Kritischer Rationalismus: Sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen Gesellschaft [Reprint 2017 ed.] 9783486800586, 9783486251166

Das Lehrbuch, das neuartige Zugänge bietet, die sowohl die Politikgestaltung beeinflussen, als auch der Politikwissensch

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German Pages 344 [352] Year 1999

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Kritischer Rationalismus: Sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen Gesellschaft [Reprint 2017 ed.]
 9783486800586, 9783486251166

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
1. KAPITEL: EINLEITUNG: PROBLEMDIMENSIONEN DES KRITISCHEN RATIONALISMUS
2. KAPITEL: ALEXIS DE TOCQUEVILLE: FREIHEIT ALS PRAXIS. BEOBACHTUNGEN UND ANALYSEN DER ENTSTEHENDEN MASSENDEMOKRATIE
3. KAPITEL: JOHN STUART MILL: FREIHEIT – REPRÄSENTATION – GLÜCK
4. KAPITEL: DIE VERNUNFT- UND FRIEDENSBEZOGENE POLITISCHE PHILOSOPHIE VON IMMANUEL KANT ALS ORIENTIERUNGSNORM
5. KAPITEL: FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK: FREIHEIT UND SPONTANE ORDNUNG
6. KAPITEL: RALF DAHRENDORF: KONFLIKT UND FREIHEIT IM RAHMEN DER BÜRGERGESELLSCHAFT
7. KAPITEL: ZUR DEMOKRATIETHEORIE BEI KARL R. POPPER – EINIGE VERNACHLÄSSIGTE DIMENSIONEN
8. KAPITEL: DIE ALTERSPHILOSOPHIE POPPERS: DAS SCHEINWERFERMODELL, DER BAUM DER ERKENNTNIS UND DIE WELT 3
9. KAPITEL: HANS ALBERT: KRITISCHE VERNUNFT UND RATIONALE PRAXIS
10. KAPITEL: KRITISCHER RATIONALISMUS UND SOZIALDEMOKRATIE – EINE LEIDENSCHAFTLICHE, ABER NUR KURZE AFFÄRE
11. KAPITEL: ANSÄTZE ZUR DIFFERENZIERTEN FORTFÜHRUNG UND METAKRITIK DES KRITISCHEN RATIONALISMUS
12. KAPITEL: DIE LOSLÖSUNG BEI PAUL FEYERABEND: ERKENNTNIS FÜR FREIE MENSCHEN
13. KAPITEL: KRITISCHER RATIONALISMUS UND POLITIKWISSENSCHAFT
LITERATURÜBERBLICK
LITERATURVERZEICHNIS
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Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von

Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Bellers, Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich Bellers • Kipke, Einführung in die Politikwissenschaft, 3. Auflage Gabriel • Holtmann, Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage Glöckler-Fuchs, Institutionalisierung der europäischen Außenpolitik Jäger • Welz, Regierungssystem der USA, 2. Auflage Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik, 2. Auflage Lietzmann • Bleek, Politikwissenschaft - Geschichte und Entwicklung Mohr (Hrg. mit Claußen, Falter, Prätorius, Schiller, Schmidt, Waschkuhn, Winkler, Woyke), Grundzüge der Politikwissenschaft, 2. Auflage Naßmacher, Politikwissenschaft, 3. Auflage Pilz • Ortwein, Das politische System Deutschlands, 2. Auflage Schmid, Verbände Schumann, Repräsentative Umfrage, 2. Auflage Sommer, Institutionelle Verantwortung Wagschal, Statistik für Politikwissenschaftler Waschkuhn, Demokratietheorien Waschkuhn, Kritischer Rationalismus Waschkuhn • Thumfart, Politik in Ostdeutschland Woyke, Europäische Union

Kritischer Rationalismus Sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen Gesellschaft

Von

Univ.-Prof. Dr. Dr. habil. Arno Waschkuhn

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Für Urmeli und Elvis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Waschkuhn, Arno: Kritischer Rationalismus : sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen Gesellschaft / von Arno Waschkuhn. - München ; Wien : Oldenbourg, 1999 (Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft) ISBN 3-486-25116-3

© 1999 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Hofmann-Druck Augsburg GmbH, Augsburg Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-25116-3

INHALTSVERZEICHNIS

1. Kapitel. EINLEITUNG: PROBLEMDIMENSIONEN DES KRITISCHEN RATIONAUSMUS 2. Kapitel: ALEXIS DE TOCQUEVILLE: FREIHEIT ALS PRAXIS. BEOBACHTUNGEN UND ANALYSEN DER ENTSTEHENDEN MASSENDEMOKRATIE 3. Kapitel: JOHN STUART MILL: FREIHEIT - REPRÄSENTATION - GLÜCK 4. Kapitel: DIE VERNUNFT- UND FRIEDENSBEZOGENE POLITISCHE PHILOSOPHIE VON IMMANUEL KANT ALS ORIENTIERUNGSNORM 5. Kapitel: FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK: FREIHEIT UND SPONTANE ORDNUNG 6. Kapitel: RALF DAHRENDORF: KONFLIKT UND FREIHEIT IM RAHMEN DER BÜRGERGESELLSCHAFT 7. Kapitel: ZUR DEMOKRATIETHEORIE BEI KARL R. POPPER - EINIGE VERNACHLÄSSIGTE DIMENSIONEN 8. Kapitel: DIE ALTERSPHILOSOPHIE POPPERS: DAS SCHEINWERFERMODELL, DER BAUM DER ERKENNTNIS UND DIE WELT 3 9. Kapitel: HANS ALBERT: KRITISCHE VERNUNFT UND RATIONALE PRAXIS 10. Kapitel: KRITISCHER RATIONALISMUS UND SOZIALDEMOKRATIE - EINE LEIDENSCHAFTLICHE, ABER NUR KURZE AFFÄRE 11. Kapitel: ANSÄTZE ZUR DIFFERENZIERTEN FORTFÜHRUNG UND METAKRITIK DES KRITISCHEN RATIONALISMUS 12. Kapitel: DIE LOSLÖSUNG BEI PAUL FEYERABEND: ERKENNTNIS FÜR FREIE MENSCHEN 13. Kapitel: KRITISCHER RATIONALISMUS UND POLITIKWISSENSCHAFT Literaturüberblick Literaturverzeichnis Register

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VORWORT

Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie hängen eng miteinander zusammen. Das ist eine Grundüberzeugung des kritischen Rationalismus, die wir in diesem Buche näher ausführen. Allerdings liegt der Schwerpunkt auf den gesellschafts- und demokratietheoretischen Entwürfen, weniger auf den epistemologischen Ein- und Ansichten. Auch beschränken wir den kritischen Rationalismus nicht auf den Hauptvertreter Karl Raimund Popper und seine Explikationen, sondern es kommen weitere Protagonisten und auch dezidierte Kritiker zu Wort, die selbst dieser Ausrichtung einmal nahestanden. Ferner werden auch Klassiker des politischen Denkens bemüht, auf die im Kontext des kritischen Rationalismus immer wieder Bezug genommen wird, ohne daß diese in dieser Hinsicht bislang genauer gewürdigt wurden. Dieses Lehrbuch bietet insgesamt neuartige Zugänge, die sich sowohl auf Formen der Politikgestaltung richten als auch der Politikwissenschaft ein komplexes kritisch-rationales Handlungs- und Orientierungswissen bereitstellen. Natürlich sollte dieses Buch im Zusammenhang gelesen werden, zumal es sequentiell aufgebaut ist. Die einzelnen Kapitel sind aber auch so gehalten, daß sie jeweils für sich stehen können, um selektiven Interessen oder bestimmten Vorlieben Rechnung zu tragen. Zwar ist mit meiner Studie ein informativer und gehaltvoller Überblick über politiktheoretische Belange des kritischen Rationalismus beabsichtigt, aber ohne eine intensive Begleitlektüre der herangezogenen Urtexte wären viele Aspekte womöglich doch zu knapp behandelt, und man sollte sich generell nicht allzu sehr auf die Darstellungskompetenz eines Autors verlassen, sondern den hier gebotenen Leitfaden so nutzen, daß das eigene Erkenntnis- und Beurteilungsvermögen stimuliert wird. Inwieweit wir hier als Gesamtentwurf eine liberale Philosophie der offenen Gesellschaft konzipiert und reflektiert haben, die innovativ ist und wichtige Bausteine liefert für zukunftsfahige Reformen, darüber entscheidet ohnedies die Praxis, aber auch die Resonanz der Leserinnen und Leser. Für Anregungen und Kritik ist der Verfasser insofern stets dankbar. Ich hoffe jedenfalls, daß das Buch schon jetzt geeignet ist, den akademischen Unterricht und auch das Selbststudium zu bereichern, insbesondere für Studierende, die bislang nur vage Vorstellungen davon haben, was der kritische Rationalismus jenseits von Vorurteilsstrukturen im einzelnen intendiert oder konkret leisten kann. Ohne die Unterstützung und Entlastung meiner lieben, couragierten und überaus gescheiten (wenngleich nicht kritisch-rationalen, sondern im Zweifelsfall eher emotionalen) Frau Heidi Waschkuhn-Klessing wäre auch diese Arbeit nicht entstanden. Ihr und unserem Kater Elvis ist die Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Arno Waschkuhn

1. KAPITEL: EINLEITUNG: PROBLEMDIMENSIONEN DES KRITISCHEN RATIONALISMUS

Nur die Götter besitzen Wissen; wir Sterblichen können nur vermuten und raten. 1 Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen. 2

Die politische Philosophie des kritischen Rationalismus, wie sie von Karl Raimund Popper in seinen beiden Werken "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" und "Das Elend des Historizismus" grundgelegt und von anderen Autoren rezipiert sowie in verschiedene Richtungen (auch von Popper) weitergedacht wurde, ist, so Kurt Salamun in einem wichtigen Überblicksartikel 3 , "nur dann adäquat zu verstehen, wenn man sich die erkenntnistheoretischen Grundannahmen vergegenwärtigt, auf denen diese Philosophie aufbaut. Die zentralste Annahme ist die These von der prinzipiellen Fehlbarkeit ('Fallibilismus') der Vernunft. Für Kritische Rationalisten ist die menschliche Vernunft stets irrtumsanfallig und deswegen nicht in der Lage, zu absolut gesicherten und ein für allemal gewissen wahren Erkenntnissen zu gelangen, wie dies optimistische Erkenntnislehren nahelegen, die dem tief in der menschlichen Psyche verankerten emotionalen Bedürfnis nach absoluter Gewißheit und der Sehnsucht nach einem endgültig gesicherten Wissen entgegenkommen. Gegen die Vorstellung von der Möglichkeit einer Letztbegründung und absoluten Gewißheit von Erkenntnissen werden im Kritischen Rationalismus Argumente auf logischer, erkenntnistheoretischer, soziologischer, ideologiekritischer und anthropologischer Ebene vorgebracht. ... Anstatt Erkenntnisse, Problemlösungsvorschläge, Überzeugungen etc. positiv rechtfertigen und auf möglichst sichere Gründe zurückführen zu wollen, muß man sie möglichst konsequent der Kritik aussetzen. Nicht durch Berufung auf Dogmen und durch die Suche nach letzten Rechtfertigungsgründen, sondern nur durch fortwährende kritische Prüfung und Diskussion können wir Fehler und Schwächen in unseren Erkenntnissen und

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Popper 1995c, S. 63. Popper 1994b, S. XXV. Salamun 1990.

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Kritischer Rationalismus

Überzeugungen frühzeitig erkennen und eliminieren und auf diesem Weg unsere Erkenntnisse und Überzeugungen Schritt für Schritt verbessern." 4 Der kritische Rationalismus wendet sich (in seinen unterschiedlichen Spielarten) insbesondere gegen den Holismus in politischen Doktrinen: "Damit ist eine Denkhaltung gemeint, die aus einer vagen Ganzheits- oder Totalitätsidee heraus den Anspruch erhebt, eine 'Gesellschaft als Ganzes' erfassen zu können und die eine gesellschaftliche Veränderung nur dann für sinnvoll hält, wenn sie eine möglichst abrupte und totale ist und die bestehende Gesellschaft als 'Ganzes' verändert. ... Holistische Vorstellungen in der Gesellschaftstheorie und Politik legen optimistische Erwartungen nahe, die nicht nur gänzlich unrealistisch [oder kontrafaktisch, A.W.] sind, sondern nur zu oft auch inhumane totalitäre Folgen haben, z.B. die Erwartung, man könne eine neue, humane und ein für allemal befriedigte Welt ganzheitlich planen und mit einem Schlag durch ein möglichst radikales, holistisches Sozialexperiment in die Wirklichkeit umsetzen. ... Gegen die Idee der totalen Planung wird von Seiten des Kritischen Rationalismus argumentiert, daß trotz aller technischen Hilfsmittel der Informationsspeicherung nie das gesamte konstruktive Wissen, das zur Planung einer neuen Gesellschaft im großen Stil erforderlich wäre, in den Köpfen von Planungsexperten und Politikern zentralisierbar ist; gegen die Idee eines holistischen Sozialexperiments wird eingewandt, daß eine noch so radikale Revolution kein 'soziales Vakuum' zu schaffen vermag, in das hinein man nach Plan eine ganz neue und andere Gesellschaft errichten könne und daß mit jedem politischen Eingriff in eine Gesellschaft neben den geplanten und voraussehbaren Veränderungen stets eine Fülle von nicht eingeplanten und nicht vorhersehbaren Konsequenzen und Nebenfolgen verbunden sind." 5 Popper stellte der holistischen Idee von der totalen Planung und dem radikalen Sozialexperiment das Konzept eines piecemeal social engineering entgegen, d.h. "das Konzept einer Sozialtechnik der Lösung von Einzelproblemen bzw. des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung". 6 Es geht also um ein soziopolitisches Reformhandwerk. Bei sozialen und politischen Reformen sind die möglichen Konsequenzen reflexiv-antizipierend in verantwortungsvoller Weise stets in Rechnung zu stellen. Mit dem gradualistischen Gesellschaftsveränderungskonzept geht ein negativer Utilitarismus einher: "Dieser Maxime zufolge kann es in der Politik nicht, wie es eine Forderung von utilitaristischen Denkern ist, um die Maximierung von Glück für möglichst viele Menschen in einer Gesellschaft oder gar im Weltmaßstab gehen, sondern vielmehr um die Minimierung von vermeidbarem Leid. Anstatt das Verwirklichen von nebulosen und individuell oft sehr variablen Glücksvorstellungen zum Ziel politischen Planens zu machen, was nur allzuleicht in Zwangsbeglückungsmaßnahmen und Erziehungsdikaturen mündet, gilt es in der 4 5 6

Salamun 1990, S. 263/264. Salamun 1990, S. 267/268. Salamun 1990, S. 268.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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Politik primär gegen die mannigfachen Formen und Ursachen von vermeidbarem Leid, wie Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit, physische und psychische Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung usw. anzukämpfen. Die politisch Handelnden müssen permanent an Institutionen konstruktiv 'herumbasteln', die die objektiven Bedingungen und realen Ursachen von Leiderfahrungen verkleinern." 7 Das Konzept der offenen (statt einer geschlossenen) Gesellschaft ist freiheitsorientiert und wird im wesentlichen "negativ" (ausgrenzend) definiert, d.h. als Freiheit von Zwang und Unterdrückung durch andere, weniger "positiv" bestimmt, d.h. nicht inhaltlich vorab definiert. Freiheit kann insofern "nicht durch einen Souverän garantiert werden, sondern nur durch eine Pluralität von Institutionen, Konventionen, Regeln und Gesetzen, die immer von neuem auf ihre Funktion der größtmöglichen individuellen Freiheitssicherung überdacht werden müssen." 8 Mit der Idee des politisch-weltanschaulichen Pluralismus und der Idee der friedlichen politischen Konkurrenz sind im kritischen Rationalismus zwei weitere wesentliche Ideen des Konzepts der offenen Gesellschaft eng verbunden, und zwar "die Idee der institutionalisierten öffentlichen Kritik und die Idee der politischen Konfliktregelung durch kritisch-rationale Diskussion. Die Idee der Kritik bzw. des kritisch-rationalen Problemlösungsverhaltens (im Gegensatz zum dogmatischen Rechtfertigungsdenken) bildet nicht nur das Fundament der Erkenntnis- und Wissenschaftslehre des Kritischen Rationalismus, sondern ist auch für dessen Vernunftverständnis konstitutiv. Kritisch-rationales Problemlösungsverhalten wird dabei immer in einem doppelten Sinne verstanden: als Bemühen um ehrliche Selbstkritik und Bereitschaft zu öffentlicher Kritik. Wie groß die Bedeutung ist, die dabei dem Moment der Öffentlichkeit eingeräumt wird, zeigt der Umstand, daß für Popper wissenschaftliche Objektivität nie durch noch so bemühte Selbstkritik, sondern immer erst durch vielseitige öffentliche Kritik und Infragestellung von Hypothesen und Erkenntnisansprüchen zustande kommen kann. Nur in öffentlicher Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden und Alternativhypothesen vermag sich eine wissenschaftliche Hypothese zu bewähren und, solange sie nicht widerlegt ist, den Status von wissenschaftlicher Objektivität zu erlangen." 9 Für den kritischen Rationalismus ist eine indeterministische Auffassung kennzeichnend, aber auch eine Opposition gegenüber dem Relativismus. Mit dem Indeterminismus verbunden ist der freie Wille und die Ansicht, daß die Zukunft objektiv offen ist. Popper drückt dies im Kontext seiner Propensitätsüberlegungen Propensitäten sind objektive Wahrscheinlichkeiten, die einer Situation innewohnen - so aus: "Ganz abgesehen von der Tatsache, daß wir die Zukunft nicht ken1

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Salamun 1990, S. 268. Popper 1996, S. 284: "Für die Zukunft .. sind wir schon jetzt moralisch verantwortlich, und wir müssen ohne ideologische Brille das Beste tun - auch dann, wenn die Aussichten dafür nicht allzu günstig sind. Das Beste ist in ganz entscheidendem Sinn das am wenigsten Gewaltsame, das, was das Leiden, unnötiges Leiden, verringert." Salamun 1990, S. 270. Salamun 1990, S. 271/272.

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Kritischer Rationalismus

nen, ist die Zukunft objektiv nicht festgelegt. Die Zukunft ist offen: objektiv offen. Lediglich die Vergangenheit ist festgelegt; sie ist ja bereits verwirklicht worden und daher schon vorüber. Die Gegenwart läßt sich beschreiben als ein kontinuierlicher Prozeß der Aktualisierung von Propensitäten oder, bildlich gesprochen, als ein Erstarren oder eine Kristallisation von Propensitäten. Während sich die Propensitäten aktualisieren oder verwirklichen, sind sie fortlaufende Prozesse. Sie erstarren und werden so Vergangenheit - und unwirklich. Propensitäten, die sich verändern, sind objektive Prozesse." 10 Wir leben in einem offenen Universum, in einer Welt der Propensitäten, die ein sich entfaltender Prozeß ist, bei dem Möglichkeiten verwirklicht und neue Möglichkeiten entwickelt werden, d.h. unsere Welt der Propensitäten ist in sich kreativ. 11 Das heißt zugleich: "In unserer realen, veränderlichen Welt unterliegen die Situation und mit ihr die Wahrscheinlichkeiten und folglich die Propensitäten einem ständigen Wandel." 12 Der Wandel stellt sich ein durch Präferenzen (Bevorzugungen) und Entdeckungen, durch unsere Wünsche, Motivationen, Hoffnungen und Träume, unsere Phantasien, Hypothesen und Theorien - auch durch unsere Irrtümer oder fehlerhaften Theorien. 13 Jeder Determinismus ist falsch, denn die Situation verändert die Möglichkeiten und damit die Propensitäten. Der kritische Rationalismus hält im aristotelischen Sinne an der Idee der objektiven und absoluten Wahrheit fest, und die Wissenschaft sollte nach der Wahrheit streben, d.h. "nach Wahrheit, die nur von den Tatsachen abhängt". 14 Hinsichtlich einer evolutionären Theorie des Wissens, wie sie Popper vertritt, hängt es allerdings immer von den bereits vorhandenen strukturellen Bedingungen ab, welche neuen Variationen oder Zuwächse möglich sind 15 , und realistischerweise können wir wohl auch nicht viel mehr als ein jeweils tentatives (also vorläufiges) Vermutungswissen erreichen, das wir stets kritisch zu überprüfen haben. Ferner bezieht sich der kritische Rationalismus stets und systematisch auf die Logik der Situation. So kann nach Popper keine Handlung jemals durch Beweggründe allein erklärt werden, diese müßten vielmehr durch eine Bezugnahme auf die allgemeine Situation, insbesondere auf die Umgebung, ergänzt werden: "Im Falle menschlicher Handlungen ist diese Umgebung hauptsächlich eine soziale. Somit lassen sich unsere Handlungen nicht ohne Berücksichtigung unserer Umgebung, sozialer Institutionen und ihrer Funktionsweise erklären." 16 Ferner müsse zugegeben werden, daß "die Struktur unserer sozialen Umgebung in einem gewis-

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Popper Popper Popper Popper Popper Popper Popper

1995c, S. 1995c, S. 1995c, S. 1995c, S. 1995c, S. 1995c, S. 1992 (II),

38. 39. 36. 36. 64. 80. S. 107.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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sen Sinn von Menschen geschaffen ist", d.h. ihre Institutionen und Traditionen sind "das Ergebnis menschlicher Handlungen und Entschlüsse". Hieraus folgt zugleich, daß "sie durch menschliche Handlungen und Entschlüsse geändert werden können. Aber das bedeutet nicht, daß sie alle bewußt geplant wurden und daß sie aufgrund von Bedürfhissen, Hoffnungen und Beweggründen erklärt werden können. Im Gegenteil: Sogar jene Institutionen und Traditionen, die als das Ergebnis bewußter und absichtlicher menschlicher Handlungen entstehen, sind in der solRegel das indirekte, unbeabsichtigte und oft unerwünschte Nebenprodukt cher Handlungen." 17 Insofern ist es die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften, die sich insofern von den Naturwissenschaften unterscheidet, die unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analysieren. 18 Eine detaillierte Handlungsbestimmung erfolgt in bezug auf die Logik der Situation und hiernach bemißt sich rationales Handeln. Für die sozialwissenschaftliche Modellkonstruktion untersuchen wir typische Situationen oder Bedingungen. Die Situationsanalyse in bezug auf situationsgerechtes Handeln benötigt ein "belebendes" Element, das wir für gewöhnlich als Rationalitätsprinzip bezeichnen, das Popper als ein fast leeres Prinzip ansieht. 19 Insbesondere wäre die Annahme eines Rationalitätsprinzips a priori unangebracht und schlicht falsch, zumal auch Modelle immer nur Annäherungen bzw. schematische Vereinfachungen sind: Sie lassen vieles weg und betonen vieles zu sehr. Modelle und ihre Grundannahmen stehen daher stets zur Überprüfung an. Popper ficht das Rationalitätsprinzip bereits in seiner schwächsten Nullformulierung an, die man so ausdrücken könnte: h a n delnde Wesen handeln immer der Situation angemessen, in der sie sich befinden. < Dieser Satz ist empirisch falsch und nicht universal. Zwar müssen wir immer dann, wenn wir eine Handlung verstehen wollen, das Rationalitätsprinzip bis an die Grenze des Möglichen anwenden, also auch die Handlung eines Verrückten zunächst für rational halten. Im Unterschied zu ihm aber sind wir in der Lage, unsere Überzeugungen zu korrigieren. Das Rationalitätsprinzip, das Popper demgegenüber anerkennt, besteht allein in der Bereitschaft, unsere Überzeugungen kritisch zu diskutieren und ggf. zu korrigieren. Das Rationalitätsprinzip hat also nichts mit der Annahme zu tun, daß die Menschen immer eine rationale Haltung einnehmen. Vielmehr ist es ein modelltheoretisches "Minimalprinzip (da es nicht mehr voraussetzt, als daß unsere Handlungen unseren Problemsituationen, wie wir sie sehen,

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Popper 1992 (II), S. 110. In seinem Vortrag "Die Logik der Sozialwissenschaften", der den sog. Positivismusstreit fast unbeabsichtigt mit auslöste (vgl. Dahms 1994, S. 323ff), formuliert Popper für eine Theorie der Institutionen die folgenden Problemstellungen: "1. Institutionen handeln nicht, sondern nur Individuen in oder für Institutionen. Die allgemeine Situationslogik dieser Handlungen wäre die Theorie der Quasi-Handlungen der Institutionen. 2. Es wäre eine Theorie der gewollten und ungewollten institutionellen Folgen von Zweckhandlungen aufzubauen. Das könnte auch zu einer Theorie der Entstehung und der Entwicklung von Institutionen führen." (hier zit. nach Popper 1995a, S. 97). Popper 1995b, S. 352.

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Kritischer Rationalismus

angemessen sind); es belebt alle, oder fast alle unsere erklärenden Situationsmodelle, und obwohl wir wissen, daß es nicht wahr ist, gibt es Gründe, es als eine gute Annäherung zu betrachten. Wenn wir es anwenden, reduzieren wir die Willkürlichkeit unserer Modelle beträchtlich; eine Willkürlichkeit, die wirklich kapriziös wird, wenn wir versuchen, ohne dieses Prinzip zu verfahren." 2 0 Es liegt auf der Hand, daß damit auch unterschiedliche Rationalitätsbegriffe verbunden sein können, über die wir uns kritisch auseinandersetzen müssen. Entscheidend jedoch ist, daß wir Fehler zu korrigieren haben. Wenn Popper also von der Vernunft oder vom Rationalismus spricht, so meint er nichts weiter als die Überzeugung, "daß wir durch Kritik lernen können - durch kritische Diskussion mit anderen und durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist also ein Mensch, der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht dadurch etwa, daß er jede Belehrung einfach hinnimmt, sondern dadurch, daß er seine Ideen von anderen kritisieren läßt und daß er die Ideen anderer kritisiert", denn "nur die kritsche Diskussion kann uns helfen, eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen." 2 1 Damit verbunden ist der große Vorteil des Westens, wie Popper ihn sieht, nämlich der Wertepluralismus: "Unser Stolz sollte es sein, daß wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; daß wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, daß wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee." 2 2 Die gesellschaftspolitische Zielvorstellung der Sozialphilosophie und politischen Philosophie des kritischen Rationalismus ist das dem Pluralismus inhärente Ideal der offenen Gesellschaff. "Von dieser Vorstellung aus, der von allen bisherigen Staatsformen die westlich-parlamentarische Demokratie trotz aller Mängel und Verbesserungsbedürftigkeit noch am nächsten kommt, werden alle totalitären und autoritären Gesellschaftsformen entschieden abgelehnt und kritisiert. Kriterien der Offenheit einer Gesellschaft sind dabei u.a.: das Maß an individueller Freiheit, das eine Gesellschaft ihren Bürgern einräumt, wobei die individuelle Freiheit nicht auf Kosten anderer gehen darf; das gewaltlose Austragen von Interessenkonflikten und politischen Gegensätzen durch öffentliche, kritisch-rationale Diskussion; die Pluralität von Ideen, politischen Meinungen und Parteien; demokratische Institutionen, die die Konzentration von Macht verhindern und die wirksame Kontrolle und gewaltlose Ablösung von Regierungen ermöglichen; institutionelle Sicherimg der Möglichkeit von Kritik und Entwicklung alternativer Wertvorstellungen usw. Daß die Ideale der Tradition des politischen Liberalismus, die Poppers Konzept der 20 21 22

Popper 1995b, S. 359. Popper 1995a, S. 232. Popper 1995a, S. 238.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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offenen Gesellschaft kennzeichnen, in diesem Konzept keineswegs auch mit einem ökonomischen 'Laissez-faire'-Liberalismus konform gehen, wie dies Popper verschiedentlich unterstellt worden ist, zeigt seine ausdrückliche Forderung nach Ablösung des schrankenlosen Kapitalismus durch einen 'ökonomischen Interventionismus'" 23 : "Wir müssen soziale Institutionen konstruieren, die die wirtschaftlich Schwachen vor den wirtschaftlich Starken schützen, und die Staatsgewalt muß diesen Institutionen zur Wirksamkeit verhelfen. Der Staat muß darauf achten, daß niemand aus Furcht vor Hunger oder vor wirtschaftlichem Zusammenbruch ein ungerechtes Abkommen zu schließen braucht." 24 Ethische Aussagen und Systeme, die sich mit grundlegenden Normen und Werten befassen, sind vom methodologischen Standpunkt des kritischen Rationalismus aus in erster Linie "bestimmte, im Lichte von Kritik prinzipiell revidierbare Annahmen oder Annahmensysteme. ... Ein ethischer Pluralismus kann - ähnlich wie in der Erkenntnistheorie - bestimmte moralisch relevante Problemsituationen in verschiedener Hinsicht beleuchten. Dies schließt ein, daß es, ähnlich wie in der Erkenntnis, nicht immer zu einem Konsens kommen muß. ... Die abwägende Berücksichtigung unserer Fehlbarkeit soll uns helfen, Irrtümer zu vermeiden oder zu korrigieren. Aber diese Zielsetzung überhaupt als erstrebenswert anzuerkennen, ist ein Werturteil." 25 Es geht also nicht nur um die Überprüfung logischer Zusammenhänge, vielmehr müssen wir den bereits hervorgehobenen negativen Militarismus Poppers als ethische Hintergrundtheorie hinzunehmen. Nur so wird die sinnkritische Parallelität zwischen Erkenntnis und Entscheidung in demokratietheoretischer und politisch-ethischer Weise plausibel, kann jedoch nicht mehr nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben begründet, wohl aber situationsspezifisch objektiviert werden. Der kritische Rationalismus sieht die Falsifizierbarkeit als normatives Kriterium des empirisch-wissenschaftlichen Charakters eines Theoriensystems an 2 6 , und eine Theorie ist (nach Popper) "das Netz, das wir auswerfen, um 'die Welt' einzufangen - sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen." 2 7 Zwar sind Theorien nicht bzw. niemals verifizierbar, aber sie können sich bewähren. 2 8 Sie dürfen daher nicht immunisiert werden, denn: "Wer seine Gedanken der Widerlegung nicht aussetzt, der spielt nicht mit in dem Spiel Wissenschaft." 2 9 Wir können wahrscheinlich die Zahl der konkurrierenden Theorien nie wesentlich vermindern, jedoch hängt die "Güte" der konkurrierenden und jeweils überlebenden Theorien, 23 24 25 26 27 28 29

Salamun 1980, S. 165/166. Popper 1992a (II), S. 146. Wendel 1992, S. 163/164. Popper 1994b, S. 47-59. Popper 1994b, S. 31. Popper 1994b, S. 198. Popper 1994b, S. 224.

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Kritischer Rationalismus

die wir vorläufig akzeptieren, von ihrem Gehalt oder ihrer Prüfbarkeit ab. 3 0 Gleichwohl bleibt unser Wissen, recht betrachtet, Vermutungswissen. Die verschiedenen Vermutungen oder Hypothesen sind unsere intuitiven Erfindungen; sie werden durch kritische Erfahrung ausgemerzt und versuchsweise durch bessere Vermutungen ersetzt: "darin allein besteht die Erfahrung für die Wissenschaft. Alles andere ist unsere kreative Tätigkeit: unsere Suche nach prüfbaren Konsequenzen unserer Theorien - nach möglichen Achillesfersen." 3 1 Der kritische Rationalismus bevorzugt also Kritikkonzepte der methodischen Vernunft. Hinzu kommt als heuristischer Ansatz der methodologische Individualismus, der aus der schottischen Moralphilosophie stammt und auch von Max Weber vertreten wurde. Hierunter ist zu verstehen, daß sozialwissenschaftliche Generalisierungen unter methodischem Rückgriff auf Hypothesen über individuelles Handeln bzw. Interaktionsbeziehungen begründbar sein müssen. 32 Das gilt auch für konkrete Analysen: Für Popper "sollte der Glaube an die empirische Existenz sozialer Ganzheiten oder Kollektive, den man als naiven Kollektivismus bezeichnen könnte, durch die Forderung ersetzt werden, daß die Analyse sozialer Phänomene, einschließlich der Kollektive, als Untersuchung von Individuen und deren Handlungen und Beziehungen durchgeführt werden sollte." 3 3 Hierzu gehört für Popper auch der zentrale Umstand, daß wir unsere Vernunft wie unsere Sprache 34 dem Verkehr mit anderen Menschen verdanken: "Ein Robinson Crusoe, der in seiner frühen Kindheit ausgesetzt wurde, mag klug genug sein, um viele schwierige Situationen zu meistern; aber er würde weder die Sprache noch die Kunst des Argumentierens erfinden. Es muß eingeräumt werden, daß wir oft mit uns selbst argumentieren. Aber wir sind daran nur deshalb gewöhnt, weil wir gelernt haben, mit anderen zu argumentieren". Gleichzeitig haben wir gelernt oder sollten wir lernen, daß nicht die argumentierende Person zählt, sondern das Argument: "Eine solche Einstellung führt zur Ansicht, daß wir jeden Menschen, mit dem wir uns verständigen, als eine potentielle Quelle von Argumenten und von vernünftiger Information betrachten müssen; und damit wird eine Verbindung zwischen den Menschen hergestellt, die man die 'rationale Einheit der Menschheit' nennen könnte." 3 5 30 31 32 33 34

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Popper 1994b, S. 373. Popper 1994b, S. 452. Zur modifizierenden Kritik siehe Wettersten 1996. Popper 1997a, S. 495. Das Prinzip des methodologischen Individualismus verpflichtet uns indes keineswegs zur Annahme einer psychologischen Methode, Popper 1987, S. 111, 123. Albert verweist darauf, daß Popper der Bedeutung der Sprache für die menschliche Erkenntnis in seinem Werk Rechnung getragen habe, zumal er seine Dissertation bei dem Psychologen und Sprachtheoretiker Karl Bühler geschrieben hatte. Popper habe es aber "vermieden, die Übertreibungen mitzumachen, die wir der linguistischen und der hermeneutischen Wende verdanken. Vor allem hat er die Tatsache akzentuiert, daß die sprachliche Fassung von Problemlösungen die Möglichkeit kritischer Diskussion eröffnet und daß diese Möglichkeit auch fur die Lösung praktischer Probleme in Anspruch genommen werden kann. Dabei bleiben aber der Realismus und die regulative Idee der Wahrheit grundlegend, und zwar auch für alle Bereiche der modernen Kultur". Albert 1996b, S. 26. Popper 1992a (II), S. 264.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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Wenn Hegel und die Hegelianer, die Popper als Kollektivsten bezeichnet, behaupten, "daß wir unsere Vernunft der 'Gesellschaft' oder einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung verdanken, wie etwa der Nation", und daraus folgerten, "daß die 'Gesellschaft' alles ist und das Individuum nichts; oder daß sich jeglicher Wert, den das Individuum besitzt, von der Gesellschaft, dem wahren Träger aller Werte, herleitet", so bestreitet Popper ganz entschieden, daß solche Kollektive überhaupt existieren: "wenn ich [Popper, A.W.] zum Beispiel sage, daß wir unsere Vernunft der 'Gesellschaft' verdanken, dann meine ich immer, daß wir sie gewissen konkreten Individuen verdanken (die meistens anonym bleiben) und unserem intellektuellen Verkehr mit ihnen. Wenn ich also von einer 'sozialen' Theorie der Vernunft (oder der wissenschaftlichen Methode) spreche, so meine ich, genauer gesagt, eine interpersonelle Theorie, aber nie eine kollektivistische Theorie." 3 6 Der kritische Rationalismus ist jeder Mystik abhold, so auch jeder Spielart des Holismus. Für Popper ist Wittgensteins Diktum: "Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische" falsch (irrational) angesetzt, denn die "Welt", das "Ganze", die "Natur" etc. - "all das sind Abstraktionen und Produkte unseres Verstandes", und unsere "Welt" und unsere Zukunft sind offen, kein "begrenztes Ganzes", unabgeschlossen und in vielerlei Hinsicht gestaltbar. Die "Welt" ist nicht rational, aber es ist die Aufgabe der Wissenschaft, sie zu rationalisieren. Auch die "Gesellschaft" ist nicht rational, aber es ist die Aufgabe des Reformhandwerkers (Stückwerk-Sozialtechnikers), sie zu rationalisieren (pragmatischer Rationalismus). Nur ein unkritischer Rationalist würde behaupten, daß die Welt rational sei. Ein pragmatischer Rationalist hingegen anerkennt, daß die Welt nicht rational ist, wird aber verlangen, daß wir sie so weit wie möglich der Vernunft unterwerfen. Dagegen weigerten sich Mystiker geradezu hysterisch, das Kreuz der Zivilisation zu tragen. Im Grund wollen alle Mystiker sagen, " 'daß das Unbegreifliche unbegreiflich ist, und das wußten wir bereits', wie F. Kafka, der mystische Dichter, voll Verzweiflung schrieb. Und der Irrationalist versucht nicht nur zu rationalisieren, was sich nicht rationalisieren läßt, sondern er faßt die Sache überhaupt am falschen Ende an. Denn es ist das besondere, das einzigartige und konkrete Individuum, das sich mit rationalen Methoden nicht erfassen läßt, und nicht das abstrakt Universelle. Die Wissenschaft kann z.B. allgemeine Landschaftstypen oder Menschentypen beschreiben, aber sie kann niemals eine einzelne, individuelle Landschaft oder einen einzelnen, individuellen Menschen völlig ausschöpfen. Das Universelle, das Typische ist nicht nur die Domäne des Verstandes, es ist auch zum Großteil das Produkt des Verstandes, insofern es das Produkt wissenschaftlicher Abstraktionen ist. Aber das einzigartige Individuum und seine einzigartigen Handlungen, Erfahrungen und Beziehungen zu anderen Individuen lassen sich niemals rationalisieren." Andererseits "scheint es gerade dieser irrationale Bereich der einzigartigen Individualität zu sein, der den menschlichen Beziehungen Bedeutung verleiht. Die 36

Popper 1992a (II), S. 264.

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Kritischer Rationalismus

meisten Menschen haben das Gefühl, daß alles, was ihr Leben lebenswert macht, zum Großteil zerstört würde, wenn sie selbst und ihr Leben in keiner Weise einzigartig wären, sondern typisch für eine Klasse von Menschen derart, daß sie die Handlungen und Erfahrungen aller anderen Menschen dieser Klasse wiederholen. Es ist die Einzigartigkeit unserer Erfahrungen, die unser Leben in diesem Sinne lebenswert macht, die einzigartige Erfahrung einer Landschaft, eines Sonnenunterganges, des Ausdrucks eines menschlichen Gesichts. Aber seit den Tagen Piatons ist es für jede Art von Mystizismus charakteristisch gewesen, daß er dieses Gefühl der Irrationalität des einzigartigen Individuums und unserer einzigartigen Beziehungen zu Individuen auf ein anderes Gebiet überträgt, nämlich auf das Gebiet abstrakter Allgemeinbegriffe, auf ein Gebiet, das eigentlich zur Wissenschaft gehört. Man kann kaum bezweifeln, daß der Mystiker gerade dieses Gefühl übertragen will, denn es ist wohl bekannt, daß die Terminologie des Mystizismus, die mystische Vereinigung, die mystische Intuition der Schönheit, die mystische Liebe zu allen Zeiten dem Gebiet der Beziehungen zwischen individuellen Menschen, insbesondere der Erfahrung der sexuellen Liebe, entnommen worden ist. Auch ist es klar, daß der Mystizismus dieses Gefühl auf die Essenzen, die Formen oder Ideen überträgt." Es ist "der Wunsch, in den Schutz eines patriarchalischen Heims zurückzukehren und die Grenzen dieser Heimstätte zu den Grenzen unserer Welt zu machen, der hinter dieser mystischen Einstellung steht." Der Mystizismus aber sucht "das Geheimnis an der falschen Stelle. Er tut dies, weil er vom Kollektiv, von der Einheit der Erwählten träumt, weil er es nicht wagt, den harten und praktischen Aufgaben ins Angesicht zu sehen, mit denen es jene Menschen aufnehmen müssen, die verstanden haben, daß jedes Individuum ein Zweck in sich ist." 3 7 Maxime des kritischen Rationalismus ist vielmehr die Einsicht: "Wirklich wichtig sind nur die menschlichen Individuen, aber daraus schließe ich nicht, daß meine Person sehr wichtig ist". 3 8 Diese altruistische Bescheidenheit und eigene Zurücknahme (im Sinne von Understatement) ist vergleichsweise selten, denn - so der frühe Popper - "unsere intellektuelle wie auch unsere sittliche Erziehung ist 37

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Popper 1992a (II), S. 287/288 u. 442, 444 (unter Einbezug von Anmerkungszusätzen des Übersetzers Paul K. Feyerabend). - Siehe auch Popper 1997b, S. 21: '"Zwei Dinge', so sagt Kant im 'Beschluß' seiner Kritik der Praktischen Vernunft, 'erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht...: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.' 'Der bestirnte Himmel' symbolisiert fiir ihn das Problem unseres Wissens vom physikalischen Universum und die Frage nach unserer Stellung darin. 'Das moralische Gesetz" betrifft unsere unsichtbare Seele, unser Ich, die menschliche Persönlichkeit und damit, wie Kant erklärt, die menschliche Freiheit. Das erste macht unsere Bedeutung zunichte: Es läßt die Bedeutung des Menschen als Teil des physikalischen Universums zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Das zweite erhebt dagegen unseren Wert als intelligente und verantwortliche Wesen ins Unermeßliche. - Ich glaube, Kant hat im wesentlichen recht. Josef Popper-Lynkeus drückte es einmal so aus: Immer wenn ein Mensch stirbt, wird ein ganzes Universum zerstört (was man sofort verstehe, wenn man sich mit diesem Menschen identifizierte). Menschliche Wesen sind unersetzlich; und dadurch unterscheiden sie sich deutlich von Maschinen. Menschen können das Leben genießen; sie können leiden und sie können dem Tod bewußt ins Auge sehen. Sie haben Bewußtsein, sie haben ein Ich, eine Seele. Eine Person ist Zweck, nicht Mittel zum Zweck, wie Kant betont." Popper 1992a (II), S. 323.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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korrupt. Sie ist verdorben durch die Bewunderung der Brillanz: durch die Bewunderung der Weise, in der Dinge gesagt werden, die an die Stelle einer kritischen Betrachtung des Gesagten (und des Getanen) tritt. Sie ist verdorben durch die romantische Idee des Glanzes auf der Bühne einer Geschichte, auf der wir alle Schauspieler sind. Wir werden dazu erzogen, bei allen unseren Handlungen die Galerie im Auge zu behalten." 39 Hingegen sollte insbesondere für den Bereich der Politik gelten, "daß sich der Politiker auf einen Kampf gegen die Übel beschränken und nicht versuchen sollte, 'positive' oder 'höhere' Werte wie die Glückseligkeit und so fort zu erkämpfen". Auch für Pädagogen (wie ehedem Popper) sollte das Prinzip Anwendung finden, "daß wir jenen Menschen, die man uns anvertraut hat, vor allem nicht schaden dürfen". 4 0 Das Erziehungsziel müßte lauten: "Gib den jungen Menschen das, was sie am dringendsten brauchen, um von uns unabhängig und fähig zu werden, für sich selbst zu wählen!" 4 1 Es sei eine rationalistische Einstellung zu lehren, die "betont, daß wir für unsere Handlungen und für die Rückschläge dieser Handlungen auf den Lauf der Geschichte unumschränkte Verantwortung tragen. Es ist wahr - wir brauchen Hoffnung; ohne Hoffnung zu handeln oder zu leben übersteigt unsere Kraft. Aber wir brauchen nicht mehr; und man darf nicht mehr versprechen. Wir brauchen nicht Gewißheit. ... Wir müssen lernen, unsere Aufgaben zu erfüllen, so gut wir nur können, und wir müssen auch lernen, unsere Fehler aufzuspüren und einzusehen." 4 2 Diese Einstellung gilt für die Lebenspraxis, und sie gilt für unser wissenschaftliches Bemühen. Der englische Philosoph Bryan Magee (und weitaus jüngerer Freund Poppers) zeigt in seiner Autobiographie auf, warum ihn Poppers kritischer Rationalismus über alle Maßen beeindruckt hat (wobei er sich auf Poppers Vortrag "Zurück zu den Vorsokratikern" 4 3 bezieht). Es sei die Grundidee, daß die einzig brauchbare Art, das menschliche Wissen zu erweitern, in einem stetigen Feedback von Kritik bestehe: "So ausgedrückt mag sich das selbstverständlich anhören, aber die eigentliche Sprengkraft dieser These liegt in dem, was sie bestreitet - nämlich, daß wir weit kommen können, wenn wir versuchen, die Erweiterung unseres Wissens auf Beobachtung und Experiment zu basieren. Beobachtungen und Experimente, sagt Popper, spielen dieselbe Rolle wie kritische Argumente, wir können mit ihrer Hilfe Theorien überprüfen, in Frage stellen und sogar zurückweisen, aber ihre einzige wirkliche Bedeutung liegt darin, daß sie potentielle Theorie-Kritik darstellen. Wir können unser Wissen erweitern, indem wir uns plausible Erklärungen für bisher unerklärte Phänomene oder mögliche Problemlösungen überlegen und diese dann auf die Probe stellen. Wir unterwerfen sie kritischer Untersuchung, diskutieren sie mit anderen Menschen und warten ab, ob irgend jemand schwache 39 40 41 42 43

Popper Popper Popper Popper Popper

1992a (II), S. 323. 1992a (II), S. 324. 1992a (II), S. 324/325. 1992a (II), S. 327/328. 1994c, 198-242.

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Kritischer Rationalismus

Stellen aufzeigen beziehungsweise Beobachtungen oder Experimente entwickeln kann, die sie widerlegen. Die Logik dieser Situation ist folgende: Wir beginnen mit einem Problem - es kann ein praktisches Problem sein, muß es aber nicht; vielleicht wollen wir nur irgend etwas verstehen oder erklären. Dann benutzen wir unser Verständnis dieses Problems sowie unseren Intellekt und unsere Phantasie, um eine mögliche Lösung zu finden. An diesem Punkt ist unsere mögliche Lösung eine Theorie, die zutreffen kann oder auch nicht, bisher aber noch nicht überprüft worden ist. Also unterwerfen wir diese Vermutung Tests - in Form von kritischen Diskussionen sowie von Beobachtung und Experiment - die, wenn sie überhaupt als Test durchgehen wollen, die Möglichkeit der Widerlegung in sich tragen müssen. Daher der Titel Vermutungen und Widerlegungen [Aufsatzsammlung Poppers in zwei Bänden 44 ], in dem eine komplette Erkenntnistheorie enthalten ist." 4 5 Das Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Theorie ist demnach ihre Fasifizierbarkeit, ihre Widerlegbarkeit und Überprüfbarkeit. 4 6 Man könnte pointiert sagen: "In der Wissenschaftstheorie Poppers wird der (wissenschaftliche) Irrtum methodisiert; er erweist sich selbst als ein wesentliches Moment des wissenschaftlichen Fortschritts. Es ist der (erwiesene) Irrtum, der weiterbringt, nicht die Wahrheit im Sinne älterer Begründungsprogramme, die nach Popper - ob zu Recht, mag hier dahingestellt bleiben - in der Regel durch Immunisierungsstrategien, nicht wirklich durch Begründungen gesichert wird. Insofern wäre zwar Wahrheit das eigentliche Ziel der Wissenschaft, der Irrtum aber der Motor wissenschaftlicher Entwicklungen. Als erreichte Wahrheit würde Wahrheit gerade Stillstand, nicht Bewegung bedeuten, und Bewegung, die Suche nach dem Neuen, das nicht Stillstehen bei dem schon Erreichten - darin wird man Popper aus allen Ecken der Wissenschaft beipflichten können -, ist das eigentliche Herz der Wissenschaft, ihre Stärke und ihre Zukunft." 4 7 Für Popper und den kritischen Rationalismus gibt es keine idealen und unfehlbaren Quellen der Kenntnis, ebensowenig wie es ideale und unfehlbare Herrscher gibt. 4 8 Es kommt durchgängig auf eine kritische Einstellung an, die für Popper mit den Vorsokratikern begonnen hat: "Die rationalistische Tradition, die Tradition der kritischen Diskussion, ist die einzig praktikable Methode, unser Wissen zu erweitern - natürlich nur unser Vermutungs- oder Hypothesenwissen. Es gibt keine andere Methode. Insbesondere gibt es keine Methode, die von Beobachtungen oder Experimenten ausgeht. Bei der Entwicklung der Wissenschaft spielen Beobachtungen und Experimente nur die Rolle von kritischen Argumenten. Und sie spielen diese Rolle neben anderen, nicht-experimentellen Argumenten. Das ist eine wichtige Rolle; doch die Bedeutung von Beobachtungen und Experi44 45 46 47 48

Popper 1994c u. 1997a. Magee 1998, S. 255/256. Popper 1994c, S. 52. Mittelstraß 1998, S. 28. Popper 1994c, S. 37.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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menten hängt gänzlich von der Frage ab, ob sie dazu benutzt werden dürfen, um bestehende Theorien zu kritisieren." 4 9 Nicht einmal "Wahrheit" allein wäre genug, sondern was wir (auch demokratietheoretisch) brauchen, sind "Antworten auf unsere Probleme". 5 0 Nur, wenn sie ein Problem beantwortet, nur dann kann eine Wahrheit, oder eine Hypothese, für die Wissenschaft relevant werden. 5 1 Vernunft wird von Popper somit als Offenheit für Kritik interpretiert, und eine Theorie kann für ihn nur dann als wissenschaftlich gelten, wenn sie durch mögliche Tatsachen widerlegt werden kann. Die kritische Einstellung bedient sich der Methode von Versuch und Irrtum 52 , und wissenschaftliche Objektivität besteht in der Intersubjektivität der wissenschaftlichen Methode, d.h. in der Überprüfbarkeit von Aussagen: "Die kritische Einstellung kann man als den bewußten Versuch beschreiben, an Stelle unserer Personen unsere Theorien, unsere Hypothesen, unsere Vermutungen, dem Kampf ums Dasein auszusetzen. Sie ermöglicht uns, die Ausmerzung einer unzulänglichen Hypothese zu überleben - während eine dogmatische Einstellung dazu führt, daß unsere Hypothese dadurch ausgemerzt wird, daß wir, ihre Träger, ausgemerzt werden. ... Auf diese Weise gelangen wir durch die Ausmerzung aller jener Theorien, die weniger tauglich sind, zur tauglichsten Theorie, die uns zugänglich ist." 53 Des weiteren wird von Popper die These einer Autonomie der Ethik (Irreduzibilität von Werten aus Tatsachen) vertreten und ein Primat der praktischen Vernunft anerkannt. Diese Entscheidung setzt aber Rationalität bzw. rationale Maßstäbe bereits voraus und muß daher vom Fallibilismus ausgenommen werden. Das damit verbundene Grundlagenproblem 5 4 (einer "irrationalen Entscheidung für die Vernunft" bzw. eines "irrationalen Glaubens" an diese) kann durch das Konzept eines "fundamentalen Rationalismus" aufgehoben werden, der allen kontroversen Positionen gemeinsam zugrundeliegt. Dieser Vorschlag Weinheimers hat einiges für sich und lautet in der weiteren Ausführung: "Jegliche Art von Kritik muß, um überhaupt als Kritik auftreten zu können, rationalistische Strukturen, mithin den fundamentalen Rationalismus, voraussetzen (dasselbe gilt selbstverständlich auch für den Skeptizismus!). ... Voraussetzung für das Denken, für die Vernunft, für die Rationalität ist der Wille, das Bekenntnis zum Denken, zur Vernunft, zur Rationalität. Damit haben wir keine biologische, psychologische oder soziologische Wesensbestimmung des Menschen eingeführt, sondern lediglich auf eine notwendige Bedingung des Philosophierens hingewiesen: zum Philosophieren, zum Reden über die Welt, braucht es ein Bekenntnis, einen 49 50 51 52

53 54

Popper 1994c, S. 222. Popper 1994c, S. 335. Popper 1994c, S. 335. Die Methode von Versuch und Irrtum ist allerdings universeller als die wissenschaftliche oder kritische Methode von Vermutung und Widerlegung: "Die Methode von Versuch und Irrtum wird nicht nur von Einstein angewandt, sondern auch - in etwas dogmatischerer Form - von der Amöbe." Popper 1994c, S. 75. Popper 1994c, S. 75. Und Popper führt weiter aus: "Ich denke nicht, daß ein solches Vorgehen irrational ist oder einer weiteren rationalen Rechtfertigung bedarf." Ebd., S. 75. Vgl. Weinheimer 1986.

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Kritischer Rationalismus

Willen zum Philosophieren. Alle Vernunft muß also, um überhaupt 'als Vernunft auftreten' zu können, immer schon praktische Vernunft sein. " 5 5 Im Kontext dieser transversalen Vernunft ist eine Entscheidung für den kritischen Rationalismus möglich (durch Analyse der Konsequenzen der jeweiligen alternativen Positionen), die nicht willkürlich ist, sondern argumentativ basiert. Das hat allerdings zur Voraussetzung, daß der kritische Rationalismus auch anderen Konzeptionen zunächst einmal Rationalität zugestehen muß. 5 6 Dann kann der kritische Rationalismus auch keine umfassende Lebensform sein (wie es nicht Popper, aber offenkundig Hans Albert vorschwebt 57 ), er muß nicht wirklich alle Bereiche des menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns betreffen. Er könnte aber wissenschaftlich bevorzugt und auch für eine vernünftige, berechenbare Politikgestaltung (auf der Grundlage kritischer Diskussion und situationslogischer Folgenabschätzung) ausgesucht werden. Hierfür stehen und standen die Chancen des kritischen Rationalismus nicht schlecht, zumal er demokratietheoretisch außerordentlich anschlußkräftig ist und auf eine offene, d.h. lernfähige Gesellschaft als ihm kongeniale Ermöglichungsform setzt. 5 8 Der kritische Rationalismus hatte und hat wie jede prominent gewordene Theorieausrichtung notgedrungen mit einer Reihe von Anwürfen zu rechnen - und das ist sogar gut so, weil es der kritisch-rationalen Grundauffassung unmittelbar entspricht. 5 9 Die Kritiken und auch Invektiven sind im Falle des kritischen Rationalismus besonders zahlreich, allerdings sind sie meinem Eindruck nach überwiegend pauschal und von Vorurteilsstrukturen geprägt. Sie verraten des öfteren eine geringe Kenntnis der angegriffenen Positionen und verdanken sich höchst selten einer genaueren Lektüre oder besonders gründlichen Reflexionen. Man sollte Theorien aber zunächst gemäß des von ihnen tatsächlich erhobenen Anspruches und anhand der zugrundegelegten Prämissen zu beurteilen suchen, sie gewissermaßen an sich selber messen. Lediglich wohlfeile ideologiekritische Einwände zu formulieren, die im wesentlichen nur zeigen, daß der jeweilige Interpret ohne weitere Prüfung andere Standpunkte bevorzugt, dient aber dem Erkenntnisfortschritt in der Regel nur wenig. Leider ist ein Großteil der Kritik am kritischen Rationalismus in dieser Weise angelegt, und es stammen im Ergebnis die gehaltvollsten Ein-

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Weinheimer 1986, S. 135/136. Diese Auffassung findet sich auch bei Popper 1993, S. 279: "Es hat keinen Sinn, eine Theorie zu diskutieren und zu kritisieren, wenn wir sie nicht in ihre stärkste Form zu bringen versuchen und sie nur in dieser Form kritisieren." Das gilt nicht nur für eigene Theorieansätze und die eigene Theoriebildung, sondern auch für die Bemühungen anderer, die ich auf diese Weise zur Kenntnis nehmen sollte. Siehe Kap. 9. Siehe Kap. 13. Insbesondere auf der Grundlage eines fundamentalen Rationalismus würde dies heißen: "Auch der kritische Rationalismus kann kritisiert werden, ohne daß ausschließlich er selbst über die Berechtigung der Kritik zu befinden hätte." Weinheimer 1986, S. 149.

Problemdimensionen des Kritischen Rationalismus

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wände eher von (auch ehemaligen oder vermeintlich dafür gehaltenen) kritischen Rationalisten, wie wir noch sehen werden. 6 0 Die gängigsten Kritikmuster - den haltlosen, inzwischen nirgendwo mehr ernsthaft erhobenen Positivismusvorwurf (logischer Positivismus) sparen wir jedoch aus 61 - können hier kurz auf die Formel gebracht werden: > Der kritische Rationalismus sei revisionistisch oder technokratisch und im Grunde herrschaftsaffirmativ VT —> FE —> P 2 . Der kritische Rationalist Popper arbeitet hingegen mit Fehlerelimination und auf der wissenschaftlichen Ebene mit bewußter resp. rationaler Kritik unter der regulativen Idee der Suche nach Wahrheit. Popper beginnt mit einem Problem Pi, kommt zu einer vorläufigen Lösung oder vorläufigen Theorie (VT), die teilweise oder völlig falsch sein kann, jedenfalls wird sie der Fehlerelimination (FE) unterworfen, die in kritischer Diskussion oder experimentellen Prüfungen bestehen kann; auf jeden Fall ergeben sich neue Probleme P2 aus unserer schöpferischen Tätigkeit; und "diese neuen Probleme werden nicht absichtlich von uns geschaffen, sondern ergeben sich autonom aus den neuen Beziehungen, die wir, ob wir das beabsichtigen oder nicht, mit jeder Handlung schaffen." 4 3 So fuhrt die Elimination von Fehlern zum Fortschritt der Erkenntnis im objektiven Sinne, und es ist ein Prozeß ohne Ende (P n ) mit einer Vielfalt versuchter und stets tentativer Lösungen/Theorien. Anders beim Relativisten Hegel: "Er sah unsere Aufgabe nicht darin, Widersprüche zu suchen, um sie zu beseitigen, denn er hielt Widersprüche für ebenso gut (oder besser) als widerspruchsfreie theoretische Systeme: Sie bilden den Mechanismus, durch den sich der Geist bewegt. Damit spielt rationale Kritik keine Rolle in Hegels Automatik, ebensowenig wie menschliche Schöpferkraft. - Während Piaton seine hypostasierten Ideen in einem göttlichen Himmel wohnen ließ, personalisiert Hegel den Geist zu einem göttlichen Bewußtsein: Die 40 41 42

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Popper 1993, S. 129. Popper 1993, S. 129. Popper 1993, S. 122 u. öfter, in erweiterter Hinsicht S. 254. Poppers Hinweis auf Hegel ist eher rhetorisch und gewollt kokett. Die eigentlichen Anreger für Popper sind Bernard Bolzano, Karl Bühler, Gottlob Frege und Heinrich Gomperz, siehe auch Popper/Lorenz 1993, S. 99, Popper 1994a, Kap. 38 sowie Popper 1995a, S. 124/125. Popper 1993, S. 122.

Die Altersphilosophie Poppers: Welt 3

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Ideen wohnen ihm inne wie menschliche Gedanken einem menschlichen Bewußtsein. Er lehrt durchweg, der Geist sei nicht nur ein Bewußtsein, sondern ein Ich." 4 4 Nicht so Popper, denn seine Welt 3 hat "keinerlei Ähnlichkeit mit dem menschlichen Bewußtsein; und obwohl ihre ersten Bewohner Erzeugnisse des menschlichen Bewußtseins sind, sind sie völlig verschieden von bewußten Ideen oder Gedanken im subjektiven Sinne." 4 5 Die Welt 3 schafft sich folglich ihren eigenen Autonomiebereich mit einem neuen Reich von Möglichkeiten: "Ein sehr naheliegendes Beispiel ist ein Garten. Er kann sorgfältig geplant worden sein, aber in der Regel entwickelt er sich zum Teil in unvorhergesehener Weise. Doch selbst wenn er so wird, wie er geplant war, können einige unerwartete Beziehungen zwischen den geplanten Gegenständen ein ganzes Reich von Möglichkeiten schaffen, von möglichen neuen Zielen und von neuen Problemen. - Die Welt der Sprache, der Vermutungen, Theorien und Argumente - kurz, das Reich der objektiven Erkenntnis - ist eine der wichtigsten dieser von Menschen geschaffenen und gleichzeitig weitgehend autonomen Welten." 4 6 Auch das Leben schreitet wie die wissenschaftliche Forschung "von alten Problemen zur Entdeckung neuer und ungeahnter Probleme fort. Und dieser Vorgang - der der Erfindung und Auslese - enthält eine rationale Theorie der Emergenz." 4 7 Ebenso erzeugt die Welt 3 ihre eigenen Probleme, und es ist eindrücklich zu betonen, "daß ihr Einfluß auf jeden von uns, auch den originellsten und schöpferischen Denker, bei weitem den Einfluß übertrifft, den irgendeiner von uns auf ihn ausüben kann." Wir verdanken der Welt 3 unsere Rationalität und sie fuhrt uns zur Selbsttranszendenz unserer Fähigkeiten und Begabungen: "Diese Selbsttranszendenz ist die auffallendste und wichtigste Tatsache allen Lebens und aller Evolution, besonders der menschlichen Evolution." 4« Für Popper befinden wir uns stets auf der Suche nach Prüfsituationen und "so werfen wir ein Seil in die Luft und steigen daran hoch - wenn es an irgendeinem noch so schwachen Zweiglein Halt findet. Der Unterschied zwischen unseren Bemühungen und einer Amöbe ist nur der, daß unser Seil in einer Welt 3 kritischer Diskussion Halt finden kann: einer Welt der Sprache, der objektiven Erkenntnis. Das ermöglicht uns, einige unserer konkurrierenden Theorien auszuscheiden. Und wenn wir Glück haben, gelingt es uns, einige unserer falschen Theorien zu überleben (die meisten sind ja falsch), während eine Amöbe mit ihrer Theorie, ihrem Glauben und ihren Gewohnheiten zugrunde geht. - So gesehen ist das Leben ein Problemlösen und Entdecken - Entdecken von neuen Tatsachen, neuen Möglichkeiten, indem wir in der Phantasie entworfene Möglichkeiten aus44 45 46 47 48

Popper Popper Popper Popper Popper

1993, 1993, 1993, 1993, 1993,

S. S. S. S. S.

130. 130. 121. 151. 152.

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Kritischer Rationalismus

probieren. Auf der Ebene des Menschen spielt sich dieses Ausprobieren fast ausschließlich in der Welt 3 ab, indem wir versuchen, unsere Welt 1 durch die Theorien der Welt 3 darzustellen, vielleicht auch unsere Welt 2; und das mit immer mehr Erfolg; indem wir der Wahrheit näherzukommen versuchen - einer vollständigeren, interessanteren, logisch stärkeren und relevanteren Wahrheit - zu einer für unsere Probleme relevanten Wahrheit." 4 9 Der Prozeß des Lernens oder der Zuwachs des subjektiven Wissens besteht für Popper vor allem aus phantasievoller Kritik, und "Lernen" bedeutet dreierlei, nämlich: "entdecken", "nachahmen" und "zur Gewohnheit machen". 5 0 Aber die wichtigere Fähigkeit des Verstehens besteht im wesentlichen im Umgehen mit Gegenständen der Welt 3. 5 1 Alle Probleme wählen wir immer vor einem zur Welt 3 gehörenden Hintergrund aus, so daß sich eine kritische Problemsituation ergibt: "Weitere Welt 3-Gegenstände, mit denen wir arbeiten, sind z.B. Konkurrenz und Konflikt (zwischen Theorien, Problemen, Aspekten von Vermutungen, Interpretationen und philosophischen Positionen); und Vergleiche oder Gegensätze oder Analogien." 5 2 Verstehen und Problemlösen gehen für Popper ineins und haben sich zuvörderst auf die Welt 3 zu beziehen. Die Struktur der Welt 3 sind intelligibilia, d.h. mögliche (oder wirkliche) Gegenstände unseres Verstehens. Poppers problemorientierter Ansatz sieht eine Überprüfung aufgrund einer Rekonstruktion des Problems und seines Hintergrundes vor, so daß wir (im Sinne von Lakatos) zu einer "Problemverschiebung" kommen, also zum Metaproblem des Verstehens eines Problems. Wissenschaftliche Problemstellungen versteht man ohnedies erst dann, wenn man sich einmal an einem aktuellen Problem abgearbeitet hat (und zwischendurch mehrfach gescheitert ist, weil gewisse prima-facie-Lösungen einfach nicht funktionieren). 5 3 Aber wir können aus unseren Fehlern lernen, zumal es in der Wissenschaft keinen "Königsweg" zum Erfolg gibt. Des weiteren läßt sich für Popper ein wissenschaftliches Resultat nicht rechtfertigen, sondern es läßt sich nur kritisieren und prüfen. 5 4 49 50 51 52 53 54

Popper 1993, S. 153. Popper 1993, S. 153/154. Popper 1993, S. 170. Popper 1993, S. 171. Popper 1993, S. 187. Popper 1993, S. 278. Für die Forschung bedeutet dies nach Popper 1993, S. 278/279: "In jedem Stadium der Forschung sei dir so klar wie möglich über das Problem; achte darauf, wie es sich verändert und deutlicher wird. Sei dir so klar wie möglich über die verschiedenen Theorien, an die du glaubst, und vergiß nicht, daß wir alle unbewußt an Theorien glauben oder ohne weiteres von ihnen ausgehen, obwohl die meisten von ihnen fast mit Sicherheit falsch sind. Versuche immer wieder, die Theorien, an die du glaubst, zu formulieren und zu kritisieren. Und versuche, Alternativtheorien aufzustellen selbst zu den Theorien, die als völlig zwingend erscheinen; nur so wirst du die Theorien verstehen, an die du glaubst. Immer, wenn dir eine Theorie als die einzig mögliche erscheint, nimm das als Zeichen, daß du weder die Theorie noch das zu lösende Problem verstanden hast. Und betrachte deine Experimente immer als Prüfungen einer Theorie - als Versuche, Fehler in ihr zu finden, sie aus den Angeln zu heben. Scheint ein Experiment oder eine Beobachtung eine Theorie zu stützen, so halte dir vor Augen, daß es in Wirklichkeit eine Alternativtheorie schwächt - womöglich eine, an die du noch gar nicht gedacht hast. Und habe den Ehrgeiz, deine eigenen Theorien zu widerlegen und zu ersetzen: Das ist bes-

Die Altersphilosophie Poppers: Welt 3

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Insbesondere setzt Popper auf die argumentative Funktion der Sprache, wie sie in ihrer höchsten Entfaltungsstufe innerhalb einer disziplinierten kritischen Diskussion auftritt. Die Kunst der kritischen Diskussion hat sich durch die Methode von Versuch und Irrtumselimination entwickelt, und sie übt den entscheidenden Einfluß aus auf die menschliche Fähigkeit zu rationalem Denken. Während sich die Evolution der Tiere weitgehend in der Veränderung von Organen (oder des Verhaltens) oder durch das Entstehen neuer Organe (oder Verhaltensweisen) vollzieht, ist die menschliche Evolution überwiegend durch die Entwicklung neuer "Organe" außerhalb unserer Körper oder Personen gesprägt, also "exosomatisch" bzw. "extra-personal": "Statt ein besseres Gedächtnis und Gehirn zu entwickeln, entwickeln wir Papier, Federn, Bleistifte, Schreibmaschinen, Diktiergeräte, Druckmaschinen und Bibliotheken. - Diese verleihen unserer Sprache - besonders ihrer deskriptiven und argumentativen Funktion - etwas, was man als neue Dimensionen bezeichnen kann. Die neueste Entwicklung (die hauptsächlich zur Unterstützung unserer argumentativen Funktionen gebraucht wird) ist die Entwicklung von Computern." 5 5 Die höheren Funktionen und Dimensionen unterwerfen evolutionär die niedrigeren einer Art plastischer Steuerung mit Rückkopplung. Vor allem kritische Argumente sind ein Mittel der Steuerung. "Wir sind nicht gezwungen, uns der Steuerung durch unsere Theorien zu unterwerfen, denn wir können sie kritisch diskutieren und ohne weiteres verwerfen, wenn wir den Eindruck haben, daß sie unseren regulativen Maßstäben nicht genügen. Die Steuerung ist also keineswegs einseitig. Nicht nur steuern unsere Theorien uns, sondern wir können unsere Theorien steuern (und sogar unsere Maßstäbe): Es gibt hier eine Art Rückkopplung. Und wenn wir uns unseren Theorien fügen, so tun wir das frei, nach Überlegung; das heißt nach kritischer Diskussion von Alternativen und nach freier Wahl zwischen den konkurrierenden Theorien im Lichte dieser kritischen Diskussion." 5 6 Poppers problemorientierte Evolutionstheorie besteht in nuce darin: "Alles Leben ist Problemlösen". 5 7 Problemlösen geht nach der Methode trial and error vor sich und wird durch Fehlerelimination/Irrtumsberichtigung kontrolliert und entsprechend korrigiert: "Damit wird es letzten Endes möglich, daß unsere Hypothesen an unserer Stelle sterben." 5 8 Beim Menschen sind die "Erzeugnisse unseres Geistes oft sehr viel mehr als 'ein Stück Materie' - etwa ein mit Zeichen versehenes Stück Papier; denn diese können den Stand einer Diskussion wiedergeben, den Stand des

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ser, als sie zu verteidigen und es anderen zu überlassen, sie zu widerlegen. Doch vergiß auch nicht, daß eine gute Verteidigung einer Theorie gegen Kritik notwendig zu jeder fruchtbaren Diskussion dazugehört, denn nur dadurch zeigt sich, wie stark sie ist und wie stark die gegen sie gerichtete Kritik. Es hat keinen Sinn, eine Theorie zu diskutieren und zu kritisieren, wenn wir sie nicht in ihre stärkste Form zu bringen versuchen und sie nur in dieser Form kritisieren." Popper 1993, S. 248/249. Popper 1993, S. 251. So bekanntlich der Titel einer Aufsatzsammlung letzter Hand, die posthum erschienen ist, Neuausg. Popper 1996 (zuerst 1994). Popper 1993, S. 255.

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Kritischer Rationalismus

Erkenntnisfortschritts, der (was manchmal schwerwiegende Folgen hat) das Begriffsvermögen der meisten oder sogar aller Menschen übersteigt, die an ihm mitgearbeitet haben." 5 9 Wir müssen Pluralisten sein und erkennen, daß die großen Veränderungen, die wir in unserer physikalischen Welt hervorgebracht haben und zu denen auch die sozialen und politischen Institutionen gehören, "zeigen, daß abstrakte Regeln und abstrakte Ideen, von denen manche von den Menschen vielleicht nur unvollständig erfaßt werden, Berge versetzen können." 6 0 In der Welt 3-Vorstellung Poppers ist nach meinem Eindruck alles virtuell beisammen, was wir für demokratietheoretische Anstrengungen sinnvoll benutzen und empirisch wie normativ abrufen sowie konstruktivistisch anordnen bzw. neu modellieren können, wohlgemerkt im Hinblick auf die Methode von Versuch und Irrtum und eine ständige Fehlerelimination/Irrtumsberichtigung, die über die Welt 2 zur Welt 1 läuft. Mehr ist uns wissenschaftlich nicht möglich, zumal wir immer problemorientierte (möglichst rationale und immer noch plurale) Auswahlen treffen und hierbei wie in der Folge auf neue Probleme stoßen. Jeder ernstzunehmende Wissenschaftler (und das sind die meisten) - völlig unabhängig davon, ob sie mit den Angeboten des kritischen Rationalismus etwas anzufangen wissen oder auch nicht - bezieht sich in einem selbstdiskursiven Sinne (und schon weil wir sprachliche Wesen sind) stets auf die Welt 3, ob er/sie es nun eingesteht oder nicht. Auch für neue Problemlagen schöpfen wir ständig aus der nie abgeschlossenen und nie vollständig erschlossenen Welt 3 6 1 , weil wir gar nicht anders können. Das dort geborgene, bewahrte und prinzipiell zur Verfügung stehende objektive Wissen umfaßt alle gewünschten Symbolkonstruktionen und Sinnmuster, Wertvorstellungen, Denkmuster und Begründungsfaktoren, Schlüsselbegriffe oder Invariationen, Kritikpunkte und Implikationen in bezug auf alle Erfahrungsebenen. Der Begriff "innovatives Gesamtkunstwerk" paßt für die Welt 3 am allerbesten. Hier sind die realhistorischen und utopischen Möglichkeiten der Gemeinwohlfingierung und aktuellen wie potentiellen Universalisierung gleichsam angelagert in Rücksicht auf eine diskursive Pluralität, die für unser Sprechen, Denken und Handeln als Bedeutungsstrukturen wichtig waren, es sind oder werden können (auch werden können sollten). Die Semantik des Verstehens und die distinkten 59 60 61

Popper 1993, S. 263/264. Popper 1993, S. 264. Popper 1996, S. 85/86: "Man kann .. leicht zeigen, daß die Erkenntnis des Universums, sofern sie selbst ein Teil des Universums ist (wie es tatsächlich der Fall ist), notwendigerweise nicht zu vervollständigen ist. - Stellen wir uns nur einen Mann vor, der eine genaue Karte des Zimmers zeichnet, in dem er arbeitet. Lassen wir ihn versuchen, in seine Zeichnung die Karte, die er gerade zeichnet, einzubeziehen. Es ist klar, daß er diese Aufgabe, die eine unendliche Zahl kleinerer und noch kleinerer Karten innerhalb jeder Karte einschließt, nicht erfüllen kann: Jedesmal, wenn er auf der Karte einen neuen Strich hinzufügt, schafft er ein neues Objekt, das zu zeichnen ist, aber noch nicht gezeichnet ist. Die Karte, die eine Karte von sich selbst enthalten soll, läßt sich nicht vervollständigen. Die Geschichte mit der Karte zeigt die Unvollständigkeit und Offenheit eines Universums, das Welt 3-Erkenntnisgegenstände enthält. Übrigens kann sie auch als Argument dafür benutzt werden, daß unser Universum indeterministisch ist."

Die Altersphilosophie Poppers: Welt 3

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Praktiken ereignen sich in der Welt 2 mit den Zusatzcodes der Gewöhnung oder Entscheidung. Ein universalistischer Grundkonsens und ein gemäßigter Relativismus oder Partikularismus könnten hierdurch eine szientistisch angeleitete Weltkultur begründen helfen, wenn wir den Blick auf die Welt 3 beibehalten, die die Kulturen hinter uns, um uns und vor uns für den öffentlichen Gebrauch mit der Erwartung von Kooperationsgewinnen und Synergieeffekten in nahezu lückenloser Weise abgespeichert hat. Für jedes Handlungsdesign und Institutionenkonstrukt liegen hier die sozialen und politischen Konstruktionsmuster (unter Einschluß von De- und Rekonstruktionen) bereit, ebenso die Parameter zur Abschätzung der damit verbundenen Risiken, die Typologien von der Erlebnis- bis zur Risikogesellschaft also. Die Erfahrungshorizonte der Welt 3 sind unendlich, über die Sinnrelevanz der Zuschreibungen und Implikate muß jeweils in der konkret-situativen Anwendung entschieden werden, die nie kontextfrei erfolgen kann. Ob große oder kleine "Erzählungen" und Sinnzusammenhänge resp. Mixturen hieraus bevorzugt werden, ist allerdings keine Frage der Welt 3 mehr. Ihr Vorzug ist allein, daß sie aus kritischen Argumenten (und Gegenargumenten) besteht und damit potentiell jede Selbstimmunisierungsstrategie desavouieren kann. Durch die digitale Revolution unserer Tage sind die Potentiale und Inhalte der Welt 3 steigerungsfähiger und abrufbarer zugleich geworden. Popper hätte die potenzierten Austauschmöglichkeiten wohl vor allem mit Blick auf die damit verbundenen soziokulturellen Chancen gesehen. 6 2 Auch andere Disziplinen haben die Vorstellung der Welt 3 aufgegriffen. 6 3 Allerdings wird die Bedeutung dieser Konzeptualisierung erst heute so richtig bewußt (und es wird wohl noch einige Zeit brauchen, um wesentlich breiter adaptiert zu werden). Dabei ist unübersehbar, daß wir uns auf eine Wissensrevolution vorzubereiten haben sowie die Informations- und globalisierte Kommunikationsgesellschaft das Signum der offenen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sein wird. Wer die gewiß spekulative These vertritt, daß mit der Online-Welt ein Parallel-Universum zur realen Welt im Entstehen be62

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Siehe hierzu Poppers Hinweise zu kommunikativen Revolutionen. Popper 1996, S. 215-218: "In Athen gab es etwa seit dem Jahre 530 vor Christi Geburt einen Markt, den es vorher nie, zumindest nirgendwo in Europa, gegeben hatte: einen freien Büchermarkt, einen Platz, an dem handgeschriebene und für den Verkauf hergestellte Bücher in der Form von Papyrusrollen angeboten wurden. ... Einen Büchermarkt gab es in Europa für längere Zeit nur in Athen (ich schätze für fast 200 Jahre). . .. Ich vermute, daß das kulturelle Wunder, das Athen im 5. Jahrhundert vor Christus darstellt, zum großen Teil durch die athenische Erfindung des Büchermarktes zu erklären ist; und diese Erfindung erklärt wohl auch die athenische Demokratie." Des weiteren ist in diesem Kontext hervorzuheben, daß die Meinungs- und Redefreiheit in Athen ein durchaus praktiziertes Ideal war (Hansen 1995, S. 25). Ferner sei es bemerkenswert, so Popper, "daß die Erfindung Gutenbergs im 15. Jahrhundert und die durch den Buchdruck ausgelöste große Erweiterung des Büchermarkts zu einer ähnlichen kulturellen Revolution führten: zum Humanismus. Durch die Neubelebung der antiken Literatur wurden alle Künste befruchtet. Eine neue Naturwissenschaft entstand; und in England führte die Reformation zu den beiden Revolutionen, der blutigen Revolution von 1648-49 und der unblutigen von 1688, mit der die stetige demokratische Entwicklung des englischen Parlaments begann. Hier jedenfalls lag ein deutlich sichtbarer Zusammenhang vor." Siehe im Kontext der linguistischen Wende in der Geschichtswissenschaft und Literatur beispielsweise Hanisch 1996, S. 229.

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griffen ist 64 , wird auch die Überlegungen Poppers zur Welt 3 besser nachvollziehen können. 6 5 Immerhin nutzten 1998 bereits rd. 147 Mio. Menschen das Internet - wenngleich zu unterschiedlichen Zwecken. Hinzu kommt, daß im Kontext der Forschung zur "Verteilten Künstlichen Intelligenz" (VKI), die immer mehr soziale Metaphern benutzt, auch gesellschaftliche Zusammenhänge als Computerprogramme modelliert werden können und computergestützte Aussagensysteme entstehen. 66 Im Hinblick auf Reflexivität und Optionalität sind jedenfalls alle Erkenntnis- und Inspirationsmöglichkeiten zu nutzen. Womöglich geht es bei allen Untersuchungen und Erprobungen im Rahmen der digitalen Revolution mehr und mehr um Fragen einer Kerninformatik, die zweifelsohne auch demokratietheoretische Bezüge und Auswirkungen hat. Jedenfalls wird die Ressource Wissen neben dem Kapital zum wichtigsten Produktionsfaktor der Zukunft. Das kontextuelle Wissen im Zusammenhang mit einem Deutungsprimat der sozialen und politischen Welt wird aber auch weiterhin und vielleicht noch mehr bei den Sozialwissenschaften liegen (müssen), worauf sie fach- und interdisziplinär derzeit nur wenig vorbereitet sind. Statt dessen werden des öfteren kulturkritische Töne angeschlagen. Dabei ist unübersehbar, daß bereits der PC eine "ReAlphabetisierung" eingeleitet hat. Auch entwickelt sich das Lesen im Zeitalter der elektronischen Medien keineswegs zurück, so sind im Gegenteil PC/Internet-User gleichzeitig die besten Bücherkäufer. 67 Auch die Medien Fernsehen und Buch ergänzen sich wechselseitig, wie es überhaupt geradezu ein ehernes publizistisches Gesetz ist, daß keine einmal etablierte Kommunikationsform jemals völlig verschwindet, sondern ständig in Gebrauch bleibt. 68 Bücher und Bibliotheken, die das Gedächtnis der Worte und Bilder besorgen, sind nach wie vor die wichtigsten Manifestationen der Welt 3. Der Paradigmenwechsel vom gedruckten, materiellen Buch in den virtuellen Raum des Internet bedeutet, daß wir - so Hans Ulrich Gumbrecht - an einer Schwelle angekommen sind, "hinter der die Funktionen des Geistes nicht mehr an das Hier-und-da-Sein des

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Siehe auch John Peny Barlow vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos vom 8. Februar 1996: "Regierungen der industriellen Welt, ihr trägen Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes.... Der Cyberspace besteht aus Transaktionen, Beziehungen und dem Denken selbst, die sich wie eine stehende Welle im Gewebe unserer Kommunikationen anordnen. Unsere Welt ist zugleich überall und nirgends, doch sie ist nicht dort, wo Körper leben." Zit. nach Fischbach 1998, S. 677. Es gibt im übrigen eine eigene Popper web site: The Karl Popper Web (http://www.eeng.dcu.i.e./~ tkpw). "Schwesternseiten" sind u.a.: Die Karl Popper-Sammlung, Universität Klagenfurt, The Feyerabend Forum, The Friedrich Hayek Scholars Page. Siehe ferner: George Soros - The Open Society (http://www.soros.org7gsbio.html). Siehe Malsch 1997. Forschung & Lehre Nr. 10/98, S. 533. Beispielsweise verlassen sich auch in der multimedialen Informationsgesellschaft noch immer viele auf Gerüchte und berufen sich auf das Hörensagen in der Alltagskommunikation. Der Klatsch hat ebenfalls Eingang in die massenmediale Welt gefunden, wenn man die zahlreichen Talkshows Revue passieren läßt. Zur Kulturgeschichte des Gerüchts siehe beispielsweise Neubauer 1998.

Die Altersphilosophie Poppers: Welt 3

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Körpers gebunden sind". 69 Der Computer erzeugt eine Generation von Untoten, die sich in einem global village tummeln. Intertextualität eröffnet die Möglichkeit zum Hypertext, zu einem Textuniversum, zu einem Supernetz, in dem sich die Texte mehr und mehr aufeinander beziehen: "So erscheint der Text aus interkultureller Perspektive als ein Medium der Erinnerung (Renate Lachmann), als Text- und Kulturspeicher. ... Das Internet, das den ... Begriff des 'Netzes' in die Praxis umsetzt, läßt sich als eine Radikalisierung ... deuten, indem es aufgrund unendlich vieler Links ein endloses Weiterlesen erlaubt. An Stelle einer Hierarchisierung der Texte tritt die dynamische Umkehrbarkeit der Einzeltexte im Hypertext." 70 Die imaginären Verbindungen und Assoziationen können im Netz eine sichtbare (gleichwohl virtuelle 71 ) Realität erlangen. Es können hierdurch alternative Welten erstellt werden. Ferner ist die Utopie der Vollständigkeit, der kompletten Erfassung allen Wissens nicht mehr völlig unwahrscheinlich. Das kollektive Gedächtnis des World Wide Web im Internet ist eine Art kollektives Gedächtnis. Das Internet ist zweifelsohne "das dichteste und weitreichendste System von Vernetzung, das bisher von Menschen realisiert wurde." 72 Diese neue Form des Schreibens und Lesens ist durch potentielle Ubiquität gekennzeichnet, d.h. sie ist der Möglichkeit nach überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort, jedem Menschen zugänglich (oder kann ihm zugänglich gemacht werden). Im Internet wird das Denken öffentlich und die Gedanken sind zur etwa gleichen Zeit überall. Benutzer des Internet werden zum Umschlagplatz eines unaufhörlichen Datenflusses: "Der allgegenwärtige Zugang zu Inhalten und deren umgehende Bearbeitung eröffnen neue Möglichkeiten für die Konzentration von Ideen und werden dadurch neue Formen des Wissens hervorbringen." 73 Es entsteht eine neue systematisierende Hyperordnung: "Die Schrift hat nach dem Stein, dem Pergament, dem Papier und ähnlich stabilen Trägern nun andere Wege der Distribution gefunden. Sie wird heute den zeitlichen Strukturen der Vernetzung entsprechend und nicht länger nach dem Prinzip räumlicher Klassifikation organisiert. ... Alles kann mit allem verbunden werden." 74 Ideen und Bedeutungen können stärker verdichtet werden: "Die Tatsache, daß jedem Benutzer theoretisch alle Datenbanken zugänglich sind, daß er theoretisch an ihnen teilhaben kann, spielt eine wesentliche Rolle bei der Verdichtung von Ideen. ... (Die) Konzentration der Benutzer gleicht einem Laserbeam, mit dem es gelingt, unmittelbar zum Kern einer Sache vorzudringen." 75 Die Indexleistungen 69 70 71 72 73 74 75

Zit. nach Schahadat 1998, S. 74. Schahadat 1998, S. 75. Kerckhove 1998, S. 78: "Wir können die Inhalte, die im Hypertext abgelegt sind, zwar jederzeit auf den Bildschirm holen, ihre Existenz wird aber immer virtuell sein." Kerckhove 1998, S. 77. Kerckhove 1998, S. 78. Kerckhove 1998, S. 78. Kerckhove 1998, S. 78.

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sind enorm steigerbar: "Inzwischen wird die gesamte Organisation von Texten vom Index übernommen. Informationen zu gruppieren und zu verbinden, Vorgänge also, die mit dem Inhalt einer Information zu tun haben, ist nicht mehr länger die Aufgabe des Inhaltsverzeichnisses. Das Inhaltsverzeichnis macht Aussagen über den Gegenstand eines Buches. Wir erfahren etwas über seine Themenstellung. ... Der Index geht vom Text selbst aus, das Inhaltsverzeichnis dagegen von der Bedeutung. Es handelt sich dabei um zwei recht unterschiedliche Formen der Organisation eines Textes. Hypertext baut auf dem Prinzip der Korrelation auf. Jeder beliebige Teil eines computerlesbaren Textes kann sofort zur Verfügung gestellt und automatisch, punktuell oder permanent, mit einem anderen Teil des Textes verknüpft werden. Der Text kann so präpariert werden, daß er jederzeit und überall, wo er gebraucht wird, entweder nur abgerufen oder wieder neu verbunden wird. - Ist der Index als Hypertext kodiert, sprengt er die (physischen) Grenzen des Buches. Denn das Zusammenstellen der Stichworte zu einem Thema wird immer über das hinausgehen, was ein einzelner Paragraph, ein Artikel oder ein Buch bieten können. Die Möglichkeit des Scannens liefert dabei den Schlüssel für das Aufsuchen von Texten und Kontexten." 76 Hinzu kommt eine neue Form der Interaktivität: "Jeder, der schon einmal mit Textverarbeitung zu tun hatte, wird entdeckt haben, daß das Schreiben auf dem Bildschirm den Verfahrensweisen des Denkens ähnlich ist, obgleich die Worte auf dem Bildschirm sich weitaus langsamer bewegen als im eigenen Kopf. Aber im Gegensatz zum Denken können Texte im Computer besser gespeichert werden. In der Textverarbeitung können Texte recht einfach gescannt, analysiert, sortiert, tabelliert werden. Wir sind Zeugen der Herstellung einer Sprache, in der sich Oralität und Literalität, individuelle und kollektive Imagination sowie private und öffentliche Strukturen des Denkens auf völlig neue Weise verbinden. Mittlerweise können Texte beispielsweise mit Farben und Bewegungssequenzen verbunden werden. Wir sind dazu aufgefordert, in eine völlig neue Beziehung zur Sprache [und zum Denken, A.W.] zu treten - eine Beziehung, die es größtenteils noch zu erforschen gilt." 77 Auch hier gilt: Die Zukunft ist offen. Zur Welt 3 gehören aber auch Kunstwerke, die wir nicht vergessen wollen. Claude Lévi-Strauss ist der Ansicht, daß wir immer eine Verbindung zwischen der Kunst und dem Übernatürlichen herstellen. Denn das ist "die etymologische Bedeutung des Wortes Enthusiasmus, mit dem wir gern die angesichts großer Kunstwerke empfundene Emotion zum Ausdruck bringen. Ehedem sprach m a n vom 'göttlichen' Raffael, und das Englische verfügt in seinem ästhetischen Vokabular über den Ausdruck out of this world." 7 8 Oft genüge es, frühere "Glaubensinhalte und Praktiken ... ins Figurative zu übertragen, um ihnen einen Zug von ver-

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Kerckhove 1998, S. 78/79. Kerckhove 1998, S. 79. Lévi-Strauss 1995, S. 168/169.

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trauter Verbundenheit mit den unseren zu verleihen". 79 Seine Schlußfolgerung in dem Band "Sehen Hören Lesen", der von den Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft - vornehmlich der Ethnologie - handelt, lautet: Der zufallige Wegfall "von zehn oder zwanzig Jahrhunderten Geschichte beeinträchtigte unsere Kenntnis des Wesens des Menschen nur unmerklich. Der einzige unersetzliche Verlust wäre der Verlust an Kunstwerken, die diese Jahrhunderte hätten entstehen sehen. Denn die Menschen unterscheiden sich ja nur, ja, existieren überhaupt nur durch ihre Werke. ... (Sie allein) liefern ... den Beweis, daß sich im Laufe der Zeiten unter den Menschen wirklich etwas ereignet hat." 80 Für Nelson Goodman schließlich sind sich die Enthüllung, die wir von der theoretischen Wissenschaft erhalten, und die wir von der Kunst erhalten, sehr ähnlich. 81 Welten und Universen von Welten können auf viele Weisen erbaut werden, und das Welterzeugen "geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen." 82 Welten werden nicht nur aus dem erzeugt, "was entweder buchstäblich oder metaphorisch gesagt wird, sondern auch aus dem, was exemplifiziert und ausgedrückt wird: nicht nur sagend, auch zeigend kann man Welten erschaffen." 83 Erkennen kann "nicht ausschließlich und auch nicht einmal primär eine Sache der Bestimmung dessen sein, was wahr ist. Eine Entdeckung machen bedeutet häufig nicht etwa, daß man zu einer Proposition gelangt, die vorgebracht und verteidigt wird, sondern gleicht eher dem Fund eines passenden Teils, das sich in ein Puzzle einfügen läßt. Erkennen zielt oft auf etwas anderes als auf eine wahre oder überhaupt auf eine Überzeugung. Wir schärfen unseren Blick oder erweitern unsere Einsicht..., wenn wir stilistische Unterschiede zwischen Werken wahrnehmen lernen, die bereits von Malern, Komponisten oder Schriftstellern klassifiziert wurden, oder wenn wir ein Bild, ein Konzert oder eine Abhandlung studieren, bis wir Merkmale und Strukturen sehen, hören oder erfassen, die wir vorher nicht auszumachen vermochten. Ein solcher Erkenntniszuwachs erfolgt nicht in der Bildung oder Festigung von Überzeugungen, sondern in einem Fortschritt des Verstehens. - Wenn Welten zudem ebensosehr geschaffen wie gefunden werden, dann ist auch das Erkennen ebensosehr ein Neuschaffen wie ein Berichten. Alle Prozesse der Welterzeugung ... sind Teil des Erkennens. ... Zur Entdeckung von Gesetzen gehört es, sie zu entwerfen. Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen gehen Hand in Hand." 84 Insofern müssen "die Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens - im umfassenden Sinne

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Lévi-Strauss 1995, Lévi-Strauss 1995, Goodman 1987, S. Goodman 1984, S. Goodman 1984, S. Goodman 1984, S.

S. 169. S. 172. 271. 19. 32. 36/37.

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des Verstehensfortschritts - ebenso ernst genommen werden .. wie die Wissenschaften". 85 Philosophie der Wissenschaft und Philosophie der Kunst bedeuten in homologer Weise Systematisierung und Organisation unserer Erkenntnisse. Wissenschaften und Künste sind überaus "kraftvolle Möglichkeiten .., unsere Welten zu erkennen und neu zu erzeugen." 86 Wissenschaft ist für Goodman "eine Manifestation unseres tiefen Bedürfnisses zu erkunden, zu erklären, zu erforschen - nicht um die Natur kontrollieren, unsere Feinde besiegen oder unseren Komfort anheben zu können, sondern schlicht um des Entdeckens, des Erkennens, des Verstehens willen. Sobald eine Entdeckung gemacht, Erkenntnis erworben, eine Erklärung gefunden wurde, geht die Wissenschaft dazu über, das zu untersuchen, was wir noch nicht verstehen. Wie die Ergebnisse, die sie hinterläßt, anzuwenden sind, stellt weniger ein wissenschaftliches, als vielmehr ein technologisches und administratives Problem dar, mit dem man sich in voller Anerkennung des Umstandes befassen muß, daß die Ergebnisse der Wissenschaft niemals endgültig oder vollständig sind ... Aber Wissenschaft ist nicht die einzige Möglichkeit, das Wissen zu erweitern. Praxis, Wahrnehmung und die verschiedenen Künste stellen gleichermaßen Möglichkeiten dar, Einsicht und Verstehen zu gewinnen. Die naive Vorstellung, daß Wissenschaft nach Wahrheit, Kunst jedoch nach Schönheit strebt, ist aus vielen Gründen falsch. Die Wissenschaft sucht nach relevanten, signifikanten, aufschlußreichen Prinzipien und läßt oft triviale oder hochkomplizierte Wahrheiten zugunsten durchschlagender, vereinheitlichender Approximationen beiseite. Und die Kunst sorgt ähnlich wie die Wissenschaft für ein Erfassen neuer Affinitäten und Gegensätze, widerspricht verbrauchten Kategorien, um neue Organisationen, neue Sehweisen der Welten, in denen wir leben, hervorzubringen." 8 7 Der kritische Rationalist und große Musikliebhaber Karl R. Popper hat, wie ich meine, diesen hier angesprochenen Kontexten mit seiner Altersphilosophie der "Drei-Welten-Lehre" den passenden Rahmen gegeben und für unsere stets tentativen Problemlösungen in eindrücklicher Weise fruchtbar gemacht.

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Goodman 1984, S. 127. Goodman 1987, S. 15. Goodman 1987, S. 17/18.

9. KAPITEL: HANS ALBERT: KRITISCHE VERNUNFT UND RATIONALE PRAXIS

Hans Albert, 1921 geboren, studierte Ökonomie/Betriebswirtschaftslehre in Köln und war Assistent von Gerhard Weisser, einem Kantianer aus der Schule Leonard Nelsons. 1 Albert habilitierte sich im zweiten Anlauf (nicht in Ökonomie, sondern jetzt in Sozialpolitik) und lehrte als Professor von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1989 "Soziologie und allgemeine Methodenlehre" bzw. (so die spätere Bezeichnung) "Soziologie und Wissenschaftslehre" an der Universität (zunächst Wirtschaftshochschule) Mannheim, privater Wohnsitz wurde Heidelberg. Seit 1955 besuchte er die Alpbacher Hochschulwochen in Tirol, wo er u.a. Paul Feyerabend und Hans Kelsen, seine spätere Frau Margarete von Pacher und im Jahre 1958 auch Karl Popper kennenlernte. Die Alpbacher Veranstaltungen und die Begegnungen mit Popper führten ihn zum kritischen Rationalismus. 2 Er nahm am später so bezeichneten "deutschen Positivismusstreit" in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas teil 3 und arbeitete seine Überlegungen zum 1968 erstmals publizierten, bis heute grundlegenden Traktat über kritische Vernunft aus, der Karl Popper gewidmet ist. 4 Hierin wendet sich Albert angesichts der Fehlbarkeit der Vernunft gegen jede Art von Letztbegründungsansprüchen, wie seine Schriften überhaupt eine umfassende Kritik von Methoden und Praktiken anderer Theoretiker und verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen enthalten. Im Traktat über kritische Vernunft sind seine Kombattanten die analytische Philosophie (Positivismus), die Hermeneutik (Existentialismus) und Dialektik (orthodoxer Neo-Marxismus) als die drei philosophischen Hauptströmungen der Nachkriegszeit. In dieser Auseinandersetzung werden von Albert zugleich die erkenntnistheoretischen Grundlagen des kritischen Rationalismus oder rationalen Kritizismus entwickelt, der mit einer wissenschafitli-

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Albert 1996a, S, 28: "Nach meiner Promotion im Sommer 1952 wurde ich Assistent in der von Gerhard Weisser geleiteten sozialpolitischen Abteilung des Forschungsinstituts fiir Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Kölner Universität. Weisser war im Jahre 1933 als sozialdemokratischer zweiter Bürgermeister von Hagen unter Protest zurückgetreten und wurde nach dem Krieg als leitender Ministerialdirektor in das nordrhein-westfälische Finanzministerium geholt. Dort erreichte ihn der Ruf auf den Kölner Lehrstuhl für Sozialpolitik. Er war weiter aktives Mitglied der SPD und wirkte in ihr im Sinne eines freiheitlichen Sozialismus." Siehe auch die autobiographische Einleitung in Albert 1984, S. 5-33 sowie Albert 1996a. Siehe Adorno 1993, S. 193-234, 267-305, 335-339. Der Positivismusstreit wurde bekanntlich erst im nachhinein zu einem "Streit", insbesondere durch die asymmetrische Einleitung Adornos, ebd., S. 778. Siehe Dahms 1994, S. 337-350. - Albert hat Habermas übrigens in Heidelberg zu einigen Gesprächen getroffen, vgl. Albert 1996a, S. 36. Albert 1991a.

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chen Ideologie-, Moral-, Religions-, Sozial- und Politikkritik zu verbinden sei. Die Idee der kritischen Prüfung ist nur eine Approximation an die Wahrheit, ohne jemals Gewißheit zu erzielen, denn alles Wissen habe einen provisorischen, hypothetischen Charakter. Durch permanente Kritik an Modellkonstruktionen, ihren Implikationen und Werturteilen, sollen für Albert insbesondere auch praktische Problemlösungen befördert werden. Vor allem geht es ihm durchgängig darum, verhängnisvolle Tendenzen zum Irrationalismus abzuwehren, der in einer Abschirmung gegen Argumente, Tatsachen und Informationen seinen Kern hat. In diesem Zusammenhang verdient zunächst das Münchhausen-Trilemma besondere Beachtung. 5 Die Suche nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis, also nach einer absoluten oder "letzten" Begründung - u.a. für Leibniz und Schopenhauer die Frage nach dem zureichenden Grunde -, ist prinzipiell aussichtslos. Wir können uns nicht wie der bekannte Lügenbaron am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Die drei Kalamitäten des Münchhausen-Trilemmas sind ein infiniter Regreß, ein logischer Zirkel in der Deduktion und ein arbiträrer Abbruch des Begründungsverfahrens. Praktisch wird das Trilemma zumeist dadurch aufgelöst, daß man den Begründungsregreß an einem Punkte abbricht und bestimmte Behauptungen als "offenbar wahr" auszeichnet. Albert spricht hier vom "Offenbarungsmodell" der Erkenntnis, das leider Gottes nicht nur auf theologische Aussagen und religiöse Zusammenhänge beschränkt ist. Das Münchhausen-Trilemma kann für Albert wirkungsvoll vermieden und aufgehoben werden: "Setzt man .. an die Stelle der Begründungsidee die Idee der kritischen Prüfung, der kritischen Diskussion aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente, dann verzichtet man zwar auf selbstproduzierte Gewißheiten, hat aber die Aussicht, durch Versuch und Irrtum - durch versuchsweise Konstruktion prüfbarer Theorien und ihre kritische Diskussion anhand relevanter Gesichtspunkte - der Wahrheit näher zu kommen, ohne allerdings jemals Gewißheit zu erreichen." 6 Es geht um den Verzicht auf selbstfabrizierte und daher epistemologisch wertlose Gewißheiten und um die kritische Prüfung aller Problemlösungsversuche. An die Stelle des klassischen Begründungsdenkens tritt ein konsequenter Fallibilismus, der keine Unfehlbarkeit und Dogmatisierung anerkennt: "Es gibt weder eine Problemlösung noch eine für die Lösimg bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müßte." 7 Vermieden werden müssen Denkverbote, Immunisierungsversuche von Theorien und Interpretationsmonopole (mitsamt einem womöglichen Gehorsamsanspruch, einer Glaubenspflicht und Verfolgungen Andersgläubiger), statt dessen müsse stets der kritische Dialog mit der Wirklichkeit gesucht und gewagt werden (dürfen), denn: "Institutionelle Praktiken, die die Konkurrenz der 5 6 7

Albert 1991a, S. 15-18, 257-268. Albert 1991a, S. 42. Albert 1991a, S. 44 (Hervorhebung A.W.).

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Ideen ausschalten, das Aufkommen alternativer Lösungen von Problemen verhindern, religiöses oder politisches Parteiliniendenken indoktrinieren, und das alles, weil bestimmte soziale Rollenträger den Anspruch erheben, im alleinigen Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein, haben nur die Wirkung, Intoleranz, Engstirnigkeit, Starrheit, Dogmatismus und Fanatismus zu fördern und die geistige und moralische Entwicklung aufzuhalten." 8 Albert behauptet demnach einen Zusammenhang zwischen erkenntnistheoretischen und sozialphilosophischen Auffassungen, von Rationalität und Engagement. Es kommt ihm explizit "nicht darauf an, den verborgenen Sinn des sozialen Geschehens zu enthüllen oder dieses Geschehen mit einer höheren Weihe zu versehen, sondern darauf kritische Gesichtspunkte und konstruktive Ideen zur Lösung der politischen Problematik beizusteuern". 9 Man habe "politische Problemlösungen stets als Hypothesen zu betrachten und zu behandeln .., auch wenn sie in der herrschenden Ideologie für sakrosankt erklärt und daher dogmatisiert werden. ...Wer in der Erkenntnistheorie für eine kritische Methode eintritt, weil er der Ansicht ist, daß man aus Irrtümern lernen kann, daher seine Auffassungen der Kritik aussetzt und sie mit möglichen Alternativen konfrontiert, auf deren Hintergrund sich ihre Schwächen deutlicher zeigen, der wird für die Lösung politischer Probleme keine andere Methode bevorzugen. Da solche Alternativen aber oft viel besser von denen präsentiert werden, die sie wirklich vertreten, erscheint es angezeigt, in Auseinandersetzungen mit diesen Verfechtern andersartiger Auffassungen einzutreten und daher über den theoretischen Pluralismus hinaus einen sozialen und politischen Pluralismus ins Auge zu fassen. Will man einen solchen Zustand herbeifuhren, dann wird man für Gedankenfreiheit und alles das eintreten müssen, was diese Freiheit und damit auch die Freiheit des geistigen Austauschs wirksam macht, also auch gegen Hemmnisse wie die Zensur und überhaupt die geistige Kontrolle durch Autoritäten, die Zwangsmittel anwenden können, um die Verbreitung ihnen unangenehmer Anschauungen zu verhindern. So hängen also Wahrheitsstreben, kritische Methode und politische Freiheit eng miteinander zusammen. Die kritische Methode muß nämlich - auch schon für ihre Wirksamkeit im wissenschaftlichen Bereich - institutionell gestützt, ihr Funktionieren durch die institutionellen Vorkehrungen der Gesellschaft ermöglicht werden. Die Sozialphilosophie des Kritizismus kann schon aus diesem Grunde nicht politisch neutral sein." io Es können auch Utopien zur kritischen Prüfung herangezogen werden: "Da sich die Schwächen eingefahrener politischer Problemlösungen am besten im Lichte von Alternativen zeigen, können auch utopisch erscheinende Auffassungen dazu herangezogen werden, solche Lösungen zu kritisieren, da sie zumindest 8 9 10

Albert 1975d, S. 24 ??? Albert 1991a, S. 207. Albert 1991a, S. 207/208.

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skizzenhaft auf andere denkbare Lösungen hinzuweisen pflegen. ... (Man kann) der Utopie eine analoge Rolle für das politische Denken zuschreiben wie der Metaphysik für die wissenschaftliche Erkenntnis. 11 Auch sie formuliert etwas nach vorherrschender Auffassung Unmögliches, was aber nach Änderungen der wissenschaftlichen Erkenntnis oder der sozialen Verhältnisse sich unter Umständen doch als möglich erweisen läßt. Zudem drücken sich in ihr nicht selten Wünsche aus, die unter den gegebenen sozialen Verhältnissen nicht erfüllt werden und möglicherweise auch nicht erfüllt werden können. In dieser Hinsicht sind sie weniger wegen der in ihnen angedeuteten positiven Lösungen, als wegen der ihnen innewohnenden Hinweise auf vorhandene konkrete Übelstände von Bedeutung. Die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft im Marxismus enthält kaum irgendwelche realisierbaren Vorschläge zur Lösung sozialer Probleme, aber sie weist kritisch auf das Negativum einer extremen Klassengesellschaft hin, in der große Teile der Bevölkerung in schwer erträglichen Verhältnissen leben." 12 Auch mögen "im sozialen Vakuum des utopischen Denkens .. zwar alle Bedürfnisse miteinander vereinbar und daher alle Wünsche erfüllbar erscheinen, in der sozialen Wirklichkeit aber herrscht der Tatbestand der Knappheit und bestehen damit Beschränkungen für die Bedürfnisbefriedigung, die in einer realistischen Sozialkritik berücksichtigt werden müssen. Wer die Sozialphilosophie nicht dem Irrationalismus ausliefern will, kann daher utopisches Denken nur in realistischer Vermittlung sozialkritisch wirksam werden lassen. Nur auf dem Hintergrund realer Möglichkeiten läßt sich eine rationale Beurteilung der gegebenen sozialen Verhältnisse bewerkstelligen, nicht auf der Basis einer abstrakten Möglichkeit, die dem Wunschdenken entstammt. Eine rationale Sozialkritik kann also das Problem der Realisierbarkeit nicht außer acht lassen. Sie kann zwar die vorliegenden Zustände durchleuchten und dabei Mißstände identifizieren, aber sie darf nicht den Eindruck erwecken, es gebe keine Einschränkungen für die simultane Behebung aller Mängel und für die Realisierung einer fehlerfreien Sozialordnung und einer Gesellschaft ohne Schwächen." 13 Gegenüber einem unfruchtbaren Alternativ-Radikalismus wird man im Zusammenhang mit der unabweisbaren Frage der Realisierbarkeit in kritisch-konstruktiver Weise "davon ausgehen müssen, daß die Gesellschaft keine tabula rasa ist, die man auf politischem Wege mit beliebigen Mustern versehen kann, sondern daß jede politische Aktion einen Eingriff in mehr oder weniger stark strukturierte soziale Situationen involviert und daß man daher gut daran tut, das institutionelle Apriori in Rechnung zu stellen, durch das diese Situationen geprägt sind, nicht weil es sich hier um unabänderliche soziale Tatbestände handeln würde, sondern 11 12 13

Albert verdankt diesen Gedanken im übrigen einem Hinweis von Paul Feyerabend, siehe Albert 1991a, S. 61, Anm. 40. Albert 1991a, S. 208/209. Albert 1991a, S. 209/210.

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weil darin auf jeden Fall Einschränkungen für mögliche Änderungen liegen, die eine realistische Politik berücksichtigen muß. Die einer politischen Entscheidung vorhergehende Alternativ-Analyse muß die Struktur der jeweiligen Ausgangs Situation berücksichtigen, wenn sie auf die Bestimmung realisierbarer Alternativen abzielt. Soweit für die Konstruktion solcher Alternativen nomologisches Wissen irgendwelcher Art in Anspruch genommen wird, setzt seine Anwendung ... die Charakterisierung der relevanten Züge der jeweiligen Anwendungssituation mit Hilfe des theoretischen Instrumentariums voraus, also auch die der in Betracht kommenden Quasi-Invarianzen institutioneller Natur. In dieser Konkretisierung der nomologischen Einschränkungen, die uns in allgemeiner Form durch unser theoretisches Wissen vermittelt werden, zeigt sich die historische Dimension der politischen Verwertung der realwissenschaftlichen Erkenntnis. Diese Dimension kann nur auf Kosten der Realistik des politischen Denkens und Handelns vernachlässigt werden." 14 Man wird sich aber "im politischen Denken - ebenso wie in der wissenschaftlichen Erkenntnis - mit der Tradition, das heißt hier also: mit den überlieferten sozialen Strukturen, kritisch auseinandersetzen müssen. Man wird sie also als überkommene und teilweise institutionell verfestigte Versuche der Lösung sozialer und politischer Probleme ansehen, angesichts deren man sich zu fragen hat, inwieweit sie sich bewährt haben und wo ihre Schwächen und Nachteile liegen. Gerade ein solches Vorgehen erfordert aber die ... Konstruktion realistischer Alternativen und die Heranziehung des dazu relevanten nomologischen Wissens, denn zur Verbesserung politischer Problemlösungen ist eine komparative Analyse erforderlich. Geht es um Probleme, für die dauerhafte Lösungen auf längere Sicht zu finden sind, dann müssen institutionelle Alternativen miteinander verglichen und für die Konstruktion und Ausarbeitung dieser Alternativen muß auf das vorhandene sozialtechnologische Wissen zurückgegriffen werden." 15 Es ist bei der Methode der kritischen Prüfung insoweit analytisch zu fragen: "Was würde geschehen, wenn diese oder jene Maßnahmen ergriffen würden? Unter welchen Umständen könnte dieser oder jener Effekt erzielt werden? Welche Nebenwirkungen wären unvermeidlich, wenn man dieses oder jenes Ziel oder diese oder jene Zielkombination erreichen wollte? Alle diese Fragen machen für ihre Beantwortung technologische Erwägungen auf nomologischer Basis erforderlich." 16 14 15 16

Albert 1991a, S. 213. Albert 1991a, S. 213/214. Albert 1991a, S. 214. - Zum Technologie-Begriff bei Albert fuhrt Hilgendorf aus: "Der bei Albert häufig vorkommende Ausdruck 'Technologie' ist oft mißverstanden worden. 'Technologie' ist keineswegs gleichbedeutend mit 'Technokiatie' - eine Verwechslung, die sich bei sorgfältigerer Lektüre leicht hätte vermeiden lassen. Die positive Bestimmung von 'Technologie' ist allerdings alles andere als einfach. ... Ziel der Technik ist die Schaffung von Mitteln zur Verwirklichung bestimmter praktisch vorgegebener Zwecke. So stellen sich technische Fragen, wenn es um die Errichtung stabiler Gebäude oder Brücken oder die Konstruktion besonders leistungsfähiger Maschinen geht. Um erfolgreich zu sein,

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Die Methode der kritischen Prüfung "legt den Akzent nicht auf die Fixierung und Legitimierung tradierter Problemlösungen, sondern auf die Erfindung neuer Lösungen und ihre kritische Konfrontierung mit denen, an die wir uns gewöhnt haben und die wir daher allzuleicht für selbstverständlich halten." Bei der Umsetzung dieser Methode in die Praxis des sozialen Lebens sind für Albert zwei Aspekte zu berücksichtigen: "erstens die Tatsache, daß der Übergang von der AlternativAnalyse zur Realisierung der Politik den Charakter rationalen sozialen Experimentierens verleiht, ... und zweitens die Tatsache, daß die Alternativ-Analyse selbst in die soziale Praxis eingebettet ist und in gewissem Umfang die Form einer rationalen Diskussion zwischen Verfechtern verschiedener Auffassungen annehmen kann. Damit erhält das methodische Prinzip der kritischen Prüfung, das hier wie im Bereich der Wissenschaft eine soziale Dimension hat, auch insofern politische Bedeutung, als hinter diesen divergierenden Auffassungen verschiedene politische Kräfte stehen, in deren Interesse es liegt, von den bei ihnen jeweils dominierenden Wertgesichtspunkten her verschiedene Aspekte der alternativ vorgeschlagenen Problemlösungen zu beleuchten und die ihnen auf Grund dieser Gesichtspunkte relevant erscheinenden Vorzüge und Nachteile dieser Lösungen zu akzentuieren. Die reale Repräsentation miteinander unvereinbarer Auffassungen im sozialen Kräftefeld sorgt dafür, daß hier so etwas wie eine Realdialektik entsteht". 17 Nach kritizistischer Auffassung kann es dabei keineswegs die Aufgabe der (Sozial-)Philosophie sein, "irgendwelche soziale Ordnungen, Institutionen oder Maßnahmen zu rechtfertigen. Wir haben vielmehr allen Grund, solche Tatbestände als mit Fehlern behaftete Problemlösungen zu betrachten, die auf jeden Fall verbesserungs- und revisionsbedürftig sind. Es gibt auch hier keinen archimedischen Punkt, der es gestatten würde, eine endgültige Lösung auszuzeichnen." 18 Albert beruft sich hierbei auf Grundelemente des griechischen Denkens, nämlich auf die bis auf die Vorsokratiker 19 zurückgehende Tradition 2 0 des kritischen Denkens,

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setzt die Technik nomologisches Wissen, also ein Wissen von den Regelmäßigkeiten der uns umgebenden Welt und den Wirkungen unserer Tätigkeiten, voraus, doch wird dieses Wissen nicht in den Mittelpunkt gestellt, ja oft nicht einmal explizit gemacht. Anders verhält es sich in der Wissenschaft: Ihr Ziel ist die Gewinnung von Erkenntnis um ihrer selbst willen, auch wenn dabei häufig die Lösung praktischer Probleme einen wichtigen Motivationsfaktor der beteiligten Forscher bilden dürfte. Der Wissenschaft geht es um Wahrheit, der Technik um Nützlichkeit. - In gewisser Weise "zwischen" Technik und reiner Wissenschaft steht die Technologie. Anders als die Technik verwendet sie explizit nomologisches Wissen, sie trägt sogar dazu bei, dieses Wissen zu mehren und zu sytematisieren, doch im Gegensatz zur reinen Wissenschaft geht es ihr stets primär um die Lösung praktischer Probleme. Der technologische Einsatz nomologischen Wissens erfordert als solcher keine Wertungen; Technologien behandeln bloß die Mittel, die auf der Grundlage der bekannten Gesetzmäßigkeiten erforderlich sind, um bestimmte, schon definierte Ziele zu erreichen. Früher bezeichnete man technologische Disziplinen als 'Kunstlehren', allerdings ist dieser Ausdruck heute eher mißverständlich, weil er eine künstlerische oder ästhetische Dimension suggeriert. Deutlicher ist es, von einer 'angewandten Wissenschaft' zu sprechen." Hilgendorf 1997, S. 125/126. Albert 1991a, S. 215. Albert 1991a, S. 217. Vgl. Popper 1994c, S. 198-242. Albert 1975d, S. 42: "Die Tradition der kritischen Prüfung macht weder vor Glaubensbeständen aller Art noch vor Institutionen halt. Sie kultiviert in bezug auf alle Tatbestände eine Einstellung, die nicht

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"aus der wir gelernt haben, unsere Probleme dadurch zu lösen, daß wir spekulativ entworfene und logisch durchkonstruierte Lösungen einer rationalen Diskussion unterwerfen. Diese Methode verschafft uns keinerlei Gewißheit, auch nicht die bescheidene Gewißheit, daß wir uns auf der Seite derjenigen Kräfte befinden, deren Wirken dem Sinn der Geschichte entspricht. Aber sie gibt uns die Möglichkeit, aus unseren Irrtümern zu lernen und dabei die Hilfe unserer Mitmenschen nicht zurückzuweisen, gerade auch wenn sie andere Gesichtspunkte, Ideen und Erfahrungen haben." 2 1 Zielvorstellung der Konzeption des kritischen Rationalismus ist es sonach für Albert, "den Erkenntnisfortschritt nach Möglichkeit zu fördern und ihn für die soziale Entwicklung fruchtbar zu machen". Es gehe nicht darum, den Resultaten wissenschaftlichen Denkens eine Wahrheitsgarantie zu verschaffen, vielmehr ziele der kritische Rationalismus darauf, "die Schwächen bisheriger Problemlösungen aufzudecken, die Entdeckung alternativer Lösungen zu begünstigen und die Weiterentwicklung von Problemstellungen und Lösungen zu fördern". Insbesondere gehöre die Rekonstruktion einer bestehenden Problemsituation zu den wichtigsten Aufgaben einer solchen Analyse: "Daß es sich dabei keineswegs bloß um eine Registrationsaufgabe handelt, sondern um ein kritisch-konstruktives Unternehmen, bedarf kaum besonderer Betonung, ebensowenig wie die Tatsache, daß die Problemsituation, die dabei jeweils herauszuarbeiten ist, historischen Charakter hat und vom Entwicklungsstand der betreffenden Disziplinen abhängig ist. Unter den Gesichtspunkten des kritischen Rationalismus ist die Analyse der jeweils historisch gegebenen Problemsituation eine im Grunde genommen heuristische Aufgabe, denn sie geschieht nicht zur Rechtfertigung des Status quo in den betreffenden Erkenntnisbereichen, sondern zur Verbesserung und zur Überwindung bisheriger Problemlösungen in Richtung auf den Fortschritt der Erkenntnis." 2 2 Insofern seien die "Resultate und Methoden der verschiedenen Disziplinen füreinander fruchtbar", nicht aber und im Gegenteil durch Abschirmung (bzw. ein wissenschaftliches "Revierverhalten") einwands- und "kritikimmun" zu machen. 2 3 Hingegen stelle der kritische Rationalismus "unter heuristischem Gesichtspunkt die Autonomie wissenschaftlicher Einzeldisziplinen prinzipiell in Frage. Er legt den Akzent nicht auf die Abgrenzung der Fachgebiete und ihre Abschirmung gegen Ideen und Methoden, die in ihnen bisher nicht üblich waren, sondern auf die Überbrückung solcher Bereichsgrenzen zur Förderung des Erkenntnisfortschritts. ... Heute (...) stellt sich diese Brückenproblematik in neuer Form. Es geht nicht mehr darum, einen gegen kritische Argumente und gegen Revision gesicherten Ein-

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auf bloße Bewahrung, sondern auf Bewährung zielt, wobei auch die jeweiligen Kriterien der Bewährung keineswegs von der Kritik ausgenommen sind." Albert 1991a, S. 218. Albert 1972b, S. 4. Albert 1972b, S. 4/5.

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heitsbau des menschlichen Wissens aufzurichten, in dem alle Resultate der verschiedenen Disziplinen untergebracht werden können, sondern vielmehr darum, die in einem Bereich erzielten - stets vorläufigen - Problemlösungen kritisch und konstruktiv für die Analyse der Problemsituation in anderen Bereichen, für die Verbesserung der dort erreichten Lösungen und für die Weiterentwicklung der Probleme zu verwerten und damit den Pluralismus der Gesichtspunkte zu nutzen, der unausweichlich immer wieder zu Widersprüchen und durch ihre Überwindung zu Erkenntnisfortschritten fuhren wird." 2 4 Es bestehe jedenfalls "kein Grund, in bestimmten Bereichen, etwa dem der Sozialwissenschaften, von dem in den Naturwissenschaften bewährten Erkenntnisideal der Erklärung aller Erscheinungen auf der Basis für diesen Zweck geeigneter Theorien abzuweichen", denn das "Ziel, mit Hilfe erklärungskräftiger Theorien zu Erkenntnissen über die strukturelle Beschaffenheit der Realität, auch zum Beispiel der sozialen Wirklichkeit, zu gelangen, wurde bisher von keiner Seite als unerreichbar nachgewiesen." 2 5 Die wichtigsten Aufsatzsammlungen von Hans Albert tragen für sein Denken besonders aufschlußreiche und charakteristische Titel: Plädoyer für kritischen Rationalismus, Konstruktion und Kritik, Aufklärung und Steuerung, Kritische Vernunft und menschliche Praxis. 2 6 Wenn wir danach streben, so Albert, "die Beschaffenheit der Wirklichkeit - bzw. bestimmter Ausschnitte der Wirklichkeit - zu erforschen, immer tiefer in sie einzudringen, ihre Strukturen bloßzulegen und auf dieser Grundlage systematisch die Phänomene zu erklären, denen wir begegnen, so sind für die Lösung dieser Aufgabe Theorien erforderlich, die informativen Gehalt und Erklärungskraft besitzen. Solche Theorien können wir als freie Schöpfungen oder Konstruktionen des menschlichen Geistes ansehen, die gewissermaßen dem Widerstand der Realität ausgesetzt werden müssen, damit sie Gelegenheit bekommen, zu scheitern, und damit wir feststellen können, inwieweit sie der Wahrheit nahezukommen scheinen. Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich durch Konstruktion und Kritik, wobei die Erfindung theoretischer Alternativen und die Erfindung und Herstellung brauchbarer experimenteller Situationen - bzw. die Suche nach relevanten Tatsachen - eine wichtige Rolle spielen." 2 7 - Aufklärung und Steuerung wiederum sind zwei Weisen der Praxisorientierung, die von einer Erklärung auf nomologischer Grundlage ausgehen. 2 8 "Eine Aufklärung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse wird nicht nur Klarheit über Tatsachen, sondern vor allem auch über Zusammenhänge, über Möglichkeiten und damit auch über Beschränkungen zu schaffen suchen, denen das menschliche Handeln - und damit die soziale Praxis - unterworfen ist." 2 9 Unter Steuerung versteht Albert die

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Albert Albert Albert Albert Albert Albert

1972b, S. 6. 1972b, S. 7. 1975b, 1975c, 1976, 1984. 1975c, S. 198/199. 1976, S. 20/21. 1976, S. 22.

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konstruktive (oder "technische") Verwendung der Realwissenschaften für die soziale Praxis: "Ihre Möglichkeit beruht darauf, daß man das 'nomologische' oder Gesetzeswissen, das in ihnen gewonnen wird, in eine Form bringen kann - seine technologische Form -, die erkennen läßt, welche Wirkungsmöglichkeiten für menschliches Handeln in bestimmter Hinsicht existieren. Einen Tatbestand erklären heißt, gewissermaßen unter anderem auch: zeigen, wie man ihn prinzipiell vermeiden oder wie man ihn herstellen kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, das heißt: wenn bestimmte Eingriffe in das natürliche und das soziale Geschehen im Bereich des Möglichen liegen. Wenn es gelingt, das für die betreffende Problemlösimg in Betracht kommende technologische Wissen auf Ansatzpunkte für menschliches Handeln zu beziehen, wie sie in der jeweiligen Situation vorliegen, dann läßt sich das Geschehen in dem betreffenden Bereich in Richtung auf bestimmte erwünschte Resultate steuern oder man hat zumindest Anhaltspunkte dafür, wie es zu steuern wäre." 3 0 Und: "Aufklärung kann den Boden für eine Politik bereiten, die auf eine vernünftige Steuerung des sozialen Geschehens abzielt. Andererseits kann die Politik durch eine solche Steuerung auch dazu beitragen, daß sich die Chancen der Wirksamkeit von Aufklärung erhöhen". 3 1 Albert lehnt einen (kognitiven wie normativen) Modell-Platonismus ab, der in der Vorstellung besteht, "man müsse das Gegebene an einem absolut guten Zustand messen, einem Idealzustand, der Vision einer guten Gesellschaft, wie sie sich aus einer ohne Rücksicht auf Realisierbarkeit vollzogenen moralisch-politischen Spekulation ergeben könne, und dann versuchen, durch praktische Politik die Abweichungen der gegebenen Verhältnisse von diesem Zustand mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu eliminieren, um den Idealzustand herbeizufuhren. Dieser absolut gute Zustand liegt aber de facto immer jenseits dessen, was wir aufgrund unseres beschränkten Wissens und der beschränkten Macht realisieren können." 3 2 Man wird sich dazu entschließen müssen, auf die Realisierung der absolut guten Gesellschaft zu verzichten, denn: "Es kommt nicht darauf an, ein abstraktes Ideal zu realisieren, sondern von der konkreten Situation her zu argumentieren, d.h. zum Beispiel: tatsächlich vorliegende Schwächen unseres sozial-institutionellen Gefuges, unserer Traditionen, Institutionen, Denkweisen und Methoden zu lokalisieren und einer Kritik im Lichte des vorhandenen sozialen Wissens zu unterwerfen. 3 3 Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß man sich zur Aufdeckung konkreter sozialer Übelstände an einem abstrakten Ideal einer vollkommenen Ge-

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Albert 1976, S. 22/23. Albert 1976, S. 24. Albert 1976, S. 79. So lehnt Albert auch die "Deutung des sozialen Apparats - der institutionellen Systeme der repräsentativen Demokratie oder der freien Verkehrswirtschaft - als einer Induktionsmaschine zur Umsetzung individueller Interessen in politische oder ökonomische Entscheidungen zur Realisierung der allgemeinen Wohlfahrt" ab, denn sie sei geeignet, "das tatsächliche Funktionieren der betreffenden Institutionen zu verklären und die mit ihnen verbundenen sozialen Tatbestände der Herrschaft und des Konflikts zu verschleiern", Albert 1991a, S. 204.

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sellschaft orientieren müsse. Dieser Irrtum ist analog zu dem im Bereich der Erkenntnistheorie, daß man, um Irrtümer aufzudecken, die volle Wahrheit bzw. ein Kriterium der Wahrheit haben müsse. De facto ist man dagegen im Bereich der Wissenschaft genötigt, sich ohne ein solches Kriterium durch Versuch und Irrtum an die Wahrheit heranzutasten, ohne sie jemals genau zu kennen. Die Methodologie der Realwissenschaften kennt daher nur eine relative Bewährung von Theorien, die prinzipiell immer provisorisch ist. ... Die Fiktion, man brauche .. nur auf ein in abstracto entworfenes Ideal zurückzugreifen, ist einer tatsächlichen Lösung nicht sehr förderlich. Es kommt vielmehr darauf an, unter Verwendung unseres sachlichen Wissens Lösungen zu erfinden und sie praktisch auszuprobieren, Lösungen, von denen wir durchaus annehmen dürfen, daß sie auch bei vorläufiger Bewährung sich später einmal als revisionsbedürftig erweisen können." 3 4 Wir können als Zwischenresümee mit Hans Albert drei für ihn wesentliche Komponenten des kritischen Rationalismus festhalten: "der konsequente Fallibilismus, der die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen in bezug auf alle möglichen Probleme betont, sich also auf die gesamte menschliche Praxis bezieht; der methodische Rationalismus, der ein am Prinzip kritischer Prüfung orientiertes Rationalitätsmodell involviert und die Rolle der konstruktiven und kritischen Phantasie im Problemlösungsverhalten in Rechnung stellt; und der kritische Realismus, der die Möglichkeit einer, wenn auch fehlbaren, Erkenntnis der Wirklichkeit ins Auge faßt und sich damit an der regulativen Idee der Wahrheit orientiert und der darüber hinaus für alle Bereiche der menschlichen Praxis die Bedeutung der Realisierbarkeitsproblematik - und damit die Rolle von Erkenntnissen aller Art - akzentuiert. Ein Kritizismus, der diese Komponenten enthält, impliziert aber die prinzipielle Revidierbarkeit nicht nur der Erkenntnis, sondern auch aller Normierungen im Bereich der menschlichen Praxis - aller Ideale, Kriterien und Methoden - auf der Basis kritischer Argumente." 3 5 Das Überbrückungsproblem zwischen Erkenntnis und Entscheidung, Theorie und Praxis wird von Albert näherungsweise durch Brücken-Prinzipien gelöst, das sind Maximen zur "Überbrückung der Distanz zwischen Soll-Sätzen und Sachaussagen und damit auch zwischen Ethik und Wissenschaft". 3 6 Bei Albert sind im wesentlichen mehrere solcher Maximen anzutreffen, einmal der Satz: Sollen impliziert Können (bzw. Nicht-Können impliziert Nicht-Sollen) 37 , womit das bereits thematisierte Realisierbarkeitspostulat angesprochen ist, ferner (damit zusammenhängend) das Kongruenz-Postulat, mit anderen Worten: Normen oder Werte, die, um sinnvoll zu sein, die Existenz von wissenschaftlich prinzipiell unerkennba-

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Albert Albert Albert Albert

1976, S. 81. 1984, S. 26/27. 1991a, S. 92. 1991a, S. 91/92.

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ren Faktoren und Zusammenhängen voraussetzen, sind abzulehnen. 3 8 Schließlich - in nuce - das Brückenprinzip der "minimalen Bedürfnisbefriedigung".39 Weitere Brückenprinzipien hält Albert für möglich, um so Maßstäbe für eine Kritik an normativen Aussagen zu gewinnen: "Neue Ideen und neue Erfahrungen können uns dazu bringen, unser kognitives System in irgendeiner Weise umzustrukturieren, und auf diesem Wege auch dazu, unser Wertsystem zu ändern. Zwar ist, wie wir wissen, aus einer Sachaussage nicht ohne weiteres ein Werturteil deduzierbar, aber bestimmte Werturteile können sich durchaus im Lichte einer revidierten sachlichen Überzeugung als mit bestimmten Wertüberzeugungen, die wir bisher hatten, unvereinbar erweisen. Die kritische Verwendung der erwähnten BrückenPrinzipien ist ein Mittel, solche Unvereinbarkeiten aufzudecken." 4 0 Wir kommen damit zur Sozialphilosophie des kritischen Rationalismus, wie sie Albert konzipiert hat, wobei es ihm vornehmlich um die Verfassung der Freiheit und die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung geht. 4 1 38

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Albert 1991a, S. 92: "So ist die Annahme, daß höhere Wesen im Himmel das Recht haben, den Menschen Befehle irgendwelcher Art zu erteilen, und dieses Recht an ein Stammes- oder Staatsoberhaupt delegiert haben, zwar mit bestimmten soziokosmischen Weltdeutungen vereinbar, aber nach unserem heutigen Wissen auf Grund dieses Kongruenzpostulats kritisierbar. Die daraus sich ergebende Kritik läßt sich auf den Inhalt von Normen erweitern, die ihre einzige Stütze in einer Annahme dieser oder ähnlicher Art haben." Diese wie jede Art politischer Theologie wird vom bekennenden Atheisten Albert durchgängig abgelehnt, da sie nicht rational zu diskutieren ist. Hilgendorf 1997, S. 138/139. - Bei Albert bestehen mit dem Postulat der Sicherung der Lebensbedürfnisse aller Mitglieder einer Gesellschaft, nach Möglichkeit gepaart mit kultureller, sozialer und politischer Vielfalt und ausgerichtet am Prinzip der freien Entfaltung aller Individuen, auf deren Autonomie die Ordnung eigentlich erst aufbaut, starke Anklänge an die schottische Moralphilosophie, vgl. Albert 1976, S. 28, 54. - Allerdings seien - hier mit Verweis auf Dahrendorf - "die in modernen wie in früheren Gesellschaften vorhandenen Herrschaftsstnikturen, Machtverhältnisse und Konfliktsituationen nicht wegzudiskutieren", Albert 1991a, S. 205. Für Albert hat es "wenig Sinn, sie durch verklärende und rechtfertigende Konstruktionen zu überdecken. Die Gesellschaft kann nicht ohne weiteres als eine kooperative Einheit mit gemeinsamer Wertskala und natürlicher Interessenkonvergenz aufgefaßt werden, deren Funktionieren für ihre Mitglieder nur technische Probleme und darüber hinaus das Problem der ökonomischen Effizienz aufwirft, wie es sich etwa im wohlfahrtsökonomischen Denken darstellt. Die in der ökonomischen Analyse betonte Knappheit ist kein auf einen engen Bereich begrenzter wirtschaftlicher, sondern ein allgemeiner sozialer Tatbestand, der nicht nur die reale intrasubjektive, sondern darüber hinaus die intersubjektive Unvereinbarkeit vieler Bedürfnisse und Interessen involviert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von sozialen Entscheidungen, die dafür sorgen, daß die Bedürfnisse mit den Befriedigungsmöglichkeiten in Einklang gebracht werden, und von sozialen Instanzen und Mechanismen, die diese Entscheidungen zustande bringen und wirksam machen. Es dürfte schwierig sein, das Minimalmaß von Herrschaft und sozialer Machtausübung anzugeben, das sich aus diesen Tatbeständen ergibt, zumal es eine Frage sozialtechnologischer Phantasie ist, institutionelle Arrangements zu erfinden und durchzukonstruieren, die dieses erforderliche Maß auf ein Minimum reduzieren und die betreffenden Instanzen maximaler Kontrolle durch die übrigen Mitglieder der Gesellschaft zu unterwerfen. ... Es gibt also in der Gesellschaft weder einen einheitlichen Willen, der in die Tat umgesetzt werden könnte, noch ein sicheres Wissen, das eine Garantie dafür geben könnte, daß dadurch so etwas wie ein Gemeinwohl zustande kommen würde ... Es kann daher auch keine ideale Sozialordnung geben, die eine Transformation der individuellen Wünsche in ein für alle akzeptables und daher in diesem Sinne legitimes Ergebnis garantieren würde. Auch in der Idee einer solchen Ordnung steckt ein utopisches Element. Weltauffassungen, aus denen politische Problemlösungen dieser Art hervorgehen, enthalten eine falsche Einschätzung menschlicher Möglichkeiten des Wissens und der Willensbildung, ein falsches Bild des menschlichen Problemlösungsverhaltens, wie es auch in den entsprechenden epistemologischen Konzeptionen zu erkennen ist." Albert 1991a, S. 205/206. Albert 1991a, S. 93. Siehe insbesondere Albert 1978, 1986, 1991b, 1991c, 1994a.

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In seinem Traktat über rationale Praxis - Adam Smith und Max Weber zum Gedächtnis zugeeignet - legt Albert in Sonderheit dar, daß menschliches Problemlösungsverhalten auf Entscheidungen unter Ungewißheit angewiesen ist 4 2 , alle praktizierten Problemlösungen im Grunde als Provisorien und damit als revidierbar zu betrachten sind. 4 3 Die komparative Analyse vorhandener Lösungsvorschläge in bezug auf ihre Leistungsfähigkeit, ihre Problemlösungskraft, erfordert konstruktive und kritische Phantasie, darüber hinaus involviert sie Selektion, Klärung, Interpretation sowie Bewertung unter spezifischen Aspekten. 4 4 Fernerhin sind Alternativen konstruierbar, und es können mehrere Maßstäbe angelegt werden, wobei die Kriterien jeweils zu gewichten sind. Es sind jeweils Lösungen zu finden, die der Kritik standhalten, wobei mögliche Kritiken auch antizipiert werden können. Eine allgemeine Methodologie ist insofern eine rationale Heuristik. 45 Erklärungen im Rahmen der modernen theoretischen Realwissenschaft erfolgen auf der Basis von Gesetzmäßigkeiten. 4 6 Die Idee der Wahrheit ist in diesem Kontext "nicht anderes als die Idee der zutreffenden Darstellung irgendwelcher Sachverhalte, auf die man sich mit den Mitteln der Sprache beziehen kann." 4 7 Eine Verfassung der Freiheit hat das Problem sozialer Konflikte, die friedlich zu regeln sind. Eine politische Methodologie baut analog zum Erkenntnisbereich auf einer rationalen Heuristik auf und bezieht sich auf sozialtechnologische Anwendung und Alternativanalyse. Für eine fallibilistische Auffassung der menschlich-gesellschaftlichen Praxis sind bestimmte Arten von Freiheit unbedingt vorauszusetzen, will man Dogmatisierung vermeiden und eine Verbesserung von Problemlösungen erreichen: "Eine Ordnung der fehlbaren Vernunft muß schon deshalb in erheblichem Umfange eine Ordnung der Freiheit sein, weil diese Freiheit erforderlich ist, um das konstruktive und kritische Potential der menschlichen Vernunft für die Verbesserung von Problemlösungen aller Art auszunutzen. Wir wissen heute nicht nur aus den wissenschaftstheoretischen, sondern auch aus der wirtschaftstheoretischen Diskussion, welche Bedeutung die Konstruktion von Alternativen und der kritische Vergleich zwischen ihnen fiir die in dieser Hinsicht wirksamen Prozesse hat. Institutionelle Vorkehrungen, die für die Wirksamkeit von Konkurrenz und Kritik sorgen, scheinen gerade in dieser Beziehimg von besonderer Wichtigkeit zu sein. Vorkehrungen dieser Art pflegen aber mit der Sicherung der Freiheit in den betreffenden Bereichen der Gesellschaft verbunden zu sein, denn ohne sie ist die erforderliche Mobilisierung von Initiative und schöpferischer Phantasie nicht zu erreichen. Die Analyse und Konstruktion institutioneller Arrangements, die diese Mobilisierung fördern, ist eine interessante Aufgabe für die Sozialtechnologie." 4 8 42 43 44 45 46 47 48

Albert Albert Albert Albert Albert Albert Albert

1978, 1978, 1978, 1978, 1978, 1978, 1978,

S. S. S. S. S. S. S.

25. 26. 29. 32. 38. 41. 181.

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Wenn es darum geht, sozialtechnologische Grundlagen für eine rationale Politik bereitzustellen, muß mit dem institutionellen Apriori einer gegebenen Gesellschaft gerechnet werden, d.h. mit derjenigen Konstellation institutioneller Vorkehrungen, die in dem Raum-Zeit-Gebiet gegeben ist, auf die sich die betreffende Analyse bezieht. 4 9 Diese institutionellen Vorkehrungen oder Einrichtungen müssen als Anreizkonstellationen aufgefaßt werden, die die Erwartungen und Handlungsmuster der Individuen und Gruppen beeinflussen und für die betreffende soziale Ordnung charakteristisch sind: "Wenn nun der Versuch gemacht wird, im Wege der Gesetzgebung bestimmte normative Regulierungen - Normen - durchzusetzen, dann bedeutet das also zunächst nur, daß bestimmte zusätzliche Bedingungen für das Verhalten der in Frage kommenden Individuen geschaffen werden, die die bestehende Anreizkonstellation ändern können. Ob und wie sich deren Verhalten ändert, hängt darüber hinaus von weiteren Bedingungen - darunter vor allem vom Informationsstand und der Motivlage dieser Individuen - ab. Ein Gesetz kann also durchaus im Sinne der vorausgesetzten Zielsetzungen kontraproduktive Steuerungswirkungen haben. Das ist trivial und eines der ältesten Themen der Sozialwissenschaften ... Auch wenn die unmittelbaren Wirkungen der Einführung bestimmter Gesetze den ihnen zugrundeliegenden Absichten entsprechen, so können doch mittelbare Wirkungen Zustandekommen, die diese Absichten zunichte machen. Die ökonomische Literatur ist voll von derartigen Beispielen. Man kann eben durch politische Maßnahmen stets nur bestimmte Elemente des sozialen Wirkungszusammenhangs ändern, deren kausale Bedeutung sich oft schwer einschätzen läßt. Ihre richtige Einschätzung wirft nicht selten schwierige theoretische Probleme auf." 5 0 Diese eigentlich ziemlich bekannten Tatbestände verweisen auf die Bedeutung des Realisierbarkeitsproblems und die einer Eruierung von Wirkungszusammenhängen. 5 1 Ferner haben wir "keinen Grund mehr anzunehmen, daß wir in der Lage sind, in irgendeinem Bereich der menschlichen Praxis vollkommene Lösungen zu finden. Wir können bestenfalls damit rechnen, daß es uns gelingt, unsere Problemlösungen immer wieder zu verbessern und dadurch bestmögliche Lösungen zu approximieren. Daher ist die Suche nach Fehlern und die Suche nach alternativen Lösungen, in denen solche Fehler vermieden werden, ein Desiderat der rationalen Methode, nicht nur im Erkenntnisbereich, sondern auch in anderen Bereichen der Praxis." 5 2 Eine soziale Verankerung dieser Methode impliziert die Institutionalisierung von Konkurrenz und Kritik, femer von Mechanismen friedlicher Konfliktregelung. 5 3 Es sind dies gängige Annahmen jeder Pluralismustheorie. 5 4 Hinzu kommt im Anschluß an Hayek die "Kompossibilität von Rechten", um eine

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Albert 1991c, S. 27. Albert 1991c, S. 28. Albert 1991c, S. 29. Albert 1991c, S. 31. Albert 1991c, S. 31. Waschkuhn 1998, S. 19-21, 75-85.

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friedliche Koexistenz der Menschen in Gesellschaft zu erreichen - eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ein Regime der Freiheit: "Von einem solchen System kann man bestenfalls sagen, daß es den Frieden sichert, aber damit keineswegs schon die Freiheit. Offenbar läßt sich die hier zugrundegelegte Freiheitsidee nur durch Bezugnahme auf den Umfang des rechtlich abgesicherten Bereichs von Handlungsmöglichkeiten explizieren". 5 5 Die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen der betreffenden Individuen könnten indes mangels konkreter Verfügungsrechte weiterhin minimal sein (relative Verelendung). Die Interessenlage dieser Individuen also wäre nicht hinreichend berücksichtigt, wenn man nur den Freiheitsaspekt der betreffenden sozialen Ordnung betrachtete. Es käme die gerechtigkeitsorientierte Forderung nach einem redistributiven Staat auf, soll die ordnungspolitische Konzeption für die Betreffenden nicht unattraktiv werden. Allerdings ist es "ein altes Dilemma der wohlfahrtsökonomischen Diskussion, daß man zwar allokative und distributive Aspekte der ökonomischen Gleichgewichtszustände relativ gut unterscheiden kann, daß aber tatsächliche Eingriffe in das Marktgeschehen stets gleichzeitig Wirkungen in beiden Hinsichten zu haben pflegen. ... Das schließt aber nicht aus, daß man die Wohlstandswirkungen sozialer Systeme auch hinsichtlich ihrer Verteilungsaspekte in die vergleichende Beurteilung sozialer Ordnungen einbezieht. Es dürfte allerdings sinnvoll sein, jede Umverteilung an allgemeine Gesetze zu binden und solche Gesetze sogar unter Umständen durch Aufnahme in die Verfassung gegen die Schwankungen des tagespolitischen Machtkampfes abzuschirmen, die den Einfluß der Interessengruppen widerspiegeln." 5 6 So könnten beispielsweise eine negative Einkommenssteuer oder ein garantiertes Mindesteinkommen rechtlich abgesichert werden. Es gibt indes auch private Herrschaftsverbände und Unternehmensformen, die legislatorisch zu erfassen und zu beurteilen sind hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die gesamte soziale Ordnung. Es sind dies unter anderem Grundmuster der Pluralismuskritik und des Neokorporatismus. 5 7 Hier geht es - man denke nur an David Hume - letztlich um die Frage nach den natürlichen Grundlagen für Moral, und es kann nach allem, was wir wissen bzw. wissen können, mit Albert davon ausgegangen werden, daß die Moral eine Kulturleistung (Kultur als zweite Natur des Menschen) ist 5 8 , "die in natürlichen Dispositionen, Bedürfnissen und Gefühlen verwurzelt ist. Und was den Legitimitätsglauben angeht, auf den soziale Ordnungen für ihre Stabilität angewiesen zu sein scheinen, so gilt das gleiche. Die Legitimität solcher Ordnungen im faktischen Sinne - ihre Anerkennung durch die Betroffenen - beruht letzten Endes auf ihrer Attraktivität unter Gesichtspunkten, die dem natürlichen Streben der Menschen nach Verbesserung ihrer Lebenssituation und ihrer Lebenschancen entstammen. 55 56 57 58

Albert 1991c, S. 34. Albert 1991c, S. 36/37. Waschkuhn 1998, S. 85-89, 90/91. Siehe auch Waschkuhn 1998, S. 495-507, 521-582 et passim.

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Die regulativen Ideen der Sicherung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands, von denen ich [H. Albert] für die komparative Beurteilung sozialer Ordnungen ausgegangen bin, scheinen mir in dieser Beziehung hinreichend interessant zu sein. Eine soziale Ordnung, die unter diesen Gesichtspunkten allen anderen vorzuziehen ist, wird vermutlich den meisten Menschen hinreichend attraktiv erscheinen, um ihr eine gewisse Legitimität zuzusprechen, eine Legitimität, die auf ihrer Leistung für die Mitglieder der Gesellschaft beruht. Die Verbreitung solcher Ordnungen in der Welt würde jedenfalls die beiden Übel beseitigen, von denen die Welt seit Beginn der Entstehung der Hochkulturen heimgesucht wird: nämlich Despotie und Massenarmut und sie würde vermutlich damit auch eine der wesentlichen Ursachen der Kriege beseitigen, die das dritte große Übel darstellen. Nur soweit die Beseitigung dieser drei Übel gelingt, läßt sich das nach Kant 'größte Problem für die Menschengattung' lösen, nämlich: 'die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft', die die ganze Menschheit umfaßt." 5 9 Albert wendet sich insofern auch immer wieder gegen Spielarten des Kulturrelativismus: "Die Sonderentwicklung der europäischen Kultur und insbesondere der Wissenschaft darf seiner Ansicht nach nicht den Blick dafür verstellen, daß die Wissensformen aller Kulturen in mindestens einer grundlegenden Hinsicht übereinstimmen: Alles Wissen ist theoriegeprägt, es enthält also über Einzelaussagen hinausgehende Annahmen nomologischer Art, mit deren Hilfe die allgemeinen Züge der Wirklichkeit, also die Regelmäßigkeiten der uns umgebenden Welt, erfaßt werden sollen. Dahinter steht wieder Alberts Plädoyer für einen kritischen Realismus, also den Glauben an eine vom menschlichen Dafürhalten unabhängige, prinzipiell erkennbare Außenwelt." 6 0 Moralphilosophisch plädiert Albert (mit Albert Schweitzer) für eine "Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben", für eine Ethik der praktizierten Nächstenliebe, die auch ohne einen Gottesglauben möglich und sinnvoll ist: "Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod und jenseitige Kompensationen von irdischem Unglück beruhen für Albert auf Illusionen. Was bleibt, ist nur die fragile Chance einer autonomen Sinngebung: 'Eine Garantie dafür, daß unser endliches Leben auf dieser Erde sinnvoll ist, kann es nicht geben. Sinnvoll kann ein solches Leben jedenfalls nur insoweit sein, wie wir selbst es mit Sinn versehen, indem wir uns Aufgaben stellen, deren Erfüllung wir als wertvoll ansehen können, und uns Tätigkeiten widmen, die entweder in sich befriedigend sind oder zur Erfüllung solcher Aufgaben beitragen.'" 61

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Albert 1991c, S. 41/42. Hilgendorf 1997, S. 156. Hilgendorf 1997, S. 164.

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Auch in seinen zahlreichen philosophischen (auch psychologischen und theologischen) Kontroversen 6 2 hat Albert sein Verständnis des kritischen Rationalismus konturiert. Wir greifen hier zur Illustrierung nur seine Kritik an Martin Heidegger heraus, dessen Denken auch für den frühen Albert durchaus faszinierend war. 6 3 Heute führt Albert hingegen mit der Meßlatte des kritischen Rationalisten aus: "Viele Zeitgenossen, die Heideggers Denken oder auch sein Handeln einer Kritik unterwerfen, pflegen ihm, auch wenn ihre Kritik noch so scharf ist, zu bescheinigen, daß er ein großer Denker ist. Seine Anhänger und seine Nachbeter halten ihn sogar für einen der größten Denker aller Zeiten. Wie kann man zu diesem Urteil kommen? War er ein klarer, ein tiefer oder ein strenger Denker, ein radikaler oder ein origineller Denker, dem wir besonders viel verdanken, sei es, weil er wichtige Probleme entdeckt oder weil er solche Probleme geklärt oder gar gelöst hat? - Ein klarer Denker war er wohl nicht, wie man leicht feststellen kann, wenn man die Konfusionen in Betracht zieht, die er angerichtet hat. Ein tiefer Denker war er auch nicht, ein Denker nämlich, der den Dingen auf den Grund gegangen wäre, wenn er auch immer wieder Worte wie 'Grund1, 'Wesen' und 'Wahrheit' benutzt und mit ihrer Hilfe tiefsinnig klingende Aussagen formuliert hat. Wenn man diese Aussagen genauer untersucht, kommt man zu der Einsicht, daß er sich und andere durch sein Hantieren mit Wortbedeutungen hinters Licht gefuhrt hat und daß er gerade dadurch immer an der Oberfläche geblieben ist. Ein strenger Denker war er auch nicht, obwohl er gerade dies für sich in Anspruch genommen hat. Er war es deshalb nicht, weil er stets, wenn er es brauchte und wenn es ihm so gefiel, die Logik beiseite geschoben hat. Sicherlich hat er deutlich gemacht, daß er auch das Wort 'streng' in diesem Zusammenhang anders als üblich verstanden wissen wollte. Aber welchen Sinn er damit verbinden wollte, ist sein Geheimnis geblieben. Er war allerdings ein radikaler Denker in einem bestimmten Sinne dieses Wortes. Er wollte nämlich das Denken in einer bisher unerhörten Weise revolutionieren. Er war aber nicht radikal in dem Sinne, daß er den Dingen an die Wurzel gegangen wäre, denn ihn haben allenfalls die Wurzeln der Wortbedeutungen interessiert, mit denen er jonglierte. - Originell war er sicher, und zwar in mancherlei Hinsicht und auf eine Weise, die nicht jedem imponieren kann. Nicht die Entdeckung, die Klärung oder die Lösung wichtiger Probleme haben wir ihm zu verdanken. Er war aber zum Beispiel ein Virtuose des effektvollen Gebrauchs von Worten, der Erfinder einer Imponierprosa, die kaum zu überbieten sein dürfte. Und er war sicherlich in einer Hinsicht auch ein großer Denker, nämlich in dem Sinne, in dem vielfach in der Geschichtsschreibung von Größe geredet wird. Er war nämlich ungemein einflußreich und ist es noch immer, er hat große Wirkungen erzielt, deren Wert allerdings äußerst umstritten ist. ... Ist Hitler ein großer Staatsmann gewesen? Man mag mit Recht zögern, ihm dieses Prädikat zuzuerkennen, obwohl er große Wirkungen er-

62 63

Siehe u.a. Albert 1973, 1975c, S. 342-389, 1982, S. 95-167, 1994b. Vgl. Hilgendorf 1997, S. 25/26.

Hans Albert: Kritische Vernunft und rationale Praxis

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zielt hat, und zwar deshalb, weil es als positives Wertprädikat verstanden werden könnte. Analog sollte man wohl auch im Falle Heidegger verfahren. Heidegger hat einen sehr wirksamen Beitrag zu einer Art des Denkens geleistet, das sich der Aufklärung entgegenstellt. Er hat einen Ausbruchsversuch aus der Vernunft unternommen, aus dem vernünftigen Denken in das, was er für wesentliches Denken hielt, einen Auszug aus dem Argument, der ins Leere mündete, gewissermaßen ins Nichts, das ihn so sehr beschäftigt hat. Und er hat andere dazu verleitet, ihm zu folgen und ebenfalls der philosophischen Falschmünzerei zu huldigen, die er vorgeführt hat." 6 4 Heidegger sei vom philosophischen Denken über die Begriffsdichtung zur Wortmusik gekommen: "Die Attraktivität, deren sich der Meßkircher Denker heute erfreut, ist ein Indiz dafür, daß in der Philosophie und in verwandten Disziplinen schwaches Denken oft größeren Erfolg verspricht als eine rationale Erkenntnispraxis, die sich kritischer Prüfung aussetzt." 6 5 Albert hält demgegenüber nicht nur an der Vernunft und der Aufklärung sowie an der "Einheit der Vernunft" fest, sondern für ihn ist der kritische Rationalismus auch der "Entwurf einer Lebensweise". 6 6 Hier besteht eine Affinität zu Popper, dem er in vielem gefolgt ist und den er für einen der größten Denker dieses Jahrhunderts als Aufklärer hält. Allerdings hat Albert Poppers Spätphilosophie, insbesondere die Dreiweltenlehre, nicht nachvollziehen können. Seine Übereinstimmungen mit dem großen Vorbild und die eher marginalen Abweichungen kommen auch in dem Nachruf Alberts und seiner Würdigung Poppers zur Geltung. 67 Albert hebt hervor, daß Popper sich "mit Themen aus allen Bereichen der Philosophie und aus vielen Wissenschaften beschäftigt" hat, "von der Logik und der Mathematik, der Physik und der Biologie bis zur Ökonomie, zur Psychologie und Soziologie und zur Geschichte". 6 8 Er habe trotz seines konsequenten Fallibilismus einen methodischen Rationalismus vertreten, "die Analyse der Problemsituation als ersten Schritt zu neuen Erkenntnissen akzentuiert und die heuristische Rolle metaphysischer Ideen analysiert und damit die in der 'Logik der Forschimg' enthaltene Beschränkung der Analyse auf das Abgrenzungsproblem überwunden." 6 9 Als Hintergrund seiner Akzentuierung des Indeterminismus-Problems ist nach eigenem Bekunden "sein tiefes Interesse an der Freiheit, der Kreativität und der Rationalität des Menschen" anzusehen. 7 0 Für Albert ist Popper mit seiner Kri64 65 66

67 68 69 70

Albert 1994b, S. 263-265. Siehe auch ebd., S. 1-35. Albert 1994b, S. 32. Albert 1991a, S. 49: "Diz Annahme einer bestimmten Methode, auch die der Methode der kritischen Prüfung, involviert.. eine moralische Entscheidung, denn sie bedeutet die Übernahme einer für das soziale Leben sehr folgenreichen methodischen Praxis, einer Praxis, die nicht nur für die Theoriebildung, für die Aufstellung, Ausarbeitung und Prüfung von Theorien, sondern auch für deren Anwendimg und damit auch für die Rolle der Erkenntnis im sozialen Leben von großer Bedeutung ist. Das Rationalitätsmodell des Kritizismus ist der Entwurf einer Lebensweise, einer sozialen Praxis, und hat daher ethische und darüber hinaus politische Bedeutung." Albert 1995. Albert 1995, S. 209. Albert 1995, S. 212. Albert 1995, S. 213.

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tik am "Mythos des Rahmenwerks" 7 1 - d.h. der "Idee, die Wahrheit sei relativ auf den jeweiligen Rahmen unseres Denkens, so daß eine rationale Diskussion nur innerhalb eines gemeinsamen Rahmens, also einer derartigen Menge grundlegender Annahmen möglich sei", was "darauf hinausläuft, die Idee der objektiven Wahrheit und damit die der Erkenntnis überhaupt zu unterminieren" - für unsere Tage "zum eigentlichen Gegenspieler Wittgensteins 7 2 geworden, dessen Lehre von den Sprachspielen als Lebensformen eine der Grundlagen dieses Mythos bilden dürfte", der durch Kuhns Paradigma-Begriff Eingang vor allem in die Sozialwissenschaften gefunden habe. 7 3 Im Rahmen der Popperschen Version des Realismus wird auch die menschliche Erkenntnistätigkeit als ein realer Prozeß angesehen, eingebettet in die Vorgänge der Wirklichkeit, deren Beschreibung und Erklärung ihr Ziel ist, wobei die Eigenart des menschlichen Erkenntnisapparates auf biologische Anpassungsvorgänge zurückgeführt wird. Vor allem in seiner Spätphilosophie hat Popper den evolutionären Ansatz weiterenwickelt und versucht, die Entwicklung des Wissens im Rahmen der Entwicklung aller Lebewesen einer einheitlichen Erklärung auf darwinistischer Grundlage zugänglich zu machen, was bei Albert offenkundig auf Skepsis trifft, obwohl er sich um eine faire Darstellung bemüht. 7 4 Hinsichtlich der "Welt 3"-Auffassung, die Albert überhaupt nicht schätzt, knüpfe Popper an Bolzano und Frege, aber vor allem an die Bühlersche Theorie der drei Sprachfunktionen an, die er durch den Hinweis auf die argumentative Funktion der Sprache ergänzt habe. 7 5 Jedoch sei die These der Existenz einer autonomen Welt 3 auf Kritik gestoßen, da sie zu Widersprüchen führe: "Es fragt sich daher, ob die Analyse des objektiven Aspekts der menschlichen Erkenntnispraxis auf die trialistische Ontotogie der Popperschen Spätphilosophie angewiesen ist." 7 6 Auch Albert verweist darauf, daß Poppers Sozialphilosophie der offenen Gesellschaft sich in vielem der Schrift "On Liberty" von John Stuart Mill verdanke. 77 Ferner zeigt Albert auf, daß sich Popper an Diskussionen über Ethik kaum beteiligt habe, da er der Überzeugung war, daß die Ethik keine reine Wissenschaft 7 8 sei, jedoch habe er sein Resümee der Kantschen Ethik - "Wage es, frei zu sein und achte und beschütze die Freiheit aller anderen" - offenbar als eine gültige Forderung angesehen. In religiöser Hinsicht habe sich Popper zum Agnostizismus bekannt: "Man findet bei ihm aber dennoch eine positive Würdigung des frühen Christentums in moralischer Hinsicht und eine ebensolche Würdigung bestimmter Perso71 72 73 74 75 76 77 78

Siehe Popper 1994e, insbes. S. 33-64. Zur ominösen Feuerhaken-Episode einer persönlichen Bedrohung Poppers durch Wittgenstein siehe Popper 1994a, S. 175-178. Albert 1995, S. 213/214, siehe zum letzten Aspekt auch Kindi 1995. Albert 1995, S. 215. - Siehe u.a. Popper 1994a, S. 243-262. Popper hat bei Karl Bühler promoviert. Albert 1995, S. 216. Albert 1995, S. 218. Siehe u.a. Popper 1992a II, S. 279.

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nen wie zum Beispiel Erasmus von Rotterdam. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, daß in seinen wenigen Äußerungen zur Religionsproblematik stets moralische Gesichtspunkte vorherrschen. Von Theologie scheint er nicht viel gehalten zu haben. Er berichtet sogar über eine in früher Jugend erworbene 'lebenslängliche Abneigung gegen das Theoretisieren über Gott' und geht soweit, die Theologie für 'ein Symptom des Unglaubens' zu halten." 7 9 Albert schließt seinen Nachruf mit einer persönlichen Einschätzung und Würdigung: "Über Karl Popper als Lehrer kann ich nicht viel aus erster Hand berichten, da ich nie sein Student oder Assistent gewesen bin und seine Auffassungen durch die Lektüre seiner Arbeiten kennen gelernt habe. Persönlich habe ich ihn erst im Jahre 1958 im Rahmen des 'Europäischen Forums Alpbach' kennen gelernt und habe ihn dann öfter in Alpbacher Veranstaltungen und an einigen anderen Orten gesehen. William Warren Bartley hat ihn seinerzeit als einen schwierigen Menschen charakterisiert 8 0 , und manches spricht dafür, daß er damit recht hatte. Ich selbst habe ihn immer als einen verständnisvollen Freund erlebt und als einen Denker, der intensiv mit wichtigen Problemen beschäftigt war und seine Zeit nicht an Nebensächlichkeiten verschwendete. ... Mit Karl Popper haben wir einen der größten Denker dieses Jahrhunderts und einen der bedeutendsten Vertreter der Aufklärung verloren. Angesichts der Tendenzen zum Irrationalismus, die sich heute nicht nur im philosophischen Denken zeigen, kann man nur hoffen, daß sein Engagement für die Vernunft weiter wirksam bleibt." 8 1 Dieses Engagement für die Vernunft ist auch das Credo Alberts. Popper und Albert beschreiten von der Hauptschnittmenge her in ziemlich analoger Weise "Wege der Vernunft". 8 2 Albert kommt dabei von der Nationalökonomie her, deren "Modellplatonismus" er kritisierte. Eine Wissenschaft informiert im Falle empirisch gehaltvoller Theorien über Handlungsmöglichkeiten, kann aber dem Menschen die Entscheidung darüber nicht abnehmen, welche Ziele er anstreben soll. 8 3 Eine der ersten Grundüberlegungen Alberts bestand insofern darin, daß es für die Bewältigung allein erforderlich sei, "daß man Theorien, die die Wissenschaft zur Verfügung stellt, in Technologien umwandelt, d.h. in Systeme von Aussagen, die angeben, unter welchen besonderen Bedingungen im Einklang mit den als gültig unterstellten Theorien das Eintreten bestimmter gewünschter Zustände zu erwarten ist." 84 Allerdings stoße bei einem echten Wertschisma die rationale Diskussion auf Grenzen, denn die Rationalität der Erkenntnis kann mit der Irrationalität von Entscheidungen kontrastieren. Auch der Erkenntnisprozeß jedoch impliziert Entscheidungen, so daß sich die Rationalitätsproblematik neu und in anderer Weise stellt. 79 80 81 82 83 84

Albert 1995, S. 219/220. Siehe Popper 1994a, S. 18. Bartley 1986b. Albert 1995, S. 220/221. So der Titel der Festschrift für Hans Albert, siehe Bohnen/Musgrave 1991. Bohnen 1991, S. 2. Bohnen 1991, S. 2.

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Erkenntnis muß insofern nämlich selbst als ein Teil menschlicher Praxis gelten. Die Frage nach der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft kann somit nur noch, so Albert, als Frage nach einem einheitlichen Prinzip rationaler Praxis gestellt werden, das auf allen Gebieten menschlich-gesellschaftlichen Problemlösungsverhaltens handlungsanleitend zu wirken vermag. 8 5 Albert verabschiedet den Grundsatz der zureichenden Begründung als illusionär bzw. ausweglos und substituiert ihn durch das Prinzip der kritischen Prüfung. Die grundsätzliche Fehlbarkeit des Menschen verhindert letztgültige Problemlösungen, jedoch können die jeweils erzielten Problemlösungen durch die Methode der Kritik verbessert werden. Hierfür eine Methodologie zu entwickeln, ist das Bestreben Alberts, der auf konkurrierende Problemlösungsversuche abstellt, die als situativ besser/schlechter zu evaluieren sind. Neben der instrumenteilen Rationalität ist auch die Beurteilung von Wertentscheidungen möglich, sofern man über eine geeignete Wirklichkeitserkenntnis verfügt. Hier werden auch die Brückenprinzipien Alberts eingesetzt, insbesondere: "Sollen impliziert Können". Die Überbrückungen sind kritizistisch und interdisziplinär ausgelegt: "Was sich dahinter verbirgt, ist ... der systematische Versuch, Ergebnisse der Realwissenschaften für die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme nutzbar zu machen." 8 6 Die Einsicht in die prinzipielle Fehlbarkeit der Vernunft impliziert die Abkehr von Kant, insofern es nicht mehr um den Geltungsgrund unbezweifelbar wahrer Wirklichkeitserkenntnis gehen kann, statt dessen geht es um die realen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, und zwar "nicht als Begründungs-, sondern als ein Erklärungsproblem, zu dessen Lösung geeignetes erfahrungswissenschaftliches Gesetzeswissen herangezogen werden muß". 8 7 Es ist inbesondere diese Einsicht, die für Albert erkenntnisleitend ist: "Daß nirgendwo ein Weg zu letztgültigen Problemlösungen existiert..., bedeutet weder die Vergeblichkeit noch die Gleichwertigkeit aller unserer Problemlösungsbemühungen. Denn überall ist es die kritische Methode der kritischen Prüfung, die uns die Chance eröffnet, den besseren, den geeigneten Weg herauszufinden." 8 8 Odo Marquard hat im Kontext seiner skeptischen Philosophie in einer Nebenbemerkung geäußert, daß ihn am Kritischen Rationalismus "der Dogmatismus seines Antidogmatismus" störe. 8 9 Dies ist auch die Position des Renegaten Feyerabend in bezug auf Popper. Auf Albert trifft dies nicht unbedingt zu, was auch in seinem Briefwechsel mit Feyerabend deutlich wird. 9 0 In den Briefen wird vor allem sein Talent zur Heiterkeit und Selbstironie deutlich, das in die wissenschaftlichen Arbeiten insgesamt leider viel zu wenig eingegangen ist. 85 86 87 88 89 90

Bohnen 1991, S. 3/4. Bohnen 1991, S. 8. Bohnen 1991, S. 8. Bohnen 1991, S. 8. Marquard 1981, S. 4. Feyerabend/Albert 1997.

10. KAPITEL: KRITISCHER RATIONALISMUS UND SOZIALDEMOKRATIE EINE LEIDENSCHAFTLICHE, ABER NUR KURZE AFFÄRE

Der kritische Rationalismus war auch immer wieder für politische Parteien attraktiv. Am intensivsten ist zweifelsohne die Diskussion mit der deutschen Sozialdemokratie geführt worden. 1 Der zweite sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik, Helmut Schmidt, schrieb - nicht im Ruhestand, sondern in seiner Amtszeit - zum ersten Sammelband ein Vorwort, in welchem er auf seine Einführung zum ersten Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973-1985 der SPD (hier zur Umweltgestaltung und zum Umweltschutz) verwies: "Der Entwurfstext mag manchem sehr technokratisch vorkommen; doch ihm sei gesagt, daß es die große Reform, den einzig-großen Wurf nicht gibt. Auch in ganz anderen gesellschaftlichen Systemen sind die Probleme der an der Lebensqualität zu messenden Gestaltung von Städten und ländlichen Räumen äußerst komplex. Hieran zu arbeiten, bedeutet deshalb: systematisch und schrittweise viele einzelne Gesetze und Vorschriften zu ändern, Einzelprobleme anzupacken und zu lösen, die Veränderung eben 'Stück für Stück' in konkreten Reformschritten herbeizuführen ('piecemeal social engineering' - wie Karl Popper sagt)." 2 Damit wollte Schmidt auch die (damals zeitweilig gebräuchliche) Unterscheidung zwischen "system-stabilisierenden" und "system-verändernden" Reformen aufheben, denn: "Jede Reform ist ex definitione eine Veränderung des Bestehenden, jede gesellschaftliche Reform verändert die betroffene Gesellschaft und damit ihr 'System'. Offenbar soll mit dem (zur Tautologie führenden) Adjektiv 'system-verändernd' eine solche Reform gekennzeichnet werden, von der unterstellt oder erhofft wird, sie würde die betroffene Gesellschaft in einem einzigen Schritt in einem oder mehreren ihrer bisherigen Grundzüge verändern. Ich halte dergleichen weder für wünschenswert, weil die Risiken des Fehlschlags und der negativen Auswirkungen für Millionen von Menschen dabei nicht kalkuliert und nicht limitiert werden können. Noch halte ich eine solche, in einem Schritte den Grund verändernde Reform im demokratischen Verfassungsstaat für möglich; in unserem Staate stünden dem z.T. die Grundrechte und die Staatsziel-Postulate des Grundgesetzes entgegen, vor allem aber dessen Verfahrensregeln für Verfassungs- und Gesetzgebung. - Totale Utopien können zur totalitären Gewaltanwendung verleiten. 'Offene', d.h. demokratische Gesellschaften (oder modisch: pluralistische Gesellschaften) sind mit den 1 2

Siehe insbesondere Lührs et al. 1975, 1976 u. 1978, siehe auch Günther 1984. Schmidt in Lührs 1975, S. VII.

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politischen Maximen einer totalen Utopie oder Handlungsanweisung zur Verwirklichung eines total anderen gesellschaftlichen Systems nicht vereinbar. Eine demokratische, eine offene Gesellschaft pervertiert nur zu leicht zum geschlossenen, totalitären Staat, wenn zugunsten eines abstrakten Ideals die Pluralität der politischen Zielsetzungen selbst aufgegeben wird." 3 Das Konsensus- und Kompromißgebot demokratischer Verfassungen führe im Ergebnis zu Verlusten an Stringenz und Konsequenz des politischen Handelns, dieser Verlust aber müsse von Demokraten in Kauf genommen werden, denn "er kann relativ umso kleiner gemacht werden, je begrenzter und je konkreter der jeweilig zu beschließende Schritt geplant ist, mit anderen Worten: je deutlicher die zu erwartenden Wirkungen und Nebenwirkungen, Vorteile und Nachteile, Begünstigungen und Benachteiligungen im Vorwege erkennbar sind." Aus diesem Grunde ist "die schrittweise Reform der Gesellschaft die der Demokratie angemessene Reform". 4 Die schrittweise Reform, welche sich nach dem jeweils Möglichen bemesse, werde von marxistischer Seite gelegentlich als "Pragmatismus" denunziert: "Dabei wird nicht an jene Pragmatismus genannte amerikanische philosophische Denkschule von Peirce bis Dewey gedacht; der Vorwurf des 'bloßen Pragmatismus' meint vielmehr eine 'theorielose' Durchwurstelei ohne klare Zielsetzung; er will insinuieren, der als 'bloßer Pragmatiker' kritisierte Politiker sei, weil nicht von einer umfassenden (und allein richtigen!) Theorie geleitet, in Wahrheit ein Opportunist, der infolgedessen keineswegs zum Endziel fuhren könne - auch wenn er (was dann widerwillig zugegeben wird) im Einzelfall die Mehrung oder die Bewahrung des allgemeinen Wohlstands der Arbeitnehmerschaft bewirke." 5 Schmidt bekenne sich dagegen gerne als (wenngleich nicht theorieloser) "Pragmatiker", wobei er sich auf Kant bezieht, den er für sich so interpretiere: "Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken" und "pragmatisch" bedeute: "lehrreich für konkretes Handeln", und zwar in bezug auf "wechselnde Situationen". 6 Der Politiker müsse eher er handelt - prüfen, wieweit seine moralische Legitimation reiche, um die Folgen seines Handelns verantworten zu können. Kants Nüchternheit und Klarheit im Denken werde heute von den kritischen Rationalisten geteilt. 7 Das Godesberger Programm der Sozialdemokratie habe erklärt, seitens der Partei keine letzten Wahrheiten zu verkünden. Zur Lösung praktischer Fragen müsse aber stets gelten: "Niemand kann rational handeln, wenn er keine Gedanken auf die Umstände und Bedingungen des Handelns verwendet und keine Vorstellungen von den Folgen seines Tuns hat." 8 Schmidt fordert die Einheit von Theorie und Praxis, wobei eine Theorie nicht mehrheitsfähig sein müsse, sondern nur richtig. 3 4 5 6 7 8

Schmidt Schmidt Schmidt Schmidt Schmidt Schmidt

in Lührs in Lührs in Lührs in Lührs in Lührs in Lührs

1975, S. VIII. 1975, S. VIII u. IX. 1975, S. IX. 1975, S. X. 1975, S. XI. 1975, S. XI.

Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie

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Deswegen bedürfe gesellschaftliche und insbesondere ökonomische Theorie fortgesetzt der empirischen Überprüfung. 9 Jedoch habe man in der Gesellschaftspolitik keine abgegrenzten klaren experimentellen Situationen: "Was uns bleibt, ist deshalb nur der Kampf der Argumente und die Vermutung, daß dort die besten Lösungen gefunden werden, wo sich die Argumente am freiesten bewegen können. Diese Freiheit müssen wir schützen, auch und gerade institutionell, damit sich die Freiheiten nicht selbst aufheben. Und unsere Hoffnung kann nur bleiben, daß die pluralistische Gesellschaft mit verfassungsrechtlichen und institutionellen Sicherungen für die Freiheit der Argumentation nicht nur die am wenigsten repressive Gesellschaftsform ist, sondern, daß sie auch diejenige ist, in der sich letztlich die Vernunft am ehesten durchsetzt, weil Theorien und aus Erfahrung gewonnenes Wissen in ihr dem härtesten Test der Argumente ausgesetzt sind." 10 Kritische Rationalität öffne den Blick für den Realisierbarkeitsaspekt und zur Folgenabschätzung. Diese kritische Grundhaltung sei für jeden nötig, der politisch handeln wolle. Er selbst sei aber weder Marxist noch kritischer Rationalist: "Jedoch empfehle ich, Marx zu lesen, ebenso Popper (wobei man sich an dessen Polemik nicht allzusehr stören sollte; Marx war als Polemiker auch ganz schön saftig); und viele andere Kant bitte nicht zu vergessen (und auch nicht dessen Schrift 'Zum ewigen Frieden'!). Denn: eine 'Hauptursache philosophischer Krankheiten ist einseitige Diät' (Wittgenstein). Alles, was wir an theoretischer Erkenntnis anderer lesen, haben wir zu prüfen: zum einen an der Wirklichkeit (und an den ihr gegebenen Möglichkeiten zur Realisierung theoretisch begründeter Programme) und zum anderen am eigenen, immer wieder neu geschärften, moralisch begründeten Werturteil. Die Überzeugungen des demokratischen Sozialismus fließen nicht aus einer einzigen Theorie; sie fließen aus eigener Erfahrung mit der Wirklichkeit, aus deren Interpretation, letztlich aber aus sittlichem Urteil über das, was - innerhalb des Möglichen - sein soll." 11 Die Herausgeber der Diskussionsbände und Anreger der Diskussion "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" - Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer, Manfred Tietzel - heben mit Recht hervor, daß der kritische Rationalismus zugleich Erkenntnislehre und politische Philosophie ist. 12 Er sei "keine neue Lehre, die geglaubt oder nicht geglaubt werden soll, sondern eine wissenschaftliche Methode und ethisch-politische Haltung in der Tradition der Aufklärung, deren Nutzen darin besteht, 'anstatt Wahrheit zu entdecken ..., Irrtümer zu verhüten' (Kant)". 13 Die Erkenntnis unserer Irrtümer ist zugleich die Quelle unseres Erkenntnisfortschritts, und wir schreiten in evolutionärer Weise fort durch Versuch und Irrtum. Kritik als methodisches Prinzip ist die bewußte und aktive Fehler9 10 11 12 13

Schmidt in Lührs 1975, S. XII. Schmidt in Lührs 1975, S. XII/XII1. Schmidt in Lührs 1975, S. XV. Lührs et al. 1975, S. 2. Lührs et al. 1975, S. 3.

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suche. Gesellschaftspolitisch und demokratietheoretisch bedeute dies zugleich eine freie Konkurrenz der Meinungen, die ständige kritische Prüfung der eigenen und der fremden Annahmen und Argumente zur Ausmerzung von Fehlern und Anstiftung neuer Ansätze. 14 Intersubjektive Überprüfbarkeit ist in beiden Bereichen zu fordern: "Dem kritischen Rationalismus geht es nicht um Sicherheit in der Erkenntnis, sondern um Intersubjektivität. Alle Sicherheit der Erkenntnis ist selbstdefiniert; der Glaube, sie (auch nur annähernd) erreicht zu haben, zeugt von unkritischer Haltung den Produkten unseres Geistes gegenüber und fuhrt zum Dogmatismus. Kritik ist dem kritischen Rationalismus oberstes Ideal, sie hört niemals auf. Nichts zwingt uns, bei irgendwelchen Festlegungen, Tatsachenaussagen und Begriffen festzuhalten: sie alle können revidiert werden." 15 Das Prinzip der kritischen Prüfung hat insofern "nirgends ein natürliches Ende. Keine Theorie, kein Verfahren, kein Entscheidungsprozeß und keine Entscheidung ist sakrosankt. Für dieses Offenheitspostulat gibt es allerdings eine entscheidende Ausnahme: Das ist die Forderung nach Freiheit der Argumentation." 1 6 Aber der kritische Rationalismus als Methode für mehr Rationalität auch in der politischen Problemlösimg liefert selbstredend keine Rezepte für politische Entscheidungen. Die Initiatoren der Debatte stellen daher fest: "Niemand hat beabsichtigt, den kritischen Rationalismus für eine bestimmte Partei zu monopolisieren oder aber den kritischen Rationalismus als Allzweckwaffe zu empfehlen. Sein Rationalitätskonzept formuliert 'technologische' Voraussetzungen der Realisierbarkeit politischer Ziele, nämlich Widerspruchsfreiheit, Konsistenz und intersubjektive Überprüfbarkeit, und informiert über das Wie der Zielrealisierung, nicht aber über das Wozu. Am allerwenigsten kann der kritische Rationalismus verpflichtende Erkenntnis oder politische Programme formulieren. Er liefert allerdings Kriterien, nach denen derartige Konstrukte in Frage gestellt werden können. Der kritische Rationalismus fordert, Gewordenes und Bestehendes ebenso wie noch zu Gestaltendes der Bewährung durch Kritik zu unterwerfen. Er ist insofern 'radikaler', als es seinen Gegnern lieb ist." 17 Hans Kremendahl betont die Parallelität von wissenschaftlichem und politischem Problemlösungsverhalten: "Wenn der Wissenschaftler den Boden gesicherter Wahrheitserkenntnis nicht erreichen kann, weil alle Theorien 'Hypothesen' sind und 'umgestoßen' werden können, so kann der Politiker angesichts einer in sich differenzierten, interessengespaltenen Gesellschaft ebenfalls nicht auf sicherem Grund arbeiten: Seine Konzepte und Problemlösungen sind gleichfalls Versuche, Angebote, die auf Zustimmung oder Ablehnung, geringeren oder größeren Widerstand stoßen können und deren Tauglichkeit sich allenfalls ex post, d.h. aber 14 15 16 17

Lührs Lührs Lührs Lührs

et al. et al. et al. et al.

1975, 1975, 1978, 1978,

S. 14-16. S. 25. S.XV1II. S. XIX.

Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie

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meist: angesichts von Kontrolle anhand von Erfahrung und Alternativen herausstellen kann." 18 Die Vorschläge des kritischen Rationalismus sind der systematische Versuch, Theorien (in der Politik: Institutionen und Regelungen) auf ihre Fehlerhaftigkeit hin zu prüfen, um Schäden abzuwenden und andere (bessere) Theorien (Institutionen/Regelungen) ausprobieren zu können. Diese Sozialtechnik der Einzelprobleme ist eine Alternative zu ganzheitlichen, großangelegten und von einer vermeintlich historischen Wahrheits- und Siegesgewißheit getragenen Gesellschaftskonzeptionen. Gleichzeitig legt sie "eine politische Strategie nahe, die wiederum für die moderne Sozialdemokratie unmittelbar maßgebend ist: den Reformismus, die schrittweise, kontrollierte Gesellschaftsveränderung." Diese Strategie sei sich dessen bewußt, daß "die moderne, komplexe Gesellschaft den einen entscheidenden Hebel zu ihrer Totalveränderung nicht aufweist, daß Veränderungen Experimentcharakter tragen und von daher ihrerseits revisionsbedürftig sein können und daß vor allem die Gesellschaft sich nicht ohne Zwang auf einen Willen, ein einziges Ziel gleichschalten läßt, Pluralität also eine Strukturbedingung für alle Politik ist." 19 Der kritische Rationalismus formuliert Verhaltensnormen für Wissenschaft und Politik, aus der die pluralistische Gesellschaft als politische Konstruktionsaufgabe abzuleiten ist. Wissenschaftspluralismus und offene Gesellschaft haben insofern eine starke Familienähnlichkeit. Grundlage des Pluralismus ist die Legitimierung der gesellschaftlichen Vielfalt, die zu einem gewollten Strukturprinzip wird: "Dies schließt die Absage an alle Bestrebungen ein, die Gesellschaft auf ein festumrissenes Idealbild hin zu homogenisieren und impliziert zudem eine Anthropologie, die vom Bilde eines unvollkommenen, durchaus - wenngleich in Grenzen egoistischen Menschen und daraus folgend einer Gesellschaft .. unterschiedlicher Individuen und Gruppen ausgeht." 2 0 Vielfalt wird zu einer Gestaltungsaufgabe, die auch der Einheitsbildung bedarf. Objektivität in der Wissenschaft und die Allgemeinverbindlichkeit von politischen Entscheidungen kommt nicht durch Übereinstimmungen der Handelnden a priori zustande, sondern durch einen Entwicklungsprozeß, den Lakatos "Forschungsprogramm" (Theoriereihen) nannte. 2 1 Hinzu kommt beim Pluralismus die Zielvorstellung des Gemeinwohls als regulative Idee, deren funktionales Äquivalent im Wissenschaftsprozeß die approximativ zu erreichende Wahrheit darstellt. Der kritische Rationalismus prüft auf Wahrheit, indem das Falsche ausgeschieden wird. Ein weiterer Topos der pluralismustheoretischen Diskussion ist das Spannungsverhältnis von Konflikt und Konsens: "Die an der sozialen Interessenauseinandersetzung immer wieder erhärtete These, daß Konfliktbereitschaft und Konfliktaustragung fortschrittsfördernd wirken, ist durch den kritischen Rationalismus voll in den Bereich der wissenschaftlichen Theorie18 19 20 21

Kremendahl 1978, S. 58. Kremendahl 1978, S. 59. Kremendahl 1978, S. 64. Siehe Kapitel 11.

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bildung aufgenommen worden. Gerade in den moderneren Beiträgen, die nicht mehr von der Ein-für-allemal-Falsifikation einer Theorie, sondern vom Nebeneinanderexistieren zahlreicher konkurrierender, partiell sämtlich mit Anomalien behafteter Theoriereihen (oder "Forschungsprogrammen") ausgehen, wird der permanente Konflikt zum Motor des Erkenntnisfortschritts, der seinerseits - ganz im Sinne Poppers - als das eigentliche Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit verstanden wird." 22 Die demokratietheoretische Konsequenz der pluralismustheoretischen Überlegungen ist die Konkurrenzdemokratie. Auch die Vertreter des kritischen Rationalismus verstehen die Demokratie als eine politische Form, die eine rationale Konkurrenz der Alternativen erlaubt. Popper sieht die differentia specifica zwischen Demokratie und Tyrannei bekanntlich in der Möglichkeit, sich der Regierung ohne Blutvergießen, d.h. durch Abwahl, entledigen zu können. Es geht mithin um Alternanzen und ihre jeweilige Begründbarkeit sowie den geregelten Konfliktaustrag. "Pluralismus gewinnt seinen Sinn nur dadurch, daß er vorhandenen Konzeptionen einen Spielraum und die Legitimation für ihre Auseinandersetzungen liefert und für diesen Konfliktprozeß Regeln formuliert, die unbeschadet der Gegensätze eingehalten werden müssen, um die monistische und zum Autoritarismus führende Durchsetzung einer einzigen Konzeption zu verhindern." 2 3 Ebenso formuliert der kritische Rationalismus "Minimalregeln, ohne die ein wirklich kommunikativer, dialogischer Wissenschaftsprozeß mit konkurrierenden Teilnehmern undenkbar erscheint." 24 Zwar hat der kritische Rationalismus Maximen aufgestellt, die von allen demokratischen Parteien bejaht werden, aber eine Affinität zur sozialdemokratischen Programmatik ist ähnlich wie bei der Pluralismuskonzeption zweifelsohne gegeben. Seit dem Godesberger Programm ist die SPD weltanschaulich offen und vertritt kein deterministisches Geschichtsbild. Der Revisionismus als Bereitschaft zur permanenten Überprüfung und Veränderung von Theorien und Institutionen ist in der Sozialdemokratie durch Eduard Bernstein entwickelt worden. 25 Die sozialdemokratische Praxis folgt seit langem de facto der Strategie der schrittweisen Gesellschaftsreform. Auch der sozialstaatliche Interventionismus verbindet die Sozialdemokratie mit dem kritischen Rationalismus von Albert und Popper. 2 6 Die reformistische Strategie der gradualistischen Gesellschaftsveränderung wird mit dem negativen Utilitarismus der Vermeidung von konkretem Leid und dem Verzicht auf utopische Totallösungen begründet, jedoch sind damit nicht immer "allerkleinste" Schritte gemeint, wie die Kritik sie stets verstanden hat. Auch bei einer "schritt-

22 23 24 25 26

Kremendahl 1978, S. 68. Kremendahl 1978, S. 75. Kremendahl 1978, S. 76. Vgl. Meyer 1977 u. 1978. Kremendahl 1978, S. 77/78.

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weisen, kontrollierten Methode des Vorgehens scheint es .. möglich, längerfristige Veränderungen anzuvisieren und mehrere kleine Schritte so aufeinander abzustimmen, daß sie in sichtbarem Bezug zueinander bleiben und in ihrer Summe eine qualitative Veränderung bewirken. - Zum anderen ist daran festzuhalten, daß auch eine längerfristige Zielsetzimg nicht in einen dogmatisierbaren, sich selbst immunisierenden Heilsplan ausarten darf. Der rationale und reformistische Ansatz, konkrete Mißstände zu beseitigen, wird auch häufig tiefergreifende Strukturveränderungen erforderlich machen. Diese zu konzipieren, durchzusetzen und zu überprüfen, ist ein politisch-rationales Verhaltensmuster, das nichts zu tun hat mit der Verbreitung einer holistisch-utopischen Doktrin, die sehr häufig für die Praxis hier und heute gar keine plausiblen Vorschläge produziert. - Von daher ist der Gegensatz zwischen längerfristiger Zielplanung und reformistischer Methode oft ein Scheingefecht." 2 7 Kremendahl präferiert im übrigen die von Imre Lakatos entfaltete Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme und seinen "raffinierten Falsifikationismus", insofern dieser Ansatz "bei einer Anwendung auf politisches Problemlösungsverhalten am ehesten geeignet ist, die beiden Desiderata einer Einbeziehung von Wertentscheidungen und einer längerfristigen Programmorientierung zu erfüllen, ohne die Vorteile eines undogmatischen, pluralistischen und rationalen Kritizismus aufgeben zu müssen." 2 8 Insbesondere komme Lakatos mit seinem Modell "besser an den tatsächlichen Wissenschaftsprozeß heran, der durchaus durch fulminante Verteidigung von 'harten Kernen' und vor allem durch das langandauernde Nebeneinanderexistieren konkurrierender Theoriereihen gekennzeichnet ist. Ziel bleibt der Erkenntnisfortschritt, der aber hier sehr viel komplexer - und nach längeren, gründlicheren Überprüfungen - vonstatten geht als im 'naiven' Falsifikationismus. ... Realistisch erscheint auch Lakatos' Annahme, nur selten sei von zwei konkurrierenden Theorien eine falsch und die andere bliebe unwiderlegt. ... Was wiederum dafür spricht, daß der Konflikt pluraler Programme der beste Motor des Erkenntnisfortschritts ist." 2 9 Für eine Übertragung des Lakatos-Modells - das wir im nächsten Kapitel ausführlich behandeln - in den Bereich der politischen Programmatik und Willensbildung listet Kremendahl u.a. die folgenden Gesichtspunkte auf: • Es existieren längerfristig ausgerichtete politische Programme. • Diese haben einen harten Kern, der aus Grundwertentscheidungen und grundlegenden gesellschaftlichen Strukturprinzipien besteht. • Maßstäbe der Überprüfung sind empirische Zustimmung (Wahlergebnisse) und (vor allem in der Regierungsverantwortung) der operative Erfolg.

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Kremendahl 1978, S. 85. Kiemendahl 1978, S. 86. Siehe Kap. 11 dieser Arbeit. Kremendahl 1978, S. 88/89.

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• Das Programm verschiebt sich progressiv, wenn es sowohl auf wachsende Akzeptanz trifft als auch in der Realisierung bestätigt wird. • Es verschiebt sich degenerativ, wenn es (durch Stimmenentzug) negativ sanktioniert wird und bei der Verwirklichung kein Ziel erreicht wird, das ein konkurrierenden Programm nicht ebenfalls erreicht oder glaubhaft antizipiert hat. • Zeigen sich Ansätze einer degenerativen Verschiebung (z.B. durch Stimmenverluste bei Zwischenwahlen), muß nicht gleich der Kern angetastet werden, vielmehr kann versucht werden, durch andere Instrumente (verbesserte Strategien) eine progressive Problemverschiebung wiederherzustellen. • Hält die degenerative Tendenz trotz Ausschöpfens der instrumentellen Veränderungsmöglichkeiten an und erweist sich zugleich ein konkurrierendes Programm als erfolgreicher, kumulieren womöglich sogar Stimmenentzug und operative Erfolglosigkeit, dann ist ein Herangehen an den Kern, d.h. ein Wandel der Programmatik im Grundsätzlichen angezeigt. 30 Es ist Kremendahl zuzustimmen, daß es sicherlich reizvoll wäre, dieses Modell einmal durchzuspielen, um beispielsweise Aufstieg und Niedergang des Eurokommunismus oder die Annahme des Godesberger Programms durch die SPD zu analysieren. Grundsätzlich erscheint das Lakatos-Modell, das ansonsten in der sozialdemokratischen Rationalismusdiskussion keine sonderliche Rolle gespielt hat, für Kremendahl in besonderer Weise geeignet, "grundlegende politische Wertentscheidungen und ein längerfristiges Festhalten an ihnen zu ermöglichen - also das Gegenteil von Opportunismus -, ohne die Vorteile des Kritizismus und Antidogmatismus preiszugeben, da ja Kriterien für eine Programmrevision angebbar sind. Damit wird den Einwänden gegen den kritischen Rationalismus in der Politik [bzw. in der Theoriedebatte, A.W.], er erlaube nur kleinste Schritte, gebe keine Wertorientierungen und stehe mit dem tatsächlichen Verhalten .. im Widerspruch, eine plausible kritisch-rationale Antwort entgegengehalten." 3 1 Thomas Meyer hebt in einem weiteren relevanten Beitrag hervor, daß die Schulbezeichnung "kritischer Rationalismus" nicht mehr als eine befriedigende Positionsbeschreibung fungieren könne, weil inzwischen zahlreiche Varianten und unterschiedliche Entwicklungsphasen zu differenzieren seien. 3 2 Gleichwohl ließen sich einige Intentionen und Grundanschauungen benennen, wobei sich Meyer allein auf die wissenschaftstheoretische Bezugsebene bzw. auf die Frage nach dem Begriff und der Funktion von Wissenschaft innerhalb der Gesamtkonzeption des demokratischen Sozialismus einlassen will. Hier könne man die (für viele) erstaunliche Entdeckung machen, daß eine kritisch-rationale Wissenschaftstheorie durchaus zum Traditionsbestand des demokratischen Sozialismus gehöre, nämlich in der Übergangsphase der Sozialdemokratie hin zu einem bewußten Reformismus: "Dies 30 31 32

Kremendahl 1978, S. 89. Kremendahl 1978, S. 90. Meyer 1978, S. 91.

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gilt sowohl für die reformistische Theoriegruppe 'Fabian Society' in den 80er und 90er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in England als auch in besonderer Weise für die Ausarbeitung der revisionistischen Theorie durch Eduard Bernstein in den neunziger Jahren für die deutsche Sozialdemokratie." 3 3 Ohne auf diese Positionen hier in extenso eingehen zu können, ist in bezug auf den sog. Revisionismus von Bernstein festzuhalten, daß das Verhältnis von Wissenschaft und Sozialismus u.a. in Anlehnung an die 'Fabian Society1 ausgedeutet wurde, die wiederum auf Auffassungen von Auguste Comte und John Stuart Mill rekurrierte. 3 4 Verstanden fühlte sich Bernstein aber vor allem durch Max Weber im Hinblick auf die wissenschaftslogische Fundierung einer wertfreien Sozialwissenschaft. 3 5 Bernstein betonte die Empirie und war äußerst skeptisch gegenüber allen auf Systematisierung und begrifflichen Konstruktionen allein beruhenden Erkenntnisansprüchen. Er trat für die Einsicht ein - und dies stellt ihn "in nächste Nähe zum kritischen Rationalismus" 36 -, daß "in einer Gesellschaft, die im Gegensatz zur Erwartung von Marx, an innerer Komplexität beständig zunimmt, zielgerichtete Veränderungen, wie radikal auch immer sie in ihrer Endperspektive angelegt sein mögen, grundsätzlich nur in der Form erfolgen können, daß jeweils in Teilschritten und Teilbereichen konstruktive Erneuerungen unakzeptabler Strukturen eingeführt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn durch die Veränderungsmaßnahmen nicht die Reproduktionsbedingungen des gesamten gesellschaftlichen Lebens zerstört werden sollen. Denn nur wenn für die jeweils zu überwindenden Strukturelemente der Gesellschaft funktionsfähiger institutioneller und organisatorischer Ersatz verfügbar ist, der konstruktiv an deren Stelle gesetzt werden kann, sind beide Bedingungen zugleich gewährleistet: die Sicherung ihrer elementaren Reproduktion und die zielgerichtete Veränderung der Gesellschaft. Für die von Bernstein wie von Marx favorisierte sozialistische Zielrichtung der gesellschaftlichen Veränderung kommt noch hinzu, daß deren charakteristisches Merkmal die Erweiterung der Selbstbestimmungsrechte in alle gesellschaftlichen Bereiche für alle Individuen sein soll. Daher müssen die einzelnen Veränderungsschritte stets zugleich die realen Partizipationschancen der betroffenen Individuen erhöhen. Wenn nun aber in einer realistischen Analyse davon ausgegangen werden muß, daß die Mitglieder der unterdrückten Klasse nicht aus dem Stand heraus die politische, betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche und soziale Kompetenz haben können, die erforderlich ist, um eine sozioökonomische Struktur einzuführen, die gleichzeitig durch vollendete Selbstbestimmung und stets wachsende Produktivität und ökonomische Rationalität gekennzeichnet ist, dann muß die gesellschaftliche Transforma-

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Meyer 1978, S. 92/93. Weitere Bezüge sind Friedrich Albert Lange und die Neukantianer in der Nachfolge Hermann Cohens. Meyer 1978, S. 102. Webers berühmter Aufsatz "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" wurde daher auch in den ersten Band "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" aufgenommen, Lührsetal. 1975, S. 335-348. Meyer 1978, S. 103.

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tion auch deshalb als schrittweise Konstruktion neuer Teilstrukturen erfolgen, weil nur auf diesem Wege die erforderliche Kompetenz durch praktische Einübung erweiterter Selbstbestimmimg und reale Erfahrung behindernder Grenzen schrittweise ausgeweitet werden kann. Nur in diesem Falle bleiben die Arbeiter selbst das Subjekt des Prozesses ihrer Befreiung." 3 7 Bernsteins Entscheidung für einen empirisch-nomologischen und wertfreien Begriff der Sozialwissenschaften folgt unmittelbar aus seiner Entscheidung für einen konstruktivistischen Gradualismus. 3 8 Die Differenz zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft bestand für Bernstein darin, daß letztere es stets auch mit Zweckbeziehungen zu tun hat: "In der Zwecksetzung und -Verfolgung koppeln sich die Individuen und anderen gesellschaftlichen Handlungseinheiten von bloßen Kausalrelationen stets wieder ab. - Zwecksetzungen als Willensentscheidungen können zwar nicht beliebig sein, sondern sind stets durch die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt, aber diese Vermittlung kann ihrerseits nicht nach dem Modell von Kausalbeziehungen gedacht werden. Diese, wenn auch stets nur relative, so doch prinzipielle Expositionalität der bewußtseinsvermittelten Zwecksetzungen bezeichnet Bernstein mit dem Rodbertusschen Begriff der 'Spielartenfreiheit'. Die Wahlmöglichkeiten sind stets durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen vermittelt und dennoch niemals auf sie reduzierbar." 3 9 Für Bernsteins Konzeption eines "kritischen Sozialismus" ist der wissenschaftliche Kritizismus Kants zugrunde zu legen. Der Sozialismus als Theorie könne aber nicht Wissenschaft, sondern nur Programmtheorie sein. Für sich allein genommen ist aus sozialistischen Grundentscheidungen keine realistische Politik ableitbar: "Dazu bedarf es der Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge, Entwicklungstendenzen und Bedingungsfaktoren der gesellschaftlichen Wirklichkeit." 40 Bernsteins Ergebnisse seiner "Kritik der sozialistischen Vernunft" sind in der Interpretation von Thomas Meyer "in Godesberg zur Grundstruktur der Logik des sozialdemokratischen Programms geworden. Längst vor dessen Entstehung als Schule sind darin Grundintentionen und Arbeitsergebnisse des kritischen Rationalismus aufgenommen worden ... Dies heißt selbstverständlich nicht, daß der kritische Rationalismus die offizielle Philosophie der Sozialdemokratie sein oder werden könnte", vielmehr ist er "ein gleichberechtigter Mitstreiter im Wettbewerb der konkurrierenden Erkenntnisansprüche bei der Gestaltung des sozialistischen Programms." 4 1

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Meyer Meyer Meyer Meyer Meyer

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Wie ist es damit später bestellt? Im ersten bundesrepublikanischen "Lexikon des Sozialismus" aus dem Jahre 1986 wird unter dem Stichwort "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" u.a. ausgeführt: "Die Fehlbarkeit der Vernunft ist prinzipiell unaufhebbar. Wir erzielen daher am ehesten Fortschritte, wenn wir 'die kritische Einstellung auf so viele Gebiete wie möglich ausdehnen' (Popper). ... Die Möglichkeit, Ideen unzensiert zu produzieren und Kritik in allen Lebensbereichen zu üben, muß institutionell gesichert sein. ... Rational ist eine Politik, wenn sie mit der Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft und den unbeabsichtigten (aber unvermeidlichen) Konsequenzen menschlichen Handelns rechnet. Sie muß, jedenfalls im großen und ganzen, eine Politik der kleinen Schritte sein ('Stückwerktechnologie'), die kritisch-rationale Politik ist also reformistisch, nicht revolutionär. Ebenso wie M. Weber und Bernstein betonen die Kritischen Rationalisten, daß es in der Geschichte keinen objektiven Richtungssinn gibt, der sich auch unabhängig von den handelnden Personen Geltung verschafft. Das bedeutet zugleich: Die Menschen müssen selber die Verantwortung für ihre (politischen) Eingriffe übernehmen. ... Der 'prinzipielle Revisionismus' (H. Albert), den die Kritischen Rationalisten empfehlen, bedeutet jedoch keine Absage an eine zielorientierte und vernunftgeleitete Politik. ... Der Richtungssinn in der Politik kommt durch eine Orientierung der einzelnen Aktivitäten an parteienspezifischen Grundwerten zustande. ... Obwohl Normen, Werte und Ziele bzw. normative Aussagen niemals wahrheitsfahig sein können ..., läßt sich ein blinder Dezisionismus doch vermeiden. Denn normative Angelegenheiten - wie die Entscheidung für oder gegen den Sozialismus - entziehen sich keineswegs einer vernünftigen Erörterung, so daß prinzipiell die Möglichkeit besteht, unsere Entscheidungen .. mit Hilfe kritischer Argumente einzugrenzen. Aus der Perspektive des Demokratischen Sozialismus gehört die Offenheit einer Gesellschaft zu den unaufgebbaren Merkmalen einer freiheitlichen Ordnung. Der Demokratische Sozialismus versucht darüber hinaus, die Idee gleicher Freiheit zu realisieren. Zu den zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten umstrittenen Angelegenheiten gehört auch die Frage, ob sich Offenheit (Vielfalt, Wandlungsfähigkeit) und gleiche Freiheit womöglich (teilweise) ausschließen." 4 2 Auf diese Fragen sind wir schon bei Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill eingegangen, so daß wir jetzt zu einer Bilanzierung kommen können. Es wurden im übrigen von uns nur die Beiträge der sozialdemokratischen Rationalismusdebatte herausgegriffen, die keine Aufsatzreprisen waren bzw. die u.E. auch heute noch Bestand haben, während die Diskussion "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" selbst bereits nach ein paar Jahren sanft entschlafen ist. In der kurzfristigen "heißen Phase" der bundesrepublikanischen Auseinandersetzung wurde der Anspruch (eines Teils) der Sozialdemokratie bestritten, den kritischen Rationalismus für sich zu reklamieren. So bezweifelt Christoph Böhr, ob es überhaupt möglich ist, sozialdemokratische Programmatik und kritisch-rationale 42

Alt 1986, S. 390.

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Philosophie miteinander zu vereinbaren. 4 3 Die Sozialdemokratie auch des Godesberger Programms verfolge nach wie vor eine materiale Demokratietheorie und sei auf Probleme der Verteilungsgerechtigkeit fixiert, während der kritische Rationalismus nicht inhaltliche Ziele, nicht Glück oder Wohlfahrt der Bürger, sondern vorrangig ihre Freiheit sichern wolle: "Die Ziele sind sekundär, weil sie dem politischen Konkurrenz- und Meinungskampf unterzuordnen sind und als Variable begriffen werden. Ein Politiker hat die Ziele der eigenen Partei sogar unterzuordnen dem Auftrag, die freiheitsschaffenden und -erhaltenden ordnungspolitischen Strukturen einer Gesellschaft zu sichern." 4 4 Ordnungs- und Zielpolitik, die formalstrukturale und die materiale Demokratietheorie aber seien konträre Positionen, die einer Annäherung zwischen Sozialdemokratie und kritischem Rationalismus entgegenstehen. 4 5 Das sozialdemokratische Autorenteam - Lührs et al. -, das die Bemühungen um den kritischen Rationalismus initiiert hat, sieht eine Gefahr für die Freiheit eher im ontologischen Ordo-Denken der Christdemokraten. Die grundsätzliche Kritik Böhrs könne man sich deswegen nicht anheften oder ihrer annehmen, weil man ebenfalls und von vornherein davon ausgegangen sei, daß der kritische Rationalismus eine Metatheorie oder Methodologie der politischen Praxis sei, fiir die man keinen Primat seitens einer Partei beanspruchen könne. 4 6 Seitens der CDU hat neben Bohr (und notabene auch Helmut Kohl, ferner Kurt Biedenkopf) vor allem Warnfried Dettling den kritischen Rationalismus reflektiert. 4 7 Er verweist darauf, daß die CDU die kritische Rationalität vor der SPD praktiziert hätte. Gleichzeitig sah er die Beschäftigung mit dem kritischen Rationalismus als Ausdruck eines Konfliktes innerhalb der SPD, insofern es um die politische Vorherrschaft in ihr gehe, die vordergründig als "Theoriediskussion" gefuhrt werde. Die Neomarxisten forderten antikapitalistische Strukturreformen, die Gemäßigten plädierten für ein pragmatisches Politikverständnis. Die Diskussion um den kritischen Rationalismus sei der begrüßenswerte Versuch, das theoretische Monopol der Neomarxisten in der Sozialdemokratie zu brechen. 4 8 Jedoch habe die SPD den kritischen Rationalismus nicht internalisiert: "Die Gesinnungsethik und Reformhektik der SPD hat ja vor allem eines unmöglich gemacht: die kritisch-rationale Diskussion politischer Vorschläge und ihre Überprüfung anhand erkennbarer oder eingetretener Folgen. Der Kritische Rationalismus plädiert für eine kritische Einstellung sowohl der Tradition (überkommene Institutionen, Gewohnheiten usw.) wie auch dem Fortschritt (neue Ideen und Lösungsvorschläge) gegenüber. Die Politik der SPD seit 1969 war z.T. unkritisch in beiderlei Hinsicht: sie verwarf

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Böhr 1977, S. 27. Böhr 1977, S. 28/29. Böhr 1977, S. 29. Lührs et al. 1977, S. 37. Die Diskussionsbände seien wohlweislich "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie" betitelt, nicht aber "Kritischer Rationalismus in der SPD", ebd., S. 33. Siehe Dettling 1974 u. 1975. Dettling arbeitet heute als freier politischer Journalist, in Sonderheit für "Die Zeit" und die taz. Siehe auch Dettling 1996. Dettling 1975, S. 43.

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Bewährtes ebenso unkritisch wie sie Neues unkritisch propagierte. Nur eine Politik und eine Partei, die Erneuern und Bewahren verbindet und an beides die kritische Sonde anlegt, entspricht den Kriterien des Kritischen Rationalismus. Eine vernünftige Politik erfordert deshalb immer auch jenen aufgeklärt-rationalen Konservativismus, der Ideen und Institutionen die Chance gibt und die Zeit läßt, sich zu bewähren - oder aber zu scheitern, um sie dann durch andere zu ersetzen. 'Keine Experimente' widerspricht ebenso dem Geist des Kritischen Rationalismus wie Brandts Pathos des 'Wir fangen erst richtig an"'. 4 9 Es sei Skepsis angebracht, ob sich die kritischen Rationalisten in der SPD durchsetzten. Damit könnte sich eine neue Grundlage liberaler Gemeinsamkeiten zwischen den großen Parteien abzeichnen. Generell aber könne gelten: "Von dem Philosophen der offenen Gesellschaft können gewiß alle Parteien redlich zehren. Der Kritische Rationalismus taugt für Vieles - nur nicht als Rechtfertigungsideologie einer Partei gegen eine andere." 5 0 Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik sei im Sinne des kritischen Rationalismus festzuhalten: "Es gibt keine politische Wahrheit. Wenn das so ist, dann muß wenigstens die Dogmatisierung des Irrtums verhindert werden. ... Der kritische Rationalismus ist die Methode des Fortschritts durch Kritik von Alternativen. Sie erleichtert die Revision falscher Theorien und Politiken. Sie zielt nicht auf die Begründung und Rechtfertigung einer Theorie und einer Politik. So wie in der Wissenschaft der Fortschritt nicht durch Begründung des Wahren, sondern durch Eliminierung von Irrtümern zustande kommt, so soll auch in der Politik nicht der eine vollkommene Zustand herbeigeführt, sondern Übel und Mißstände jeweils Stück um Stück überwunden werden. Der kritische Rationalismus nimmt also Abstand von der Manifestationstheorie der Wahrheit, d.h. von der Vorstellung, daß uns Wahrheit in irgendeiner Weise vorgegeben ist, sei es in der Natur, in der Geschichte, in der Gesellschaft oder wie immer die Instanzen der Offenbarung der Wahrheit heißen mögen. Mit der Manifestationstheorie der Wahrheit verabschiedet er auch die Elitetheorie der Wahrheit, d.h. die Vorstellung, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen bevorzugt in der Lage ist, die wahre Erkenntnis, die richtige politische Lösung zu finden." 51 Hinsichtlich der FDP wird immer wieder auf Ralf Dahrendorf verwiesen. 52 Dieser Einfluß wird sicherlich überschätzt. Abgesehen davon, daß Dahrendorf kein eingeschriebener Freidemokrat und auch kein Politiker mehr ist, wirkte er (entgegen landläufiger Meinung) auch keineswegs in besonderer Weise an der Formulierung der Freiburger Thesen der Liberalen (1971) mit, die insbesondere von Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer 53 auf den Weg gebracht wurden. Die sozial-

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Dettling 1975, S. 46. Dettling 1975, S. 46. Dettling 1974, S. 80/81. Siehe Kap. 6. Vgl. auch Dahrendorf 1968, S. 175-191 ("Die deutsche Idee der Wahrheit"). Maihofer war auch an der Entstehung der "Wiesbadener Grundsätze" der FDP von 1997 beteiligt, die maßgeblich von Guido Westerwelle formuliert wurden.

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liberalen Freiburger Thesen atmen durchaus den Geist des kritischen Rationalismus und des Reformliberalismus, sind aber mittlerweile programmatische Makulatur und insofern eher eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Helmut F. Spinner 54 hat die (Pseudo-)Vereinnahmung des kritischen Rationalismus Poppers durch die bundesrepublikanischen Parteien abschätzig kommentiert und glossiert ("Jedermannspopper und die Politiker"). 5 5 Der Aufstieg des kritischen Rationalismus gleichsam zur Staatsphilosophie müsse verhindert werden, ebenso gelte es, die Gesamtgesellschaft zu schützen vor einer "Entpolitisierung durch Verwissenschaftstheoretisierung der Politik". Sein Hauptargument lautet: "Philosophie und Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, Demokratie und Wissenschaftstheorie, Popper und die politischen Parteien - sie alle könnten voneinander profitieren, wenn sie bereit wären, sich von den in jedem Bereich reichlich vorhandenen Ideen stimulieren und kritisieren zu lassen. Stattdessen versuchen sie, sich wechselseitig ihre jeweiligen Beschränkungen aufzuerlegen: mit kumulativem Effekt, der bewirkt, daß das vereinigte Ideenpotential schwächer, das Problembewußtsein beschränkter und die Problemlösungskapazität im Endergebnis geringer ist als zuvor, solange die einzelnen Ideenbereiche sich lediglich von ihren eigenen Grenzen eingeschränkt sahen." 5 6 Spinner sieht die geführte Diskussion zunächst im wesentlichen als ein Versuch, den neomarxistischen Flügel niederzuhalten. In der zweiten Rezeptionsphase sei es zu fragwürdigen Versuchen gekommen, sich die Poppersche Philosophie anzueignen. Dieser parteipolitische Rückgriff seitens der "Neokriras" (Neuvertreter des kritischen Rationalismus) sei zum Scheitern verurteilt und sollte auch scheitern, da sie sich "zum kritischen Rationalismus 'bekennen', ohne ihn ausreichend zu kennen". 57 Herausgekommen sei nämlich eine gleichermaßen verengte philosophische und politische Problemperspektive. Das theoretische Interesse des kritischen Rationalismus an Problemlösungen werde einem taktischen Interesse zur Wahrung der ideologischen Parteiidentität geopfert. Es biete sich folgendes Bild: "Zur Rechten sieht man wie (vor allem!) zur Linken, die Nichtkriras heruntersinken: Hegel und Marx, Luhmann und Habermas, Positivisten, Alt- und Neomarxisten, Dialektiker, Systemtheoretiker, Reaktionäre und Radikale. Selbst vor den eigenen Reihen wird nicht haltgemacht. Die NelsonWeisser-Schule, deren Ideen bei der Ausarbeitung des Godesberger Programms immerhin eine gewisse Rolle gespielt haben, wird bei dieser Gelegenheit ohne Rücksicht auf ideengeschichtliche Verluste mit ausgegrenzt und sozusagen philosophisch liquidiert. Was bei der Rundum-Abgrenzung-auf-Popper-komm-raus als akzeptable philosophische Grundlage für die Sozialdemokratie schließlich übrig54 55 56 57

Siehe Kap. 11. Spinner 1978, S. 1-72. Spinner 1978, S. 4. Spinner 1978, S. 47.

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bleibt, ist, wie nicht anders zu erwarten, einzig und allein der sozialdemokratisch schwach eingefärbte kritische Rationalismus in Überlebensgröße, mit Popper als eine Art heiliger Patron. Und es ist auch nicht der wirkliche, unverkürzte, unverfälschte Popper, der bei diesem Abgrenzungsgeschäft zutage gefördert wird, sondern die traurige Gestalt des Jedermannspopper". 5 8 Die Interpretationen seien im einzelnen und generell mit Interpretationsfehlern behaftet: "Das berühmte PopperKriterium der prinzipiellen Falsifizierbarkeit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen (Erfahrungs-)Wissenschaft und Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Rationalität (worunter Popper Prüfbarkeit im Sinne von grundsätzlicher Widerlegbarkeit versteht) des jeweiligen Theorietyps. Für die innerwissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Alternativen ist das Poppersche Abgrenzungskriterium nicht gedacht und nicht geeignet. Im Hinblick auf die vergleichende Analyse von Theorien gleichen (zum Beispiel empirischen) Aussagentyps hat der kritische Rationalismus eine Reihe von Beurteilungskriterien (Grade der Prüfbarkeit, der Erklärungs- und Prognosekraft; "Maße" des Informationsgehalts und der Wahrheitsnähe; etc.) entwickelt, die eine differenzierte, abgestufte Bewertung jeder einzelnen Theorie aufgrund komparativer 'Leistungsbilanzen' ermöglichen sollen." 5 9 Für jene spezielle Art von Abgrenzungen, an der politische Parteien im Hinblick auf ihre Programmatik vornehmlich interessiert seien, habe Popper indes überhaupt keine Kriterien entwickelt. 6 0 Der kritische Rationalismus als Abgrenzungs- statt Problemlösungsphilosophie: "das ist der denkbar sterilste Gebrauch, den man von Poppers Ideen machen kann, die damit weit unter Wert rezipiert werden. Für Popper war das Abgrenzungsproblem - ursprünglich jedenfalls ... - eine propädeutische Frage aus dem Vorfeld der Wissenschaft: ein protowissenschaftliches Problem, das vorab zu lösen ist, um das Problemfeld für die eigentliche Lösungsaufgabe abzustecken und die für Problemlösungsvorschläge relevante Art der Kritik zu umreißen. Popper hat Abgrenzungen, so wichtig er sie auch nahm, nicht mit Kritik, Vorfragen nicht mit Problemlösungen verwechselt." 6 1 Auch die Rezeption seitens der CDU, insbesondere durch Warnfried Dettling, wird von Spinner kritisiert. Hier wird ihm zu sehr die Offenheitsflagge des kritischen Rationalismus gehißt: "Absolut und grenzenlos 'offen' an diesem Plädoyer für allseitige Offenheit sind bislang vor allem so ziemlich alle Probleme geblieben, die mit der Einarbeitung der Popperschen Philosophie in die CDU-Programmatik verbunden sind, aber von den christdemokratischen Neokriras ebenso übergangen werden wie von den freidemokratischen und sozialdemokratischen." 6 2

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Es ist indes für Spinner keine Frage, daß "Popper - die Person stellvertretend für die Lehre genommen, um die es geht - der 'rechte Mann' für eine fruchtbare Verbindung von Philosophie und Politik ist", jedoch sei es die Frage, ob dies zur "rechten Zeit" geschehen sei, vor allem im Falle der Sozialdemokratie: "Bedenklich stimmt, daß die SPD nicht am Anfang oder auf dem Höhepunkt, sondern erst in der Niedergangsphase ihrer ohne Poppersche Argumentationshilfe mit höchstem Anspruch eingeleiteten Reformpolitik auf den kritischen Rationalismus gekommen ist." Spinner sah diese Zuwendung insofern als einen Versuch, der Partei einen neuen Schwung zu verleihen, um sich nach der "Tendenzwende" noch einen halbwegs ehrenvollen Abgang von der politischen Bühne zu verschaffen. 6 3 Wie dem auch sei, stellt Spinner für alle Parteien in sarkastischer Weise fest: "Die deutschen Politiker und Parteien haben den 'Popper', den sie verdienen. Es ist Jedermannspopper. für alle nützlich, aber niemandem hilfreich und zu nichts wirklich zu gebrauchen!" 6 4 Diese Spielarten eines "neuen" kritischen Rationalismus stellten eine Verfallsform dar, die besonders verhängnisvoll sei, da der alte und kritische "kritische Rationalismus" zum einen kaum rezipiert wurde und zum anderen dieserart auch eine relevante, weiterführende Kritik an ihm verhindert wurde, die nötig sei. Die PopperBilder der deutschen Parteien seien weitgehend austauschbar, und noch schlimmer sei: "Die Popper-Rezeption der Politiker verleiht weder den Parteien noch dem kritischen Rationalismus ein charakteristisches 'Gesicht', von dem sich mehr ablesen ließe als die in diesen Parteien allgemein vorherrschenden Anschauungen, zu deren philosophischer Grundlegung, politischer Propagierung und praktischer Realisierung der kritische Rationalismus weder unbedingt notwendig noch besonders hilfreich erscheint." 6 5 Der "Jedermannspopper" sei entweder ein naiver Irrtum oder eine arglistige Täuschung, man könne ihn "positiv" und "negativ" charakteaus risieren: (1) Das positive Bild sei durch eine Reihe von Allerweltsprinzipien der Lehre des NKR (Neuer Kritischer Rationalismus) gekennzeichnet. Dieser Jedermannspopper denke einfach, und sein Weltbild ist von unkomplizierter Schlichtheit und Sparsamkeit. Das überwiegend dichotomische Denken ist zugleich global, es ist ein Denken in "Großen Alternativen" (Kritizismus versus Dogmatismus, Offene vs. Geschlossene Gesellschaft, Reform vs. Revolution, kritischer Rationalismus gegen den "Rest der Welt"). 6 6 Jedermannspoppers allgemeine Philosophie ist 63 64 65

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Spinner 1978, S. 55/56. Spinner 1978, S. 56. Spinner 1978, S. 57. Ebd.: "Ein konturenloser, ausgeuferter, verflachter, fast schon charakterloser kritischer Rationalismus als Gemeinschaftsphilosophie für Liberale, Sozialisten und Christen, für Progressivisten, Reformisten und Konservative, am Rande sogar für (nichtmarxistische) Radikale und (intelligente) Reaktionäre, für Linke und Rechte, vor allem aber für die große Schar der Weltkinder in der Mitten; ein 'roter', 'schwarzer', farblos-neutraler Popper, wie gerade gefragt, bestellt und geliefert; kurz: ein Allzweck-Popper für jedermann, für die geistige Elite und die breite Masse, für jeden Bedarf, in jeder Lebenslage? Der kritische Rationalismus als Universalphilosophie, als neue Allerweltsideologie: Sag', was du zu sagen hast, immer gesagt hast und weiterhin sagen willst - aber sag' es mit Popper?" Spinner 1978, S. 58/59.

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"scheinheilig unpolitisch", insofern "sie vergißt oder verdrängt, daß die Wissenschaft ... ihre eigene politische Philosophie hat". 6 7 Umgekehrt präsentiere sich Jedermannspoppers Sozialphilosophie vorzugsweise "scheinheilig politisch", wenn sie "die Probleme einer modernen, demokratischen Gesellschaft aus den Prinzipien des durch Übertragung ihres aus dem fallibilistischen Erkenntnismodell abgeleiteten Verhaltensmodells ('kritische Lebensform1), Wissenschaftsmodells ('Gelehrtenrepublik'), Gesellschaftsmodells ('Offene Gesellschaft') und Entwicklungsmodells ('piecemeal engineering') zu lösen versucht, ohne all jene der Wissenschaft angeblich 'externen' (sozialen, politischen, etc.) Bedingungen der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit zu berücksichtigen und alle jene empirischen ('nichtlogischen', 'nichtkognitiven', 'irrationalen') Faktoren wieder einzukalkulieren, von denen zuvor im Erkenntnismodell 'abstrahiert' worden ist." 6 8 Jedermannspopper verbreitet eine optimistische Sicht, verwendet indes ein pessimistisches Kontrastbild im Hinblick auf "unpoppersche" Probleme und Problemlösungen. 6 9 Jedermannspoppers Philosophie ist steril und insgesamt durch einen Problem-Eskapismus gekennzeichnet. 7 0 Im Grunde lasse sich Jedermannspoppers Politphilosophie "positiv nicht hinreichend beschreiben, da sie ohne positive Substanz ist, genauer ohne positiven Überschußgehalt ... im Vergleich sowohl zur politischen Wirklichkeit westlicher, liberaler Demokratien als auch zu der damit verbundenen Demokratie/Zze«rie".11 Überwiegend bliebe es "beim Theaterdonner des folgenlosen Verbalradikalismus", so daß sich Jedermannspoppers Politphilosophie nur negativ hinreichend charakterisieren lasse. (2) Es sei das "Credo der Allpartei für maßvollen Fortschritt innerhalb der Grenzen des kritischen Rationalismus, die fälschlicherweise für die Grenzen von Vernunft, Recht und Demokratie sowie für das äußerste Limit rationaler Politik gehalten werden, bei dessen Überschreitung Fortschritt zwangsläufig in Rückschritt umschlägt. Dieses Credo besteht im wesentlichen aus dem Negativkatalog dessen, was sich im Ablehnungsbereich von Jedermannspoppers Philosophie befindet. Einig sind sich die Neokriras über alle Parteigrenzen hinweg im gemeinsamen Bekenntnis zu den großen Antis des kritischen Rationalismus, die da heißen: Antidogmatismus, Antiutopismus, Antihistorizismus, Antimarxismus, Antirevolutionismus ... Einig glaubt man sich auch im Positiven zu sein, insbesondere in bezug auf die drei wichtigsten sozialphilosophischen Lehrstücke des kritischen Rationalismus, nämlich im Credo zur Popperschen Trilogie aus Offener Gesellschaft, kritischer Lebensform und gradualistischer Sozialtechnologie. Aber das ist ein Irrtum, ein Selbstbetrug des NKR, dessen Anhänger sich nie die Mühe gemacht haben, den wirklichen Inhalt der Popperschen Sozialphilosophie zu analy-

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sieren und auf seine Vereinbarkeit mit Jedermannspoppers Ideologie hin zu überprüfen." 72 Gegenüber dem Jedermannspopper und seinem Evangelium bzw. seiner Trivialphilosophie will Spinner das eigentliche Credo Poppers herausarbeiten 7 3 , allerdings sei der Jedermannspopper teilweise auch Poppers ("wenngleich illegitimes") Geisteskind. 7 4 Für Spinner sollten "für eine Philosophie vom Rang und Ruf des kritischen Rationalismus kurzfristige tages- und parteipolitische Interessen sowie kurzsichtige Opportunitätsüberlegungen keine Rolle spielen. Was dabei auf dem Spiel steht, ist immerhin nichts weniger als die Glaubwürdigkeit einer Philosophie, die rechtfertigungsfreie Kritik, wissenschaftliche Objektivität, ideologiefreie Rationalität, Offenheit und Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben hat." 7 5 Auf den "historischen" und radikalen Popper kann nicht verzichtet werden. 7 6 Allerdings: "Den 'ganzen Popper1 bekommt man .. so oder so nicht in den Griff, weil es eine einheitliche, über alle Zeiten und Räume sich treu gebliebene Poppersche Philosophie nicht gibt. Man muß sich in jedem Fall entscheiden und auswählen, was einem aus Poppers philosophischem Angebot an Problemen, Analysen, Theorien und Problemlösungsvorschlägen, aber auch an Vorurteilen, Präjudizien, Dogmen und Restriktionen bedenkenswert und im Hinblick auf die eigenen Absichten brauchbar erscheint - in der Hoffnung, sich den besten Teil Poppers gesichert zu haben." 7 7 Den Vulgärpopperianismus aber sollte man vermeiden. Spinner plädiert geradezu dafür, mit Hilfe des kritischen Rationalismus eine konservative Philosophie zu entwickeln, denn "eine Hebung des Niveaus ist immer und überall als Fortschritt zu werten". 7 8 Die Konzeption eines zeitgemäßen Konservatismus sei ein Desiderat und als persönliche politische Einstellung sei der Konservatismus zugleich eine respektable Haltung: "Sie verhindert zum Beispiel das Abreißen der Tradition - nach Konrad Lorenz eine der acht Todsünden der modernen Menschheit. Konservatismus als zeitgemäße Philosophie der Gegenwart ist bislang, trotz Freyer, Gehlen, Oakeshott und wie die 'großen Konservativen' alle heißen mögen, allenfalls ein vages Versprechen, zu dessen Einlösung der kritische Rationalismus vielleicht etwas beitragen könnte, wenn seine Ideen in die richtigen Hände kämen." 79 Spinners parteineutral gemeinter Wunsch ist indes bis heute unerfüllt geblieben. Spinners Ausfuhrungen sind insgesamt jedoch etwas zu heftig und bissig ausgefallen. Sie erklären sich teilweise auch dadurch, daß er sich zu diesem Zeit72 73 74 75 76 77 78 79

Spinner 1978, S. 66. Siehe auch Kap. 11 dieser Arbeit. Spinner 1978, S. 67. Spinner 1978, S. 69. Spinner 1978, S. 70. Spinner 1978, S. 70. Spinner 1978, S. 71. Spinner 1978, S. 72. Spinner denkt hier im wesentlichen an Hermann Lübbe und Rainer Specht.

Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie

209

punkt in einer Art Absetzbewegung vom kritischen Rationalismus befand und die Diktion der Kritik von Feyerabend 8 0 mimetisch einzuholen trachtete. Seine eigenen Orientierungsschwierigkeiten hat er auch auf die Diskussion der Parteien zum kritischen Rationalismus übertragen. Urteile mit unsicherer Sehschärfe aber sind halbblind, was auch für Diskussionen über Diskussionen gilt. Offensichtlich hat ihn auch niemand gefragt, hieran argumentativ teilzunehmen. Natürlich können und konnten diese Diskussionen weder sozialwissenschaftlich noch philosophisch erschöpfend sein. Dafür sind Parteien und ihre Denkfabriken auch nicht das richtige Forum. Die Anstrengungen als solche sollte man indes nicht in Bausch und Bogen verwerfen, denn es kann sicherlich nie schaden, wenn die Sentenzen des kritischen Rationalismus eine wissenschaftstranszendierende Verbreitung erfahren, wie es erneut nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Mittel- und Osteuropa der Fall ist. Solange sich damit nicht eine Dogmatisierung bestimmter (womöglich falsch verstandener) Grundpositionen verbindet (z.B. Stückwerkpolitik als phantasieloses und unkritisches "Sichdurchwursteln", die Apologie des erreichten Status quo um jeden Preis und die Reduktion der Gestaltungsaufgaben auf ein kurzfristiges politisches Krisenmanagement), ist der kritische Rationalismus sicherlich nicht die schlechteste politische und politiktheoretische Hintergrundphilosophie, die man wählen kann, insofern er vor Illusionen und Verführungen in realistischer Weise warnt und zur Schadensbekämpfung hic et nunc auffordert. Er mißtraut in alltagspraktischer Manier den "großen Erzählungen" und allen mit Verve und Wahrheitsgewißheit bekundeten Determinismen, ist damit nicht nur an den Pragmatismus als philosophische Schule anschlußfähig, sondern ebenso mit zahlreichen Grundannahmen der postmodernen Sichtweisen vereinbar, zumal er an der Offenheit, Vielfalt und Vorläufigkeit von Konfigurationen und Theorien festhält, die immer wieder der Kritik ausgesetzt, dadurch bereits im Denken und Handeln verändert und insbesondere niemals für sakrosankt erklärt werden. 8 1 Für den kritischen Rationalismus bleibt alles im Fluß und ist die Zukunft nicht vorherbestimmt, sondern unbestimmt offen. Alles hängt von unserem vernünftigen Handeln ab, für das Kriterien im Vorgehen und zur Beurteilung von Prozeßabläufen angegeben werden. Diese Prüfsteine können und sollten jedem in die Hand gegeben werden, zumal sie der Welt 3 entstammen, virtuell sind oder aus bedrucktem Papier bestehen und von daher als Wurfgeschosse ziemlich ungeeignet sind. Ullrich L. Günther hingegen ist in seiner - m.E. ziemlich vordergründigen Analyse der sozialdemokratischen Diskussion zum kritischen Rationalismus der

80 81

Siehe Kap. 12. Gleichwohl war der kritische Rationalismus ein Hauptziel der postmodemen Kritik, insofern der größte Feind einer Theorie ihr Erfolg ist: "Der Einfluß des Kritischen Rationalismus war in den Sozialwissenschaften größer als in seiner heimischen Disziplin der Philosophie. Es bekam Poppers Lehre schlecht, daß sie in Deutschland zu einer Staatsphilosophie wurde, die alle drei etablierten Parteien als Minimalkonsens zu umfassen begann", so v. Beyme 1992 b, S. 168.

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Kritischer Rationalismus

resümierenden Ansicht, daß der kritische Rationalismus keine konstruktiv politischen Zielvorgaben und Handlungsanweisungen geben, kurz: keine positive Heuristik für politische Aufgaben anbieten könne. Der größte Teil der politischen Philosophie des kritischen Rationalismus sei für die praktische Politik zu unbestimmt und abstrakt bzw. in westlichen Demokratien "eh unstrittig". Politische Enthaltsamkeit sei keine passende Empfehlung für Politiker und kritische Rationalisten könnten keine Politiker werden; denn: "Der Erkenntnisskeptizismus und normative Dezisionismus des kritischen Rationalismus bietet keine Sinnorientierung, motiviert nicht zum politischen Engagement; kurzum: der kritische Rationalismus könnte nie die Ideologie einer sozialen Massenbewegung sein und eignet sich auch von daher nicht für die Politik." 8 2 Diese Bewertung ist jedoch angreifbar, denn für eine pragmatische, reformorientierte und liberale Politik ist der kritische Rationalismus durchaus und wie keine andere Ausrichtung in vorzüglicher Weise geeignet. Ferner trifft Günther kaum Aussagen in Rücksicht auf das Verhältnis von kritischem Rationalismus und Politikwissenschaft, die sich in spezifischer Weise auf Politik bezieht und sie prinzipiell anders konzeptualisiert und begründet, insofern sie nicht an der Wählerstimmenmaximierungsprämisse orientiert ist. Für die politische Theorie und Sozialphilosophie, oder anders: für eine Wissenschaft der Politik im Hinblick auf eine rationale Politikgestaltung 8 3 hat der kritische Rationalismus wichtige demokratietheoretische Einsichten formuliert, die nicht als gering einzuschätzen sind, wenn wir im Sinne der Pluralismuskonzeption an der pluralen und offenen Gesellschaft festhalten und auf keinen Monismus oder Holismus hereinfallen wollen, in welcher geschlossenen, ideologischen und enthusiasmierenden Gestalt auch immer. Darüber hinaus ist der kritische Rationalismus als eine bestimmte Denkschule zwar von Popper errichtet worden, aber er reduziert sich nicht auf seinen weltweit wichtigsten Vertreter. Die Modifikationen und Progressionen des pluralen kritischen Rationalismus sind der Gegenstand des folgenden Kapitels.

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Günther 1984, S. 176. Zur Politik eignen sich hiemach nur Theorien, die zur Ideologie einer Massenbewegung werden könnten - ein reduziertes und fragwürdiges Verständnis von Politik. Siehe auch Dettling 1974, S. 82: "Ausgehend von der Annahme, daß die Erkenntnis der Wahrheit nie sicher, daß Irrtum immer wahrscheinlich und daß eine bessere Lösung immer möglich ist, versucht er [der kritische Rationalismus, A.W.], Wissenschaft und Politik dem kritisch-konstruktiven Wettbewerb offen zu halten. Politik und Wissenschaft werden also zunächst verstanden als Verfahren, die unterschiedlichen Inhalten und unterschiedlichen Theorien offenstehen. Politik und Wissenschaft versuchen, Probleme zu lösen. Die Lösungsvorschläge sind zunächst immer hypothetischer Natur. Ob und inwieweit sie brauchbar sind, darüber entscheidet die Kritik." - "Demokratie ist gerade deshalb nötig, weil die Menschen in den für sie bedeutsamen Fragen unterschiedlicher Meinung sind. Je geringer Konflikte in grundsätzlichen Fragen in einer Gesellschaft sind, desto leichter läßt sich eine Diktatur ertragen." / "Die Wissenschaft kann uns sagen, was wir tun können, nicht aber, was wir tun sollen." Dettling 1974, S. 85 u. 87.

11. KAPITEL: ANSÄTZE ZUR DIFFERENZIERTEN FORTFÜHRUNG UND METAKRITIK DES KRITISCHEN RATIONALISMUS

In der Wissenschaftsphilosophie wurde seit den sechziger Jahren im Umkreis des kritischen Rationalismus eine Diskussion geführt, die vor allem mit den Namen Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos verbunden ist. Dabei geht es zum einen um den sog. Paradigmenwechsel in wissenschaftlichen Gemeinschaften, zum anderen um den Zusammenhang von Forschungsprogrammen und wissenschaftlichen Veränderungen. Lakatos war ein kritischer Rationalist, während Kuhn außerhalb dieser Grundausrichtung (und mehr auf der Seite Wittgensteins) stand. Eine erkenntnistheoretische "Entwicklung durch Anhäufung", also die Auffassung eines kumulativen Prozesses, wird seitens der wissenschaftsinternen Historiographie in Sonderheit durch Thomas S. Kuhn (1922-1996) in seiner Abhandlung zur "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" - ausschließlich belegt anhand von naturwissenschaftlichen Beispielen - in vielerlei Hinsicht angezweifelt. Für Kuhn schart sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft um ein Paradigma, jedoch wird es irgendwann immer schwieriger, Anomalien auszugleichen, bis es zum "Auftauchen" einer neuen Theorie (oder Entdeckung) kommt, die als "revolutionäres" neues Paradigma wirkt, wobei indes auch die friedliche Koexistenz zweier (mehrerer) Paradigmata möglich ist, obwohl die jeweiligen Ausrichtungen inkommensurabel sind. Der vieldeutige Paradigma-Begriff 1 kann am besten umschrieben werden als das gemeinsame Leitbild einer Forschungsgemeinschaft als Expertengruppe, bestehend aus einem Strukturkern und einer paradigmatischen Beispielsmenge. Als Gruppe oder in Gruppen sind die Vertreter der entwickelten Wissenschaften im Grunde Rätsellöser 2, denn: "Wissenschaftliche Kenntnisse sind wie die Sprache wesentlich das Gemeineigentum einer Gruppe, oder es gibt sie nicht." 3 Jedoch gibt es "keinen neutralen Algorithmus für die Theoriewahl, kein systematisches Entscheidungsverfahren, das bei richtiger Anwendung jeden einzelnen in der Gruppe zu derselben Entscheidung fuhren müßte. In diesem Sinne trifft die Gemeinschaft der Fachleute und nicht ihre einzelnen Mitglieder die eigentliche Entscheidung." 4

1 2 3 4

Vgl. Masterman 1974. Kuhn 1976, S. 216. Kuhn 1976, S. 221. Kuhn 1976, S. 211.

212

Kritischer Rationalismus

Paradigmenwechsel sind vor allem konstitutive Bedeutungsänderungen in einigen Theorieaspekten, so daß es phasenweise zu Selbstaufhebungen und Umstülpungen der bisherigen, traditionsgebundenen oder "normalen" Wissenschaft kommt, die sich indes, orientiert am neuen, sich durchsetzenden Paradigma, wieder "normalisiert", allerdings jetzt als Paradigmawahl im Rahmen der neuen theoriegeleiteten Weltsicht neu gruppiert, d.h. eine Umorganisation des alten Wissens vornimmt. Ein erneuter Paradigmawechsel kann wie zuvor durch "außerordentliche" Forschung eingeleitet werden, ist aber eher ein "irrationaler" Vorgang, der auch mit Generationskonflikten, dem Streit unterschiedlicher wissenschaftlicher Schulen oder Glaubenskämpfen zu tun hat. Nüchterner betrachtet kann festgehalten werden: "Um als Paradigma angenommen zu werden, muß eine Theorie besser erscheinen als die mit ihr im Wettstreit liegenden, sie braucht aber nicht - und tut es tatsächlich auch niemals - alle Tatsachen, mit denen sie konfrontiert wird, zu erklären." 5 Für Kuhn steht aufgrund seiner (von Paul K. Feyerabend unterstützten) Untersuchungen fest: "Kein bisher durch das historische Studium der wissenschaftlichen Entwicklung aufgedeckter Prozeß hat irgendeine Ähnlichkeit mit der methodologischen Schablone der Falsifikation durch unmittelbaren Vergleich mit der Natur", und die "Entscheidung, ein Paradigma abzulehnen, ist immer gleichzeitig auch die Entscheidung, ein anderes anzunehmen". 6 Ansonsten müßte man die Wissenschaft ablehnen oder aufgeben. Würde man, wie Popper, Theorien durch Falsifikation, also anhand einzelner Fehlschläge ablehnen, müßte man für Kuhn alle Theorien allezeit ablehnen. 7 Denn: "Alle geschichtlich bedeutsamen Theorien haben mit den Fakten übereingestimmt, aber nur bis zu einem gewissen Grade." 8 Insofern neue Paradigmata aus alten geboren werden, schließen sie vieles vom Vokabular und der Ausrüstung ein, was vom traditionellen Paradigma vorher bereits angewandt wurde. 9 Entscheidend ist eine wachsende Konversion der fachwissenschaftlichen Bindungen mit den entsprechenden Konsequenzen: "Wenn eine wissenschaftliche Gemeinschaft ein veraltetes Paradigma abstößt, so verwirft sie auch gleichzeitig, als passenden Gegenstand fachwissenschaftlicher Prüfung, die meisten Bücher und Artikel, in denen dieses Paradigma Gestalt gewonnen hatte. ... (D)araus ergibt sich eine manchmal drastische Verzerrung in der Auffassung des Wissenschaftlers von der Vergangenheit seiner Disziplin. Mehr als die Vertreter anderer kreativer Gebiete sieht er sie so, als führte sie in gerader Linie zum gegenwärtigen Stand der Disziplin. Kurz, er sieht sie als Fortschritt. Solange er diesem Fachgebiet treu bleibt, hat er gar keine andere Wahl." 10 Wir müssen daher vielleicht "die Vorstellung aufgeben, daß der Wechsel der Paradigmata

5 6 7 8 9 10

Kuhn Kuhn Kuhn Kuhn Kuhn Kuhn

1976, 1976, 1976, 1976, 1976, 1976,

S. S. S. S. S. S.

32. 90. 157. 158. 160. 178.

Differenzierte Fortfuhrung und Metakritik

213

die Wissenschaftler und die von ihnen Lernenden näher und näher an die Wahrheit heranführt." 11 Zwar bewegen wir uns von primitiven Anfangen fort, aber nicht unbedingt auf ein evolutionäres Ziel hin. 12 Kuhn hat einige seiner Thesen späterhin modifiziert und präzisiert - Kritiker sagen "verwässert" so daß wir uns hauptsächlich auf die ursprüngliche Diskussion beziehen wollen, die unter dem Titel "Kritik und Erkenntnisfortschritt" geführt wurde. 13 Kuhn erläuterte dabei näher, daß er viele echte und wesentliche Übereinstimmungen mit Popper habe 14 , jedoch könne man auch Trennungslinien erblicken ("gestalt switch"). Und: "Wie soll ich ihm zeigen, wie die Dinge durch meine Brille betrachtet aussehen würden, nachdem er doch schon daran gewöhnt ist, alles durch die eigene Brille zu sehen?" 15 Einige Ausdrücke oder Metaphern Poppers würde Kuhn jedenfalls anders wählen. Popper wolle Theorien überprüfen und ihre Grenzen ausloten, indem er sie einer maximalen Belastung aussetze, was eigentlich nur für die gelegentlichen (!) "revolutionären" Phasen passe: "Untersucht man sorgfaltig das wissenschaftliche Unternehmen, so sieht man, daß jenes Überprüfen, das Sir Karl empfiehlt, in der Normalwissenschaft gar nicht vorkommt, eher in der außergewöhnlichen Wissenschaft". 16 Darüber hinaus würden Theorien auch ersetzt, bevor man sie streng überprüft habe. Mit anderen Worten: "Manchmal sind die Überprüfungen für jene Revolutionen, durch die die Wissenschaft ihre Fortschritte erzielt, gar nicht unbedingt nötig. Doch dasselbe gilt nicht für die Rätsel. Obwohl jene Theorien, die Sir Karl zitiert, eigentlich noch nicht auf die Probe gestellt sind, hat man sie schon durch andere ersetzt; aber keine von diesen Theorien wurde verdrängt, solange man den Eindruck haben konnte, daß sie eine rätsellösende Tradition zu unterstützen vermochte." 17 Es gehe in der Forschung mehr um das erfolgreiche (oder auch nicht erfolgreiche) Lösen von Rätseln: "Einerlei, ob es zu einer Überprüfung kommt oder nicht, es kann auf diese Weise eine Tradition der Rätsellösung (auf Grund einer wissenschaftlichen Theorie) das Ersetzen der eigenen grundlegenden Theorie vorbereiten. Verläßt man sich auf das Überprüfen als auf das Kennzeichen echter Wissenschaft, so verliert man aus dem Auge, was die Wissenschaftler meistens tun, und damit verkennt man auch die bezeichnendsten Züge dieses Unternehmens." 18 Bei Popper ist die implizite Verkopplung der normalen und der außerordentlichen Wissenschaft (bzw. die Bevorzugung der letzteren) symptomatisch. Falsifikationen und Widerlegungen aber sind nicht der Normal- oder Regelfall. Vor allem 11 12 13 14 15 16 17 18

Kuhn 1976, S. 182. Kuhn 1976, S. 184. Lakatos/Musgrave 1974. Kuhn 1974a, S. 1-3. Kuhn 1974a, S. 3. Kuhn 1974a, S. 6. Kuhn 1974a, S. 10. Kuhn 1974a, S. 11.

214

Kritischer Rationalismus

dann, wenn die Argumente nicht so apodiktisch seien wie in der Logik oder in der Mathematik, und bei allen Experimente bezweifelt werden könnte, ob sie wirklich relevant, ob sie genau waren. Ebenso "lassen sich auch alle Theorien mit einer bunten Reihe von Ad-hoc-Zurechtlegungen modifizieren, ohne daß sie aufhörten was mindestens ihre wichtigsten Züge betrifft -, dieselben Theorien zu bleiben. Ferner: Es ist wichtig, daß dies auch so sein muß, weil es häufig eben den zweifelnden Beobachtungen oder Zurechtlegungstheorien zu verdanken ist, daß die wissenschaftliche Erkenntnis Fortschritte erzielt. Herausfordernder Zweifel und Zurechtlegungen sind normative Bestandteile jeder gewöhnlichen Forschung in den empirischen Wissenschaften. Und was die Zurechtlegungen betrifft, so spielen diese eine hervorragende Rolle auch in der noch nicht abgeschlossenen experimentellen (nicht-formalen) Mathematik. Die glänzende Analyse von Dr. Lakatos über die zulässigen Ausreden auf mathematische Widerlegungen liefert die besten Argumente gegen den naiven Falsifikationismus, die ich je gelesen habe." 19 Poppers Prüfprinzip der Falsifikation läuft ins Leere oder kann ihre Aufgabe gar nicht erfüllen, "wenn nicht die Theorie logisch voll artikuliert ist und wenn nicht die Termini, durch welche sie mit der Natur verbunden wird, genügend definiert sind, um ihre Anwendbarkeit in jedem möglichen Fall zu bestimmen. Doch in der Wirklichkeit erfüllt gar keine wissenschaftliche Theorie diese strengen Bedingungen, und viele haben auch betont, daß eine Theorie, die diese Bedingungen erfüllen würde, in der wissenschaftlichen Forschung gar nicht mehr brauchbar wäre. Ich selber habe übrigens den Terminus 'Paradigma' eingeführt, um die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung von jenen konkreten Beispielen hervorzuheben, die die Lücken in der Spezifizierung des Inhalts und der Anwendung der wissenschaftlichen Theorien überbrücken." 2 0 Für Kuhn besteht Wissen "sowohl aus den konkreten Beispielen wie auch aus den theoretischen Verallgemeinerungen. Es wäre darum eine Querköpfigkeit, nach einem methodologischen Kriterium zu suchen, das voraussetzt, daß ein Wissenschaftler im voraus über jedes denkbare Beispiel sagen kann, ob es in seine Theorie hineinpaßt oder ob es seine Theorie falsifiziert. Die expliziten und impliziten Kriterien, die ihm zur Verfügung stehen, beantworten eine solche Frage nur in bezug auf jene Fälle, die eindeutig in seine Theorie hineinpassen oder die ebenso eindeutig vom Gesichtspunkt seiner Theorie aus irrelevant sind. Nur solche Fälle erwartet er, und auf solche war seine Theorie von Anfang an gemünzt. Begegnet er einem unerwarteten Fall, so muß er weiterforschen, um seine Theorie auch auf einem Gebiet weiterzuentwickeln, das problematisch ist. Er mag dann die frühere Theorie einer anderen zuliebe verwerfen, und er mag dafür auch gute Gründe haben. Aber keine rein logischen Kriterien können jene Konklusion diktieren, die er ziehen muß." 2 1

19 20 21

Kuhn 1974a, S. 14. Kuhn 1974a, S. 16/17. Kuhn 1974a, S. 19/20.

Differenzierte Fortfuhrung und Metakritik

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Es war für Kuhn "ein Irrtum von Sir Karl, ausgewählte Eigentümlichkeiten der alltäglichen Forschung auf jene gelegentlichen revolutionären Episoden zu übertragen, in denen der wissenschaftliche Fortschritt am auffallendsten ist, und danach die alltägliche wissenschaftliche Arbeit völlig außer acht zu lassen." 2 2 Womöglich kommen psychologische oder soziologische Überlegungen hinzu, um den wissenschaftlichen Fortschritt und die Auswahlverfahren zu begreifen, denn: "Für einen Wissenschaftler ist die Lösung eines begrifflichen oder eines instrumentellen Rätsels das Hauptziel. Sein Erfolg bei dieser Anstrengung wird durch die Anerkennung der Mitglieder seiner professionellen Gruppe belohnt, und nur die Anerkennung dieser Gruppe kommt für ihn in Frage. Das praktische Verdienst seiner Lösung ist für ihn höchstens eine zweitrangige Frage, und die Bejahung durch Leute außerhalb der Spezialistengruppe hat für ihn nur einen negativen Wert oder überhaupt gar keinen. Diese Wertschätzungen, die die Normalwissenschaft diktieren, sind auch dann bedeutend, wenn eine Wahl zwischen den verschiedenen Theorien getroffen werden soll." 2 3 In seiner Replik auf Kuhn hebt Karl Popper hervor, daß die Unterscheidung zwischen einer "Normalwissenschaft" und einer "außerordentlichen Forschung" ihm bislang nicht vor Augen stand. Allerdings möge er die "Normalwissenschaft" nicht besonders: "Meiner Ansicht nach ist ein solcher 'normaler' Wissenschaftler, wie ihn Kuhn beschreibt, eine bemitleidenswerte Person. ... Der 'normale' Wissenschaftler wurde, meiner Ansicht nach, schlecht unterrichtet. Ich glaube ..., daß jeder Unterricht auf dem Niveau der Universität (und womöglich schon auf einem niedrigeren Niveau) Training und Ermutigung zum kritischen Denken sein müßte. Der 'Normalwissenschaftler', wie ihn Kuhn schildert, wurde schlecht unterrichtet. Man hat ihn in einem dogmatischen Geiste erzogen; er ist ein Opfer der Unterweisung, die ihm zuteil wurde. Er hat sich die Technik angeeignet, die man anwenden darf, ohne nach den Gründen zu fragen ... Infolgedessen ist er sozusagen zu einem angewandten Wissenschaftler geworden - im Unterschied zu einem solchen, den ich als reinen Wissenschaftler bezeichnen würde. Wie Kuhn sagt, begnügt er sich damit, 'Rätsel' zu lösen. Die Wahl dieser Bezeichnung scheint zu verraten, daß Kuhn betonen möchte: Es ist kein grundlegendes Problem, womit der Normalwissenschaftler fertig werden möchte; es ist eher ein Routineproblem, ein Problem der Anwendung dessen, was man gelernt hat". 2 4 Popper fühlt sich an eine Begebenheit erinnert, als ihm ein Freund in den dreißiger Jahren sagte, daß die Mehrzahl seiner Ingenieur-Studenten ohne Kritik an die Wissenschaft heranträten: "Diese Studenten wollten nur solche Dinge, solche Tatsachen kennenlernen, die sie mit gutem Gewissen, ohne Kopfzerbrechen, brauchen können. - Ich gebe zu, diese Haltung existiert; ja, sie existiert nicht bloß unter Ingenieuren, sondern auch

22 23 24

Kuhn 1974a, S. 20. Kuhn 1974a, S. 22. Kuhn 1974, S. 52/53.

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Kritischer Rationalismus

unter Leuten, die als Wissenschaftler trainiert wurden. Ich kann nur sagen, daß ich eine sehr große Gefahr darin erblicke, und besonders darin, daß diese Haltung die gewöhnliche wird (ebenso wie ich auch eine sehr große Gefahr in der zunehmenden Spezialisierung erblicke ...). Das ist eine Gefahr für die Wissenschaft, ja auch für unsere Zivilisation. Darum halte ich es für so wichtig, daß Kuhn die Existenz dieser Art von Wissenschaft hervorgehoben hat. - Aber ich glaube, Kuhn hat einen Irrtum begangen, indem er behauptet, daß seine 'NormalWissenschaft' in der Tat normal sei. - Es fallt mir natürlich nicht ein, einen Streit über eine terminologische Frage zu beginnen. Aber ich möchte doch die Ansicht vertreten, daß wenige Wissenschaftler - wenn überhaupt irgendwelche -, die man aus der Geschichte der Wissenschaftler kennt, jemals in Kuhns Sinne 'normal' waren. Mit anderen Worten: Ich bin mit Kuhn nicht einverstanden, weder hinsichtlich einiger historischer Fragen noch in bezug auf das Problem, was eigentlich für die Wissenschaft charakteristisch ist." 2 5 Popper ist, was die Wissenschaft anlangt, nur an echten, neuen und grundlegenden Problemen und an genialen Vermutungen in bezug auf mögliche Lösungen interessiert. Es müsse stets Übergänge zwischen dem "Normalwissenschaftler" und dem "außergewöhnlichen Wissenschaftler" geben. Für Popper ist ein "Paradigma" auch keine vorherrschende Theorie, sondern eher ein Forschungsprogramm. Kuhn vertrete die Logik des historischen Relativismus. 26 Kuhn behaupte nämlich, daß die Rationalität der Wissenschaft einen gemeinsamen Rahmen (framework) voraussetze und diese Rationalität "von so etwas abhängig ist wie einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Menge von Annahmen". Diese weitverbreitete These ist für Popper bekanntlich irrig, weswegen er vom Mythos des Rahmens spricht. 2 7 Popper ist explizit kein Relativist, weil er an die "absolute" oder "objektive" Wahrheit im Sinne Tarskis glaubt, denn eine kritische Auseinandersetzung und der Vergleich verschiedener Rahmen ist immer möglich. Es sei ein gefahrliches Dogma zu behaupten, daß "die verschiedenen Rahmen sich zueinander wie ineinander unübersetzbare Sprachen verhalten". Der Mythos des Rahmens sei heutzutage das zentrale Bollwerk des Irrationalismus, demgegenüber habe das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen die größten intellektuellen Revolutionen hervorgerufen. 2 8 Poppers Gegenthesen zu Kuhn lauten in diesem Zusammenhang: "In der Wissenschaft ist also - im Gegensatz zur Theologie - der Vergleich der Theorien und der Rahmenwerke, die sich im Wettstreit miteinander befinden, immer möglich. Das Bezweifeln dieser Möglichkeit ist ein Irrtum. In der Wissenschaft (und nur in der Wissenschaft) können wir behaupten, daß wir einen echten Fortschritt erzielt 25 26 27 28

Popper Popper Popper Popper

1974, S. 53. 1974, S. 54/55. 1974, S. 55. Siehe auch Popper 1994c. 1974, S. 56.

Differenzierte Fortführung und Metakritik

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haben: Wir wissen mehr, als wir früher gewußt haben." 2 9 Die Kuhnschen Argumente gingen auf die Annahme zurück, daß die Wissenschaftler logisch gezwungen seien, einen Rahmen zu akzeptieren. Hingegen kann die "wissenschaftliche Erkenntnis", wie wir gesehen haben, für Popper als "subjektlos" gelten. Psychologie und Soziologie spielten hier keine Rolle. 3 0 Kuhn fühlte sich in der Kontroverse völlig mißverstanden. Die Kritiker (insbesondere Popper, Feyerabend, Lakatos, Toulmin und Watkins) 3 1 hätten sich auf einen ihm völlig unbekannten Kuhn 2 bezogen, der mit Kuhn¡ nichts zu tun habe. Wahrscheinlich habe der Namensvetter ein anderes Buch geschrieben, das ebenfalls The Structure of Scientific Revolution hieße. 3 2 Die partielle oder unvollständige Kommunikation in der Diskussion erstaune ihn jedoch nicht, da er genau solches hervorzuheben versucht habe: "es ist ein Aneinander-vorbei-Reden, das die Auseinandersetzung solcher Partner charakterisiert, deren Gesichtspunkte inkommensurabel sind." 3 3 Gleichwohl glaubt Kuhn (im Unterschied zu Feyerabend) nicht, daß das Versagen der Kommunikation jemals vollständig oder unausweichlich wäre. Vor allem seine Ausführungen (Kuhn]) zur "NormalWissenschaft" seien völlig mißverstanden worden. 3 4 Diese Verwirrungskonstellation gelte es aufzulösen. Jedoch müsse er auf die Wurzel seines einzigen grundlegenden Unterschiedes zu Poppers Ansichten hinweisen: Popper und seine Anhänger nämlich gingen davon aus, daß das Problem der Theoriewahl mit Techniken gelöst werden könne, die semantisch neutral seien. Er sei hingegen (ebenso wie Feyerabend, der allerdings hieraus die innere Irrationalität der Theoriewahl ableitete) der Auffassung, daß es keine Beobachtungssprache gäbe, die für zwei Theorien in allem gemeinsam sein könnte, dennoch könne man hoffen (anders als Feyerabend), daß es gleichwohl gute Gründe der Wahl zwischen ihnen gäbe. Sie gründeten indes in einer wissenschaftlichen Sprachgemeinschaft und ihre Sprachmuster würden dort sozialisiert, d.h. erworben und weitergegeben. 3 5 Rahmenwerke müssen erst einmal ausgelebt und ergründet werden, bevor sie zerbrochen oder transzendiert werden können, und für Kuhn sind alternierende Strategien nur für spezielle Gelegenheiten - nicht in Permanenz - erwünscht. 3 6 Die Gründe für eine Theoriewahl verdanken sich eher Werten (oder Forschungsideologien) als Regeln für die Wahl. 3 7 Die Verantwortlichkeit für die Anwendung der gemeinsamen wissenschaftlichen Werte will Kuhn den Spezialisten-Gruppen

29 30 31 32 33 34 35 36 37

Popper 1974, S. 56. Popper 1974, S. 57. Alle in Lakatos/Musgrave 1974. Kuhn 1974b, S. 223. Kuhn 1974b, S. 224. Kuhn 1974b, S. 225/226. Kuhn 1974b., S. 226/227. Kuhn 1974b, S. 235. Kuhn 1974b, S. 253.

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Kritischer Rationalismus

überlassen. 3 8 Damit ist gerade keine Beliebigkeit verbunden, und auch der Vorwurf der "Irrationalität" und des "Relativismus" gingen fehl. Er wolle nicht (wie Feyerabend) "Tür und Tor zum Wolkenkuckucksheim" öffnen 3 9 , und sein "Relativismus" sei immerhin eingebettet in einen evolutionistischen Zusammenhang. 4 0 Jedoch seien das Problem der Adäquatheit von theoriespezifischen Beobachtungssprachen und das ihrer Transkription noch nicht gelöst: "Der genaue Vergleich zweier aufeinanderfolgender Theorien verlangt eine Sprache, in die mindestens die empirischen Konsequenzen beider Theorien ohne Verlust und Veränderung übersetzt werden können." 4 1 Ein solcher Wortschatz ist für Kuhn (und Feyerabend) nicht erreichbar. Ferner schlägt Kuhn vor, den facettenreichen Paradigma-Begriff bzw. eine Reihe von Paradigmen als disciplinary matrix zu begreifen. 4 2 Kuhn konzediert aber selbst, daß er - obschon sein eigentlicher Urheber einer effektiven Kontrolle über die Verwendung des Paradigma-Begriffs bereits verlustig gegangen sei; der Begriff habe sich verselbständigt und ein Eigenleben gewonnen. Mit der sog. Popper-Kuhn-Kontroverse ging eine insgesamt nicht ganz so ausführliche Diskussion des Ansatzes von Lakatos einher, der als überzeugter kritischer Rationalist den Popperschen Falsifikationismus durch Modifikation gegen die wissenschaftshistorische Herausforderung besser wappnen wollte, wobei er Gedanken Kuhns (und Feyerabends) teilweise integrierte, im Unterschied zu ihnen (und mit Popper) aber an der Idee des objektiven wissenschaftlichen Fortschritts festhielt. In diesem erkenntnistheoretischen Kontext hat Imre Lakatos (1922-1974) - insbesondere auch aufgrund von Analysen mathematischer Beweisverfahren 4 3 - vor allem eine "raffinierte" (= "sophisticated") Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme entworfen. 4 4 Dabei weist das "For-

38 39 40 41 42 43 44

Kuhn 1974b, S. 254. Kuhn 1974b, S. 255. Kuhn 1974b, S. 256. Kuhn 1974b, S. 258. Kuhn 1974b, S. 263. Vgl. Lakatos 1963/64. Siehe insbesondere Lakatos 1974a, 1974b. Dieser Ansatz wurde von seinen Schülern (Worrall, Zahar und Urbach) an der London School of Economics weiterentwickelt. Vgl. Radnitzky/Andersson 1980, S. 51-125, 373-391. - Siehe ferner den Nachruf Feyerabends: "Imre Lakatos ... war ein faszinierender Mensch, ein hervorragender Philosoph und der beste Wissenschaftstheoretiker der letzten 50 Jahre. Er war ein Rationalist, denn er hielt es für die Pflicht des Menschen, sich bei der Einrichtung seines Lebens und beim Aufbau seiner Beziehungen zu Natur und Mitmensch der Vernunft zu bedienen. Er war ein Optimist, denn er glaubte, daß die Vernunft die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötigen Fähigkeiten besitzt. Er hatte eine realistische Vorstellung von diesen Fähigkeiten, denn er sah ein, daß sie sich nicht in niedergeschriebenen Regeln erschöpfen und daß es nicht möglich ist, sie allein durch einen abstrakten Vergleich solcher Regeln (unter der Leitung von mehr allgemeinen Forderungen des Verstandes) zu verbessern: Soll die Vernunft in dieser realen Welt mit ihren komplizierten Episoden und ihren haarsträubenden Ideen und Institutionen einen Angriffspunkt haben, dann muß sie raffiniert sein. ... Imre Lakatos war aber nicht nur Theoretiker. Er war auch Aufklärer, Publizist, Politiker. Er stärkte die Kraft seiner Argumente mit blendender Darstellungskraft bei Vorträgen, beißendem Humor bei Diskussionen, charmanter Überredung in privatem Gespräch." (Feyerabend 1974a, S. VIWIII).

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schungsprogramm" im Verständnis von Lakatos zahlreiche Parallelen zum "Paradigma" bei Kuhn auf. Lakatos legt dar, daß für die Rekonstruktion eines angemessenen Begriffs von wissenschaftlichem Fortschritt und wissenschaftlicher Rationalität nicht die einzelne Theorie, sondern eine Theorienfolge in Betracht komme. Das Gemeinsame der Theorienfolge bestimmt Lakatos als ein Forschungsprogramm, das am Anfang konzipiert wird und durch eine gewisse Kontinuität charakterisiert ist. "Das Programm besteht aus methodologischen Regeln: Einige dieser Regeln beschreiben Forschungswege (negative Heuristik), andere geben Wege an, denen man folgen soll {positive Heuristik)." 4 5 Die negative Heuristik ist der "harte Kern" der Programme; die positive Heuristik konstruiert einen "Schutzgürtel" aus "Hilfshypothesen" um diesen Kern und sichert die relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft. Ein Forschungsprogramm ist erfolgreich, wenn jeder Schritt konsequent gehaltvermehrend ist, dem Stoß der Überprüfungen standhält und zu einer progressiven theoretischen Problemverschiebung führt; es ist hingegen ohne Erfolg, wenn es zu einer degenerativen Problemverschiebung fuhrt. In einem Forschungsprogramm "können wir durch eine lange Reihe von 'Widerlegungen' enttäuscht werden, bis dann geniale und gelungene gehaltvermehrende Hilfshypothesen eine Kette von Niederlagen - im nachhinein - in eine ruhmreiche Erfolgsgeschichte verwandeln, und zwar entweder durch die Revision falscher 'Tatsachen' oder die Hinzufügung neuer Hilfshypothesen." 4 6 Der Gedanke einer negativen Heuristik eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms rationalisiert den klassischen Konventionalismus, jedoch kann der harte Kern auch zerbröckeln. Selbst die schnellsten und progressivsten Forschungsprogramme können ihre "Gegenevidenz" nur stückweise verdauen, d.h. die Anomalien oder Kuhns "Rätsel" werden nie ganz erschöpft. Die positive Heuristik besteht insofern "aus einer partiell artikulierten Reihe von Vorschlägen oder Hinweisen, wie man die 'widerlegbaren Fassungen' des Forschungsprogramms verändern und entwickeln soll und wie der 'widerlegbare' Schutzgürtel modifiziert und raffinierter gestaltet werden kann." 4 7 Lakatos verwendet also zwei grundlegende Poppersche Kategorien: Gehaltvermehrung und empirische Bewährung. 4 8 "Aber er baut die in der Gehaltvermehrung implizierte Idee des Vergleichs zwischen Theorien in einer bestimmten Richtung systematisch aus: Er betrachtet die Theorien hinsichtlich ihrer Entwicklung im Zeitverlauf. Die wissenschaftliche Qualität eines Forschungsprogramms kann man 45 46 47 48

Lakatos 1974a, S. 129. Lakatos 1974a, S. 130/131. Lakatos 1974a, S. 131. Hinzu kommt: "Kühnheit im Vermuten auf der einen Seite und Strenge im Widerlegen auf der anderen Seite: das ist Poppers Rezept." - Die "raffinierte" Form neuer Vernunftgründe für die Falsifikation, die die Methodologie und die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts rettet, wird von Lakatos ebenfalls als der "Weg Poppers" bezeichnet. Siehe Lakatos 1974a, S. 90 u. 113. - Jeremy Shearmur, Assistent Poppers von 1971 bis 1979, verweist darauf, daß Popper sein Verhältnis zu Lakatos in Analogie sah zu dem von Kant [Popper] und Fichte [Lakatos], Shearmur 1996b, S. 179, Anm. 1.

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nach Lakatos nur daran beurteilen, zu welcher Entwicklung es über eine längere Zeit gekommen ist. Er will also in das Urteil über ein Forschungsprogramm nicht nur zwei Theorien und auch nicht nur die Folge von zwei Theorien, sondern die Folge von mehreren Theorien desselben Programms einbezogen wissen." 4 9 Für Lakatos bewahrt die positive Heuristik "den Wissenschaftler davor, daß er durch den Ozean der Anomalien verwirrt wird. Die positive Heuristik skizziert ein Programm, das eine Kette immer komplizierter werdender Modelle zur Simulierung der Wirklichkeit darstellt: die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers konzentriert sich auf den Bau seiner Modelle nach Instruktionen, die im positiven Teil eines Programms niedergelegt sind. Er ignoriert die aktuellen Gegenbeispiele, die vorhandenen 'Daten'." 5 0 Er hofft auf ein Comeback nach einer Schwächeperiode. Offenbar sind nur wenige Experimente wirklich wichtig, und die Realisierung eines Patterns hängt vom historischen Zufall ab. 5 1 Es geht um entscheidende Experimente und um einen Wettstreit der Programme (theoretischer Pluralismus), allerdings ist nicht mit einer "Sofortrationalität" zu rechnen. Viele unserer Bewertungen können erst im nachhinein gegeben werden, so daß eine Liberalisierung unserer Maßstäbe geboten ist. 5 2 Trotz methodologischer Toleranz aber kommt es immer wieder zur Eliminierung von Programmen, des öfteren erst nach Jahrzehnten oder mehr, wenn die entscheidenden Experimente als solche erkannt werden. Jedoch ist eine Rehabilitation eines Teils des "degenerierenden" alten Programms rational nicht auszuschließen. Es gilt daher stets zu bedenken: "Nur ein äußerst schwerer und (unbestimmt) langer Prozeß kann entscheiden, daß ein Forschungsprogramm seinen Rivalen überholt hat; und es ist unklug, den Ausdruck 'entscheidendes Experiment' (experimentum crucis) allzu voreilig zu verwenden." 5 3 Anders ausgedrückt: "Es gibt keine entscheidenden Experimente, zumindest nicht, wenn man darunter Experimente versteht, die ein Forschungsprogramm mit sofortiger Wirkung stürzen können. Wenn ein Forschungsprogramm eine Niederlage erleidet und von einem anderen überholt wird, dann kann man ein Experiment im nachhinein entscheidend nennen, wenn es sich herausstellt, daß es dem siegreichen Programm eine auffallende bewährte Instanz und dem geschlagenen Programm eine Niederlage geliefert hat ... Aber natürlich beurteilen Wissenschaftler heuristische Situationen nicht immer richtig. Ein voreiliger Wissenschaftler kann behaupten, daß sein Experiment ein Programm geschlagen hat, und ein Teil der Gemeinschaft der Wissenschaftler kann dieser Behauptung vorschnell beipflichten. Aber wenn ein Wissenschaftler im Lager der 'Unterlegenen' einige Jahre später eine wissenschaftliche Erklärung für das angeblich 'entscheidende Experiment' vorschlägt, die 49 50 51 52

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Homann 1988, S. 83. Lakatos 1974a, S. 132. Lakatos 1974a, S. 147. Lakatos 1974a, S. 150-152. Siehe auch Lakatos 1974b, S. 282: "Weder der Nachweis eines Widerspruchs von Seiten des Logikers noch die Feststellung einer Anomalie durch den Experimentalwissenschaftler kann ein Forschungsprogramm mit einem Streich schlagen. 'Klugheit' gibt es nur im nachhinein." Lakatos 1974a, S. 157.

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im angeblich geschlagenen Programm entwickelt wurde oder die ihm doch nicht widerspricht, dann kann es geschehen, daß der Ehrentitel zurückgenommen wird, und das 'entscheidende Experiment' verwandelt sich aus einer Niederlage in einen neuen Sieg für das Programm." 54 Die reife Wissenschaft besteht demnach "aus Forschungsprogrammen, in denen nicht nur neue Tatsachen, sondern auch neue Hilfstheorien antizipiert werden; im Gegensatz zum prosaischen Wechselspiel von Versuch und Irrtum hat die reife Wissenschaft 'heuristisches Potential'. Man vergesse nicht, daß die positive Heuristik eines mächtigen Programms von allem Anfang an eine allgemeine Skizze für den Bau der Schutzgürtel enthält: dieses heuristische Potential erzeugt die Autonomie der theoretischen Wissenschaft. - Diese Bedingung ständigen Wachstums ist meine rationale Rekonstruktion der allgemein anerkannten Forderung der 'Einheit' oder 'Schönheit' der Wissenschaft. Sie beleuchtet die Schwächen von zwei - scheinbar sehr verschiedenen - Typen des Theoretisierens. Erstens demonstriert sie die Schwäche von Programmen, die - wie z.B. der Marxismus oder die Lehre Freuds - zweifellos 'einheitlich' sind, die eine größere Skizze der Art von Hilfstheorien geben, wie sie zur Absorption von Anomalien benützt werden, die aber die wirklich verwendeten Hilfstheorien ohne Fehl im Kielwasser von Tatsachen erfinden, ohne zur gleichen Zeit andere Tatsachen zu antizipieren. (Welche neue Tatsache hat der Marxismus, sagen wir, seit 1917 vorausgesagt?) Zweitens trifft sie zusammengeflickte, phantasielose Serien von prosaischen, 'empirischen' Adjustierungen, wie sie z.B. in der modernen Sozialpsychologie so häufig sind. Solche Adjustierungen können mit Hilfe von sogenannten 'statistischen Techniken' manche 'neuen' Voraussetzungen erzielen, ja sie vermögen hie und da sogar auch ein irrelevantes Körnchen von Wahrheit hervorzaubern. Aber es ist in diesem Theoretisieren keine vereinheitlichende Idee, kein heuristisches Potential und keine Kontinuität. Sie fugen sich zu keinem echten Forschungsprogramm zusammen, sie sind im großen und ganzen wertlos." 5 5 Lakatos folgt zwar weithin Popper, rückt aber auch von einigen seiner allgemeinen Ideen ab. So stellt Lakatos einerseits fest: "Im Gegensatz zu Poppers falsifikatorischer Moral behaupten Wissenschaftler oft und in völlig rationaler Weise, daß die experimentellen Ergebnisse nicht zuverlässig sind oder daß der Widerspruch zwischen diesen und dem System nur ein scheinbarer ist und sich mit Hilfe neuer Einsichten wird beheben lassen." 5 6 Andererseits pflichtet Lakatos Popper bei, wenn dieser betont, daß "die dogmatische Einstellung, die an einer Theorie so lange wie möglich festhält, von großer Bedeutung" ist, denn wie Popper ausführt: "Ohne diese Einstellung könnten wir niemals herausfinden, was in einer Theoprie enthalten ist - wir würden sie aufgeben, bevor wir Gelegenheit zur Feststellung ih54 55 56

Lakatos 1974a, S. 167. Lakatos 1974a, S. 169/170. Lakatos 1974a, S. 170.

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rer Stärke gehabt hätten; und folglich könnte keine Theorie jemals ihre Rolle spielen beim Ordnen der Welt, bei unserer Vorbereitung auf zukünftige Ereignisse, die wir ohne Theorie niemals beachten würden." 5 7 Der "Dogmatismus" der "normalen Wissenschaft" verhindert, so Lakatos, also das Wachstum nicht, "solange wir ihn mit der Popperschen Erkenntnis kombinieren, daß es eine gute, progressive Normalwissenschaft und auch eine schlechte, degenerative Normalwissenschaft gibt, und solange wir entschlossen sind, Forschungsprogramme unter gewissen, objektiv definierten Bedingungen zu eliminieren." 58 Kuhn habe recht, wenn er sich gegen den naiven Falsifikationismus wendet, er irre sich aber, "wenn er glaubt, daß die Elimination des naiven Falsifikationismus die Elimination aller Arten von Falsifikationismus bedeutet." 5 9 Kuhn habe ferner gezeigt, "daß die Wissenspsychologie wichtige und in der Tat traurige Wahrheiten enthüllen kann. Aber die Psychologie der Wissenschaft ist nicht autonom; denn das - rational rekonstruierte - Wachstum der Wissenschaft findet wesentlich in der Welt der Ideen, in Piatos und Poppers 'dritter Welt' statt, in der Welt artikulierten Wissens, die unabhängig ist von den wissenden Subjekten." 6 0 Lakatos' Ausfuhrungen werden von Kuhn im großen und ganzen als kongenial aufgefaßt, allerdings ist die Übereinstimmung selbstredend nicht vollständig. Beide seien an metahistorischen Fragen interessiert und an einer Ausdehnung der Meta-Methodologie zu einer substantiellen Methodologie. 6 1 Die Stufen der Degenerierung, von denen Lakatos spricht, entsprächen seiner Auffassung von einer wissenschaftlichen Krisensituation. Leider könne Lakatos die Parallelen nicht so sehen. Auch seien seine, Kuhns Ansichten nicht als Verteidigung der Irrationalität in der Wissenschaft zu verstehen: "Wenn ich mir ansehe, bis zu welchem Grade unsere Ansichten parallel gehen, dann kann ich Lakatos' Gebrauch von Begriffen wie 'irrational' in der Tat nur als Nachplappern eines Schiboleths ansehen. Entweder sind wir beide Verteidiger der Irrationalität - was ich mit ihm bezweifle -, oder aber - was ich eher vermute - wird sind beide dabei, die gegenwärtige Auffassung darüber zu ändern, was Rationalität sei." 6 2 Kuhn hält die Wissenschaft nicht für ein irrationales Unternehmen, dies sei jedoch keine Tatsachenfrage, sondern eher eine nach den Prinzipien: "Wissenschaftliches Verhalten, als Ganzes genommen, ist das beste Beispiel für Rationalität, das wir haben. ... Das heißt nicht, daß jeder Wissenschaftler sich zu allen Zeiten rational verhält, noch, daß viele sich sehr rational über lange Zeit verhalten. Wohl ist aber damit festgestellt, daß, wenn Geschichtswissenschaft oder irgendeine andere empirische Disziplin uns zu der Überzeugung führt, daß die Entwicklung der Wissenschaft wesentlich von dem 57 58 59 60 61 62

Hier zitiert nach Popper 1997a, S. 452 (Anm. 1). Lakatos 1974a, S. 171. Lakatos 1974a, S. 171. Lakatos 1974a, S. 173. Kuhn 1974c, S. 314. Kuhn 1974c, S. 315.

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Verhalten abhängt, das wir früher für irrational gehalten haben, wir dann nicht daraus schließen sollten, daß Wissenschaft irrational ist, sondern daß unser Begriff von Rationalität hier und dort korrigiert werden muß." 6 3 Kuhn insistiert aber darauf, daß die Wahl zwischen Paradigmen letztlich eine Gemeinschaftsentscheidung ist. Diese Auffassung sei aber auch bei Lakatos gegeben, wenn er fordert, daß "die Liste der Erfolge und der Mißerfolge der konkurrierenden Programme aufgezeichnet und zu allen Zeiten öffentlich vorgelegt werden" müsse. 64 Lakatos denke insofern auch an die Theoriewahl qua Gemeinschaftsaktivität, denn: "Wenn das Individuum alleine entscheiden kann, ist nichts dieser Art notwendig." Das gelte auch für Lakatos' Betonung eines Ehrenkodexes der Wissenschaftler, "denn ein Kodex besteht aus Werten und nicht aus Regeln, und Werte sind in sich ein öffentlicher Besitz." 6 5 Jedoch führten die Werte keine ausreichende Kriterienmenge mit sich, um ihre Anwendung in konkreten Fällen zu bestimmen. 6 6 In die wissenschaftstheoretischen Diskussionen zwischen Popper, Lakatos und Kuhn hat auch immer wieder Paul K. Feyerabend eingegriffen, dessen Ziel und späte Leidenschaft es war, den kritischen Rationalismus zu destruieren. Hierauf gehen wir weiter unten noch ausführlich ein. Feyerabend hat sich mehrfach von Popper losgesagt, während er mit Kuhn und Lakatos befreundet war. Feyerabends Streitschrift "Against Method" war lange Zeit als kontroverser Band geplant, an dem sich auch Lakatos beteiligen sollte. Der frühe Tod von Lakatos machte diese Pläne zunichte. Feyerabend hat die Studien von Lakatos für vom Ansatz her anregend, insgesamt aber für defizient gehalten. Kuhn hat er mal verteidigt und mal kritisiert, eine "mittlere Position" in seiner Kuhn-Einschätzung nimmt ein Beitrag ein, in dem er Kuhns Ausführungen als ein "Trostbüchlein für Spezialisten" charakterisiert. 6 7 Feyerabend hebt in diesem Diskussionszusammenhang hervor, daß er die Kuhnsche Wissenschaftstheorie nicht akzeptieren könne, die bewußt zweideutig sei und in einem gelegentlich sehr moralisierenden Stil geschrieben sei. Das "Rätsellösen" sei kein Kriterium der Wissenschaft, es werde genausogut vom organisierten Verbrechertum betrieben, und es gäbe keinen Grund, warum Verbrecher hinter Wissenschaftlern in der Meisterung von Schwierigkeiten zurückbleiben sollten. 6 8 Dieses Ergebnis sei nicht überraschend, denn Kuhn habe etwas Wichtiges

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Kuhn 1974c, S. 319. Lakatos 1974b, S. 283. Kuhn 1974c, S. 320 u. 321. Kuhn 1974c, S. 321. Zur weiteren Diskussion siehe Andersson 1988. Wir ziehen die revidierte Fassung in Feyerabend 1978a, S. 153-204, heran. Feyerabend 1978a, S. 156/157. - Ebd., S. 156: "Das organisierte Verbrechertum ist ja zweifellos Rätsellösen par excellence. Jede Behauptung, die Kuhn über die Normalwissenschaft aufstellt, bleibt wahr, wenn wir das Wort 'Normalwissenschaft' durch die Worte 'organisiertes Verbrechertum' ersetzen; und jede Behauptung, die er über den 'individuellen Wissenschaftler' niedergeschrieben hat, paßt auch z.B. auf den individuellen Einbrecher und Tresorknacker."

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versäumt: "Er hat versäumt, das Ziel der Wissenschaft zu diskutieren." 6 9 Es ist ihm daher auch nicht möglich zu sagen, ob ein Paradigma-Wechsel die Lage verbessert habe. Selbst dem langweiligsten und stumpfsinnigsten Teil der Wissenschaft, der Normalwissenschaft, die Feyerabend für humorlos und verkrampft hält, schreibe Kuhn noch eine gewisse Würde zu. Er versäume es, die allerwichtigste Frage zu stellen, "nämlich die Frage, ob Glückseligkeit und Freiheit seit dem Aufstieg der modernen Wissenschaften zugenommen haben?" 7 0 Die Beharrlichkeit und das Proliferieren von Theorien erfolge nicht aufeinander, sondern sei stets zugleich vorhanden, wie Lakatos herausgearbeitet habe. Revolutionen, so Feyerabend, würden kreiert, und nicht das "Rätsellösen" scheine für das Wachstum unserer Erkenntnis verantwortlich zu sein, "sondern das aktive Wechselspiel verschiedener, hartnäckig verteidigter Ansichten. Es ist das Erfinden von neuen Ideen oder die Wiederbelebung von alten Ideen und der Versuch, ihnen einen würdigen Platz im Wettstreit zu sichern, das zum Sturz alter und vertrauter Paradigmen führt. Neue Ideen treten ständig auf. " 7 1 Es geht - gleichzeitig und ständig - um eine aktive Wechselwirkung. Fernerhin sind Revolutionen Manifestationen einer Veränderung der normalen Komponenten, die nicht aufgrund von Ideen allein erklärt werden kann. Man könne aber Kuhn auch gegen Lakatos verteidigen. Die Prozeßrationalität von Lakatos impliziere nämlich einen sozialen Druck. Und: "Über diesem soziologisch-psychologisch-historischen Gedränge erhebt sich das Luftgebäude der neuen methodologischen Vorschriften in unberührter Klarheit. Rationalen Einfluß auf den Prozeß der Wissenschaft hat dieses Luftgebäude nicht. Es ist ein reines Ornament. Wir schließen, daß Lakatos den Rationalismus im Sinne von Regeln, die das Verhalten auf dem Wege von Argumenten direkt beeinflussen, aufgegeben hat und daß er praktisch (wenn auch nicht in Worten) zum Irrationalismus übergegangen ist." 7 2 Analoges könne für Popper gelten: "Auch hier treten Worte wie 'Vernunft1, 'Rationalität' mit ermüdender Regelmäßigkeit auf - aber sie bleiben Worte, denn der historische Prozeß ist einer Regelung durch sie nicht mehr zugänglich." 7 3 Wissenschaftliche Revolutionen schränkten die Wirksamkeit von Argumenten ein. Das Auftreten solcher Veränderungen zeige, daß die Wissenschaft nicht ganz rational ist oder sein kann. Neue Maßstäbe könnten in der Tat auf sehr irrationale Weise erfunden, akzeptiert und an andere weitergegeben werden. 7 4 Regeln hingegen, die "das Umherschweben in der reibungslosen 'dritten Welt' ermöglichen, sind sicher ganz unbrauchbar zur Beherrschung der experimentellen, theoreti-

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Feyerabend Feyerabend Feyerabend Feyerabend Feyerabend Feyerabend

1978a, 1978a, 1978a, 1978a, 1978a, 1978a,

S. S. S. S. S. S.

157. 166/167. 166. 174. 174. 175/176.

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sehen, sozialen und psychologischen Probleme, die in der ersten und zweiten Welt auftreten". 7 5 Von Kuhn sei die Allgegenwart von Anomalien zu lernen, die Idee einer Normalwissenschaft aber sei immer zu bekämpfen (hier geht Feyerabend mit Popper einig). Die Wissenschaftstheorie, der Feyerabend späterhin bestenfalls eine "Inkompetenzkompensationskompetenz" zuerkennt, um einen Begriff von Odo Marquard zu gebrauchen 7 6 , habe viele Kindereien produziert, so den "Kuhn-Popperschen Froschmäusekrieg". 7 7 Auch der "Doktor Lakatos" könne die Krankheit nicht heilen. 7 8 Er habe zwar eine meisterhafte Abhandlung vorgelegt 79 , doch sei es ihm nicht gelungen, "vernünftigen Wandel" aufzuzeigen. 8 0 Einige Forschungsprogramme würden als "progressiv", andere als "degenerierend" apostrophiert: "Das erweckt den Eindruck, erstere hätten irgendeinen Vorzug, letztere irgendeinen Mangel. Eine solche Redeweise wäre angebracht, wenn bereits gezeigt wäre, daß es objektive Gründe für die Weise gibt, in der Lakatos Lob und Tadel verteilt. Doch gibt es keine solchen objektiven Gründe." 8 1 Ebenso wie das Gerede von "Rationalität" handelte es sich um nichts anderes als einen faulen Zauber, was auch für die Weiterführung durch seine Schüler gelten könne. 8 2 Zwar sei die Methodologie von Lakatos wirklichkeitsnäher, was seine Darstellung anlangt, bei genauerem Hinsehen aber könne dieser Anspruch nicht eingelöst werden. 8 3 Das Problem der Inkommensurabilität bliebe bestehen, das ein Problem für alle Theorien der Rationalität sei. Die Gehalte inkommensurabler Theorien nämlich ließen sich nicht vergleichen: "Auch die Wahrheitsähnlichkeit läßt sich nur innerhalb der Grenzen einer bestimmten Theorie beurteilen ... Keine der Methoden, die Carnap, Hempel, Nagel, Popper oder selbst Lakatos heranziehen möchten, um die wissenschaftliche Veränderung rational zu machen, läßt sich anwenden, und die einzige, die sich anwenden läßt, wird stark geschwächt. Es bleiben ästhetische Urteile, Geschmacksurteile, metaphysische Vorurteile, religiöse Bedürfnisse, kurz: es bleiben unsere subjektiven Wünsche: die fortgeschrittensten und allgemeinsten Bereiche der Wissenschaft geben dem einzelnen eine Freiheit zurück, die er zu ver-

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Feyerabend 1978a, S. 177, Marquard 1981, S. 23ff. Feyerabend 1976, S. 25. Vgl. Feyerabend 1978a, S. 311-328. Feyerabends "Against Method" war (in der englischen Ausgabe) Lakatos gewidmet. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe hält Feyerabend zu Lakatos fest: "Er ist der einzige moderne Wissenschaflstheoretiker, den ich ernst nehmen kann. Seine Bemühungen haben mir die Ärmlichkeit des Unternehmens so recht deutlich demonstriert. Das war nicht seine Absicht, denn er hoffte, die Philosophie, und vor allem die kritische Philosophie, zu neuem Glanz zu führen. Ich glaube nicht, daß ihm das gelungen ist." (Feyerabend 1976, S. 27). Feyerabend 1976, S. 275. Feyerabend 1976, S. 293. Feyerabend 1976, S. 293-298. Feyerabend 1976, S. 299-301.

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lieren schien, als er sich mit ihren simpleren Teilen einließ, und selbst ihr Abbild in der 'dritten Welt', die Entwicklung ihrer Begriffe, ist nicht mehr 'rational'." 84 Es gibt also in der Wissenschaftstheorie "merkwürdige Probleme", denn: "Es gibt keine Regeln, die mit der Praxis der Wissenschaften nicht früher oder später auf unvorteilhafte Weise in Konflikt geraten würden. ... Methodologische Regeln sind wie Instrumente, die wir beim Bau und bei der Reparatur komplizierter Maschinen verwenden. Kein Instrument ist gut genug, um die Aufgaben zu erfüllen, jedes Instrument hilft in manchen Fällen, schadet in anderen, und es gibt Situationen, in denen wir ganz neue Instrumente erfinden müssen ... Und da wir in dieser Welt fortwährend auf unvorhergesehene Situationen stoßen, so gibt es auch keine 'Überregel', die uns lehren könnte, wann nun bestimmte Regeln anzuwenden sind und wann nicht. Unser Weg zur Erkenntnis ist zusammengesetzt aus 'rationalen' und 'irrationalen' Elementen, aus der automatischen Anwendung gewisser Regeln und der Durchbrechung anderer, aus kritischen Episoden und aus langen Strecken ungezügelter Erfindung, dogmatischen Verharrens, absurden Vermutens, und es bedarf dieser Vielfalt an Verhaltensweisen, um die Ideen zu erlangen, zu bewahren und zu verbessern, auf die wir heute so großen Wert legen." 8 5 Eine Kritik des kritischen Rationalismus der Popperschen Prägung (aber auch darüber hinaus) hat ferner Helmut F. Spinner 8 6 , ehedem Assistent von Hans Albert, vorgenommen, und zwar besonders ausführlich in seiner Arbeit "Popper und die Politik". 8 7 Seine Ausführungen sind für uns deswegen von Interesse, weil sie in Sonderheit auch die "Sozial-, Polit- und Geschichtsphilosophie" Karl Poppers betreffen, während wir auf Spinners Kritik der parteipolitischen Stilisierung eines "Jedermannpoppers" bereits eingegangen sind. 8 8 Das Offenheit/Geschlossenheit-Schema (O/G) werde von Popper zu undifferenziert gebraucht; die Interpretation des O/G-Schemas bei ihm sei "mehrschichtig, vieldeutig, widersprüchlich, in der konkreten Anwendung auf die 'Weltgeschichte' vielfach willkürlich, durchweg von undifferenzierter Vagheit und Grobheit, insgesamt verwirrtverwirrend." 8 9 Wir wollen hier jedoch die voluminösen Darlegungen Spinners nicht en detail verfolgen oder rekonstruieren, sondern greifen lediglich die in unseren Augen wichtigsten Sentenzen heraus. Spinner differenziert analytisch zwischen einem kultur-, zeit- und zukunftsgeschichtlichen O/G-Schema. Seine Interpretation fuhrt ihn zu der zeitgeschichtlichen O/G-Gleichung: "geschlossen" = kollektivistisch, totalitär; "offen" = demokratisch, 84 85 86 87 88 89

Feyerabend 1976, S. 385. Feyerabend 1978a, S. 294. Feyerabend hat Spinners analytische Fähigkeiten nicht sonderlich geschätzt - vor allem, wenn es um die Kritik seiner eigenen Positionen ging. Vgl. u.a. Feyerabend 1980, S. 107 (weitere Äußerungen zum "armen Helmut" spare ich aus, A.W.). Spinner 1978. Siehe Kap. 10. Spinner 1978, S. 158.

Differenzierte Fortfuhrung und Metakritik

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frei. Demokratie werde als eine Regierungsform aufgefaßt, Offenheit als eine gesellschaftliche Lebensform begriffen. 9 0 Das Gegenbild sei die "zwangsgeschlossene Gesellschaft" als "typisch soziopolitische Ordnungsform der Diktaturen des Zivilisationszeitalters", vor allem des "modernen, kollektivistischen Totalitarismus". 9 1 Die westlich-liberalen Demokratien, die tendenziell offene Gesellschaften seien, könnten in zukunftsgeschichtlicher Perspektive einen "wirklich offenen" Zustand erreichen, wofür der Aspekt der zunehmenden Entfaltung der kritischen Fähigkeit des Menschen entscheidend sei. Die "Pointe dieser Zukunftsvision" ist für Spinner, daß im Rahmen einer "wirklich offenen Offenen Gesellschaft" die Kritik maximale Entfaltungsmöglichkeiten und optimale Einflußchancen hat, d.h. sie hat in vielfaltigster Weise effektiv zu werden: als Mittel der Erkenntnis- und Machtkontrolle, als Instrument der Fehlersuche und -korrektur, als sozialer Konfliktregelungsmechanismus etc., wobei diese maximalkritische Offenheit in Richtung auf eine soziopolitische Utopie ausgerichtet sei, in der die Kritik als allgemeine Lebensform oder konkrete Praxis den Fortschritt ermögliche im Sinne eines methodisch kontrollierten, durch Sozialexperimente und Kritik gelenkten Wachstums. 9 2 Maximalkritisch soll in diesem Zusammenhang besagen: "Kritisch in dem 'starken' Sinne höchstmöglicher Förderlichkeit, Zugänglichkeit, Sensitivität, Entfaltungsund Einwirkungschancen für Kritik; hochentwickelter Bereitschaft und Fähigkeit zum Lernen durch Kritik, dementsprechend geringer Kritikimmunität und schwachem Änderungswiderstand gegenüber Kritik; günstiger, in höchstmöglichem Ausmaß entwickelter Bedingungen dafür, um Kritik als Innovationsstimulanz und Fortschrittsvehikel fruchtbar sowie als Kontroll-, Korrektur- und Verbesserungsmethode in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen wirksam werden zu lassen." 9 3 Für Spinner ist dagegen der "Zusammenhang zwischen Freiheit und Kritik, zwischen individuellem Entfaltungsspielraum und gesellschaftlicher Offenheit insbesondere, ... im bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte wohl immer etwas vielschichtiger, komplexer und vor allem undeutlicher gewesen, als es die trügerische Klarheit übervereinfachter O/G-Konzeptionen suggeriert." 9 4 Der "Alternativhimmel des Philosophen" sei daher auf irdische Maße zurechtzustutzen, d.h. man müsse übergehen von der Denk- auf die Realmöglichkeit, das Offenheitspostulat müsse vom Alternativenbewußtsein auf die Alternativenverfügbarkeit umgestellt werden: "Die Realmöglichkeit von Alternativen, auf der die konkrete Freiheit von Individuen in der wirklichen Welt besteht, ist eine Frage des Bestehens von Optionen. Eine reale Alternative ist eine solche, die gewählt werden kann." 9 5 90 91 92 93 94 95

Spinner 1978, S. 178. Spinner 1978, S. 180. Spinner 1978, S. 181/182. Spinner 1978, S. 183. Spinner 1978, S. 194. Die Implosion des Realsozialismus konnte Spinner als anschauliches Beispiel für den "Erfolg" Popperscher "Prophezeiungen" hier noch nicht vor Augen haben. Spinner 1978, S. 199.

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Kritischer Rationalismus

Statt einer "Verwissenschaftstheoretisierung von Politik" fordert Spinner eine "Wiederherstellung der Politik" im O/G-Denken, wobei er zu einer universellen O/G-Gleichung gelangt: "Geschlossen = Alternativen-wa/2/unmöglich (d.h. Fehlen von wählbaren Alternativen); offen = Alternativen-wa/2/möglich (im Sinne des Bestehens einer Option angesichts von mindestens zwei wählbaren Alternativen)." 9 6 Appellativ ausgedrückt: "Nicht auf dem Alternativen-Bewußtsein von Individuen, sondern auf dem Alternativenpotential für Individuen beruht die Offenheit einer wirklich offenen Offenen Gesellschaft." 9 7 Dahinter steht die Überlegung, daß die "realoffene Gesellschaft" nicht einfach ein Gedankending sei, sondern konkret-praktisch hergestellt werden müsse, d.h. das vordergründige O/G-Schema Poppers müsse weiterentwickelt werden in Richtung auf eine O/G-Problemtheorie. Der kognitive Faktor der Kritik ebenso wie der psychosoziale Faktor des Individuums reichten hierfür keineswegs aus, denn eine kritik- und mobilitätsoffene Gesellschaft müsse auch strukturveränderungsoffen sein. 9 8 Gegen das "Menschenbild" des kritischen Rationalismus führt Spinner schließlich an, daß hier von einer Humanitätsvorstellung ausgegangen werde, die nur für den Menschen reserviert sei, der idealtypisch vorausgesetzt werde - "also gerade nicht für den wirklichen Menschen!" 9 9 Die Spitze gegen den "dogmatischen kritischen Rationalismus", dem insgesamt ein anthropologisches und soziologisches Defizit angelastet wird, lautet: "Was für Erkenntnis und Wissenschaft gut ist, muß nicht auch gut sein für andere Verhaltensweisen und Gesellschaftsbereiche. Man braucht nicht jeden Menschen wie du und ich als Wissenschaftler (oder Kritiker, etc.) zu akzeptieren. Schließlich ist die hochgezüchtete Spezialrolle des kritisch-rationalen Problemlösers kein philosophischer Anzug für jeden Menschen gleich welcher Begabung und Interessen." Der "kritische kritische Rationalismus", wie ihn Spinner für sich beansprucht, dagegen fordert bzw. lehrt: "Jeder soll auf seine Façon selig werden, in jener und in dieser Welt." 1 0 0 Die Offenheitsbestimmungen des kritischen Rationalismus seien daher qualitativ und quantitativ steigerungsfahig bzw. erweiterungsbedürftig. Eine Ausformulierung der nachpopperschen Entwicklungslinie im O/G-Denken in bezug auf "Offenheitsprobleme" wurde von Spinner für den geplanten zweiten Band versprochen, der jedoch nie erschienen ist. Dafür liegt eine Studie "Ist der Kritische Rationalismus am Ende?" vor. 101 Vor allem in der "Banalisierung des Kritischen Rationalismus" sieht Spinner "die Hauptgefahr für Poppers bereits klassisch gewordenes Werk". 1 0 2 Es wäre demge96 97 98 99 100 101 102

Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner

1978, 1978, 1978, 1978, 1978, 1982. 1982,

S. 200. S. 202. S. 523 (unsere Hervorhebung, A.W.). S. 536. S. 536. S. 9.

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genüber erneut anzuknüpfen an "Poppers Weichenstellungen für eine neue Betrachtung der Erkenntnis, Wissenschaft und Gesellschaft am Leitfaden des Prinzips Kritik". 103 Zwar sei der kritische Rationalismus eine bedeutende Philosophie außerhalb der Philosophie geworden, aber es bestehe eine große Kluft zur empirischen Sozialforschung, die wiederum mehr Wissenschaftstheorie benötige. 104 Für die empirische Sozialforschung habe sich der kritische Rationalismus bislang eher ideologisch verdient gemacht, ansonsten sei ein Anwendungsdefizit ("mehr Lücke als Brücke") zu konstatieren. Auch sei Poppers "ehrlicher Progressivismus" oftmals einer nur noch rhetorisch kultivierten Kritik gewichen. 105 Es sei ferner ein interdisziplinäres Kooperationsdefizit gegeben, insbesondere fehle ein geeignetes Instrumentarium zur differenzierten Sozial- und Situationsanalyse, des weiteren mangele es an einer theoretischen Weiterentwicklung hin zu einer sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung. 1 0 6 Dem epistemological lag der deutschen Soziologie stünde ein sociological lag des kritischen Rationalismus (vor allem beim deutschen Rezeptions stand) gegenüber. 107 Der kritische Rationalismus müsse eine "neue Sachlichkeit" aufbringen und weniger ideologiehaltige Wissenschaftlichkeitskontroversen führen, denn das Prinzip Kritik, das es zu erneuern gelte, bedeute zweierlei: Führungsleistung des Erkennens und Kontrollfunktion der Argumentation. 108 Ungeklärt seien u.a. die nichtlogischen wie außerwissenschaftlichen "Voraussetzungen und Folgen des Menschen als Problemloser, des 'Lebens' als Problemlösungstätigkeit, der Gesellschaft als Problemlösungsinstitution". 109 Der kritische Rationalismus sei über eine kritische Attitüde und eine abstrakte Gesamtordnungstypologie gesellschaftlicher Offenheit und Geschlossenheit kaum hinausgekommen 110 ; es müßten Mehrebenen- und Multidimensionsanalysen hinzukommen. 111 Insofern könne gelten: "Als offene Sozialphilosophie und kritische Sozialwissenschaft ist der Kritische Rationalismus nicht am Ende seiner Möglichkeiten, sondern steht im Gegenteil noch ganz am Anfang. Die Frage ist, ob er dort stehenbleibt." 1 1 2 Es ist fraglich, ob Spinner dem kritischen Rationalismus damit die "verlorenen Maßstäbe" zurückgibt, weil sein "Leitfaden" in vielem vage bleibt, die Kritik des öfteren lapidar ist. Zu einer radikalen Rationalitätskritik, wie sie Feyerabend formulierte, dem Spinner "Maßlosigkeiten" attestiert 113 , hat er sich offenbar 103 104 105 106 107 108 109 110

111 112 113

Spinner 1982, S. 23. Spinner 1982, S. 66/67. Spinner 1982, S. 76/77 sowie 82, 89. Spinner 1982, S. 94-102. Spinner 1982, S. 104. Spinner 1982, S. 110. Spinner 1982, S. 113. Jedoch fuhrt Spinner 1982, S. 111, einige durchaus eindrucksvolle Belege an: "Aussagen über Offene Geister und Gesellschaften, sozialen Reformismus und rationale Sozialtechnologie, liberale Demokratie und individualistische Gesellschaft, protektionistische Rechts- und Staatsauffassung u.v.a.m.". Spinner 1982, S. 115. Spinner 1982, S. 123. Spinner 1982, S. 53.

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nicht durchringen können. Statt dessen bevorzugt er - in der von ihm kritisierten Manier der Popper-Adepten - rhetorische Kraftmeiereien und bloße Postulate. Der Wissenschaftstheoretiker, Philosoph und Soziologe Spinner geht inzwischen etwas andere Wege. Er untersucht nämlich Wissensformen und die "Doppelvernunft". Das "wissenschaftliche Ethos" sei eine Sonderethik des Wissens und impliziere eine zweistufige Verantwortung. 114 Die Neue Welt der Wissensgesellschaft verlange insgesamt eine Wissenssymbiose von Wissenschaft und Journalismus, eine Findigkeitstheorie des Wissenschaftsjournalismus und eine (zweistufige) Folgenverantwortung. Die Findigkeitstheorie des Journalisten qua unternehmerisches Element im Problemlösungsprozeß und als "findiger Agent der Gelegenheitsvernunft" (nicht der Grundsatzvernunft) lehnt sich an den Ansatz des Unternehmers bei Hayek und Kirzner an, nämlich als Unternehmertum in Wissenssachen. 115 Die wissenschaftliche Ethik wiederum ist für gewöhnlich eine Ethik des Wissens, nicht des Handelns. Es geht vornehmlich um die kognitiven Ergebnisse wissenschaftlicher Erzeugnisse, weniger um die außerwissenschaftlichen Folgen. Will man dies ändern, um das Prinzip Verantwortung stärker zu verankern, sind im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sowohl eine "Versittlichung der Wissenschaft" als auch eine Verrechtlichung zu fordern, wobei sich Spinner auch "Wissenschaftsgerichtshöfe" (nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichtes) vorstellen kann. 116 Schließlich plädiert Spinner für eine normative Finalisierung der Wissenschaft im Sinne wohlüberlegter Zweckforderungen sozialgebundener Forschung 117, ferner für eine gezielte Finanzierung und Vermarktung der Wissenschaft, wobei ihm offene Konkurrenzmärkte vorschweben, um die Bereitschaft zur Fundamentalkritik (zur Überprüfung der eigenen Voraussetzungen und der eingetretenen Folgen) zu erhöhen. 118 Die zweistufige wissenschaftliche Verantwortung einer offenen und öffentlichen Wissenschaft besteht in der individuellen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers im Fach über das Medium der Reputation und der kollektiven Verantwortlichkeit der Wissenschaft in der Gesellschaft als Legitimationsprozeß. 119 Beide Seiten seien erneuerungsbedürftig und durch strukturelle Reformen ausbaufähig. Prinzipielle und okkasionelle Vernunft strukturieren die Doppelvernunft. 120 Das damit von Spinner traktierte Konzept pluraler Rationalität ist zum einen normgebunden und regelgeleitet (Grundsatzvernunft), zum anderen bildet sich Vernunft von Fall zu Fall (Gelegenheitsvernunft). Die Grundsatzvernunft eignet dem okzidentalen Rationalismus, die andere Vernunft findet sich in der Romantik 114 115 116 117 118 119 120

Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner Spinner

1985. 1985, S. 92-104 1985, S. 138, 141. 1985, S. 142-144. 1985, S. 144-152. 1985, S. 155-164. 1986 u. 1994c.

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bis zur Postmoderne. Dem Bankrott allgemeiner Ideen und großer Erzählungen kann mit der Ausnützung diverser Besonderheiten begegnet werden. Multiple Montagen werden zur Operationsmasse der Gelegenheitsvernunft. Die Orientierungsmöglichkeiten des Menschen sind demnach zweifach, nämlich an "Prinzipien & Regeln" und/oder an "Okkasion & Opportunität". 121 Innerhalb dieses Kontinuums liegen die tatsächlich gewählten Rationalitätsmischungen, außerhalb befindet sich der nicht-rationale oder unterrationale "Rest". Rationalität als Orientierungssache ist plural und multidimensional, fur Orientierungskonzepte sichtbar werdend als différentielle Erkenntnisstile und Repräsentationsformen. 122 Eine offene Gesellschaft verfugt über einen Pluralismus der Erkenntnisstile, als (direkte) Vernunftformen kommen u.a. in Betracht: reflexive, instrumenteile, substantielle und kognitive Vernunft 123 , indirekte Vernunftformen entstehen aufgrund von Mischtypen, und die "differentiellen Orientierungsalternativen der Prinzipiellen und der Okkasionellen Vernunft breiten sich nicht nur horizontal über alle Lebensbereiche aus, sondern durchdringen auch vertikal andere Ebenen, auf denen sie in abgeleiteter Form und umgewandelter Gestalt auftreten. Dadurch entstehen funktionale Transpositionen der Doppelvernunft, welche die elementare Unterscheidung beider Vernunftformen infolge der Anschlußorientierung auf davon abhängige Folgeproblematiken übertragen. Das ist die Fortsetzung der Doppelvernunft mit anderen Mitteln, Möglichkeiten und Ergebnissen. Das, woran wir uns rational orientieren, bewirkt und beeinflußt, wie wir die Wirklichkeit als Welt-, Menschen-, Gesellschaftsbild auffassen, was wir davon bevorzugt erkennen und womit wir es in der Darstellung wiedergeben." 124 Der catch all-Begriff "Paradigma" wird von Spinner durch den des differentiellen Erkenntnisstils ersetzt. 125 Erkenntnisstile sind "keine Frage von Wahrheit und Methode, im Sinne von Gültigkeit bestimmter Erkenntnisse oder Zulässigkeit bestimmter Verfahren. Vielmehr handelt es sich um kognitive Dispositionen und Tendenzen zu ausgeprägten, eigenständigen Formen des Denkens und Darstellens, des Wissens und seiner Wiedergabe, in denen maßgebliche Erkenntniswerte ihren charakteristischen Ausdruck und unter günstigen Umständen auch eine annähernde Verwirklichung finden." 126 Dabei knüpft Spinner in seiner Version eines Kritikprogramms des erkenntnistheoretischen Fallibilismus ausdrücklich an das "abgebrochene Widerlegungsprogramm des Kritischen Rationalismus" an, d.h. er bevorzugt eine Strategie der Gegeninformation, eine Kritik von außen durch unabhängige Instanzen. Hieraus ergibt sich für Spinner ein "weder universelles noch 121 122 123 124 125 126

Spinner 1986, S. 933. Spinner 1986, S. 935. Spinner 1986, S. 66-74. Spinner 1986, S. 83. Siehe zu den Einzelheiten das Schema stilbildender Grundtendenzen "rational-orientierten" Erkennens in: Spinner 1994c, S. 84/85. Spinner 1994c, S. 87.

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selbstbezügliches, sondern gehaltvolles, eingeschränktes, aber unbegrenztes Fallibilitätsprinzip." 127 Poppers ursprüngliches "hartes" Kritikkonzept der effektiven Widerlegbarkeit ist demnach beizubehalten bzw. zu aktualisieren.

127

Spinner 1994c, S. 113.

12. KAPITEL: DIE LOSLÖSUNG BEI PAUL FEYERABEND: ERKENNTNIS FÜR FREIE MENSCHEN

1 am against law and order, not only in society, but also in the philosophy of science. 1

Paul K. Feyerabend (1924-1994) wurde in Wien geboren. Er wurde im Zweiten Weltkrieg Soldat und Offizier "und gegen Ende des Krieges so schwer verwundet, daß er in seinem ganzen späteren Leben unter seiner Behinderung zu leiden hatte. Nach Kriegsende nahm er ein Studium der Theaterwissenschaft 2 in Weimar auf. Einige Jahre darauf bekam er das Angebot, Produktionsassistent bei Bertolt Brecht zu werden. Die Ablehnung dieses Angebots hat er später als einen der größten Fehler seines Lebens bezeichnet." 3 Er studierte sodann Geschichte, Mathematik, Physik, Astronomie in Wien, Philosophie in London und Kopenhagen. "Im Jahre 1948 lernte Feyerabend in Alpbach Karl Popper und Friedrich August von Hayek kennen, mit denen er Jahre hindurch verbunden blieb. ... 1955 verließ er Wien und übersiedelte nach England. Er hatte zwar Karl Poppers Werk 'Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' ins Deutsche übersetzt, lehnte aber Poppers Angebot ab, sein Assistent zu werden. 4 Ebenfalls in Alpbach lernte er 1955 Hans Albert 5 ken1 2

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Feyerabend 1995a, S. 11. Feyerabend hat diese biographischen Angaben korrigiert; er habe nicht "TheaterWISSENSCHAFTEN" studiert, "sondern Schauspiel und Gesang - und durch wissenschaftliche Betrachtungen hätte ich mir die nicht verpatzen lassen" (Feyerabend 1995a, S. 170). Baum 1997, S. 9. - Siehe auch die Autobiographie Zeitverschwendung, Feyerabend 1995d, ferner Feyerabend 1980, S. 214-241, zur Assistentenstelle bei Brecht ebd., S. 226. Vgl. die Replik von Feyerabend 1981b, S. 357/358, auf Agassi 1981: "Am Ende des Jahres (1953), von dem Agassi spricht, lud Popper mich ein, sein Assistent zu werden, um den klaren Wein seiner frohen Botschaft aus nächster Nähe in mich hineingießen zu können; ich lehnte ab, obgleich ich ohne finanzielle Mittel war und mit dem Verkauf meiner Möbel und meiner Bücher begonnen hatte. Agassi sagt, Popper habe gesagt, ich hätte tränenreich meine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg bedauert. Das ist nicht unmöglich, denn ich bin ein emotionaler Mensch und habe schon viele dumme Sachen gemacht; wahrscheinlich ist es aber nicht. Persönliche Dinge bespreche ich nicht mit Fremden, und außerdem hatte ich mir ja nichts vorzuwerfen, ausgenommen vielleicht ungenügende Intelligenz beim Versuch, mich vom Militärdienst zu drücken. Die Tränen - das werden wohl Tränen der Langeweile gewesen sein, denn solche kamen mir bei Popperbesuchen häufig in die Augen." Offensichtlich war Feyerabend mehr von Poppers Katze Junky beeindruckt (Feyerabend 1989, S. 450). Ferner heißt es in einer Anmerkung (Feyerabend 1981b, S. 371, Anm. 27a): "Agassi gibt uns auch einen interessanten Einblick in die Innenpolitik des Popperkreises. Er sagt, daß er mir nicht traute und nichts mit mir zu tun haben wollte. Aber der Meister forderte ihn auf, mein Freund zu werden, auf daß sich der kritische Rationalismus vermehre - und Agassi wurde mein Freund. So leicht unterliegt ein israelischer Puritaner den Ruhmestränen von Denkbeamten." - An anderer Stelle heißt es bei Feyerabend 1995a, S. 113: "Der Agassi aber, na ja, der hat ja schon sehr scharf geschrieben, und da hab' ich eben scharf zurückgeschossen und zwar vor allem, weil er so mit gossip dahergekommen ist, vermischt mit Kirchenideologie. Ich habe übrigens inzwischen entdeckt, warum ich auf die Popperei so sauer reagiere (ich weiß

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nen, der wie er als Soldat und Offizier am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und nach dem Krieg ein Studium begonnen hatte." 6 Feyerabend war nach einer Dozententätigkeit am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst und an der Universität Bristol "nach Kalifornien gegangen und hatte 1958 eine Philosophieprofessur in Berkeley bekommen. Trotz zahlreicher Reisen, Gastprofessuren und vielfacher Pläne zum Wechsel seiner Tätigkeit... blieb der Lehrstuhl in Berkeley für ihn für mehr als zwei Jahrzehnte die wichtigste Stelle, an der er bis zuletzt festhielt. Hier lernte er unter anderem Thomas S. Kuhn und Alfred Tarski kennen." 7 Ursprünglich in der Nähe des kritischen Rationalismus stehend, entwickelte er sich zunehmend zu dessen Kritiker und verwarf den szientistischen Optimismus. Seine Studie Against Method erschien 1975 in England als Buch und ist inzwischen in neunzehn Sprachen übersetzt worden. "Das Buch, das auch seinen Bruch mit dem kritischen Rationalismus Poppers deutlich machte, wurde Feyerabends bekanntestes und einflußreichstes Werk. Auch im deutschen Sprachraum 8 wurden seine Arbeiten nun zunehmend diskutiert, besonders seit er im Oktober 1972 auf dem 10. Deutschen Philosophentag in Kiel sein aufsehenerregendes Referat über 'Die Wissenschaftstheorie - eine bisher unerforschte Form des Irrsinns?' 9 gehalten hatte." 1 0 Statt einer strengen Reglementierung der wissenschaftlichen Forschung, die Feyerabend von Popper und Lakatos vertreten sah, "trat er für eine

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nicht, ob ich Recht habe, aber ich glaube schon). Da wird nämlich immer persönliche Freundlichkeit verwechselt mit Beitritt zur Kirche. Mit Popperianern habe ich mich unterhalten; auf ihre Probleme bin ich eingegangen; in ihrer Sprache habe ich mit ihnen gesprochen, weil sie eben meine Freunde waren. Aber meine Freunde waren sie ja nicht, denn die Freundschaft haben sie gar nicht erkannt - sie haben sie sofort als Loyalitätserklärung zu den Grundsätzen der Kirche aufgefaßt und als solche publiziert. Es hat lange gedauert bis es mir klar wurde, daß es das ist, was mich so gewurmt hat und zwar weil ich damit aus einer Person, einem Freund, in einen Gegenstand, einen Popperianer verwandelt wurde. Ganz abgesehen davon, daß ich die Poppersche Kirche für eine miserable Latrine halte, voll von üblen Gerüchen. Der Imre Lakatos war da ganz anders - der hat immer genau unterschieden zwischen den öffentlichen Erklärungen, die er als Propagandist abgab und den persönlichen Beziehungen, die er betrat. Er war ein reiner Propagandist, hat aber gerade darum Freundschaften niemals in Kirchenbeiträge verwandelt." Siehe Baum 1997, S. 7: "Hans Albert und Paul Feyerabend sind beide in entscheidenden Phasen ihres Lebens mit dem von Karl Popper vertretenen kritischen Rationalismus in Berührung gekommen und haben Popper auch persönlich gekannt. Doch während der eine an zentralen Teilen der Popperschen Auffassung festgehalten hat, hat sich der andere in der Zeit des vorliegenden Briefwechsels [Feyerabend/Albert 1997] in zunehmendem Maße neu orientiert und ist nicht nur zu einem ihrer radikalsten Kritiker geworden, sondern darüber hinaus zu einem Kritiker der Wissenschaftstheorie und der Rolle der Wissenschaften in der modernen Gesellschaft." Baum 1997, S. 10. Baum 1997, S . l l . Seit 1980 lehrte Feyerabend zudem Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der ETH Zürich (sein zweiter Lehrstuhl neben Berkeley). In der Schweiz, in einem Krankenhaus bei Genf, ist Feyerabend auch gestorben. Seine letzte Frau, die italienische Physikerin Grazia Borrini Feyerabend, schrieb zum Tode ihres Mannes: "Seit dem 11. Februar 1994 lebt Paul K. Feyerabend nur im Herzen derer, die ihn lieben". Against Method erschien 1976 in deutscher Übersetzung: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Feyerabend 1978, S. 293-338. Baum 1997, S. 12.

Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen

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anarchistische oder, wie er später sagte, dadaistische Auffassung 11 ein, der zufolge als allgemeines Prinzip für die Forschung nur die Maxime 'Anything goes' in Frage komme. Lakatos' früher Tod im Februar 1974 machte der Diskussion zwischen den beiden Freunden ein Ende; sein geplanter kritischer Beitrag zu Feyerabends Buch gegen den Methodenzwang kam nicht mehr zustande." 1 2 Mit Popper verband Feyerabend eine Art Haßliebe 1 3 , und selbst seine kühnsten Kapriolen sind nicht immer völlig losgelöst von dessen Denkanstrengungen - ja, man kann im Grunde allegorisch sagen: >die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche