS-Programm: »S+T+ARTS is a platform that aims to link technology and artistic practice more closely. It is implemented by European policy to promote innovations that also benefit the art world. It supports collaboration between artists, scientists, engineers and researchers to develop more creative, inclusive and sustainable technologies, and focuses on people and projects that help address the social, environmental and economic challenges with which the European continent is confronted.«4

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Weitere Informationen zum »Knowledge Innovation Center« unter: https://knowledgeinnovation.eu/. Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien: Kulturen im digitalen Wandel. Perspektiven des Bundes für Vermittlung, Vernetzung und Verständigung. (Stand: Juli 2021). https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1 951046/a208dc4a4f80d5a78029eeb78198bc91/2021-08-16-bkm-kulturen-im-digitale n-wandel-data.pdf?download=1 [15.11.2022]. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Digitaler Wandel in den Wissenschaften (Stand: 28.10.2020). https://zenodo.org/record/4191345#.X70Wnz-g9aQ%23.X70Wnz-g9aQ [15.11.2022]. S+T+ARTS: Innovation at the nexus of Science, Technology and the Arts. https://start s.eu/about/ [15.11.2022].

Tabea Golgath: Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation

Seit 2016 wurden so u.a. Künstler*innenstipendien in Technologieunternehmen und Forschungseinrichtungen finanziert und ein Austausch und eine Kollaboration ermöglicht.

Tradierte Vorgehensweise vs. Künstlerische Experimente Das Denken und Arbeiten in Netzwerken und Teams ist also keine Modeerscheinung, sondern die erprobte Grundlage kreativen Schaffens, die die Entwicklung von Innovationen fördert. Es gibt eklatante Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Lösungsfindungsprozessen im weitesten Sinne einerseits, die auf Wissen und Erfahrung basieren und eine logische Kombination feststehender Zutaten umfassen, und kreativen Schaffensprozessen andererseits, die durch Impulse von außen angestoßen werden und häufig eine Abwendung oder zumindest eine Neuordnung von bisherigen Vorgehensweisen beinhalten. Künstlerische Forschung beispielsweise versucht, alle Elemente des Prozesses zu hinterfragen und neue Lösungswege z.B. durch Experimente herbeizuführen. In kreativen Branchen und in manchen Start-ups finden wir Beispiele für diese kreativen Schaffensprozesse. Hier werden durch ein ergebnisoffenes, experimentelles Vorgehen agile Strukturen etabliert. Zentral dafür ist ein freier strukturierter Arbeitsprozess, der auf branchenfremde Expert*innen und disziplinenübergreifende Kommunikation zurückgreift und scheitern erlaubt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die amerikanische Psychologin Alison Gopnik. Sie untersuchte 2016 kreative Lösungsfindungen5 bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer Testreihe zeigte sich deutlich, dass Kinder eine Vielzahl von kreativen Lösungswegen versuchten, während Erwachsene sich auf pragmatische, einfache Lösungen konzentrierten. Gopnik schlussfolgert, dass wachsendes Vorwissen und sicherlich auch der emotionale Erwartungsdruck, schnell zu einer guten Lösung zu kommen, Erwachsene in ihrer Kreativität massiv einschränkt. Ohne Vorwissen und in einer stressfreien Umgebung könnten auch Erwachsene wieder lernen kreativ zu sein.

5

Vgl. Liquin, Emily/Alison Gopnik: Children are more exploratory and learn more than adults in an approach-avoid task (Stand: Januar 2022). https://www.researchgate.ne t/publication/355671105_Children_are_more_exploratory_and_learn_more_than_ad ults_in_an_approach-avoid_task [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Über die eigene Branche hinaus Jede Branche hat ihre gedanklichen Grundpfeiler: Strukturen, Umstände, Erwartungen, an denen einfach nicht gerüttelt wird. Branchenfremde haben den Vorteil, dass sie in diesem Sinne nicht vorgeprägt sind und scheinbar irrationale Vorschläge äußern können, die zu großartigen Ergebnissen führen können. Ihr Mangel an Fachwissen wird hier ein Bonus: Sie können scheinbar naive Fragen stellen und damit Prozesse kritisch beleuchten. Ein frischer Blick ohne die berufsbedingten Scheuklappen ist für nahezu alle Aufgabenbereiche wertvoll. Um diese Entwicklungspotentiale auszuschöpfen, muss die Kommunikation mit Akteur*innen benachbarter Sparten und Branchen strukturiert angegangen werden: Es braucht die Bereitschaft, Fragen und Herausforderungen mit branchenfremden Personen zu teilen und dabei die eigene, fachliche Überlegenheit abzulegen. Darüber hinaus müssen Unternehmensvorstände, Kulturträger*innen und Förder*innen Experimente und deren Evaluierung ermöglichen – auch ein Scheitern ist eine produktive Erfahrung und birgt wertvolles Wissen, das systematisch analysiert und festgehalten werden soll. Ähnlich wie in der Natur die Biodiversität ein hohes Gut darstellt, benötigen Teams eine heterogene Zusammensetzung – was nicht bedeutet, dass die Zusammenarbeit immer harmonisch und konfliktfrei abläuft. Wie lässt sich nun die Dynamik heterogener Teams nutzen? 1. Durch die Begegnung auf Augenhöhe trotz fachlicher Unterschiede. 2. Durch die Bereitschaft, in die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und ein Teambuilding zu investieren. 3. Durch die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen. 4. Durch die Überzeugung, Spannungen im Team als Chance nutzen zu können. 5. Indem der gemeinsame Rahmen (mögliche Ziele, Zeitumfang, Form der Zusammenarbeit, …) festgelegt wird.

Tabea Golgath: Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation

Kreative Kollaborationen Eine Vielzahl von Kreativitätstechniken6 orientiert sich an künstlerischen Denk- und Arbeitsweisen von Künstler*innen, um gezielt Emotionen, scheinbar spontane und willkürliche Impulse sowie Ideen zu fördern. Und es ist kein Zufall, dass diese Techniken immer populärer werden7 : Das Denken in tradierten Strukturen und die Orientierung an Vorwissen kann den riesigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Da wir im Kulturbereich ähnlich wie die Wissenschaft und die Wirtschaft auch abhängig von einer Weiterentwicklung unserer Inhalte, Strukturen und Zielgruppen sind, ist es an der Zeit, unsere Stärken zu kombinieren und einen intensiven und offenen Austausch als Basis für interdisziplinäre Kooperationen zu beginnen. Die Erforschung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz (in der Kultur) zielt nicht primär auf den Ersatz von menschlichen Künstler*innen durch Technik, sondern fokussiert die Kollaboration als vielfältiges Werkzeug. Es geht um den LINK zwischen Mensch und Maschine, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kultursparten und scheinbar gegensätzlichen Branchen. Das Ziel ist die Bündelung von Netzwerkpotenzialen und dem gemeinsamen Lernen voneinander. Denn: Die Zukunft gehört nicht den Starken oder Mutigen – sondern den Kommunikativen.

6 7

Vgl. Freitag, Egon: Kreativitätstechniken. So finden Sie das richtige Werkzeug für Ihr Problem, Stuttgart: utb Verlag. Vgl: Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: suhrkamp Verlag.

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Warum auf die Not warten, um erfinderisch zu werden? Lea Stöver

Geld ist Macht. Diese Aussage ist so kurz wie sie irritierend erscheinen mag. Ich denke viel über Geld nach, oder genauer: Wie dieses im Rahmen der öffentlichen Kulturförderung (in meinem Falle der EU) eingesetzt wird und was antragstellende Einrichtungen tun müssen, um an dieses Geld zu kommen. Trotzdem bin ich oft überrascht darüber, wie wenig viele andere und sogar ich selbst am Ende dann doch über Geld nachdenken. Und dass wir uns selten fragen, wie Geld Möglichkeiten schafft oder verhindert. Angeregt zu diesen Gedanken hat mich der Artikel von Dr. Henning Mohr in ebendieser Reihe #neueRelevanz der Kulturpolitischen Gesellschaft, meinem Arbeitgeber. Am 23.12. veröffentliche Henning Mohr seinen Artikel »Selbstbezüglichkeit statt Relevanz. Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen«.1 In diesem Text geht er der Frage nach, wie in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen mehr Innovation entstehen kann und wie die »Transformationsdefizite des Sektors« behoben werden können. Diese Frage brennt mir ebenso unter den Nägeln und mit diesem Beitrag möchte ich einer Antwort näherkommen. Henning Mohr kommt in seinem Text unter anderem zu dem Schluss, dass die dauerhafte Förderung durch die öffentliche Hand dafür sorgt, dass alles so bleibt wie es ist. Weil gefördert wird, was man eben immer schon so gemacht hat. Es bestehe »angesichts dieses in der Regel einigermaßen sicheren Finanzrahmens […] innerhalb der Systeme keine Pflicht zur Legitimation gegenüber

1

Mohr, Henning: Selbstbezüglichkeit statt Relevanz. Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen (Stand: 23.12.2020). https://kupoge.de/blog/2020/1 2/23/selbstbezueglichkeit-statt-relevanz-transformationsdefizite-oeffentlich-gefoer derter-kulturorganisationen/ [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

fördermittelgebender Instanzen und damit auch kein Anpassungsdruck«.2 So sehr ich dieser Analyse grundsätzliche zustimme, will ich andere Konsequenzen daraus ziehen. Denn für mich steckt in dieser Schlussfolgerung der Glaubenssatz, dass Not erfinderisch macht. Und weil die öffentlich geförderte Kultur zu wenig erfinderisch ist, muss – überspitzt ausgedrückt – Not geschaffen werden.

Künstliche Verknappung Ich denke diesen Ansatz für einen kurzen Moment weiter: Der sichere Finanzrahmen öffentlicher Förderung sorgt also für eine andauernde Selbstbestätigung und verhindert Veränderung. Das kann ich nachvollziehen: Man macht damit weiter, wofür man das Geld bereits das letzte Mal bekommen hat. Wie bringen wir also das System und mit ihm die Menschen dazu, sich zu ändern? Indem wir Geld erst wieder vergeben, wenn der Wille zur Veränderung sichtbar wird? Indem wir für finanzielle Knappheit sorgen? Ich denke, dass dieses Szenario möglich ist, aber nicht notwendigerweise so eintritt. Das einzige was an dem Ansatz Not macht erfinderisch jedoch sicher ist, ist die Not. Auf die Erfindung kann man dann bestenfalls noch hoffen. Es wird sicherlich deutlich, dass ich vor allem die Vorstellung ablehne, dass Innovation nur durch äußere (ökonomische) Zwänge entsteht. Willkommen in der Welt des Homo Oeconomicus! Und ich gehe noch weiter und befürchte, dass finanzielle Not in stark hierarchisierten Kultureinrichtungen, wie unser Land sie zu genüge hat, diese Hierarchien zementieren statt auflösen wird. Und schließlich diejenigen übrigbleiben, die schon zuvor verhindert haben, dass sich etwas ändert.

Geld ist Macht Damit zurück zu meinem Anfangsgedanken: Ich bin natürlich überzeugt davon, dass die Art und Weise, Geld auszugeben, Veränderung schafft. Das steckt für mich hinter dem Gedanken, dass Geld Macht ist. Deswegen will ich mehr über Geld reden! Nicht, weil ich machtbesessen bin, sondern weil ich Veränderung will. Und die hängt früher oder später immer am Geld. Es ist aber gar 2

Ebd.

Lea Stöver: Warum auf die Not warten, um erfinderisch zu werden?

nicht so einfach über Geld zu sprechen in einer Branche, in der eigentlich niemand so richtig über Geld reden will. Vielleicht, weil wir es nicht gelernt haben oder weil es uns nicht interessiert oder wir gelernt haben, uns nicht dafür zu interessieren. Letzteres kann ich nach einem geistes- und sozialwissenschaftlichem Studium für mich reklamieren. Zweieinhalb Jahre Budgetplanung für den CED KULTUR und zahlreiche Beratungen von Kultureinrichtungen zu europäischen Kooperationsprojekten später bin ich anderer Meinung: Ich interessiere mich für Geld, weil es Veränderung erlaubt. Die Diskussion um Geld für Kultur, die Kulturförderung, findet meines Erachtens aber allzu oft nur zwischen zwei argumentativen Polen statt: Zwischen denen, die mehr Geld fordern, und denen, die erwidern, dass diese Forderung nach mehr Geld schon vor Jahrzehnten gestellt wurde und sich trotzdem nichts geändert hat. Beide Positionen scheinen nachvollziehbar. Aber wenn weder weniger noch mehr die Lösung ist, müssen wir dann überhaupt über Geld reden? Ja, denn wir müssen darüber sprechen, wie es beantragt werden kann, wie es vergeben und wie kalkuliert wird.

Ein langes Gespräch Geld vergeben und ausgeben muss erfinderisch werden. Denn Geld ausgeben ist eine Kunst, die inhaltliche Arbeit ermöglichen kann. Hier liegen die Herausforderungen: Wie verändere ich eine öffentliche Kulturförderung, sodass sie CO2-Reduktion zur Maxime erhebt? Oder sich einem intersektionalen Feminismus verschreibt? Oder sich selbst dekolonialisiert und die eigenen Praktiken rassismuskritisch hinterfragt? Damit sie das ermöglicht, was Sarah Braun ebenfalls in dieser Reihe fordert: »Deutungsräume für alle. Deutungshoheit für niemanden.«3 Zu diesen Überlegungen gibt es sowohl deutschland- als auch europaweit bereits Menschen und Initiativen, die gute Ideen haben und umsetzen. Ich bin wahrlich nicht die Erste, die diese Fragen aufwirft. Aber sie treibt mich um und an: Wie schafft man Förderstrukturen, die das sind, was wir fordern: innovativ! Darüber müssen sich meines Erachtens alle Gedanken machen, die am Spiel beteiligt sind: Öffentliche Einrichtungen, die institutionelle Förderung erhalten, genauso wie Organisationen, die hauptsächlich Projektförderung erhalten. EU, Bund, Länder, Kommunen und private Fördereinrichtungen. 3

Braun, Sarah: Eine neue Sprache, S. 123–128 in diesem Band.

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Ich möchte nicht auf die Not warten, um erfinderisch zu werden. Ich will jetzt über Geld reden. Auch wenn es ein langes Gespräch wird.

Im Zweifel für die Quote Demba Sanoh

Im Februar 2021 wurde ein von den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD gestellter Antrag mit dem Titel »Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien verwirklichen«1 angenommen. Darin fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, mehr Maßnahmen zu ergreifen, um Geschlechtergerechtigkeit im Kulturbetrieb zu erreichen – unter anderem ist die Rede von kontinuierlichen, geschlechterspezifischen Datenerhebungen bei öffentlich geförderten Stipendien und Preisen, zusätzlichen Angeboten von Kinderbetreuung für Künstler*innen und anonymisierten Bewerbungs- und Auswahlverfahren.2 Es ist nichts Neues, dass in den Sparten Theater, den Darstellenden Künsten, Orchestern, im Film oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Frauen in leitenden Funktionen unterrepräsentiert und unterbezahlt sind: Konkrete Zahlen dazu wurden bereits 2016 in der Veröffentlichung »Frauen in Kultur und Medien«3 – gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) – dargelegt. In den vergangenen vier Jahren hat sich nicht viel getan – auch in Bereichen der Kulturlandschaft, die nicht als klassisch förderungswert gesehen werden und deutlich weniger Aufmerksamkeit vom BKM bekommen, wie

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Deutscher Bundestag: Förderung von Kulturprojekten soll geschlechtergerecht werden (Stand: 25.02.2021). https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw0 8-de-geschlechtergerechtigkeit-kultur-medien-821768 [15.11.2022]. Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien verwirklichen (Stand: 23.02.2021). https://dserver.bu ndestag.de/btd/19/268/1926893.pdf [15.11.2022]. Schulz, Gabriele/Carolin Ries/Zimmermann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge, Berlin: Deutscher Kulturrat e.V., 2016. https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/12 /Frauen-in-Kultur-und-Medien.pdf [22.02.2023].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

zum Beispiel in der (Pop-)Musikwirtschaft. Die im September 2021 veröffentlichte Studie der europäischen Initiative für Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche Keychange, in Kooperation mit dem Hamburger Reeperbahn Festival und gefördert vom BKM, zeichnet ein eindeutiges Bild über den Status Quo: Der Gender Pay Gap liegt bei 25 %, circa die Hälfte aller befragten Frauen identifizierten als größte Zugangs-Barrieren innerhalb der Branche bestehende Vetternwirtschaft zwischen Männern und Stereotype gegenüber Frauen. Etwa jede zweite Frau befürwortet eine Quote bei Führungskräften oder bei Line-Ups von Musikfestivals.4

Im Zweifel für die Frauenquote An dieser Stelle taucht zum ersten Mal ein Wort auf, das in den letzten Monaten und Jahren in vielen gesellschaftlichen Diskussionen die Gemüter erhitzt hat: Quote. Oder mehr noch: Frauen-Quote. Seit 2016 gibt es für börsennotierte Unternehmen in Deutschland die gesetzlich verpflichtende Vorgabe, dass in Vorstand oder Aufsichtsrat mindestens 30 % der Posten weiblich besetzt sein müssen – bei Neubesetzungen müssen so lange Frauen eingestellt werden, bis die Marke von 30 % erreicht ist oder der Platz bleibt frei. Dieses Gesetz gilt in Deutschland etwa für 100 Unternehmen, der Rest der Gesellschaft kann sich selbst freiwillige Vorgaben setzen.5 Für den Kulturbetrieb gibt es nichts Vergleichbares. Die Grünen forderten als Antwort auf oben erwähnten Beschluss des Bundestags im Februar 2021 aber genau das: »[…] eine Quote, um Parität bei Leitungspositionen, Intendanzen, Stipendien und Werksaufträgen, in Jurys, Förderprogrammen sowie Projekten und Veranstaltungen von öffentlich finanzierten Institutionen zu erreichen.«6

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Beauftragte des Bundes für Kultur und Medien: Keychange 2021. Studie zur Geschlechtervielfalt in der Musikwirtschaft und zur Musiknutzung – Ergebnisbericht, Hamburg, 23.09.2021. https://www.reeperbahnfestival.com/files/mediathek/Keychange% 202021_PK%20Version%20final_230921.pdf [22.02.2023]. Vgl. DIW Berlin: Frauenquote (Geschlechterquote) (Stand: 20.04.2021). https://www. diw.de/de/diw_01.c.412682.de/frauenquote.html [15.11.2022]. Grundl, Erhard: Antrag. Eine Quote für die Kunst – Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien (Stand: 24.02.2021). https://www.erhard-grundl.de/antrag-eine-quote-fu er-die-kunst-geschlechtergerechtigkeit-in-kultur-und-medien/ [15.11.2022].

Demba Sanoh: Im Zweifel für die Quote

Wir wissen mittlerweile, dass Quoten wirken: Der Frauenanteil in Aufsichtsräten von DAX-Unternehmen stieg in den ersten 4 Jahren von 27 % auf 36 %.7 Ist es also an der Zeit für Quoten im Kulturbetrieb? Brauchen wir ebenjene, um die Zugänge in den verschiedenen Bereichen des Kulturbetriebs einigermaßen zugänglich und egalitär zu gestalten? Insbesondere wenn wir von Institutionen oder Projekten sprechen, die von öffentlichen Geldern gefördert werden? Die letzten Jahre haben gezeigt, dass offensichtlich mehr Maßnahmen von Nöten sind, wenn wir mehr Chancengleichheit im Kulturbetrieb durchsetzen wollen. Dabei finde ich Quoten gerade bei öffentlich geförderten Institutionen, Förderprogrammen und Veranstaltungen absolut sinnvoll. Die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist weiblich wird aber im Vergleich zur anderen Hälfte der Gesellschaft im Kulturbetrieb unverhältnismäßig stark benachteiligt. Wenn Kultur aber aus Steuergeldern finanziert wird, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden, sollten dann nicht auch alle Bevölkerungsgruppen den gleichen Zugang zu Kunst, Kultur und Medien haben? Es ist nicht zu rechtfertigen, dass wir zwar alle zahlen, aber oftmals nur ein kleiner Teil profitiert, der gesamtgesellschaftlich ohnehin schon privilegiert ist: Männer.

Im Zweifel für diverse Quoten Mehr noch – weiße Männer. Hier möchte ich die Diskussion um eine Komponente erweitern, denn bisher haben wir vor allem über Frauen gesprochen. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sich Diskussionen im Kulturbetrieb über Chancengleichheit und Diversität meist auf Geschlechtergerechtigkeit beschränken. Andere Bevölkerungsgruppen, die eine Marginalisierung erfahren, werden oftmals nicht mitgedacht, weswegen bisher kaum zu anderen Gruppen, die im Kulturbetrieb Diskriminierung erfahren, Daten gesammelt oder Studien durchgeführt wurden. Das betrifft insbesondere Menschen mit sogenanntem »Migrationshintergrund«. Der deutsche Kulturrat veröffentlichte 2020 zwar eine Studie zu Di-

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Vgl. DIW Berlin: Frauenquote (Geschlechterquote) (Stand: 20.04.2021). https://www. diw.de/de/diw_01.c.412682.de/frauenquote.html [15.11.2022].

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

versität an staatlich geförderten Kulturinstitutionen,8 diese erwies sich aber als methodisch fragwürdig und damit wenig aussagekräftig. Und gerade bei der Erhebung des Migrationshintergrundes wurden sozioökonomische Faktoren und ethnische Herkunft nicht berücksichtigt: Es ist ein großer Unterschied, ob man in einer Philharmonie der britische Dirigent ist oder der senegaleischer Geflüchtete, der in der Kantine arbeitet – in der Studie wurden aber beide Positionen in derselben Kategorie erfasst. Das ist ein Problem, denn so wird verschleiert, dass Menschen mit bestimmten Migrationsgeschichten und äußeren Merkmalen im Kulturbetrieb strukturell benachteiligt und unterrepräsentiert sind. Wir brauchen in Zukunft also weitere Datenerhebungen. 21,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – gut ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland – finanzieren potenziell mit ihren Steuergeldern öffentlich geförderte Kulturinstitutionen, von denen die meisten nicht profitieren, weil sie weder als Zuschauer*innen noch als Mitarbeiter*innen oder gar Künstler*innen angesprochen werden.

Im Zweifel für die Qualität Auch ohne weitere Datenerhebungen kann sich jede*r persönlich ein Bild davon machen, wie es in den meisten Kulturinstitutionen aussieht: Sehr weiß, sehr männlich und wenig divers. Das schlägt sich im Programm der jeweiligen Institutionen wieder und damit auch im Publikum, dass adressiert wird. Als Schwarzer Mann habe ich selten den Eindruck, dass deutsche Theater, Orchester oder Opern Programm für mich machen – geschweige denn, dass ich mich in den meist elitären, weißen Räumen wohl und sicher genug fühlen würde, um eine Operette über mich ergehen zu lassen. Der Historiker in mir schlägt bei vielen Ausstellungen deutscher Museen die Hände über dem Kopf zusammen aufgrund der Eindimensionalität der ausgestellten Perspektiven. Fehlende Diversität macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar und lässt die Qualität des Angebots sinken.

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Vgl. Priller, Eckhard/Malte Schrader/Schulz, Gabriele/Olaf Zimmermann: Diversität in Kulturinstitutionen 2018–2020, Berlin: Initiative kulturelle Integration, 2021. https:// www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2022/01/Diversitaet-in-Kulturinstitutionen-2 018-2020.pdf.

Demba Sanoh: Im Zweifel für die Quote

Gerade wenn wir junge Menschen mit Kultur ansprechen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass diese junge Menschen Vorbilder haben, die so aussehen wie sie selbst, die sprechen wie sie selbst und mit denen sie sich identifizieren können. Das wird auf absehbare Zeit nicht ohne staatliche Intervention passieren. Quoten sorgen also auch dafür, dass die Zukunft unsere Kulturlandschaft gesichert wird, denn es gibt keine Alternative: Die deutsche Gesellschaft wird immer diverser, also wird das potenzielle Publikum immer diverser – und wenn wir die nachfolgenden Generationen nicht mitdenken, ansprechen, einbeziehen, bleiben die Besucher*innen irgendwann konsequenterweise weg und widmen sich den kulturellen Angeboten, die sich für ihre Vielfältigkeit öffnen.9 Dieser Herausforderung gerecht zu werden liegt auch im Interesse aller zukünftigen Regierungen – in jedem Fall in den öffentlich geförderten Stätten, die auch einen kulturellen Bildungsauftrag des deutschen Staats umsetzen sollen. Quoten werden uns in Zukunft weiterhin verfolgen, ob gesamtgesellschaftlich oder im Kulturbetrieb. Im Text wurden bisher nur zwei marginalisierte Bevölkerungsgruppen angesprochen – die Liste ließe sich aber natürlich noch erweitern (z.B. um Menschen mit Behinderung oder queere Menschen) und die Fragen nach Quoten blieben die Gleichen. Ich plädiere außerdem dafür Quoten als Chance zu sehen: Es geht nicht darum jemand zu bevorteilen oder Anderen etwas weg zu nehmen. Quoten stellen die Möglichkeit dar, die ungerechte und ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Chancen, Ressourcen und Zugängen auszugleichen – damit niemand mehr am Anfang seines*ihres Lebens mit einem Vorsprung startet. Dem deutschen Staat böten Quoten außerdem die Chancen, im Kulturbetrieb seiner Verantwortung gerecht zu werden und eine Vorbildfunktion dahingehend einzunehmen. Zuletzt böten Quoten für uns als Gesellschaft die Chance gemeinsam eine gleichberechtigtere Zukunft zu gestalten, in der alle Menschen gleichermaßen am Kulturbetrieb teilhaben. Denn entspräche so ein Austausch nicht genau dem, was Kultur ausmacht?

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Vgl. Caro, Hernán D.: Geschäftsmodell Netflix. Sehen und gesehen werden (Stand: 01.04.2020). https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/diversitaet-als-geschaef tsmodell-von-netflix-16701341.html [15.11.2022].

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Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar Sebastian Quack

Gamification: »Du auch hier?« Digitalisierung: »Ich bin so müde.« Für alle, die sich in den letzten Jahren auch nur am Rande mit digitalen Technologien beschäftigt haben, besteht spätestens seit der Pandemie kein Mangel an Gelegenheiten, sich zu einem Vorgang zu äußern, in den weite Teile der Welt involviert sein sollen. Gemeint ist Digitalisierung. Was ist mit diesem Begriff gemeint, der so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kultur, Bildung, oder auch Verwaltung berührt? Ursprünglich bezeichnete Digitalisierung den Transfer von Inhalten von älteren analogen Medien in neuere digitale Formate. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der Begriff jedoch eine enorme Ausweitung erfahren, und meint nun nicht mehr nur die Übertragung von Medien, sondern die Transformation ganzer gesellschaftlicher Bereiche. »Analoge« Abläufe, Infrastrukturen und Prozesse sollen so verändert werden, dass sie »digital« werden, also von nun an möglichst unter Einbeziehung von vernetzten Computern stattfinden. Warum? Zuweilen wird angeführt, dass Dinge »nach« der Digitalisierung effizienter, schneller, flexibler, partizipativer, spielerischer oder transparenter werden und insgesamt einfach besser laufen. In der Pandemie kam noch das reduzierte Infektionsrisiko dazu und die Möglichkeit, mit weniger Reisekosten (und den damit verbundenen Emissionen) verteilt auf der Welt zu interagieren. Ich vermute aber, dass sich oftmals hinter dieser Vielfalt von (sich teilweise widersprechenden) Motivationen eigentlich eine andere, grundlegendere, Hoffnung verbirgt. Nämlich die Hoffnung, einer scheinbar unaufhaltsam auf uns zurollenden Transformation durch eine einzige, klar definierte Kraftanstrengung zu begegnen – bei der noch dazu alles beim Alten bleiben kann.

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

Wenn wir nur diesen Schalter finden würden, mit dem wir die Digitalisierung in unserem Bereich aktivieren könnten, könnten wir das erhalten, was wir haben. Ich denke, wer von Digitalisierung spricht, äußert meist eine im Grunde konservative Weltsicht. Digitalisierung ist gerade keine »Innovation«, sondern die Hoffnung, dass uns Innovation verschont bleibt, wenn wir uns »korrekt« anpassen. Als Game-Designer und Festivalmacher, der mit Spielen primär im Kunstund Kulturbereich arbeitet, habe ich eine ähnliche Dynamik schon mal an anderer Stelle erlebt. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass anhand von Spielen oft Dinge verhandelt werden, die später noch einmal in allgemeinerer Form relevant werden. So schwappte etwa zu Beginn der 2010er Jahre der Begriff »Gamification« aus den USA nach Deutschland. »Mach’ ein Spiel daraus« galt damals als innovative Lösung. Alles – vom Erste-Hilfe-Kurs bis zur Steuererklärung – sollte besser werden, wenn man nur Bonus-Punkte verdienen und von Level zu Level aufsteigen konnte. Zwar wollte kein*e Spiele-Designer*in, der*die etwas auf sich hielt, etwas mit Gamification zu tun haben, und der Game-Designer und Spielforscher Ian Bogost hat mit seinem rant »Gamification is Bullshit« schon 2011 beschrieben, dass hinter Gamification oft pures Marketing steckt.1 Trotzdem fasste der Begriff auf deutschen Konferenzen und zuweilen sogar an Universitäten und im Kulturbetrieb Fuß. Denn die Leute, die Gamification vertraten, interessierten sich trotz ihrer angeblichen Faszination für Games eigentlich nicht für Spielkultur. Vielmehr ging es um die oberflächliche Applikation von psychosozialen Techniken wie Belohnugssysteme und Wettbewerbslogiken, um existierende Prozesse zu optimieren. Die Hoffnung: Wenn sich das, was wir ohnehin machen, wie ein Spiel anfühlen würde, müssten wir uns nicht mehr Fragen, ob das, was wir tun, das richtige ist. Gamification und Digitalisierung gehen also von einem ähnlichen Unbehagen aus – dass wir nicht mehr zeitgemäß sind, und etwas tun müssen, um wieder aktuell zu erscheinen. Und dass wir dieses Problem lösen können, indem wir unsere als veraltet erlebte Logik in eine neue – die des Spiels, oder die des Digitalen – übersetzen können. Das Problem ist nur, das sowohl das

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Vgl. Ian Bogost: Gamification is Bullshit (Stand: 08.08.2011). http://bogost.com/writi ng/blog/gamification_is_bullshit/ [13.04.2023].

Sebastian Quack: Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar

Spiel, als auch digitale Technologie eigene Logiken, Traditionen, Zwänge und Erfahrungsmodi mitbringen, die sich einer solchen Übersetzung verweigern. Was aber ist die Alternative? Wie soll es mit »der Kultur« weitergehen, wenn sie auf »Digitalisierung« verzichten würde? Und wie können wir hier von spielerischen Formen im Kulturbetrieb lernen, die – statt dem Versprechen von Gamification zu folgen – aus einem genuinen Interesse an Spiel entstehen? Hier sind zumindest ein paar Vorschläge: 1. Kunst statt Technik. Den Einsatz von digitaler Technologie im Kulturbereich zu gestalten, ist keine technische, sondern eine künstlerisch-kreative Herausforderung. 2. Nicht einmal, sondern fortlaufend. Statt von einem einmaligen Digitalisieriungs-Vorgang auszugehen, sollten wir uns daran gewöhnen, dass sich digitale Technologien und die damit assoziierten Nutzungsgewohnheiten permanent verändern, und – genau wie nicht-digitale Verfahren, Techniken und Praktiken – fortlaufender Pflege, Befragung und Weiterentwicklung bedürfen. Die Arbeit mit digitaler Technologie ist ein langfristiges Vorhaben und eine fortlaufende, explorative Bewegung. Genau gleich verhält es sich mit spielerischen oder partizipativen Ansätzen und Kulturinstitutionen. Wir sollten aufhören davon auszugehen, dass man hier mit einmaligen Projekten etwas erreichen kann. 3. Kein Ersatz, sondern Addition. Wenn wir in der Kultur mit digitaler Technologie arbeiten wollen, sollten uns für das genuin »neue« an digitalen Technologien interessieren. Statt uns nur dafür zu interessieren, wie existierende Vorgänge digitalisiert werden können, sollten wir sensibel dafür werden, an welchen Stellen digitale Technologie spezifisch neue Erfahrungen hervorrufen und Möglichkeiten eröffnen kann – gerade auch jenseits von Bildschirmen. Die Einbeziehung von digitaler Technologie ist kein Ersatz, sondern eine Addition. Das heißt aber auch: Prozesse werden nicht einfacher, wenn man digitale Technik ins Spiel bringt. 4. Nichts ist automatisch inklusive. Wir sollten aufhören anzunehmen, dass der Einsatz von digitalen Mitteln automatische zu bestimmten Effekten führt. Weder digitale Technik noch spielerische Formate erklären sich »von selbst« und brauchen keine Vermittlung. Partizipation entsteht nicht automatisch, wenn eine Chat-Funktion im Live-Stream aktiviert wird. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir genau wollen, wenn wir von Digita-

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Eine Frage von Macht?! Arbeitsprozesse auf Augenhöhe

lisierung sprechen. Geht es darum, etwas aus der Ferne mitzuverfolgen? Oder geht es um mehr Spiel, Interaktion oder Partizipation? 5. Den Wert von neuen, unbekannte Konstellationen erkennen. Statt von einer Übertragung von »analog« in »digital« auszugehen, sollten wir uns die Zeit nehmen, um auszuprobieren, was wir mit neuen Kombinationen aus verschiedenen »analogen« und »digitalen« Mitteln machen können. Wie sich neue Kombinationen aus alten und neuen Medien auswirken und anfühlen, lässt sich aber nicht vorhersehen. Wie auch? Genau wie bei der Entwicklung von neuen Spielen bedarf es eines experimentellen Vorgehens – mit Raum zum Scheitern, Mut zur Einbeziehung von Test-Nutzenden, Bereitschaft den Kurs zu wechseln und Offenheit für Überraschungen. Schon klar, all diese Vorschläge sind nicht einfach umzusetzen. Aber ich persönlich freue mich schon darauf, wenn Digitalisierung nicht mehr in aller Munde ist, und wir sie gemeinsam mit Gamification in ihrer Bar einschlafen lassen können. Vielleicht können wir dann ja mit der eigentlichen Arbeit beginnen.

Autor*innenverzeichnis

Sophie Ali Bakhsh Naini arbeitet als Referentin der Geschäftsstelle und Projektmitarbeiterin im Advocating for Inclusion-Team. Als zertifizierte Trainerin für Soziale Gerechtigkeit und Vielfalt berät sie Institutionen und bildet Gruppen zum Thema Antidiskriminierung und Vielfalt aus. Ihre Erfahrungen im Kulturbereich und in der politischen Bildung bringt sie in ihre Arbeit als Beraterin für Vielfalt und Öffnungsprozesse ein. Sophie studierte Kulturwissenschaft und Soziologie mit den Schwerpunkten visuelle Kultur und postkoloniale Theorie und forschte an widerstandsfähiger Bildpolitik und antimuslimischem Rassismus. Jakob Arnold, gebürtiger Oberfranke, ist Regisseur und Dozent. Er studierte Philosophie, Altgriechisch und Theaterwissenschaft in München sowie Regie an der Folkwang Universität der Künste. Seit 2018 arbeitet er regelmäßig an verschiedenen Landes- und Stadttheatern in ganz Deutschland. Gemeinsam mit Anica Happich gründet und leitet er seit 2021 das PHOENIX Theaterfestival in Erfurt, das zum Ziel hat, in Erfurt – der einzigen Landeshauptstadt Deutschlands ohne eigene Schauspielsparte – wieder ein professionelles Schauspiel anzubieten und langfristig zu etablieren. Fadrina Arpagaus, geboren in Zürich, studierte Germanistik, Philosophie und Architekturtheorie in Zürich und Berlin. Sie war als Dramaturgin u.a. am Theater Basel, am Theater Neumarkt Zürich und an den Bühnen Bern engagiert und leitete mehrere Jahre das Programm der Zürcher Kulturinstitution »Karl der Grosse«. Seit der Spielzeit 2019/20 ist Fadrina Arpagaus Teil des Dramaturgie-Teams am Schauspielhaus Zürich. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und co-leitet den »Dramenprozessor«, das Schweizer Förderprogramm für junge Dramatiker*innen.

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Systemkritik!

Jens Badura ist Senior Scientist an der Universität für angewandte Kunst in Wien, Research Fellow am Zurich Centre for Creative Economies der Zürcher Hochschule der Künste und Faculty Member am Institut Kulturen der Alpen (Altdorf/Uni Luzern). Der habilitierte Philosoph und Kulturmanager arbeitet zudem beratend im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kulturbetrieb, Kreativwirtschaft und Politik. Aktuelle Projekte befassen sich u.a. mit der Rolle künstlerischer Denk- und Verfahrensweisen außerhalb des Kunstbetriebs, insbesondere im Kontext sozialökologischer Transformationsprozesse. Melmun Bajarchuu bewegt sich an den Grenzbereichen von Kunst, Theorie und Politik als Denkerin und Diskurspartnerin und übernimmt in kollaborativen künstlerischen Prozessen diverse Rollen u.a. als critical companion, Kuratorin und Produktionsleitung. Ihr besonderes Interesse gilt der Verwebung von Theorien und Praktiken im Kontext poststrukturalistischer, postund dekolonialer sowie queerfeministischer Fragestellungen. Sie engagiert sich in der Initiative für Solidarität am Theater und bei der produktionsbande für intersektionale Perspektiven und gerechtere Arbeitsbedingungen in den Darstellenden Künsten. Seit 2020 ist sie als Peer-to-Peer Beraterin im Bereich Antidiskriminierung beim Performing Arts Programm Berlin (PAP) tätig. Philippe Bischof (1967) ist seit dem 1. November 2017 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Nach Studien in Basel begann er seine Laufbahn als Regieassistent am Theater Basel. Anschließend arbeitete er als Regisseur und Dramaturg im In- und Ausland sowohl an Stadttheatern wie auch in der freien Szene. Von 2008–2010 leitete er das Kulturzentrum Südpol in Luzern. Von 2011–2017 war er Leiter der Abteilung Kultur des Kantons Basel-Stadt. Er unterrichtet regelmäßig Kulturpolitik an Schweizer Universitäten. Katrin Bittl ist freischaffende Künstlerin und war bis 2023 Studierende an der Akademie der Bildenden Künste in München. Sie beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Idealbildern und Normvorstellungen und untersucht ihren eigenen Körper, als Frau mit Behinderung mittels Video, Performance und Animation. In Zeichnung und Malerei erforscht sie Körpernormierungen, die manipuliert und dekonstruiert werden, indem sie sie skaliert, übermalt oder in neue Kontexte stellt. Außerdem ist sie als Peer Counselorin, Beraterin für Menschen mit Behinderung tätig und schreibt als freie Autorin zu den Themen Intersektionalität von Frauen mit Behinderung, Kunst und Inklusion.

Autor*innenverzeichnis

Donat Blum, 1986 geboren, hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut sowie an der Universität Bern studiert. Der Debüt-Roman »OPOE« ist 2018 bei Ullstein und 2021 als Hörbuch bei Bookstream erschienen. Blum ist mit verschiedenen Stipendien und Werkbeiträgen ausgezeichnet worden, ist Gründer*in und Herausgeber*in von Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften, Initiator*in und Veranstalter*in der Reihe »Skriptor« und Organisator*in der Werkstattgespräche »Teppich«. 2020 hat Blum das online Literaturfestival VIRAL gegründet und kuratiert. Sarah Elisabeth Braun, (sie/ihr) ist eine afro-deutsche Künstlerin und Aktivistin. Sarah ist Mitbegründerin des Bi*PoC-Netzwerks und war von 2018 bis Juli 2021 Regieassistentin am Theater Bonn.Seit dem Sommersemester 2022 studiert sie Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Sie ist in verschiedenen politischen und kulturellen Strukturen aktiv und arbeitet dort zu Rassismus, Klassismus, Feminismus und Intersektionalität. Der Fokus ihrer Arbeit in künstlerischen und in politischen Kontexten liegt darauf, migrantische und Schwarze Perspektiven sichtbar zu machen und zu stärken. Dr. Kate Brehme ist freie Kuratorin und Kunstvermittlerin. Seit 2008 leitet sie Contemporary Art Exchange, eine kuratorische Plattform für internationale Projekte, Ausstellungen und Veranstaltungen, die professionelle Entwicklungsmöglichkeiten für aufstrebende, junge und marginalisierte Künstler*innen bietet. Kate ist Gründungsmitglied des Berliner Netzwerk für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Berliner Kunst- und Kulturszene für Künstler*innen und Publikum mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Fatima Çalışkan ist Künstlerin, Moderatorin und Autorin mit Schwerpunkt in den freien Darstellenden Künsten und Literatur. Stationen sind u.a. Beratung und Begleitung von Projekten für den Förderfonds Interkultur Ruhr, Ko-Leitung der Beratungsstelle des Performing Arts Programms des LAFT Berlin, sowie Ko-Leitung des Modellprojekts FAIRSTAGE. Sie ist Mitgründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift YallahSalon und in verschiedenen Jurys tätig, darunter als Teil des Kuratoriums des Fonds Darstellende Künste. Daniel Deppe hat in Lüneburg, Würzburg und Warschau Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Bei der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa koordiniert er ein Projekt zur Stärkung der Öffentlichen Bibliotheken auf

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europäischer Ebene und berät in der EFRE-Strukturfondsförderung der Kulturverwaltung Berliner Kultureinrichtungen, insbesondere Bibliotheken, bei ihren Projektvorhaben. Davor war er u.a. als Projektmanager und im Projektcontrolling bei der Initiative Musik und dem Kompetenzzentrum für Kulturund Kreativwirtschaft des Bundes tätig. Dr. Christina Dongowski hat an der JLU Gießen Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Arbeitet als Ghostwriterin, PR-Texterin, Übersetzerin und Autorin und ist ehrenamtlich im Kulturbereich engagiert. Sie lebt in Stuttgart und im Internet. Kurt Eichler ist Berater für Kulturpolitik und Kulturplanung und war bis Ende 2017 geschäftsführender Direktor der Kulturbetriebe Dortmund. Nelly Gawellek ist Kunsthistorikerin und arbeitet seit 2018 als Projektleiterin und Kuratorin in der Anna Polke-Stiftung, Köln. Sie hat Kunstgeschichte und Allgemeine Rhetorik in Tübingen studiert. Seither war sie als Galeriedirektorin in Köln und Berlin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Estate of Sigmar Polke in Köln tätig. Als freie Autorin und Kuratorin beschäftigt sie sich außerdem mit aktueller Kunst und engagiert sich ehrenamtlich im Vorstand von »And She Was Like: BÄM!«, einer feministischen Initiative für Kunst, Kultur und Design. Dr. Tabea Golgath promovierte zu effektiven Vermittlungsmethoden in Ausstellungen, ist Referentin für Museen und Kunst und leitet seit 2018 das Förderprogramm LINK – KI und Kultur der Stiftung Niedersachsen. Besonders die Zusammenarbeit der Informatik und der Kultur gaben für sie den Anstoß zu mehr Austausch zwischen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft, um gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Sie engagiert sich für die Erschließung von KI-Anwendungen in der Kultur und die zukunftsorientierte Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen durch Interdisziplinarität, Agilität und Digitalität. Sandra Gugić Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Debütroman »Astronauten«, C.H.Beck, 2015. Lyrikdebüt »Protokolle der Gegenwart«, Verlagshaus Berlin, 2019. »Zorn und Stille«, Roman, Hoffmann und Campe, 2020. »Flüstern«, Essay, Verlagshaus Berlin 2022. www.sandragugic.com

Autor*innenverzeichnis

Daniel Gyamerah leitet das Team »Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership« sowie das Portfolio zu Vielfalt, Antidiskriminierung und inklusiver Führung. Seine Leidenschaft gilt der Entwicklung von Inklusionsstrategien, dem Aufbau von Community-Netzwerken und der Institutionalisierung von Empowerment. Daniel ist Gründungsmitglied der neuen deutschen organisationen (ndo) und Vorsitzender von Each One Teach One (EOTO). Seine Veröffentlichungen behandeln strategische Inklusions- und Antidiskriminierungsansätze in der Verwaltung sowie im Kultur- und Bildungssektor. Anica Happich gebürtige Magdeburgerin, ist Schauspielerin, Kuratorin, Hochschuldozentin und kulturpolitische Akteurin, die an öffentlich geförderten Theatern, in der freien Szene und als Film- und Theaterschauspielerin tätig ist. Als kulturpolitische Akteurin arbeitet sie im Spannungsfeld der künstlerischen Praxis und bildungspolitischen Arbeit für die Bedeutung und die Belange der (freien) Darstellenden Künste u.a. im »ensemble-netzwer k e.V.«, der Initiative »FAIRSTAGE« sowie dem Forschungsprojekt »Syste mcheck«. Gemeinsam mit Jakob Arnold initiiert und leitet sie seit 2021 das Theaterfestival »PHOENIX« im ehemaligen Schauspielhaus Erfurt. Vera Hefele und Teresa Trunk sind Kultur- und Transformationsmanagerinnen. 2020 gründeten sie das Projektbüro WHAT IF für nachhaltige Kultur, das Kulturinstitutionen dabei begleitet, nachhaltige Prozesse langfristig zu implementieren und dadurch zukunftsfähig zu machen. Sie entwickeln individuelle Nachhaltigkeitsstrategien, erstellen Klimabilanzen und bieten Workshops und Vorträge zum Thema an. Bisherige Projektpartner waren u.a. Theater Regensburg, Kulturamt der Stadt Würzburg, Staatstheater Augsburg, Mahler Chamber Orchestra sowie Universität Salzburg Mozarteum. Mona Louisa-Melinka Hempel ist freischaffende Choreographin, Tänzerin und Performerin für bewegungsbasierte Stücke, basierend auf Identifikation, Identität, südamerikanischem Feminismus, Dekolonisation und der Umstürzung des klassischen Kanons. Sie arbeitet ebenfalls im Bereich Dramaturgie, Installation und als Teil der Initiative für Solidarität am Theater. Prof. Dr. Susanne Keuchel ist promovierte Musikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und Vorsitzende der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Von 2019 – 2022 war sie Präsidentin des Deutschen Kulturrats.

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Susanne Keuchel ist Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Katharina Klapdor Ben Salem, M.A., ist Kulturanthropologin und arbeitet in Köln als Kuratorin, Dramaturgin, Moderatorin und Managerin für die Produktion von Kunst und Kultur. Sie ist eine der Projektleiterinnen hinter der Initiative And She Was Like: BÄM!. Ihr Schwerpunkt liegt in der Arbeit für und in der Konzipierung von Projekten, die sich für die Anerkennung der Diversität unserer Gesellschaft einsetzen. Mit vielen Erfahrungen im Bereich Ausstellungen arbeitete sie zuletzt als Produktionsleitung/Dramaturgin für das CircusDanceFestival und als Projektleiterin bei ArtAsyl e.V. Seit Januar 2023 leitet sie die beiden Bundeswettbewerbe Deutscher Jugendfotopreis und Deutscher Multimediapreis beim Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum. Johanna-Yasirra Kluhs arbeitet als freie Programm- und Produktionsdramaturgin mit verschiedenen Künstler*innenkollektiven, Regisseur*innen und Choreograf*innen u.a. Rotterdam Presenta, SEE!, Tanja Krone, sowie Salma Said und Miriam Coretta Schulte. 2016–21 co-leitete Kluhs mit Fabian Saavedra-Lara das Kulturprogramm »Interkultur Ruhr«. Sie ist Mitgründerin der Ost-West-AG und des Festivals Future Now in Wuppertal und Komplizin des Programmteams des Festival Part’âges in Yaoundé. Dr. Tobias J. Knoblich ist Dezernent für Kultur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Erfurt. Er studierte Kulturwissenschaft, Kulturpolitik und Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte an der Universität Hildesheim. Er hat zahlreiche Ehrenämter und Verpflichtungen in Gremien u.a. ist er Mitglied des Fachausschusses Kultur der Deutschen UNESCO-Kommission und seit Ende 2018 Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Şeyda Kurt schreibt und spricht über Politik, Kultur, Philosophie und Feminismus. Sie war Kolumnist*in beim Theaterfeuilleton nachtkritik.de und schreibt u.a. für Zeit Online. Als Redakteur*in arbeitete sie an dem Spotify Original Podcast 190220 – Ein Jahr nach Hanau, der mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im April 2021 erschien ihr Sachbuchbestseller Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist über Liebesnormen im Kraftfeld von Kapitalis-

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mus, Patriarchat und Kolonialismus. Im März 2023 erscheint das Essay HASS – Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Joshua Kwesi Aikins ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei »Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership«. Er begleitet Projekte im Bereich Forschung und Beratung durch einen menschenrechtsbasierten, rassismuskritischen Ansatz und bringt dabei sein Wissen im Bereich Open Source Lösungen in die innovative Bearbeitung wissenschaftlicher Herausforderungen ein. Kwesi entwickelt diverse Fokusgruppen-, Planspiel- und Expert*innen- gestützte Formate zur qualitativen Erfassung von Diskriminierungsdynamiken und Ermächtiungsstrategien im Kultursektor. Als Mitglied im Beirat der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland setzt er sich für umfassendes Empowerment und antirassistische Politik ein. Kwesi promoviert an der Uni Kassel und lehrt dort zu dekolonialen Perspektiven auf Entwicklung sowie indigenen politischen Autoritäten in Ghana. Dr. Friederike Landau-Donnelly ist Stadtsoziologin und Kulturgeographin. Derzeit arbeitet sie als Assistenzprofessorin an der Radboud Universiteit, Nijmegen, Niederlande. Sie interessiert sich für Spannungsfelder zwischen (Stadt)Raum und (Kultur)Politik in zeitgenössischen Kontexten urbaner Transformation. Weitere Forschungsinteressen sind umstrittene Denkmäler, Museen, Hiphop sowie Raum- und Konflikttheorie. Für Friederike sind Konflikte notwendig, um gesellschaftspolitischen Wandel intersektional zu gestalten. Außerdem schreibt Friederike Gedichte und isst leidenschaftlich gerne Eis. Cesy Leonard ist Aktionskünstlerin sowie Gründerin und Künstlerische Leitung Radikale Töchter. Bis 2019 war sie Teil des künstlerischen Stabs von »Zentrum für Politische Schönheit« und entwarf politische Multimedia-Interventionen, die internationale Aufmerksamkeit auf die drängenden Fragen unserer Zeit lenken. Cesy Leonard interessiert sich für die Gestaltung von Räumen, in denen der Wille zum politischen Engagement entstehen kann. 2019 gründete sie Radikale Töchter, um Räume zu schaffen, in denen politisches Handeln wieder denkbar wird und arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Design, Politik und Bildung. Menschen zu befähigen, kritisch zu sein und aktiv zu werden, ist ein zentrales Motiv ihrer Arbeit.

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Dr. Henning Mohr ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen. Juliane Moschell ist Abteilungsleiterin Kunst und Kultur in der Landeshauptstadt Dresden, studierte Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Marburg sowie Kulturmanagement in Hamburg und arbeitete an Theatern in Koblenz, Frankfurt/M und Dresden. Seit 2017 ist sie tätig für das Amt für Kultur und Denkmalschutz. Nachhaltigkeit hat sie in die Kulturentwicklungsplanung Dresdens eingebracht und leitet das vom Rat für Nachhaltige Entwicklung geförderte Projekt Culture for Future. Sebastian Quack arbeitet als Künstler, Game-Designer und Kurator an der Schnittstelle von Spiel, Partizipation und urbaner Politik. Er ist Direktor des Now Play This Festival für experimentelles Game-Design am Somerset House in London, ist Gründungsmitglied des Netzwerks Invisible Playground, leitet Trust in Play, European School of Urban Game Design, und ist Mitbegründer von Drift Club, einer Plattform für zufällige musikalische Spaziergänge. Im Projekt Offene Welten entwickelt er gemeinsam mit Museen Tools für digital unterstützte Erfahrungen im Stadtraum. Regelmäßig unterrichtet er Kunst und Design und berät Organisationen, die spielerisch mit der Welt um sie herum in Kontakt kommen wollen. Fabian Saavedra-Lara ist ein deutsch-chilenischer Kurator im Kontext Medienkunst und digitale Kultur. Er leitet seit 2013 das Büro des medienwerk.nrw. Demba Sanoh ist einer der beiden Gründer von »Same but Different – Diversity Management & Consulting«, der Agentur für kulturellen Wandel. Er ist Historiker und publiziert als freier Autor vorrangig zu seinen Themenschwerpunkten Rassismus und Kolonialismus. Außerdem hat er langjährige Erfahrung im Kulturbetrieb und arbeitet als Tourmanager, Produktionsleiter und Künstler*innenbetreuer für verschiedene Bands und Festivals im deutschsprachigen Raum. In seiner Funktion als Mitgründer von »Same but Different« verbindet er seinen Expertisen beiden und schult Unternehmen

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und Institutionen in der Kultur- und Musikbranche zu Themen wie Diversität und Diskriminierungssensibilität. Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch »Vulva. Das unsichtbare Geschlecht«, 2016 »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens«. 2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman Identitti. Paulina Seyfried ist Kunstwissenschaftlerin, Kulturproduzentin und strukturelle Beraterin. Als Kulturproduzentin ist sie an der Schnittstelle von Freier Szene und institutionellen Kontexten (u.a. Rautenstrauch-Joest-Museum; Temporary Gallery, Festival Theaterformen) tätig. 2022 – 2024 übernimmt Paulina die Produktion des Projektes insert female artist – literarisches Forum für feministische Stimmen. In ihrer praxisbasierten Forschung beschäftigt sich Paulina Seyfried mit kollaborativer Arbeit. In diesem Zuge entwickelte sie die ›Manege der Gegenwart‹ – eine Anleitung zur institutionellen Öffnung. Julian Stahl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für »Digitalität als Kulturpraxis« bei der Kulturstiftung des Bundes. Darüber hinaus promoviert er am WÜRTH Chair of Cultural Production bei Prof. Dr. Martin Tröndle an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen an den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement. Jessica Samantha Starr Weisskirchen, M.A., ist Regisseurin und kulturpolitische Akteurin. Sie begann ihre Theaterlaufbahn als Regieassistentin am Theater und Orchester Heidelberg und dem Nationaltheater Mannheim. Hier realisierte sie erste Arbeiten während ihrer Assistenzzeit und gab 2021 ihr RegieDebüt am NTM. 2022 eröffnete sie die Spielzeit am Theater Dortmund mit WOYZECK. Sie ist Vorstandsmitglied des ensemble-netzwerk e.V., Gründerin des assistierenden-netzwerk sowie Initiatorin und Leiterin des Assistierenden-Festivals SUMMER UP. Sie studierte Theater- und Orchestermanagement an der HfMDK Frankfurt am Main und ist seit 2022 Jurymitglied des Fonds Darstellende Künste. Lea Stöver hat Ethnologie und Germanistik studiert und leitet seit August 2018 den Creative Europe Desk KULTUR (CED KULTUR). Gemeinsam mit ihrem Team berät sie Kultureinrichtungen und Kulturschaffende zu den Fördermög-

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lichkeiten des EU-Programms Kreatives Europa KULTUR. Die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. ist Träger des CED KULTUR. Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo geboren. Ihr Debütroman »Beschreibung einer Krabbenwanderung« erschien 2018 bei DuMont. Sie wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, darunter der Förderpreis des Landes NRW, das Stipendium Deutscher Literaturfonds und das Rolf-DieterBrinkmann-Stipendium 2019. Eva Tepest, Berlin, ist Autor*in und Journalist*in mit einem Fokus auf autofiktionale und essayistische Textformen. Eva ist Teil des Kollektivs DYKE DOGS, mit dem dey die gleichnamige lesbische Kulturreihe organisiert und Finalist*in des Open Mikes 2020 war. Evas erster Essayband »Power Bottom« erscheint im Februar 2023 im MÄRZ Verlag. Jasmin Vogel leitet seit 2019 als Vorständin das Kulturforum in Witten. Seit über einem Jahrzehnt ist sie im Kultursektor tätig und hat verschiedene Innovationsprogramme zur Transformation von Kultureinrichtungen verantwortet. In der Folge wurde sie für ihre Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der 1. Preis beim ZukunftsGut 2020 für institutionelle Kulturvermittlung und als »Europäische Kulturmanagerin des Jahres« in 2021. In Witten liegt ihr Fokus auf der praxisorientierten Erprobung neuer Governance- und Geschäftsmodelle für den Kultursektor, die zu einer größeren Diversität, Digitalität und Transformationsfähigkeit innerhalb der Organisationen führen und damit in Zukunft eine nachhaltige und resiliente Kulturinfrastruktur gewährleisten sollen. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist Lucienne Wagner bei »Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership« zuständig für die Forschung zu Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten, deren Erhebung und Analyse. Außerdem promoviert Sie zu Diversität an deutschen Hochschulen und hier bestehenden theoretischen Potenzialen für kritische Praxis. Lucienne ist zertifizierte Social Justice und Diversity Trainierin und gibt regelmäßig Trainings. Deniz Yıldırım ist Soziologin und wissenschaftliche Leiterin des »Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership«-Teams. Sie ist Co-Sprecherin von BuntGrün, dem Empowerment-Netzwerk für People of Color und Schwarze Men-

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schen innerhalb des Grünen Landesverbandes und hat ein tiefes Verständnis für die Schnittmenge von politischen Prozessen, Community Empowerment und datengestützter Politikgestaltung. Deniz verfügt über sechs Jahre Forschungserfahrung. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die Messung sozialer Ungleichheit und Stratifizierung und ist inspiriert von Theorien der sozialen Gerechtigkeit und dem Kampf gegen rassistische Diskriminierung. Deniz ist zertifizierte Diversity-Trainerin. Prof. Dr. Martin Zierold ist Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, an dem er die Zajadacz Stiftungsprofessur für Innovation durch Digitalisierung innehat. Dort befasst er sich mit Fragen der Strategie und Organisationsentwicklung angesichts der großen gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart. Martin Zierold arbeitet zudem freiberuflich als systemische Coach, Lehrtrainer und Berater.

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Kulturmanagement Andrea Hausmann (Hg.)

Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum Chancen – Akteure – Strategien 2020, 164 S., kart., 3 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4561-3 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4561-7

Birgit Mandel, Birgit Wolf

Staatsauftrag: »Kultur für alle« Ziele, Programme und Wirkungen kultureller Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR 2020, 308 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5426-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5426-8

Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg, Linda Kelch (Hg.)

Mehrdeutigkeit gestalten Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik 2021, 300 S., kart., 11 SW-Abbildungen, 23 Farbabbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5007-5 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5007-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturmanagement Alexander Pähler

Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft Überlegungen zu kulturellen Grenzen und Zwischenräumen 2021, 264 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5576-6 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5576-0

Constance DeVereaux, Steffen Höhne, Martin Tröndle, Anke Schad-Spindler, Tal Feder (eds.)

Journal of Cultural Management and Cultural Policy/ Zeitschrift für Kulturmanagement und Kulturpolitik Vol. 7, Issue 2: Transformation and Upheavals: The Effects of Crises and Conflicts on the Arts 2021, 236 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-5390-8 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5390-2 Steffen Höhne, Thomas Schmidt, Martin Tröndle (Hg.)

Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 5, Heft 2: Theater – Politik – Management 2019, 224 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4466-1 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4466-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de