Kultur des Erinnerns: Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland 9783964566133

Angesichts der Globalisierungstendenzen der wissenschaftlich -technischen Zivilisation, die über die Nationalstaaten hin

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Kultur des Erinnerns: Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland
 9783964566133

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Vorwort
GESCHICHTE UND ERINNERUNG
Geschichte und Erinnerung: zwei Lesarten der Vergangenheit
Vergangenheitsüberwältigung
ERINNERN IN SPANIEN UND DEUTSCHLAND
Deutschlands nicht zu bewältigende Vergangenheit
Demokratie und Vergangenheitsbewältigung. Zur Wiederkehr verdrängter Geschichtserinnerung in Spanien
VERDRÄNGEN UND SCHWEIGEN
Von den Kindern an die Enkel: Erinnerung und Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs während der Transition und in der Demokratie
Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945
Politische Kultur und der friedliche Weg in die Demokratie. Angst und Vergessen während der spanischen Transition
Fortwährende Umdeutung der Orte. Was von der Erinnerungskultur der DDR bis heute geblieben ist
ERINNERUNG: MORALISCHE PFLICHT ODER INVESTITION IN DIE ZUKUNFT?
Erinnerung und Zivilgesellschaft
Vom schwierigen Zusammenwachsen der zwei deutschen Staaten
Geschichte und Nationalismen im heutigen Spanien
ERINNERUNGSARBEIT KONKRET
Die Arbeit der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica
Die Akten und die Wahrheit
Die Gegenwart der Vergangenheit. Aktuelle Aspekte der deutschen Erinnerungskultur
Autorenverzeichnis

Citation preview

Ignacio Olmos, Nikky Keilholz-Rühle (Hrsg.) Kultur des Erinnerns

Ignacio Olmos, Nikky Keilholz-Rühle (Hrsg.) Unter Mitarbeit von Helga Schneider

Kultur des Erinnerns Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland

Übersetzt und bearbeitet von Frank Schleper und Frauke Gewecke

Frankfurt am Main - Vervuert - 2009

G e d r u c k t m i t f r e u n d l i c h e r U n t e r s t ü t z u n g des Instituto C e r v a n t e s Berlin u n d des Goethe-Instituts M a d r i d .

Alle Rechte vorbehalten © Vervuert, 2009 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main Tel.: +49 69 597 46 17 Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net

ISBN 978-3-86527-336-9

Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Umschlagbild: Eduardo Chiliida: Indigi II© Zabalaga-Leku/VG Bild-Kunst, Bonn 2009

Gedruckt in Spanien The paper on which this book is printed meets the requirements of ISO 9706

INHALTSVERZEICHNIS

Ignacio Olmos Vorwort

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Nikky Keilhok-Rühle Vorwort

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GESCHICHTE UND ERINNERUNG

Heyes Mate Geschichte und Erinnerung: zwei Lesarten der Vergangenheit

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Harald Welzer Vergangenheitsüberwältigung

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ERINNERN IN SPANIEN UND DEUTSCHLAND

Ignacio Sotelo Deutschlands nicht zu bewältigende Vergangenheit

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Walther L. Bernecker Demokratie und Vergangenheitsbewältigung. Zur Wiederkehr verdrängter Geschichtserinnerung in Spanien

57

VERDRÄNGEN UND SCHWEIGEN

Santos Julid Von den Kindern an die Enkel: Erinnerung und Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs während der Transition und in der Demokratie

75

6 Norbert Frei Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945 . . .

87

Alberto Reig Tapia Politische Kultur und der friedliche Weg in die Demokratie. Angst und Vergessen während der spanischen Transition

103

Annette Leo Fortwährende Umdeutung der Orte. Was von der Erinnerungskultur der DDR bis heute geblieben ist

123

ERINNERUNG: MORALISCHE PFLICHT ODER INVESTITION IN DIE ZUKUNFT?

Jutta Limbach Erinnerung und Zivilgesellschaft

137

Bernd Faulenbach Vom schwierigen Zusammenwachsen der zwei deutschen Staaten

141

Juan Aranzadi Geschichte und Nationalismen im heutigen Spanien

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ERINNERUNGSARBEIT KONKRET

Emilio Silva Barrera Die Arbeit der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica

167

Joachim Gauck Die Akten und die Wahrheit

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Erik Meyer Die Gegenwart der Vergangenheit. Aktuelle Aspekte der deutschen Erinnerungskultur

187

Autorenverzeichnis

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VORWORT

Ignacio Olmos

Was man in Spanien unter "memoria histórica" (historische Erinnerung) und in Deutschland unter "Vergangenheitsbewältigung" versteht, ist ohne Zweifel in beiden Ländern ein gleichermaßen aktuelles Thema (auch wenn die Begriffe durchaus nicht gleichzusetzen sind). In Spanien begann die Auseinandersetzung um die Notwendigkeit, die unmittelbare historische Vergangenheit — sowohl den Franquismus als auch den Bürgerkrieg — zu erinnern, gerade mal Anfang dieses neuen Jahrtausends, also etwa 25 Jahre nach dem Tod des Diktators. Seitdem wurde das Thema zum Gegenstand eines immer schärfer und erbitterter geführten politischen Streits, so dass einige Autoren sogar von der Wiederkehr der "zwei Spanien" sprechen. In Deutschland war die Vergangenheit seit der großen Debatte der späten 60er Jahre, ebenfalls 25 Jahre nach dem Zusammenbruch eines Landes, das in Schutt und Asche lag, in der öffentlichen Diskussion präsent und hat die politische Entwicklung der Bundesrepublik bis heute entscheidend geprägt. Im Rahmen der immer enger werdenden Zusammenarbeit zwischen dem Instituto Cervantes und dem Goethe-Institut haben es sich beide Institutionen zur Aufgabe gemacht, Intellektuelle und Autoren beider Länder zusammenzubringen, um regelmäßig Themen von gemeinsamem Interesse zu diskutieren. Das I. Symposium über die deutsch-spanischen Kulturbeziehungen fand 2003 in Madrid statt und versuchte eine Bestandsaufnahme der kulturellen Beziehungen innerhalb der unterschiedlichsten Disziplinen. Im Jahre 2005 fand in Berlin das II. Deutsch-Spanische Symposium statt; sein Thema lautete "Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland". Die wichtigsten Beiträge sind in diesem Band zusammengefasst.

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Ignacio Olmos

Das Instituto Cervantes und das Goethe-Institut stellten sich bei diesem Treffen der Herausforderung, die Erfahrungen beider Länder zueinander in Beziehung zu setzen und die Möglichkeiten zu beleuchten, von der jeweils anderen Erfahrung zu lernen. Es ist ofFensichdich, dass man nicht von einem historischen Vergleich zwischen Franquismus und Nationalsozialismus ausgehen kann; genauso wenig kann man den Bürgerkrieg, der zwei Lager innerhalb derselben Gesellschaft konfrontierte und der eine 40 Jahre währende Diktatur hervorbrachte, mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, in dem sich ein so unvergleichbares Ereignis der jüngeren Weltgeschichte ereignete, wie es der Holocaust war. Gleichwohl ist es — zumindest unserer Auffassung nach — zulässig zu vergleichen, wie beide Zivilgesellschaften den Gespenstern der Vergangenheit heute entgegentreten. Dabei gebührt Deutschland möglicherweise der fragwürdige Titel des Meisters in der schmerzvollen Kunst der Vergangenheitsaufarbeitung, während Spanien, das mit seiner modellhaften politischen transición anderen Ländern als Vorbild diente, sich heute mit einer ganz neuen Konfliktsituation konfrontiert sieht. Für Deutschland, wo die nicht enden wollende Diskussion um die Vergangenheit durch immer neue Anlässe gespeist wird, seien aus der jüngsten Vergangenheit drei Ereignisse genannt. Das erste Ereignis war das aus Anlass der in Deutschland 2006 stattfindenden Fußballweltmeisterschaft unvermittelte Auftauchen eines Fahnenmeers: ein spontaner Impuls, der ohne politische Intentionen aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstand und eine Debatte darüber auslöste, ob Deutschland schon reif sei, um mit der Fahne in der Hand Stolz auf das eigene Land zu zeigen, ohne dass dies automatisch als nationalistische Selbstbestätigung zu werten war. Die Freude über die Weltmeisterschaft währte nur kurz, denn bald folgte die Enthüllung der Mitgliedschaft des 17-jährigen Günter Grass in der Waffen-SS. Die Nachricht wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung enthüllt und löste eine heftige Debatte aus: dies nicht so sehr aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der dem Naziregime eng verbundenen Elitetruppe, sondern aufgrund der Tatsache, dass Grass dies all die Jahrzehnte — bis zur Veröffendichung seiner Erinnerungen Beim Häuten der Zwiebel— geheim gehalten und behauptet hatte, er sei Soldat der Wehrmacht gewesen. Ein lebender Mythos der deutschen Sozialdemokratie, der fiir die Deutschen unermüdlich Selbstkritik eingefordert hatte, war in den Augen vieler zerstört. Das dritte Ereignis war die Eröffnung der ständigen Ausstellung zur deutschen Geschichte 2006 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Ausstellung verfolgt — so Bundeskanzlerin Angela Merkel — ausdrücklich die politische Absicht, zur Wiedererlangung einer deutschen Identität beizutragen. Der dem Nationalsozialismus gewidmete Teil

Vorwort

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der Ausstellung nimmt dabei den gleichen Raum ein wie der, welcher der kommunistischen Diktatur der DDR gewidmet ist. Mit dieser Darstellung der Bundesrepublik als Resultat einer erfolgreichen Überwindung zweier Diktaturen unterschiedlicher Ausrichtung schien in Frage gestellt, was über Jahrzehnte fiir Deutschland die Grundlage eines kritischen Selbstverständnisses gewesen war: die Einzigartigkeit des Holocaust. In Deutschland, wo man an den Stachel einer unbequemen Vergangenheit gewöhnt ist, werden Debatten über diese Fragen mit großer Intensität geführt — dies allerdings stets innerhalb der Grenzen politischer und journalistischer correctness. Dagegen führte in Spanien die Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit — besonders seitdem nach den Attentaten vom 11. März 2004 ein Regierungswechsel erfolgt war — zu einer öffentlich ausgetragenen Polemik, wie sie die Demokratie bis dahin noch nicht erlebt hatte. Für die politische und intellektuelle Linke ging es dabei vor allem um einen Akt der Gerechtigkeit gegenüber den republikanischen Opfern des Bürgerkriegs, die man während des Übergangs zur Demokratie aufgrund der gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber der Rechten in den Gräbern der Geschichte vergessen hatte. Mehr als 25 Jahre nach dem Tod Francos, in der nunmehr gefestigten Demokratie, erwachte plötzlich das Interesse der Menschen an ihrer jüngsten Geschichte. Unzählige Bücher wurden publiziert, Fernsehsendungen ausgestrahlt, Ausstellungen und Symposien organisiert; und auch für die Politik schien der Moment gekommen, "die Opfer des Franquismus moralisch und juristisch zu rehabilitieren", wie der Text eines entsprechenden Gesetzentwurfs der Regierung lautete. Die Reaktion nicht nur konservativer Kreise, sondern auch angesehener Linksintellektueller war so heftig, dass die Verabschiedung des Gesetzentwurfs mehrfach verschoben wurde; und das Gesetz, das schließlich verabschiedet wurde, entsprach kaum noch der ursprünglichen Fassung und befriedigte weder die konservativen noch die liberalen Kreise noch die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, die den ganzen Prozess vorangetrieben hatten. Der Widerstand einiger Kreise gegen die Anerkennung der republikanischen Opfer des Bürgerkriegs war so heftig, dass schließlich sogar behauptet wurde, der Militärputsch gegen die Republik sei gerechtfertigt und direkt verantwortlich fiir den Bürgerkrieg sei die republikanische Linke gewesen. Es genügt, in diesem Zusammenhang auf einen Artikel zu verweisen, den Anselmo Älvarez, Abt im Valle de los Catdos, in der religiösen Beilage der Tageszeitung ABC vom 19. Juli 2007 publizierte. Darin heißt es: Wenn Verzeihen als die Kardinaltugend gelten kann, die offene Wunden aus dem Bürgerkrieg heilt, dann hätten sich die Sieger weit mehr in dieser Tugend geübt, indem sie ihren Feinden verziehen, als die Verlierer,

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Ignacio Olmos

die sich aufgrund fortdauernder Feindseligkeit immer noch weigern, ihren Feinden zu verzeihen, und nicht einmal bereit seien anzuerkennen, dass ihnen "vergeben worden sei". Sie würden keinerlei "Bereitschaft zur Aussöhnung" zeigen. Dagegen sei gerade das Valle de los Caidos sichtbares Zeichen einer nationalen Wiedergutmachung, da die Sieger hier großzügig "unter einem Gewölbe und in einem Gebet" die Gefallenen beider Lager vereint hätten. Die Position der Kirche in diesem Konflikt wird gleichermaßen deutlich durch die im Oktober 2007 auf spanische Initiative hin erfolgte Seligsprechung von 498 im Bürgerkrieg als "Märtyrer" umgekommenen Priestern. Absehbar war, dass die spanische Linke dies als Überbleibsel des Franquismus in einer Gesellschaft begreifen würde, die sich gerade deshalb umso intensiver der Wiedererlangung ihrer historischen Erinnerung stellen sollte. Angesichts der Auseinandersetzungen um den Gesetzentwurf zur Anerkennung der Opfer liegt die Vermutung nahe, dass — so der Philosoph Eduardo Subirats — "die spanische Gesellschaft in einigen Jahren die politischen Verbrechen und die ideologische Barbarei vergessen haben wird, so wie sie auch anderes vergaß: die Verfolgung der Liberalen durch die Kirche im 19. Jahrhundert, die Autodafés gegen die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die Ermordung der Morisken im 17. Jahrhundert oder die Vertreibung der Juden im 16. Jahrhundert". Die demokratische Rechte bewertet die Debatte über die historische Erinnerung als politisch unverantwordich, da sie Spannungen innerhalb einer Gesellschaft erzeuge, die mit dem in Frage stehenden Teil der Geschichte bereits abgeschlossen habe. Ohne Zweifel ist es Aufgabe der Zivilgesellschaft, zu diesem heiklen Thema einen Konsens zu finden, da jede politische Initiative die Gefahr birgt, sich (partei-)politischen Interessen zu beugen. Doch der spanischen Zivilgesellschaft fehlt es an unabhängigen Institutionen; überdies zeigt sich eine zunehmende Polarisierung der Medien. Von der Rechten wird zudem kritisiert, dass sich die sozialistische Regierung nur um "ihre" und nicht um alle Opfer kümmere; als selbstverständlich erscheint jedoch, dass die bereits durch die Franquisten erfolgte Würdigung der "nationalen" Opfer nicht bedeuten darf, dass diese nun von den Demokraten vergessen werden. In diesem Zusammenhang war besonders erhellend, was auf unserem Kongress Joachim Gauck empfahl: dass Spanien die historische Erinnerung nicht ausschließlich der Linken überlassen darf. Nur der Dialog beider Lager kann zu einem dauerhaften Konsens fuhren. Zwei Aspekte wurden bei unserem Zusammentreffen deudich: Z u m einen muss die schmerzhafte Erinnerungsarbeit — wie Reyes Mates aufzeigte — alle Opfer ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, unabhängig von ihrer politischen Überzeugung, da es darum geht, erlittenes Unrecht zu erinnern, ohne dass

Vorwort

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Opfer im Dienst einer politisch geleiteten Konstruktion oder Rekonstruktion von Geschichte instrumentalisiert werden. Zum andern ist die Erinnerungsarbeit unauflöslich mit der Qualität der Demokratie verbunden; das heißt, je kritischer und selbstkritischer eine Gesellschaft die eigene Vergangenheit betrachtet und nicht nur nach der Schuld der anderen, sondern auch nach der eigenen Schuld fragt, umso freier sind ihre Bürger und umso größer ist ihre Fähigkeit, einer populistischen Politik zu widerstehen, die beide Länder einst ins Verderben stürzte. Berlin, im Juli 2007

VORWORT

Nikky Keilholz-Rühle

Im Horizont der Globalisierungstendenzen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die über die Nationalstaaten hinausdrängen, wächst den kollektiven Erinnerungsprozessen eine neue und gesteigerte Bedeutung zu. Denn die neuen Verflechtungen und Transformationen nationaler Identitäten lassen sich in ihren Entwicklungen nur aus ihren geschichdichen Bedingungen verstehen. Und auch die so häufig zitierte europäische Identität ist nur dann mehr als nur eine Größe im ökonomischen Konkurrenzkampf, wenn sie den Ungleichzeitigkeiten und Unterschieden der vielfaltig miteinander verbundenen Geschichten Rechnung trägt, aus denen sie hervorgeht. Vor diesem Hintergrund haben das Instituto Cervantes Berlin und das GoetheInstitut Madrid ihre enger werdende Kooperation auf das Thema der Erinnerung fokussiert. Nachdem das erste, von beiden Institutionen gemeinsam in Madrid organisierte Symposium zunächst eine Bestandsaufnahme der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen leisten sollte, trug das zweite Symposium, das in Berlin stattfand, den Titel: "Kulturen des Erinnerns - Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland". Dieses Thema ist sowohl in Deutschland als auch in Spanien nach wie vor von brennender Aktualität. Dabei schienen uns gerade die unterschiedlichen geschichdichen Entwicklungen beider Länder ein fruchtbarer Boden fur einen Erfahrungsaustausch zu sein, der zugleich eine gemeinsame Reflexion über die Bedingungen anstoßen sollte, unter denen sich eine Gesellschaft in der Spätmoderne mit dem Erbe ihrer Geschichte auseinandersetzt. Denn in dem Maße, wie Geschichte verfugbar gemacht und als Information jederzeit zitierbar und abrufbar erscheint, verliert sich auch das Bewusstsein dafür, dass und inwiefern ihre unverarbeiteten Schichten und ihre uneingelösten Potentiale in den Problemen und Konflikdagen der Gegenwart weiterwirken.

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Nikky Keilholz-Rühle

Bei allen Unterschieden in den historischen Entwicklungen Spaniens und Deutschlands sind die Geschichten beider Länder in ihren zeitgeschichdichen Dimensionen doch auch wieder eng miteinander verbunden. Das betrifft vor allem die Erfahrungen des gesellschaftlichen Übergangs aus autoritären bzw. totalitären Herrschaftsformen zu einer modernen Demokratie. Gerade die Spannungen zwischen dem Bruch mit alten Gesellschaftsformen und kollektiven Erfahrungshorizonten und dem, was sich aus ihnen in allen Veränderungen immer auch fortsetzt, gibt dem Thema der kollektiven Erinnerung seine bleibende und nicht nur historische Aktualität. In Spanien beginnt sich diese Insistenz seit einiger Zeit unter dem Begriff "memoria histórica" (historische Erinnerung) zu regen, und dabei zeigt sich, wieviel gesellschaftliches Konfliktpotential sich in den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs und den 25 Jahren gesellschaftlicher transición nach dem Tod Francos angesammelt hat. In zunehmendem Maße entzünden sich am Thema kollektiver Erinnerung politische Konfrontationen, die der Rede von den "zwei Spanien" wieder neuen Auftrieb gegeben haben. Ist hier einer kollektiven Erinnerung ein neuer und tragfähiger Boden zu bereiten, so hat sich in Deutschland seit den 60er Jahren — also ebenfalls etwa 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und auch unter gesellschaftlichen Konflikten — eine breite historische Erinnerungs- und Diskussionskultur entwickelt. Angesichts einer historisch sehr gut erschlossenen und vermeintlich "aufgearbeiteten" Geschichte stellt sich hier mit dem Erwachen eines neuen nationalen Selbstbewusstseins das Problem der weiter wirkenden Verantwortung fiir eine Geschichte, die man niemals "hinter sich bringt", sondern die jeder Gegenwart neue Lernprozesse abverlangt. Unter der hier angedeuteten Themenstellung haben das Instituto Cervantes und das Goethe-Institut Intellektuelle, Wissenschaftler und Schriftsteller aus beiden Ländern zu einer Diskussion eingeladen, die in diesem Band dokumentiert wird. Angesichts einer Themenstellung von unkalkulierbarer Reichweite und Brisanz ging es uns zunächst einmal darum, die enger werdenden Räume für kollektive Erinnerungsprozesse offenzuhalten und Impulse für einen Austausch von Erfahrungen und für weiter wirkende gesellschaftliche Reflexionen zu geben. Das Stichwort "Kulturen des Erinnerns" bezieht sich auf die unterschiedlichen historischen Entwicklungen einer beiden Ländern gemeinsamen Problemstellung. Das heißt, es sollte nicht zu einem Vergleich zweier nicht vergleichbarer Geschichten einladen, sondern zu einer Diskussion über gemeinsame Konsequenzen Anlass geben. Vergleichbar und einer solchen Diskussion bedürftig sind jedenfalls die gesellschaftlichen Probleme und Konfliktpotentiale, die jede kollektive Erinne-

Vorwort

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rung mit sich bringt und die von der unverminderten Insistenz geschichtlicher Erfahrungen in jeder Gegenwart zeugen. Dies zeigte sich in Deutschland nach dem Ende der Teilung in den Debatten um eine neue nationale Identität oder die polemische Diskussion um Günter Grass, und es zeigt sich in Spanien an den heftigen Polemiken um den Umgang mit dem franquistischen Erbe, um die Anerkennung der Rechte der Opfer und um die voreilige Forderung nach Vergebung in einem noch gar nicht thematisierten traumatischen gesellschaftlichen Bruch. Dazu haben sich auf diesem Symposium insbesondere zwei Punkte klar herauskristallisiert: Erstens und vor allem müssen im Mittelpunkt einer Erinnerung, die Traumata und Schmerzen nicht scheut, die unbedingten Ansprüche der Opfer stehen. Diese Ansprüche lassen sich in keiner Weise für wie immer geartete Erfordernisse einer Gegenwart instrumentalisieren, sondern sind der unhintergehbare Ausgangspunkt für jede geschichdich reflektierte Fortsetzung historischer Erfahrungen. Daraus ergibt sich zum Zweiten, dass sich die Offenheit und Entwicklungsfähigkeit einer Demokratrie daran bemisst, welche Antworten sie auf die Ansprüche ihrer Vergangenheit findet und inwieweit sie in der Lage ist, ihr neue Erfahrungshorizonte zu erschließen. Unter diesen Anforderungen konnte und wollte das Symposium "Kulturen des Erinnerns" nur der Auftakt eines, wie wir hoffen, weiterfuhrenden intensiven und fruchtbaren Dialogs sein. Das Goethe-Institut und das Instituto Cervantes werden sich auch künftig in gemeinsamen Veranstaltungen daran beteiligen und dazu beitragen, diese Thematik zu vertiefen. Madrid, im Juli 2007

GESCHICHTE UND ERINNERUNG

GESCHICHTE UND ERINNERUNG: ZWEI LESARTEN DER VERGANGENHEIT

Reyes Mate

Wurde alles getan, was man tun konnte oder was getan werden musste? Diese Frage drängt sich auf, wenn man über die politische Transition in Spanien spricht, in der die Vergangenheit von Bürgerkrieg und Franquismus durch Abwesenheit glänzte. Zwei Fraktionen stehen sich hier gegenüber: auf der einen Seite Politiker und Historiker, die meinen, dass getan wurde, was getan werden musste — was bedeutet, dass die Verantwordichen bewusst die Entscheidung trafen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, weil das die beste Option war und weil die spanische Gesellschaft es so wollte; auf der anderen Seite junge Historiker und kritische Bürger, viele von ihnen Enkel der am Bürgerkrieg Beteiligten, die glauben, dass gerade mal das getan wurde, was angesichts der drückenden Last des Franquismus, der Bedrohung durch die Armee und der Schwäche der Opposition getan werden konnte. Diese Debatte ist noch lange nicht zu Ende. Und man kann vermuten, dass es recht eigendich um die generelle, positive oder negative, Bewertung dessen geht, was man als spanisches Modell des Übergangs von einer Diktatur zur Demokratie bezeichnet hat. Mich beschäftigt jedoch etwas anderes. Die Frage, die ich mir stelle, lautet, ob — unabhängig davon, was man in diesem konkreten historischen Moment tun konnte oder nicht — die Erinnerung an die Vergangenheit ein Minimum an Bedingungen erfüllen muss. Damit bewege ich mich mehr im Rahmen einer allgemeinen "Kultur des Erinnerns" als in einem Historikerstreit um die spanische Transition. Um von einer "Kultur des Erinnerns" sprechen zu können, müssen wir uns zunächst fragen, ob die Erinnerung eine spezifische Form der Aneignung von Vergangenheit ist, die sich von der Art und Weise, wie sich die Geschichtsschreibung

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Reyes Mate

zur Vergangenheit verhält, unterscheidet. Das heißt: Gibt es einen Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung hinsichdich der Lesart der Vergangenheit? Um diese Frage angemessen beantworten zu können, muss man berücksichtigen, dass es zwei grundlegend verschiedene Formen des Vergessens gibt: das Vergessen als ein Nichtwissen um die Vergangenheit und das Vergessen als Desinteresse an der Vergangenheit. Im ersten Fall handelt es sich um Unwissenheit, im zweiten um Ungerechtigkeit. Da das Spezifische der Geschichte (im Sinne der Geschichtsschreibung) darin besteht, die Vergangenheit zu erforschen, und das, was die Erinnerung bewegt, die Aktualität des Vergangenen ist, können wir von der Annahme ausgehen, dass Geschichte und Erinnerung zwei verschiedene Kontinente sind. Für diese Annahme bürgt bereits die Begriffsgeschichte. In der Antike war die Erinnerung ein sensus internus, ein innerer Sinn oder Gefühl, während es bei der Geschichte um die Kenntnis von Tatsachen ging. Die moderne Bedeutung von Erinnerung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzt, findet sich bei Maurice Halbwachs, wenn dieser schreibt: "Die Geschichte beginnt im allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition aufhört [...]" (1985: 103) — ein Gedanke, den auch Jorge Semprün umtreibt, wenn er darauf verweist, dass es bald keine Überlebenden mehr geben wird, die Zeugnis ablegen können, und damit die Vergangenheit der Konzentrationslager Teil der Geschichte sein wird. Das heißt: Die Geschichte beginnt dort, wo die Erinnerung aufhört. Doch es bringt nicht viel, weiter nach Definitionen zu forschen, denn bald werden die Karten so weit gemischt, dass eine Unterscheidung unmöglich sein wird. So gibt es Autoren, die wie Walter Benjamin über Erinnerung schreiben und wie Historiker argumentieren, und Historiker wie Eric Hobsbawm, der sich der Problematik der Erinnerung annimmt. Daher schlage ich vor, weniger polemisch — Erinnerung gegen Geschichte — als vermittelnd vorzugehen, um zu klären, was unter Erinnerung zu verstehen ist. Dabei werde ich mich an Walter Benjamin orientieren, dies aus zwei Gründen: Erstens greift Benjamin eine Tradition auf, die jüdische, welche die Vergangenheit in hohem Maße anamnetisch liest — wie der jüdische Historiker Josef Yerushalmi (2002: 37) schreibt, war Israel die Geschichte und die Geschichtsschreibung so fern, dass selbst Maimonides diese für "Zeitverschwendung" hielt; und zweitens versuchte Benjamin zeit seines Lebens, Erinnerung wie moderne Geschichte zu behandeln und sie damit vom rituellen oder religiösen Nährboden, der sie entstehen lässt, zu befreien, um sie zu einer Sache der öffentlichen Diskussion zu machen. "Wie ultraviolette Strahlen", schreibt Benjamin, "zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte"

Geschichte und Erinnerung

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(1991: 142). Bereits die Wortwahl macht deutlich, dass wir es mit einem gänzlich neuen Phänomen zu tun haben. Benjamin verwirft die gebräuchlichen Begriffe "Gedächtnis" und "Erinnerung" und wählt den veralteten Terminus "Eingedenken", den er selbst mit "souvenance" ins Französische übersetzt und der hier mit dem moderneren Begriff der "Rückerinnerung" gefasst werden soll. Hierbei geht es um einen spezifischen Blick auf die Vergangenheit oder, besser noch: um eine Konstruktion der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus. Benjamin wählt bewusst den Begriff "Konstruktion" und nicht "Rekonstruktion", geht es doch nicht einfach um eine Restauration der Vergangenheit, sondern um das Erschaffen der Gegenwart mit Materialien der Vergangenheit. Diese "Konstruktion" kann aber nur gelingen, wenn bei einem bestimmten Historiker eine bestimmte Vergangenheit mit einer bestimmten Gegenwart zusammentrifft. Es stellt sich zunächst folgende Frage: Von welcher Vergangenheit reden wir? Denn es gibt zwei Arten von Vergangenheit: eine, die in der Gegenwart präsent ist, und eine andere, die in der Gegenwart abwesend ist. Die siegreiche Vergangenheit überdauert die Zeit, da sich die Gegenwart als ihr Erbe begreift. Dagegen verschwindet die besiegte Zeit aus der Geschichte, an deren Anfang das Ereignis ihrer Niederlage steht. So bedeutet oder bewirkt die Niederlage der Morisken, dass sie in der jüngeren Geschichte Spaniens abwesend sind, denn diese wird von den siegreichen Christen geschrieben. Es gibt eine Vergangenheit, die war und weiter besteht, und eine andere, die war und nicht mehr ist. Die Erinnerung hat mit dieser abwesenden Vergangenheit der Besiegten zu tun. Entscheidend ist bei Benjamin nun nicht, dass er diese verschwundene Vergangenheit zu seinem Thema macht, sondern wie er dies tut. Das Spezifische der Erinnerung liegt darin begründet, wie sie die Vergangenheit versteht. Benjamin spricht von einer "kopernikanischen Wende", um darauf zu verweisen, dass es hier um etwas Neues geht: eine Wende, die darin besteht, dass diese strangulierte Vergangenheit nicht als etwas gesehen wird, das war und nicht mehr ist, nicht als etwas Träges und Unbewegliches, sondern als ein Mangel und damit als ein (frustrierter) Wunsch nach Realisierung. Das für die Perspektive der Erinnerung Spezifische ist zuallererst, dass sie auf die in der Gegenwart abwesende Vergangenheit gerichtet ist und sodann diese Misserfolge oder Opfer nicht gleich Flüssen und Bergen wie naturgegebene Tatsachen behandelt, sondern wie ein Unrecht, wie das gewaltsame Scheitern eines Lebensprojekts. Der Blick des an Benjamin geschulten Historikers korrespondiert mit dem des barocken Allegorikers, der die Ruinen und Kadaver nicht als tote Materie betrachtet, sondern als zunichte gemachtes Leben, als eine offene Frage, die von dem, der sie betrachtet, eine Antwort erwartet. Das Augenmerk auf etwas rieh-

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Reyes Mate

ten, das gescheitert ist, das von der Logik der Geschichte verbannt wurde, ist ein zutiefst beunruhigender und subversiver Akt, sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in politischer Hinsicht, da er die Autorität des Faktischen in Frage stellt. Was bedeutet, dass nicht nur das Faktische, das Gewordene, Realität besitzt, sondern auch das Mögliche; das, was einmal hätte sein können, aber nicht sein konnte; das, was überdauert hat als Möglichkeit, zum ersten Mal zu werden. Es ist möglich, sich den realen Charakter dessen vorzustellen, was nur als bloße Möglichkeit verblieb, weil sein Gelingen verhindert wurde; das heißt, wir können uns die Präsenz dieser abwesenden Vergangenheit vorstellen, die auf die Erinnerung einwirkt wie die Öffnungen in einigen Skulpturen von Chillida: Der Block wäre das Faktische, und die Leerstellen wären die Erinnerung der Besiegten. Es ist, als würden sie den Anspruch der Materie, die einzige Realität zu sein, untergraben. Die Präsenz oder Realität der Leerstelle ist nicht wie die der Materie; aber allein durch ihre Präsenz hinterfragt sie den Anspruch der Materie, die ganze Realität zu sein. Die Leerstelle strebt danach, Gestalt anzunehmen, auch wenn ihre Gestalthaftigkeit kein Auswuchs derselben Materie sein wird. Eine weitere in diesem Sinne beispielhafte Skulptur ist die des Katalanen Claudi Casanovas mit dem Titel "Den Besiegten": ein gigantischer Keramikblock mit tiefen Spalten auf allen Seiten, der vom Feuer geschwärzt und innen hohl ist. Die Spalten sind, wie der Bildhauer selbst es sieht, Ausdruck des Leidens der Opfer; nach Benjamin würden sie aber auch für den Beginn der Hoffnung stehen.1 Wenn wir von der Kunst zur Geschichte wechseln, sehen wir, dass zum Beispiel Pinochet nach der Niederlage Allendes nicht die einzige Realität ist. Pinochet steht für das Faktische, aber um die Realität der Jahre des Pinochet-Regimes zu verstehen, müssen wir auch die Präsenz der Abwesenheit Allendes berücksichtigen, das heißt: die Tatsache, dass der chilenischen Gesellschaft eine politische Erfahrung genommen wurde, die ein gewaltsames Ende fand. Dasselbe gilt für Franco und die Zweite Spanische Republik. Ein ähnliches Modell der Beziehung zwischen Erinnerung und Vergangenheit beschreibt Bertolt Brecht in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen": Er bittet die Enkel, sich an die Großeltern zu erinnern, aber nicht an deren Erfolge, die es sicherlich gegeben hat, sondern an deren Misserfolge, damit sie selbst ihre Träume Wirklichkeit werden lassen.2 Das Erinnern funktioniert auf dieselbe Weise

1. Diese Skulptur wird die Stadt Olot in Katalonien zum Gedenken an die gefallenen Republikaner aufstellen. 2. Brecht 1988: 85-87. Vielleicht geht Brecht sogar noch weiter: Wir können nicht stolz sein auf unsere Erfolge, denn wir haben sie nur erreicht, indem wir anderen viel Leid zufugten.

Geschichte und Erinnerung

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wie das Erwachen aus dem Schlaf, wobei das spanische Wort für "Schlaf", sueno, zugleich "Traum" bedeutet. Aus dem Schlaf/aus dem Traum erwachen bedeutet folglich, den Zustand des Unbewusstseins zu verlassen, der für das Leben charakteristisch ist, und zu ermöglichen, was als Projektion von Wünschen, als Utopie hinter diesem Zustand liegt. Wer aber kann auf diese Weise erinnern? Wer vermag in dem, was als tote Materie erscheint, einen Lebensfunken zu entdecken? Wer ist dieser Historiker? Intellektuelle Neugier, wissen wollen, was einst geschah, reicht nicht aus. Benjamin zieht den Vergleich mit einem Fotoentwickler heran. Nur ein sehr starker Entwickler ist in der Lage, im Negativ Details sichtbar zu machen: Aspekte, die dem menschlichen Auge und einem gängigen Entwickler entgehen. Die Stärke des Entwicklers verweist auf die Situation des Historikers: das Bewusstsein der Dringlichkeit, die er empfinden mag, die eigene "Leidenserfahrung", "ein Moment der Gefahr". Warum sollte man den Blick des leidenden Menschen dem anderer vorziehen? Was ist daran das Besondere oder Herausragende? Es ist das Wissen, dass die Geschichte anders hätte sein können; das Wissen, dass mit einer Tatsache die Möglichkeiten einer historischen Handlung nicht erschöpft sind. Benjamin sagt, dass für die Unterdrückten ihre Geschichte ein permanenter "Ausnahmezustand" ist, was bedeutet, dass in den demokratischen Staaten Demokratie nur für einige existiert. Die politische Philosophie hat zwar im Verlauf der Jahrhunderte Fälle von Sklaverei, Ausbeutung oder Unterdrückung erkannt und kritisiert; doch hat sie diese als Teil eines Prozesses erklärt, der in seiner Gesamtheit als positiv zu werten sei. Dadurch wurden die negativen Momente relativiert, wurde diese Negativität nicht als essentiell, sondern als temporär und kontingent gesehen. Nur diejenigen, die den Preis für den derzeitigen Fortschritt gezahlt haben, sind in der Lage, den Gesamtprozess auf eine andere Art zu lesen. Nur sie können sagen, dass ein Teil der Fortschrittsgesellschaft in einem Ausnahmezustand gelebt hat, der weder eine Ausnahme noch ein Provisorium ist, sondern ein Dauerzustand. Aber die Erinnerung ist weitaus mehr; ihr Ziel ist nicht allein, ein bestimmtes Wissen zu vermitteln. Die Erinnerung weiß weniger als die Geschichte, weshalb Raul Hilberg in seiner monumentalen Geschichte mit dem Titel Die Vernichtung der europäischen Juden nicht der Erinnerung der Opfer nachspürt, sondern die

Der Erfolg bringt ein Gefühl der Schuld mit sich, und was den Enkeln gewünscht wird, ist, dass sie vorangehen mögen, ohne Leid zu verursachen, während wir sie gleichzeitig bitten, uns zu verzeihen, weil wir uns schuldig fühlen.

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Reyes Mate

Registratur der Henker durchforstet. Die Erinnerung birgt jedoch ein kognitives Geheimnis. Max Horkheimer spielt darauf an, wenn er sagt, dass Wissenschaft Statistik ist und ein Konzentrationslager genügt, um Wissen zu erlangen. Die Wissenschaft arbeitet mit Daten, mit so viel Daten wie möglich; aber nur wer die Erfahrung eines Konzentrationslagers gemacht hat, kann sagen, "alles ist Lager", denn die Lager wären ohne die Komplizenschaft oder die Gleichgültigkeit aller nicht möglich gewesen. 3 Damit hat Horkheimer natürlich Recht. Die Erinnerung will etwas über die Gegenwart sagen: Sie will sagen, dass, wenn sie, zurückblickend, zu dem Schluss gekommen ist, dass der Ausnahmezustand ein Dauerzustand ist, dann bleibt in diesem Moment der Ausnahmecharakter die Logik der Geschichte, und folglich wird sich die Erfahrung, Konzentrationslager zu sein, für einen Teil der Gesellschaft oder einen Teil der Welt wiederholen. Das politische Angebot der Erinnerung besteht darin, diese Logik der Geschichte zu durchbrechen: die Logik des Fortschritts, die in der Vergangenheit Opfer forderte und heute mit größter Selbstverständlichkeit verlangt, dass wir den Preis des gegenwärtigen Fortschritts zahlen. Eines haben wir von den Opfern der Konzentrationslager gelernt: dass ihre politische Bedeutung weniger zu tun hat mit den — gewiss unterschiedlichen — Dingen, für die sie sich eingesetzt haben, sondern mit der Figur des Opfers an sich; damit, dass die Politik auf den Toten aufbaut. Das Problem liegt in der Banalisierung von Leben und Tod. Man banalisiert das Leben, wenn man es als Preis für das Erreichen politischer Ziele sieht; und man banalisiert den Tod, wenn man mit ihm den Frieden erkaufen will. Banalisierung heißt hier, Leben und Tod letztlich den Zielen der "Lebenden" unterzuordnen. Was diese Erinnerung bedeutet, erklärt der polnische Philosoph und Schriftsteller Tadeusz Borowski, ein Überlebender von Auschwitz, in seinem Erzählband

Bei uns in Auschwitz: " D u weißt, wie sehr ich Plato geliebt habe. Erst heute weiß ich, dass er log. Denn die irdischen Dinge spiegeln keine Ideale wider, in ihnen verbirgt sich schwere, blutige Arbeit der Menschen. Wir, wir haben Pyramiden gebaut, wir brachen Marmor für Gotteshäuser, und wir zertrümmerten die Steine für die Straßen des Imperators, wir haben die Galeeren gerudert und die Pflüge geschleppt — während sie ihre geistreichen Dialoge und Dramen schrieben, während sie ihre Intrigen mit dem jeweiligen Vaterland zu rechtfertigen versuch-

3. "Alles ist Lager" soll nicht heißen, dass es in den Lagern nur Häftlinge und Deportierte gegeben hätte. Natürlich gab es auch Kapos, SS-Leute, etc. Die Aussage erhält jedoch Sinn, wenn sie auf die Mechanismen von Macht und Überleben bezogen wird, die qualitativ gleich sind, ob im Lager oder draußen, ob davor oder danach.

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ten, während sie um Grenzen und Demokratien ihre Kriege führten. Wir waren dreckig und starben. Sie waren die Ästheten und diskutierten. Eine Schönheit, die mit dem Unrecht erkauft ist, das man den Menschen angetan hat, ist keine Schönheit. Es gibt keine Wahrheit, wenn sie die Unterdrückung verschweigt. Und eine Gerechtigkeit, die Unterdrückung zuläßt, ist keine Gerechtigkeit" (1987: 172). Seine Erfahrung im Lager hat Borowski gelehrt, die Geschichte auf eine andere Weise zu lesen: Die Wahrheit oder den Sinn soll man nicht in der Welt der Ideen suchen, sondern in und ausgehend von der harten Realität. Der wesdiche Idealismus zeichnet verantwortlich dafür, dass wir den Bau der ägyptischen Pyramiden dem Genie irgendeines großen Architekten zuschreiben und dabei die Arbeit der Sklaven vergessen. Borowski, zum Sklaven erniedrigt und Erbauer neuer Pyramiden, weiß dies nicht. Aber er sagt noch etwas anderes: Es gibt keine Poesie mehr ohne Auschwitz, auch keine Wahrheit, die das Leid ignoriert, und keine Ethik, die nicht Antwort ist auf den Schmerz des Anderen. Um die Bedeutung dieser moralischen Erinnerung zu verstehen, müssen wir die herkömmliche Bedeutung dieser Begriffe vergessen. Erinnern heißt nicht, die Liste irgendwelcher Herrscher herunterzubeten; und Vergessen hat nichts zu tun mit der Alzheimer-Krankheit. Die Erinnerung ist eher so etwas wie eine Hermeneutik, angewendet nicht auf Texte, sondern auf das Leben. Erinnern heißt, die Geschichte zu lesen wie einen Text. Gewiss handelt es sich hierbei um eine spezielle Art von Hermeneutik, denn statt sich in erster Linie, wie dies die klassische Hermeneutik tut, den überlieferten Traditionen zu widmen, liegt der Schwerpunkt jetzt auf den gering geschätzten oder als unbedeutend erachteten Momenten. Wie Benjamin schreibt: "Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt. 'Was nie geschrieben wurde, lesen heißt es bei Hofmannsthal" (1991b: 1238). Die Erinnerung ist in der Lage, den nicht geschriebenen Teil des Lebenstextes zu lesen; das heißt, sie beschäftigt sich nicht mit der Vergangenheit, die war und weiter besteht, sondern mit der Vergangenheit, die nur war und die keine Spuren hinterlassen hat. In diesem Sinne kann man sagen, dass sie sich nicht (wie die Geschichte) mit Faktischem, sondern mit Nicht-Faktischem beschäftigt. Das, was nicht mehr ist, weil es gescheitert ist, flir unbedeutend zu erklären, ist für die hier angestrebte Hermeneutik methodisch unzulässig, da sie ja gerade das, was nie geschrieben war, zu lesen vermag. Außerdem wäre es ungerecht, weil ein solches Urteil (unbedeutend zu sein) dem Opfer das Recht auf Anerkennung des erfahrenen Unrechts und Wiedergutmachung verweigert. Daher sagt man, dass Erinnerung und Gerechtigkeit Synonyme sind, ebenso wie Vergessen und

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Unrecht. 4 Wenn man in wenigen Worten zusammenfassen soll, was Erinnerung ist, dann mit den Worten Benjamins: "Nichts darf verloren gehen." Diese Gedanken zur Erinnerung gründen auf einer Kritik der Aufklärung im Namen der aufgeklärten Vernunft; das heißt, sie gehen nicht direkt von Auschwitz aus, schon deshalb nicht, weil Benjamin 1940, zwei Jahre vor der "Endlösung", starb. Wird durch Auschwitz etwas hinzugefugt? Die Frage ist berechtigt, denn in Sachen Erinnerung hat Auschwitz einiges zu sagen. Das Besondere an Auschwitz innerhalb der Geschichte der Schrecken, welche die Menschheit hervorgebracht hat, besteht gerade darin, dass es sich um ein Projekt des Vergessens handelte: Es sollte nichts übrigbleiben, nicht eine materielle Spur des Verbrechens, um jede Möglichkeit des Erinnerns auszuschließen. Es war ein Freund und Leser Benjamins, Theodor Adorno, der die gebotenen Konsequenzen zog und einen neuen kategorischen Imperativ postulierte: den "Imperativ der Erinnerung". So heißt es bei Adorno: "Hider hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ahnliches geschehe" (Adorno 1973: 358). 5 Benjamin gründete die Kraft seiner Theorie zur Erinnerung auf die Fähigkeit der Argumentation. Er debattierte mit dem Historismus oder dem Progressismus über die Vergangenheit und berief sich dabei wie alle anderen auf die Vernunft. Selbst mit seiner politischen Anrufung des Messianismus bewegte er sich im Rahmen der Vernunft. Gegenüber dem kognitiven Imperativ, der die Arbeit eines guten Historikers zu lenken hat — "nichts darf von der Vergangenheit verloren gehen"6 —, stellt sich die Erinnerung als eine der Frage angemessene Antwort dar. Aber da gibt es noch etwas, was dazu fuhrt, dass die "Rückerinnerung" nicht mehr nur eine argumentative Triebfeder ist, sondern zu einer Pflicht wird, zu einem kategorischen Imperativ. Was geschehen ist, war durchaus vorhersehbar:

4. Primo Levi wendet sich in seinem autobiographischen Auschwitz-Bericht Ist das ein Mensch in einem Eingangsgedicht mit den folgenden Worten an den Leser: "Ihr, die ihr gesichert lebet / In behaglicher Wohnung; / Ihr, die ihr abends beim Heimkehren / Warme Speise findet und vertraute Gesichter: / Denket, ob dies ein Mann sei [...]" (2007: 9). Es stellt sich die Frage: Welches Urteil können die Leser (allen? Die Antwort kann nur sein: dass in den kommenden Generationen, wenn die Augenzeugen nicht mehr da sind, das Bewusstsein vergangenen Unrechts aufrechterhalten werden muss. Gerechtigkeit hat nichts mit der Bestrafung des Schuldigen zu tin (wie es die Rechtsprechimg will), sondern mit der Antwort auf das Unrecht. Solange es keine Antwort gibt, bleibt Unrecht bestehen. 5. Vgl. hierzu ausfuhrlicher Mate 2005. 6. Für Yerushalmi (2002: 113) ist dies eines der Charakteristika der modernen Historiographie.

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Das Vergessen ist nicht mehr implizit, sondern wurde zum Epizentrum eines politischen Projekts. Europa war in seinen geschichtsphilosophischen Theorien der Faktor des Vergessens durchaus geläufig. So sprach zum Beispiel Hegel davon, dass die Entwicklung des Weltgeistes es unweigerlich mit sich bringe, dass ein paar Blumen am Wegesrand zertreten werden. Es wird allgemein akzeptiert, dass der Fortschritt seinen Preis hat, so wie man Eier aufschlagen muss, um ein Omelett zu machen. All diese Ansätze nehmen wie selbstverständlich das Vergessen in Kauf, das man als Nebeneffekt begreift, den die Geschichte nun einmal hervorbringt. In Auschwitz wurde aber zum ersten Mal ein politisches Projekt umgesetzt, das sich auf die physische und metaphysische Vernichtung des Anderen gründete. Das bedeutet eine neuartige und kolossale hermeneutische Herausforderung hinsichdich der Bedeutung des Vergessens, auf die Adorno mit dem Imperativ der Erinnerung antwortet. Es geht nicht mehr nur darum, sich mit dem Abfall der Geschichte auseinanderzusetzen; es geht vielmehr darum, ausgehend vom Abfäll der Geschichte, Wahrheit, Güte und Schönheit neu zu definieren. Und wo stehen wir heute? Ist die Gefahr vorüber? Kann der Ausnahmezustand beendet werden, und kehren wir zurück zur Normalität? Das Problem ist, dass Normalität bereits Vergessen ist. Nietzsche dominiert unsere Weltsicht mit seinem Aphorismus "Zu allem Handeln gehört Vergessen". Ein Beweis für die Inthronisierung des Vergessens ist der Unmut, den die sich langsam entwickelnde Erinnerungskultur bei vielen auslöst. Für manche in Spanien war das halbe Dutzend Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs bereits ein "Zuviel an Erinnerung". Diese Kritiker scheinen sich nicht der Tatsache bewusst zu sein, dass die Gedenkfeiern in Spanien gerade deshalb so viel Aufsehen erregten, weil der 50., der 40., der 30. Jahrestag nicht gefeiert worden waren. Jemand erlaubte sich sogar den Scherz zu fordern, dass es verboten werden sollte, Primo Levi zu zitieren, weil es reicht. Wir leben in einer Kultur der Amnesie, und es wird viel Energie erfordern, um Ethik und Politik, Recht und Unrecht, Wahrheit und Schönheit in der Erinnerung an die Vergessenen neu zu definieren.

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Reyes Mate BIBLIOGRAPHIE

Theodor W. (1973): Negative Dialektik. Frankfurt/Main. [Gesammelte Schriften. Bd. 6], BENJAMIN, Walter (1991a): "Einbahnstraße". In: Gesammelte Schriften. Bd. IV, 1. Frankfurt/Main, S. 83-148.

ADORNO,

(1991b): "Das dialektische Bild". In: Gesammelte Schriften. Bd. I, 3. Frankfurt/Main, S. 1238. BOROWSKI, Tadeusz ( 1 9 8 7 ) : Bei uns in Auschwitz. München. BRECHT, Bertolt (1988): Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Berlin/Weimar. [Werke. Bd. 12]. HALBWACHS, Maurice ( 1 9 8 5 ) : Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/Main. LEVI, Primo ( 16 2007): Ist das ein Mensch?. Ein autobiographischer Bericht. München. MATE, Reyes (2005): "Mémoire et barbarie. L'impératif catégorique d'Adorno". In: Les Temps Modernes, 630-631, S. 36-54. YERUSHALMI, Yosef (2002): Zajor. La historia judiay la memoria judia. Barcelona, Anthropos. —

VERGANGENHEITSÜBERWÄLTIGUNG

Harald Welzer

Die deutsche Vergangenheitsbewältigung gilt international als beispielhaft. Sie ist einer der wenigen Exportartikel made in Germany, die noch Bewunderung und Anerkennung finden. Vergangenheitsbewältiger aus Südafrika, Ruanda, aus dem Kosovo organisieren Konferenzen, auf denen deutsche Historiker den betroffenen Gesellschaften am Beispiel Deutschlands zeigen, wie man mit historischen Katastrophen umgeht. Dieser Export von Bewältigungs-/foj0if-Äiw hat Zukunft; irgendwann werden auch Politiker aus dem Sudan und aus dem Kongo um Beratung nachsuchen. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung sieht in der Tat eindrucksvoll aus: Die Bundesrepublik ist eine Gesellschaft, die sich rückhaltlos zu den begangenen Verbrechen und der verübten Gewalt bekennt, die Verantwortung übernimmt und alles daran setzt, dass sich nie wiederhole, was sich zwischen 1933 und 1945 zugetragen hat. Unter der rituellen Formel des "Nie wieder!" hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Benutzeroberfläche des Gedenkens und Erinnerns etabliert, die so honorig aussieht, dass der deutsche Bundeskanzler an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des D-Day teilnehmen durfte und der Bundespräsident auf Deutsch in der Knesset demonstrieren durfte, wie mustergültig die Bundesrepublik die Lektionen der Geschichte gelernt hat. So betrachtet, war die deutsche Vergangenheitsbewältigung in der Tat ein erfolgreiches Projekt, und mit der Einweihung des Berliner Mahnmals zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas wird diesem Erfolg eine finale ästhetische Formulierung gegeben: bewältigt. Vielleicht doch nicht ganz. Wie eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Studien zeigt, sind hinter der öffentlichen Benutzeroberfläche des Erinnerns und Gedenkens ganz andere Dateien mit überraschenden Inhalten abrufbar. So wird

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Harald Welzer

in deutschen Familien das "Dritte Reich" keineswegs als Zeit der Ausgrenzung, Verfolgung, Deportation und Vernichtung der Juden erinnert, überhaupt nicht als Zeit von Verbrechen. Es wird zum einen erinnert als faszinierende Zeit, in der die Jugend von der Straße kam, in der Blitzkriege gewonnen wurden und alle mit anpackten, um etwas Gemeinsames zu tun. Zum andern kreist die Familienerinnerung um Leid, Bedrängnis und Not, um das ausgebombte Haus, die zurückgelassene Habe, den Opa, der damals noch ganz jung war, in Kriegsgefangenschaft. Diese private Erinnerungskultur hat ein ganz anderes Zentrum als die öffentliche, und beide treffen sich nur dort, wo die Enkelgeneration der NS-Teilnehmer aus ihren Großeltern Helden des alltäglichen Widerstands macht: aufrechte Menschen, die in Zeiten des Schreckens die Fahne der Menschlichkeit hochhielten. Denn das haben die allermeisten jungen Deutschen gelernt: dass der Nationalsozialismus ein mörderisches System und der Holocaust ein maßstabsloses Verbrechen war. Vorbildfiguren geben deshalb Widerstandskämpfer und nicht Nazis ab. Das sollte man keineswegs gering bewerten. Aber jenseits dieses Erziehungserfolgs deuten einige neuere Befunde an, dass Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust vor allem eines lernen: wie man bei diesem Thema die richtigen, politisch korrekten Worte findet, welchen Ausdruck von Betroffenheit man zu zeigen hat, wenn die Rede auf den Holocaust kommt, und wie man die rituellen Formeln des Erinnerns und Gedenkens ordnungsgemäß verwendet. Kurz: Sie lernen den Code der Vergangenheitsbewältigung, was ja vielleicht etwas anderes als Vergangenheitsbewältigung ist. Sie lernen, wie man sich dem katastrophalen Ergebnis einer Entwicklung gegenüber zu verhalten hat, kaum aber, wie es zu dieser Entwicklung kam. Denn das würde eine Auseinandersetzung mit dem sozialen Alltag des Nationalsozialismus bedeuten und eine Annäherung an die tätige Teilhabe der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit an Diskriminierung, Ausgrenzung und Beraubung. Eine solche Auseinandersetzung würde sich um die Frage zentrieren, wie es möglich war, dass die Mehrheit der ganz normalen Mitglieder einer modernen Gesellschaft sich flir die Unmenschlichkeit entschied. Um die Beantwortung dieser Frage hat sich die ganze Vergangenheitsbewältigungskultur bislang herumgedrückt, mit gutem Grund: Die Geschichte rückt einem plötzlich so nah, wenn man die Frage so stellt. Vor diesem Hintergrund kann man die ritualisierte Vergangenheitsbewältigung auch als hochkomplexe und anstrengende Vermeidungsübung betrachten, die dazu dient, sich von dem Geschehen fernzuhalten, das man unablässig thematisiert.

Vergangenheitsüberwältigung

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Ganz gegenläufig zu einer Beschäftigung mit den Ursachen erleben wir seit einigen Jahren eine sich immer weiter auftürmende Welle der erneuten Opferrolle der Deutschen, die mit Günter Grass' Untergangsnovelle Im Krebsgang ansetzte, mit Jörg Friedrichs Bombenepos Der Brand einen ersten Höhepunkt erreichte, von mittlerweile ungezählten Familienromanen am Rollen gehalten wird und gerade in der Erfindung einer ganzen Generation kulminiert, für die das Reklamieren deutschen Leidens politisch ganz unverdächtig, geradezu unschuldig zu sein scheint: die Kriegskinder. Das sind die heute 65- bis 75-Jährigen, die sich nun ihres frühen Traumas bewusst werden, im Krieg gelitten und das all die Jahre weggeschoben zu haben. Jeder Mensch, hat Stephan Wackwitz geschrieben, hat das Recht auf eine geschichtslose Kindheit, und zweifellos hat jedes Individuum das Recht auf Anerkennung des Leidens, das ihm andere zugefugt haben. Aber wenn man etwa auf Kongressen und Tagungen das Beklagen der eigenen Vergangenheit in Form eines Chorgesangs hört und Sätze vernimmt wie den, dass auch die Scham, die man über den Judenmord empfand, ein Trauma war, dann darf man wohl folgern, dass die deutsche Erinnerungskultur in Bewegung ist, und zwar heftig. Mir ist übrigens bislang verborgen geblieben, was jenseits der fraglos legitimen und notwendigen individuellen Bearbeitung des erfahrenen Leids sinnvoll sein soll an der kollektiven Thematisierung einer generationsbedingten Leiderfährung, die überdies empirisch nicht die Erfahrung einer ganzen Altersgruppe ist. Gut 50 % derselben Gruppe haben nach Schätzungen gar keine Erfährung von Kriegsgewalt gemacht. Die neue Lust am Leid bekommt schnell etwas Borniertes, wenn etwa ein ganzes Auditorium angesichts eines projizierten Fotos von einer Mutter und einem Kind in einer Trümmerlandschaft in Erschütterung verfallt, aber keinen Augenblick mehr darüber nachdenkt, dass es diesen im Unterschied zu den in Auschwitz selektierten Müttern und Kindern möglich war, weiterzuleben, und zwar zusammen. Individuelles Leid lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen, aber es kommt schnell zu Schieflagen, wenn das Leid der einen Gruppe eine Sprache findet, die das der anderen übertextet. Dazu kommt noch etwas völlig anderes, nämlich der ganze Bereich der Hiderfaszination und der Lust an der Schauseite des Nationalsozialismus, wie sie gerade das Gedenkjahr 2005 so obsessiv zelebriert. Selbst ein Produkt wie das Buch Bei Hitlers war dem Knaur-Verlag nicht zu peinlich zur VeröfFendichung: Da berichtet das Zimmermädchen vom Obersalzberg von der Steppdecke des Führers und seinen Latschen, in die sie auch mal gern geschlüpft ist, wenn der Hausherr nicht da war.

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Die Faszinations- und auch die Kitschseite des "Dritten Reiches" scheint heute vitaler denn je, und hier zeigt sich eine ganz spezifische Dialektik der Aufklärung. Diese besteht darin, dass jedes noch so kritische Feature über Albert Speer oder Heinrich Himmler, jeder Spielfilm über die NAPOLA, jede Zeitungsserie und jede der nervtötenden Zeitzeugenerzählungen immer aufs Neue die scheinbare Größe jener Zeit illustriert — durch die schiere Masse des Berichteten und übrigens auch dadurch, dass pausenlos auch auf jene Bilder zurückgegriffen wird, die seinerzeit zu Propagandazwecken hergestellt wurden und deshalb eher nicht dazu geeignet sind, das System, das sie zeigen, in Frage zu stellen. Was also ist bewältigt? Nichts. Ganz im Gegenteil scheint es einen memorialen rollback zu geben, und der geht auf etwas zurück, was mit der Gegenwart zu tun hat. Wo nämlich die Zukunft abhanden zu kommen scheint und weder die politische Funktionselite noch sonst jemand eine Vorstellung darüber hat, wie diese Gesellschaft in 10 oder 20 Jahren aussehen soll, ja, nicht einmal darüber, wie ihre drängendsten Probleme zu lösen sind, wo sich neue soziale Ungleichheiten festschreiben und überhaupt ein flächendeckender Fatalismus der Zukunft gegenüber sich breitzumachen scheint, da liegt der Rückgriff auf die Vergangenheit natürlich nahe. Dieser Verbindung von Zukunftsscheu und Vergangenheitsobsession dürfte zu verdanken sein, dass sich mehr und mehr Nostalgie- und Faszinationselemente in die unablässige Rückschau mischen und die Thematisierung des eigenen Leids gelegentlich ziemlich obszön wird. So viel Vergangenheit war nie. So wenig Zukunft auch nicht.

ERINNERN IN SPANIEN UND DEUTSCHLAND

DEUTSCHLANDS NICHT ZU BEWÄLTIGENDE VERGANGENHEIT

Ignacio Sotelo

60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach 10 Jahren scharfer Kontroversen wurde am 10. Mai 2005 im Herzen Berlins, nur wenige Meter vom Brandenburger Tor entfernt, ein Denkmal zur Erinnerung an den Holocaust eingeweiht. Deutschland sieht sich noch immer mit einer stets präsenten Vergangenheit konfrontiert. Wie lässt sich 60 Jahre danach die Aktualität der nationalsozialistischen Vergangenheit erklären? Ist die sogenannte "Vergangenheitsbewältigung" am Ende vielleicht gescheitert? Zunächst könnte man meinen, dass die Sache nicht richtig angegangen wurde; doch dann begreift man, dass vermudich kein anderes Ergebnis zu erwarten war. Nicht nur, weil prinzipiell keine Vergangenheit "bewältigt" werden kann — sie lastet immer auf der Gegenwart und formt auf die eine oder andere Weise die Zukunft —, sondern auch weil es um Geschehnisse geht, die, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen die Menschheit, schon aufgrund ihrer Natur nie bewältigt werden können. "Vergangenheitsbewältigung" — ein Begriff, der jahrzehntelang in Deutschland gängig war, nun aber entwertet ist — wäre sicher ein aussichtsloses Unternehmen. Möglicherweise sind beide Erklärungen — dass man die Sache nicht richtig angegangen oder das Ziel unerreichbar ist — zum Teil zutreffend. Natürlich lässt sich nicht sagen, dass die "Vergangenheitsbewältigung" der letzten 60 Jahre eine einzige Abfolge positiver Resultate war. Auch scheint es so zu sein, dass es Vergangenheiten gibt, die nicht zu bewältigen sind, und dass zu dieser Kategorie der Holocaust gehört. Doch gibt es nicht wenige, die bezweifeln, dass die NS-Verbrechen gegen die Menschheit als einzigartig bezeichnet werden können, dass es solche Verbrechen noch nie gegeben hat und sie sich nicht wiederholen können. Ein Blick zurück zeigt, dass sich die Geschichte in der Tat nicht wiederholt.

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Schon der Historismus des 19. Jahrhunderts behauptete die Einmaligkeit des Historischen, zog daraus aber den — höchst fragwürdigen — Schluss, dass die komparatistische Methode nicht auf die Geschichte anwendbar sei, so wie es dann im 20. Jahrhundert, als man für unterschiedliche Sachverhalte vergleichbare Strukturen entdeckte, unternommen wurde. Ein bestimmtes Ereignis der Vergangenheit als einmalig und unwiederholbar zu bezeichnen, würde bedeuten, es aus dem Strom der Geschichte, die immer Kontinuität und Wandel ist, herauszufiltern und gewissermaßen zu sakralisieren. Ohne Zweifel kann man für den Umgang mit der Gegenwart aus der Geschichte lernen — und sogar sehr viel: historia magistra. vitae. Die erste oben genannte Hypothese besagt, dass diese 6 0 Jahre der versuchten "Vergangenheitsbewältigung" ein Misserfolg waren, weil man es nicht geschafft hat, dem Geschehenen mutig und unbestechlich zu begegnen. Im Bemühen darum, die am stärksten involvierten Berufsstände und Sektoren der Gesellschaft zu retten, wurde in einigen Aspekten über das Ziel hinausgeschossen, wurden andere, wesentliche, Aspekte verschleiert. Die Geschichte der "Vergangenheitsbewältigung" würde sich somit als die Geschichte einer Reihe von Manipulationen erweisen, die entsprechend der jeweiligen Konjunktur stattfanden. Im Folgenden werde ich kurz die Haltung verschiedener Generationen vorstellen: derer, die das NS-Regime und den Krieg erlebten; der Kinder, die 1967/68 gegen das heuchlerische Schweigen der älteren Generation rebellierten; und der Enkel, die 1989/90 die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und damit das Verschwinden der sichtbarsten und schmerzhaftesten Spur der nationalsozialistischen Vergangenheit erlebten.

1 . D I E G E N E R A T I O N DER K R I E G S V E R L I E R E R

Am 8. Mai 1945, nach der bedingungslosen Kapitulation, stolperten die Deutschen durch die Trümmer ihrer Städte und konnten es nicht fassen, dass all ihre großdeutschen Ideale, an die sie so fest geglaubt hatten, darunter begraben lagen und die Helden des Regimes entweder tot oder einfach verschwunden waren. Hider, der so oft verkündet hatte, dass sich der schmachvolle Waffenstillstand vom November 1918 nicht wiederholen würde, hatte sein Ziel erreicht: Dieses Mal gab es keine Verhandlungen, mit denen das Land beizeiten vor der totalen Zerstörung gerettet werden konnte, sondern nur eine bedingungslose Kapitulation in einem völlig zerstörten Deutschland. Die Deutschen hatten das Gefühl, ein gewaltiges Erdbeben zu erleben, das in wenigen Minuten alles zum Einstürzen brachte. Statt

Deutschlands nicht zu bewältigende Vergangenheit

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von einer "Niederlage" sprach man von "Katastrophe"1, "Zusammenbruch" und "Untergang"2; oder auch von der "Stunde Null", so als wäre es in der Geschichte möglich, aus dem Nichts etwas Neues aufzubauen. All diese Begriffe scheinen eher geeignet, eine Naturkatastrophe zu beschreiben. In der Tat verweisen diese lange Zeit verwendeten Termini auf eine Katastrophe von unabsehbaren Dimensionen und nicht auf ein sozialgeschichdiches Ereignis, wie es ein verlorener Krieg darstellt. Und so wie niemand nach den Verantwortlichen eines Erdbebens fragt und sich stattdessen alle gegenseitig bedauern, fühlten sich auch die Deutschen nicht als Verantwortliche, sondern als Opfer des Geschehenen. Von einem Moment zum anderen wandelte sich ein fanatisiertes Volk, das in Worten und Taten seine Begeisterung für den Nationalsozialismus nie verheimlicht hatte, und nahm eine neutrale und distanzierte Haltung ein: Niemand wollte mit dem gestürzten Regime etwas zu tun gehabt haben, das schließlich das Werk eines Teufels gewesen war. Demnach war allein Hitler schuld an der Zerstörung Deutschlands in einem Krieg, der ihm von einer großen Koalition aufgezwungen worden war, welche nicht zulassen wollte, dass Deutschland den ihm gebührenden Platz in der Welt einnahm. Die in Deutschland gleich nach dem Krieg zu Hider erschienene Literatur macht ihn zu einem Monster oder Wahnsinnigen, den die Deutschen ertragen hätten, weil sie nichts gegen ihn ausrichten konnten. Damit wurde Hider zu einem weiteren außergeschichdichen Naturphänomen, das gewissermaßen vom Himmel gefallen, oder besser: aus der Hölle heraufgestiegen war. In diesem Zusammenhang muss auf zweierlei hingewiesen werden. Zunächst hielten sich die Deutschen, die dem Joch der NS-Diktatur entkommen und nun dem Willen der Sieger unterworfen waren, bis Mitte der 50er Jahre für nichts verantwortlich, sondern sahen sich selbst als die größten Opfer des Nationalsozialismus. Sämdiche Berichte der Besatzungsmächte drücken ihre Verwunderung darüber aus, dass allem Anschein nach keiner mit dem gestürzten Regime etwas zu tun hatte. Der englische Dichter Stephen Spender (1946), der das zerstörte Deutschland zwischen Mai und Oktober 1945 bereiste, staunte über das plötzliche Verschwinden der Nazis, wobei man natürlich davon ausgehen konnte, dass diese nicht unbedingt den Kontakt zu einem englischen Offizier suchten. Man hatte allzeit den Eindruck, als ob Hider mit dem passiven Widerstand des ganzen

1. Friedrich Meinecke behandelte 1946 die jüngere deutsche Geschichte in einem Buch

mit dem Titel Die deutsche

Katastrophe.

2. Noch der 2004 im Kino gestartete deutsche Spielfilm über die letzten Wochen Adolf Hitlers trägt den Titel Der Untergang.

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Volkes regiert hätte. Noch frappierender ist, dass es nach dem Sturz einer so brutalen Diktatur in den Dörfern und kleinen Städten keinerlei Aggression gegen die Verantwortlichen des NS-Regimes gab — auch wenn diese verständlicherweise fürchteten, das Volk würde sich rächen. In Frankreich wurden die Kollaborateure verfolgt, und mehrere Tausend von ihnen wurden ermordet. Dasselbe geschah in Italien, wo der Widerstand sich als Alternative zum faschistischen Regime präsentieren konnte. In Deutschland funktionierte die nationale Solidarität — in der Stunde der Niederlage waren sie alle Deutsche —, und niemand dachte daran, selbst die am stärksten exponierten Nazis gesellschaftlich zu ächten, geschweige denn, sie zu verfolgen oder zu denunzieren. Das Überleben in einem völlig zerstörten Deutschland war nicht einfach; und die vielen Schwierigkeiten, die den Neubeginn behinderten, zu bewältigen, wurde zur einzigen Aufgabe. Eine so bedrückende Lage brachte den Vorteil mit sich, dass kein Raum blieb, um Fragen nach der individuellen oder kollektiven Schuld zu stellen. In einer Atmosphäre höchster Beklemmung und Not fand die schrecklichste aller Fragen, die nach der Vernichtung von Millionen Menschen, nicht den Weg in das Bewusstsein der Menschen. Die Mehrheit zog es vor, sich in die Vorstellung zu flüchten, dass das deutsche Volk ein anständiges Volk war und solche Verbrechen nicht begangen haben konnte. Eine so entsetzliche Beschuldigung musste das Produkt der Propaganda der Sieger sein, die darauf abzielte, noch den letzten Rest an Würde, den die Besiegten bewahren mochten, zu tilgen. Es sollte noch lange dauern, bis der Holocaust — das Wort gab es noch nicht — als Tatsache akzeptiert wurde. Die Generation, die in den Krieg gezogen war, tat es nie; sie schützte Unwissenheit vor. Nicht einmal die Spitzen des Regimes gaben zu, etwas von dem Schicksal der Millionen von Deportierten gewusst zu haben.3 Richtig ist, dass die 1942 einsetzende massenhafte Verhaftung von Juden erfolgte, indem den Betroffenen ebenso wie deren Nachbarn verheimlicht wurde, was die Verhafteten erwartete; und es gibt nicht den geringsten Zweifel darüber, dass die verfugbaren Informationen gering waren. Dennoch verwundert, dass sich niemand vorstellen konnte, was mit den verschleppten Juden geschehen würde. Wenn nach Kriegsende einmal ausnahmsweise das Schweigen gebrochen wurde, dann wurde ausschließlich vom selbst erlittenen Leid gesprochen: den

3. Selbst der Rüstungsminister Albert Speer (nach eigenen Aussagen) und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker (nach Aussagen seines Sohnes), die beide durch den Nürnberger Gerichtshof zu Haftstrafen verurteilt wurden, wussten angeblich nichts von der Vernichtung von Millionen Menschen.

Deutschlands nicht zu bewältigende Vergangenheit

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Bombenangriffen auf die Städte, der Vertreibung aus der Heimat, der Mühe bei der Suche nach Angehörigen. Die Generation, die den Nationalsozialismus erlebte und in den Krieg zog, könnte man die Generation des Schweigens4 nennen. Wenn man es nicht vermeiden konnte zu sprechen, dann hieß es nur, man hätte von den schrecklichen Verbrechen gegen die Menschheit nichts gewusst; und wenn man aufgrund der Umstände gezwungen gewesen war, mit dem Regime zu kollaborieren, dann hätte man dies stets gegen den eigenen Willen getan. Die Erfurter Firma Topf & Söhne baute nicht nur die Öfen für die Krematorien in Auschwitz, sondern stellte sie auch auf und kümmerte sich um die Wartung, ohne dass offenbar auch nur einer der beteiligten Ingenieure oder Arbeiter sich jemals fragte, wozu sie dienen würden. Man wusste wenig, aber vor allem wollte man nichts wissen. In dem Brief, den der 41-jährige Fabrikinhaber Ludwig Topf im Mal 1945 schrieb, bevor er Selbstmord beging5, steht nichts von Schuldgefühlen oder Verantwortung, die er aufgrund der Lieferung der Öfen nach Auschwitz übernehmen müsste. Wenn er sich das Leben nahm, dann nur, weil er nicht Opfer des Unrechts werden wollte, das die Deutschen nach der Niederlage erleiden würden. In der Nachkriegszeit waren die Deutschen geeint in der gigantischen Aufgabe, ihr Land wiederaufzubauen; und dabei wurde niemand nach seiner politischen Vergangenheit gefragt. Niemand wies mit dem Finger auf Lehrer, Professoren, Richter oder Unternehmer mit NS-Vergangenheit. Kein einziger Richter wurde beschuldigt, einem jener Gerichte angehört zu haben, die 32.000 Todesurteile verhängten. Sie hatten sich sicher korrekt an die gültige Rechtssprechung gehalten. Und wo käme man hin, wenn Richter verantwortlich gemacht würden für die Gesetze, die sie anwenden? Eine viel dringlichere Aufgabe war der Wiederaufbau eines Staatsapparats — oder vielmehr zweier Staatsapparate: je einer auf beiden Seiten des "Kalten Krieges". Hier lag der Hauptgrund dafür, dass die von den Siegermächten angeordnete Entnazifizierung nur auf dem Papier stattfand. In der sowjetischen Besatzungszone wurde diese in Verbindung mit der Verstaadichung der Produktionsmittel zwar etwas ernster genommen; doch letztlich hatten die vier Besatzungsmächte keine andere Wahl, als die verfugbaren Leute einzustellen, ohne allzu intensiv nach ihrer Vergangenheit zu forschen. Diese dienten nun den neuen Regimen mit demselben Eifer und derselben Erge-

4. Zum Schweigen der Kriegsgeneration, gesehen aus der Perspektive der Kinder, vgl. die Zeugnisse, die Gabriele von Arnim (1989) zusammengetragen hat. 5. Ausstellungsstück der Sonderausstellung zur Firma Topf im Jüdischen Museum Berlin (Sommer 2005).

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benheit, mit der sie dem alten Deutschland gedient hatten. Der "Kalte Krieg", der gleich nach Kriegsende einsetzte, begünstigte das Schweigen derer, die in den Krieg gezogen waren. Während der 50er Jahre half der Wiederaufbau Deutschlands besonders in der Bundesrepublik, die ehemaligen Nazis in den Unternehmen, der Politik, der Justiz und der Universität zu etablieren. Viele sind heute der Meinung, dass dieser Neuanfang auf der Basis von "Vergeben und Vergessen" eine richtige Entscheidung war, denn schließlich hätte man die immense Mehrheit der Deutschen, die Nazis gewesen waren oder mit dem Regime, das praktisch deckungsgleich mit dem Staat war, kollaboriert hatten, nicht verfolgen oder ächten können. Kein Volk kann sich aus ideologischen oder moralischen Gründen seiner intellektuellen, wissenschaftlichen oder technischen Eliten entledigen. (Auch Lenin tat dies nicht, als er die zaristischen Offiziere und Bürokraten in den sowjetischen Staatsapparat einbezog.) Allerdings wurde, auch wenn kurzfristig die Bilanz dieser Politik positiv ausfiel, ein hoher Preis gezahlt, indem man die öffendiche Debatte über die NS-Verbrechen unterband, die Verantwortung des deutschen Volkes leugnete und die Vorgeschichte ebenso wie die möglichen Konsequenzen einer so schicksalhaften Erfahrung verschleierte.

2 . D I E R E A K T I O N DER I N T E L L E K T U E L L E N

Beispielhaft: für das Verhalten der Deutschen in der frühen Nachkriegszeit ist die Reaktion in den Universitäten. Das gesamte Personal mit nationalsozialistischer Vergangenheit blieb im Amt; gleichzeitig wurde ein totales Schweigen darüber verhängt, was im Umfeld jedes Einzelnen geschehen war. Die Gebäude wurden in Windeseile wieder aufgebaut, und bereits im Wintersemester 1945/46 wurde der Vorlesungsbetrieb wieder aufgenommen, mit denselben Dozenten und Professoren wie vor dem Krieg, gerade so, als ob nichts geschehen wäre. Anfang der 60er Jahre wurde mir an der Kölner Universität erzählt, dass der Soziologe René König, der während der Diktatur emigriert war und sich nicht scheute, auf die NS-Vergangenheit einiger seiner Kollegen hinzuweisen, Jude war. Nur so ließ sich erklären: zunächst sein Exil und dann ein derart absonderliches Verhalten.6

6. Warum hätte er ins Exil gehen sollen, wenn nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer linken Partei oder weil er Jude war? Da Ersteres offensichtlich nicht der Fall war, musste der zweite Grund zutreffen (König 1984: 122).

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Die Tatsache, dass die Entnazifizierung vor den Hörsälen haltmachte, ist umso bedauerlicher, als es 1933 in den Universitäten besonders viele Nazis gab, sowohl unter den Professoren als auch unter den Studenten. Es sei daran erinnert, dass die Bücherverbrennungen, die am 10. Mai 1933 vor den Toren der wichtigsten Universitäten in Anwesenheit des Rektors und fast der gesamten Professorenschaft stattfanden, auf eine Idee aus akademischen Kreisen zurückging, der Goebbels zunächst misstraute. Als Seher, der er war, hatte Heinrich Heine prognostiziert: "Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen." In den Universitäten, wo der Antisemitismus tief verwurzelt war, wurde ab 1933 die "Säuberung" von Juden mit besonderem Eifer durchgeführt: Hunderte Professoren, unter ihnen die renommiertesten ihrer Zunft, wurden abgesetzt. Als Folge davon verlor Deutschland seine Vorrangstellung in den Wissenschaften, die es gegen Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts errungen hatte und die es nie wieder zurückgewinnen sollte: ein hoher Preis, den Nazi-Deutschland zahlen musste und von dem kaum jemand spricht. Mit der Machtergreifung Hiders setzte ein rascher, vor allem intellektueller und moralischer Verfall ein, der bis heute in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Spuren hinterlassen hat. Das Deutschland, das 1945 aus den Ruinen auferstand, hatte nichts mehr zu tun mit dem "Land der Dichter und Denker", das sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die gesellschaftlichen und unternehmerischen Strukturen konnten wiederhergestellt, die Fabriken und Häuser wieder aufgebaut werden; aber seine Überlegenheit in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Geisteswissenschaften und der Philosophie hatte Deutschland definitiv verloren. Das Land stürzte in eine Moral- und Wertekrise, die sich mit den Jahren noch verschärfte. Die Behauptung, das Deutschland der Nachkriegszeit sei dasselbe wie das vor der Katastrophe, stützte sich allein auf den Anspruch der Bundesrepublik, das Erbe des Deutschen Reiches mit allen Rechten und Pflichten zu übernehmen. Dieser Anspruch fiel 1990 mit der Wiedererlangung der vollen Souveränität, der kein Friedensvertrag zugrunde lag, in sich zusammen, was Anlass sein mag, den Bruch, den die 12 Jahre der NSHerrschaft für das Land bedeuteten, in all seinen Aspekten neu zu überdenken. Der erste Artikel von Jürgen Habermas, der in akademischen Kreisen Aufmerksamkeit erregte, erschien 1953 — der Autor war damals 24 Jahre alt — in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einer der einflussreichsten Zeitungen in Deutschland. Bei diesem Artikel (Habermas 1953) handelt es sich um eine Besprechung von Martin Heideggers Einführung in die Metaphysik, in der Habermas kritisiert, dass der berühmte Philosoph in der 1953 publizierten Buchfassung keine Änderungen gegenüber dem Text seiner 1935 gehaltenen Vorlesung vorgenom-

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men hatte und nicht einmal in einem Zusatz die überraschende Tatsache erklärte, dass er es trotz der historischen Erfahrung wagte, das im ursprünglichen Text enthaltene Lob auf den Nationalsozialismus beizubehalten. Im Zusammenhang mit seiner Kritik des Wertebegriffs und damit der Wertephilosophie heißt es bei Heidegger: "Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeidichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat [...]" (1953: 152; meine Hervorhebung). Der junge Habermas zeigt sich Heidegger gegenüber äußerst respektvoll — er hält Sein und Zeit für das wichtigste Werk der deutschen Philosophie seit Hegels Phänomenologie des Geistes —, nimmt aber fiir sich das Recht in Anspruch, Kritik zu üben an theoretischen Positionen, die schwerwiegende politische Konsequenzen haben. Dies gelte besonders dann, wenn die lobende Anspielung auf den Nationalsozialismus nicht, wie Habermas meint, eher unwesendich ist und daher weggelassen werden könnte, sondern im Gegenteil eine wesendiche Aussage eines Buches beinhaltet, in dem Heidegger die Problematik des Seins zur historischen Situation seiner Zeit in Beziehung setzt. Es gehe nicht nur darum, dass der Denker Heidegger mit dem Nationalsozialismus sympathisiert habe, sondern — viel gravierender — darum, dass seine Philosophie eng mit jener Barbarei verknüpft sei.7 Wie ist diese hyperzivilisierte Scharfsinnigkeit der Heideggerschen Philosophie nur vereinbar mit dem Terror, den der Nationalsozialismus beinhaltet? Der Nationalsozialismus ist im Denken Heideggers auf tiefster Ebene präsent — im Denken eines Philosophen, den der junge Habermas fiir den bedeutendsten deutschen Philosophen seit Hegel hält. Es muss zu denken geben, wenn ein philosophischer Kopf vom Kaliber eines Heidegger so tief zu sinken imstande ist, dass er seine Bewunderung für den Nationalsozialismus offen zeigt; dies umso mehr, als es mit wenigen Ausnahmen, unter ihnen Heideggers Freund Carl Schmitt, in Deutschland keine nennenswerten faschistischen Intellektuellen gab. Dies lag größtenteils an der Mittelmäßigkeit der nationalsozialistischen Führerpersönlichkeiten, denen alle bedeutenden Intellektuellen mit Geringschätzung begegneten — einschließlich Heidegger, Jünger oder Benn, die ansonsten gern ihr Scherflein beigesteuert hätten. Die enge Beziehung zwischen den deutschen intellektuellen 7. In seinem 2005 veröffentlichten Buch Heidegger. L'introduction du nazisme dans laphibsophie zeigt Emmanuel Faye, ausgehend von der Analyse unveröffendichter oder kurz zuvor erschienener Seminartexte Heideggers aus der Zeit von 1935 bis 1949, dass die Beziehung zwischen dem "Sein" und dem "Seienden" der des "Führers" zu seinem Volk entspricht, begriffen als Einheit von Rasse und Blut. Demnach habe Heidegger schon seit Sein und Zeit in seiner Philosophie die Kosmovision des Nationalsozialismus entworfen.

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Traditionen und dem Nationalsozialismus — der Nährboden des nationalsozialistischen Virus wurde in der Universität gezüchtet — lässt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, dass die nationalsozialistische Ideologie kein fremdartiges oder marginales Phänomen ist, denn ihre Wurzeln liegen in dem, was die deutsche Kultur in ihrem Wesen ausmacht. In Wirklichkeit entspringt der deutsche Faschismus — schreibt Habermas in der Argumentationslinie des Doktor Faustus von Thomas Mann oder von Georg Lukacs in Die Zerstörung der Vernunft — einer sehr deutschen kulturellen Tradition, die nicht weniger bedeutend war, nur weil die NS-Führer sie nicht zu nutzen wussten. Der junge Habermas berührt einen wunden Punkt, wenn er auf den heikelsten aller politischen Aspekte verweist: Das Deutschland der Nachkriegszeit hat es systematisch vermieden, auf die intellektuelle Tradition, die in den Nationalsozialismus mündete, zu verweisen, und — mit einigen wenigen Ausnahmen — die direkte Konfrontation mit den Ursprüngen und dem späteren Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie gescheut. Angesichts der von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen hatte der junge Habermas von seinen Landsleuten eine höchst moralische kollektive Reaktion erwartet; stattdessen stößt er auf das tiefe Schweigen, das der Wiederaufbau in allen Bereichen der Gesellschaft begünstigt. Der krasse Gegensatz zwischen seinen Erwartungen und dem sozialen Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, fuhrt dazu, dass er sich distanziert von dieser Gesellschaft, die von ihrer Vergangenheit nichts wissen will und damit in gewisser Weise ihre Zukunft negiert, während sie sich ganz darauf konzentriert, den Hunger zu stillen und — nachdem sie das in erstaunlich kurzer Zeit durch das "Wirtschaftswunder" geschafft hat — neue materielle Bedürfnisse zu befriedigen. Skeptizismus und Konsumismus sind die Koordinaten, die den Kurs einer Generation bestimmen, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie sehr schnell zu Wohlstand kommt (Habermas 1956). In seinem solidarischen Schweigen zur nationalsozialistischen Vergangenheit — der Deutsche beugt sich keinem Sieger — verhielt sich Heidegger wie die Mehrheit der Deutschen, ganz im Gegensatz zu seinem ehemaligen Freund, dem Philosophen Karl Jaspers. Dieser hatte bereits während der Diktatur anders gehandelt als der Freund, indem er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, und daraufhin seinen Lehrstuhl in Heidelberg verlor. Als Jaspers 1945 in die Universität zurückkehrte, handelte er erneut in Opposition zur gerade wiedereröffneten Institution, indem er forderte, dass diese in Anbetracht der gerade erlebten Tragödie von Grund auf erneuert und darüber hinaus die Frage nach der Schuld jedes Einzelnen oder des Volkes insgesamt gestellt wurde. Für das hier zur Diskussion stehende Thema ist sein Werk Die Schuldfrage von 1946 das wichtigste Buch der gesamten Nachkriegszeit. Darin werden vier Arten der

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Schuld unterschieden: die strafrechtliche Schuld, welche diejenigen auf sich geladen haben, die nachweisbar Verbrechen begingen, und über welche die Gerichte zu urteilen haben; die politische Schuld, welche auf die Politiker, aber bis zu einem gewissen Grad auch auf das Volk, das sie tolerierte, zurückfällt und über welche die Siegermächte entscheiden müssen; die moralische Schuld, die jeder Einzelne mit seinem Gewissen abmachen muss; und schließlich die metaphysische Schuld, die sich auf alles Unrecht dieser Welt ausweiten lässt und über die Gott allein der höchste Richter ist. Die Schuld, sei sie nun strafrechtlich, politisch oder moralisch zu werten, ist immer die von Individuen, nie die eines ganzen Volkes. Es gibt keine Kollektivschuld, die wie die Erbsünde sich von einer Generation auf die nächste überträgt. Dagegen gibt es eine gemeinsame Verantwortung, die im Bewusstsein eines jeden Bürgers verankert ist. Mit der Verneinung der Kollektivschuld und der Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung lieferte Jaspers die konzeptuelle Grundlage für die Diskussion, wie sie seither in Deutschland gefuhrt wird. Es ist offensichdich, dass Jaspers mit seiner Forderung nach einem Neubeginn in den Universitäten und einer geistigen Erneuerung des öffendichen Lebens in Deutschland nicht in das geistige Klima jener Jahre passte. Angewidert nahm er 1946 einen Ruf an die Universität Basel an. Als 20 Jahre später etwas geschah, was in der Nachkriegszeit undenkbar gewesen wäre, und mit Kurt Georg Kiesinger ein ehemaliger Nazi zum Bundeskanzler gewählt wurde, legten Jaspers und seine Frau die deutsche Staatsbürgerschaft ab.8 Angesichts der immer größer werdenden Distanz ist es nicht verwunderlich, dass Jaspers' Kritik an der politischen Entwicklung der Bundesrepublik in jenen Jahren in Deutschland kaum auf ein Echo stieß. Halten wir fest: Es gibt keine Kollektivschuld, wohl aber eine gemeinsame Verantwortung des deutschen Volkes. Auf dieser Grundlage zahlte die Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren "Wiedergutmachung" — ein Begriff, der etwas bezeichnet, das ebenso unerreichbar ist wie "Vergangenheitsbewältigung" —, dies zuallererst und vorrangig an das jüdische Volk und den Staat Israel. Der "Kalte Krieg" verhinderte, dass diese Zahlungen auch an andere Völker gingen, die wie Russen und Polen der Vernichtungspolitik unterworfen waren. Die Zigeuner, die fast im gleichen Ausmaß wie die Juden vernichtet worden waren, hatten größere Schwierigkeiten, in den Genuss der Entschädigungen zu kommen.

8. Unter denen, die sich darüber empörten, dass ein ehemaliger Nazi Bundeskanzler wurde, befand sich auch Günter Grass, ein Vertreter der "Generation der Kinder". Vgl. hierzu seinen offenen "Brief an Kurt Georg Kiesinger" vom 30. November 1966.

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Die Bundesrepublik Deutschland, die sich, wie bereits erwähnt, als Erbe des ehemaligen Deutschen Reiches mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten sieht, hat somit auch die rechdiche Verantwortung fiir den begangenen Volkermord übernommen.

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Mitte der 60er Jahre rebellierte die Generation der Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs oder kurz danach geboren worden waren, gegen die Heuchelei der Eltern, die einer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime ausgewichen waren, und demaskierte gleichzeitig die Staatsmacht, unter deren Schutz dies möglich gewesen war und die jetzt im Namen von Freiheit und Demokratie ein wehrloses, fiir die Unabhängigkeit kämpfendes Volk (Vietnam) angriff oder Diktatoren wie den Schah von Persien unter ihren Schutz stellte. Mit der Studentenrevolte von 1967/68 fand 20 Jahre nach Kriegsende der Bruch der Generation der Kinder mit der nationalsozialistischen Vergangenheit statt. Die kritische Distanz zu den Eltern und zu der Staatsmacht, die sie schützte, bewirkte, dass sich erneut die heikle Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus stellte. Wollte man die Vergangenheit in den Griff bekommen, musste man vorrangig die gesellschaftlichen Kräfte identifizieren, die ihm zur Macht verholfen hatten. Die Antwort der Studentenbewegung griff das auf, was schon die marxistische Linke in den 30er Jahren geäußert hatte und was Horkheimer bei seiner Rückkehr aus dem Exil wiederholte: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." Angesichts des Vormarsches der Arbeiterbewegung und der Aussicht auf eine proletarische Revolution nimmt der in der Defensive befindliche Kapitalismus die Form des Faschismus an. Das vorrangige Ziel ist, die Bedrohung durch die Arbeiterschaft abzuwenden, während gleichzeitig eine beschleunigte Aufrüstung den raschen Reichtumszuwachs der "Monopolkapitalisten" begünstigt. Die Kinder derer, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, entdeckten im Kapitalismus endlich die eigendiche Ursache fiir den Nationalsozialismus. Den Faschismus überwinden würde somit nichts anderes bedeuten, als den Kapitalismus zu überwinden, wobei man aber auch die degenerierten Formen des "bürokratischen Kollektivismus" des Sowjetblocks nicht verschonen wollte. Schließlich durfte im geteilten Deutschland das, was auf der anderen Seite der Mauer passierte, nicht ignoriert werden. Auf der Grundlage dieser Argumentation — der Kapitalismus führt unter bestimmten Voraussetzungen zum Faschismus — sah sich die Deutsche Demokra-

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tische Republik, die den Kapitalismus abgeschafft hatte, als Bollwerk des Antifaschismus, während die Bundesrepublik, die vom "Monopolkapitalismus" beherrscht wurde, faschistisch geblieben war. Das Paradoxon, das die antikapitalistische Studentenbewegung verkraften musste, war, dass gerade jener deutsche Staat, der so stolz auf seinen Antifaschismus war, nicht wenige Berührungspunkte mit dem Faschismus aufwies: darunter einige, die augenfällig waren, wie die Diktatur der Einheitspartei, die Existenz einer offiziellen, keinen Widerspruch duldenden Ideologie oder der repressive Polizeiapparat. Die Studentenbewegung schwang die Fahne des Antikapitalismus, musste sich aber gleichzeitig — nicht immer mit Erfolg — vom "real existierenden Sozialismus" distanzieren. Die Sache wurde dadurch noch komplizierter, dass die Selbstdefinition als antikapitalistisch in Zusammenhang mit dem Aufruf zur Gewalt sie in die Nähe des sowjetischen Modells rückte. Wenn man Professoren aus dem Hörsaal warf, weil sie sich "revolutionären" Argumenten widersetzten, wenn man Zeitungen verbrannte, die systematisch Lügen verbreiteten, und nur fiir die Leute warb, die Gleichgesinnte waren, dann konnte ein Habermas, der theoretische Kopf der intellektuellen Linken, nicht anders, als die Methoden dieser jungen Revolutionäre zu verurteilen, erinnerten sie doch allzu sehr an die Methoden des Faschismus. Die einander bekämpfenden Fraktionen bezichtigten sich gegenseitig, Faschisten zu sein, bis schließlich der Begriff seines eigentlichen Inhalts entkleidet war und zu einem Schimpfwort wurde, mit dem man sich gegenseitig bedachte.

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Nachdem die Studentenbewegung in tausend kleine Splittergruppen zerfallen war, von denen eine sich schließlich in den Terrorismus verirrte, trat in den 80er Jahren eine neue Generation auf den Plan: die der Enkel, die darauf versessen war, Geld zu verdienen und das Leben zu genießen, und die sich auf einen Konservatismus zurückzog, der eine stärkere Distanzierung zur nationalsozialistischen Vergangenheit mit sich brachte — eine Vergangenheit, die bereits in weiter Ferne lag. Der Umstand, dass die Aggressivität der Generation der Kinder gegenüber der Kriegsgeneration verschwand, ermöglichte paradoxerweise bis zu einem gewissen Grad eine objektivere Behandlung der Vergangenheit. Nach und nach setzte sich eine neue Interpretation der Niederlage durch, die nicht mehr als Katastrophe, Zusammenbruch und Untergang, sondern als Befreiung gesehen wurde.

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Die Deutsche Demokratische Republik feierte seit ihrem Entstehen den 8. Mai als den Tag, an dem das deutsche Volk durch die Sowjetunion vom Faschismus befreit worden war; in der Bundesrepublik wurde der Tag dagegen unter peinlichem Schweigen übergangen. Möglicherweise bedeutete der 8. Mai 1985, 40 Jahre nach der Niederlage, einen Wendepunkt in der Beziehung der Bundesrepublik zu ihrer Vergangenheit. An diesem Tag hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede vor dem Bundestag, in der er vom Jahrestag der "Befreiung" des deutschen Volkes sprach, was bis zu diesem Zeitpunkt kein westlicher Politiker zu sagen gewagt hatte. Theodor Heuss hatte vor seiner Wahl zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik in seiner Rede vor dem Parlamentarischen Rat — dem Organ, welches das Grundgesetz des neuen Staates ausarbeitete — den 8. Mai als "die tragischste und fragwürdigste Paradoxie" der deutschen Geschichte bezeichnet, weil "wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind". Seit 1990 nun feiert das wiedervereinigte Deutschland den 8. Mai als Tag der Befreiung: vielleicht das einzige symbolhafte Zeichen, das von der Deutschen Demokratischen Republik überlebt hat. Die Ultranationalisten, die diesen Tag noch immer als den schwärzesten Tag der deutschen Geschichte ansehen, sind zu einer unbedeutenden Minderheit geworden. Die Mehrheit der Deutschen, die für das Geschehene die Verantwortung übernimmt, ist den Alliierten heute dankbar dafür, dass sie sie vom Faschismus befreit haben. In einem freien und wiedervereinigten Deutschland, das seine volle Souveränität wiedererlangt hat, musste zwangsläufig ein neuer, objektiverer und weniger emotionaler, Reflexionsprozess zur NS-Vergangenheit einsetzen. Die Tabus, die ein halbes Jahrhundert lang die Behandlung der jüngeren Geschichte dominiert haben, können heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Unter den Bedingungen des "Kalten Krieges", als jeder der beiden deutschen Staaten in eines der feindlichen Lager eingebunden war, erwies es sich als unmöglich, die Verbrechen der Siegermächte zu benennen. In der Bundesrepublik konnte ebenso wenig an die Zerstörung Dresdens und anderer großer deutscher Städte durch englische und US-amerikanische Bomben erinnert werden wie in der Deutschen Demokratischen Republik an die Massenvergewaltigung deutscher Frauen durch russische Soldaten während des Sturms auf Berlin. Und weder auf der einen noch auf der anderen Seite durfte die Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Gebieten, die von Polen und Russland annektiert wurden, kritisiert werden. Die Alliierten praktizierten in den von Deutschland abgetrennten Gebieten in großem Maßstab dieselbe "ethnische Säuberung", wie sie die Serben und Kroaten während des jugoslawischen Bürgerkriegs praktizierten. Die Erinnerung daran wurde — etwas forciert — in den Vertriebenenorganisationen der Bundesrepublik auf-

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rechterhalten, in der Hoffnung auf einen Friedensvertrag, der nie kommen sollte. Die deutsche Wiedervereinigung wurde dadurch erreicht, dass insbesondere gegenüber Polen die nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Grenzen garantiert wurden. Die "Vergangenheitsbewältigung" verlangte nicht nur, dass Deutschland die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen übernahm; voll akzeptiert werden mussten auch die Folgen des Zweiten Weltkriegs für die politische Landkarte Europas.

5 . V E R A N T W O R T U N G DER D E U T S C H E N O D E R V E R A N T W O R T U N G ALLER E U R O P Ä E R ?

Die Geschichte der größtenteils fehlgeschlagenen "Vergangenheitsbewältigung" muss mit der grundlegenden, hinlänglich bekannten — wenn auch selten erwähnten — Tatsache in Zusammenhang gebracht werden, dass die Mehrheit der Deutschen sich für Hitler begeisterte, dies nicht erst nach 1938, als die Arbeitslosigkeit, die 1932 30 % der aktiven Bevölkerung betroffen hatte, verschwunden war und der Versailler Vertrag durch die Militarisierung des Rheinlands 1936, die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die ungehemmte militärische Aufrüstung gegenstandslos geworden war. Weitere Erfolge jener Jahre waren der "Anschluss" Österreichs und im Münchner Abkommen die Annexion des zur Tschechoslowakei gehörenden Sudetenlands. Der Hitler-Biograph Joachim Fest schreibt hierzu: "Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen" (1973: 25). 9 Lang ist die Liste der Faktoren, die man anfuhren kann, um die Krise der Weimarer Republik und den damit zusammenhängenden Aufstieg Hitlers zu erklären. Ohne die fortgesetzte Krise der Weimarer Demokratie wäre eine Randfigur wie Hitler nie an die Macht gekommen. Als entscheidende Faktoren wurden genannt: der Sturz des Kaisers, die "Dolchstoßlegende" als Erklärung für die Kriegsniederlage, das Scheitern der nachfolgenden sozialistischen Revolution, 9. Sebastian Haffner schreibt dagegen, man könne Hitler alles Mögliche nennen, einen großen Taktiker und Demagogen oder den größten Massenmörder aller Zeiten — "Aber eines war er nie: ein Staatsmann." Denn: "Hider hat keinen Staatsbau hingestellt, und seine Leistungen, die zehn Jahre lang die Deutschen überwältigten und die Welt in Atem hielten, sind ephemär und spurlos geblieben — nicht nur, weil sie in einer Katastrophe endeten, sondern weil sie nie auf Endgültigkeit angelegt waren" (1978: 61).

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das "Diktat von Versailles", eine Hyperinflation, die eine Proletarisierung von großen Teilen der Mittelschichten bewirkte, insgesamt die Etablierung einer Republik ohne Republikaner, mit einer erstarkenden Opposition der extremen Rechten wie der extremen Linken. Trotz all dieser Negativfaktoren hätte die Republik vielleicht überlebt — 1925 erschien die Zukunft in keinem so dunklen Licht —, wenn die Weltwirtschaftskrise von 1929/30 sie nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gefuhrt hätte. Und selbst dann waren es letztlich eher unwesentliche Faktoren, die wie so oft in der Geschichte ausschlaggebend sein sollten. Wie dem auch sei: Wenn man die Erfahrungen in 15 Jahren Demokratie mit den unbestreitbaren Erfolgen Hitlers bis Ende 1938 vergleicht, versteht man sehr gut, warum mehr als 90 % der Bevölkerung das neue Regime unterstützten. Ein solches Verständnis wird nun aber erheblich beeinträchtigt, wenn man die Kehrseite dieser erfolgreichen Jahre bedenkt. Die traditionellen politischen Parteien und freien Gewerkschaften wurden abgeschafft, und die Linken wurden in Konzentrationslager gesperrt; die demokratischen Institutionen wurden ausgehöhlt, es herrschte die Diktatur der Einheitspartei; und — last but not least — die Juden wurden unerbittlich verfolgt, indem man sie aus den Universitäten, den freien Berufen und dem Staatsapparat entfernte. Der gewöhnliche Deutsche, erfreut über einen besseren Lebensstandard und in seinen nationalen Ambitionen befriedigt, zog sich zurück in die Privatheit von Familie, Beruf und Freunden, bewunderte das Genie, dem es in wenigen Jahren gelungen war, das Land von Grund auf zu verändern, und schloss die Augen vor der Brutalität des Regimes. Bleibt die brennende Frage, die noch heute gelegentlich gestellt wird: Wie konnte es sein, dass ein Volk, das an der Spitze unserer Zivilisation stand, die andere, so finstere Seite des Regimes problemlos akzeptierte? Bereits im März 1933 wurden die ersten Konzentrationslager errichtet, in denen nach dem Reichstagsbrand 25.000 Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter eingesperrt wurden. Ab diesem Zeitpunkt und besonders nach Kriegsbeginn wuchs die Zahl der Lager schnell bis auf über 10.000, die Hälfte davon in Polen. Berücksichtigt man die Masse an Personal, die zur Bewachung und Verwaltung der Lager notwendig war, und kalkuliert man die maximale Distanz der Lager zum nächstgelegenen Ort, kann man unmöglich davon ausgehen, dass die Bevölkerung nichts von der Existenz dieses anderen, versklavten Teils der Gesellschaft wusste. Auch wenn es heute hart klingen mag, kommt man nicht umhin anzunehmen, dass die Deutschen glaubten, Ordnung und Wohlstand habe seinen Preis, und dass sie auf irgendeine Weise dieses gigantische Gefängnissystem befürworteten.

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Am 1. September 1939 marschierte Nazi-Deutschland in Polen ein — trotz des Risikos, dass Frankreich und Großbritannien aufgrund der kurz zuvor unterzeichneten Abkommen den Krieg erklären könnten: ein Krieg, den niemand in Europa wollte, auch das deutsche Volk nicht, den aber Hider herbeisehnte. Dieses Mal herrschte in den am Krieg beteiligten Ländern keine Kriegsbegeisterung wie in jenem unheilvollen August 1914, der den Beginn nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Tragödie markiert. Die bis 1941 erreichten militärischen Erfolge, mit denen Deutschland Europa unterwarf, beseitigten mögliche Zweifel oder Ängste und bestätigten die amtlicherseits verkündete Genialität des von der Vorsehung auserwählten "Führers". Die Deutschen zogen siegesgewiss in den Krieg, und noch bis zum letzten Augenblick deckte sich bei ihnen (bis auf wenige Ausnahmen) die Liebe zum Vaterland mit der Treue zum Regime, obgleich in den letzten neun Kriegsmonaten die Zerstörung der deutschen Städte größer und die Zahl der zivilen Opfer höher war als in den gesamten fünf Jahren zuvor. Die Deutschen identifizierten den Nationalsozialismus mit Deutschland und den "Führer" mit dem Vaterland — eine Verknüpfung, die aufzulösen später schwer fiel, allerdings sehr viel weniger in Deutschland als unter den Völkern, die unter den Grausamkeiten der Deutschen gelitten hatten. Auch wenn ab 1942 die Niederlage absehbar und ab 1943 sicher war, glaubte die Mehrheit der Deutschen weiterhin an das, was die Propaganda verbreitete: an die Wunderbombe, die im letzten Moment doch noch den Sieg bringen würde, oder an die Grausamkeiten, die sie erleiden würden, wenn die Russen bis nach Berlin kämen — wobei Letzteres sehr viel wahrscheinlicher war angesichts der Gräueltaten, welche die Deutschen in Russland begangen hatten. In dem Bestreben, seine Pläne zur Eroberung und Beherrschung der Welt um jeden Preis durchzusetzen — in einem Alter, in dem er noch fähig sein würde, seine (wie er meinte) außerordentlichen Gaben zu entfalten —, verfolgte Hider seine aggressive Expansionspolitik, bis der Krieg ausbrach, nach seinem Dafürhalten der einzig mögliche Weg, sein Ziel zu erreichen. Das Bild, das Hider von sich selbst hatte, ging noch über das, welches die offizielle Propaganda verbreitete, hinaus. Sein nicht zu überbietender Hochmut offenbarte sich in seinem Streben, sich die historische Zeit im Dienst der eigenen Biographie gefügig zu machen. Auch wenn es schwierig ist, die historische Verantwortung eines Volkes abzuwägen, so waren doch letztlich die Deutschen dafür verantwordich, dass Hitler an die Macht kam. Allerdings habe ich keinen Zweifel daran, dass mit dem Fortgang der europäischen Integration und dem damit verbundenen Entstehen einer gemeinsamen, die Sichtweise der einzelnen Nationalstaaten überwindenden historischen Perspektive deudich werden wird, welcher Teil der Verant-

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wortung für den Aufstieg des Nationalsozialismus den Siegern des Ersten Weltkriegs anzulasten ist. Zum Versailler Vertrag und seinen Folgen schrieb schon John Maynard Keynes (1919), was zu sagen war. Von größerem Gewicht sind die vielen Missverständnisse, die im Zusammenhang mit der Beschwichtigungspolitik entstanden sind. Großbritannien hatte gute Gründe zu glauben, dass es seinen Interessen entsprach, den Frieden um jeden Preis aufrechtzuerhalten, was zu einer eindeutigen Kooperation mit Hitler führte, wie sich am Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs zeigt: Großbritannien unterstützte Franco zwar nicht offen, wie es Deutschland tat, wohl aber indirekt durch seine Politik der Nichteinmischung, die vor allem für das republikanische Spanien von Nachteil war. Auch wenn heute die britische Befriedungspolitik, mit der sogar Präventivkriege verteidigt werden, anders bewertet wird, handelten die Briten doch in Übereinstimmung mit ihren Interessen, als sie auf den Frieden setzten in einem Moment, in dem sie auf einen Krieg nicht vorbereitet waren10, wie zu Beginn der Feindseligkeiten 1939 deutlich wurde. Der gesunde Menschenverstand der Briten sagte ihnen, dass die territorialen Zugeständnisse Hitler zähmen würden, für den im Übrigen die Rede vom Frieden nur ein Lippenbekenntnis war. Die einzige kriegerische Auseinandersetzung, die in naher Zukunft drohte, war die zwischen Deutschland und der Sowjetunion, zwei totalitären Systemen, die sich feindlich gegenüberstanden. Angesichts dieser Möglichkeit musste die Politik Großbritanniens auf eine Verständigung mit Deutschland gerichtet sein. Wie gefahrlich Hitler wirklich war, zeigte sich erst, als er unter Verletzung des Münchner Abkommens die gesamte Tschechoslowakei annektierte und zum Protektorat Böhmen und Mähren machte, worauf im August 1939 der "Nichtangriffspakt" mit der Sowjetunion folgte, in dem die jeweiligen Einflusszonen aufgeteilt wurden: die baltischen Staaten für die Sowjetunion und ein großer Teil Polens für Deutschland. Im Jahr 1945 war ich neun Jahre alt, und ich kann mich noch gut an die Bewunderung erinnern, die in meiner Familie die Erwachsenen — mit Ausnahme meines Vaters, der auf Seiten der Alliierten stand — Hitler und den Deutschen entgegenbrachten. Später erfuhr ich, dass einige derer, die in meiner Jugend meine geistigen Mentoren gewesen waren und die ich immer respektiert hatte, in je-

10. Die wirtschaftliche Lage mit einer Arbeitslosenquote von 12,9 % machte es Großbritannien 1933 unmöglich, mehr Geld in die Nachrüstung zu stecken. Im Mittelmeerraum und in Indien war das Empire ins Wanken geraten, und die dominions zeigten keine Bereitschaft, sich an einem Krieg in Europa zu beteiligen, zumal die antikommunistische Innenpolitik Deutschlands die Gefahr eines marxistischen Europa abzuwenden schien.

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nen Jahren die Deutschen glühend verehrt hatten. Die Bewunderung für das NSRegime ist keine Sache allein der Deutschen, sondern aller Europäer. Auch in Frankreich und in Großbritannien11 gab es viele, die aus ihrer Bewunderung für Hider — oder zumindest ihrem Verständnis für das nationalsozialistische Deutschland — kein Hehl machten. Ein objektiveres Verständnis der Vergangenheit werden wir dann erreichen, wenn wir aufhören, sie allein als eine Angelegenheit der Deutschen zu betrachten, und sie endlich als das europäische Problem sehen, das es tatsächlich war. Antisemitismus, Rassismus und Faschismus sind Produkte unserer gemeinsamen chrisdichen Kultur und wissenschaftlich-technischen kapitalistischen Zivilisation und unter keinen Umständen ein ausschließlich deutsches Phänomen, auch wenn aufgrund einer Reihe von Umständen in Deutschland der Antisemitismus in seiner fanatischsten Form an die Macht kam. Folglich ist die "Vergangenheitsbewältigung" eine Aufgabe aller Europäer; und sie wird erst dann geleistet sein, wenn wir nicht die gesamte Verantwortung auf Deutschland abwälzen, sondern unsererseits den Teil an Verantwortung übernehmen, der uns zukommt.

6. DER

HISTORIKERSTREIT

Diese Überlegungen fuhren uns zur eingangs erwähnten zweiten Möglichkeit, das Scheitern der "Vergangenheitsbewältigung" zu erklären. Ist eine Vergangenheit, welche die Ermordung von Millionen Menschen in Vernichtungslagern einschließt, nicht etwas Einmaliges, ohne Vorläufer und ohne potentielle Nachahmer in der Zukunft, eine nicht wiederholbare singuläre Tat, was sie zu etwas macht, das unmöglich zu bewältigen ist? Die historische Verantwortung für den begangenen Volkermord wird ewig auf Deutschland lasten. Das Monument für die Opfer des Holocaust im Zentrum von Berlin will für alle Zeiten an die übernommene Verantwortung erinnern. Es war ebendiese These von der absoluten Einmaligkeit, die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts den sogenannten "Historikerstreit" entfachte, an dem sich Habermas mit besonderem Engagement beteiligte. Am meisten überraschte an seiner Reaktion die Kontinuität in der Argumentationslinie 30 Jahre nach seinem ersten Artikel über Heidegger: Der Nationalsozialismus müsse im Zusammenhang einer spezifisch deutschen Tradition gesehen werden, die für die

11. Zu Hitlers Anhängern in England bzw. zum englischen Faschismus vgl. Kershaw (2005) und Sarkisyanz (1997).

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Konfiguration der Identität eines jeden Deutschen unverzichtbar sei, die aber nur dann mit Wurde angenommen werden könne, wenn man zuvor seine Solidarität mit den Opfern erklärt und die Verantwortung für die aus dieser Tradition heraus begangenen Verbrechen übernommen habe. "Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war", so Habermas, "ist unser eigenes Leben nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft. [...] kann man die Traditionen der deutschen Kultur fortsetzen, ohne die historische Haftung für die Lebensform zu übernehmen, in der Auschwitz möglich war?" (1987: 247, 251). Die Identität eines jeden Deutschen hängt davon ab, dass er zur Verantwortung für die NS-Vergangenheit steht, was gleichzeitig bedeutet, dass er sich dauerhaft ihrer Einzigartigkeit bewusst sein muss. Auch wenn Habermas in seinem Verständnis von Philosophie und Politik einen erheblichen Wandel vollzogen hat, ist er in seinem Urteil über den Nationalsozialismus seinem in jungen Jahren eingenommenen Standpunkt treu geblieben. So als wäre es ein Signum seiner Generation, distanziert er sich weiterhin von einer Gesellschaft, die nicht bereit ist, die Verantwortung, die ihr aufgrund der NSVerbrechen gebührt, zu übernehmen. Auch mehr als ein halbes Jahrhundert danach ist die kritische Auseinandersetzung mit dem NS-Regime, die sowohl in der BRD als auch in der DDR — wenn auch auf unterschiedliche Weise — scheiterte, eine noch immer anstehende Aufgabe. Die Kosten dafür, dass sie nicht konsequent angegangen wurde, haben mittlerweile die Sensibleren unter den Deutschen wahrgenommen. Habermas' politisches Denken setzte ein mit dem kritischen Hinweis auf die kulturellen Wurzeln des Nationalsozialismus, und in diese Debatte ist er immer noch kämpferisch involviert. Die rassistische Politik des Nationalsozialismus, die in einem Volkermord unermesslichen Ausmaßes gipfelte, war demnach ein einzigartiges, in der Geschichte mit nichts zu vergleichendes Phänomen. Zweifellos ist unter den Historikern Ernst Nolte derjenige, der diese These mehr als irgendein anderer kritisierte (Nolte 1987a) und damit das initiierte, was heute als "historischer Revisionismus" bezeichnet wird. Zu behaupten, die Vergangenheit könne nicht überwunden werden, und sie damit als etwas Definitives zu fixieren, bedeutet, ihr die jeder Vergangenheit eignende Komplexität zu nehmen, sie in einem Schwarz-Weiß "einzufrieren", das keine Grautöne zulässt. Nach Nolte hatte der Holocaust des jüdischen Volkes in den 40er Jahren einen unmittelbaren Vorgänger in der Vernichtung der "Kulaken" durch Stalin in den 30er Jahren; und man könne noch andere Fälle nennen, etwa den Volkermord, den 1920 die Türken an den Armeniern begingen. "War nicht der 'Archipel GULag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klassenmord der Bolschewiki' das logische und faktische Prius des 'Rassen-

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mords' der Nationalsozialisten?", schrieb Nolte (1987b: 45), der damit den Faschismus als eine Reaktion auf den Bolschewismus definierte, von dem er die totalitären Techniken zur Kontrolle und Unterdrückung der Gesellschaft gelernt habe. Die Barbarei des 20. Jahrhunderts mit der ihr eignenden Unmenschlichkeit und Gewaltanwendung habe eine lange Vorgeschichte im chrisdichen Europa, in den europäischen Revolutionen und Gegenrevolutionen; daher sei es an der Zeit, den Nationalsozialismus in seinem historischen Kontext und nicht als ein isoliertes partikulares Phänomen zu begreifen. Den Nationalsozialismus entmystifizieren, ihn der Fiktion entreißen und wieder in die Geschichte integrieren, dürfe aber auf keinen Fall bedeuten, ihn von Schuld freizusprechen. Er müsse lediglich von Legenden — den positiven (entsprechend einer zwar kleinen, aber zunehmenden Minderheit) wie den negativen (entsprechend dem offiziellen Bewusstsein des Nachkriegseuropa) — befreit werden, um den Platz einzunehmen, der ihm gebührt, und der liegt innerhalb der Geschichte. Die Integration der schrecklichen Jahre des Nationalsozialismus nicht nur in die deutsche, sondern auch in die europäische Geschichte ist eine ebenso dringliche wie heikle Aufgabe. Das unermessliche Ausmaß des Volkermordes am jüdischen Volk sprengt alle Deutungsschemata und lässt keine Erklärung zu. So lang die Liste der ökonomischen, sozialen, kulturellen, historischen und politischen Faktoren, die man zur Erklärung heranzieht, auch sein mag, es gibt nichts, was einen derart kriminellen kollektiven Wahn erklären könnte, der nahezu das gesamte Volk erfasste, welches bestenfalls passiv zusah, wie Millionen von Menschen vernichtet wurden. Am schwersten zu verstehen ist das offizielle Schweigen der zwei Kirchen, der protestantischen wie der katholischen. Zwar gab es in beiden Kirchen Einzelne, die Widerstand leisteten und dabei das eigene Leben opferten; doch die meisten Kirchenvertreter teilten oder tolerierten den vernichtend wirkenden Antisemitismus. Das Ausmaß dieser Verbrechen ist unbegreiflich; dennoch sind sie Teil der Geschichte und dessen, was den Menschen ausmacht. Das Gefährlichste daran, den Nationalsozialismus in etwas Singuläres zu verwandeln und ihn dadurch aus der Geschichte herauszureißen, ist das darin verborgene Risiko, dass er sich wiederholt.

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DEMOKRATIE UND VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG. ZUR WIEDERKEHR VERDRÄNGTER GESCHICHTSERINNERUNG IN SPANIEN Walther L. Bernecker

Seit dem Spanischen Bürgerkrieg sind inzwischen ca. 70 Jahre vergangen. Nach dem Ende der Franco-Ära konnte das Land erstaunlich schnell den Übergang in die Demokratie bewältigen. Während des Franquismus und danach war der Bürgerkrieg im politischen und historischen Diskurs stets obligater Bezugspunkt; kaum jemand versäumte es, auf den Ursprung des Franco-Regimes im Krieg hinzuweisen. Und der nach 1975 einsetzende Boom an Bürgerkriegsliteratur entsprach einem verbreiteten Bedürfnis in weiten Bevölkerungskreisen nach Information und Aufklärung, nachdem in den Jahrzehnten zuvor die Geschichtsschreibung vielfach zur Legitimation des Sieger-Regimes instrumentalisiert worden war. Historiker und Publizisten waren sich stets darin einig, dass erst in einem demokratischen Staat, ohne intellektuelle Gängelung oder politische Zensur, die vollständige Aufarbeitung der Bürgerkriegsgeschichte oder der besonders dunklen Jahre des frühen Franquismus erfolgen würde. Es stand zu erwarten, dass im demokratischen Spanien an den Jahrestagen des Bürgerkriegs verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informationsund Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings voll in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei (.Partido Socialista Obrero Espanol, PSOE) unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne

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staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns 50 Jahre zuvor zu gedenken. Zweifellos gab es 1986 auch öffendiche Veranstaltungen, die an den Bürgerkriegsbeginn erinnerten (während der Jahrestag des Kriegsendes 1989 praktisch unbeachtet verstrich); aber gemessen an der überragenden Bedeutung, die dieser Krieg für das Spanien der Gegenwart hat, hielten sich die Rückblicke eher in Grenzen. Die meisten Veranstaltungen waren ohnehin in die eher "entschärfte" Domäne der Historiker übergegangen. Denn darin waren sich nahezu alle politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen einig: Keine erneuten Rechtfertigungen, sondern Erklärungen waren gefragt; nicht die Großväter, die den Krieg gefuhrt hatten, sondern die jungen Akademiker, die ihn nur über Quellen und Literatur kannten, waren die Protagonisten der Veranstaltungen. Und auf diesen wurde immer wieder mahnend dazu aufgefordert, "objektiv" und "historisch distanziert" zu argumentieren, da man doch über ein längst vergangenes Ereignis spreche, das seit langem schon Teil der "Geschichte" sei. Ergebnis dieser Tagungen und Kongresse waren mehrere Sammelbände, die ein weitgehend ausgewogenes Bild des Bürgerkriegs präsentierten; verbreitete historische Zeitschriften (etwa Historia 16) und Tageszeitungen mit hohen Auflagen

{El País u.a.) brachten vielfältige Bürgerkriegsbeiträge. 1 Im Gegensatz zu diesen historiographischen Beiträgen ließ sich das "offizielle" Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigendichen Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei u m den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging; und in dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich und über Massenmedien auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den 30er Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt. Außerdem wäre wohl eine öffentliche Debatte nicht zu verhindern gewesen, in der auch die Mitverantwortung der stärksten Arbeiterpartei am Scheitern der spanischen Demokratie diskutiert worden wäre. Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast — Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei — besagte, der Bürgerkrieg sei "kein Ereignis,

1. Vgl. etwa die monographischen Sondernummern zum Spanischen Bürgerkrieg folgender Zeitschriften: Cuenta y Razón, 21 (Sept.-Dez. 1985); Arbor, 491/492 (1986); Studia Histórica, 4, Bd. III (1985); Letras de Deusto, 16,35 (Mai-Aug. 1986); Aportes, 8 (Juni 1988); als Tagungsband

vgl. Aróstegui 1988; als Sammelbände vgl. Tuñón de Lara [et aL] 1987; Tamames 1986.

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dessen man gedenken sollte, auch wenn er fiir die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte". Inzwischen sei der Krieg jedoch "endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier"; er sei "nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert".2 Sicherlich sind derartige Äußerungen in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuanfang nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutalster Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: fiir die Akzeptierung der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Versöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlussstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden. Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten — die zu den Hauptverlierern des Bürgerkriegs gehörten — mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja: zu verdrängen und sogar politisches Verständnis für die ehemals "andere" Seite zu zeigen. Weiter heißt es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle "die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung — und viele mit ihrem Leben — zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben". Zugleich gedenke sie "respektvoll jener, die — von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien — fiir eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten". Die Regierung hoffe, dass "aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsucht, unser Bewusstsein verdunkelt und unsere Freiheit zerstört. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkriegs endgültig die erneute Versöhnung der Spanier besiegelt".

2. "'Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable', afirma el Gobierno". In: El País vom 19. 7. 1986, S. 17.

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Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst als Folge des Krieges zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Veränderungen vorzunehmen, die möglicherweise die Stabilität des Systems gefährden könnten. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis, der soziopolitische Friede musste erkauft werden. Ein Großteil der älteren Militärs identifizierte sich in den 70er und 80er Jahren noch mehr oder weniger mit seiner franquistischen Vergangenheit. In manchen offiziellen Heerespublikationen jener Jahre nahmen Francos Bilder und seine Titel eine wichtigere Stellung als die demokratisch legitimierten staadichen "Würdenträger ein. In Militärkreisen und Kasernen wurde noch längere Zeit vom "Kreuzzug" gesprochen; allerdings handelte es sich 10 Jahre nach Francos Tod nunmehr um das Vokabular einer Minderheit unter den Militärs. Das Überleben des franquistischen Symbolsystems erinnerte jedoch daran, dass die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zur Transition führte. Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über. Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die "Orte des Gedächtnisses" genannt werden. Die transición stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Dies gilt nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen der Jahre 19771982; dies ist nicht weniger gültig für den Partido Socialista Obrero Español: Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzte die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse. Während der gesamten Franco-Ära hatte das Regime durch damnatio historiae versucht, jegliche historische Erinnerung, die sich nicht in die Tradition des Aufstands vom 17./18. Juli 1936 einreihen ließ, auszuschalten: physisch durch Ermordung aller exponierten Kräfte der republikanischen Seite, politisch durch kompromisslose Machtaufteilung unter den Siegern, intellektuell durch Zensur und Verbote, propagandistisch durch einseitige Indoktrinierung, kulturell durch Eliminierung der Symbole jenes angeblichen "Anti-Spanien", das in zermürbender Langsamkeit drei Jahre lang bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpft worden war. Zur Zerstörung der Erinnerung an jenes unterlegene Spanien "des Hammers und des Meißels" (Antonio Machado) kam bald die Notwendigkeit, die Spur

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der eigenen Verbrechen aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen. Die Auswahl des aus dem kollektiven Gedächtnis zu Streichenden war ein Prozess negativer Selektion, der vom Zentrum der Macht aus gesteuert wurde. Ganz im Gegensatz zu dieser Haltung des Sieger-Regimes haben die Regierungen der transición keinen übermäßigen Eifer an den Tag gelegt, die Symbole des Franquismus aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Einige sind bis heute anzutreffen. Ein weiterer wichtiger Grund für die offizielle Verdrängung des Bürgerkriegs dürfte in dem ideologischen Konsens gelegen haben, der in den Jahren der Transition und des darauf folgenden ökonomischen Aufschwungs die spanische Gesellschaft bestimmte und der auf die Begriffe Modernisierung und Europäisierung gebracht werden kann. Hintergrund der Fortschrittsgläubigkeit, des extrovertierten Konsumrausches und der ungezügelten Europa-Euphorie jener Phase war ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex gerade in Bezug auf diesen Fortschritt und dieses Europa, von dem das Franco-Regime sich zuerst bewusst abgekoppelt hatte ("Spanien ist anders") und von dem es zuletzt aus politischen und ökonomischen Gründen ferngehalten worden war. Philosophen, Schriftsteller und Politiker haben sich immer wieder die Frage nach den Gründen fiir Spaniens "Rückständigkeit" gestellt, und lange Zeit war der Entwicklungsvorsprung Europas gegenüber Spanien ein in Publizistik, Literatur und Philosophie häufig anzutreffendes Thema. Der Bürgerkrieg gilt in dieser Debatte als das historische Ereignis, durch das die Rückständigkeit der Spanier am klarsten zum Ausdruck kam, der Schlusspunkt in einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Modernisierungsversuche. Die Folge des Bürgerkriegs, die Installierung des Franco-Regimes, fiihrte nach 1945 zum Ausschluss Spaniens aus der internationalen Staatengemeinschaft, zur Ächtung und zum wirtschaftlichen Boykott. Das Land wurde auf sich selbst zurückgeworfen; die Außenbeziehungen konzentrierten sich lange Zeit auf die arabischen Länder und Lateinamerika, was auf der Pyrenäischen Halbinsel das Gefühl des Unterentwickeltseins weiter verstärkte. Minderwertigkeit, Isolierung und Spaltung in Sieger und Besiegte wurden in Spanien mit dem Bürgerkrieg und seinen Folgen assoziiert. Die Öffnung des Landes zur Demokratie, zu Fortschritt und zu Europa war eine bewusste Abkoppelung von dieser unerwünschten Vergangenheit. In nahezu allen Kommentaren zum Bewusstsein der spanischen Bevölkerung in Bezug auf den Bürgerkrieg wurde in den 80er Jahren auf die Indifferenz der Jugend gegenüber der jüngsten Vergangenheit hingewiesen. Amtliche Stellen zeigten ein auffälliges Desinteresse, diesen Zustand zu ändern: König und Regierung sprachen vor allem von Versöhnung, staatliche Instanzen predigten unauf-

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hörlich das Thema Europa, eine dauernde Werbeberieselung intensivierte die ohnehin schon überbordende Konsumneigung, das ganze Land war mental auf Modernisierung und Fortschritt eingestellt. Im Jahr 1986 beging Spanien nicht nur den 50. Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns; es war auch das Jahr, in dem das Land Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft wurde und sich endgültig für den Verbleib in der NATO entschied. Hatte der Bürgerkrieg den (erneuten) Beginn eines historischen "Sonderwegs" markiert, so stellte spätestens das Jahr 1986 die Rückkehr Spaniens zur europäischen "Normalität" dar. Sicher hing die Geschichtslosigkeit der jüngeren Generationen auch mit der jahrzehntelangen Instrumentalisierung von Geschichte im Franquismus zusammen, die im Nach-Franquismus in Gleichgültigkeit oder sogar in Ablehnung umschlug. In diesem Zusammenhang verdienen die Überlegungen des Philosophen José Luis L. Aranguren (1986) referiert zu werden, der davon sprach, dass die nachfranquistische Gesellschaft Spaniens eine neue Beziehung zu ihrer Geschichte eingegangen sei, dass sie keine Dogmen mehr übernommen habe, sich (im Gegensatz zur früheren Identifizierung) von der Vergangenheit distanziere und in ihrer kollektiven Erinnerung eine Wende vollzogen habe. Diese "historische Mutation" hänge damit zusammen, dass die Spanier früher vom Gewicht eines "Volkes mit Universalgeschichte" erdrückt worden seien; stets sei ihnen die Orthodoxie einer Kontinuität mit der spanischen Weltgeschichte gepredigt worden, von der sich nur einige wenige heterodoxe Kräfte distanzieren konnten, die sich gegen die dominierenden Nostalgiebestrebungen wandten. Die vorherrschende spanische Kultur war zu Beginn der Neuzeit, im literarisch glänzenden "Siglo de Oro", eine Kultur der Gegenreformation, später dann eine Kultur der Anti-Modernität. Da die weltgeschichdiche Größe Spaniens mit dem kulturellen Aufschwung des gegenreformatorischen Katholizismus zusammenfiel, wurde lange Zeit ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen spanischer Kultur und Widerstand gegen die Kräfte der Moderne gesehen. Es dominierte der nostalgische Rückblick auf ein imperial-katholisches Spanien, das wiederum als "ewiges Spanien" und "geistige Reserve des Abendlandes" betrachtet wurde. Der Franquismus kann als letzter Versuch betrachtet werden, zumindest in seiner Frühphase sich in diese Tradition der Anti-Modernität einzureihen. Die "revolutionären" Erneuerungsmomente der ursprünglich faschistischen Falange waren für das Regime stets weit weniger bedeutend als die Kontinuitätselemente traditionalistischer, national-katholischer und militärischer Provenienz. Diese "prämodernen" Kulturelemente gingen in der Spätphase des Franquismus, seit dem Wirtschaftsboom der 60er Jahre, rapide verloren. Der Verlust erzeugte nicht

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so sehr einen expliziten Anti-Franquismus als vielmehr einen Nicht-Franquismus, eine Skepsis gegenüber der Politik, die zwar in den ersten Jahren nach 1975 einem bewussten Engagement wich, sehr schnell aber wieder zur distanzierten Skepsis wurde, als die Hauptziele des friedlichen Wandlungsprozesses — die Sicherung der Demokratie und eine Übertragung der Macht an die linke Mitte — erreicht zu sein schienen. Eine klare politische Alternative war in den 80er Jahren weder auf der Linken noch auf der Rechten in Sicht; das dadurch erzeugte Gefühl der Paralyse schlug sich nicht nur auf das politische, sondern auch auf das historische Bewusstsein nieder und förderte jene Einstellung, die längst nicht mehr auf "Differenz" als vielmehr auf "Indifferenz" und Entpolitisierung abzielte. Auf der Grundlage derartiger Überlegungen könnte es für das offizielle Verdrängen des Bürgerkrieges und das äußerst laxe Umgehen mit den franquistischen Symbolen im Prozess des Übergangs in die Demokratie somit auch eine weit einfachere als die politisch-ideologische Erklärung geben: Es stellt sich die Frage, ob die vom Franquismus propagierten Werte in der spanischen Gesellschaft überhaupt je Fuß gefasst haben, ob die Symbole und die Ästhetik des Regimes mehr als resigniert-unbeachtet hingenommene Oberflächensymptome waren. Die Ideologie des Regimes — wenn es sie denn je gegeben hat — war spätestens seit dem Ende der 50er Jahre einem steten Auflösungsprozess unterworfen gewesen; in den Schlussjahren der Diktatur war sie praktisch inexistent. Eine gewaltsame Auseinandersetzung mit dieser Ideologie, mit den Symbolen und den äußeren Merkmalen des franquistischen Regimes war nach 1975 deshalb nicht nötig; es handelte sich ohnehin nur noch um inhaltsleere Hüllen, die kaum jemand mehr ernst nahm. Auch das erklärt die Art, wie die spanische Gesellschaft lange Zeit mit ihrer diktatorischen Vergangenheit umging. Sie betrachtete sie als überlebt und gab sie dem Vergessen anheim. Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der Franco-Ära legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens. Wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungs-Generationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken; die von staadicher Seite auf den "Fortschritt" gelegte Betonung ließ es dysfunktional erscheinen, die als "negativ" bewerteten Epochen in Erinnerung zu rufen. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hatten. Stattdessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten hin gleichermaßen abgesicherte Parole: "Nie wieder!" Der Bürgerkrieg wurde als "Tragödie" bewertet, als Krise, die den Zusammenbruch aller Werte des Zusammenlebens heraufbeschwor. Nicht von den Gründen und Verantwortlichkei-

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ten fiir diese Tragödie war die Rede — also vom Bestreben der Aufständischen und ihrer Helfershelfer, die demokratischen Errungenschaften wieder abzuschaffen — , sondern von den Folgen der "tragischen Krise". Einige Beobachter sahen hinter dem offiziellen Verhalten der damaligen spanischen Regierung zu den Bürgerkriegs-Jahrestagen eine überlegte und präventive Strategie der Machtkonsolidierung. Wenn dies stimmt, so muss danach gefragt werden, wie in der spanischen Öffentlichkeit in jenen Jahren der Bürgerkrieg gesehen wurde. Im Sommer 1983 ließ die Zeitschrift Cambio 16 eine repräsentative Umfrage über den Bürgerkrieg durchführen. 3 Danach bezeichneten 59 % der Befragten den Bürgerkrieg als ein Thema von Interesse, und 57 % hielten den Krieg für das wichtigste Ereignis zum Verständnis des gegenwärtigen Spanien; zugleich hielten sich aber 76 % fiir schlecht informiert. Fast drei Viertel aller Befragten (73 %) sahen im Bürgerkrieg eine beschämende Epoche in der Geschichte Spaniens, die besser vergessen werden sollte; genau die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass auf beiden Seiten für die Freiheit und den Fortschritt Spaniens gekämpft worden war, und ganze 48 % stimmten der Auflassung zu, dass alle Handlungen Francos ihren Beweggrund in seiner großen Liebe zu Spanien hatten. Auf die Frage: "Wenn Sie heute Partei ergreifen müssten: Für welche von beiden Seiten wären Sie zu kämpfen bereit?", antwortete fast die Hälfte (48 %): für keine von beiden. Die Antworten dieser Umfrage der 80er Jahre lassen das Ausmaß deudich werden, in dem der Krieg das Bewusstsein der Nachfolgegenerationen, die ihn längst nicht mehr erlebt haben, geprägt hat. Z u m Zeitpunkt der Umfrage bestand die große Mehrheit des spanischen Volkes aus jenen, die den Krieg nur in seinen Folgen erlitten hatten. U n d jene überwältigenden 73 % , die den Krieg für eine beschämende Epoche hielten, die besser vergessen werden sollte, drückten mit dieser Meinung ihr Interesse daran aus, nicht auf die alten Kriegsgeschichten zurück-, sondern von der versöhnten Gegenwart aus in die europäische Zukunft vorauszublicken. Ende 1995 gewährte die spanische Regierung auf Antrag des Parlaments allen noch lebenden Mitgliedern der Internationalen Brigaden die spanische Staatsangehörigkeit. Fast 60 Jahre nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs erfüllte die Regierung in Madrid damit ein Versprechen, das noch während des Krieges — im November 1938 — der damalige Regierungschef Juan Negrin den Interbrigadisten gegeben hatte. Jahrzehntelang verhinderte die Diktatur Francos die Umsetzung dieses Versprechens; auch in den Jahren des friedlichen Übergangs in die Demokratie dachten die spanischen Politiker lange Zeit nicht an die ausstehende

3. Cambio 16, 616-619 (26. 9.-10. 10. 1983).

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Dankesschuld. Als die "Vereinigung der Freunde der Internationalen Brigaden" (.Asociación de Amigos de las Brigadas Internacionales) 1995 dann an die politischen Parteien mit der Aufforderung herantrat, sich fiir die Gewährung der Staatsbürgerschaft stark zu machen, waren alle im Parlament vertretenen Kräfte in seltener Einmütigkeit bereit, dieses Anliegen zu dem Ihrigen zu machen. In der parlamentarischen Aussprache wurde in bewegten Worten des uneigennützigen Einsatzes der Brigadisten gedacht; von Freiheit, Demokratie, Großzügigkeit und Kampf für hehre Ideale war die Rede. Eines der Argumente lautete, die noch lebenden Brigadisten sollten auch "formal" jenes Land ihre Heimat nennen dürfen, das sie ein Leben lang in ihrem Herzen getragen hatten. In der Begründung des parlamentarischen Antrags heißt es, dass nahezu 60 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs und 20 Jahre nach Einsetzen des Demokratisierungsprozesses genug Zeit verflossen sei, "dass alle Spanier, die die Demokratie und die Freiheit lieben, aus der Gefasstheit der historischen Distanz jenen Teil ihrer Vergangenheit betrachten können, der 40 Jahre lang eine offene Wunde darstellte". Dass alle demokratischen Kräfte Spaniens den Interbrigadisten diese historische Anerkennung zukommen ließen, belegte in beeindruckender Weise den Willen der Spanier nach Aussöhnung im Innern, zugleich auch die Überzeugung der politisch Verantwortlichen, dass jene "Freiwilligen der Freiheit" (Voluntarios de la Libertad) sich mit ihrem Leben für Demokratie und Freiheit in Spanien und Europa eingesetzt haben. Inwieweit dem politischen "Vergessen" in den Transitionsjahren (1975-1982) und der Epoche der sozialistischen Herrschaft (1982-1996) ein bewusster Konsens zugrunde lag, ist schwer abzuschätzen. Tatsache ist aber, dass in den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten die politischen Eliten (gleich welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffallige Zurückhaltung an den Tag legten (Bernecker 1998). Bis vor wenigen Jahren war die Amnestie, die zu Beginn der Transition verkündet worden war, mit einer politischen Amnesie verbunden, die eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit verhinderte. Kritiker sehen darin eines der größten Defizite der Transition, das der politischen Kultur des Landes erheblichen Schaden zugefügt habe. Als weiteren Indikator für die Imperfektion der Transition fuhren diese Kritiker die Behandlung der Familienangehörigen der auf republikanischer Seite im Bürgerkrieg "Verschwundenen" an. Wahrend nämlich die franquistische Seite sofort nach dem Bürgerkrieg ihre Toten identifizieren und ehrenhaft bestatten konnte, ist dies mit den Republikanern bis heute nicht geschehen. Angeblich über 30.000 Republikaner warten darauf, aus anonymen Massengräbern in die Obhut der Familienangehörigen überfuhrt zu werden. Seit 25 Jahren haben diese Familienan-

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gehörigen vergeblich Anträge an die demokratischen Regierungen gestellt. Erst im Jahr 2002, nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingeschaltet worden war, kam Bewegung in diese Frage; erste Leichen wurden exhumiert und umgebettet. Und erst Ende 2002 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, die die Regierung aufforderte, die Suchaktionen auch finanziell zu unterstützen und die politischen Opfer des Franquismus als solche anzuerkennen. Die damals regierende konservative Volkspartei ( Partido Populär, PP) konnte allerdings abermals verhindern, dass der Putsch von 1936 explizit verurteilt wurde; außerdem, so hieß es in der Resolution, dürfe die Anerkennung der Opfer nicht dazu benutzt werden, alte Wunden wieder aufzureißen. Anklage gegen die damaligen Putschisten durfte somit nicht erhoben werden. Es scheint klar zu sein, dass diese Phänomene fehlender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Kompromisscharakter der Transition zurückzufuhren sind. Nach 1975 kam es formal zu keinem Bruch; daher konnte der AntiFranquismus auch nicht — wie etwa die Resistenza in Italien — zum Gründungsmythos der neuen spanischen Demokratie werden. Es musste fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis jener gesellschaftliche "Konsens" der Übergangszeit, der einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen war, aufgebrochen wurde. Im Grunde genommen findet eine umfassende gesellschaftlich-politische Aufarbeitung der

franquistischen

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Spanien erst seit ungefähr 10 Jahren statt. Inzwischen sprechen allerdings viele Anzeichen dafiir, dass die seit dem Übergang zur Demokratie weitgehend totgeschwiegene Erinnerung an die zahllosen Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur gegen Ende des Jahrtausends in die Öffentlichkeit zurückgekehrt ist.4 Wachsende Aktualität gewann vor allem das Problem der Vergangenheitsbewältigung. Besonders umstritten war dabei die Frage, ob jener sprichwörtliche "Pakt des Schweigens" im politischen Diskurs auf kollektiver Einsicht beruhte oder von den in der Transition herrschenden politischen Eliten schlicht oktroyiert wurde. Gegen die kritischen Interpretationen behauptet der Madrider Historiker Santos Julia (1996; 2002), dass die historische Erinnerung lediglich aus der Politik, jedoch keineswegs aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde. Der "Konsens des Schweigens" sei der weisen Absicht gefolgt, die Geschichte aus dem politischen Meinungsstreit herauszuhalten, und habe zugleich den Weg für eine nüchterne und ausgewogene Aufarbeitung durch die Fachhistorie geöffnet. Dagegen beklagen der Politikwissenschaftler Vicen? Navarro (2002)

4. Vgl. etwa Vilarös 1998; Resina 2000; Medina Dominguez 2001; vgl. in diesem Zusammenhang auch Subirats 1993.

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sowie andere Historiker und Publizisten das Fehlen einer offiziellen Erinnerungskultur, einer kritischen Geschichtsbildung in der Bevölkerung, die letzdich auch eine potentielle Gefahr für die Legitimität der Demokratie darstellt. Darüber hinaus wendet Navarro sich gegen die allgemeine Tendenz zu einer verharmlosenden Gleichsetzung von Tätern und Opfern, die mit fragwürdiger Absicht den Kampf beider Seiten auf den Wunsch nach einem besseren Spanien reduziere. Von der Tagespresse aufmerksam verfolgt, ist außerdem die Frage der franquistischen Repression zum Thema von Fachtagungen und wissenschaftlichen Publikationen avanciert (Bernecker 2003). Neue Archivalien erlaubten dabei die Aufdeckung einer erschreckenden Systematik des staadichen Repressionsapparats, der bis Anfang der 50er Jahre schätzungsweise 140.000 Todesopfer forderte und Hunderttausende von Republikanern in über hundert Arbeitslagern ausbeutete.5 Besondere Aufmerksamkeit erhielten schließlich die "Verschwundenen" des Bürgerkriegs, jene in den ersten Kriegswochen von den Aufständischen mehr oder weniger systematisch Ermordeten, zu denen auch der prominente Schriftsteller Federico Garcia Lorca zählte. 1995 bereits — somit noch in der Regierungszeit der Sozialisten — hatte das Verteidigungsministerium ein Abkommen mit der deutschen Stiftung "Volksbund" geschlossen, um die sterblichen Überreste der rund 4.500 spanischen Soldaten, die als Mitglieder der "Blauen Division" im Kampf um Leningrad gefallen waren, gemeinsam würdig auf dem Friedhof Pankovka zu bestatten. Da die deutsche Seite den größeren Teil der Finanzlast übernahm, hatte die spanische Regierung bis zum Frühjahr 2003 nur rund 130.000 Euro investieren müssen; zwischenzeidich konnten knapp 1.200 Leichen umgebettet werden. Seither wurde der Ruf laut, nun auch die schätzungsweise 30.000 republikanischen "Verschwundenen" in ähnlicher Weise zu behandeln. Der seit dem Jahr 2000 mit absoluter Mehrheit regierende konservative Partido Populär sollte sich in dieser Hinsicht jedoch als Hüter des franquistischen Erbes erweisen und sich mehrfach sowohl der öffentlichen Verurteilung des Militärputsches als auch der finanziellen Unterstützung von Exhumierungen verweigern.6 Im November 2002 verurteilte zwar das spanische Parlament

5. Zu diesen Ergebnissen gelangte eine Tagung, die im Oktober 2002 im Museum für die Geschichte Kataloniens in Barcelona stattfand. Vgl. Julia 2004; Elordi 2002; Torres 2002a, 2002b; Casanova 2002; Serrano/Serrano 2002. 6. So überstimmte im Februar 2002 der Partido Populär eine Gesetzesinitiative aller übrigen parlamentarischen Fraktionen, die vorsah, die Opfer des Franquismus zu rehabilitieren und ökonomisch zu entschädigen. Und als die Linkspartei Izquierda Unida im Oktober 2002 einen Antrag auf Anerkennung der franquistischen Zwangsarbeiter (esclavos del franquismo) präsentierte, stimmte die Volkspartei zwar zu, lehnte aber erneut eine ökonomische Entschädigung ab.

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schließlich einstimmig die franquistische Diktatur und versprach den Familienangehörigen finanzielle Unterstützung, die eine Öffnung der anonymen Massengräber und eine Umbettung ihrer für die Republik gestorbenen Verwandten anstrebten; in der Folge weigerte sich die Regierung aber, die beantragten Mittel zu gewähren. Angesichts der lange Zeit ablehnenden Haltung der Regierung schritt im Herbst 2000 eine Bürgerinitiative in der nordkastilischen Ortschaft Priaranza del Bierzo selbst zur Tat und führte — von mehreren professionellen Archäologen unterstützt — die Exhumierung der Leichname von 13 "Verschwundenen" des Bürgerkriegs durch. Das große öffendiche Echo auf die Exhumierungen in Kastilien-Leon hatte die Gründung des "Vereins zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung" {Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, A R M H ) sowie einiger ähnlicher Plattformen mit Internet-Präsenz zur Folge. 7 Die Asociación wurde vom Journalisten Emilio Silva gegründet, der nach seinem verschollenen Großvater suchte (Silva 2005). Seither kämpft der Verein um die landesweite Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, welche die Aufständischen während des Bürgerkriegs an den Anhängern der Republik verübt haben. Angesichts der großen Zahl nicht identifizierter Toter fehlen dem Verein jedoch die für die Exhumierungen erforderlichen Mittel. Es ist denkbar, dass in dem Maße, wie sich die spanische Gesellschaft selbst die unterdrückte Erinnerung an die Opfer und Verlierer des Bürgerkriegs aneignet, ein parteiübergreifender Konsens erzielt wird. Dabei signalisieren die verschiedenen Bemühungen zur Wiedergewinnung einer "verbotenen" bzw. bewusst verdrängten Vergangenheit zugleich einen entscheidenden Schritt in Richtung auf eine "Normalisierung" des historischen Bewusstseins, d.h. auf Ausgleich und Annäherung der in der kollektiven Erinnerung noch immer bestehenden Disparitäten. Mit einer Verspätung von 60 bis 70 Jahren zeichnet sich so auch in Hinblick auf das schwerste Trauma der jüngsten spanischen Geschichte eine öffendiche "Bewältigung" ab, die für die lebensgeschichdich betroffenen Generationen allerdings größtenteils zu spät kommen dürfte. Mit der geradezu buchstäblichen "Entdeckung" jener Verbrechen, die im Namen des franquistischen Staates seit Ausbruch des Bürgerkriegs begangen wurden, begann nun die öffendiche Konfrontation mit einer Vergangenheit, die aus Sicht der Fachhistorie schon seit längerem kaum noch Geheimnisse barg. Die breite öffendichkeit indes betrat mit dieser Auseinandersetzung ein Neuland,

7. Vgl. hierzu die Seiten der ARMH, , und der Vereinigung despage, .

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das lange Zeit aufgrund der politischen Unwägbarkeiten sehr bewusst gemieden worden war. Bedeutsam ist dieser Vorgang wohl weniger für eine allgemeine Öffentlichkeit als für die individuelle Ebene. Zwar steht die juristische Aufarbeitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen auch jetzt nicht auf der Tagesordnung. Folgt man aber den Stimmen derjenigen, die den unaufgeklärten Verlust eines Angehörigen zu beklagen haben, so geht es heute weniger um Rache und Vergeltung als um Aufklärung und Symbolik. Für viele Betroffene scheint die öffentliche Anerkennung des geschehenen Unrechts in Form einer durch den demokratischen Staat betriebenen Aufklärung jedenfalls der Gesten genug, um mit der jüngsten Vergangenheit ihren Frieden zu schließen. Dabei ist allerdings kaum abzusehen, welche Dynamik und welches tatsächliche Ausmaß die Auseinandersetzung mit den dunkelsten Kapiteln der Zeitgeschichte noch gewinnen kann, zumal die Generation der Zeitzeugen in naher Zukunft endgültig an die natürlichen Altersgrenzen gelangt sein wird. War somit eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten spanischen Vergangenheit bis vor kurzem nicht Thema für eine breitere Öffentlichkeit, so existierten doch stets Rand- und Teilöffentlichkeiten, in denen die Erinnerung an Krieg und Diktatur durchaus präsent war. An vorderster Stelle ist hier neben dem Spielfilm vor allem die Literatur zu nennen, die schon lange vor dem Ende der Diktatur den offiziellen Propagandadiskursen subversive Alternativbilder der spanischen Realität entgegengestellt hat.8 Nach 1975 etablierten sich dann Bürgerkrieg und Franquismus in der Literatur sehr schnell als "Orte der Erinnerung" (Pierre Nora). Neben vielen anderen sei insbesondere verwiesen auf Manuel Vázquez Montalbán, Antonio Muñoz Molina, Rafael Chirbes, Manuel Rivas, Juan Manuel de Prada und neuerdings Andrés Trapiello, Dulce Chacón sowie Javier Cercas.9 Einige dieser Werke sind inzwischen auch erfolgreich verfilmt worden.10

8. Vgl. hierzu etwa Hellberger 1995. Zum Spielfilm über Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Kino und Fernsehen nach 1975 vgl. den sehr gut dokumentierten Beitrag von Rey 2003. 9. Hier eine knappe Auswahl: Antonio Muñoz Molina: Beatus lile (1985); ders.: Sefarad. Novela de novelas (2001); Fernando Diaz-Plaja: Eidesfile de la victoria (1976); Jesús Torbado: En el día de hoy (1979); Manuel Vázquez Montalbán: El pianista (1985); Rafael Chirbes: La larga marcha (1996); Juan Manuel de Prada: Las máscaras del héroe (1996); Manuel Rivas: El lápiz del carpintero (1998); ders.: ¿Qué me quieres, amor? (1996); Andrés Trapiello: La noche de los cuatro caminos. Una historia del maquis (1945; 2001); Javier Cercas: Soldados de Salamina (2001); Dulce Chacón: La voz dormida (2002); Jesús Ferrero: Las trece rosas (2003). Zur romanhaften Verarbeitung der Transition vgl. Juan Luis Cebrián: Francomoribundia (2003). 10. Zum Beispiel Soldados de Salamina (2002), unter der Regie von David Trueba; das Buch zur Entstehung des Films: Javier Cercas/David Trueba: Diálogos de Salamina, un paseo por

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Eine vergleichbare Wirkung wie literarische Verarbeitungen und Spielfilme hatten auch historische Ausstellungen und Dokumentarfilme über die politische Repression, das Exil und den Widerstand der maquis-, und das neu erwachte fachhistorische Interesse hat dem Thema der Vergangenheitsbewältigung letztlich eine breitere Repräsentation in der Öffendichkeit als jemals zuvor verschafft. Was den Zusammenhang von öffendicher Aufarbeitung der franquistischen Repression und Bürgerkriegshistoriographie betrifft, verdient die These von Santos Juliá Aufmerksamkeit: Er bestreitet bekanndich, dass es in Spanien je einen "Pakt des Schweigens" gegeben habe; im öffentlichen Diskurs sei die Erinnerung vielmehr stets präsent gewesen. Erst die Erinnerung habe als stete Mahnung den entscheidenden Impuls für die Aushandlung der Amnestien in der Frühphase der Transition gegeben und jenes "heilsame" Vergessen ermöglicht, durch das der Bürgerkrieg als Argument des politischen Wettbewerbs gebannt werden konnte. Juliá verweist auf die intellektuelle Vorgeschichte der Transition, in der sich die gemäßigten Kräfte innerhalb und außerhalb des Regimes schon lange vor dem Tod des Diktators angenähert und den späteren Versöhnungsdiskurs gewissermaßen mental vorbereitet hätten. Deudichstes Anzeichen dafür war die allmähliche Umdeutung des Bürgerkriegs, der nun — von ideologischer Last und gegenseitigen Schuldzuweisungen befreit — in erster Linie als ein kollektives Unglück betrachtet wurde, für das beide Seiten gleichermaßen Verantwortung trugen. Hinter den aktuellen Erinnerungsansprüchen steht somit, folgt man Juliá (2002), nicht die Ablehnung eines (ohnehin inexistenten) "Verschwiegenheitspaktes", sondern die Aufkündigung des Erinnerungskonsenses der Transition, der eine gleichmäßige Verteilung der Schuld implizierte. Letztere Beobachtung lässt sich durchaus empirisch belegen. Denn in der Tat wurde in den Veröffendichungen der letzten 10 Jahre mit mehr Nachdruck als früher die Illegitimität des Militärputsches von 1936 betont sowie die systematische Repression auf franquistischer Seite herausgearbeitet. Die franquistische Bürgerkriegs- und Nach-Bürgerkriegsrepression wurde geradezu zu einem neuartigen Zweig der Geschichtswissenschaft. Auf der anderen Seite formierte sich auch das konservative Deutungslager. Autoren wie Pío Moa oder César Vidal, die nahezu die gesamte Verantwortung für den Bürgerkrieg bei der Linken abladen, haben mit zahlreichen Publikationen in den letzten Jahren erstaunliche Verkaufsel cine y ¡a literatura (2002). Vgl. auch den Film von Montxo Armendáriz, Silencio roto (2001), über die Guerilla in der Nachkriegszeit und den Dokumentarfilm (Produzent: Montxo Armendáriz; Regie: Javier Corcuera) La guerrilla de la memoria (2002) mit Interviews von Überlebenden des maquis. Vergleichbar in der Anlage (Gespräche mit Überlebenden) ist Jaime Caminos Los niños de Rusia (2001).

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erfolge gefeiert.11 Die relative Interpretationshomogenität ist somit wieder ausgeprägterer Deutungsdiskrepanz gewichen. Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der franquistischen Repressionsvergangenheit in den letzten Jahren zu einem so unerwartet bedeutenden Thema in Spanien wurde, hing damit zusammen, dass von 1996 bis 2004 in Madrid der konservative Partido Populär (PP) unter José Maria Aznar die Regierung stellte. Von Anfang an verhielt sich die PP-Regierung in geschichdichen und geschichtspolitischen Fragen als Sachwalterin des franquistischen Erbes. Auf die Initiativen der Opposition, 60 Jahre nach Kriegsende (1939-1999) das Andenken der Bürgerkriegsexilanten zu ehren und Gelder für deren Entschädigung bereitzustellen, reagierte die Regierungspartei ablehnend — angeblich, weil der Text des Gesetzentwurfs eine Verurteilung des Militärputsches von 1936 enthielt. Auch in der Folgezeit beharrte der PP darauf, dass der Bürgerkrieg eine "überwundene Phase" spanischer Geschichte darstelle. In ihrer zweiten Amtszeit lehnte die Regierung Aznar über 25 parlamentarische Initiativen ähnlicher Stoßrichtung ab. Zivilgesellschaftlich führte diese Regierungshaltung allerdings zu verstärkten, von den Oppositionsparteien zumeist unterstützten Aktivitäten, wie etwa zur Gründung der "Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung". Bis zum Ende der Regierung Aznar im März 2004 behinderte die Exekutive nahezu jegliche Erinnerungsarbeit, die einer Verurteilung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen wäre. Erst die im Frühjahr 2004 nach den islamistischen Terroranschlägen von Madrid überraschend ins Amt gekommene sozialistische Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero schlug eine neue Tonart an und beschloss die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die Vorschläge zur "moralischen und juristischen Rehabilitierung" der Repressionsopfer erarbeiten sollte.

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11. Vgl. exemplarisch Moa 1999, 2004a, 2004b; Vidal 2003.

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VERDRÄNGEN UND SCHWEIGEN

VON DEN KINDERN AN DIE ENKEL: ERINNERUNG UND GESCHICHTE DES SPANISCHEN BÜRGERKRIEGS WÄHREND DER TRANSITION UND IN DER DEMOKRATIE Santos Juliä

Am 11. Januar 1977 fand in Madrid das erste Treffen zwischen vier Vertretern der demokratischen Opposition — Anton Canyellas, Felipe Gonzalez, Julio Jauregui und Joaquin Satrüstegui, Mitglieder der sogenannten Neunerkommission — und dem amtierenden Ministerpräsidenten Adolfo Suarez statt. Anlässlich dieses Treffens wurde nach Aussage des Vertreters des Partido Nacionalista Vasco dem Ministerpräsidenten die Bitte vorgetragen, "für alle zwischen dem 18. Juli 1936 und dem 15. Dezember 1976 begangenen politisch motivierten Straftaten eine Amnestie zu erlassen". Die Vertreter der Kommission waren der Ansicht, dass schon aufgrund der Tatsache, dass 30 Jahre vergangen waren, die vorherigen Begnadigungen und der Umstand, dass manche Vergehen bereits verjährt waren, nicht ausreichten und dass "es einen feierlichen Akt geben müsse, durch den alle Verbrechen und Gräueltaten, die von den beiden Parteien des Bürgerkriegs vor, in und nach dem Krieg bis zum heutigen Tag begangen wurden, verziehen und vergessen würden". Dieses "große Verzeihen und Vergessen", im Rahmen eines Festakts vom König verkündet im Namen von Frieden und Versöhnung würde "gleich am Beginn der neuen Zeit dieser zu Ehre und Ruhm gereichen". Jauregui, der damit ein weit verbreitetes Empfinden zum Ausdruck brachte, wies darauf hin, dass "man mit einer solchen Amnestie denen verziehen hätte, die den Regierungspräsidenten Companys und den Regierungspräsidenten Carrero Blanco töteten, ebenso wie Garcia Lorca und Munoz Seca, den Innenminister Salazar-Alonso und den Innenminister Zugazagoitia, die Opfer

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von Paracuellos und die von Badajoz, den General Fanjul und den General Pita und damit alle, die auf beiden Seiten Verbrechen und Gräueltaten begangen haben" (Jáuregui 1977). Die Medien der Opposition waren sich darin einig, dass allein eine Generalamnestie das Kapitel von Bürgerkrieg und Diktatur endgültig abschließen könne, und nur auf ihrer Grundlage, so meinte man, könne ein verfassunggebender Prozess eingeleitet werden. Für den Fall, dass die Regierung — weil sie bereits im Juli 1976 eine weitgehende Amnestie erlassen hatte oder weil sie möglicherweise starkem Druck von Seiten der Gegner einer Amnestie ausgesetzt war — diese nicht beschließen konnte oder wollte, sollte das Parlament, das aus den Wahlen im Juni 1977 hervorgehen würde, damit befasst werden. So kam es, dass im Mai desselben Jahres, nur wenige Wochen vor den ersten allgemeinen Wahlen, nach der Weigerung des Ministerpräsidenten, dem Begehren der Opposition zu entsprechen, das diesbezügliche Anliegen nunmehr auf das Parlament übertragen wurde. Wenn die Amnestie nicht vor den Wahlen erlassen würde, schrieb Joaquín Ruiz-Giménez (1977), dann müssten sich sämtliche Parteien, die im künftigen Parlament vertreten sein würden, verpflichten, "zuallererst diese zwei wichtigen Gesetze zur nationalen Versöhnung zu verabschieden: das für alle gültige Amnestiegesetz und das Gesetz zur Legalisierung aller politischen Parteien und Gewerkschaften, die zum friedlichen Miteinander bereit sind". Mit dieser Forderung war Ruiz-Giménez, führendes Mitglied des Equipo Demócrata Cristiano eiel Estado Español, nicht allein: Von den Kommunisten bis hin zu den baskischen Nationalisten waren sich alle einig, dass die erste Aufgabe des Parlaments die sein sollte, eine Generalamnestie zu beschließen. Als dann in der ersten Sitzung des ersten nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Parlaments alle Abgeordneten der Oppositionsparteien einstimmig an die Notwendigkeit einer Generalamnestie erinnerten, folgten sie nur einem Drehbuch, das seit den 40er Jahren geschrieben worden war. Einer der Abgeordneten war Xavier Arzalluz, der ankündigte, dass "die baskischen Parlamentarier in ihrer Gesamtheit" der Kammer eine Gesetzesvorlage für eine Amnestie vorlegen würden, "die auf sämdiche politisch motivierten Straftaten, welcher Art auch immer, Anwendung finden muss, die vor dem 15. Juni 1977 begangen wurden". Arzalluz erläuterte, dass er die Amnestie für alle forderte, die einer solchen Tat beschuldigt würden, nicht nur für die Basken unter ihnen, "damit wir eine neue demokratische Epoche beginnen [und] frühere Gegebenheiten vergessen können". Und er fugte hinzu: "Keiner von uns trägt einen Dolch in der Hand, wir wollen auch nicht in der Vergangenheit wühlen. Wir sind hier, um mit dem Blick in die Zukunft ein neues Land aufzubauen, in dem es sich zu leben lohnt und in

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dem alle leben können."1 Nicht anders äußerte sich in derselben Sitzung Santiago Carrillo, als er für das Parlament die Notwendigkeit hervorhob, "den Prozess der Versöhnung aller Spanier" in einer "Amnestie für sämtliche politisch motivierten Straftaten" gipfeln zu lassen. Ihn bewogen dabei dieselben Motive wie Arzalluz: "Wir wissen sehr wohl, dass bestimmte Teile der Gesellschaft sich aufgrund jüngster Vorkommnisse verletzt fühlen können. Uns geht es genauso aufgrund der Attentate, an die wir uns alle erinnern. Aber Ressentiments sind keine guten Ratgeber, wenn es darum geht, den Weg in die Demokratie einzuschlagen."2 Der Prozess der Transition bestärkte also nur eine Haltung, die sich bereits seit den ersten Kontakten zwischen Dissidenten des Regimes und Anhängern der Opposition durchgesetzt hatte: die Uberzeugung, dass der verfassunggebende Prozess, der zum Ziel hatte, in Spanien eine Demokratie zu errichten, eine Amnestie voraussetzte, die unbesehen der Folgen für sämtliche politisch motivierten Straftaten gelten sollte, die vom Beginn des Bürgerkriegs bis zum Tag der ersten allgemeinen Wahlen begangen worden waren. Getragen wurde diese Forderung von der Erinnerung an den Krieg als "sinnloser blutiger Bruderkrieg", womit sich die jungen Studentengenerationen gegen den offiziellen Diskurs stellten, der den Krieg als einen Kreuzzug zur Rettung Spaniens vor dem sicheren Untergang durch das "Anti-Spanien" stilisierte. Die von den Siegern aufgezwungene Erinnerung, von der katholischen Kirche in unzähligen Toten- und Siegesfeiern wachgehalten, enthielt sämtliche Elemente eines Erlösungsmythos und beinhaltete eine Politik der Ausschaltung und Vernichtung des Gegners. Gegen ebendiese Erinnerung rebellierten die "Kinder des Krieges", und indem sie den Krieg als sinnloses Gemetzel erachteten, tilgten sie mit einem Federstrich die von den Eltern so sorgsam abgesteckte Trennlinie zwischen Siegern und Besiegten. Ausgehend von dieser lebensnotwendigen affektiven Aneignung der Vergangenheit — und nichts anderes ist schließlich die Erinnerung —, war das Ziel künftiger Politik vorgegeben: Die Folgen des Bürgerkriegs durften nicht die Zukunft bestimmen, und es durfte nicht unmöglich sein, dass ein Kommunist sich mit einem Katholiken verständigt. Zu den Gründen, welche die Oppositionsparteien 1948 und 1962 bewogen hatten, eine Amnestie zu fordern, kam während der Transition ein weiterer hinzu: Sie würde nicht nur den Weg hin zur Demokratie ebnen, sondern darüber

1. Diario de sesiones del Congreso de Diputados, 5, 27. 7. 1977, S. 84, (20/08/09). 2. Ebd., S. 73.

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hinaus der perversen Dialektik von Gewalt, Repression und erneuter Gewalt den Boden entziehen. Denn der Übergangsprozess, der weit weniger friedlich verlief, als heute gemeinhin behauptet wird, hatte bis zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 200 Menschenleben gefordert. Wenn der Staat — wie es Arzalluz in seiner Wortmeldung im Parlament formulierte — diesen gordischen Knoten durchschlagen würde, dann würde die Demokratie neuerliche Versöhnung und Frieden bringen. Und die Abgeordneten waren überzeugt, dass die Motive, die jemanden dazu bewegen mochten, eine Waffe zu ergreifen und ein Attentat zu verüben, durch die wundersame Wirkung einer Generalamnestie verschwinden würden, da man die ETA-Häftlinge ebenso wie alle anderen wegen terroristischer Akte Angeklagten nach Hause schicken würde. Es war diese Hoffnung, die dem Gesetzentwurf für eine Amnestie, der im Oktober 1977 von allen im Parlament vertretenen Fraktionen mit Ausnahme der Alianza Popular vorgelegt wurde, zugrunde lag. Das Gesetz 46/1977 vom 15. Oktober wurde vom König und vom Parlamentspräsidenten unterzeichnet — nicht, wie die vorherigen Dekrete und Gesetze, vom Ministerpräsidenten oder Präsidentschaftsminister — und bezog sich ausdrücklich auf das, was der Erlass vom Juli 1976 nicht zu berücksichtigen gewagt hatte: politisch motivierte Handlungen, "unabhängig von ihrem Ergebnis, die den Tatbestand einer Straftat erfüllen und vor dem 15. Dezember 1976 begangen wurden [und] sämdiche Handlungen derselben Art, die zwischen dem 15. Dezember 1976 und dem 15. Juni 1977 begangen wurden, wenn die politische Motivation im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der öffendichen Freiheiten oder der Forderung nach Autonomie der spanischen Nationalitäten steht" 3 . Darüber hinaus erstreckte sich die Amnestie auf sämtliche politischen Straftaten, die bis zum 6. Oktober 1977 begangen worden waren, vorausgesetzt, es handelte sich nicht um Anwendung von schwerer Gewalt gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit von Personen. Alle diese Spezifizierungen standen nicht zufällig in Artikel 1 des Gesetzes. Amnestiert wurden in erster Linie die ETA-Häftlinge; in ihrem Gefolge profitierten aber auch die des Frente Revolucionario Antifascista y Patriota (FRAP, Revolutionäre Antifaschistische Patriotische Front), der Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre (GRAPO, Antifaschistische Widerstandsgruppen Erster Oktober) und des Movimiento para la Autodeterminación e Independencia del Archipiélago Canario (MPAIAC, Bewegung für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Kanarischen Inseln), das heißt: sämtliche

3. Boletín Oficial del Estado, 246 de 17/10/1977, (20/08/09).

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Gruppen der extremen Linken und Nationalisten. Wer nicht unter die Amnestie fiel, waren die Urheber des Attentats von Atocha vom Januar 1977 (auch wenn einige von ihnen in der anfänglich herrschenden Konfusion frei kamen), da es unmöglich war, hinter ihrer Tat eine auf die Durchsetzung der öffentlichen Freiheiten oder der Autonomie der spanischen Nationalitäten gerichtete politische Motivation zu entdecken. Erst jetzt kam es zu einem Pakt oder einem Quidproquo zwischen allen im Parlament vertretenen Gruppierungen — mit Ausnahme der Alianza Popular — und damit auch zwischen der Regierung und der Opposition. Denn im Tausch für die Amnestie der aufgrund terroristischer Gewaltakte verurteilten Gefangenen wurde die Amnestie ausgeweitet: in Artikel 2, Absatz e) auf Straftaten, "begangen von Funktionären und Vertretern der öfFendichen Ordnung anlässlich und aufgrund der Untersuchung und Verfolgung der in dieses Gesetz einbezogenen Taten", und schließlich sogar, in Artikel 2, Absatz f)> auf "die Straftaten, begangen von Vertretern der Staatsgewalt gegen die Ausübung der Bürgerrechte". Folglich war dieses Gesetz — das als "Amnestiepakt" gelten kann, da es Straftaten amnestiert, die gegen das Leben und die Integrität von Personen ebenso wie gegen die Ausübung der Bürgerrechte gerichtet sind — nicht das Ergebnis einer einseitigen Entscheidung der Regierung wie die vorherigen Dekrete, sondern ein Gesetz, erlassen vom Parlament, das aus den ersten demokratischen Wahlen hervorgegangen war, und verabschiedet von allen Fraktionen mit Ausnahme der Alianza Popular, die sich der Stimme enthielt. Aber selbst wenn alle Häftlinge entlassen wurden — sogar Miguel Ángel Apalategui, der mutmaßlich an der Entfuhrung des am 22. Juni 1977, sieben Tage nach den Wahlen, ermordeten Javier de Ybarra beteiligt war — , wäre es nicht ganz korrekt zu sagen, dass dieses Gesetz die Vertreter der Staatsgewalt, die auf systematische Weise die Menschenrechte verletzten, und diejenigen, die Opfer dieser Aggression wurden, auf eine Stufe mit denen stellte, die mit friedlichen Mitteln für die dann geltenden Grundrechte gekämpft hatten. Und ebenso wenig kann man sagen, dass aufgrund dieses Gesetzes die institutionelle Gewalt, die von der Diktatur ausging, ungestraft blieb als Gegenleistung für die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Legalisierung der Kommunistischen Partei und die Abhaltung freier Wahlen. All dies hatte man bereits erreicht: Die politischen Gefangenen befanden sich bereits seit Monaten auf freiem Fuß; die Kommunistische Partei war seit einem halben Jahr legalisiert, hatte an allgemeinen Wahlen teilgenommen, und ihre Abgeordneten hatten sich nicht nur der Gesetzesinitiative angeschlossen, sondern waren sogar in effizienter Weise dafür eingetreten; und schließlich hatten bereits in einer Atmosphäre der Begeisterung freie Wahlen

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stattgefunden. Gerade weil diese Wahlen stattgefunden hatten — und nicht, damit sie stattfanden —, konnten die Gruppierungen der Opposition mit Erfolg den Erlass einer Amnestie fordern, die nun aber als erster Schritt in Richtung eines verfassunggebenden Prozesses eine Generalamnestie sein musste. Diejenigen, die durch das vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz auf eine Stufe gestellt wurden, waren die Mörder von ETA, FRAP, GRAPO und MPAIAC auf der einen Seite und die Vertreter der Staatsgewalt, die Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, auf der anderen Seite. Und wenn es einen Pakt gab — was an der Debatte im Parlament deutlich zu erkennen war —, dann mit dem Ziel, alle ETA-Häftlinge aus den Gefängnissen zu holen und als Gegenleistung einer Ausweitung der Amnestie auf Straftaten "institutioneller Gewalt" zuzustimmen. Man könnte meinen, das war ein hoher Preis, denn man verzichtete darauf, alle Amtsträger, die während der Diktatur Grundrechte verletzt hatten, gerichdich zu belangen und die Vergangenheit im politischen Kampf der Gegenwart als Waffe zu benutzen. Das war jedoch nicht die Ansicht derer, die sich in der Debatte im Parlament zu Wort meldeten, denn Männer wie Marcelino Camacho oder Xavier Arzalluz erinnerten sehr wohl an das Leid und an die Folter, die Parteigänger der Kommunisten oder ETA-Aktivisten während der Diktatur erfahren hatten. Auch ETA war nicht dieser Auffassung, sondern begriff die Amnestie als Zeichen der Schwäche der Regierung und entschied, ihre mörderische Kampagne, die zu keinem Zeitpunkt ausgesetzt wurde, sogleich verstärkt fortzusetzen, indem die Organisation in Irán ein Gemeinderatsmitglied ermorden ließ — drei Tage nachdem der letzte baskische Häftling, Francisco Aldanondo Badional, "Ondarru", aus dem Gefängnis entlassen und in seinem Heimatort Ondárroa wie ein Held empfangen worden war. Die Erinnerung an den Bürgerkrieg und an die Diktatur, auf die der Erlass dieser Generalamnestie gründete, war nicht das Resultat einer Amnesie und bedeutete auch keinesfalls ein Schweigen zur Vergangenheit. Wenn dies beständig in allen Publikationen zur Repression behauptet wird, dann wird nicht nur das, was in jenen Jahren geschah, verdreht und verfälscht, sondern auch verschwiegen, wie viel während der Transition über den Krieg und die Repression geschrieben und debattiert wurde. Wenn man Verbrechen der Vergangenheit amnestierte und darauf verachtete, sie als Argument in der politischen Debatte zu verwenden, bedeutete dies nicht, sie der öffentlichen Debatte und der Arbeit der Historiker zu entziehen. In jenen Jahren wurden mehr Zeitschriften zu Themen der Geschichte veröffentlicht und gelesen als heute, allesamt voll von Artikeln und Briefen über den Bürgerkrieg und den Franquismus. Es erschienen Dutzende von Büchern mit den Erinnerungen von Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten, Repu-

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blikanern, Katholiken, Monarchisten und Falangisten. Zeitschriften aus der Zeit der Republik und des Bürgerkriegs wurden nachgedruckt; Romane von Autoren, die bis dahin von der Zensur verboten waren, wurden veröffentlicht. Es wurden Massengräber geöffnet und an vielen Orten Gedenksäulen errichtet. Die Zeitungen schrieben ausfuhrlich über die Rückkehr der Exilierten, der Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kultur ebenso wie der Politik. Kulturzeitschriften und Illustrierte publizierten Dutzende von Artikeln über die Vergangenheit; es gab Tagungen und Vorträge zu den wichtigsten Ereignissen seit der Ausrufung der Republik. Die Buchverlage widmeten sich besonders politischen Themen

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Aktualität und der jüngeren Geschichte; so erschienen die ersten Bücher über die Guerilla, den Widerstand gegen den Franquismus, die Gefangnisse und das Valle

de los Catdos. Von nicht geringerer Bedeutung waren die ersten wissenschaftlichen Debatten über das Franco-Regime, die Wirtschaftspolitik, die Zensur, die Rolle der Kirche. Nichts blieb unerforscht. Was wirklich jene Jahre charakterisiert, waren nicht Amnesie und Schweigen, sondern das Bedürfnis, zu lernen und das Erfahrene weiterzugeben. So wurde ein erstes Kapital an Wissen angehäuft, das seitdem beständig erweitert wurde durch eine erdrückende Menge von Büchern, Broschüren und Artikeln, die heute ein Korpus an Informationen bereitstellen, wie es in dem Umfang zu keiner anderen Epoche unserer Geschichte verfügbar ist. Was die spanische Gesellschaft in Arbeit, Zeit und Geld, in Veröffendichungen, Kurse, Vorträge, Zeitungs- und sogar Fernsehserien zum Bürgerkrieg und zum Franquismus investiert hat, ist unermesslich. Die Bibliographien zu diesem T h e m a enthalten Tausende von Titeln, und diese betreffen Entwicklungen und Ereignisse auf staadicher Ebene ebenso wie in den entlegensten Gemeinden. So könnte man sich fragen, warum seit Jahren unablässig und gewohnheitsmäßig Klage geführt wird gegen das Nichterinnern, das Schweigen, die Amnesie. Es gibt kaum noch eine neue Publikation zur franquistischen Repression, die nicht schon zu Beginn — oft bereits im Titel — Klage erhebt gegen den "Pakt des Schweigens", gegen die kollektive Amnesie, das Vergessen und das Nichterinnern, wodurch den Spaniern in jenen Jahren die Lippen versiegelt worden wären. Von Angst gepeinigt, hätten die Spanier der zweiten Hälfte der 70er Jahre nicht gewagt, zurückzublicken; sie hätten geschwiegen und alles so belassen, wie sie es vorgefunden hatten. D e m vorgeblichen "Pakt des Schweigens" sei es geschuldet, dass der Franquismus den Tod seines Gründers überleben konnte; dass die Spanier, angesichts der "dauerhaft geschlossenen" Archive Opfer einer "Verschwörung gegen die Erinnerung", unter einer "Tyrannei des Schweigens" lebten. Somit sei das politische System, das man in jenen Jahren errichtete, nur eine Fortsetzung des gehabten mit anderen Mit-

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teln gewesen. Die Korruption, der Klientelismus, die Oligarchisierung der politischen Parteien, die vorgebliche Knappheit der im Staatshaushalt für Sozialausgaben vorgesehenen Mittel, das autokratische und präpotente Verhalten der politischen Führer und selbst das Weiterbestehen der ETA werden immer wieder und ohne Notwendigkeit einer Beweisführung damit begründet, dass die Transition vieles versäumt habe und Spanien immer noch unter der Erblast des Franquismus leide. Dieses Bild von der Transition als einer Zeit des Schweigens und der Amnesie, das in der Werbung für all diese Bücher verbreitet wird, ist zu einem nunmehr festen Bestandteil dessen geworden, was man die "Erinnerung der Enkel" nennen kann. So wie sich die Erinnerung der "Kinder des Krieges" in einem Akt der Rebellion gegen den von den Siegern während der langen Jahre der Diktatur aufgezwungenen Diskurs geformt hat, kann man die Erinnerung der Enkel als eine Zurückweisung dessen interpretieren, was die voraufgegangene Generation angeblich vollbracht hat und was als Verzicht und fast als Verrat gesehen wird: verursacht durch eine "Angst vor dem Risiko", die verhindert hätte, dass mit der Vergangenheit gebrochen und mit den Verantwortlichen des Staatsstreichs und damit des Bürgerkriegs und der Diktatur abgerechnet wurde. Weil alle Staatsbeamten am Ende der Diktatur ihre Posten behielten, niemand vor Gericht gestellt wurde und nicht einmal Wahrheitskommissionen eingerichtet wurden, die unter staadicher Aufsicht das zwischen dem 18. Juli 1936 und dem 15. Juni 1977 Geschehene aufarbeiten konnten — das heißt: weil in Spanien während der Transition die Erinnerung kein Ansporn war, um gegenüber den Verfolgten und Unterdrückten moralische Wiedergutmachtung zu leisten —, wird die Ansicht vertreten, dass sich die Erinnerung verdunkelte, dass sie verschwand, dass eine kollektive Amnesie ihren Platz einnahm. Dies erklärt das Entstehen unzähliger Gruppen, die sich das zur Aufgabe gemacht haben, was so oft missbräuchlich als "Wiedergewinnung der historischen Erinnerung" bezeichnet wird. Wiedergewinnen kann man nur etwas, was abhanden gekommen ist. Niemand sagt, dass die Spanier seit den 50er Jahren eine Erinnerung an den Krieg kultiviert hätten, die in der Transition zu einer Versöhnungspolitik gefuhrt hätte. Vielmehr heißt es, aus Angst vor dem Risiko hätten sie es vorgezogen, sich — wie ein bekannter Journalist schrieb — den Parietallappen unter der Schädeldecke, wo das Langzeitgedächtnis sitzt, entfernen zu lassen. Oder es wird gesagt, ihr Interesse hätte sich nach einer kurzen Phase der trotz mancherlei Hindernisse während der Transition initiierten Wiedergewinnung der Vergangenheit schnell erschöpft, verschüttet unter der Gleichgültigkeit, die von den politischen Parteien gefördert wurde. Auf diese Weise geriet die Forderung nach moralischer

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und materieller Wiedergutmachung für die Verfolgten der Diktatur zur politischen Disqualiiizierung der Transition, wobei kurioserweise die Frage der Verlässlichkeit der Erinnerung ebenso übergangen wird wie die Fortschritte in der Forschung, die während der langen Regierungszeit der Sozialisten erreicht wurden. Das Ergebnis ist, dass die Erinnerung von Kindern und Enkeln sich praktisch verkehrt hat: Während die Kinder die Amnestie als eine ihrer großen Errungenschaften — eigentlich sogar als die große Errungenschaft, die den Weg zur Demokratie freimachte — ansahen, halten die Enkel die Amnestie für Verrat, da sie, zur Amnesie entartet, bewirkt habe, dass das Vermächtnis der Sieger überdauerte und die Wiedergutmachung gegenüber den Besiegten wie auch die Anerkennung des Widerstands gegen die Diktatur verhindert wurde. Diese Erinnerung der neuen Generationen mit ihrer Forderung nach moralischer Wiedergutmachung gegenüber den im Krieg Unterlegenen und den während der Diktatur Verfolgten hatte auf die Geschichte — gemeint ist hier die Geschichtsschreibung als wissenschaftliche Disziplin — einen erheblichen Einfluss. Die Zahl der Forschungen zur Repression ist so angestiegen, dass dieses Thema mittlerweile alle anderen Aspekte im Zusammenhang mit der Republik, dem Bürgerkrieg und der Diktatur eindeutig dominiert. Seit den 90er Jahren und ganz besonders seit Beginn des 21. Jahrhunderts reißt die Flut einschlägiger Publikationen nicht ab. Ihnen verdanken wir vor allem eine vollständigere Kenntnis des Regimes der Generäle, die sich gegen die Republik erhoben. Die neuen Generationen von Historikern trennen nicht mehr die Zeit des Bürgerkriegs (19361939) von der des Franco-Regimes (1939-1875), so dass wir heute über Studien verfugen, die mit den Kriegsjahren beginnen und bis in die Zeit des Aufbaus des "Estado Nuevo" reichen. Sie untersuchen die neugegründeten staatlichen Institutionen, das Entstehen einer neuen politischen Klasse, die Konsolidierung eines neuen Herrschaftssystems, die Wechselfalle der Außenpolitik, das Exil, die Wirtschaftspolitik, die kulturelle Produktion, die Rolle der katholischen Kirche, die brutale Repression gegen die Verlierer des Krieges, die Funktionsweise der Gerichte, den Alltag in den Gefängnissen. In all diesen Bereichen ebenso wie im Zusammenhang mit der Konsolidierung des neuen Regimes auf lokaler Ebene hat die historische Forschung der letzten 15 Jahre spektakuläre Fortschritte gemacht. Indem man Bürgerkrieg und Franquismus miteinander verknüpfte, wurde nun aber in vielen Fällen die Problematik des Krieges von der des Regimes überlagert und seine spezifische Form der Gewalt in den Hintergrund gedrängt. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie die Erinnerung an die Besiegten und die Anerkennung der Verfolgten zum zentralen Gegenstand der jüngeren Forschung

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wurde, geraten die Opfer der Repression in der republikanischen Zone immer mehr in Vergessenheit — oder werden der Erinnerungsarbeit der Epigonen des Franquismus überlassen —, entweder indem man ihren Tod unkritisch als nur zufalliges Ereignis darstellt, hervorgerufen durch so etwas wie eine spontane und unkontrollierte Anwandlung von Wut oder Vergeltung, oder indem man das Ausmaß der Verfolgung herunterspielt. Bezeichnend ist, dass der voluminöse

Band Los campos de concentración y el mundo penitenciario en España durante la Guerra Civil y el franquismo, in dem die Vorträge des zu diesem Thema 2002 in Barcelona organisierten Kongresses publiziert wurden, nicht eine Zeile über die Gefängnisse enthält, die während des Bürgerkriegs in der republikanischen Zone existierten, so als hätte es die Zehntausende Menschen, die in diesen Jahren auf dem Territorium der Republik inhaftiert und hingerichtet wurden, nie gegeben. Man könnte sagen, dass über diese Toten bereits genug gesagt wurde, dass sie bereits während der Diktatur Wiedergutmachung erfahren haben. Für einen Historiker kann dies aber keine Entschuldigung sein, denn wir können nicht von der ausschließlichen Wahrnehmung der Toten in der "roten Zone", wie sie während der Diktatur üblich war, übergehen zur ausschließlichen Wahrnehmung der Toten in der "nationalen Zone", so als würde eine vorgeblich demokratische Erinnerung darin bestehen, die von der Diktatur aufgezwungene Erinnerung einfach nur umzukehren. Die Unterordnung der Bürgerkriegsproblematik unter die des Franquismus und der Diktatur hatte eine weitere Konsequenz. So werden alle, die mit der Waffe gegen die aufständischen Militärs kämpften, zu engagierten Streitern für die Demokratie; gleichzeitig werden die komplexen Auseinandersetzungen und internen Konflikte, die während der Republik manifest waren, auf die Verteidigung der Demokratie gegen einen Angriff des Faschismus reduziert. Auf diese Weise öffnet sich ein Graben zwischen der Erinnerung an die Republik im Krieg, die Komplexität und Konflikte eliminiert, und einer Geschichtsschreibung, die genauestens die Rivalitäten untersucht hat, welche zwar nicht zwischen den Kräften, die die Republik zu verteidigen suchten, wohl aber zwischen den einzelnen Parteien und Gewerkschaften existierten. Auf der Seite der Republik kämpften Anarchisten, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialisten, Republikaner, katalanische und baskische Nationalisten, republiktreue Soldaten und sogar einige Katholiken und Konservative. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Organisationen waren zahlreich und führten, wie allgemein bekannt, zu Kriegen innerhalb des Krieges, in denen es um alles andere als die Verteidigung der Demokratie ging. Das Vorhaben, eine "demokratische Erinnerung" schaffen zu wollen — schon der Begriff ist widersprüchlich, da eine Demokratie anders als eine

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Diktatur viele Erinnerungen zulässt — , so als sei alles, was sich auf der Seite der Republik den aufständischen Militärs entgegenstellte, Kampf fiir die Demokratie gewesen, ist ein Anachronismus und recht eigentlich das Erfinden einer Vergangenheit. Zweifellos gab es unter denen, welche die Republik verteidigten, Demokraten; doch waren sie nicht in der Mehrzahl, und es waren auch nicht sie, welche die Kontrolle über die Situation besaßen. Die Tendenz, den Bürgerkrieg im Licht der Diktatur zu sehen, macht sich auch in der Weise bemerkbar, wie dieses Thema von Regierung und Parlament behandelt wird. Vor wenigen Jahren verabschiedete die Verfassungskommission des Parlaments eine Resolution, in der an die "Verpflichtung unserer demokratischen Gesellschaft" erinnert wurde, "allen Männern und Frauen, die Opfer des spanischen Bürgerkriegs wurden, sowie denen, die später unter der Repression der franquistischen Diktatur leiden mussten, moralische Anerkennung zu verschaffen" 4 . Die Unterscheidung zwischen Opfern des Bürgerkriegs und Opfern der franquistischen Repression, wie sie sachgerecht in dieser Resolution getroffen wird, findet sich nicht mehr in dem Beschluss des Ministerrats vom 23. Juli 2004, in dem einer künftigen interministeriellen Kommission die Aufgabe übertragen wird, "einen Bericht über die Rechte zu verfassen, welche bis dahin Personen zuerkannt wurden, die aufgrund ihres Einsatzes für die Demokratie vom Beginn des Bürgerkriegs bis zur vollen Wiederherstellung der öffentlichen Freiheiten repressiven Handlungen ausgesetzt waren"5. Möglich ist, dass mit der Formulierung "aufgrund ihres Einsatzes für die Demokratie" diejenigen gemeint sind, die während des Bürgerkriegs von den Aufständischen bei deren Vormarsch auf republikanisches Territorium ermordet oder exekutiert wurden. Doch das Konzept ist so konfus und anachronistisch, dass es all jene von einer möglichen Rehabilitierung ausschließt, die während des Bürgerkriegs auf republikanischem Territorium ermordet wurden, unabhängig davon, ob sie Anhänger der Aufständischen waren oder nicht. Wurde Andreu Nin aufgrund seines "Einsatzes für die Demokratie" ermordet? Und wenn das, wie offensichtlich ist, nicht der Grund war — hat er deswegen kein Recht auf Wiedergutmachung? Die Opfer des Bürgerkriegs — sei es auf dem Territorium der Republik, sei es auf dem von den Aufständischen kontrollierten Territorium — können nicht genauso behandelt werden wie die Opfer der Repression der Diktatur, die den

4. Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados. Comisiones, 625, 20. 11. 2002, p. 20511, (20/08/09). 5. "Referencia del Consejo de Minstros", 10. 9. 2004. In: (20/08/09).

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Kriegsgerichten eines militarisierten Staates oblag. Nach dem Staatsstreich und der unmittelbar darauf folgenden Revolution wurden Zehntausende Opfer des Bürgerkriegs, obwohl sie weit davon entfernt waren, sich aktiv für die Demokratie oder überhaupt für irgend etwas einzusetzen: Tausende friedliebender Bürger wurden auf Seiten der Rebellen wie auf republikanischer Seite aus ihren Häusern gezerrt und hingerichtet, ohne Gerichtsverhandlung, ohne Urteil, beim geringsten Verdacht, sie könnten mit der jeweils anderen Seite sympathisieren. Ein demokratischer Staat muss die Bürde der gesamten Vergangenheit auf sich nehmen und darf keine Unterscheidung treffen, so wie es die Diktatur tat, die nur die eigenen Toten in Ehren hielt.

BIBLIOGRAPHIE JÁUREGUI, Julio de (1977): "La amnistía y la violencia". In: El País, 18. 5., (20/08/09). RUIZ-GIMÉNEZ, Joaquín (1977): "Al día siguiente". In: El País, 18. 5., (20/08/09).

DEUTSCHE LERNPROZESSE. NS-VERGANGENHEIT UND GENERATIONENFOLGE SEIT 1945 Norbert Frei

Im Unterschied zu den 12 Jahren des "Dritten Reiches" ist die um ein Vielfaches längere Nachgeschichte des Nationalsozialismus erst seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem eigenständigen Thema der zeitgeschichtlichen Forschung in Deutschland geworden. Schon deudich früher galt allerdings die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vielen ausländischen Beobachtern ebenso wie vielen Deutschen selbst als ein charakteristisches Merkmal der politischen Kultur der Bonner Republik. Einen Höhepunkt dieser Fremd- und Selbstwahrnehmung brachte das Frühjahr 1989. Damals wurde die Bundesrepublik 40 Jahre alt, und niemand ahnte, dass ihr im allgemeinen Sprachgebrauch sehr bald schon das Attribut "alt" beigegeben würde. Im Mai 1989 feierte sich die zweite deutsche Demokratie — und ließ sich feiern: "Ein Staat ist angekommen" (Rudolph 1989), so brachte die Süddeutsche Zeitung die Stimmung durchaus optimistisch auf den Punkt. Gemeint war: angekommen bei den Bürgern und angekommen im Westen als ein in vielerlei Hinsicht erfolgreiches und vor allem politisch stabiles Gemeinwesen. Wo nach den Prämissen dieser Erfolgsgeschichte gefragt wurde, lautete die — keineswegs nachrangige — Antwort jetzt immer auch: Zu den Grundlagen dieses Erfolgs gehöre die überzeugende Abkehr von und der fortdauernde selbstkritische Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Rund ein Jahrzehnt später, kurz vor seinem Tod Anfang März 2000, veröffendichte der Kölner Soziologe Alphons Silbermann zusammen mit Manfred Stoffers ein Buch, das die Ergebnisse einer Befragung präsentiert, die erkunden sollte, was "Auschwitz" der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration in Deutschland bedeutet. 72 % der Befragten — und zwar fast unterschiedslos

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durch alle Altersgruppen hindurch — antworteten, sie hielten es "auch heute noch" für "sehr wichtig" oder flir "wichtig", an die (so die Formulierung der Sozialforscher) "Menschenverfolgungen und Massentötungen im Dritten Reich" zu erinnern; weitere 18 % hielten das für weniger wichtig, 9 % hielten es für völlig unwichtig (2000: 230). Im Kern dürfte dieser Befund weiterhin Gültigkeit haben. Vermudich würde sich bei einer erneuten Umfrage eine Mehrheit der Deutschen nach wie vor zu der Notwendigkeit bekennen, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fortzufuhren. Das aber würde nur bestätigen, was wir ohnehin zu wissen meinen: dass sich mit der Erfahrung des Nationalsozialismus auch in einer größer gewordenen Bundesrepublik ein wesendiches Moment ihrer politisch-kulturellen Selbstidentifikation verbindet. In diesem Sinne wurde auch die breite Ablehnung, auf die im Frühjahr 2003 der Irak-Krieg in Deutschland stieß, als Indiz einer historischen Lernleistung gedeutet: als eine Lernleistung überdies, in der die in Ost und West über vier Jahrzehnte durchaus markant verschiedenen Formen der Vergangenheitsverarbeitung1 ihren gemeinsamen Ausdruck gefunden hätten. Als Historiker wird man solchen sehr direkten Kausalitätsvorstellungen mit Vorsicht begegnen. Dafür spricht zum einen, dass der Krieg gegen den Irak auch in anderen europäischen Gesellschaften auf massive Kritik gestoßen ist. Für eine zurückhaltendere Einschätzung spricht aber auch die hiesige Konstellation vor beziehungsweise während des Kosovo-Krieges 1999. Damals gelang es der neuen rot-grünen Bundesregierung bekanntlich, die gerade in ihrer Wählerschaft zu erwartende Opposition gegen eine militärische Intervention in Rest-Jugoslawien weitgehend zu entkräften. Möglich wurde dies unter dem Eindruck eines tatsächlich oder vermeintlich drohenden Volkermords — und in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dadurch, dass der bis dahin nahezu unangefochtene oberste Lernsatz deutscher Vergangenheitsbewältigung eine Zurückstufung erfuhr: An die Rangstelle von "Nie wieder Krieg" trat "Nie wieder Auschwitz". Diese signifikante Umkodierung im historischen Lernprogramm der Deutschen hat seinerzeit keiner offensiver vertreten als ihr notorisch populärer Außenminister. Im Rückblick erweist sich, dass Joschka Fischer damit auf der Ebene der praktischen Politik jenen Wechsel der Deutungsperspektiven vollzog, der sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit längerem vorbereitet hatte — und zwar sowohl generationell als auch kulturell. War in der Debatte um den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr schlagartig offenbar geworden, dass die alten Merksätze vergangenheitskritischen Bewusstseins 1. Vgl. hierzu Danyel 1995; Herf 1998.

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auf die neuen Gegebenheiten und politischen Herausforderungen in Europa nicht mehr recht passten, so hat sich dieser Eindruck seitdem angesichts forcierter Entwicklungen im Bereich der Menschenrechts- und Völkerrechtspolitik verfestigt. Zu nennen sind hier vor allem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sowie das Stockholm International Forum on the Holocaust vom Januar 2000 und die damit verbundenen edukatorischen Bemühungen, einschließlich der Bestrebungen für eine globale Genozidprävention. Wie immer man diese Initiativen und Projekte im Einzelnen bewerten mag: Es zeichnet sich ab, dass der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland von alledem nicht unbeeinflusst bleiben wird. Manches spricht dafür, den Prozess einer Neujustierung des gesellschaftlichen Verhältnisses zu dieser Vergangenheit sogar bereits in vollem Gange zu sehen. Gleichwohl ist schwer zu sagen, wie sich die Zukunft der NS-Vergangenheit gestalten wird2; nicht nur für den Historiker dürfte sich in diesem Zusammenhang die Rekapitulation des Gewesenen empfehlen. Im Folgenden soll deshalb eine Skizze der Geschichte des politischen und kulturellen Umgangs mit der NSVergangenheit in der Bundesrepublik mit einem Vorschlag zur Periodisierung dieser Geschichte verbunden werden.3 Anlass, nach spezifischen Abschnitten in der langen "Nachgeschichte" des "Dritten Reiches" zu fragen, besteht nicht zuletzt angesichts der für ihren Verlauf offenkundig bedeutsamen — und in ihrem Verlauf sich permanent verändernden — Generationenkonstellationen. In der Schlussphase des Abschieds von den Zeitgenossen der NS-Zeit ist dieser bisher wenig beachtete Gesichtspunkt vielleicht sogar von besonderem Gewicht. Hinsichtlich der Periodisierung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit soll eine Phase der politischen Säuberung (1) zwischen 1945 und 1949 unterschieden werden von der mit Gründung der Bundesrepublik beziehungsweise der D D R einsetzenden Phase der Vergangenheitspolitik (2). Letztere prägte maßgeblich die 50er Jahre — nicht nur, aber vor allem im Westen, dessen Betrachtung hier im Vordergrund steht — und wurde seit den späten 50er Jahren sukzessive abgelöst von einer langen Phase der Vergangenheitsbewältigung (3), die erst Ende der 70er Jahre ausklang, insgesamt also etwa zwei Jahrzehnte prägte. Die Zeit danach ist noch weniger leicht auf einen klaren Nenner zu bringen; einem Vorschlag von

2. Vgl. hierzu Knigge/Frei 2002. 3. Die Literatur zu den im Folgenden angesprochenen Einzelthemen wächst derzeit rasch an und kann hier nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Eine Zusammenstellung bis Mitte der 90er Jahre findet sich in Frei 1996. Vgl. darüber hinaus Wolfrum 1999; Reichel 2001; Grillmeyer/Ackermann 2002; Michman 2002; König 2003.

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Aleida Assmann (1999) folgend, soll sie als Phase der Vergangenheitsbewahrung (4) bezeichnet werden. Gemeint ist damit jene bis in die Gegenwart reichende Entwicklung, in der an die Stelle einer bis dahin stark politisch überformten Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit zunehmend das inzwischen vorwaltende Bemühen um ihre kommemorative Vergegenwärtigung trat. Anders gesagt: Der letzte Phasenwechsel ist charakterisiert durch den Übergang vom Erinnerungskampf zur Erinnerungskultur. Im Blick auf diesen Übergang ist die Bedeutung des Generationenaspekts evident. Aber er ist auch in den genannten früheren Phasen auszumachen — sofern man, zugegebenermaßen etwas schematisch, von einer spezifischen Abfolge von Erfahrungsgenerationen ausgeht: — Die erste Generation sind die um 1905 Geborenen, die als die "Generation der NS-Funktionseliten" bezeichnet und recht deutlich abgehoben werden kann von der Generation der zumeist etwas älteren eigentlichen Führungsfiguren der NS-Bewegung. — Als die zweite Erfahrungsgeneration stellen sich die um 1925 Geborenen dar, bis in den allgemeinen Sprachgebrauch hinein bekannt als die "skeptische Generation" der ehemaligen Flakhelfer und jungen Frontsoldaten. — Auch die dritte Erfahrungsgeneration, bestehend aus den um 1945 geborenen Kriegs- und Nachkriegskindern, trägt als "Generation der Achtundsechziger" seit langem ein Etikett. — Bliebe man in dem damit vorgezeichneten 20-Jahres-Rhythmus, so ergäben sich rechnerisch mit den um 1965 und den um 1985 Geborenen zwei weitere Generationen. Leichter als die Benennung von Unterschieden fällt es allerdings, für die heute 40- und 20-Jährigen eine wichtige Gemeinsamkeit zu konstatieren: Beide Alterskohorten haben die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seit ihrer Kindheit als kulturelle Praxis erlebt, und für beide fand diese Lernerfahrung noch in der Gegenwart von Zeitgenossen der NS-Zeit statt.4 Zumindest Letzteres wird für die nächste Generation nicht mehr gelten.

4. Vgl. das unter dem Eindruck der zu Ende gehenden Gegenwart der "Zeitzeugen" verfasste Reportagebuch des 1974 geborenen Journalisten Christoph Amend (2003).

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Deutsche Lernprozesse 1 . D I E P H A S E DER P O L I T I S C H E N

SÄUBERUNG

Die Geschichte des Umgangs mit der NS-Vergangenheit beginnt im Grunde genommen noch wählend des Zweiten Weltkriegs: mit den alliierten Nachkriegsplanungen für Deutschland. Dabei stand die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus weit oben auf der Tagesordnung. Gewiss galt diesem Problem — um es mit dem Titel der berühmten Schrift von Hans Rothfels (1949) zu sagen — auch die Aufmerksamkeit der "deutschen Opposition gegen Hider". Aber im Frühjahr 1945 wurde rasch klar, dass die Alliierten den einheimischen anti- oder nicht-nationalsozialistischen Kräften bei der politischen Säuberung allenfalls eine Nebenrolle unter strenger Aufsicht zubilligen würden. Insofern erscheint es sinnvoll, ja notwendig, die unmittelbaren Nachkriegsjahre als eine erste Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit zu verstehen, in der das Gesetz des Handelns nahezu ausschließlich auf Seiten der Siegermächte lag. Die folgenden Stichworte mögen andeuten, dass es zu kurz greift, diese Phase der Säuberungspolitik allein unter dem vereinfachenden Begriff der "gescheiterten Entnazifizierung" zu betrachten, wie dies in der Historiographie lange üblich war. Denn zwischen 1945 und 1949 wurden nicht nur "Persilscheine" ausgestellt, sondern auch Kriegsverbrecher hart bestraft, NS-Funktionäre zum Teil für Jahre interniert und sogenannte Midäufer in durchaus spürbarer Weise zur Rechenschaft gezogen. Stichwort justitielle Säuberung: Neben und nach dem Nürnberger Prozess gegen 24 fuhrende Repräsentanten von Partei, Staat und Wehrmacht und gegen sechs NS-Organisationen gab es in den drei wesdichen Besatzungszonen Militärgerichtsprozesse gegen annähernd 5.000 Angeklagte, von denen etwa 800 zum Tode verurteilt wurden; mindestens ein Drittel dieser Urteile wurde vollstreckt. In den sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen, welche die Amerikaner allein durchführten, standen 184 ausgewählte Vertreter jener Funktionseliten vor Gericht, die zum Funktionieren des NS-Systems entscheidend beigetragen hatten; vier Fünftel dieser Angeklagten wurden verurteilt, und die Hälfte der 24 Todesurteile wurde vollstreckt. Stichwort Internierung: Gewissermaßen zur Vorbeugung nahmen die Alliierten nach Kriegsende massenhaft ehemalige Parteifunktionäre und SS-Mitglieder in "automatic arrest". Allein in der amerikanischen Zone belief sich die Zahl der Internierten gegen Jahresende 1945 auf etwa 100.000 Personen, und etwa doppelt so viele dürften insgesamt von den Westmächten teils nur für Wochen, teils aber auch bis zu drei Jahre in Haft gehalten worden sein — übrigens zumeist in ehemaligen Konzentrationslagern, bei allerdings besserer Verpflegung und Behandlung.

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Stichwort Mitläufer: Hier ist vor allem an die rigorose Politik der Endassung aus dem öffentlichen Dienst zu erinnern, mit der besonders die amerikanische Militärregierung agierte. Nach zunächst frei verfugten Endassungen, die im Sommer 1945 auch den Briten und Franzosen als ein probates Mittel erschienen, um etwaige politische Widerstände innerhalb der deutschen Verwaltung zu brechen und NS-Seilschaften zu zerschlagen, musste in der US-Zone schließlich jeder Beamte seinen Schreibtisch räumen, der der NSDAP vor dem 1. Mai 1937 beigetreten war. Hunderttausende waren von diesen Maßnahmen zumindest vorübergehend betroffen; und dass es dabei auch zu Ungerechtigkeiten kam, lässt sich leicht vorstellen. Den meisten Deutschen aber kamen diese Fehler, pointiert gesagt, gerade recht, lieferten sie doch Ansatzpunkte fiir eine ebenso intransigente wie rasch einsetzende Kritik, die sich dann nöch vor Gründung des Weststaats zu einem Generalverdikt gegen das gesamte Projekt der politischen Säuberung auswuchs. Generationenbiographisch gesehen, waren die Träger dieser Kritik vor allem die Jahrgänge der um 1905 Geborenen — also die Funktionsgeneration des "Dritten Reiches" — , die neben den etwas älteren Führungsfiguren von der alliierten Säuberungspolitik am stärksten betroffen waren. Betrachtet man dazu die um 1950 herrschende Generationenkonstellation, so kann nicht überraschen, dass die Kritik an der politischen Säuberung praktisch keinen Widerspruch fand: Die um 1925 Geborenen waren noch zu jung, um die Stimme zu erheben; und die vergleichsweise kleine Gruppe der Weimarer Demokraten, welche die Führungspositionen der neuen Demokratie bekleideten, schwieg aus Opportunitätsgründen oder begnügte sich damit, die Forderungen der Säuberungsgegner zu moderieren.

2.

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Es ist dieser Hintergrund einer insgesamt also beileibe nicht unerheblichen, sondern individuell und gesamtgesellschaftlich zunächst durchaus folgenreichen politischen Säuberung, vor dem die zweite Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit verstanden werden muss: die Phase der Vergangenheitspolitik in den 50er Jahren. Pointiert gesagt, ging es in dieser Phase um die Bewältigung der frühen NS-Bewältigung.5 Die vergangenheitspolitischen Forderungen an das Gründungspersonal der jungen Bundesrepublik waren klar: Erwartet wurde ein "Schlussstrich" unter die politische Säuberung, und der Schlussstrich unter die Vergangenheit war davon nicht weit entfernt.

5. Zum Folgenden ausfuhrlich und mit Belegen Frei 1996.

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Tatsächlich standen in Bonn vom ersten Tag an die Zeichen auf Amnestie und Integration. Dies wurden die Leitbegriffe einer (so zwar nicht benannten, aber weitgehend konsensuell praktizierten) Vergangenheitspolitik,

die ihr

ethisch-moralisches Widerlager im 1949 verkündeten Grundgesetz und der darin postulierten normativen Abgrenzung vom Nationalsozialismus fand — und in den Augen vieler ihre "Rechtfertigung" in der von Adenauer betriebenen Politik der Wiedergutmachung und Aussöhnung mit Israel.6 Den Auftakt dieser Vergangenheitspolitik bildete zum Jahresende 1949 ein erstes, vom Bundestag einstimmig im Eilverfahren verabschiedetes Straffreiheitsgesetz, das sämdiche Straftaten amnestierte, die vor dem 15. September 1949 begangen worden waren und mit Gefängnis bis zu sechs Monaten geahndet werden konnten. Die Masse der rund 800.000 Personen, denen es zugute kam, hatte sich wegen nichtpolitischer Delikte aus der Not- und Schwarzmarktzeit zu verantworten. Doch die Amnestie griff ebenso hinsichtlich noch nicht verjährter Straftaten aus der NS-Zeit. Und ein Spezialparagraph begünstigte explizit auch jene nationalsozialistischen Amtswalter, "Goldfasane" und SS-Leute, die es im Frühjahr 1945 vorgezogen hatten, sich durch Annahme einer falschen Identität der Internierung und Entnazifizierung zu entziehen: die geheimnisumwitterten "Illegalen", deren Zahl niemand kannte und die nun doppelt profitierten, weil sie nicht nur der Strafe für ihr Untertauchen entgingen, sondern auch mit einer inzwischen zur Formsache gewordenen Entnazifizierung rechnen durften. Dem Straffreiheitsgesetz folgten auf Druck der rechtsnationalen Klientelparteien FDP und DP — beide in Adenauers Koalitionskabinett vertreten — 1950 mehrere lautstarke Bundestagsdebatten, in denen die "Liquidation" der Entnazifizierung gefordert wurde. Im Dezember 1950 schließlich verabschiedete der Bundestag, wiederum praktisch einstimmig, entsprechende Richdinien, obwohl die Dinge ohnehin nur von den Länderparlamenten geregelt werden konnten und zum Teil durchaus schon geregelt waren. Was in diesen Debatten seinen Ausdruck fand, war besagtes, in der Bevölkerung seit Jahren herangereiftes Schlussstrich-Denken, das sich mit einer ersten Amnestie und dem Aus für die Entnazifizierung jedoch noch keineswegs zufriedengab. Die Versorgung und Wiedereinstellung praktisch all jener 1945 — wie es beschönigend hieß — "verdrängten Beamten" und ehemaligen Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik, 1951 mit dem sogenannten "131er"-Gesetz auf den Weg gebracht, war ein weiteres wichtiges Element dieser Vergangenheitspolitik, in deren Mittelpunkt jetzt allerdings der Kampf um die

6. Dazu im Überblick Hockerts 2001; ausfuhrlicher Goschler 2005.

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Begnadigung und Freilassung der von den Alliierten seit 1945 als Kriegs- und NS-Verbrecher verurteilten Deutschen rückte. In diesem Kontext wurde Anfang der 50er Jahre eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung aufgeboten, die am Ende selbst ruchlosesten NS-Verbrechern zur Freiheit verhalf; sogar Einsatzgruppenfuhrer, die Tausende von Menschen auf dem Gewissen hatten, kamen damals aufgrund massiven politischen und gesellschaftlichen Drucks frei. Besonders auffallig erscheint, dass es zunächst vor allem die Kirchen waren, die sich in dieser Sache exponierten — und zwar nicht etwa aus chrisdich motivierter Gegnerschaft gegen die von den Alliierten anfangs durchaus häufig verhängte und auch vollstreckte Todesstrafe, sondern aus kaum verhülltem nationalen Ressentiment gegenüber einer angeblichen "Siegerjustiz". Dieses Ressentiment verband sich mit einer ebenso aggressiven wie durchsichtigen Instrumentalisierung des sogenannten Kollektivschuldvorwurfs. Mag man auch darüber streiten, inwiefern die alliierte Rhetorik bei Kriegsende in dieser Weise verstanden werden konnte — zu denken wäre hier vor allem an die edukatorische Konfrontation vieler Deutscher mit den Leichenbergen in den befreiten Konzentrationslagern —, so war es in der Praxis der dann folgenden politischen Säuberung doch gerade nicht um kollektive, sondern um individuelle Schuld gegangen; die Entnazifizierung, also das bürokratische Verfahren der massenhaften Prüfung von Einzelfallen, war dafür im Grunde der beste Beweis. Wenn von deutscher Seite gleichwohl in geradezu agitatorischer Weise an der Behauptung eines Kollektivschuldvorwurfs festgehalten wurde, so diente dies der Legitimation der Vergangenheitspolitik weit über den Kreis derer hinaus, die konkret von ihr profitierten. Die Präsenz der Kollektivschuldthese im deutschen Nachkriegsbewusstsein war Ausdruck der fortbestehenden volksgemeinschaftlichen Solidarisierungsbedürfnisse. Ihre ritualhafte Zurückweisung war, weit über die 50er Jahre hinaus, Geschäftsgrundlage jeglichen vergangenheitsbezogenen Redens und Handelns der politischen Klasse der Bundesrepublik. Ahnlich der Kollektivschuldthese erwiesen sich die unablässig ventilierten juristischen und völkerrechtlichen Einwände gegen die alliierten Urteile aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre bei genauerer Betrachtung praktisch ausnahmslos als konstruiert. Ihrer Wirkung auf die deutsche Öffendichkeit tat das jedoch keinen Abbruch; und in dem Maße, in dem die Westmächte schließlich nachgaben, deutete man dies als Eingeständnis von Fehlern und Ungerechtigkeiten. Damit bekräftigte die Freilassung verurteilter Kriegsverbrecher Mitte der 50er Jahre die bei den Deutschen ohnehin bestehende Neigung, den fundamentalen

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Unrechtscharakter des NS-Regimes und seines Eroberungskrieges aus dem kollektiven Bewusstsein auszublenden. Geradezu fatale Konsequenzen zeitigte diese Neigung in der Justiz, zumal dort bekanndich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Unter dem Eindruck der Gnadenwelle und nachdem der Bundestag im Sommer 1954 — wiederum fast einstimmig — ein zweites Straffreiheitsgesetz verabschiedet hatte, sank die Bereitschaft, in NS-Strafsachen überhaupt noch zu ermitteln und zu ahnden, nahezu auf null. Dies ist denn auch der Punkt, an dem die negativen Folgen der Verdrängung am deudichsten zu greifen sind. Denn der faktische Stillstand bei der Ahndung von NS-Verbrechen bedeutete nicht nur eine aktive Begünstigung der Tater, sondern auch die Perpetuierung eines moralischen Zerrüttungszustands durch bewussten Verzicht auf das Bemühen um die Herstellung von Gerechtigkeit. Nun mag man argumentieren, wie schon damals argumentiert wurde: dass dieser Verzicht auf weitere Strafverfolgung zur Befriedung der Gesellschaft und damit zur politischen Stabilisierung beigetragen habe. Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, dass Mitte der 50er Jahre nichts dafür sprach, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik noch als sonderlich prekär zu betrachten. Die übergroße Mehrheit der "Ehemaligen" war vielmehr längst im Begriff, sich in dem neuen System pragmatisch einzurichten und im aufblühenden Wirtschaftswunder ihre Chancen zu nutzen. Wenn also schon nicht der strafrechdiche Ahndungsstillstand die politische Integration eines vergleichsweise kleinen Rests von Ehemaligen befördert hat, dann vielleicht die immerhin schon Anfang der 50er Jahre betriebene Wiedereinstellung des Heers der "131er" die Stabilisierung der Demokratie? Auch dies lässt sich leicht behaupten, aber schwer beweisen. Mindestens ebenso gut kann man die gegenteilige These vertreten: dass diese Beamten sich zu Unrecht in ihrer tradierten, für die Demokratie erwiesenermaßen problematischen Amtsauffassung bestätigt fühlten — und dass durch den "Rückstrom" (Eugen Kogon) Hunderttausender, die nicht allesamt nur als formal, sondern zumindest zum Teil auch als ideologisch belastet gelten mussten, dem Aufbau einer demokratischen Staatsverwaltung eine schwere Hypothek aufgebürdet wurde. Eine nicht weniger negative Bilanz der Vergangenheitspolitik lässt sich hinsichtlich der Gnadenwelle ziehen, von der die verurteilten Kriegsverbrecher profitierten. Die damit verbundene Delegitimierung der im Rahmen der alliierten Prozesse durchaus klar zutage geförderten Verstrickung des Militärs in die Verbrechen des Regimes beförderte die Konstruktion der gegen diese Erkenntnis an-

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gelegten Legende von der "sauber" gebliebenen Wehrmacht in den 50er Jahren. Deren Nachwirkungen reichen, wie die Kontroverse vor allem um die erste der beiden sogenannten Wehrmachtsausstellungen gezeigt hat7, bis in die Gegenwart.

3.

D I E P H A S E DER

VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

Wo aber liegt — angesichts solcher nicht unerheblicher partieller Kontinuitäten — der Bruch mit der Vergangenheitspolitik der 50er Jahre? Wann und mit welchen Gründen lässt sich von einer sich/daran Anschließenden dritten Phase sprechen? Wann setzte ein, was als die Phase der "Vbrgang^nheitsbewältigung" bezeichnet werden kann? Und wer waren die Trägergeneratiönen dieser Veränderung? Um hier Klarheit zu gewinnen, empfiehlt es sich, die Dinge aus einer etwas längeren Perspektive und mit ein wenig Sinn für Dialektik zu betrachten. Denn dann kann man argumentieren, dass es nicht zuletzt jene ausgreifende Vergangenheitspolitik der beiden ersten Bonner Legislaturperioden war, deren politisch-moralisch vielfach skandalöse Ergebnisse seit etwa Ende der 50er Jahre in wachsendem Maße Gegenkräfte mobilisierten. Das Wort von der "unbewältigten Vergangenheit", das damals aufkam, brachte diese Empfindungen auf den Begriff, und von hier aus erklärt sich vieles von dem, was seit Anfang der 60er Jahre als politischer Generationenkonflikt greifbar wurde und schließlich in "Achtundsechzig" münden sollte. Die Phase der "Vergangenheitsbewältigung", die etwa zwei Jahrzehnte andauerte, bezog ihre Impulse aus einer schier endlosen Reihe von Skandalen um personelle und institutionelle Kontinuitäten, die hier nicht im Einzelnen auszufuhren sind und deren seriöse historische Erforschung eben erst beginnt.8 Immerhin lässt sich sagen, dass diese Bewegung, die aus vergleichsweise zaghaften Ansätzen entstand — man denke etwa an die Proteste von Studenten und Professoren gegen die Ernennung eines rechtsradikalen Göttinger Verlegers zum niedersächsischen Kultusminister schon 1955 —, durch eine zunehmende moralische Aufladung gekennzeichnet war. Gemessen an den Protestformen Mitte der 60er Jahre hielten sich die vergangenheitskritischen Aktivitäten der "skeptischen Generation", deren Interesse sich eher auf pragmatische Demokratieaneignung richtete, allerdings noch in engen Grenzen.

7. Vgl. dazu die beiden Ausstellungskataloge des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1996, 2002) sowie aus der Fülle der kontroversen Begleiditeratur zur ersten Ausstellung Donat/Strohmeyer 1997; Kulturreferat der Landeshauptstadt München 1998. 8. Dazu im Überblick Frei 2007; Weisbrod 2002.

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Womöglich hing dies auch damit zusammen, dass entscheidende Anstöße zur Skandalisierung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik ausgerechnet aus der DDR kamen. Ein Regime, das sich selbst auf den längst schon hohl gewordenen Antifaschismus zurückgezogen hatte, entdeckte im Vorwurf der "unbewältigten Vergangenheit" ein vorzügliches Instrument zur politisch-moralischen Diskreditierung der Bonner Demokratie. Mit Kampagnen beispielsweise gegen Hans Globke, den Staatssekretär im Kanzleramt und vormaligen Kommentator der Nürnberger "Rassegesetze", gegen den nationalsozialistischen "Ostexperten" und dann zum Vertriebenenminister berufenen Theodor Oberländer oder ganz pauschal gegen "Hiders Blutrichter in Adenauers Diensten" ließ sich Wirkung erzielen — bei der westdeutschen Jugend ebenso wie im wesdichen Ausland. Instigiert durch die Enthüllung immer neuer biographischer Verstrickungen, zu deren aktenmäßiger Unterfutterung Ost-Berlin nach Kräften beitrug, wuchs der Kreis derjenigen, die sich mit der Forderung nach "Vergangenheitsbewältigung" identifizierten. Intellektuelle wie Theodor W. Adorno und Karl Jaspers, aber auch und nicht zuletzt die junge Disziplin der Zeitgeschichte und eine Reihe liberaler Publizisten mühten sich nun immer stärker darum, in den Medien wie in den Schulen die Aufklärung über die "jüngste Vergangenheit" voranzutreiben. Hinzu kam ein an den skandalösen Unterlassungen der 50er Jahre geschärfter Blick auf die Täter. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, den Fritz Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt mit einer kleinen Gruppe engagierter Kollegen 1963 auf den Weg brachte, markierte die wohl entscheidende gesellschaftliche Wende: Von nun an existierte ein zwar noch minoritäres, aber höchst aktives Netzwerk von Politikern und Juristen, Künsdern und Intellektuellen, das sich den nach wie vor vernehmbaren Forderungen nach einem "Schlussstrich" wirkungsvoll entgegenstellte. Die quälenden, aber letzdich mit der Unverjährbarkeit von Mord entschiedenen Verjährungsdebatten der 60er und 70er Jahre (Miquel 2004) waren fiir diesen gesamtgesellschaftlichen Klimawechsel ebenso ein Beleg wie die kritischen Nachfragen der Kriegskinder an ihre Eltern. Dass die Auskunftsverweigerung der Funktionsgeneration in den 50er Jahren, zusammen mit den überall anzutreffenden wiederhergestellten Personalkontinuitäten, der Achtundsechziger-Revolte in der Bundesrepublik eine sehr spezifische Prägung gab, dürfte die inzwischen angelaufene einschlägige Forschung erweisen. Als prekärster Befund dieser Phase der "Vergangenheitsbewältigung" zeichnet sich allerdings das Faktum ab, dass das Zentralverbrechen der NS-Zeit, der Mord an den europäischen Juden, nur mit großer Verzögerung in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung geriet. Ungeachtet des von der Zeitgeschichtsfor-

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schung und den Medien durchaus schon in den 60er Jahren vermittelten faktischen Wissens bedurfte es einer 1979 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie, um — wie das dazugehörige Taschenbuch (Märthesheimer/Frenzel 1979) dann konstatierte — eine ganze "Nation betroffen" zu machen: über den Holocaust. Die nationalsozialistische Funktions- bzw. Tätergeneration war zu diesem Zeitpunkt bezeichnenderweise bereits im Ruhestand.

4.

D I E P H A S E DER V E R G A N G E N H E I T S B E W A H R U N G

Mit dem neuen Begriff "Holocaust", der Anfang der 80er Jahre rasch an die Stelle der Metapher "Auschwitz" trat, vollzog sich der Übergang in die bald zunehmend deudicher erkennbare vierte Phase der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit. Diese Phase der Vergangenheitsbewahrung ist nicht zuletzt dadurch charakterisiert, dass der Begriff der "unbewältigten Vergangenheit" — gerade als Folge der Enthüllungsdiskurse, deren stimulierende Kraft und katalytische Bedeutung ftir die gesellschaftspolitische Debatte seit den 60er Jahren so bedeutsam gewesen war — nun seinerseits schal zu werden begann und dass der aus dieser Kritik abgeleitete politische Veränderungsanspruch im Zuge des normalen Generationenwechsels seit etwa Ende der 70er Jahre an Brisanz und Überzeugungskraft verlor. Den symbolischen Auftakt dieser neuen Phase bildete eine mehrtägige internationale Konferenz zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme 1983 im Berliner Reichstag (Broszat 1983). Angestoßen durch diesen "runden" Erinnerungstag kam es zu einer deutlichen Intensivierung der einschlägigen wissenschaftlichen und publizistischen Produktion über das "Dritte Reich". War diese zunächst vielfach im Sinne einer Bilanzierung angelegt, änderte sich im Laufe der zwölfjährigen Abfolge von Gedenkanlässen auch der Zugriff auf die Themen. Dabei kristallisierte sich heraus, wie weit man von einer detailgenauen Erforschung der Verbrechen des NS-Regimes noch entfernt war — und dass es gerade diese verstörenden Verbrechen waren und sind, die das Interesse nachwachsender Generationen an der Epoche des Nationalsozialismus immer wieder neu begründen. Ablesbar war dies an der großen Aufmerksamkeit, die 1995 die Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes gefunden haben, kurz davor schon aber an Steven Spielbergs Schindler-Film (1994) und wenig später an Goldhagens Holocaust-Buch (1996). Das fortwährende Bedürfnis gesellschaftlicher Vergewisserung über die Vergangenheit und die in immer kürzeren Abständen eintreffenden Wellen intensi-

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ver öffentlicher Diskussion ließen auch die schmaler werdenden Generationen der Zeitgenossen des "Dritten Reiches" nicht unberührt. So erscheint im Nachhinein bereits der Historikerstreit der Jahre 1985/86 vor allem als eine von den Erfahrungsgenerationen der Flakhelfer und jungen Frontsoldaten geführte Auseinandersetzung über die Präsenz des Nationalsozialismus im Bewusstsein der Gegenwart — und als der gescheiterte Versuch eines Teils dieser Generationen, diese Präsenz zurückzudrängen. Als ein neuerlicher Versuch, dem breiten gesellschaftlichen Interesse an der Vergangenheit Einhalt zu gebieten, erwies sich letztlich auch jenes Insistieren auf seinem Recht zum "Wegsehen", das Martin Walser 1998 in seiner Friedenspreisrede vortrug — wiederum übrigens offensichtlich motiviert durch die eigene Generationenerfahrung. Eine analytisch distanzierte Beschreibung dieser bis in die Gegenwart reichenden vierten Phase fallt naturgemäß nicht leicht. Immerhin lässt sich sagen: Vor dem Hintergrund des sich vollziehenden Abschieds von den Zeitgenossen der NS-Zeit geht es inzwischen weniger um die praktische Bewältigung benennbarer politischer Folgen der Vergangenheit, obwohl auch diese, wie zuletzt die Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zeigte9, noch keineswegs zu Ende ist. Zunehmend in den Mittelpunkt gerät aber vielmehr die Frage, welche Erinnerung an diese Vergangenheit künftig bewahrt werden soll. In diesem Kontext ist der Streit um die Wehrmachtsausstellung ebenso zu sehen wie die über ein Jahrzehnt hinweg intensiv geführte Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal, das zweifellos ein Kristallisationspunkt vergangenheitsbezogener Reflexion bleiben wird — insbesondere auch der Reflexion über die Frage nach dem historischen "Ort" des Genozids an den europäischen Juden. Bot schon der Historikerstreit einen Vorschein dieser Debatte, so hat sie mit der eingangs erwähnten Stockholmer Proklamation vom Januar 2000 eine signifikante Akzentuierung erfahren. Indem sie den Holocaust zur warnenden Botschaft des 20. an das 21. Jahrhundert erklärten, verpflichteten sich die Unterzeichner der Stockholmer Übereinkunft zu neuen Anstrengungen fiir eine "Erziehung über den Holocaust". Dies bedeutet, dass Kenntnisse darüber auch in Ländern vermittelt werden sollen, in denen kein unmittelbarer Zusammenhang mit der eigenen Geschichte besteht. Es geht also tatsächlich um eine Universalisierung der Holocaust-Erinnerung, um ihre Verankerung im globalen Gedächtnis. Aus politischer und edukatorischer Sicht mag man dies begrüßen, vielleicht auch im Rahmen einer emphatischen Zeitdiagnostik (Levy/Sznaider 2007). Aus

9. Vgl. als ersten Überblick mit nützlicher Chronologie und Grundsatzdokumenten Spiliotis 2003.

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geschichtswissenschaftlicher Perspektive stellt sich jedoch die Frage, ob und wie es auf dem Weg in eine solche "Globalisierung" gelingen kann, eine Entkontextualisierung des historischen Geschehens zu vermeiden. Die Risiken einer solchen Entkontextualisierung liegen nicht allein in der damit fast zwangsläufig einhergehenden Verkürzung der Geschichte des "Dritten Reiches" just in jenem Moment, da das Ende der Zeitgenossenschaft die Möglichkeit eröffnet — aber auch die Notwendigkeit begründet —, die historische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht mehr als Kritik an der Bundesrepublik, sondern sui generis zu betreiben (Jeismann 2001). Hinzu kommt, dass eine ganz auf "Globalisierung" gerichtete Gedächtnispolitik zur Uberforderung werden könnte: für die von Deutschland seit 1939 Überfallenen Völker, mehr noch aber für all jene Individuen, die mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs mehr verbindet als ein auf die Zukunft gerichtetes moralisches Postulat — mithin für die letzten Überlebenden und die Nachkommen der Opfer (Chaumont 2001), doch auch für die in der Erbfolge der Täter stehenden Deutschen. Insofern erscheint es gegenwärtig fraglich, ob und wie sich die "deutschen Lernprozesse" aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Zukunft der nächsten Generationen hinein bewahren und entwickeln lassen.

Nachdruck aus dem Buch Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. C. H. Beck Verlag, München 2005, S. 23-40. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages C. H. Beck.

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POLITISCHE KULTUR UND DER FRIEDLICHE WEG IN DIE DEMOKRATIE. ANGST UND VERGESSEN WÄHREND DER SPANISCHEN TRANSITION Alberto Reig Tapia

Die Geschichtsschreibung hat hinreichend gezeigt, dass der Weg der Gewalt zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte, der mit dem Militärputsch 1936 eingeschlagen wurde und zum Bürgerkrieg führte, absolut nichts Positives bewirkte und das größte Drama in der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt.1 Ebenso einhellig vertritt die überwiegende Mehrheit der Historiker die Ansicht, dass die auf den Bürgerkrieg folgende Diktatur insgesamt nicht nur unmenschlich war, sondern als politisches Regime der Gesellschaft auch keinerlei Nutzen brachte, da sie für mehrere Generationen die Uhr der Geschichte anhielt.2 Eine Ausnahme bildet hier der neuerdings in Erscheinung getretene historiographische Neofranquismus eines Pio Moa und der Medien, die ihm als Sprachrohr einer notwendigen — jedoch ebenso inexistenten wie überflüssigen — historiographischen Erneuerung eine Plattform bieten. So als hätten das nicht schon andere früher gesagt, wird uns nun weisgemacht, dass der Bürgerkrieg unvermeidbar war, dass Franco und sein Regime letztlich das geringere Übel waren und dass Spanien, wäre er nicht gewesen, zu einem sowjetischen Gulag geworden wäre (Moa 2004). Ein solchermaßen konstruierter epistemologischer Ansatz ist nicht gerade neu; er zwingt uns aber zu einer kurzen Betrachtung der politischen Kultur in Spanien. 1. Für eine allgemeine Synthese und Bilanz des spanischen Bürgerkriegs innerhalb der umfangreichen Bibliographie zum Thema vgl. Tunön de Lara et al. 1985; Malefakis 1996; Moradiellos 2004. 2. Zum Franquismus vgl. Carr 1996; Garcia Delgado 2000; Moradiellos 2000; Gracia Garcia/Ruiz Carnicer 2001.

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Am Ende des Bürgerkriegs, der den Verlust von 600.000 Menschenleben mit sich brachte, war die Spaltung Spaniens tiefer als am Beginn. Unter diese Zahl fallen nach neuesten Studien nahezu 150.000 Opfer der franquistischen Repression; hinzu kam als nicht minder gravierender Faktor die erlittene Angst und das tiefe Schweigen, mit dem dieses Thema in ganz Spanien belegt wurde (Casanova 2002; Sevillano Calero 2004; Núfiez Díaz-Balart 2004). Angesichts dieser Vorgeschichte und ihrer Auswirkungen erschien die Versöhnung als unerlässliche Voraussetzung für die Wiederherstellung der Demokratie eher als metaphysische Unmöglichkeit denn als zwangsläufige Option eines politischen Realismus. Dennoch wurde relativ früh damit begonnen, in diese Richtung zu arbeiten, zuallererst durch die von der Kommunistischen Partei (Partido Comunista de España, PCE) 1956 initiierte nationale Versöhnungspolitik (Ibárruri et al. 1960). Der "friedliche Weg in die Demokratie" hat also eine lange Vorgeschichte, und es waren die Besiegten des Bürgerkriegs, die ihn als erste beschritten. Natürlich war das siegreiche Spanien nicht gewillt, die Hand zu ergreifen, die ihm jene reichten, welche als die genuinen Vertreter des Bösen im besiegten Spanien galten. Der Sieg war nicht nur total gewesen, er sollte auch endgültig sein. Erst als die Kinder der Sieger und der Besiegten gemeinsam dieselben Transparente trugen und miteinander riefen: "Nie wieder" und "Demokratie ja, Diktatur nein" — erst da konnte der friedliche Weg in die Demokratie beschritten und zu einer festen Größe in der politischen Kultur des Landes werden (Lizcano 1981). Anfangs waren derlei Versuche jedoch die einer Minderheit (Arbeiter und Studenten); erst gegen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre griff die Bewegung auf die gesamte spanische Gesellschaft über (Maravall 1978). Der friedliche Übergang zur Demokratie ist nicht zu verstehen, ohne die Angst zu berücksichtigen, welche die Diktatur in der spanischen Gesellschaft verbreitet hatte und die auf einer bis zum Ende des Regimes wirksamen politischen Repression gründete. Der friedliche Weg war möglich aufgrund der Furcht vor einem neuen Bürgerkrieg, der die älteren Generationen umtrieb. Wie die Untersuchungen zur Rolle der historischen Erinnerung während der transición zeigen, war es für viele in erster Linie die "Zuflucht zum Schweigen" oder "Entsagungen, die schließlich in Frustrationen umschlugen", was die friedliche Konsolidierung einer Demokratie in Spanien ermöglichte (Aguilar Fernández 1996: 361). Dies alles geschah zum Nachteil der notwendigen und legitimen Rückgewinnung der demokratischen Erinnerung, was uns unweigerlich zur komplexen Fragestellung der Geschichte und Erinnerung des Bürgerkriegs fiihrt (Reig Tapia 2000). Unsere historische Erinnerung kann nur die Wiederaneignung einer traumatischen Vergangenheit sein; das heißt, es geht um etwas, das allein die Justiz und die

Politische Kultur und der friedliche Weg in die Demokratie

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Politik betrifft, während die Geschichte die Rekonstruktion und objektive Interpretation dieser Vergangenheit ist und die Historiker betrifft. Die Rolle von Erinnerung und Geschichte im Prozess der demokratischen Transition ist von großem Interesse und seit längerem Gegenstand der akademischen Forschung in den Ländern, die unserem Kulturkreis angehören; in Spanien stehen wir aus politischen ebenso wie strikt wissenschaftlichen Gründen hingegen noch am Anfang.3

1 . D I E POLITISCHE K U L T U R UND DIE T R A N S I T I O N

Der friedliche Weg in die Demokratie war möglich, weil es in Spanien bereits vor der Transition eine verdeckte demokratische politische Kultur gab. Ohne sie wäre es nicht gelungen, jenen Pakt auszuhandeln, der den Übergang von der Diktatur zur Demokratie gestattete (Lopez Pina/Aranguren 1976; Lopez Pintor 1982, 1987). Allerdings waren die demokratischen Kräfte nicht stark und die politische Kultur nicht tragfähig genug, um eine Rechnung aufzumachen: keine historische, die Sache der Historiker ist, wohl aber eine moralische und politische Rechnung, die seit der Zeit der Diktatur aussteht. Jetzt scheint der Moment gekommen, die demokratische Erinnerung, die während der dunklen Zeit des Franquismus unterdrückt und geschmäht wurde, offen einzufordern. Zweifellos speiste sich der Franquismus aus einer Reihe von Wertvorstellungen, Überzeugungen und politischen Ideen, so wie jede Kultur auf Grundannahmen fußt, die tief verwurzelt sind und denen man über eine bestimmte Ideologie Allgemeingültigkeit verleihen möchte. Das herausragende Moment des Franquismus war der eisern geführte Feldzug gegen die Werte von Liberalismus und Demokratie, die Toleranz und Pluralismus beinhalten und die von den franquistischen Ideologen für alle Übel Spaniens verantwortlich gemacht wurden. Die Doktrin und die autokratische Disposition des Franquismus waren ganz offen-

3. Dies zeigte sich während des Kongresses zu "Movimientos sociales por la Memoria en España. Trayectoria, balance y perspectivas" (Soziale Bewegungen für die Erinnerung in Spanien. Entwicklung, Bilanz und Perspektiven), der am 19. und 20. Mai 2 0 0 5 in der Universidad Complutense in Madrid am erst kurz zuvor eingerichteten Lehrstuhl "Historische Erinnerung des 20. Jahrhunderts" von Julio Aróstegui organisiert worden war. Die Vorträge von Juan J . Carreras, "¿Por qué hablamos de Memoria cuando queremos decir Historia?" (Warum sprechen wir von Erinnerung, wenn wir Geschichte meinen?) und Juan Sisinio Pérez Garzón, "Memoria y políticas de la Memoria" (Erinnerung und Erinnerungspolitik), sowie die sich anschließende Diskussion machten die begriffliche Konfusion und die Widersprüche deudich, die es bei diesem Thema selbst unter interessierten Fachkollegen gibt.

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kundig die eines jeden Totalitarismus, dies sowohl während des Reifungsprozesses als auch in der Phase seiner Vollendung (Ramírez 1978; Reig Tapia 1996; Preston 2002). Folglich kann man sagen, dass es unter Franco statt einer politischen Kultur eine politische Indoktrinierung und ideologische Legitimierung des franquistischen caudillismo gab, wodurch aber trotz der langen Dauer des Regimes die Spuren der politischen Kultur, welche die Republik ermöglicht hatte und die man nach dem Bürgerkrieg mit Stumpf und Stil auszurotten suchte, nicht gänzlich getilgt wurden. Es zeigte sich, dass eine politische Kultur nicht radikal ausgemerzt und die kollektive Erinnerung nicht komplett ausgelöscht werden kann. Die faschistischen oder kommunistischen Regime haben dies erfolglos versucht. Die geltenden Gesetze können abgeschafft und durch neue ersetzt werden, deren Beachtung sogar mit Gewalt erzwungen werden kann; doch die Grundstruktur der darunterliegenden Kultur kann nur über mehrere Generationen hinweg verändert werden. Die Werte, Einstellungen und Erwartungen der Bürger sind tief verwurzelt und "verändern sich nicht kurzfristig dank eines neuen politischen Systems" (Botella 1997: 36). Dies gelang weder den kommunistischen Regimen, die nicht einmal ernsthaft versuchten, entsprechend ihrem revolutionären Programm den "neuen Menschen" zu schaffen, noch dem Franquismus, der einen neuen spanischen Archetypus herausbilden wollte: halb Mönch, halb Soldat. Die politischen Eliten, die den Tod des Diktators überlebten, mussten sich schnell wieder auf die alten demokratischen Werte umstellen, die sie für immer hatten ausmerzen wollen. Wenn anlässlich der ersten demokratischen Wahlen am 15. Juni 1977 die Mehrheit der Analysten dies bedacht hätte, wäre sie über das Ergebnis nicht derart überrascht gewesen, denn es lieferte grosso modo ein Abbild der Stimmenverteilung von 1936, allein mit der Variante einer gemäßigteren Tendenz, die der ökonomischen Entwicklung geschuldet war und als eines der Hauptmerkmale der politischen Kultur in Spanien seit Beginn der Transition gelten kann.4 Als Folge des Bürgerkriegs und der so lange andauernden Diktatur erlebte Spanien in nahezu allen Bereichen eine verspätete Entwicklung. Der Franquismus war absolut nicht daran interessiert, eine politische Kultur bereitzustellen, die es den Menschen erlaubt hätte, ein Bewusstsein als Staatsbürger zu entwickeln. Zwar stellte das Regime ein paar Falangisten ab, die in den Klassenräumen zwecks

4. Dies belegt eine Umfrage des Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS), bei der zwischen dem 9. und 14. Dezember 2000 in 168 Munizipien in 46 Provinzen 2.486 Personen befragt wurden (Centro de Investigaciones Sociológicas 2000).

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Indoktrinierung das Fach "Erziehung im Geist der Nation" zu unterrichten hatten und sich dadurch ein paar Peseten hinzuverdienen konnten; doch die "in Spanien anstehende Revolution", die ehemalige, zum Glauben des "Neuen Staates" übergetretene Falangisten zu Propagandazwecken lauthals verkündeten, wurde ad calendas graecas verschoben, da sie in der Gesellschaft nicht den geringsten Rückhalt fand und nach der Niederlage der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg auch nicht mehr mit der pragmatischen und opportunistischen Politik Franco-Spaniens vereinbar war. Die geplante politische Indoktrinierung des Franquismus scheiterte kläglich. Diejenigen, die sie auf der Schulbank erlebten, konnten mit einem Spott darauf reagieren, der weitaus entlarvender ist als die einschlägigsten empirischen Studien (Sopeña Monsalve 1994). In der Universität war das Fiasko noch deutlicher. Als 1944 die Fakultät für Politikwissenschaft sowie Volks- und Betriebswirtschaft geschaffen wurde, verkündete im Rahmen seiner Eröffnungsrede der damalige Bildungsminister José Ibáñez Martín den Willen, "politisch denkende Menschen im gesunden Sinn des Wortes zu erziehen" und für die Abteilung Politikwissenschaft den besonderen Auftrag der "Heranbildung von Führungskräften in Politik und Verwaltung".5 Bedenkt man, dass dieselbe Fakultät zu einer der wichtigsten Brutstätten des studentischen Widerstands gegen Franco wurde, kann man in der Tat sagen, dass die Absicht, eine bürokratische Elite zu schaffen, die mit den politischen Idealen des Regimes übereinstimmte und diesem bedingungslos ergeben sein würde, jämmerlich scheiterte. Denn Jahr um Jahr drängten Massen von "Roten" auf den Arbeitsmarkt, die ihre universitäre Ausbildung an dieser Fakultät enthalten hatten — die Fakultät, an der wir demokratische Kultur erfahren durften. Die politische Orthodoxie des Franquismus hatte ebenso wenig eine Zukunftschance wie eine politische Kultur der Konfrontation von Siegern und Besiegten, Helden und Mördern, Menschen mit moralischer Gesinnung und Verbrechern. Dies wurde umso deutlicher, je weiter sich die spanische Gesellschaft entwickelte und sich dank der Herausbildung einer breiten Mittelschicht das wirtschaftliche und soziale Gefalle zwischen den sozialen Klassen verringerte. Mit Blick auf die politische Kultur ist das franquistische Erbe aber noch keineswegs in der Weise überwunden, wie es den Parametern einer Demokratie, die ihren Namen verdient, entspricht; und dies gilt nicht nur für diejenigen, die Schaden genommen haben, sondern auch fiir jeden konsequenten Demokraten. Damit ist das Erbe gemeint, das politisch begründet werden kann; die Geschichte ist so, wie sie ist, und niemand kann sie nach seinem Belieben oder seinen Interessen 5. Zitiert nach Pastor (1994: xi).

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verändern. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier aber nachdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der Behauptung eines negativen franquistischen Erbes der Prozess der spanischen Transition nicht entwertet werden soll, nur weil er nicht imstande war, dieses Erbe zu tilgen.

2 . D E R F R I E D L I C H E W E G IN D I E D E M O K R A T I E

Die Bilanz der Transition ist insgesamt positiv. Etwas völlig Neues aus dem Nichts heraus aufbauen zu wollen, kommt einer Chimäre gleich, wie die revolutionären Prozesse, die es weltweit gegeben hat, deudich machen. Der "Adamismus" erweist sich immer als gefährlich, besonders in der Politik. Daher war die Entscheidung nicht für einen radikalen Bruch, sondern für einen reformistischen Kurs richtig, machte man doch aus der Not eine Tugend. Doch die LinksRegierungen waren allzu tolerant und nachsichtig gegenüber dem, was der Franquismus in Spanien repräsentierte, einzig darauf bedacht, den als sakrosant geltenden Konsens, der die nicht weniger als sakrosant erachtete Transition ermöglichte, zu sprengen. Andererseits war es so, dass jede andere Vorgehensweise möglicherweise gescheitert wäre, so dass der Weg, für den man sich entschied, unvermeidlich war: ein Preis, den man unter anderem deshalb zahlen musste, weil die Linke im Parlament nicht stark genug vertreten war, um einen anderen Weg zu wählen. Die getroffene Entscheidung war notwendig, damit der Übergang zur Demokratie erfolgen konnte, ohne dass — wie schon so häufig in der Geschichte des Landes geschehen — der begonnene Modernisierungsprozess mit Gewalt unterbrochen wurde und einen Rückschritt erlebte. Andererseits war die auf Seiten der Regierungen unter Felipe Gonzalez gleichermaßen getroffene Entscheidung, sich hinsichdich der so notwendigen wie gerechten Rückgewinnung der demokratischen Erinnerung zurückzuhalten, ein Irrtum, wie die späteren Ereignisse zeigen sollten und wie González schließlich öffentlich bekannte (González/Cebrián 2001: 35). Und Alfonso Guerra, seine rechte Hand während der sozialistischen Regierungen, teilt diese Meinung, wenn er sagt: Die Transition legt fest, dass keine strafrechdich oder politisch relevanten Forderungen an die Vergangenheit gestellt werden. Ich glaube, dadurch entstand eine Lücke, die nicht richtig geschlossen wurde, man hätte dem Franquismus den politischen Prozess machen müssen. Indem dies nicht geschah, entstand der Eindruck des Vergessens: ein Pakt des Schweigens, den es nicht gab, auch wenn einige behaupten, es hätte ihn gegeben (in: Sotillos 2005: 32).

Politische Kultur und der friedliche Weg in die Demokratie

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Mit anderen Worten: Hinsichtlich der historischen Erinnerung gab es zwar kein verordnetes Schweigen — das durchzusetzen unmöglich gewesen wäre — , wohl aber einen politischen Verzicht auf Seiten der Regierung und des Staates. Daher war die Transition trotz der unvermeidlichen Kompromisse für die Mehrheit vorbildlich; weniger vorbildlich war sie dagegen aus der Perspektive der demokratischen politischen Kultur. Wenn man bedenkt, dass, nachdem die Transition uneingeschränkt auf Beifall gestoßen ist, die geringste Kritik an irgendeinem ihrer Aspekte augenblicklich zur intellektuellen Disqualifizierung oder Missachtung fuhrt, dann sollte man bemüht sein, zwischen der Kritik an Fakten und der Kritik an Personen zu unterscheiden, um nicht alles in einen Topf zu werfen und unter dem Vorwurf des politischen Radikalismus oder der manifesten Ignoranz jedwede Kritik zurückzuweisen. Kulturkritik birgt immer Gefahren in sich: Man mag versucht sein, die Kultur einer Nation zu vereinheitlichen, indem man die spezifische Kultur widerständiger Gruppen zerstört oder negiert (so ist die Kultur der Sieger mit jener der Besiegten nie deckungsgleich, was auch auf die jeweiligen ideologischen Erben zutrifft); mehr oder weniger anerkannte orthodoxe Meinungen zu wiederholen und dabei jede Möglichkeit eines (immer heterodoxen) Neuansatzes außer Acht zu lassen; die komplexeren Produkte der Hochkultur denen der zugänglicheren Massenkultur anzugleichen (Historiographie vs. kollektives Gedächtnis); andere dazu zu bringen, dass sie bestimmte ideologische Grundannahmen unhinterfragt akzeptieren und dabei jede Möglichkeit der Kritik verwerfen (offizielle Geschichte vs. gelebte Geschichten); das historische Bewusstsein der Vergangenheit durch ein Übermaß an Information zur Gegenwart zu behindern oder zu kontaminieren. Mit anderen Worten: Bewusst oder unbewusst neigt man dazu, mehr oder weniger offizielle, in unserer Erinnerung gespeicherte Schemata zu bestätigen, was notwendigerweise zu passiven Verhaltensweisen und konformistischen Einstellungen fuhrt. Vielleicht sollte man hier, statt zwischen "Apokalyptikem" und "Integrierten" zu unterscheiden, wie es Umberto Eco in seiner brillanten Studie zur Kritik der Massengesellschaft (1984) tut, von Kritikern sprechen, die entweder "rekuperabel" oder unwiederbringlich verloren sind — je nachdem, ob sie sich zum mehr oder weniger offiziellen Lob auf die Transition bekennen. Nach Ausschluss der extremen ideologischen Positionen scheint sich die Frage in ihrem Kern darauf zu beschränken, ob man nun die Ansicht vertritt, es habe "zu viele" oder nur "einige wenige" mehr oder weniger unvermeidliche Zugeständnisse gegeben, die den Prozess der Transition belasten.

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Alberto Reig Tapia

War es wirklich so? Innerhalb der Gruppe der Geschädigten müssen diejenigen genannt werden, die verfolgt worden waren, weil sie ebenjene Ideen verteidigt hatten, die dann nach ihrer Verankerung in der mehrheidich angenommenen Verfassung nicht einmal der öffendichen Bestätigung durch die Autorität der Regierungen bedurften. Den Opfern des Franquismus und den Erben ihrer Erinnerung wird erst seit kurzem von der Gesellschaft die Aufmerksamkeit zuteil, die ihnen gebührt. Wenn wir die politische Würdigung und gesellschaftliche Anerkennung, die Russland, Deutschland, Frankreich oder Italien ihren antifaschistischen Kämpfern entgegenbringt, mit dem vergleichen, was Spanien seinem antifranquistischen Widerstand bislang geboten hat, dann kann man dies nur sinnbildlich vergleichen mit der einsamen Ödnis der Landschaft in der Lyrik Antonio Machados. Wir sind uns natürlich dessen bewusst, dass es nicht allzu viele Parallelen zwischen Spanien und den anderen totalitären Staaten gibt, denn schließlich endete der Faschismus in Deutschland urid Italien 1945 infolge des Zweiten Weltkriegs, während in Spanien der Ablösungsprozess erst 30 Jahre später einsetzte. Dies erfolgte zudem auf friedlichem Wege und über eine breite Konsensbildung als Reformprozess und nicht als Ergebnis eines Krieges, sondern infolge der Hinfälligkeit, Krankheit und schließlich des Ablebens von Franco. Sein Sterben erschien endlos wie die Diktatur, die er errichtet hatte und die er bis zur letzten Sekunde seines Lebens und sogar noch eine Sekunde darüber hinaus aufrechtzuerhalten verstand. In der Tat war die demokratische Opposition erst imstande, ein gemeinsames Aktionsprogramm zu beschließen, als schon mehrere Monate seit dem Tod des Generalísimo vergangen waren. Den Zeitpunkt seines Todes hatte man um ein paar Stunden verschoben, ohne dass ganz klar wäre, warum: Vielleicht log man aus Gewohnheit oder aber in der Hoffnung, der Schöpfer und Garant des Regimes könnte doch noch einmal auferstehen, so wie er es im Sommer 1974 nach einer schweren Venenentzündung geschafft hatte. Nach dem Tod des Diktators war die spanische Gesellschaft so reif für die Demokratie, wie es ihr aufgrund der Umstände eben möglich war. Die Angst davor, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, war der entscheidende Faktor, der die Menschen auf dem Weg in die Freiheit und Demokratie zugleich lähmte und mäßigte. Mittlerweile ist viel über die Transition geschrieben worden, und es gab mancherlei Polemik im Zusammenhang mit ihren negativen Aspekten; verwiesen sei hier nur auf die Konfrontation zwischen dem Politologen Vicen